MANFRED JORDAN
Die Nacht der Bären
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN 1955
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/79/55...
22 downloads
623 Views
337KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
MANFRED JORDAN
Die Nacht der Bären
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN 1955
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/79/55) Umschlagzeichnung: Fritz Ahlers, Prieros (Mark) Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30
Der Ritter Guido stand breitbeinig im kleinen Saal seiner festen Burg Schönstein und leerte einen mächtigen Humpen. Herr Karl von Schöpfungen und die Burgfrau blickten vom Fenster aus über die reißende Strömung der Fluvitza hin auf den großen Bauernhaufen, der sich am andern Ufer auf dem felsigen Grund zu lagern begann. Schöpfungens Augen stachen unter den buschigen schwarzen Brauen hervor, und sein Kiefer malmte. Die Frau aber zitterte; ihre schönen weißen Hände glitten unablässig auf dem Fenstergesims hin und her. Da sprang die Tür auf. Der Burgwachmann Ulrich, den sie seines merkwürdigen Gesichts wegen den Uhl nannten, führte einen Abgesandten der Bauern herein. Er hieß ihn an der Tür stehenbleiben und warten. Der Schönsteiner setzte den Humpen ab und wandte sich um. „He, Kerl!“, rief er finster. „Seit wann ist es üblich, in solchen Massen vor die Burg zu ziehen? Ich mag nicht leiden, was ihr euch da herausgenommen habt. Trollt euch von dannen, daß ich euch den Scherz nicht übel anrechne!“ „Wir haben mit dir zu reden, Herr“, erwiderte sehr ruhig der Bote. „So? Habt ihr? Und da müßt ihr alle kommen, wie? Gesindel! Ich werde euch mit Hunden hetzen! Wie viele seid ihr überhaupt?“ „Ich kann nicht zählen, Herr.“ Ein leichtes Lächeln überflog das Gesicht des Bauern. „Also, was willst du? Rede!“ „Hier in der Rolle stehen unsre Forderungen aufgeschrieben. Die soll ich dir bringen. So du sie uns erfüllst, Herr – gut. So nicht…“ Schönstein lachte.
„Zählen könnt ihr nicht. Aber schreiben, wie?“ „Ein gelehrter Herr Doktor in der Stadt hat…“ „Her mit dem Wisch!“ rief Guido und riß dem Bauern die Rolle aus der Hand. Nach jedem Punkt, den er der Frau und Schöpfungen vorlas, lachte er höhnisch. Armseliges, unverschämtes Pack! Den Wald wollen sie frei haben, daß sie daraus Holz umsonst holen dürfen, wenn sie es zum Feuern oder Zimmern brauchen! Haha! Das Wasser auch frei und die Fische darin! Haha! Und die Jagd gar, daß sie Wildbret fangen und verzehren können… Wie der Herr wollen sie leben, die Kerle, Beeren fressen, Pilze, aus seinem Walde, Haha! Und Fron wollen sie ihm nicht mehr tun. Für jede ihrer Arbeiten soll er zahlen. Haha! Und keinen Zins wollen sie mehr geben. Haha! Ja, die Wiesen, die einst den Bauern gehört und die der Herr ohne Kauf an sich gebracht, sollen sofort in den allgemeinen Besitz zurückgegeben werden. Haha! Haha! Der Schönsteiner schüttelte sich vor wütendem Lachen. Nichts hatte der Herr Doktor vergessen, nichts. Plötzlich wurde der Ritter wieder ernst. Fast andächtig las er das Schreiben noch einmal. Dann trat er zum Fenster. Dreihundert, wohl auch vierhundert entschlossene Menschen hockten in der Dämmerung auf der bloßen Erde und sangen Lieder. Schönstein trat auf den Bauern zu. „Gut denn“, sprach er. „Sage denen da unten, sie sollen wieder heimgehen. Ich werde mir, was ihr geschrieben habt, überlegen.“ „Überleg es dir, Herr“, versetzte der Bote ruhig. „Aber fortgehen werden wir nicht. Überleg es dir – bis morgen abend um diese Stunde hast du Zeit.“
Und er wandte sich ab und verließ mit festen Schritten den Saal. Schönstein war drauf und dran, dem Unverschämten nachzustürmen und ihn mit eigner Hand zu erdrosseln. Aber die Frau warf sich ihm zu Füßen und flehte, er möge ihnen nicht das gleiche Schicksal heraufbeschwören, das der Schöpfunger erlitten hatte… Das Schicksal Karl von Schöpfungens nicht heraufbeschwören! Grimmig lief der Schönsteiner auf und ab. Hin und wieder fuhr er sich mit der Hand in seine blonde Mähne. Erst vor wenigen Stunden hatte der Uhl von seinem Auslug auf dem Turm eine Reiterschar gesehen, die, eingehüllt in eine Staubwolke, sich der Burg rasch genähert hatte. Er hatte ins Hörn gestoßen und war hinabgeeilt ans Tor, um die Ankömmlinge zu erwarten. Freund oder Feind, das mußte sich bald entscheiden. Die Burgleute im Torhaus wappneten sich. Und kaum war das geschehen, da hielten die fremden Reiter am andern Ufer, riefen herüber, winkten; den schweißnassen Rössern flog der Schaum von den Mäulern, sie tänzelten auf dem felsigen Grund. „Es ist der Ritter Karl von Schöpfungen“, sprach der UM zu den Knechten, „der Bruder der gnädigen Frau.“ Rasselnd senkte sich die Brücke über das schäumende, gurgelnde Wasser, die Torflügel wurden aufgerissen. Herr Karl von Schöpfungen ritt an der Spitze seines kleinen Gefolges ein; manch einer war verwundet. „Der Herr Guido ist auf Bärenjagd“, sprach Ulrich unterwürfig. „Wir erwarten ihn gegen Abend…“ „Zum Teufel mit der Jagd!“ schrie Schöpfungen, während er vom Pferde stieg. „Vielleicht brechen sie ihm das
Genick unterwegs. Bring mich zur Frau!“ – Die Bauern waren in deutschen Landen aufgestanden gegen ihre Fronherren. Der Funke der Rebellion, der seit dem Beginn dieses Jahrhunderts, des sechzehnten, allenthalben auch in hiesiger Gegend des Reiches aufgeglommen war, hatte sich zu einem Feuer ausgewachsen, das sich prasselnd verbreitete und den Rittern an die Gurgel schlug. Da waren nun auch die Bauern der Schöpfunger Herrschaft zum Denken gekommen, waren vor die Burg gerückt und hatten friedfertig und gesittet gebeten, der Herr möge ihr Los erleichtern. So das geschehe, wollten sie still in ihre Hütten zurückkehren und an dem allgemeinen bewaffneten Aufbegehren nicht teilnehmen. So nicht… Karl von Schöpfungen hatte sie ausgelacht, hatte seine Hunde auf sie gehetzt, blutgierige Köter, vor denen die Bauern hatten weichen müssen. Doch nach ein paar Tagen waren sie wiedergekommen, mit Keulen, Sensen, Dreschflegeln, Morgensternen, mit Steinschleudern und mit Pfeil und Bogen. Noch einmal hatten sie in geziemenden Worten ihre Forderungen gestellt. Der Unterhändler war waffenlos gewesen; und den Unterhändler hatte der Schöpfunger erschlagen lassen. Das war das Signal gewesen. Aus dem Schönsteinschen und den andern benachbarten Herrschaften waren die Bauern herangerückt, ihren Brüdern zu Hilfe. Zwei Tage lang hatten sie die Feste belagert, und dann hatte der Sturm begonnen. Gemeinsam hatten sie das Tor genommen, waren in die Burg eingedrungen, hatten, was sich wehrte, niedergemacht, ohne der eignen Verluste zu achten. Schöpfungens Weib hatte sich in Furcht und Schrecken vom Söller in die Tiefe gestürzt… Nur wenige Stunden erbit-
terten Kampfes, und die haßerfüllten Bauern waren Herren der Burg Schöpfungen gewesen. Mit Müh und Not war Karl mit wenigen Knechten durch einen geheimen Gang entkommen. Auf ungesattelte Pferde hatten sie sich geworfen und waren davongejagt. Auf Burg Schönstein winkte Sicherheit. Dort hatten sie Gastrecht gefordert. Der Schönsteiner war von der Jagd heimgekommen, als der Sonnenball fast den bewaldeten Horizont berührt hatte. Mißmutig war er seinen Leuten vorausgesprengt. Der Bär, dem sie den ganzen Tag nachgeprescht, hatte dem Halali der Hörner und dem Gekläff der Hunde immer wieder entfliehen können. Zum Fangschuß wäre wohl zu mehreren Malen Gelegenheit gewesen – aber was… Schießen! Schönsteiner schossen keine Bären; sie fingen den Herrn der Wälder lebend. Das war Ritter Guidos wie seiner Väter Leidenschaft. Daß den Knechten bei der Gefangennahme der Tiere oft lebensgefährliche Wunden nicht erspart blieben – was schadete das! Man pflegte die stärksten und größten Tiere auf die Burg zu bringen, in den Zwinger, um mit ihnen vor den Freunden zu protzen. Die andern erschlug man und häutete sie. Das machte man, so lange die Burg schon stand, seit gut vierhundert Jahren. Die Schönsteiner waren ein konservatives Geschlecht. Zuweilen verschaffte man sich freilich mit den Bären noch andre Erbauung als nur die Jagd. Der Vater des Herrn Guido hatte sich einmal den Spaß gemacht, einen Gefangenen aus dem Verlies holen zu lassen und ihm die Freiheit zu schenken für den Fall, daß er aus dem Kampf mit einem der „schwächlichen“ Bären lebend hervorginge; so wie man im alten Rom, wovon er freilich nichts gewußt, die Christen mit Tigern hatte ringen lassen. Der Mann war umgekommen, und der
Knecht, der den gereizten Bären hatte spießen sollen, auch. Es hatte schon unterhaltsame und aufregende Abende gegeben auf Burg Schönstein… Verdrossen stieg der Ritter den Wendelstein hinauf; aber seine Laune wandelte sich mit einem Schlage, als er des Schöpfungers ansichtig wurde. Der alte Freund und Waffengefährte! Der Kumpan mancher durchzechten Woche! Sie waren einander seit ihren Jugendtagen zugetan. Seine Schwester hatte der Schöpfunger sogar Herrn Schönstein vor einigen Jahren zur Frau gegeben, die sanfte Mathilde, die jetzt mit dem Bruder ein erregtes Zwiegespräch führte. Und da erfuhr er denn alles. Die Wut kochte ihm im Halse. Plötzlich stürzte der Uhl herein. „Fußvolk, ein großer Haufe, zieht von Nordwest heran!“ „Das sind sie!“ brüllte Karl von Schöpfungen und sprang zum Fenster hin, gefolgt von der Frau. „Ich hatte es gefürchtet. Schick um Hilfe, Schönstein“, rief er, „nach Rhiemsberg, Kaufstein, Ysenburg, Vandburg, Lehmkuhlen… sofort, sonst sind wir verloren!“ Ritter Guido verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen, das ihm die Wut vertrieb. „Sollen nur kommen“, knurrte er. „Werden sich die Zähne ausbeißen, das Lumpengesindel! Wir verstehen, mit ihnen umzugehen.“ Aber dann befahl er doch einem Boten, zu Pferde zu steigen. Und das kleine Vorkastell am andern Ufer der Fluvitza ließ er räumen. Die Burg nahm alle ihre Knechte und Mannen in sich auf, sie riegelte sich von der Umwelt ab.
Dann brachte der Uhl den Abgesandten der Bauern herauf… Der Ritter schob seine Gemahlin, die flehend vor ihm kniete, zur Seite und wanderte mit schweren Schritten auf und ab. Die großen Sporen schlugen am steinernen Fußboden Funken. Plötzlich lief er hinaus, die Treppen hinauf zum oberen Wehrgang. Die Waffenkammer neben dem Eingang zum Turm strotzte von ihrem Inhalt. Die Pulverkammer – Schönstein zermalmte einen Fluch zwischen den Zähnen – , in der Pulverkammer herrschte Mangel. Man wird mit dem Schießen sparen müssen, zum Teufel! Schönstein eilte zum unteren Wehrgang hinab. Alle Mann waren auf ihrem Posten. Er machte ein paar Bemerkungen über die verfluchten Bauern und erhielt Antworten, ganz wie er sie wünschte. Mit seiner zur Schau getragenen Sicherheit war es nicht weit her. Er beugte sich in eine der Schießscharten, damit man sein Gesicht nicht beobachten konnte, und blickte in den Bärenzwinger hinein, der sich unmittelbar unter dem Wehrgang an der Mauer entlang dehnte und die einzige Front des Burgfelsens, die nicht von der sich schlängelnden Fluvitza bespült war, abschloß. Prächtige Bären trotteten da unten, spielten miteinander, balgten sich, knurrten, richteten sich an der Mauer empor, als sie den Menschenkopf gewahrten. Der Schönsteiner fuhr sich mit der Hand durch den Haarschopf und spie der alten Bärin auf den Kopf. Ehe er in den kleinen Saal zurückkehrte, befahl er: „Die Bären kriegen kein Futter mehr!“ Der Uhl hatte den Boten der Bauern zum Tor zurückgebracht. „Wer ist euer Anführer?“ fragte er. Neugierde
und Hohn waren in seiner Stimme. „Wer kann sich solchen Unsinn, wie ihr ihn hier fordert, ausgedacht haben?“ „Martin Rocker“, bekam er zur Antwort, „dein Bruder.“ In der Nacht ward heimlich die Zugbrücke heruntergelassen und abermals ein Reiter aus der Burg geschickt. Es war empfindlich kalt in diesen Oktobernächten. Der Mann ritt einen großen Bogen und pirschte sich von der entgegengesetzten Seite an das von den Bauern besetzte Vorkastell heran, das bisher den Familien der Burgknechte als Wohnung gedient hatte. Nirgends war eine Wache zu sehen. Der Reiter lachte in sich hinein. Vertrauensseliges Pack – viel zu dumm, um mit dem Rittervolk von Schönstein anzubinden! Schlaft nur; ich will sorgen, daß ihr angenehm erwacht! Der Reiter war längst davongesprengt, um auf Rhiemsberg für den bedrängten Schönsteiner zu werben – da brach eine Panik im Vorkastell aus. Die Männer, eben noch im Schlaf, stürmten ins Freie, riefen, schrien, stürzten übereinander, eilten mit leeren Gefäßen nach Wasser… es brannte! Das Vorkastell stand in Flammen. Eine Holzhütte nach der andern brach zusammen. Aus den Fenstern der Burg fanden wohlgezielte Schüsse ihre Opfer. Die dicken Mauern des kleinen Kastells umsäumten ein loderndes Viereck. Die Bauern brachten den Rest der Nacht unter freiem Himmel zu; Kälte und Haß raubten ihnen den Schlaf. Als sie die äußere Ruhe wiedergefunden hatten, tönte die Stimme des Anführers über den Platz: „Wir sind Männer. Wir fürchten den Tod nicht, und Feigheit ist uns fremd. Der, den ich meine, wird ehrlich antworten. Wer war es, der diesen Brand gelegt hat, absichtlich oder
durch Unvorsichtigkeit?“ Nach einer Zeit unheimlichen Schweigens fuhr Martin Rocker fort: „Ich schäme mich. Nun mir kein andres Mittel bleibt, so frage ich euch: Wer kennt den, der den Brand gelegt?“ Wieder war Schweigen die Antwort. Die Bauern mochten nicht dicht aneinanderrücken, wie es gut gewesen wäre. Sie fürchteten, der Verräter könne neben ihnen liegen und auf Meuchelmord sinnen. Ja – Verräter mußten in ihren eignen Reihen sein, die den Herrn mehr liebten als die Freiheit. Wer waren die Verräter? Der beste Freund, der Bruder, der Vater, der Sohn…? Sie schliefen nicht mehr diese Nacht. Dreihundert Bauern, die einander beargwöhnten. Keinen aber hatte das Ereignis so niedergeschmettert wie Martin Rocker. Er lief bis zum Morgen am Ufer der Fluvitza auf und ab. Da lagen nun auch Schöpfunger Bauern vor Burg Schönstein, obwohl sie daheim geruhsam ihren Sieg hätten feiern können. Sie waren hierhergekommen – und nun dies: Verräterei. Martin zergrübelte sein Hirn, wen er verdächtigen sollte. Es fiel ihm niemand ein. Er kannte sie alle wie sich selbst. Er hätte sich verbrennen lassen für jeden einzelnen von ihnen. Da war kein Lump darunter. Sollte einer von den Schöpfungern…? Unfaßlich. Martins Gesicht glühte, während ihn fröstelte. Er suchte den Gedanken an das, was gewesen, mit dem Gelöbnis vor sich selbst, auf jede Kleinigkeit achtzugeben, zu verdrängen – es wollte nur schlecht gelingen. Und doch verlangte der Tag, der nun bald im Osten heraufkommen, und die Zeit, die auf ihn folgen mußte, einen ausgeruhten, ganzen Menschen. Ruhe! Ruhe brauchte Martin Rocker;
tiefen Schlaf. Um Burg Schönstein ging es. Er, Martin, hatte die Pflicht, das kleine Heer zu neuem Sieg zu führen. Es war so, wie der alte Joachim gestern gesagt hatte: „Den Schöpfunger und noch zehn andre Herren könnt ihr davonjagen – solange der Schönsteiner in seinem Nest sitzt, haben wir nicht gewonnen.“ Der Schönsteiner war der mächtigste von allen Herren weit und breit. Fiel er, dann war der Krieg der Bauern in diesem Lande des Reiches siegreich beendet, dann brach eine neue Zeit an für das unterdrückte Volk. Die Last der Verantwortung, die Martin trug, war schwer. Sie war noch schwerer geworden nach dem heimtückischen Brande des kleinen Kastells. Wenn er versagte… Er durfte nicht versagen. Er mußte die Felsenburg zwingen. Die Bauern hatten ihn zum Anführer gewählt; ihn trug das Vertrauen von dreihundert tapferen Burschen. Er mußte den Schlag führen, rechtzeitig. Und in dieser Nacht wurde ihm klar, daß er ihn schnell führen mußte. Am andern Tag hatte sich Schönstein zu erklären. Sagte er Nein – und Martin war davon überzeugt – , dann mußte noch in der darauffolgenden Nacht die Zwingburg gestürmt werden. . Um wieviel leichter wäre es gewesen, wenn sein leiblicher Bruder, der Uhl, sich zu den Bauern bekannt hätte. Wieviel kostbare Menschenleben würden dadurch erhalten werden können… Der Uhl! Martin streckte sich auf der taunassen Wiese aus. Der Uhl! Ulrich Rocker war, kaum siebzehn Jahre alt, aus dem Elternhaus geflohen und hatte sich als Roßknecht beim Schönsteiner Herrn verdingt. Er hatte das Bauersein gehaßt und seine Familie gehaßt, weil sie Bauern waren. Er
hatte den Ritter vergöttert. Der Ritter jagte mit seinem Gefolge frei in den Wäldern, und alles, was da lebte, die Bauern, die ganze Familie der Rocker, kroch im Staube, wenn der Herr in die Nähe kam. Rockers bewohnten eine armselige Hütte, der Herr thronte auf seiner festen Burg oben auf dem Gipfel des Schönsteins. Ulrich hatte die Bedrängnis daheim nicht mehr ausgehalten. Er hatte sich nachts davongestohlen. Er war zum Herrn gelaufen, um einer der Seinen zu werden, um teilzuhaben am großen Glück des Lebens, um nicht mehr zu den Getretenen zu gehören wie daheim. Zwanzig Jahre war das her. Der alte Rocker war gestorben, die Mutter auch. Martin war an die Stelle des Vaters getreten, und die Bauern hatten ihn zu ihrem Anführer in allen Dingen gemacht. Ulrich aber, der Uhl, war jüngst vom Schönsteiner zum Burgwachmann ernannt worden. Zwei Brüder, diesseits und jenseits fester Mauern. – In dieser Nacht dachten sie beide an die Vergangenheit. Der Morgen graute herauf, die Sonne stieg und fiel, und als es Abend war, begehrten die Bauern Antwort. Die Brücke wurde herabgelassen, und der Uhl ging hinaus, langsam, zögernd. Der Herr hatte befohlen: „Du gehst. Du stammst von denen da her. Zeige, ob du noch zum Dreck gehörst!“ Die Bauern scharten sich um den Ankömmling; ihre Mienen waren undurchdringlich. Man bildete eine Gasse für den Uhl. Dann standen die beiden Brüder einander gegenüber. Es war Stille ringsumher. Der Uhl hatte den Blick gesenkt. „Bringst du gute Nachricht, Ulrich?“ hörte er den Bruder sagen. Er schaute auf, und langsam sprach er: „Ich möchte allein mit dir reden.“ Sie gingen ein Stückchen flußauf. Martin lehnte sich an
den silbernen Stamm einer Buche und wartete, daß der Uhl rede. „Der Herr läßt sagen“, begann endlich der Burgwachmann, nachdem er mehrmals tief geatmet hatte, „ihr sollt alle schnell wieder heimgehen; wenn er nicht gar denken soll, ihr wolltet gegen ihn aufbegehren. Er läßt sagen, er sei euer gnädiger Herr und wolle sich überlegen, ob er vielleicht in Jahresfrist erlauben kann, daß ihr gegen geringen Zins Holz zum Feuern aus dem Walde holt.“ Ulrich kaute an den Lippen und lächelte verlegen, zuckte die Achseln. „Was sagte er sonst noch?“ forschte Martin. „Sonst?“ Der Uhl blickte zu Boden. „Das war alles.“ Martin drückte sich von der Buche ab, trat dicht vor den Bruder hin, faßte ihn bei den Oberarmen, rüttelte ihn sanft. „Ulrich! Hast du ihm nicht gesagt, wie unsre Antwort darauf sein wird? Muß ich sie erst geben? Du siehst, ich kann nicht zornig sein über das Brennholz – es ist zu dumm und zu läppisch. Deine Brüder stehen hier und verlangen, daß man sie Menschen sein läßt, wie sie Gott erschaffen; daß man sie nicht wie das Vieh oder gar noch geringer achtet. Das siehst du, und du mußt fühlen, daß wir nur menschliches Recht wollen, keine Gnade, kein Geschenk; du mußt es fühlen – du bist doch einer von uns, bist Bauer, auch wenn du dich hier als Wachmann verkleidest. Und da willst du uns Brennholz bieten?“ „Ich hab’ mit euch nichts zu schaffen“, entgegnete der Uhl finster. „Spar dir diese Reden. Ich diene dem Herrn, und nichts andres…“ Martin drang in den Bruder – er solle sich besinnen; er dürfe jetzt, da das Volk aufstünde wider die, die ihm das Mark aus den Knochen sogen – er dürfe jetzt nicht auf
der Seite der Tyrannen bleiben. Als der Uhl den Weg zur Burg zurückging, allein und hastig, da wußten beide, daß ein Band zerschnitten war. Martin wurde von seinen Freunden mit erwartungsvollem Schweigen empfangen. „Es wird eine kurze Nacht werden“, sagte er, und seine Stimme klang hart, aber ruhig. „Die achtzig Ältesten behalten die Wache hier vor dem Tor. Alles andre setzt über den Fluß. Gleich nach Mitternacht. Wir stürmen von der Landzunge her! Seid ihr einverstanden?“ Dreihundertmal Ja ward ihm zur Antwort, stilles Zustimmen, kein einziges Nein. Und die Bauern legten sich zur Ruhe. Viele fanden auch in dieser Nacht keinen Schlaf. Sie wußten, jeder einzelne wußte: Es konnte seine letzte Nacht sein. Daheim waren die Frauen, die Bräute, die Kinder, die Eltern – die wollten keine Toten. Die daheim waren wohl tapfer, nicht weniger tapfer als die Männer hier vor der festen Burg Schönstein. Doch kamen die Männer nicht zurück aus dem Kampf – was nützte dann die Tapferkeit? Das Elend der Familien würde unermeßlich sein. Würde es das wirklich? Wenn Burg Schönstein nicht genommen wurde – ja. Wie hatte der Martin dem Ritter sagen lassen? Wenn er die Forderungen nicht annehme, würde ihm das Los des Schöpfungers beschieden sein, wenn nicht ein schlimmeres. Und die Äcker und die Wiesen und die Wälder, die würden die Bauern dann in gemeinsamen Besitz nehmen. In gemeinsamen Besitz. Mochten manche, mochten die meisten aus diesem Feldzug für das Recht nicht zurückkehren – wenn sie nur siegten! Dann würden die andern und die Familien daheim zu Menschen werden, zu richtigen Menschen. Und gemeinsam würden sie das alles ihr
eigen nennen, was man vom Turme der Zwingburg aus in der weiten Runde erblicken konnte, und noch viel mehr. Sie kamen ins Träumen, die Bauern mit den harten Gesichtern und den harten Händen. Sie hatten Ja gesagt. Es war ihnen ernst gewesen. Kämpfen? Sterben? Kämpfen und sterben wollten sie nicht. Sie wollten leben und Menschen sein. Doch solange es Fronherren gab, solange führte das Menschsein, das Leben nur über das Kämpfen und den Tod. Wohlan! – Sie hatten Ja gesagt. Ein kleiner, ferner Mond brachte spärliches Licht durch die Wipfel der alten Buchen am Flußrand. Die Fluvitza rauschte. Dreihundert Bauern hatten ein großes Floß zusammengehauen. Schub für Schub gelangte unterhalb des Felsens von einem Ufer zum andern. Keulen, Sensen, Dreschflegel hatten sie, ein paar Äxte, Morgensterne, eine Hellebarde und Messer. Das waren ihre Waffen. Damit zogen sie aus gegen das festeste Raubschloß des Landes. Am Fuße des Steins, der hier in geringer Höhe die künstliche Mauer trug, hielten sie an. Es war dies die einzige Front der Burg, die nicht vom Gebirgswasser der Fluvitza geschützt war. Hier mußte der Sturm glücken, oder… Kein Oder! Hier mußte der Sturm glücken! Martin sammelte seine Leute an einem Platz, zu dem die Geschosse von den Wehrgängen nicht dringen konnten. Er sprach noch einige Worte. Es waren ihrer nicht viele. „Wenn unsre Väter die Steine dort oben mit ihren Händen aufeinandergetürmt haben, dann werden wir sie auch mit den Händen wieder herunternehmen können“, sagte er. Dann lehnten sie zwei schnell zusammengebaute Leitern an, und die ersten stiegen hinauf. Sie preßten ihre Leiber, so dicht es ging, an Leiter und Felsen, um dem
Feind kein Ziel zu bieten, und stiegen höher und höher. Im Osten dämmerte der Tag. Es fiel kein Schuß. Die oberen hatten den schmalen Felsenabsatz erreicht, von dem aus die Mauer aufragte. Wohl war man von hier an gedeckt; aber das Weitersteigen war aus einem andern Grunde gefährlich. Die Bauern zogen eine der Leitern nach und lehnten sie auf dem Felsenabsatz gegen die Mauer; fast senkrecht stand sie. Eine winzige Schwankung, ein Verrücken der Stützen um Fingersbreite – und Holz und Menschen würden in die Tiefe stürzen, zerschellen an dem scharfkantigen Stein. Jetzt blieb die Deckung hinter ihnen zurück. Sie duckten sich, gewärtig, mit Kugeln überschüttet zu werden. Nichts. Plötzlich beschlich sie ein unheimliches Gefühl. Warum schossen die Burgleute noch immer nicht? Warum warfen sie nicht wenigstens Brände in Bäume und Gebüsch? Was war geschehen? Was geschah jetzt? Hatten die Knechte dem Herrn den Gehorsam verweigert? Ein Hoffnungshauch, der die Belagerer heiß überlief… Der Schönsteiner zeigte sich oben am Fenster. Er lachte. „Gute Kletterer, fürwahr!“ rief er. Doch dann zog er sich schnell wieder zurück, denn einer der Bauern hatte den Bogen auf ihn gerichtet. Der oberste hatte die Mauerkrone fast erreicht. Er griff mit den Händen nach oben, klammerte sich fest, zog sich empor, keuchend, den Kopf geneigt, um sich zu decken. Er setzte an zu einem Schwunge, der ihn zwischen zwei Zinnen der Mauer hätte bringen müssen. Aber er erreichte die Wand nicht und kam nur unter Anspannung aller Kräfte wieder auf die Leiter zurück. Nun blickte er doch über sich – denn ein zweites Mal durfte er die Wand nicht verfehlen, sonst schwänge er sich in die Tiefe. In
drei Meter Entfernung ragte die innere Mauer vor ihm auf, die den unteren Wehrgang trug. Dorthin! Das war das Ziel. Ja, er erblickte ein Türchen, ein Loch zwischen Felsen und Gemäuer, das möglicherweise den Weg ins Innere der Burg erleichterte. „Mach zu!“ rief es hinter, unter ihm. Die Bauern drängten nach. Der nächste schlug ihm an die Füße. Der oberste atmete tief, zog sich handbreit an der Mauer empor und noch einmal so weit. Da stieß er einen schrillen Schrei aus. Wie gelähmt hing er an der Wand. „Was ist?“ rief es unten. Man sprang zur Seite, wähnte ihn stürzen, wollte nicht erschlagen sein. Der Mann starrte mit schmerzhaft geweiteten Augen auf das, was nur eine Armeslänge vor seinem Gesicht war, was ihn anhauchte mit scheußlichem Atem, was knurrte, brummte, nach ihm schlug – ein Bär, ein riesiger schwarzer Bär! Von beiden Wehrgängen drang Gejohle herab. Das also war der Grund, weswegen man nicht geschossen hatte. Raubtiere verteidigten hier das Raubschloß. Bitter, düster, zerknirscht, begleitet vom Hohngelächter der Burgleute, ließen die Bauern zunächst von der finstren Feste ab. Sie sammelten sich am geschützten Flußufer und hielten Kriegsrat. Und sie fanden eine Möglichkeit, trotz der Bären hier zum Ziel zu gelangen; eine sehr dünne, sehr vage Möglichkeit freilich. Wenn sie Vieh töten und hier hinaufschleppen würden… Die Bestien könnten sich vollfressen und wären dann für Menschen weniger gefährlich. Ein tollkühner Gedanke. Zur Vernunft ratende Stimmen wurden laut und auch solche, die den Sturm um jeden Preis wollten. Die Bedächtigeren, die nicht die Feigeren waren, sprachen sich
für eine Belagerung, für das Aushungern des Schönsteins, für das Abwarten eines günstigeren Umstandes aus, gegen mutwilliges und nutzloses Vergießen kostbaren Blutes. Die andre Partei fragte dagegen: Aber wie nun, wenn ein Heer, wenn Freunde Ritter Guidos herbeieilten, ehe die Burg bezwungen – was dann? Auf offenem Felde konnten dreihundert schlechtbewaffnete Bauern den Söldnern nicht Trutz bieten. Was also warten! Lieber stürmen – auf welche Weise auch immer und mit welchem Ausgang. Johannes, Martins Stellvertreter, der bis jetzt geschwiegen hatte, bat ums Wort. Er stand in hohem Ansehen und alles lauschte ihm. Jede Partei hoffte, er würde für sie sprechen. Und er sprach für das Abwarten, gegen den selbstmörderischen Kampf mit den Bären. Er hatte menschliche, kluge Worte für seinen Rat. Zu jeder andern Zeit wären die Bauern ihm beinahe blind gefolgt. Und auch heute schien es so; doch da rief plötzlich eine Stimme: „Bist du’s, der gestern den Brand gelegt hat?“ Eine ungeheure Wirkung hatten diese Worte. Besonders die hitzigen Gemüter gerieten außer sich. Nun war dem Verdacht, den im geheimen jeder gegen jeden hegte, eine bestimmte Richtung gegeben. Sie griffen ihn auf, froh, ein Ventil für ihre Wut gefunden zu haben. „Rede!“ schrien manche, aber sie ließen Johannes nicht zu Wort kommen. Die andern, die besonnereren, riefen dazwischen, schalten die Hitzköpfe. Aus der verschworenen Gemeinschaft der Unterdrückten drohten zwei feindliche Lager zu werden. Ein Bursche sprang mit blankem Messer auf Johannes los. Dessen Sohn fiel ihm in den Arm und entwaffnete ihn. Schon stürzten zwei, drei andre auf
den Jüngling, dem seinerseits Männer zu Hilfe kamen. Ein schweigsames Handgemenge. Johannes traten Tränen in die Augen. Er war so entsetzt, daß er kein Glied zu rühren vermochte. Da donnerte Martin Rockers Stimme über den Platz, auf dem die Tollheit wütete: „Männer!“ Und als habe eine mächtige Kraft Gewalt über sie gewonnen, erstarrte augenblicklich die Szene. „Männer!“ sagte Martin noch einmal. „Seid ihr des Teufels? Wollt ihr uneins werden eines Heißsporns wegen, der nicht weiß, was er sagt? Nichts kann dem Ritter lieber sein, als wenn ihr euch gegenseitig zerfleischt! Wollt ihr so für eure Freiheit kämpfen?“ Langsam schritt er durch die Menge, die ihm Platz gab. Er war entschlossen, das Äußerste zu wagen. Vor dem Schreihals blieb er stehen. Er sah ihm lange in die Augen, bis der den Blick niederschlug. „Du hast den besten von uns beleidigt. Du hast Zwietracht in unsre Reihen getragen. Bestimme deine Strafe selbst.“ Der junge Mann, eben noch mit haßverzerrtem Gesicht, ward über und über rot. Die Scham drohte ihn zu verschlingen. Wenn der Anführer ihn mit der Faust zu Boden geschlagen hätte – es hätte ihn nicht so getroffen. Zwei Minuten zögerte er. Dann griff er nach dem Messer in seinem Gürtel und kehrte die Spitze gegen sich selbst. Martin wußte, daß es ihm ernst war. Drum packte er ihn bei der Hand. „Du darfst es dir nicht so einfach machen, mein Junge“, sprach er. „Du solltest eine Strafe wählen, nicht die Flucht. So höre, was ich sage, und gehorche: Verlaß uns, und geh heim zu den Greisen und Kindern.“ Ein Zittern ging durch den Körper des Jünglings. Und
plötzlich wandte er sich um und lief davon, als gelte es sein Leben. Aber nicht weit lief er. Dann kam er zurück. Er trat zu Johannes. „Verzeih“, sagte er leise, und er gab dem Alten das Messer; dann stürzte er davon. Niemand hatte sich von der Stelle gerührt. Es lag peinigendes Schweigen über dem Bauernhaufen. Da liefen zehn junge Kerle zu Martin hin, der Sohn des Johannes vorneweg. Sie schworen ihm Treue für die Sache des Volkes, heißen Herzens und mit glühenden Augen. Martin blickte in die Runde. Sein Antlitz überflog ein freudiger Schein. Die zehn sprachen aus, was der ganze Haufe schwor. Am Nachmittag hatten sie den Fluß wieder überquert und sich erneut vor dem Tor gelagert. Sogleich zog sich Martin mit Johannes zu einer ernsten Beratung zurück. Die Bauern blickten ihnen nach. Was war Martin doch für ein Mann! Nur weniger Worte aus seinem Munde hatte es bedurft, um das drohende Chaos abzuwenden. Die beiden waren sich in der Sache, die sie besprachen, schnell einig. Nur wer von ihnen die Ausführung übernehmen sollte, darüber war die Einigung schwer; keiner wollte dem andern den Vortritt lassen. Als dann die Nacht hereingebrochen war, trat Martin vor seine Kameraden hin. „Ich will“, sprach er, „daß vorläufig Johannes euer Anführer sei. Folgt ihm so, wie ihr mir gefolgt seid.“ Dann schritt er ohne Abschied in die Nacht. Nur der Freund wußte, wohin. In alter Zeit war das imposante Massiv des Schönsteins steil vom Ufer des Gebirgsflusses in den Himmel aufgestiegen, zu vier Fünfteln von den Wassern umspült. Dann
waren die Ritter ins Land gekommen. Bauern, Hörige, Knechte und Knappen hatten den Felsen von seinem Gipfel aus spalten und die eine Hälfte bis zu einer Höhe von fünf Metern über dem Wasserspiegel abtragen müssen. So war ein Plateau entstanden, das, an seinem der Fluvitza zugekehrten Rand mit einer Mauer umgürtet, zum Burghof werden sollte. Das abgetragene Gestein aber ward in viele kleine Blöcke geschlagen und aus ihm das Raubschloß auf dem verbliebenen Felsenkopf errichtet, mit einem Turm, mit Wehrgängen, einem Bärenzwinger und einer Kapelle bei dem kleinen freien Platz auf der Höhe. Zur Verbindung der Burg mit dem Hofplateau ward ein Wendelstein in den Felsen gehauen. Kein andrer Weg führte hinauf in das Nest des Ritters. Der Wendelstein aber war unten und oben durch eisenbeschlagene Bohlentüren gesichert. Im Burghof patrouillierten in dieser Nacht wie stets zwei Wächter. In zwei großen Gevierten schritten sie immer wieder seine ganze Ausdehnung ab. In der Mitte trafen sie sich und gingen ein Stück schweigend nebeneinander her. So geschah es zum zehnten, zum zwanzigsten Male. Da sagte der eine: „Bald Regen“ – und deutete zum Himmel. Sterne und Mond waren hinter einer dichten, tiefliegenden Wolkendecke verborgen. Der andre nickte. Dann trennten sie sich wieder. Bei der nächsten Begegnung: „Ob sie doch noch mal kommen?“ „Werden die Nase voll haben.“ Wieder Trennung, wieder Begegnung. Von nun an herrschte Schweigen. Nur die Wipfel der Buchen hier und jenseits des Flusses säuselten, und die Fluvitza sang ihr ungebärdiges Lied. Der Torwächter äugte müde aus
seinem Fenster zum Lagerplatz der Bauern hinüber. Die ruhten alle; keiner rührte sich. Es war eine unwirtliche Nacht, so recht geeignet, Gespenster zu sehen. Die Wachmänner fröstelte. Nacht der Furcht. Daß sie die Spieße gelegentlich auf den Felsboden aufstießen, sollte ihnen Mut machen. Das Wasser rauschte. Das Raubschloß schlief. Unvermittelt heulte ein hungriger Bär auf. Das Klagen versickerte. Stille. Ein Mann nahm am andern Ufer das Messer zwischen die Zähne, entblößte Oberkörper und Füße. Die Fluvitza war schwarz und wirkte unermeßlich breit. Sie war die Freundin des Todes. Der Mann, Martin Rocker, ließ sich am Gestrüpp hinab ins eisige Naß. Seine Glieder, sein Herz wollten erstarren. Die Wellen schlugen ihm über den Kopf. Langsam floh das Gefühl seine Haut. Und er warf sich nach vorn, den Messergriff fest zwischen den Zähnen. Dort drüben irgendwo, fünf Meter über dem Wasserspiegel, dehnte sich das Plateau des Burghofs. Die eisigen Fluten griffen dem Mann ans Leben. Er stieß mit den Händen, mit den Armen. Sein Körper ward bewegt, weniger von seiner eignen Kraft als von der Strömung. Eine Ewigkeit schon schien er zu schwimmen, und doch war die Mitte des Gewässers kaum erreicht. Jetzt wand sich die Fluvitza wie eine Schlange um den Fels, spülte den Mann zur Seite, drängte ihn hinüber gegen die Wand. Aus dem nächtlichen Dunkel stieg diese auf. Sie fassen können…! Arme und Beine arbeiteten wie wild. Ein flechtiges Geranke, ein winziger Spalt, den das Wasser ausgeleckt, und der Mann krallte sich ein, indes die Beine mit dem Flusse rangen. Oben im Burghof wanderten zwei Wächter auf und ab.
Es waren das nicht die einzigen Menschen auf Schönstein, die nicht schlafen durften, obwohl sie es gern getan hätten. Auf jedem der beiden Wehrgänge patrouillierten zwei Wachen, und ein Späher hockte an dem Fenster, von dem aus das Lager der Bauern genau zu übersehen war. Fackeln an der Burgwand rissen das Lager aus der Dunkelheit. Wenn dort die geringste verdächtige Bewegung entstehen sollte, würde der Späher ins Hörn stoßen, und im Nu würden sich die Landsknechte in der Burg von ihren Ruhestätten erheben und in den Hof hinabeilen, dem Feinde zu begegnen. Zu einem Handstreich gäbe es keine Möglichkeit. Die Burg war gesichert. Herr Karl von Schöpfungen hätte freilich lieber gesehen, wenn sich die Mehrzahl der Verteidiger im Burghof gelagert hätte, aber Ritter Guido hatte gelacht. Burg Schöpfungen mag wohl zu überwältigen sein, Burg Schönstein nie. Die Fluvitza tobte. Steil ragte der Fels aus dem Wasser auf, steil vom Grunde des Flusses bis zum Plateau. Ein furchtbar erschöpfter Mann klammerte sich an kaum wahrnehmbare Vertiefungen. Hände und Füße bluteten, die Lunge keuchte. Aber der Mann durfte nicht verschnaufen; sonst hätten die Gelenke den Dienst versagt, sonst wäre er unweigerlich abgestürzt. Kaum faßlich, wie er an der Wand hinaufglitt! Und Hände und Füße, mit denen er Halt suchte, waren gefühllos und wie tot. Es war stockfinster. Martin spürte die ersten Tropfen des aufkommenden Regens nicht. Ein Aufbäumen, eine letzte gewaltige Kraftanstrengung, und die Rechte packte einen Steinzacken am Kopf der Mauer, die Linke griff nach, die Füße – und ein bleierner Körper rollte auf die Fläche des Mauerwerks. Unbeweglich blieb er liegen. Das Herz schien aus dem Halse springen zu wollen. Martin war
unfähig zur kleinsten Bewegung und zum Denken. Etwas wie eine Lähmung überkam ihn, halber Schlaf. Das Messer war immer noch zwischen den Zähnen. Die Wolken schütteten sich aus auf die Bauern vor der Zugbrücke, auf die Wachmänner, auf den Schlummernden. Ein kräftiger Wind kam auf. Der Fels, auf dem die Hofwächter fluchend einhertappten, ward glitschig. Sie blieben näher bei dem Massiv, das die Burg trug; sie waren dort mehr geschützt. „Ins Torhaus“, riet der eine. Aber der andre antwortete durch feindseliges Schweigen. Gespenster jagten wie zu Wotans Zeiten durch die Lüfte. Es war eine böse Nacht. Und die Bären grollten. Die Männer sahen nicht den wie leblosen Körper. Johannes war in einer verteufelten Situation. Seiner Meinung nach war schon viel zuviel Zeit verstrichen, ohne daß von Martins Unternehmen etwas zu hören oder zu sehen gewesen wäre. Am liebsten wäre er aufgesprungen und dem Freunde nachgeeilt. Aber die verdammten Fackeln da drüben an der Bergwand! Man würde sofort auf ihn aufmerksam werden. Mit nervösen Händen riß er das Gras neben sich aus, und sein Atem ging stoßweise. Wie nun, wenn sie Martin beim Schwimmen bemerkt, ihn abgefaßt, gefoltert, womöglich umgebracht haben? Wenn sie grade dabei waren, es zu tun? Vielleicht wäre er in diesem Augenblick noch zu retten. Aber wie? Das Wasser floß unerbittlich um den Felsen, und die Zugbrücke stand schräg empor, unerreichbar. Die Minuten glichen Stunden. Es war noch nicht Mitternacht, da ward der Wind zum Sturm. Er rüttelte die Wipfel der Buchen. Die alte Zug-
brücke ächzte in ihrer Schwebe. Aufgescheuchte Nachtvögel strichen über Ufer und Berg dahin. Johannes überlegte fieberhaft: das Floß herbeiholen, dem Martin nach, das Plateau erstürmen… Hirngespinste! Sie brauchten sich nur zu erheben – und schon würden die Landsknechte den Burghof überfluten. – Verdammtes Abwarten! Und sich nicht einmal rühren dürfen! Lothar, der Sohn des Johannes, beobachtete den Alten aus den Augenwinkeln. Er sprach ihn an: „Kann dem Martin etwas passiert sein?“ Johannes antwortete nicht. Nach längerer Zeit erst versetzte er: „Sag das weiter: Sie sollen die Augen nicht von der Brücke lassen. Sobald sie heruntergeht, stürmt alles mit größter Schnelligkeit drauf zu und dringt in den Hof ein. Verstanden?“ „Ja, Vater.“ Von Mund zu Mund ging der Befehl. In diesen Minuten geschah es, daß die Kälte Martins Schlaf überwand. Seine Hände begannen nach einer Decke zu tasten. Sie fühlten klebrige Nässe… Er kam zu sich. Einen Augenblick lang empfand er nichts als dumpfe Schmerzen. Er richtete den Kopf ein wenig empor und ließ ihn wieder sinken. Mit Sekundenschnelle stellte sich da die Erinnerung ein – entsetzlicher Schreck. Er lag auf der Hofmauer! Hastig ordnete er seine Gedanken. Wie spät mochte es sein? Seine Zähne mahlten vor ohnmächtiger Wut. Wenn jetzt das Unternehmen scheiterte, war es seine Schuld, allein seine Schuld. Wenn die Bauern Sklaven blieben, seine Schuld! Er fühlte den Regen. Wie spät? Keine Möglichkeit, die Zeit zu erkennen. Der Himmel schwieg. Noch war Nacht.
Das Messer lag neben seinem Kopf auf der Mauer. Der Griff hatte Kerben von den Zähnen. Martin nahm ihn fest in die Hand. Er spürte jetzt weder Schmerzen noch Müdigkeit, noch Kälte. Alle seine Sinne schienen im Gehör aufzugehen. Dort drüben, an der Felswand… Dort bewegte sich etwas. Ein Tier? Dort kam kein Tier hin. Also Wachen. Martin ließ sich geräuschlos in den Hof hinunter und glitt ein Stück hinüber. Regen und Sturm waren seine Bundesgenossen so gut wie seine Feinde. Die Wachmänner liefen nur noch kleine Karrees ab. Der Teufel sollte diese Nachtwache holen! Sie stampften mit den Füßen auf. Aber davon wurde es nicht trockner und nicht wärmer. Da kroch von der Ufermauer etwas heran, lautlos wie ein Wurm und ungesehen. Martins Auge gewöhnte sich an die Dunkelheit. Er wartete, bis die beiden Wächter sich wieder voneinander entfernten. Dann folgte er dem rechten. Unmittelbar hinter ihm schnellte er sich empor, sprang den Mann an, um ihn niederzureißen und für immer schweigen zu machen. Aber die nackten Füße glitten aus. Der Sprung war zu schwach gewesen. Zu spät, ihn aufzufangen und zu wiederholen. Der Körper traf nur gegen den andern Körper. Die Hände erreichten den Hals nicht. Der Wachmann stürzte nach vorn über. Ein Schrei! Da lag der Verfolger schon auf ihm, mit dem Messer ausholend… Aber da war der Schrei gewesen. Martins Hirn tobte. Dieser Schrei…! Die todbringende Hand erstarrte. Ulrich! Das war des Bruders Stimme gewesen. Martin war dem Wahnsinn nahe. Den Bruder töten? War der Preis der Freiheit so hoch? Es war kaum mehr als eine Sekunde seit dem Schrei
vergangen, da riefen die Hörner auf den Wehrgängen die Landsknechte zum Kampf, da preschte der andre Wachmann herbei, den Spieß in der erhobenen Rechten. Ehe der verwirrte Martin sich umwenden und dem andrängenden Feind ausweichen konnte, stieß der schon zu. Ein winziger Ruck nur zur Seite – das Eisen traf statt der Brust die Schulter. Im Raubschloß auf der Höhe ward es lebendig. Martin hatte von dem Stoß kaum etwas gespürt. Er federte sich zur Seite, sprang auf und schoß nach vorn. Der zweite Stoß des Gegners ging ins Leere… Da brach der Wachmann lautlos zusammen; das Messer war ihm in die Kehle gefahren. Oben dröhnten die Hörner noch immer. Martin wandte sich nach dem Bruder um. Der Uhl hatte sich aufgerafft und stürzte auf die Tür zum Wendelstein zu. Er schrie, was seine Lungen hergaben; „Der Feind ist im Hof!“ In den Fenstern und auf dem Platz vor der Kapelle erschienen Fackeln. Der Stein ward sichtbar im blakenden Licht. Waffen klirrten oben auf dem Felsen. Die ersten Krieger eilten den Wendelstein hinab. Martin war über das Plateau hinweggesetzt zum Torhaus. Jetzt bohrte der Schmerz in seiner Schulter. Der Arm hing wie tot. Blinder, rasender Schmerz. Das Blut lief. Die Sinne wollten schwinden, die Beine den Gehorsam versagen. Martin biß die Zähne zusammen. Er war hier nicht für sich selbst, er war hier für… Er erreichte das Torhaus. Der Hüter kam ihm verschlafen entgegen. „Was gibt’s?“ „Das!“ Martin, fast am Ende seiner Kräfte, stieß ihn nieder, suchte mit fiebernder Hand nach dem Seil für die
Brücke, fand es endlich, wand es ab… Draußen krachte die Brücke herunter. Der Uhl, schlotternd vor Angst und keines vernünftigen Gedankens fähig, verschloß und verbarrikadierte die Wendelsteintür von innen und stützte sie ab. Dabei brüllte er, als stecke er am Spieße. Die ersten Landsknechte erreichten ihn, wollten hinaus, dem Feind das Eindringen in den Hof zu verwehren… Da war die Tür schon versperrt. Der Offizier schlug dem Uhl die Faust ins Gesicht. Der lallte: „Zu spät.“ Der Haufe der Bauern, Johannes und sein Sohn an der Spitze, war auf die Brücke geeilt, drängte gegen das Tor, rüttelte daran. Martin schleppte sich mit letzter Kraft zu der eisernen Versperrung. Die Hand packte den Riegel – dann schwanden ihm die Sinne. Der Offizier, der auf dem Hof nichts hören konnte, befahl kurzerhand, die Wendelsteintür wieder zu öffnen. Aber da trappelte es draußen, Stimmen schlugen heran. Zu spät. Nun war es wirklich zu spät. Burg Schönstein hatte den Rest des Vorfeldes verloren. Die Landsknechte stiegen die steile, gewundene Treppe wieder hinauf. Sterbenselend schlich der Uhl hinterdrein. Die vorstürmenden Bauern fanden ihren Martin Rocker – die mächtigen Torflügel hatten ihn zur Seite gefegt. Während das Gros des Haufens das Plateau besetzte, trugen Lothar und einige Freunde den Schwerverletzten ins Torhaus. Tuchfetzen rissen sie sich vom Leibe und verbanden damit notdürftig die zertrümmerte Schulter. Einer hielt Wache. Guido von Schönstein keuchte, als der Offizier ihm gemeldet, wie sich alles zugetragen: „Verteidigen! Und den
Uhl zu mir!“ Flintenläufe gesellten sich zu den Fackeln. Schüsse fuhren durch die Regennacht. Der Fels gab ein Echo zurück, als wären Kanonen aufgefahren. Es traf kaum einer. Da sausten Fackeln herab, die Bauern zu verbrennen oder doch wenigstens so zu beleuchten, daß man besser auf sie schießen konnte. Johannes befahl, die herabsausenden Brände zu löschen. Wer dem Befehl nachkam, ward beste Zielscheibe. Und dennoch mußte gehandelt werden. Zwei fielen, drei, vier, zehn… Verwundete, Tote. Da brüllte oben die Stimme des Ritters: „Wahnsinnig! Aufhören mit Schießen!“ Augenblicklich herrschte Ruhe. Das Böllern hatte den Pulvervorrat schon empfindlich verringert. Plötzlich schwang sich beim Kapellenvorplatz ein Mann über die Brustwehr, hing an einem Seil, sauste herab, daß ihm die Hände verbrannten. Ehe die Bauern gegen ihn Front machen konnten, stand er auf dem Plateau. „Freund“, rief er und warf ihnen seine Flinte entgegen. Die Bauern blickten einander an. Dann stürzten sie auf ihn zu, griffen nach seinen wunden Händen und drückten und schüttelten sie. Da kam noch ein andrer herab und an einem zweiten Seil ein weiterer und ein vierter. Ein alter Bauer fiel auf die Knie und flüsterte inbrünstig ein Gebet. In einem Raum der Burg raste der Schönsteiner wie ein Löwe hin und her. Der Uhl stand zitternd an der Wand. „Ich kann nichts dafür, ich kann wirklich nichts dafür“, jammerte er. „Überrascht haben sie uns. Der Regen. Der Sturm. Plötzlich lag einer über mir…“ „Lüge!“ schrie der Herr und stürzte auf das verzweifelte Häuflein Mensch zu. „Du Hund“, zischte er. Ein Fausthieb ließ den Uhl taumeln. „Du hast mich verraten! Du
hast mich an das Pack da draußen verraten. Du hast die Brut hereingelassen. Du hast meine Leute gehindert, sie hinauszujagen. Du paktierst mit der Bande. Du Hund! Soll ich dich aufhängen oder soll ich dich erdrosseln? Was? Such dir’s aus!“ Langsam, gierig vor Wut zitterten seine Hände vor, kamen immer näher an den Hals des andern. Dem Uhl traten die Augen aus den Höhlen. Das Entsetzen lähmte ihm Stimme und Glieder. Schönstein geiferte. „Du Katze. Zertreten werde ich dich.“ Mit wutund hohnverzerrtem Gesicht packte er zu. Aber er besann sich, schleuderte den Uhl nur auf den Boden, spuckte ihn an, trat ihn. Dann schrie er: „Steh auf!“ Taumelnd gehorchte der Knecht. Er lehnte sich an die Wand, damit er nicht wieder hinschlüge. In seinem Kopfe waren keine Gedanken mehr. Wieder stand das gemeine Gesicht vor ihm, und die Hände waren auch wieder da. „Ich will gnädig mit dir sein“, keuchte der Schönsteiner. „Du kannst dir dein Leben erkaufen. Oder soll ich dich erwürgen? – Hör genau zu: Du trittst ans Fenster, läßt die Strickleiter hinab und forderst den Anführer der Bande auf, heraufzusteigen. Sagst, ich will verhandeln. Und wenn der fast oben ist, hakst du die Leiter ab und läßt sie mitsamt dem Kerl hinunterstürzen.“ Der Uhl schrie auf: „Nein!“ Die Hände kamen wieder heran. „Such dir’s aus. Wenn der Anführer weg ist, haben wir leichteres Spiel.“ „Nein“, brüllte der Uhl. „Mein Bruder!“ „Dein Bruder?“ Der Ritter lachte. „Um so besser. Dann wird er kommen, wenn du rufst.“ „Nein!“ Die Fingerspitzen berührten schon den Hals, „Such dir’s
aus. Er oder du.“ Der Uhl röchelte. Sein Kopf war leer. Der Schweiß drang ihm aus allen Poren. Das Blut würgte ihm im Halse. Er konnte nicht mehr. Er hauchte irgend etwas. Der Herr hatte Ja verstanden. „Los“, kommandierte er und stieß ihn zur Tür hinaus. Im Gang schlug der Uhl wie ein Irrer mit der Stirn gegen die Wand. Du mordest deinen Bruder! Du mordest deinen Bruder! Er erbrach sich gegen die Wand und auf sein Wams. Du mordest deinen Bruder! Er knickte zusammen, richtete sich wieder auf. So gelähmt sein Hirn gewesen, so mächtig arbeitete es jetzt. Es gab einen Weg der Rettung. Wenn er jetzt den Wendelstein hinabliefe, die Bohlentür aufrisse, seinen Bruder, die Bauern hereinließe, dann wäre er gerettet, dann wäre er kein Mörder. Zwei Minuten hatte er Zeit zum Entschluß. Die Sekunden rasten dahin. Er kniete vor einer Truhe. Hinablaufen! Er packte die Strickleiter. Kein Mörder werden! Noch eine halbe Minute, dann würde der Herr nach ihm suchen. – Die Hände vom Bruderblut sauber lassen! Der Uhl stürzte den Gang entlang, durch einen Raum hindurch, zum Wendelstein hin… Er krallte sich an der Wand fest, die Stirn am Mauerwerk. Wenn er die da unten, die graue Masse, hereinließe, würde Burg Schönstein fallen, der Aufstand siegen und der Herr unters Messer kommen. Und dann? Dann war auch das glückliche lieben des Ulrich Rocker verspielt. Dann mußte dieser Ulrich Rocker wieder Bauer sein wie die gehaßten, verfluchten andern, mußte wieder Knecht sein, den Stiefel im Nacken. An der Wand schlug er sich die Stirn blutig. Und langsam, taumelnd trugen ihn die Beine zurück zu der Truhe. In der Tür erschien der Schönsteiner. Der Uhl
nahm die Hanftreppe und torkelte zum Fenster. Er lehnte sich über das Gesims. Und wieder erbrach er sich. Galle tropfte in den Hof hinab. „Euer Anführer soll zu Verhandlungen heraufkommen“, hauchte er, ungehört. Da spürte er die Hand des Herrn im Genick. Und nun schrie er: „Euer Anführer soll zu Verhandlungen heraufkommen!“ Einen Augenblick war unten Ruhe. Dann trat einer an die Felswand heran. Der Uhl schloß die Augen. Langsam, Stück um Stück rutschte die Leiter aus dem Fenster. Jetzt hatte sie den Mann erreicht. Der Uhl stöhnte. Er hakte das grauweiße Garn fest. Fackeln leuchteten Johannes, dem Anführer, hinauf. Die Leiter zuckte bei jedem Tritt. „Jetzt“, knurrte der Schönsteiner. Der Uhl ließ die Leiter vom Haken gleiten. Herr Guido packte ihn am Arm und zog ihn in den Nebenraum. Einen Humpen Wein gab er ihm. „Sauf!“ Der Uhl gehorchte. Dann fiel ihm das Gefäß aus der Hand. Er sank bewußtlos zusammen. Auf dem Hof standen die Bauern um das herum, was von Johannes übriggeblieben war. Sie schwiegen. Sie standen unbeweglich, mit verbissenen Gesichtern, Trauer und Haß zugleich in den Augen. Still nahmen sie Abschied von ihrem Kameraden. Die Fackeln oben blakten. Es war ein gespenstisches Bild. Als sich vier der Männer anschickten, die Reste des Toten in einem Tuch zu bergen, um sie zum andern Ufer zu schaffen, rief es aus einer jungen Kehle heraus: „Mörder!“ Der Felsen gab den Schrei zurück. Da stürzte der Bursche, nicht viel mehr als ein Knabe noch, zur Tür im Felsen und schlug mit Händen und Füßen wie besessen dagegen. Immer wieder: „Mörder! Mörder!“ Es war Lo-
thar, der Sohn des Johannes. Jetzt sprach der ganze Bauernhaufe mit: „Mörder, Mörder“ – ein Murmeln, ein Grollen, ein Drohen, eine unvertilgbare, unerweichliche Entschlossenheit. Und ohne daß sie einen neuen Anführer gewählt hatten, ohne daß ein Wort der Abmachung zwischen ihnen gefallen war, packten sie ihre Waffen fester und machten Front gegen die Tür zum Wendelstein, dem einzigen Zugang zur Burg. Da drang Guido von Schönsteins Stimme von einem der Fenster herunter: „Fort von der Burg, augenblicklich, sonst…!“ Die Drohung selbst erfuhr man nicht. Ein Schuß schnitt sie dem Herrn vom Munde. Schönstein sah den Feuerschein, hörte den Knall, hörte den Aufprall des Geschosses unmittelbar neben sich am Gestein, fast alles zugleich – er warf den Oberkörper zurück, in Sicherheit. Geifer stand ihm vor dem Mund. Die Kugel war nicht vom Hof gekommen, sondern von der Kapelle her, wo die Verteidiger, seine eignen Leute, standen. Er raste durch die Kemenaten, auf den Verbindungsgang hinaus… Aber die Knechte deuteten nach unten. Der Schütze und zwei Freunde waren an den Seilen zu den Bauern hinabgeglitten. Schönstein ließ die Seile verbrennen, fluchte, tobte. Keiner von den treu gebliebenen Dienern wagte, dem Herrn zu nahe zu kommen, ihn gar auf das aufmerksam zu machen, was im Burghof vorging. Dort hatten die ersten Axtschläge die Bohlentür getroffen. Wortlos hieben die Männer zu. „Schießen!“ brüllte Schönstein, als er begriff. Aber das Schießen fruchtete nichts. Die Bauern, die gegen die Tür angingen, waren durch eine Felsvorwölbung gedeckt. Äxte krachten. Mit dumpfem Ton antwortete das schwere, eisenbeschlagene Türblatt.
Karl von Schöpfungen, der aus seiner Burg vertriebene Ritter, hockte in einer Ecke des kleinen Saales und starrte stumpf vor sich hin. Er sah nichts, er hörte nichts, er dachte nichts – er starrte und hockte, die Füße auf den steinernen Boden gestemmt. Seit Stunden, seit man den Schönsteiner geweckt hatte, war er hier. Die andern Flüchtlinge standen unter Waffen irgendwo in der Burg. Plötzlich war da ein großer, breiter Kerl neben ihm, der rief ihn an. Verstört fuhr Schöpfungen zusammen. Der Schönsteiner, der Gastgeber, war da. „Sind sie fort?“ winselte Schöpfungen mit glasigen Augen, „sind sie fort?“ „Fort?“ Der Burgherr lachte zynisch. „Bereite dich auf deine letzte Stunde vor!“ „Nein!“ schrie Schöpfungen. Er biß sich in die Hände und wich wie vor einem Gespenst zur Wand zurück. Seine Worte waren ein unverständliches Wispern. Schönsteins Sporenschritte dröhnten zum Fenster hin. Dort unten rauschte die Fluvitza. Der Mann wölbte seinen Brustkasten vor und atmete, was seine Lungen nur aufnehmen wollten. „Wenn sie die Tür zerschlagen haben, ist es aus, Schöpfungen, aus. Im Wendelstein jagen sie meine Leute wie die Hasen vor sich her. Und hier oben verteidigen? Die sind dreimal mehr als wir. Wir halten uns ein paar Stunden, einen Tag höchstens, dann ist es aus. Dann können uns die Geier fressen, mich und dich auch, Schöpfungen.“ Schöpfungen klebte noch immer an der Wand, wisperte, murmelte. Der Schönsteiner war jetzt ganz ruhig. „Los, Schöpfungen, komm, saufen wir noch eins. Was wir nehmen, kriegt die Bande nicht.“ Aber Schöpfungen streckte entsetzt abwehrend die Arme von sich. Schön-
stein lachte. Er trank gierig aus dem Kruge, und den Rest kippte er seinem Gast ins Gesicht. „Was haben wir eigentlich falsch gemacht, Schöpfungen, hm? Hätten immer ein paar von diesem Gesindel im Verlies haben sollen, was? Die Schlimmsten. Dann sollten die andern kommen! Von den Gefangenen einen nach dem andern von oben runterschmeißen. Da wär’s ihnen schon vergangen. Ach! Zu spät.“ Er trank aus einem andern Krug. „Nein, nein“, rief Schöpfungen. „Die Forderungen annehmen. Immer besser die Hälfte verlieren als alles.“ Plötzlich sprang er herbei, klammerte sich an den Burgherrn, umschlang seine Beine, seinen Leib. „Biete es ihnen an – es ist vielleicht noch nicht zu spät. Tu’s! Tu’s! Sei klüger, als ich war,“ Schönstein wölbte die Lippen vor und fuhr sich durchs Haar. Er riß sich los. Mit den Fäusten schlug er auf den Fenstersims. Ruckartig wandte er sich um. „Und wenn sie die Tür nicht zuschanden kriegen? Wenn Hilfe kommt, ehe sie drin sind?“ „Und wenn du neunundneunzigmal siegst – beim hundertsten Male werden sie dich schlagen. Die werden nie wieder Ruhe geben, nie wieder. Bis sie ihren Willen haben. Und wenn du sie alle umbringst. Da sind schon wieder Kinder da, und die Kinder werden es mit deinen Kindern aufnehmen. Bis sie ihren Willen haben. Es wird nie Ruhe werden. Wenn’s auch mal so scheint… Ich sehe das jetzt alles klar. Unterwirf dich, Schönstein! Sei nicht so dumm, wie ich gewesen bin!“ Der Burgherr schien einen Augenblick gegrübelt zu haben. Nun wischte er die schändlichen Gedanken und Reden mit einer ungestümen Handbewegung fort. Seine Sporen rasselten und kratzten über den Boden. Schöp-
fungen versank wieder in seine Lethargie. Plötzlich stieß Schönstein einen grellen Schrei aus. Er stürzte zur Tür, stieß sie auf, brüllte in den Gang: „Den Uhl zu mir!“ Und er packte den Freund, den Schwager, preßte ihm die Kanne vor den Mund, zwang ihn zum Trinken. „Sauf, Schöpfungen, sauf“, keuchte er dabei. „Es gibt noch einen Weg, uns zu retten…!“ Die Burgfrau war ruhelos in ihrer Kammer auf und ab gelaufen, mit den Händen in den aufgelösten Haarflechten wühlend. Der Herr hatte ihr verboten, die Kammer zu verlassen. Sie jammerte und klagte und betete zu Gott. Aber die Zeit ward lang, und mit ihr wuchsen die Angst und das Grauen. In ihrer Verzweiflung setzte sie sich schließlich über das Verbot ihres Gemahls hinweg. Sie öffnete die Tür und eilte, nur mit dem Nachtgewand angetan, ein Stockwerk hinab in den langen Flur. Beim kleinen Saal blieb sie zitternd und klopfenden Herzens stehen. Den Uhl hatte sie eben hineingehen sehen. Wenn der Herr den Uhl rief, dann ging es stets um ein tollkühnes Stück. War noch nicht alles verloren? Rede und Gegenrede drangen wie von fern durch die Tür des kleinen Saals. Keins der Worte war zu verstehen. Hin und wieder quäkte ihres Bruders Stimme dazwischen. Die Frau konnte nicht anders: Behutsam öffnete sie die Tür zu einem kleinen Spalt… „Und wenn du erst nur damit drohst“, flehte der Uhl. „Sie werden weichen, und es gibt kein neues Blutbad. Herr!“ Wieder kamen die Hände auf ihn zu. „Verräter! Jetzt belügst du mich nicht mehr. Nun gut. Ich werde dich lebendig den Bären zum Fraß vorwerfen lassen.“ Der Uhl heulte auf wie ein gepeitschtes Vieh. „Gnade,
Herr! Du kannst nicht deinen treuesten Knecht…! Ich habe immer zu dir gestanden, immer. Das hab’ ich bewiesen. Meinen eignen Bruder hab’ ich umgebracht. Herr! Ich tue, was du willst. Nur das nicht!“ Noch einmal flehte er leise: „Nur das nicht!“ Die Burgfrau drückte die Tür wieder ins Schloß. Was hatte ihr Gebieter vor? Sie fröstelte. Lautlos, wie sie gekommen, eilte sie die Treppe wieder empor, zu Gott bittend, daß er ihr das Leben erhalten möge. Was mochte der Herr vorhaben – Schreckliches, Herrliches, daß selbst einem Kerl wie dem Uhl davor bangte? Ein Stockwerk unter ihr taumelte der Uhl mit trockner, quellender Zunge aus dem kleinen Saal. Er wankte den Gang entlang, durch einen Raum; dann stand er am Wendelstein. Der Knecht, der die Bohlentür bewachte, wollte eine Auskunft. Ulrich nahm ihn gar nicht wahr. Da kam der Schönsteiner ihm schon nachgeeilt, befahl dem Knecht, die Tür zu öffnen. Und als der Uhl noch immer zögerte, stieß er ihn mit eigner Hand in den Wendelstein hinein. Der Uhl schlug hin, glitt ein paar Felsenstufen hinab, faßte sich, erhob sich mühsam. Sein Blick wanderte zur Tür zurück. Dort stand breit und wuchtig der Ritter Schönstem mit unbeweglichem Gesicht. Der Uhl hatte blutunterlaufene Augen wie ein Stier. Aber er duckte sich, und Stufe für Stufe, mit gebeugtem Rücken, tappte er hinab. Kaum hatte er die erste Windung hinter sich, da ging oben auf Befehl des Herrn die Tür zu. Die drei schweren Riegel wurden vorgeworfen, massive Stützen dagegengestemmt. „Kommt der Uhl nicht zurück?“ fragte verdutzt der
Knecht. Aber sogleich duckte er sich unter dem Blick des Herrn. „Wenn du hier öffnest, ganz gleich für wen, dann bist du deinen Kopf los!“ Der Uhl tappte vierzig Stufen hinab. Seitwärts, in den Felsen hinein, dehnte sich hier eine Höhlung, ein Stollen, schier unergründlich weit. Der Uhl wußte es. Zu sehen war in der Finsternis nichts. – Noch weitere vierzig Stufen hinab – dann wäre er am Ausgang zum Burghof… Die Schläge der Äxte klangen herauf. Längst schon hatten sie eine Kerbe gehauen, längst schon fiel Faser um Faser, und die Lücke ward breiter und breiter. Wenn er jetzt hinabliefe, öffnete, die Bauern einlassen und sich ihnen zu Füßen werfen würde – wäre dann sein Leben nicht immer noch gerettet? Ja, hämmerte sein Herz. Aber sein Hirn zuckte: Nein. Nein. Den Brudermörder würde man nicht leben lassen. Unvermittelt drangen dem Manne Ströme von Tränen aus den Augen. Es war aus. Vorbei. Er mußte die Bluttat vollenden oder zugrunde gehen. Er tastete sich zu dem Stollen hin, fand eine Fackel, schlug Feuer. Der Ruß stieg ihm in Hals und Nase. Er hielt die Leuchte weit vor sich hin und drang Schritt für Schritt, Elle für Elle in den Stollen ein. Um eben diese Zeit kam der Bruder des Uhls, der schwerverletzte Martin, aus seiner Wundohnmacht wieder zu sich. Lothar, der seit einer halben Stunde Wache hielt, hatte eine Fackel ins Torhaus gebracht. Martin stützte sich mit dem gesunden Arm ein wenig empor. Er verbiß sich den Schmerz. Was sich ereignet habe, begehrte er zu wissen. Lothar berichtete. Als er von der Ermordung seines Vaters sprach, drohte ihm die Stimme zu versagen.
Martin sprang heftig von der Bank auf, so daß ihn ein neues Schwindelgefühl packte. Der Jüngling erzählte weiter. „Wie lange noch?“ fragte der Anführer. „Die Tür trotzt keine zwei Hände voll Minuten mehr.“ „Höre, mein Junge“, sprach Martin und legte dem Sohn seines toten Freundes die Hand auf die Schulter. „Vergiß dein Leben lang nicht, was du hier erlebt hast. Und wenn du deinen Vater betrauerst, dann denke immer daran, wofür er gestorben ist. Erzähle es einst deinen Kindern.“ Sein Blick ging in die Weite. „Wenn wir heute siegen“, fügte er leise hinzu, „dann werden wir ihm einen großen Stein setzen, ihm und den andern Toten, die für die Freiheit und das Recht des gemeinen Volkes dahingegangen sind.“ „Und wenn wir nicht siegen? Ist das möglich, daß wir nicht siegen?“ Mit großer Güte blickte Martin dem Jungen in die Augen. Er strich ihm übers Haar. „Einmal siegen wir. Geb’s Gott, daß es heute ist.“ Langsam schritt er zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um. „Sag meiner Frau und den Kindern, sie sollen nicht um mich weinen – wenn sie mich lieben…“ Der Jüngling versuchte ihn zurückzuhalten. „Was willst du tun?“ Martin lächelte. „Ich bin der Anführer, Lothar. Und der Anführer steht ganz vorn.“ Jetzt drängten Bauern, die ihn in der Türöffnung gesehen hatten, herbei. Sie wollten nicht dulden, daß er das Torhaus verließ. Er sollte sich schonen. Man würde ihn brauchen, wenn das alles erst hier vorbei wäre. Er solle um des Himmels willen…
„Ein Feigling könnte niemals euer Hauptmann sein“, sagte Martin, und er blickte einen nach dem andern ernst an. Das Blut sickerte dünn durch seinen Verband. Er trat hinaus in den Hof. Man ließ ihn bis zur Tür des Wendelsteins, die in ihrem letzten kleinen Halt bebte. Die Schritte des Uhls im Stollen wurden immer kleiner. Wie oft war er hier schon mit einer Fackel entlanggegangen, gedankenlos, selbstverständlich. Und jetzt wurde ihm das Laufen zur Qual. Was war das für ein Mensch, dieser Ulrich Rocker, den sie den Uhl nannten? War er überhaupt ein Mensch? War er ein Scheusal? Alles in ihm bäumte sich auf. Was hatte er denn verbrochen? Er hatte seinem Bruder, den er gehaßt, das Leben nicht retten können. Mehr nicht. Und das sollte wiegen? Sein Gesicht ward zur Fratze. Was erregte er sich – es gab kein Zurück mehr. Er tappte weiter, dem Ende des Stollens zu. Wenn sie nun zu früh ausbrechen, schoß es ihm durch den Kopf. Wenn ich die rettende Tür oben nicht mehr erreiche? Wenn sie mich zerfetzen? Er stampfte mit den Füßen, biß die Zähne zusammen, schüttelte, um sich zu betäuben, wie rasend den Kopf. Nein, nein! Hier machte der Stollen einen scharfen Knick. Und dort war schon die Tür, Verstrebungen davor, oben ein Loch. Durch dieses hatte auch er, der Uhl, gelegentlich den Bären Futter zugeworfen. Er starrte auf dieses Loch. Da tanzte eine Bärenschnauze drin. Und ein dumpfes Brüllen erhob sich. Die Bestien witterten Beute. Der Uhl schlich sich heran. Die Fackel stieß er in die Öffnung, daß die Schnauze heulend zurückfuhr. Und noch einmal stieß er, und noch einmal, sinnlos, nutzlos.
Und dann arbeitete er wie im Fieber. Die Fackel hängte er in das Eisen an der Wand. Über und über mit Schweiß bedeckt, stemmte er sich schräg gegen die Hauptverstrebung. Langsam gab sie nach. Wieder stieß er die Fackel durch das Loch. Jetzt behielt er sie in der Hand. Dann trat er die beiden kleinen Bohlen zur Seite, warf den Feuerbrand in das trockne Reisig vor der Tür. In panischer Angst jagte der Mann davon. Ein Teil des Stollens war so niedrig, daß er sich nur auf allen vieren fortbewegen konnte. Hinter sich, immer weiter hinter sich hörte er die Bären brüllen. Sie fürchteten das Reisigfeuer. Wenn es nur groß genug war! Wenn es nur anhielt, bis der Mann in Sicherheit war! Der Uhl war noch nie in seinem Leben so gehetzt. Jetzt weitete sich der Stollen. Nun war der Uhl am Wendelstein. Viele Stufen auf einmal nehmend, schnellte er hinauf. Noch eine Windung der Treppe, dann war es geschafft. Dann war er gerettet. Dann konnte geschehen, was wollte. Er schlug mit der Hand auf den Türgriff. Zu. Versperrt. Ulrich wähnte sich zu schwach. Er schlug noch einmal drauf, rüttelte, rief. Nichts. Stille. Die Tür blieb verschlossen. – Nein, nein, das war Unsinn. Er träumte. Ein Angstgesicht narrte ihn. Die Tür nicht aufgehen? Er lachte laut. Die Tür gab nicht nach. Der Uhl merkte nicht, daß sich sein Leib entleerte. Er schrie, er brüllte, er schlug mit den Fäusten und mit dem Schädel gegen die teuflische Versperrung. Nichts rührte sich. Der Uhl wandte sich um, irr. Entsetzliche Töne drangen aus seiner Kehle. Er raste den Wendelstein hinab. Er ver-
fehlte die Stufen. Schlug immer wieder gegen die felszackige Wand. Hier sprang der Stollen in den Stein. Da drin gärte es, ganz nah. Ulrich jagte weiter hinab. Er wußte nicht, daß er schrie. Der letzte Hieb mit zwei Äxten – und der Zugang zur Burg war frei. Das zertrümmerte Türblatt stürzte nach innen zusammen. Martin trat als erster auf die Schwelle. Da war über ihm, drin im Felsen, ein grauenvoller Aufschrei, nicht zu beschreiben, nicht zu denken… Dann war Ruhe. Die Bauern drängten zur Öffnung, die sie sich erzwungen. Ihre Gesichter erglühten in der aufkommenden Morgendämmerung. Ein Lied war plötzlich da, ein altes Bauernlied, das von der Not sang und von der erträumten Freiheit. Und das Lied schwoll an. Und singend stürmten die Bauern den Wendelstein des verhaßten Raubschlosses. Der Sturm der vorderen stockte. Da drängte sich etwas entgegen, unsichtbar und gewalttätig. Die vorderen hielten; die hinteren, unwissend, stießen nach. Ihre Kraft war die größere. Da hatte es einen gepackt. Da packte es den nächsten. Die vorderen riefen zurück. Man hörte sie hinten nicht. Der Gesang stand undurchdringlich im Felsenaufstieg. Und da… die Ausdünstungen von Raubtierrachen. „Die Bären!“ Die Bären! Zurück! Es dauerte eine schier endlose Zeit, bis das Lied erstarb und die hintersten erfaßten, was dort vorn sich Schauderhaftes zutrug. Sie fluteten zurück. Eine immer weiter-
wachsende Menschentraube quoll aus dem Felsen heraus. Ein Bär mitten drin. Vergeblich kämpften einige gegen die Bestien an. Das Unfaßliche, das Entsetzliche hatte sie ihrer Kraft beraubt. Die Bauern versuchten nach allen Seiten zu fliehen. Viele stürzten sich von der Mauer sieben Meter tief in den Fluß. Die meisten davon brachen sich das Genick. Andre jagten über die Zugbrücke davon – und jagten in das Flintenfeuer von etwa fünfzig Reitern, die vor Minuten zur Hilfe des Schönsteiners aus Rhiemsberg eingetroffen waren. Vorn der Kugeltod, hinten die Bestien… Ein kleines Häuflein erreichte den rettenden Wald. Lothar war darunter. Die Bären aber, nachdem sie ein Vielfaches von dem zerrissen hatten, was sie hatten verschlingen können, vollgesoffen vom Blut der Bauern, trotteten, behaglich brummend und friedfertig wie Haustiere, hinter den Überlebenden drein. Es war Mittag, als Guido von Schönstein endlich wagte, die obere Tür öffnen zu lassen und seinen Leuten das Wegräumen der Leichen zu befehlen und die Landsknechte von Rhiemsberg zu empfangen. Im Wendelstein fand man, nicht weit unterhalb der Stollenmündung, die Reste eines nicht mehr zu identifizierenden Menschen. Martin Rocker, den herauszusuchen der strengste Befehl war, fand man zerquetscht hinter den Trümmern der Bohlentür. Der Schönsteiner ließ ihn sich bringen und betrachtete ihn mit teuflischem Behagen. Dann ließ er ihn auf den Turm schaffen. Hier oben konnte man weit ins Land sehen, flußauf und
flußab. Raben umkreisten die Spitze. Da stießen sie den Leichnam in die Tiefe, blickten ihm nach, wie er wirbelte, sich überschlug und in den Fluten verschwand. Der Schönsteiner lud ein zu einem großen Saufgelage. Karl von Schöpfungen hockte in einer Ecke des kleinen Saals. Niemand scherte sich um ihn, und er beachtete die andern nicht. Sosehr er sich darum bemühte – er konnte sich am Siege nicht erfreuen. Lothar, der Sohn des Johannes, kniete am Waldrand. Ohne die Lippen zu bewegen, wiederholte er den Schwur, den er am gestrigen Tage geleistet.
Das ist Omar, Korsarenkapitän des Deys von Algier -und Schrecken des Mittelmeers. Wird der „Al-Dschezair“ gesichtet, bangt jeder um sein Leben; denn noch nie hat man Omar besiegen können. Doch Zweifel quälen den tollkühnen Seeräuber. Wo ist er geboren, und wer ist er, der Vater und Mutter nicht kennt? Da taucht ein Gespensterschiff auf, das dem „Al-Dschezair“ aufs Haar gleicht. Sein Kapitän wagt Omar zu trotzen. Dieser beschließt den Untergang des geheimnisvollen Schiffes. Noch ahnt Omar nicht, daß der bevorstehende blutige Kampf das Dunkel um seine Herkunft erhellen wird. Er wird wissen, wer Vater und Mutter sind, und erkennen, welche schändlichen Taten die Korsaren an ihnen begingen. Über Omars Schicksal erzählt „Werner Legere in dem abenteuerlichen Bild)
REIHE „SPANNEND ERZÄHLT“ BAND 14 • ETWA 6,10 DM