Diebin der Zeit von Adrian Doyle
Prag, an den Hängen des Hradschin 23. Mai Anno Domini 1618 »Bitte«, fleht das Mädchen...
8 downloads
468 Views
797KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Diebin der Zeit von Adrian Doyle
Prag, an den Hängen des Hradschin 23. Mai Anno Domini 1618 »Bitte«, fleht das Mädchen, »laß uns gehen! Von uns droht dir keine Gefahr. Justus und ich …«, sie fährt sich mit gespreizten Fingern durch den feuerroten Haarschopf, »… wir haben dich befreit, erinnerst du dich nicht? Befreit! Und wenn du uns gehen läßt, verschwinden wir noch heute, und du wirst uns niemals wiedersehen. Bitte …!« Der magere Junge neben ihr kneift die Lippen zusammen und bleibt stumm. So sitzen sie im Gras und fürchten sich. Weit sind sie nicht gekommen …
Was bisher geschah Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch, mit dem allein neue Vampire aus Menschenkindern entstehen können, mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Landru, Kelchhüter und einer der ältesten Vampire, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäupter auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind. Als kurz darauf ein infizierter Vampir eintrifft, wird er von dem Säugling geheilt! Doch die Vampire, die daraufhin zum Nonnenstift pilgern, werden getäuscht. Das Baby entzieht ihnen alle Kraft und Erfahrung und wächst dabei rasch zum Knaben heran. Die Seuche macht auch vor einem Stamm von Vampir-Indianern nicht halt, die dem Bösen widerstehen, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, den Adlern, halten. Hidden Moon, Schüler des Häuptlings Makootemane, bittet Lilith Eden um Hilfe. Sie steht den Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler und letztlich – durch Lilith – auch Makootemane tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen Totemtieren. Das wird Hidden Moon beinahe zum Verhängnis. Denn Lilith tötete seinen Adler, und nun »staut« sich das Böse in dem Arapaho – bis er erkennt, daß Lilith die Rolle seines Adlers übernommen hat und er nur in ihrer Nähe dem Bösen widerstehen kann. So schließt er sich ihr an. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sen-
sible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet. Im Kloster befinden sich die Para-Träumer, unter ihnen eine Frau, die die Träume anderer bewußt erleben kann. Als Salvat sie in die Alpträume der Para-Träumer eintauchen läßt, erfährt er vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes, der Rolle des Widderköpfigen – und daß das Tor bald geöffnet wird! Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie und Hidden Moon zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen. Eine ganz ähnliche Erfahrung machte zu der Zeit, als Gottes Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, der Geist einer jungen Frau, die mit gebrochenem Genick in einem Korridor (ist es der zum Anfang der Zeiten im Garten Eden?) »erwachte« und auf ein fernes Licht zugezogen wurde – als plötzlich sämtliche Türen des Korridors aufsprangen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wurde. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht sie im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Der Inquisitor Matthäus Wenzel soll mehr über sie in Erfahrung bringen.
Doch nicht die junge Frau ist das wahre Böse in Prag. Ein Wesen, das die Menschen wohl »Satan« nennen, streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet es die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg werden soll. In den Wirren der Geschehnisse flieht Justus, der Eleve des Inquisitors, zusammen mit einer Freundin und der jungen Frau, die eine seltsame Macht auf ihn ausübt. Zum »Dank« saugt sie auch ihm und dem Mädchen das Leben aus … Jenseits des Tores im Monte Cargano erwarten Lilith und Landru ihre ganz persönlichen Alpträume; eine Welt, in der ihre schlimmsten Ängste Gestalt annehmen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: eine »Oase« der Normalität, in der eine riesige Lilie den Übergang in die Vergangenheit der Erde ermöglicht – nicht körperlich, nur geistig! Lilith folgt Landru durch diesen Schlund der Zeiten – und wird im Körper der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren, deren Sippschaft gerade dem Feuer überantwortet wird. Dank ihrer vampirischen Fähigkeiten kann sie vom Scheiterhaufen fliehen. Ein Vampir, der dem Treiben zusah, nimmt sich ihrer an. Doch was ist mit Landru geschehen? Befindet er sich in derselben Zeit und am selben Ort: im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635?
Mein Atem flieht. Ich schulde ihnen nichts. Das Mädchen lügt. Befreit hat mich ein anderer. Aber selbst wenn es wahr wäre, was bilden sie sich ein? Empfindet man Dankbarkeit für den Schlüssel, der sich nach grausamster Folter endlich im Schloß der Kerkertüre dreht? Mir ist elend kalt. Sie könnten mich wärmen mit ihrer Lebenskraft. Worauf warte ich noch? Seit ich zu mir gekommen bin, werde ich verfolgt. Niemand hat Mitleid mit mir. Warum sollte ich also andere schonen? Es ist heller Tag. Ich trage Lumpen und blicke dorthin zurück, wohin man mich verschleppte und mir unvergeßliche Torturen bereitete. Dort oben im Burgverlies sah ich den Knaben und das Mädchen zum ersten Mal. Aber als sie die Tür zu meinem Gefängnis öffneten, ging es ihnen nicht um mein, sondern um das eigene Leben. Sie waren auf der Flucht und hofften, den, der ihnen auf den Fersen war, durch mich abzulenken, vielleicht eine Zeitlang aufhalten zu können. Und tatsächlich, er kam zu mir und löste meine Ketten. Er nahm mein Gesicht in seine unerhörte Hand, und noch jetzt stockt mir der Atem, wenn ich seiner gedenke. Mein Blick findet zu denen zurück, deren Spur ich durch die geheimen Gänge folgte. Gänge, die nicht nur innerhalb der Festung verlaufen, sondern auch aus ihr herausführen. Und hier, zwischen dornigem Gestrüpp im Schatten mächtiger Mauern, habe ich die Flüchtenden eingeholt. Schon unten im Kerker riefen sie einander bei ihren Namen. Der Junge heißt Justus, das Mädchen Anna. Ich möchte sie gernhaben, möchte ihnen verzeihen, aber das kann ich nicht. In mir gibt etwas anderes den Ton an. Etwas, das stärker ist als vordergründiges Wollen. »Wie gefallen sie dir?« fragt die Stimme in meinem Kopf, die nie ein lautes Wort verliert. »Sie sind wunderbar«, gebe ich auf gleiche Weise zurück. »Dann zögere nicht länger. Nimm sie dir!«
Und das tue ich. Diese dummen Kinder. Danach fühle ich mich gestärkt und voller Tatendrang. In Prag will ich nicht bleiben. Warum auch, denn die ganze Welt steht mir offen. Wer weiß, vielleicht erinnere ich mich eines Tages sogar wieder, wer ich bin. Und wie es zugeht, daß alle Menschen, die mir nahe kommen, wenn ich hungrig bin, als Greise sterben …
* 17 Jahre später Paris, 28. September 1635 Wann immer Ravaillac von seinem Beobachtungsposten südöstlich der Seine zur nächtlichen Silhouette der verkommenen Kloake namens Paris hinüberspähte, überkam ihn ein Grausen, ebenso mächtig wie unerklärlich. Es war zehn Tage her, daß das Unbeschreibliche über das ansässige Vampirgeschlecht gekommen und es binnen einer einzigen Stunde in alle Winde versprengt hatte! Fluchtartig hatten die Sippenmitglieder die Stadt verlassen – jeder, ohne Ausnahme. Auch Ravaillac selbst, das gestrenge Oberhaupt, war gewichen. Vor einem unsichtbaren, nichtsdestotrotz aber fühlbaren Feind, der wie ein jenseitiger Wind in die Straßen und Gassen der überbevölkerten Stadt eingefallen war … »Wird er je wieder aufhören?« Ravaillac zog den Blick aus der Ferne ab und wandte sich dem Fragesteller zu. Racoon, ein Kelchkind wie er, aber um viele Jahre jünger, weil lange nach ihm gezeugt, stand gegen einen großrädrigen Holzkarren
gelehnt und betrachtete angelegentlich seine Fingernägel. Die dunklen Schatten darunter rührten von Verletzungen und getrocknetem Blut her – aber gewiß nicht seinem eigenen. »Aufhören?« echote Ravaillac. »Was meinst du?« Sein Blick streifte den Halbtoten, der zu Racoons Füßen lag. Manchmal zuckte er etwas heftiger, und das Wimmern aus seinem Munde schwoll an. Zum richtigen Schreien jedoch fehlte ihm bereits die Kraft. Und selbst wenn er es über sich gebracht hätte, wer hätte ihm beistehen sollen? Überall lagen die Toten und Sterbenden, Mägde und Knechte, Tagelöhner … Ravaillacs Sippe hatte fürchterlich auf dem Hof des Bauern Vaugard gehaust, nicht zuletzt aus dem ungewohnten Gefühl eigener Ohnmacht heraus. Die Ohnmacht gegenüber dem, was sie aus Paris und dem Dunstkreis Louis XIII. und Kardinal Richelieus – ihren vermeintlichen Marionetten – vertrieben hatte … Eine ganze Woche hatte es gedauert, bis Ravaillac endlich das letzte seiner verstörten Kinder aufgespürt und wieder um sich geschart hatte, nachdem dieser wahnsinnige Richelieu nach seinen verdeckten und von Ravaillac geduldeten Kriegseinmischungen nun durch sein öffentliches Bekenntnis, Frankreich fühle sich durch Habsburg bedroht, fast zur Kriegserklärung genötigt hatte! In den letzten zehn Tagen seit der gespenstischen Vertreibung aus Paris (zehn Tage, die Ravaillac und seiner Sippe wie eine Ewigkeit vorkamen) hatte sich die Welt verändert: Frankreich war nun offiziell mit Schweden, Savoyen, Bayern, Weimar und Hessen gegen Kaiser Ferdinand II. verbündet, und wenn es nach Richelieus öffentlich geäußertem Willen ging, würde bald eine Kriegsfurie ungeahnten Ausmaßes über Deutschland hinwegfegen … »Den Bann«, präzisierte Racoon. »Das, was uns erst in kopflose Panik gestürzt hat und nun den Weg zurück verwehrt!« Ravaillac starrte den überaus ansehnlichen, geradezu beunruhigend attraktiven Vampir an, der wie ein Adelssproß gekleidet war
und dadurch hier draußen, wie die meisten seiner Brüder und Schwestern, seltsam deplaziert wirkte. Hier draußen … Drei Kilometer von Paris entfernt war das, was Racoon als Bann bezeichnet hatte, immer noch spürbar, aber sehr viel erträglicher: ein Druck, eine Benommenheit, die jeden Gedanken bremste. Und unsere Magie erstickt, dachte Ravaillac. So war es tatsächlich. Dieses unsichtbare Tuch, das sich über die Dächer der Stadt gespannt hatte, unterdrückte das, was der Kelch dereinst in sie gepflanzt hatte, in ihr geschwärztes Blut! Mit Mühe waren sie auf ledrigen Schwingen entkommen, aber schon kurz hinter der Stadtgrenze hatten die meisten von ihnen aus Entkräftung bereits wieder zu Boden gehen und ihre wahre Gestalt annehmen müssen. Ein schrecklicher Durst hatte sie heimgesucht, und erst nachdem er gestillt gewesen war, hatten sie allmählich begriffen, was ihnen widerfahren war. Inmitten der unterschiedlichsten Beschäftigungen waren die Instinkte im gleichen Augenblick mit allen durchgegangen. Tiefverwurzelte Reflexe, denen sie – daran zweifelte kaum einer – ihr Überleben zu verdanken hatten. Was war geschehen? Ravaillac wußte sich keine Antwort darauf. Aber er war trotz aller Fremdheit und Bedrohung, die Paris neuerdings ausstrahlte, fest entschlossen, es herauszufinden. Noch heute Nacht! »Sag den anderen, sie sollen hier auf meine Rückkehr warten!« Als er das nächste Mal in Racoons Augen schaute, brannte für einen flüchtigen Moment ein wahres Feuerwerk der Furcht darin ab. Doch dann lagen sie wieder ruhig und vertrauensvoll wie zwei tiefe, dunkle Brunnen in den Höhlen. Die hochgeschossene Gestalt nickte, und Ravaillac nahm all seine Sinne zusammen, um sich zu verwandeln. Wieder war ihm, als würden seine Flügel Wasser peitschen, so
elend schwer, so zögerlich trugen sie ihn voran. Und je näher er den überfüllten Häusern mit Menschen von unterschiedlichster Couleur kam, über die er und die seinen so lange und so absolut geherrscht hatten, desto bestürzender formte sich die Erkenntnis in ihm, daß keiner dieser Flügelschläge unbemerkt blieb von dem, was die geheimen Herrscher aus der Stadt an der Seine gejagt hatte …
* Es gab keine Stadtmauer, es gab keine Gräben … Eines Tages würde die Stadt in Schönheit sterben, falls die Truppen von Kaiser Ferdinand II. es schafften, bis hierher vorzurücken! Ravaillacs Gedärm – oder genauer die Eingeweide des Wesens, in das er sich verwandelt hatte – zogen sich vor Wut zusammen. Gedanken stoben wie Funken durch das winzige Hirn der Fledermaus. Er begriff es nicht! Je näher er dem Palast desjenigen kam, den er und seine Sippe umhegt und gefördert hatten, wo immer es erforderlich gewesen war, desto unfaßbarer erschien Ravaillac die Tat von König und Kardinal. Wie hatten sie so eigenmächtig handeln können? Louis XIII. und Armand Jean du Plessis Richelieu … was maßten sie sich an? Aber der Verdacht, daß dieses Fehlverhalten der ansonsten gehorsamen Diener mit dem Einzug einer unbenennbaren, feindseligen Kraft in die Stadt zusammenhing, nahm immer konkretere Formen in Ravaillacs Denken an, auch wenn es noch keinerlei Anhaltspunkt gab, wer oder was denn eigentlich diese auf Vampire so abschreckende Kraft verströmte … Es mutete an wie eine Naturgewalt. Wie ein Strom extremer polarer Kälte, gegen den die sterblichen Pariser Bürger auf absonderliche Weise gewappnet schienen, nicht jedoch die unsterblichen Machthaber.
Die Stadt selbst, alles darin, war eine fremde geworden. Eine unbekannte Wildnis. Ein tödlicher Dschungel! Bisher waren wir die Bestien darin, dachte Ravaillac. Aber jemand macht uns diese Rolle streitig. Wer? Wer besitzt solche Macht …? Insgeheim fürchtete er die Antwort. Trotzdem kämpfte er sich weiter durch die Böen, die niemand außer ihm zu spüren bekam. Winde, die ihm wie der Odem eines Fabeltiers entgegenbliesen … Kurz vor der Stadtgrenze erlosch Ravaillacs Kraft der Verwandlung abrupt. Aus fünf Metern Höhe stürzte er auf eine mit Pflastersteinen begradigte Straße und blieb eine Weile vollkommen betäubt liegen, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Über ihm spannte sich ein Himmel voller höhnischer Lichter. Die Stille machte ihm solche Angst, daß das träge Herz in seiner Brust völlig außer Rand und Band geriet! Erschüttert lauschte Ravaillac dem nie erlebten stakkatoartigen Pochen. Er wußte nicht, wie lange er gelegen hatte, ehe er sich aufrappelte und die Wurzeln seiner Schmerzen erkundete. Bleibende Schmerzen … Wie geschieht mir? Warum half und heilte sich sein Körper nicht wie gewohnt? Ravaillac war Jahrhunderte alt, aber noch nie hatte er es erlebt, daß die Hülle, die ihm klaglos dienen mußte, sich verweigerte wie ein launisches Weib … eib … ib … b … Ravaillacs Denken drohte zu gerinnen. Er kniff die Augen zusammen und spähte in die Richtung der Stadt, von deren ersten Häusern ihn nur noch ein Steinwurf trennte. Es hätte ebensogut ein halber Erdumfang sein können! Plötzlich wußte er, daß er sie nicht erreichen konnte. Nie wieder … (Nie wieder, Racoon!)
Grau vor Entsetzen wandte er sich ab. Seine Knochen, die der widerspenstigen Hülle zeitlebens Halt verliehen hatten, fühlten sich mehr und mehr an wie sprödes, allzu leicht zerbrechliches Porzellan. Daß sie bei dem Aufprall nicht einfach zerschellt waren, grenzte rückblickend an ein Wunder. Es gibt keine Wunder! Wozu gibt es UNS? Er hatte immer geglaubt, es gäbe nur sie … Bis zuletzt hatte er auf irgendeine, ganz gleich wie abstruse, aber natürliche Erklärung gehofft für die Hysterie, die sie aus ihrer behaglichen Ruhe gerissen hatte … Ravaillac wankte wie ein Gespenst durch die Macht. Ihm war schlecht. Sein Innerstes rebellierte, und dann … begann er auch noch zu erblinden! Vielleicht erlosch nicht wirklich sein Augenlicht, aber auf jeden Fall die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen! Er stöhnte. Er ballte die Fäuste und warf einen Blick über die Schulter, wo die Stadt in undurchdringlichen Schatten versank. Und plötzlich fragte eine Stimme, eine Stimme so rein und klar und voller süßer Versprechungen, ganz nah an seinem Ohr: »Wohin willst du mitten in der Nacht? Kann ich dir helfen? Du zitterst ja, als sei der Leibhaftige hinter dir her …« Ravaillac fuhr herum. Nichts. Nur Schwärze, die dort, woher die Stimme gekommen war, noch dichter, noch greifbarer schien als anderswo. »Zeig dich!« keuchte er. »Ich kann dich nicht sehen! Wer bist du?« »Nur eine kleine Dirne«, sagte die Stimme. »Eine, die nicht wählerisch ist …« Nicht wählerisch? Bezog sich diese Bemerkung auf ihn? Ravaillac bezähmte das Verlangen, vorzustürzen und seine Hände um den Hals der Frau zu schließen, zuzudrücken, so fest, daß der Knorpel ihres Kehlkopfs …
»Hast du ein paar Münzen? Wenn ja, kannst du mit mir kommen. Ich verkürze dir die Nacht … Keine Angst, es macht mir nichts aus, wie du aussiehst. Ich hatte schon Kunden, die starben, während sie auf mir lagen. Das gehört zum Gewerbe. Was ist? Werden wir uns einig?« Ravaillac fletschte die Zähne. Er nahm all seine Kraft zusammen, und tatsächlich gelang ihm die Andeutung einer Metamorphose. Seine eben noch von saugender Schwäche gebeugte Gestalt straffte und begradigte sich. Die Nägel seiner Finger und die Hände selbst wuchsen, zogen sich in die Länge, krümmten sich zu unruhig zuckenden Klauen, und die Augzähne seines Gebisses traten weit über die Lippen hervor, während sich in seinen Pupillen das eigene dunkle Blut zu stauen schien und die Blindheit noch verstärkte. Was war los mit ihm? Was hatte sich wie Zentnergewichte an seine Schultern gehängt und versuchte ihn selbst in dieser Gestalt zu Boden zu ziehen? »Komm her!« quetschte er durch die Zähne. »Wir werden uns einig! Wir werden uns bestimmt einig! Komm!« Sein Befehl verpuffte im Nichts. In Leere und Finsternis. Aber nicht nur die Stimme, auch die Dirne selbst, der sie gehört hatte, schien sich verflüchtigt zu haben. Vielleicht war sie entsetzt davongerannt, als seine Umrisse entarteten … … aber dann hätte er ihre Schritte auf dem Pflaster hören müssen. Was ging hier vor? »Komm!« brüllte er noch einmal voller Inbrunst, und es war ihm gleichgültig, ob ihn vielleicht andere hörten. Sein Schrei verwehte. Ravaillac drehte seinen Körper wieder in jene Richtung, in der das Gehöft des Bauern Vaugard lag. Ohne sich noch einen einzigen Atemzug länger aufzuhalten, trieb er den allmählich wieder in seine menschliche Gestalt zurückfallenden Körper weiter von der Stadt weg. An Fliegen war nicht zu denken. Alles war viel schlimmer, als
Ravaillac es erwartet hatte. Schlimmer als bei der Flucht vor zehn Tagen. Zermalmend! Er war nicht sicher, ob er seine Sippe überhaupt je wiedersehen würde. Zu Fuß und in dieser Verfassung schien es ein endlos weiter Weg … Bis die Stimme fragte: »Und du bist sicher, daß du keine Währung bei dir trägst, die mich entlohnen könnte, falls es mir in den Sinn käme, deinen schwachen Leib zu stützen und die darin verglimmende Begierde neu zu schüren …?« Er fuhr herum. Und selbst dieses Drehen um die eigene Achse mutete ihm wie eine von eisigen Wassern umflossene Bewegung an – wie vorhin im Fluge. Vorhin … Es schien Tage, Wochen, Monate her zu sein, daß er des Fliegens mächtig gewesen war! Mit rauher Stimme fauchte er in die Nacht: »Wer bist du? Warum … kann ich dich nicht sehen?« »Weil du mir noch nicht geantwortet hast«, wisperte es in beiden Ohren, aus zweierlei Richtung, wie es ihm schien. »Willst du meine Gunst erwerben?« Ravaillac trieb inmitten von Gefühlen, die er nach der Gnade des ersten Todes nie wieder in sich verspürt hatte – dessen war er sich sicher. Es waren Gefühle von Lebenden, die nie gestorben, nie das schwarze Blut der Lilie getrunken hatten! Ganz plötzlich wußte er, daß das, was zu ihm sprach, keine einfache Dirne, keine der hiesigen »gemeinen Töchter« war – nicht einmal ein Mensch. Aber was dann? Was gibt es noch – neben UNS? »Bist du … ein Dämon?« fragte er rauh. »Ein Ding aus der Zwi-
schenwelt? Hast du die Stadt in diese Jauchegrube verwandelt, in der es keiner meiner Art mehr aushält?« »Ein Ding …?« Eine Weile war es still um Ravaillac. So still, daß ihn fror. Der Boden schien sich in dunkle Schneekristalle zu verwandeln, die unter seinem Gewicht knirschten. Er ächzte und riß die Augen weiter auf, versuchte die Nacht mit seiner Magie zu teilen, schürfte in der allumfassenden Finsternis, die ihn wie der Kokon eines jenseitigen Insekts einspann, nach Licht … »Laß mich in Ruhe! Verschwinde!« »Du willst mich nicht? Was für ein dummer Stolz! Ich könnte all deine Leiden heilen. Ich könnte dir Befriedigung verschaffen, wie du sie nie gekannt hast und nie kennenlernen wirst – ohne mich …« Ravaillac biß sich so fest in die Unterlippe, daß ihm das schwarze Blut über das Kinn lief und auf die nackte Brust tropfte. Überall, wo es seine Haut berührte, fraß es Löcher in sein Fleisch. Fleisch, das unverzüglich zu stinken begann und ihn Ekel vor dem eigenen Körper empfinden ließ! »Wer bist du?« Sein Schrei blieb unerwidert. Weiter und weiter schleppte er sich durch die dichtgewebte Finsternis. Er war nicht sicher, ob er überhaupt die Richtung eingeschlagen hatte, um der Nekropole Paris zu entrinnen – ob er nicht doch noch von ihr verschlungen würde, weil er geradewegs auf sie zu wankte …
* Racoon leckte das Blut von den Brüsten einer einfältigen Magd, die ihn auf seinen hypnotischen Befehl hin massierte und vage Lust in ihm entfachte. Das Heu des Schobers, in den er sich mit ihr zurückgezogen hatte, stach. Von draußen drangen die gequälten Schreie ei-
nes Mannes. Racoon hatte Vaugard zuletzt gesehen, als der Bauer in seiner Wohnstube an einen Balken genagelt worden war. Zunächst hatte der Bauer das Bewußtsein verloren, aber inzwischen war er wieder zu sich gekommen, wohl auch, weil Ruenne, dieses Biest, ihm ein wenig Schnaps eingeflößt hatte, um sein Martyrium zu verlängern und sich die Zeit mit ihm zu vertreiben. Die Zeit bis zu Ravaillacs Rückkehr … Marie stöhnte, als der Vampir sie in einem spielerischen Kraftakt drehte und über sich zog, so daß er seinen bevorzugten Trunk aus ihrer Kniekehle genießen konnte, ohne daß sie sich von seinen Lenden abwenden mußte. Ihre Brüste schwangen schwer über seinem Bauch, und ihre Lippen stülpten sich weich über den Pfahl, der sich ihnen entgegenreckte. Vaugards Schrei brach plötzlich röchelnd ab, als wäre Ruenne seiner überdrüssig geworden. Aber das allein war es nicht, was Racoon aufhorchen ließ und ihn veranlaßte, die Magd von sich wegzustoßen. Ruckartig setzte er sich auf. Als Marie neben ihm im Heu raschelte und gar nicht mehr damit aufhören wollte, zog er sie an einem Bein zu sich und versetzte ihr einen Schlag gegen die Schläfe, worauf sie augenblicklich die Besinnung verlor und Ruhe gab, während das Leben unaufhörlich weiter aus ihr floß, aber von Racoon unbeachtet zwischen den dürren Halmen versickerte. Er stand auf und glitt zu einer Öffnung des Schobers, durch die bereits der dämmernde Morgen hereinschien. Im selben Augenblick betrat etwas Heimtückisches sein Gehirn, so daß er strauchelte, nach vorn kippte und es gerade noch schaffte, einen Sturz zu verhindern. Schweratmend umklammerte er einen Querbalken. Ihm war speiübel, als hätte er das steife Blut einer Toten gesaugt, und in seinem Schädel schien eine Messerklinge zu ste-
cken, die hin und her gedreht wurde. Die Geräusche und Bilder seiner Umgebung versanken in schwarzen Explosionen, aus denen er immer nur kurz emportauchte und dann wechselnde Gesichter über sich sah. Gesichter, die sich erkennbar keinen Rat wußten. Rocard, Rouault und Rabelais starrten auf ihn herab. Ihre Münder öffneten und schlossen sich asynchron zu den Stimmen, die wie das häßliche Summen eines in Brand gesetzten Hornissennestes klangen. Racoon schrie noch gellender, noch furchtbarer als zuvor, und sein geschmeidiger Körper bäumte sich den Geschwistern entgegen. Dann fragte jemand: »Wo … bin ich …?« Daß es seine Stimme war, begriff Racoon schon nicht mehr …
* Ruenne betrachtete ihr Werk in einer Weise, als versuchte sie ihm einen künstlerischen Anspruch abzugewinnen. Aus ihrer Sicht hatte sie Vaugard tatsächlich eine Gunst erwiesen. Aber es blieb zweifelhaft, ob er den sauberen Schnitt, den sie durch seinen faltigen Hals geführt hatte, zu schätzen wußte. So gut wie kein Blut quoll mehr aus der tödlichen Wunde. Das meiste war schon vorher entführt worden, und so mußte Ruenne nun entscheiden, ob sie ihn zum gehorsam-hörigen Diener haben wollte oder nicht … Ihre Überlegung wurden von Geplärre gestört, das von draußen kam. Mißmutig wischte sie sich mit dem Handrücken über die Lippen. Vaugards Weib sah ihr dabei voller Kümmernis zu, aber es rührte Ruenne nicht. Unverrichteter Dinge kehrte sie der Alten den Rücken und trat auf den im Frühlicht liegenden Hof hinaus, wo drei ihrer Brüder jemanden umstanden, den sie – die Spur im Staub zeigte es – aus dem nahen Schuppen herangeschleift hatten. Zunächst glaubte Ruenne, es handele sich um einen weiteren von Vaugards Gesinde. Doch dann erkannte sie Racoon, und sie be-
schleunigte ihre Schritte. »Was ist?« rief sie. »Hat es einer dieser Bastarde gewagt –?« Weiter kam sie nicht. Rouault wandte ihr sein hageres Gesicht zu. »Nein, nein«, beschwichtigte er sie. »Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist – aber angegriffen wurde er nicht. Es gibt keine sichtbaren Wunden. Aber sein Verstand hat gelitten. Gerade eben fragte er uns …« »Ja?« »… wo er sei«, mischte sich der kleinwüchsige Rabelais ein, der sich gemeinhin einen Spaß daraus machte, die Ohren seiner Opfer abzuschneiden, sie zu trocknen und wie Perlen an einer Kette aufzureihen, so daß er sie unter seinem weiten Hemd auf nackter Haut tragen konnte. Warum gerade Ohren, verriet er niemandem. »Wo er sei?« Ruenne schob ihre Brüder beiseite und kniete neben Racoon im Staub. Racoon genoß unter allen Geschwistern Ruennes meisten Respekt – oder wie immer man es nennen wollte. Ihm zu gefallen, tat sie mitunter Dinge, die ihr kaum in den Sinn gekommen wären, hätte sie sich nicht erhofft, damit seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Was treibst du für Scherze?« fauchte sie in das schmale, aristokratische Gesicht des schwarzhaarigen Mannes. Doch sie hatte kaum ausgesprochen, als sie innerlich vor dem Blick, der sie aus seinen Augen streifte, zurückprallte. Es war nicht nur die Verwirrtheit darin, die zu Racoons Frage gepaßt hätte – nein, es war die dringende und bemerkenswerte Einsicht, von diesen Augen noch nie betrachtet worden zu sein … Ruennes Oberkörper bog sich so weit nach hinten, als hielte sie etwas Abscheuliches mit spitzen Fingern von sich weg und wollte es so schnell wie möglich loswerden. Trotzdem wichen ihre Blicke nicht vom Gesicht des Bruders. »Sag, was passiert ist!« drängte sie, als seine Lippen hart aufeinan-
dergepreßt blieben. Der Vorfall lenkte die Neugierde weiterer Sippenmitglieder auf sich. Aus allen Ecken und Winkeln des Gehöfts kamen sie heran. Vorsichtig schleichend wie Raubtiere, die der eigenen Witterung mißtrauten. Racoon beendete Ruennes Musterung und taxierte anschließend jede der ihn umringenden Gestalten mit gleicher Sorgfalt. »Wie komme ich hierher?« murmelte er plötzlich. Seine Stimme schwang in ungewohnter Tonlage. Er sah an sich hinab und wurde kreidebleich. »Das – das ist unmöglich! Wie …?« Er fing sich und richtete sich neben Ruenne auf. Seine Hände zuckten, im Ansatz nicht erkennbar, auf sie zu und schlossen sich um ihren schlanken Hals. Ruenne war zu verblüfft, um sich zu wehren Racoon schnürte ihr nicht die Luft ab, aber er schüttelte sie hin und her. »Wo bin ich hier?« keuchte er immer wieder. »Wo? Und … wer bin ich?« Abrupt gab er sie wieder frei. Ruenne fiel rücklings in den Staub. Dann, als würde ihr jäh bewußt, wie sehr er sie erniedrigt hatte, schnellte sie in den Stand zurück. Federnd setzten ihre Füße auf, und ihre Blicke schleuderten Blitze. Wäre es nach Ruenne gegangen, hätte sie jeden Eid geschworen, daß dies nicht mehr der Racoon war, den sie kannte. Doch bevor sie sich ihm angemessen widmen konnte, begannen sich andere Ereignisse zu überstürzen.
* Wo – bin ich …? Noch halte ich die Augen geschlossen, obwohl ich längst bei vollem Bewußtsein bin. Doch die Erinnerung knebelt mich: Gabriel … Das Tor im Monte Cargano …
Eine ganze Weile liege ich nur da, das Gesicht auf kühlen Grund gepreßt. Ich atme flach, kaum hörbar. Mein Herz schlägt träge. Noch bevor ich Kopf und Lider hebe, weiß ich, daß mich ein Schock erwartet – auch wenn ich nicht vorherzusagen vermag, wie dieser erneute Alptraum gestrickt sein muß, um mein Ich abermals in den Grundfesten zu erschüttern. Zuerst hat mich ein Spalt verschlungen, das jenseitige Tor im Monte Cargano, aber nun … WAS IST NUN GESCHEHEN …? Ich erinnere mich, daß ich eine Blume von absurder Art berührte. Eine Lilie, die ihre feinen Wurzeln in eine monströse Masse getrieben hatte und sich von dem darin zirkulierenden Blut ernährte! … Wieder überwältigt mich das Gefühl, in einer Seele, schwärzer noch als meine eigene, zu versinken – in ihrem fauligen Morast zu ersticken! Eben noch brannte die Luft schwefelig in meinen Lungen, und es war höllisch heiß. Aber nun … Ich öffne fremde Augen und spreche mit fremder Zunge. Auch die Kleidung, die ich trage, ist mir unbekannt – so unvertraut wie der Körper, in dem ich zu mir gekommen bin! DAS BIN ICH NICHT! Was ist geschehen, nachdem ich die Lilie berührte? Die Lilie … Einst gab es einen Kelch derselben Form, geschaffen, um den Kindern der Urmutter Nachwuchs zu schenken. Den Hütern, von denen ich einer war … Aus fremden Augen sehe ich in die Augen Fremder. Der Mund, der nicht der meine ist, formt Worte: »Wie komme ich hierher? Das – das ist unmöglich! Wie …?« Ich schüttele die mir am nächsten stehende Gestalt, eine Vampirin. »Wo bin ich hier? Wo? Und … wer bin ich?«
*
Es war Rocard, der den anderen die Schärfe seines Blicks bewies, indem er nach Süden gestikulierte und ausrief: »Wir bekommen Besuch!« Ruenne und die anderen folgten seinem ausgestreckten Arm und entdeckten mehrere von Ochsen gezogene Karren, die im ersten Grau des Tages abseits erkennbarer Straßen auf Paris zuholperten. »Unbehauste!« rief Rocard abfällig. »Öde Possenreißer!« »Spielleute«, nickte Rabelais. »Aber ich hätte gegen eine kleine Vorstellung nichts einzuwenden …« Da traf ihn, aber nicht nur ihn, ein eisiger Windstoß. Eine Bö, die sofort alle Blicke von dem fahrenden Volk weg zur nahen Stadt lenkte. Einem jeden stellten sich die Haare auf. »Was –?« Ruenne wirbelte herum. Zwischen dem bäuerlichen Wohngebäude und dem Schober, aus dem Racoon hierher geschleift worden war, konnte man zu der aus allen Nähten platzenden Stadt hinübersehen, in der sie so lange wie die Maden im Speck gelebt hatten. Viel näher aber, zwischen den sich wiegenden Gräsern, bewegte sich … »Ravaillac!« Ruenne stöhnte. »Es ist unser Vater!« Racoon und sein beängstigendes Benehmen rückten vorübergehend in den Hintergrund. Wie eine Person setzten sich die Vampire in Bewegung. Ihr Troß glitt, einem kleinen Heerwurm gleich, auf das Oberhaupt zu. Und erst als sie Ravaillac fast erreicht hatten, sahen sie, daß er nicht allein zu ihnen zurückgefunden hatte … Alle reden aufgebracht durcheinander, ehe sie sich von mir abwenden, um in ein und dieselbe Richtung davonzueilen. Zuvor rief jene Vampirin, die ich kurz gepackt, dann aber wieder freigegeben hatte: »Ravaillac! Es ist unser Vater!« Ist dies ein Traum, so falsch wie das, was mich schon jenseits des Tores
erwartete? Werde ich erneut betrogen? Meine Umgebung kommt mir vor, als hätte ich sie schon einmal gesehen, und wenn ich den Blick dorthin richte, wohin die Meute rennt, springt mich die Silhouette einer Stadt an – einer altertümlichen Stadt –, die mir schier den Verstand raubt …! Paris!? Sofort ist das ungute Gefühl wieder gegenwärtig. Dieses Paris legte ich einst Ravaillac zu Füßen … Der Name durchfährt mich wie ein Dolch. Ravaillac. Ich erinnere mich seiner allzu klar, und der Grund dafür ist fürchterlich …
* Von weitem hatte es zunächst den Anschein gehabt, als wäre das Oberhaupt der Sippe mit Dreck beworfen worden. Dreck, der sich in regelrechten Batzen an seine nackte Haut geklebt hatte. Doch die Wahrheit war: Der Körper des edlen Ravaillac war übersät mit Dutzenden faustgroßen, schwärenden Beulen! Beulen? Trotz des Schocks fand Ruenne Zeit, sich zu fragen, wie es angehen konnte, daß ein Vampir anfällig wurde für die Krankheiten der Menschen. Anfällig für die schlimmste ihrer Seuchen, die schon so viele in Stadt und Land dahingerafft hatte … Nur gespenstisches, vergilbtes Weiß glomm ihnen aus Ravaillacs Augen entgegen. Was war ihm in der Stadt widerfahren? Hatte er sie überhaupt betreten – oder wo sonst war er mit Blindheit und … Pest geschlagen worden? Wir hätten ihn nicht allein dorthin gehen lassen dürfen, dachte Ruenne dumpf. Wir hätten ihn überhaupt nicht gehen lassen dürfen!
»Vater …!« Ihre rauhe Kehle trug den Ruf zu dem Sterbenden. Um Ruennes Brust zog sich ein imaginärer eiserner Ring zusammen. Sie war ein wenig zurückgefallen und überließ es ihren Geschwistern, sich um das schrecklich verunstaltete Oberhaupt zu scharen. Sie hielten respektvollen Abstand – aber auch das half ihnen nicht, als die Pestbeulen unvermittelt aufbrachen. Eine zähe Masse platzte aus Ravaillacs Geschwüren, landete quecksilbrig im Gras … … und zog sich dann unvermittelt zu einem grauenerregenden Ganzen zusammen, das in diesen ersten Augenblicken noch um seine endgültige Form und Gestalt rang, aber bald schon … Ruenne griff sich an die Kehle. Auch ihre näherstehenden Geschwister erkannten, wovon Ravaillac wirklich befallen gewesen war, aber es war längst zu spät, etwas dagegen zu unternehmen – und sei es auch nur gewesen, das Heil in abermaliger sofortiger Flucht zu suchen. In unmittelbarer Nähe der Sippe bekam jene Kraft ein Gesicht, die Paris, vom dortigen Pöbel unbemerkt, im Sturm erobert hatte. Offenbar hatte sie Ravaillac als Vehikel benutzt, um zu dessen Kindern zu gelangen. Zu jenen, die sich zunächst hatten in Sicherheit bringen können … Ruenne spürte die Absolutheit dieser Kraft, die jeden Vampir an Bosheit und Stärke übertraf. Noch einmal heftete sie ihren Blick auf Ravaillac, dessen Mund weit aufgesperrt war, die Zunge darin nur noch ein abgenagter Stumpf. Als hätte es dieses letzten Beweises für die Dämonie der Geschehnisse noch bedurft, wandte sich Ruenne endlich ab, begleitet vom qualvollen Hilfeschrei eines Bruders, den niemand mehr erhörte. Rabelais war dem, was sich aus den vermeintlichen Pestbeulen erhoben und gefügt hatte, am nächsten gewesen – und so wurde er, nach dem Führer ihrer Sippe, nun das nächste Opfer des Abscheuli-
chen! Benommen stolperte Ruenne dorthin, wo sie Racoon zurückgelassen hatten. Sie wagte nicht noch einmal, sich umzublicken. Alle Versuche, ihre sonst so verläßliche und starke Magie einzusetzen, scheiterten. Dann brausten ihr neue Böen entgegen und ließen sie wie ein welkes Blatt über den Hof trudeln. Saugende Geräusche drangen von allen Seiten, aus allen Richtungen auf sie ein. Seltsamerweise wurde aber nicht ein einziges Körnchen des umliegenden Sandes aufgewirbelt. Der widernatürliche Wind trieb nur mit ihr und den anderen Vampiren sein Unwesen … Die Stelle, an der Racoon gelegen hatte, war verlassen. Es überraschte Ruenne selbst, wie gerade diese Entdeckung ihre letzte Zuversicht dahinschmelzen ließ – so als hätte sie insgeheim gehofft, Racoon könnte ihr gegen das, was nacheinander die Stimmen und die Gegenwehr der anderen Sippenangehörigen ersterben ließ, beistehen … Direkt hinter ihr erklang anhaltendes, kaltes Lachen. Es wurde nicht leiser, egal, wie schnell Ruenne rannte, und irgendwann konnte sie nicht mehr widerstehen. Ohne anzuhalten, wandte sie den Kopf. Das, was sie verfolgte, schien nur auf dieser Moment gewartet zu haben. Es vollendete die Drehung.
* UNMÖGLICH! ICH MUSS MICH IRREN … Es ist ein Traum, es kann nur einer sein! Was sollte mich in diese Vergangenheit verschlagen haben? Mein Blick folgt den Vampiren. Selbst wenn es wirklich diejenigen sind, die ich getauft habe, werden sie mich nicht wiedererkennen, denn als Kelch-
hüter war ich stets mit einer Maske unterwegs. Der Gedanke, es mit Ravaillacs Sippe zu tun zu haben, legt sich wie ein bleiernes Gewicht auf meine Schultern. Mir graut, und um vollkommene Gewißheit zu erlangen, versuche ich das Oberhaupt selbst ausfindig zu machen. Wohin bin ich geraten? Wohin genau? Wieso hause ich in diesem und nicht mehr in meinem Körper? Ich muß es schnell herausfinden! Vielleicht zählt jede Sekunde … Ich bewege mich wie von Sinnen. Die Meute entrückt meiner Wahrnehmung. Ich schleppe mich zu dem Haus, über dem die Stille des Todes liegt. Als ich über die Schwelle trete, stehe ich aufrecht. Seltsam leicht gewinne ich mehr und mehr die Herrschaft über diesen mir so fremden Körper. Dann stehe ich vor einem Toten, an Holzbohlen genagelt. Eine Frau kniet am Boden und betet für seine arme Seele. Ich gebe ihr einen Tritt, daß sie hinfällt. Sie schreit kurz auf, dann blickt sie stumm zu mir empor, als erwarte sie, nun das Schicksal des Leichnams zu teilen. Ich beuge mich zu ihr hinab, packe sie an ihrem ärmlichen Kleid und ziehe sie nah an meine Lippen. Meine Worte kriechen wie kleine, furchtbare Insekten in ihr Gehör: »Welches Datum schreiben wir? Nenn mir Tag, Monat und Jahr – sofort!« Sie antwortet in stockendem Ton, aber bereitwillig. Und während ich erfahre, wann ich hier bin, dringen von draußen bereits die Schreie der Brut herein, die ich vor langer Zeit mit Kelchblut speiste. Ich höre ihr hochnotpeinliches Gebrüll und weiß nun sicher, daß mein Gedächtnis und auch meine Ahnungen mich nicht getrogen haben. Der heutige Tag wird in die Annalen der Vampire eingehen – als eines der dunkelsten Kapitel überhaupt. Denn heute, so steht es in meiner Erinnerung zu lesen, werden die Vampire von Paris – und also auch ich? – mit Stumpf und Stil ausgerottet werden …!
*
Zur gleichen Zeit Der Wagen rumpelte über die Wiese, und durch die Löcher in der Plane, die sich über den Dachholm spannte, malte die aufgehende Sonne Licht- und Schattenspiele auf die mißgeborenen Körper, die beieinander kauerten. Lydia, die Frau ohne Haut, unterhielt das siamesische Bruderpaar mit Geschichten aus den Ländern, in denen sie schon herumgereist war – bevor sie sich der Wanderschau angeschlossen hatte. Eucharius wollte sich einen Apfel aus dem zwischen seinen Beinen ruhenden offenen Faß fischen. Aber sein Versuch, wenigstens bescheidenen Einfluß auf den Körper auszuüben, den er sich mit Hermes teilte, scheiterte. Sein Bruder schien von dem Bemühen nicht einmal Kenntnis zu nehmen, und Eucharius war zu stolz, um ihn um sein Entgegenkommen zu bitten. Vor achtzehn Jahren waren sie mit zwei Köpfen, aber nur einem gemeinsamen Körper in einem kleinen Dorf in Deutschland geboren worden. Ihr eigener Vater hatte daraufhin sein Eheweib bezichtigt, mit dem Teufel gebuhlt zu haben. Ihre Mutter war auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, und Hermes/Eucharius hatten nur durch das mutige Einschreiten ihrer Großmutter überlebt, die sie entführt und versteckt gehalten hatte – gleichwohl sie damit ihr eigenes Leben in erhebliche Gefahr brachte. Hermes/Eucharius waren in einem dunklen Kellerloch aufgewachsen, ohne Kontakt zur Außenwelt. Aber die Liebe der Großmutter hatte ihnen die Kraft gegeben, diese Zeit der Gefangenschaft zu überstehen. Die Frau war gestorben, als der Zweiköpfige acht Jahre alt wurde, und von da an hatte das Dasein für ihn aus purem Überlebenskampf bestanden. Durch Diebstähle und kleinere Überfälle im Schutz der
Nacht hatten sich Eucharius und sein untrennbar mit ihm verbundener Bruder durchs Leben geschlagen. Mit der Zeit hatten sie sich die Schläue verfolgter Tiere angeeignet. Auch wenn die Verlockung mitunter groß gewesen war, hatten sie sich nie zu grausamen Untaten hinreißen lassen. Der Dieb eines Brotes oder eines Schinkens wurde nicht über die Grenzen einer Stadt hinaus verfolgt – bei Mördern und anderen Unholden kannte man jedoch kein Pardon. Deshalb – nur deshalb und nicht etwa, weil sie um der eigenen Existenz willen nicht vielleicht doch auch über das Wohl und Wehe anderer hinweggesehen hätten – hatten sie bislang keine wirklich unentschuldbaren Vergehen auf dem Kerbholz. Im Alter von zwölf waren sie – im gleichen Jahr wie Lydia – dann auf RÖSSLINS WANDERSCHAU gestoßen, und seither bereicherten sie dieses Sammelsurium von Kuriositäten als »der Knabe mit den zweyen Heuptern«, ebenso wie die Frau, deren Haut von Geburt an so dünn und durchsichtig war, daß es für den Betrachter aussehen mußte, als besäße sie überhaupt keine. Ansonsten aber, was ihre Figur und vor allem auch ihre Augen anging (Eucharius krümmte sich innerlich), übertraf sie fast jede Frau, die ihre Wege auf all den Stationen gekreuzt hatte, um ein Vielfaches. Was sie allerdings an einem Monstrum fand, das sich einen Körper mit zwei grundverschiedenen Charakteren teilte, darüber rätselten nicht nur Hermes/Eucharius selbst, sondern fast jedes Mitglied der Rößlinschen Wanderschau. Lydia hörte unversehens im Erzählen auf, weil der Wagen ruckartig zum Stehen kam. Berthold, der vorn auf dem Kutschbock saß, mußte aus unerfindlichem Grund plötzlich die Zügel angezogen haben. »Dieser Hammel!« fluchte Hermes, während Lydia bereits schnell und behende wie eine Katze hinten aus dem Wagen hinaushuschte. Der Zweiköpfige richtete sich auf, kletterte nach vorn zu Berthold, teilte das Tuch, das den Akrobaten von den Geschehnissen im Wa-
geninnern ferngehalten hatte, und rief: »Bist du noch bei Trost? Was fällt dir ein …?« Berthold lächelte kühl. Dann zeigte er zu dem vordersten der Wagen, die in langer Kette auf offenem Feld angehalten hatten. »Rößlin gab den Befehl«, sagte er. »Dort drüben geht etwas vor, meint er …« Der Kutscher zeigte zu einer kleinen Ansammlung von Gebäuden, die nordwestlich von ihnen zu erkennen war. Nicht nur Hermes, auch Eucharius folgte dem ausgestreckten Arm des Akrobaten voller Mißmut. »Was soll dort sein?« Berthold zuckte die Schultern. Er war nicht mißgestaltet, sondern beherrschte im Gegenteil seinen athletischen Körper nahezu perfekt. Während der Vorstellungen bot er die unglaublichsten Kunststücke. »Ich weiß es nicht. Doch ab und zu trägt der Wind schaurige Schreie heran, und –« Er wollte mehr sagen, aber er kam nicht dazu, denn aus der Richtung des Gehöfts rauschte etwas pfeilschnell auf sie zu. Etwas Geflügeltes, das rasch größer wurde und – kaum daß es den Wagenzug erreicht hatte – wie ein Stein vom Himmel fiel … Hermes faßte sich als erster. Er sprang vom Kutschbock und rief: »Nur eine verdammte Fledermaus, mehr nicht! Ich werde ihr den Hals umdrehen und sie mir am Spieß braten …!« Mit diesen Worten rannte er los, und wie üblich zwang er Eucharius, ihn zu begleiten …
* Ravaillac hörte und spürte seine Kinder sterben. Sehen konnte er es nicht. So wenig wie das, was sie umbrachte – was ihn lange davor mit Blindheit geschlagen und seine Zunge herausgerissen hatte. Hilflos wälzte sich Ravaillac am Boden, erschüttert von rasch aufeinanderfolgenden Todesimpulsen. Er hatte Ruennes Stimme er-
kannt, als sie nach ihm rief. Aber niemand war bis zu ihm gekommen, um seinen hoffnungslos erschöpften, ausgelaugten Körper zu stützen oder ihm auf andere Weise zu helfen. Niemand. Was habe ich zu ihnen gebracht? dachte er. Was besiegt sie alle? Seine Gedanken schweiften auch zu Racoon, seinem Liebling. Von ihm hörte er weder Worte noch Schreie. Und dann – verstummten auch die anderen seiner Kinder, und die teuflische Dirne, die nie von ihm abgelassen hatte, widmete sich nun ganz ihm. »Einer fehlt«, wisperte sie in seinem Schädel. »Wer?« Ravaillac haßte sich dafür, daß er Antwort gab, aber ihm blieb gar keine Wahl. »Racoon.« »Ich werde ihn finden und auch ihm meine Gunst erweisen …« Nein! dachte Ravaillac. O neeeiiinn! Erst im letzten Moment seiner physischen Existenz durfte er das Gesicht der Ewigen Dirne schauen, und das Grauen, das ihn aus deren Antlitz angrinste, überdauerte auch den letzten Schlag seines untoten Herzens um eine nie mehr enden wollende Spanne …
* Der aus einem Tier Geborene verließ den Ort, an dem die Vampire gehaust hatten, erst nachdem er ihr Schlachtfeld in seines verwandelt hatte. Mühelos nahm er die Witterung des Geflohenen auf. Racoon … Namen bedeuteten ihm nichts. So wenig wie die Masken, derer er sich bediente. Heute Dirne, morgen Königin … Es machte keinen Unterschied. Das, was unter der Maske steckte, war immer gleich. Ohne Hast und dennoch schnell folgte er der Fährte, die von ledri-
gen Schwingen in die Luft gepflügt worden war: Racoon. Auch dem letzten der Vertriebenen wollte er offenbaren, mit welchem Wesen sie sich angelegt hatten. Daß er sie nicht schonte, sondern die Konfrontation mit ihnen suchte, geschah aus einer Laune heraus. Mehr nicht. Auch ihr Weiterleben hätte an dem, was in Gang gesetzt worden war, nichts mehr zu ändern vermocht. Die Stadt, in der über die Geschicke nicht nur dieses Landes entschieden wurde, blieb auf Dauer versiegelt – kein Vampir würde sie in nächster Zukunft betreten können. Die Grenzen waren weit über den Aufenthalt des Tiergeborenen hinaus gezogen. Die Menschen würden davon wenig merken. Das einzige, was sich für sie änderte, war, daß viele von ihnen als Soldaten in einen Krieg ziehen durften, den es ohne den Tiergeborenen nie gegeben hätte. Chaos war sein Brevier. Not und Tod … Vor ihm tauchte die Zuflucht Racoons auf. Ein Troß von Wagen, der in plärrenden Schriften Sensationen für Unwissende verhieß … Er/Es stob darauf zu, begleitet von einem jenseitigen Wind, der die Karren zum Wanken brachte. Verängstigte Gesichter starrten in die Richtung, aus der das Verhängnis kam. Sehen konnten sie es nicht, denn seine Maske glitt dicht über den Halmen der Gräser dahin. Schattenhaft. Unwiderstehlich. Der Duft des Flüchtlings leitete ihn, und so wurde Er/Es Zeuge einer Anmaßung, die typisch war für die bluttrinkende Rasse, welche sich alleinherrschend über die Schwachen wähnte. Launisch, wie es seine Art war, änderte der Verfolger jedoch sprunghaft – und noch ehe er den Flüchtling ganz erreichte – seine Absicht. Der Grund war ihre Nähe. Er/Es hätte sie überall erkannt, in jedem Versteck, hinter jeder Schminke, denn sie trug seinen Stempel, und deshalb würde sie sich dem Entflohenen angemessen widmen, kein Zweifel …
Zufrieden glitt der Tiergeborene dorthin zurück, von wo er gekommen war.
* Hermes veranlaßte den gemeinsamen Körper, wie angewurzelt stehenzubleiben, nachdem er mit seinem Zwilling jene Stelle erreicht hatte, an der die Fledermaus ins Gras gestürzt war. Aber da lag keine Fledermaus mehr. Was da lag, war ein … Mensch! Eucharius spürte, wie das Blut aus seinem Kopf wich. Aus weit aufgerissenen Augen, kreidebleich, starrte er zu dem schlanken, gutgekleideten Mann, der rücklings auf dem Boden liegend zum wolkenverhangenen Himmel hinaufstarrte. Von dem Ankömmling mit den zwei Köpfen schien er keine Notiz zu nehmen, aber Eucharius wußte sofort, daß diesen Fremden ein schreckliches Geheimnis umgab. Und selbst der sonst so unerschrockene Hermes gab sich beeindruckt von dem, was er sah. Eine ganze Weile war er sprachlos. Hinter ihnen näherten sich Schritte, und die Stimme, die den Zwilling erreichte, war unschwer als die von Rößlin zu erkennen: »Was ist? Was habt ihr gefunden?« Hermes streckte den Arm aus. Rößlin, der die Fledermaus vorhin allem Anschein nach nicht bemerkt hatte, trat neben seine Attraktion. Er war ein kleiner Mann von untersetzter Statur. Sein Leibrock spannte überall, als wollte er aus den Nähten gehen. Das weißgelockte, schulterlange Haar war echt, keine Perücke. Er war weder schön noch häßlich, und die einzige Waffe, die er trug, war ein seitlich an seinem Gürtel befestigter Dolch. Anderes Blut als das von Hühnern, Hasen und ähnlichem Kleinvieh hatte diese Klinge aber noch nicht berührt … Rößlin blickte abwägend auf den Fremden, dessen Pupillen sich in
diesem Moment vom Himmel trennten und auf den Jüngling richteten, aus dessen Schulter zwei Köpfe wuchsen. Er blinzelte kurz, und einen Wimpernschlag später stand er aufrecht vor Hermes/Eucharius und Rößlin – ohne daß einer von ihnen zu sagen vermocht hätte, wie er so schnell und sicher aufgestanden war. Sein Blick löste sich von dem Mißgeborenen, streifte den Besitzer der Wanderschau nur flüchtig und wandte sich dann in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren. Zu dem Bauernhof, der von diesem Moment an stiller und verlassener wirkte als irgendein Platz sonst auf der Welt. »Wohin wollt ihr?« fragte der kostbar gekleidete Mann, dessen Tracht jedoch an einigen Stellen von etwas durchtränkt war, das dunkle Flecken hinterlassen hatte. Eucharius fühlte das Herz im Halse schlagen – und was das anging, konnte es seinem Bruder kaum besser ergehen. Eine seltsame Benommenheit griff nach ihm – der übermächtige Wunsch, dem Fremden zu antworten, und zwar unverzüglich. Rößlin kam ihm zuvor. »In die Stadt hinein«, sagte er. »Paris hat Vergleichbares wie uns noch nie gesehen. Wir waren zu Gast in vielen großen Städten …« Aber auch in ganz erbärmlichen, in denen sie uns zum Ergötzen der Leute fast gesteinigt hätten, dachte Eucharius dumpf. Er wollte den Blick von dem Fremden wenden, aber er konnte es nicht. »Paris wird noch länger auf euch warten müssen!« sagte der Mann – und wieder spähte er zu dem fernen Gehöft, als lauere dort eine Gefahr, die auch er zu fürchten hatte. »Los, beeilt euch! Wendet die Wagen, und dann fahrt, was das Zeug hält, gen Westen! Bringt die aufgehende Sonne in euren Rücken! Sofort!« Verwundert beobachtete Eucharius, wie Rößlin ohne Widerworte auf dem Absatz kehrtmachte und hölzern zu seinem Wohnwagen zurückstiefelte. Unterwegs brüllte er Anweisungen, die genau das beinhalteten, was der Fremde ihm soeben aufgetragen hatte …!
Nicht nur Hermes starrte fassungslos, aber im Gegensatz zu ihm wünschte sich Eucharius inständig, der Bruder möge ihrem gemeinsamen Körper erlauben, sich Rößlin anzuschließen. Er tat es nicht, und so nahm das Unheil seinen Lauf. Hermes ließ sich auch durch Bertholds Zurufe nicht daran hindern, einen Schritt auf den Fremden zuzutun, der immer noch an derselben Stelle stand, wo er sich erhoben hatte. Seine Augen waren schwarz wie Kohle, und ab und zu trieb etwas noch Schwärzeres darin vorbei. »Was ist? Wollt ihr nicht aufsitzen und –?« »Wer bist du Höllenbrut?« schrie Hermes ihn unvermittelt an. »Wie kannst du es wagen …?« Eucharius wäre am liebsten im Boden versunken, aber er war seinem Zwilling auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die Natur hatte sie zusammengeschweißt, und bis an ihr beider Lebensende würde wohl nichts sie je trennen können … Nichts? Ansatzlos erfolgte die Attacke des Fremden, und ehe sich Hermes und Eucharius versahen, hatte er sie zu Boden gestoßen und sich über sie geworfen. Ohne die geringste vorherige Warnung drehte er Hermes das Gesicht auf den Rücken. Es krachte fürchterlich, als die knöchernen Wirbel entzweigingen. Schmerz durchflutete Eucharius, gerade so, als handelte es sich um sein Genick, das da zersplitterte. Hermes’ Mundwerk klaffte auseinander, ohne daß jedoch der kleinste Schrei nach draußen drang. Nur ein rasch ersterbendes Röcheln quoll über des Bruders Lippen. Dann fiel sein Kopf schlaff zur Seite ins Gras. Für Eucharius ging der Alptraum weiter. Süßlich verdorbener Atem trieb ihm aus dem Mund des Fremden entgegen, der schwer auf ihm lag und ihm keine Möglichkeit zur Gegenwehr ließ. Die beängstigende Kraft und Gewalt hatte sich erst gegen Hermes entla-
den, und nun trachtete sie Eucharius nach dem Leben! War der tyrannische Bruder wirklich tot? Der Gedanke war von so elementarer Tragweite, daß Eucharius kurzzeitig sämtliche Angst abschüttelte. Doch auch das half ihm nicht viel – nicht gegen diesen Gegner. Der sich verwandelte. Dessen Knochen und Gelenke hörbar knirschten, ähnlich, wenn auch um ein Beträchtliches leiser als vorhin die des Bruders. Die edlen Züge des Fremden entstellten zu einer Grimasse, die das Bestialische wiedergab, das unter der dünnen Tünche schlummerte. Spitze Zähne tobten wie die Instrumente eines studierten Arztes durch das Fleisch des Zwillings, rissen gräßliche Wunden und verweilten schließlich an seinem Halse, um – »Allmächtiger …!« Eucharius erstarrte. Das Schmatzen, das an sein Gehör drang, ließ ihn in eine tiefe Agonie verfallen. Er meinte zu schweben. Aller Schmerz wich aus ihm, wurde seltsam … bedeutungslos. Eucharius ergab sich dem für ihn bestimmten Los und wurde dafür in einer Weise belohnt, wie er es sich nie erträumt, wie er es nie gewollt hätte. Aber danach fragte ihn sein unmenschlicher Peiniger nicht …
* Einige Tage später Das Dorf hieß Saquefort, und es quittierte die Ankunft von RÖSSLINS WANDERSCHAU mit unverhohlener Ablehnung. Etwa fünfzig Kilometer Distanz hatte der Wagenzug zwischen sich und Paris gebracht, aber noch immer war die dortige zersetzende Aura in Landru gegenwärtig. Ihn schauderte beim bloßen Gedenken an das, was sich vor den Toren der mittelalterlichen Stadt zugetragen hatte. Wie, fragte er sich ein ums andere Mal, kann es überhaupt sein, daß
ich hierher gelangte? In diese Zeit und in diesen Körper! Ein Körper namens Racoon. Existierte dessen geknechtete Seele noch irgendwo in einem fernen Winkel des vereinnahmten Gehirns – in einem unzugänglichen Versteck, aus dem sie Landru vielleicht sogar beobachtete, um eine Gelegenheit abzuwarten, den dreisten Eindringling wieder zum Teufel zu jagen? So oft Landru auch in sich lauschte, er konnte nicht das geringste Echo jenes Bewußtseins erspüren, das diese Hülle von Geburt an bewohnt hatte und durch den Kelchritus in den Stand eines Mächtigen unter Ohnmächtigen erhoben worden war … Macht – Ohnmacht. Die Vorstellung, daß er diesen Körper selbst einst getauft hatte, mutete bizarr und völlig abwegig an. Gewiß hatte kein Kelchhüter vor ihm je einen so tiefen Einblick in das Leben eines Täuflings erfahren! Was aber war aus seinem eigenen Körper geworden? Gab es ihn überhaupt noch, und wenn ja, wo – in welchem Zustand? Seelenlos? Oder war seine Seele in diese Hülle und Zeit kopiert worden? Erlebte ein anderer Landru irgendwo anders gerade völlig gegensätzliche Dinge …? Sinnlos, darüber nachzugrübeln. Kopfschüttelnd starrte Landru auf das seichte Wasser des Baches, der sich idyllisch durch ein fruchtbares Tal wand, umgeben von saftig grünen Wiesen und Wäldern. Vögel zwitscherten. Der Wind flüsterte in knorrigen alten, die Ufer säumenden Bäumen. Ab und zu knarrte ein Ast. Es war Abend, die Sonne sank, und hinter einem kleinen Hügel lag das Dorf, bei dem Landru einen Halt befohlen hatte. Befohlen … Ja, er befahl über diese absonderliche Gemeinschaft, seit er auf sie getroffen war! Weder Rößlin noch ein anderes Mitglied seiner zusammengewürfelten Truppe hatte die Mittel, einem Vampir zu widerstehen, und so hatte Landru sie alle mit seiner
Hypnose für sich eingenommen. Sein Wille flackerte in jedem Auge, das ihn ansah. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, etwas Ruhe zu finden, denn er brauchte Zeit, sich in der veränderten Welt zurechtzufinden, in die er geschleudert worden war. Die Erinnerung half ein wenig dabei. Er kannte diese Epoche ja, wie viele andere, aus eigenem Erleben. Dennoch hatten ihn die Jahrhunderte danach geprägt, und das neuzeitliche Leben des ausgehenden 20. Jahrhunderts hatte bleibende Eindrücke in ihm hinterlassen, die aktueller waren und sich nicht einfach ausknipsen ließen … Landru fuhr sich über das Gesicht, das ihm auch in den zurückliegenden Tagen nicht sehr viel vertrauter geworden war. Es gab nicht einmal einen Spiegel, in den er hätte schauen können, um das ihm auferzwungene Äußere zu mustern. Von der Brust aus abwärts stellte die Betrachtung kein Problem dar, aber das Gesicht, das, was eine Person am wahrhaftigsten prägte, blieb ihm verschlossen wie jedem Vampir. So war er auf Beschreibungen derer angewiesen, mit denen er sich umgab, in erster Linie … Vom Lager her näherte sich das charakteristische Schrittgeräusch seines Dieners. Landru lächelte vage, weil er gerade an ihn gedacht hatte. Er wartete, bis Eucharius neben ihn getreten war, doch auch dann würdigte er ihn noch keines Blickes. »Ja?« fragte er, die Augen nicht von dem ruhigen Strom abwendend, in dem er sich versenkt hatte. Versenkt, um Antworten auf Fragen zu finden, von denen möglicherweise seine Existenz abhing. Falls er noch existierte. Falls er nicht schon in einem ähnlich grausamen Traum gefangen war wie die von ihm geschaffene Dienerkreatur … »Rößlin hat nach Euch gefragt«, sagte der Zwillingsköpfige tonlos. »Er verlangt Euch zu sprechen.« Landru löste auch jetzt nicht die Anker, die er in den treibenden Fluten geworfen hatte. »Er verlangt, so, so. Sag ihm, ich komme, so-
bald es meine Zeit erlaubt. Und jetzt laß mich allein. Ich muß nachdenken …« Die Kreatur gehorchte ohne Zögern. Ihre Schritte entfernten sich wieder. Landru blieb allein zurück. Allein. Genau so fühlte er sich, aber das war nur ein schwacher Abglanz der verzehrenden Einsamkeit, unter der …
* … sein Diener litt. Eucharius trottete hin zu den klobig gezimmerten Wagen, die im Kreis um eine Feuerstelle herum aufgestellt waren. Die Zugtiere weideten abseits, während sich ungefähr die Hälfte der Schausteller und Zur-Schau-Gestellten im Freien aufhielt. Rößlin war nicht darunter. Eucharius fand ihn in seiner mobilen Behausung. Ohne anzuklopfen betrat er den niedrigen Wohnwagens. Hermes’ Kopf wackelte neben seinem eigenen. Ein hölzernes Gerüst, das der Meister gebaut hatte, verlieh ihm notdürftigen Halt. Die Augen standen immer noch offen, der Blick war eingefroren im Moment des Todes. Rößlin sah von seinen über den Tisch verteilten Papieren auf, neben denen eine Lampe mit brennendem Docht stand. Er schaute zu Eucharius hinüber und senkte, nachdem er ihn erkannt hatte, den Blick sogleich wieder auf die Schriftstücke. Naserümpfend fluchte er: »Was hast du für einen Gestank mit hereingebracht?« Eucharius roch nicht mehr das geringste, seit er in Landrus Armen – unter seinen dürstenden Zähnen und Lippen – gestorben war. Aber phantomhaft geisterte noch manches Mal das Wissen durch sein erkaltetes Gehirn, daß es andere Zeiten gegeben hatte; Zeiten, in denen das tote Herz in seiner Brust geschlagen und Blut durch die Adern und Gefäße eines warmen Körpers gepumpt hatte …
Ohne Rößlins Frage eine Beachtung beizumessen, richtete Eucharius dem untersetzten Mann aus, was der Meister ihm aufgetragen hatte. Rößlin hörte es sich an, fluchte noch derber und schlug dann mit der Faust auf den Tisch. »Ich begreife es nicht«, murmelte er nach einer Weile in gemäßigterem Ton. Sein Blick flackerte zu dem Zwilling, versuchte ihn festzuhalten, doch offenbar gelang es ihm nicht, länger als einen Lidschlag auf ihm zu verweilen. Dann zuckte er regelrecht von ihm zurück – irgendwohin. Und wenn er sich erneut bemühte, war ihm auch nicht mehr Erfolg beschieden. »Ich verstehe es nicht«, wiederholte er. »Wir wollten nach Paris … Wir waren fast dort, aber dann …« Er wischte mit den Händen durch die Papiere. Einige fielen auf den rohen Bretterboden des Wagens. »Hier liegen offizielle Einladungen. Hohe Herren der Stadt wollten uns auf ihren Festen auftreten lassen, der König selbst …« Er hieb erneut mit der Faust auf den Tisch. »Was habe ich getan? Wie konnte ich den Befehl geben, umzukehren …?« Eucharius antwortete nicht. Rößlins Verwirrung rührte ihn nicht. Er blickte nach links, auf die Herzseite, die seinem Bruder gehörte. Auch jetzt noch. Hermes’ Blick war stur nach vorn gerichtet. Warum hast du mich verlassen? dachte Eucharius. Und noch während er darüber nachsann, raste tauber Schmerz durch seinen Schädel, so als würde er für jeden Gedanken, der nichts mit der ihm verbliebenen Aufgabe zu tun hatte, bestraft. Bestraft von wem? Vom Meister? Rößlin, immer noch sitzend, gebärdete sich plötzlich wie toll hinter seinem Tisch. Schließlich packte er einen Stein, der ihm als Dokumentenbeschwerer diente, und schleuderte ihn dem Zwillingsköpfigen in seiner Rage entgegen. »Verschwinde!« kreischte er. Es hatte weniger mit Treffsicherheit denn mit Zufall zu tun, daß
der Stein genau die Stirn von Hermes traf und der Aufprall den Kopf weit nach hinten schmetterte, so daß es ähnlich wie vor Tagen knirschte, als das Genick des Bruders geborsten war. Diesmal war es jedoch eine der hölzernen Schienen, die der Meister zu einem sonderbaren, unter dem hohen Kragen versteckten Korsett geflochten hatte, um Eucharius’ totem Bruder Halt zu verleihen. Nun kippte Hermes’ schwerer Kopf wieder seitlich nach hinten weg. Rößlin mußte es eigentlich gesehen haben, zeigte aber dennoch keine Reaktion, die diesem makabren Vorfall gerecht geworden wäre. Nach einem kurzen Innehalten wandte er sich wieder den behördlichen Schreiben zu. Eucharius taumelte nach draußen. Es kostete ihn all seine Beherrschung, sich nicht auf den Direktor zu stürzen … Als er die Tür hinter sich zuschlug, mußte er sich kurz am Geländer festhalten. In einiger Entfernung sah er eine Gestalt hinter einem der anderen Wagen wegtauchen. Er war sicher, Lydia erkannt zu haben … Eucharius straffte sich und stieg die drei Stufen der Treppe hinab, die den Einstieg in Rößlins Wohnwagen erleichterten. Lydia. Ein flaues Gefühl breitete sich im Gedärm und in der hohlen Brust des Dieners aus – es ließ sich nicht länger ignorieren, zumal Eucharius kaum damit gerechnet hatte, überhaupt noch einmal etwas so Starkes fühlen zu dürfen. Während er Fuß vor Fuß setzte und Lydias Schatten folgte, wurde ihm bewußt, was da so klammheimlich, aber machtvoll in ihm erwacht war, und die Gier zauberte ein maskenhaft grelles Lächeln um seinen Mund. Er beschleunigte seinen Gang, überzeugt, daß ihm die Bitte, die er an die Frau ohne Haut richten würde, nicht abgeschlagen werden konnte …
* Landrus Augen weideten in der abendlichen Düsternis, die sich binnen weniger Minuten über die Landschaft gesenkt hatte. Racoons Augen durchdrangen sie, als blickten sie durch eine Scheibe aus rötlich eingefärbtem Glas. Das Gurgeln des Baches hätte auf Menschen einschläfernd gewirkt – ebenso wie die Stimmen, die der sachte Wind vom Lager herübertrug. Aber Landru war weder ein Mensch noch ein Vampir, wie es sie auf dieser Welt in jeder Epoche zuhauf gab. Er war immer etwas Besonderes gewesen – eine Ausnahmeerscheinung. Hohe Wesen wie ihn hatte es selbst zur Zeit der höchsten Blüte nur zwanzig gegeben, und auch wenn seine Triebe denen der Kelchkinder so sehr ähnelten, war die Kluft zwischen ihm und ihnen doch mindestens so gewaltig wie der Unterschied zwischen einem Kelchkind und einer Dienerkreatur. Er war ein HÜTER! … gewesen … Eines der Geheimen Kinder der Urlilith, von ihr dereinst ins Uruk der Sumerer geboren, um dort göttergleich zu herrschen. Doch durch Gottes Zorn, durch die Sintflut, die er dem Menschengeschlecht und seinen heimlichen Herrschern geschickt hatte, war alles anders geworden. Die Urvampire (Anum, Enlil, Ischtar …) hatten sich im Berge Ararat zu einem Schlaf niederlegen müssen, während dessen Dauer sie all ihrer Erinnerung an ihr Vorleben beraubt worden waren. Nichtsahnend wie Neugeborene hatten sie nacheinander im 1000-Jahre-Abstand im Dunklen Dom (der aus der Dunklen Arche hervorgegangen war) erwachen und mit Hilfe des Lilienkelchs ein neues Vampirgeschlecht unter die Menschen mischen sollen. Mit Erfolg.
Bis zu dem Tag zumindest, da die Urmutter aller Vampire ihre eigenen Kinder und Kindeskinder im Stich gelassen und verraten hatte … Landru grub die Finger tief in den weichen Ufersand. Es waren nicht länger Racoons Finger – so wie er nicht länger der Hüter eines Kelchs war, dessen ursprünglicher Sinn und Zweck für alle Zeit verloren gegangen war! Das Zwischenspiel jenseits des Tores hatte noch einmal alles in ihm hochgespült, was seit seinem Erwachen in der Heimstatt der Hüter an Bedeutungsvollem und zugleich Erschütterndem geschehen war … bis hin zu der Stunde, in der er zum Mörder an der eigenen Mutter geworden war – sie für ihren schändlichen Verrat mit dem Tod bestraft hatte! Er hoffte, daß sie ihre Hölle gefunden hatte, ihr nie verlöschendes Fegefeuer! Mit einem leisen Seufzer schob er die immer noch schmerzenden Erinnerungen an seine Herkunft beiseite. Seine Gedanken schweiften zurück zum Moment seiner Ankunft. Zurück nach Paris. Noch einmal rekapitulierte er, was er gehört, gesehen und empfunden hatte – vor, während und nach seiner Flucht vor einer Gewalt, für die er auch jetzt noch keinen Namen hatte …
* Währenddessen, jenseits des Hügels »Sie stehlen Vieh und Kinder, und sie schänden Frauen, das hört man überall! Deshalb müssen sie weg … weg, bevor das Heulen und Zähneklappern laut wird! Und wenn sie nicht freiwillig weichen, müssen wir sie eben zwingen!« Goulue war bekanntermaßen ein Eiferer, dennoch regierte der
Pfaffe das Dorf fast unangefochten mit strenger Hand. Dabei schreckte er nicht zurück, die Inhalte der Heiligen Schrift nach eigenem Gutdünken den jeweiligen Erfordernissen angepaßt auszulegen. Die Last der Jahre drückte ihn zwar nieder, und ohne Krücken konnte er kaum einen Schritt mehr weit gehen, aber sein Wort war den meisten Bauern und Handwerkern immer noch Gesetz. Manche hielten ihn gar für die rechte Hand des Gottes, an den sie glaubten. Das kam nicht zuletzt daher, daß er ihnen schon seit den ersten Ausbrüchen der Pest in der Umgebung immer wieder aufs neue versichert hatte, der Allmächtige würde dieses Dorf ungeschoren lassen, solange nur jeder gottesfürchtig genug blieb und den Geboten des Herrn (oder Goulues) Folge leistete. Tatsächlich hatte die furchtbare Krankheit die Bewohner Saqueforts bis zum heutigen Tage verschont, und dies festigte die Stellung des Pfaffen ungemein. Zudem stopfte es den wenigen, die es unter anderen Bedingungen vielleicht doch einmal gewagt hätten, seinen Entscheidungen zu widersprechen, die Münder. Nein, wenn Goulue meinte, die Unbehausten, die auf der anderen Seite des Hügels lagerten, seien eine ernstzunehmende Gefahr, dann stimmte dies auch, und man mußte ihnen mit unversöhnlicher Härte entgegentreten! Sollten sie anderenorts Unfrieden stiften oder kleine Kinder aus der Wiege entführen – aber nicht hier! Immer mehr Männer, alt und jung, rotteten sich vor der Dorfkirche zusammen …
* Eine Weile stand Eucharius vollkommen regungslos vor dem Wagen, aus dem nicht das leiseste Geräusch nach draußen drang. Dann überwand er die eigentümliche Scheu, die selbst einem Toten wie ihm hinderlich werden konnte. Entschlossen schlug er das vor dem Eingang herabhängende Tuch zur Seite.
Die wenigsten Wagen waren so stabil und aufwendig gebaut wie der von Rößlin. Überwiegend handelte es sich um einfache, wackelige Karren, über die eine geteerte, regenabweisende Plane gespannt worden war. So auch hier. Lydia lebte nicht minder armselig und bescheiden wie die übrigen Attraktionen der Sensationsschau … Eucharius starrte direkt in ihr Gesicht, als er Kopf und Hals ins Innere des Wagens reckte. Er erschrak nicht, aber der Anblick der Frau bewegte ihn trotzdem. Sehr tief. »Tritt ein«, sagte sie. Es klang, als hätte sie ihn erwartet. Ihn, nicht Hermes! Eucharius blickte kurz zu seinem stummen Bruder, dessen Gewicht ihn zwang, den Körper nach rechts zu verlagern. Schließlich kletterte er ins Innere der fahrbaren Behausung und ließ das Tuch hinter sich wieder den Eingang verschließen. »Was ist passiert?« fragte Lydia. Sie saß kerzengerade auf einem Stuhl, der fest mit dem Wagenboden verschraubt war und wie der Thron eines verarmten Königs aussah, der statt des Zepters den Bettelstab zu schwingen gelernt hatte. Eine Weile war Eucharius unfähig, etwas zu erwidern. Er war Lydia – durch seines Bruders Neigungen – zwar oft nahe gekommen, aber so wie heute, so wie jetzt, hatte er sie noch nie gesehen. Sie wirkte völlig verändert. Ihr Körper schien von innen heraus zu leuchten, und das Netz ihrer Adern, sonst bläulich erkennbar, wurde von diesem unheimlichen Licht beinahe völlig überstrahlt und verschluckt. Lydia lächelte. »Hast du Angst?« Dann, noch ehe er etwas erwidern konnte, schüttelte sie den Kopf und gab sich selbst die Antwort: »Nein, einer wie du hat keine Angst mehr – vor nichts, außer …« »Außer?« Seine Stimme war brüchig wie altes Pergament gewor-
den. Eucharius räusperte sich, aber auch danach kostete ihn jedes Wort Mühe. »Wie … machst du das? Und warum –?« »Warum?« Sie forderte ihn mit einem Wink auf, näherzutreten. »Es geschieht immer, wenn ich hungrig bin. Wenn der Hunger überhand nimmt … Du müßtest wissen, was das heißt. Bist du nicht deswegen zu mir gekommen? Ich beobachte dich, seit wir ihm begegnet sind. Seit er deinem Bruder –«, sie wies zu dem bei jeder Bewegung unkontrolliert hin und her baumelnden Kopf, »versagte, ein Diener zu werden wie du …« Eucharius rückte trotz eines nicht näher zu benennenden inneren Widerstands ein Stück näher auf Lydia zu. »Wieso siehst du als einzige, was geschehen ist?« fragte er. »Weil sein Zauber an mir nicht verfängt.« »Er ist … mein Meister.« »Ich weiß.« Eucharius schwankte. Seine Hände fanden rechts und links Halt an schlichten Möbeln, aber sein Verstand, sein auf Sparflamme geschaltetes Gehirn konnte daraus keinen Nutzen ziehen. Dem Untoten war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Alles um ihn herum drehte sich. Die Wände schienen näherzurücken, ganz nah. Erst Lydias erneut aufklingende Stimme brachte Linderung und bot sich als Bezugspunkt zur Realität an. »Er ist ein Vampir. Ich kenne seine Art. Und ich weiß, was er euch … dir angetan hat. Die Saat, die ihm jeden Menschen, so er es will, ausliefert, ist in dir aufgegangen. Nur in dir. Der Genickbruch hat verhindert, daß auch dein Zwilling teilhaben kann an dem, was nicht Leben und nicht Tod ist … Soll ich dich erlösen? Soll ich auch dir das Gesicht nach hinten drehen, damit deine Hörigkeit zu diesem Mörder endet? Du kennst keinen Schmerz, es gibt also nichts, wovor du dich fürchten müßtest. Danach wirst du von deinem Leiden … und von dem Durst erlöst sein!«
Eucharius lauschte in sich. In die Untiefen, die sich dort gebildet hatten, wo einmal Skrupel, Moral und soziale Verhaltensmuster beheimatet gewesen waren. All dies war ersatzlos in ihm getilgt worden. Das einzige, was ihn noch antrieb und bewegte, waren der bedingungslose Gehorsam gegenüber seinem Meister und das, wovon Lydia gerade gesprochen hatte … DURST! Niemand brauchte ihm zu sagen, wonach dieser Durst verlangte – und wie er sich in den Besitz dessen bringen konnte, was ihn – wenigstens vorübergehend – stillte. Eucharius rückte einen weiteren Schritt auf die Frau ohne Haut zu, und plötzlich begriff er, warum er ausgerechnet Lydia erwählt hatte, um seiner verdorrten Kehle erstmalig das Lebenselixier der Toten zuzuführen. Kein Zweifel, es gab noch eine dritte Kraft, die ihn in Gang hielt, nicht nur Gehorsam und die Jagd nach der einzigen Nahrung, die ihm geblieben war. Auch die Rachsucht hatte in dieser kalten Hülle überdauert, und nun, da der Meister ihn mit übermenschlichen Körperkräften ausgestattet hatte, hinderte ihn nichts mehr daran, Rache zu nehmen an jener Person, die ihn durch ihre Schamlosigkeit und Triebhaftigkeit so oft gequält hatte – zusammen mit seinem Bruder, den er ebenso haßte, wie er ihn vermißte! In Eucharius’ Augen wölkte dunkler Rauch auf. Lydia mochte diesen Ausdruck in dem gespenstischen Licht, das sie selbst warf, erkennen. Keine Kerze erhellte das Innere des Wagens, nur dieses Wesen tat es, das Eucharius plötzlich verdächtigte, seinen Bruder nur benutzt zu haben. Benutzt, um – »Armseliger Narr!« fauchte das verruchte Weib auf dem Thron, als Eucharius nur noch die Arme ausstrecken mußte, um ihrer habhaft zu werden. In seinem Mund, hinter den bleichen Lippen, regte sich etwas. »Bildest du dir ein, mir gewachsen zu sein? – Dann hast du nichts begriffen! Aber wie sollte auch eine be-
schränkte Kreatur wie du verstehen, wie diese Welt wirklich beschaffen ist. Wer sie regiert und mit welchen Absichten … Dein Meister hat dir vieles vorenthalten. Aber dein Meister ist selbst ein Narr, wenn er glaubt, zu den wahren Regenten zu gehören. Die Vampire sind nichts gegen …« Eucharius hatte das Interesse an ihren Reden verloren. In seinem eben noch pulvertrockenen Mund liefen Säfte zusammen, die den Appetit auf das, was hinter dem Strahlenkranz von Lydias Haut floß, ins Unermeßliche steigerten. Säfte, die vielleicht nur in seiner Einbildung existierten. Aber das genügte. Eucharius gab dem Drängen der Sucht nach. Sein vom Keim vergifteter Körper glitt in die Metamorphose, die den Bruder ignorierte. Dessen Kopf schaukelte unverändert hin und her, während aus Eucharius – zumindest äußerlich – ein gierendes Ebenbild seines Meisters wurde, auch wenn er ihm in Sachen Magie nicht das Wasser zu reichen vermochte! Lydias Spott hielt ihn noch einmal auf. »König der Narren, wenn du wüßtest, wie hungrig ich bin! Wenn du auch nur ahnen könntest, wonach mir der Sinn steht! Besäßest du es, würden wir längst nicht mehr miteinander reden. Aber du bist eine taube Schote. Leer und fad … wie dein Herr!« Eucharius überwand sein Stocken. Irgend etwas warnte ihn, Lydias Worte nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Ihre Selbstsicherheit, ihre Angstlosigkeit … all das mußte Gründe haben … Aber die Gier war stärker. Sie hatte den Grat überschritten, der es Eucharius noch erlaubt hätte, sich zu bezähmen und die unmißverständlichen Signale zu berücksichtigen. Er warf sich auf sie. Seine Hände hatten sich in Klauen mit messerscharfen Nägeln verwandelt. Und diese furchtbaren Waffen … … bohrten sich nicht in Lydias Fleisch! »Tote sind dumm!« hörte er sie noch rufen.
Dann war der Sitz vor ihm leer. Eucharius konnte nicht mehr rechtzeitig abbremsen, und die Wucht des Aufpralls riß den Stuhl aus seiner Verankerung. Gemeinsam mit ihm krachte die Dienerkreatur zu Boden! Und noch ehe er überhaupt die Chance erhielt, dieses eine Phänomen zu verdauen, hatte sich seine Umgebung bereits ein weiteres Mal und noch viel bedrohlicher verändert: Von einem Moment zum anderen quoll von überall her Rauch auf ihn zu und prasselten Flammen! Lydias Wagen brannte lichterloh, und feurige Zungen griffen nach Eucharius’ Gewand …
* In der zweiten Jahreshälfte 1635 war Landru von einer geradezu unfaßbaren Kunde eingeholt worden. Er wußte noch ganz genau, wo er sich damals aufgehalten hatte und warum: in Afrika, auf Nonas Spuren … und zugleich im Auftrag des Kelchs, mit dem er die Alte Rasse auf dem Schwarzen Kontinent mehren und ihren Einfluß verstärken wollte. Die Nachricht hatte ihn während der Vorbereitungen zu einer Massentaufe erreicht und seine damaligen Pläne nachhaltig gestört: In Paris, so wußte der Bote einer Sippe zu berichten, die freundschaftliche Kontakte zu den Vampiren in der Seine-Stadt gepflegt hatte, mußte etwas Beispielloses vorgefallen sein! Darauf aufmerksam geworden war man, als im direkten Umland der Hauptstadt zahlreiche völlig verwirrte und amoklaufende Dienerkreaturen für Aufsehen gesorgt hatten. Dienerkreaturen, die es nicht verkraftet hatten, dauerhaft von ihren Herren getrennt zu sein, und die bei späteren Verhören übereinstimmend aussagten, daß sie vom Untergang ihrer Herren überzeugt seien – zu kraß, zu niederschmetternd hätten sie alle, unabhängig voneinander, zur selben
Stunde den unersetzlichen Verlust verspürt! Die Angehörigen jener anderen Sippe hatten den Versuch unternommen, in der Stadt nach dem rechten zu schauen, aber etwas Unheimliches hatte sie in die Flucht geschlagen! Landru war nie dazu gekommen, den damaligen, immer ungeklärt gebliebenen Geschehnissen nachzugehen. Erst nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs war er aus Schwarzafrika zurückgekehrt – die Verhältnisse dort hatten ihn viel länger aufgehalten als beabsichtigt. Und später hatten sich dann dringlichere Herausforderungen in den Vordergrund gespielt; zumindest hatte er sie damals als dringender eingeschätzt. Damals … Nein, heute! Jetzt! Die Zeit war keine Konstante mehr, sie war zu einer unberechenbaren Variablen geworden! Landru erhob sich geschmeidig vom Ufergrund. Kurz irrten seine Gedanken zu einer besonderen Vampirin namens Salena, die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht des abscheulichsten aller Verbrechen schuldig gemacht, aber bereits auf eine lange, finstere Wallfahrt begeben hatte, um … ja, um den »Messias der Vampire« zu finden! Aus dem Mund der jemenitischen Vampirin hatte Landru erstmals überhaupt von einem »Gesandten« gehört, dessen Ankunft die Alte Rasse zu neuer Blüte führen sollte. Anfangs hatte er diese Idee belächelt und als vollkommen absurd abgetan, später jedoch … Dort, von wo er kam, war Salena schon lange tot. Gejagt, gehetzt und umgebracht von ihm selbst – weil sie sich im Jahr 1723 von einem Sterblichen hatte schwängern lassen und Landru um jeden Preis verhindern wollte, daß der Bastard, den sie unter ihrem Herzen trug, das Licht der Welt erblickte. Es war ihm gelungen. In Edo, dem späteren Tokio, hatte er die werdende Mutter und das Kind in ihrem Bauch getötet.
Anderthalb Jahrhunderte später hatte er es bei der Vampirin Creanna nicht mehr rechtzeitig verhindern können, daß ein Kind zweier Welten geboren wurde: Lilith Eden. Mit ihr hatte der Niedergang eines ganzen Volkes begonnen. Das große Sterben der Vampire … Landru setzte sich in Bewegung. Drei Stunden hatte er allein im Uferdickicht des Bachlaufs verbracht, und drei Stunden war es her, daß er Eucharius zu Rößlin geschickt hatte. Die lange Abwesenheit seines treu-devoten Dieners verwunderte ihn ein wenig. In den letzten Tagen war der Zweiköpfige ihm wie eine läufige Hündin auf Schritt und Tritt gefolgt, penetrant in seiner Folgsamkeit. Landru kannte sich, deshalb wußte er, daß er des Mißgeborenen bald überdrüssig sein würde. Aber noch duldete er dessen Unterwürfigkeit … Noch während er auf die Wagen zuschritt, schwärmte vom Hügel herab eine plärrende Horde und stürmte das Lager! Landru wußte sofort, daß es sich um Bewohner des nahen Dorfes handelte. Derbe Fäuste schwangen Werkzeuge wie Waffen. Viele trugen brennende Fackeln, die sie noch im Lauf gegen die Karren schleuderten, wo die Flammen sofort Nahrung fanden. Landrus magische Einflußnahme auf die Mitglieder der Wanderschau erwies sich als fatal. Benommen starrten die Akrobaten, Spielleute und Mißgeburten zu den Fanatikern, die wie ein Unwetter über sie kamen und sofort mit ihren Knüppeln auf alles einprügelten, was sie erblickten. Daß ihnen so gut wie keine Gegenwehr entgegenschlug, schien die Dörfler in ihrem Haß nicht zu beirren. Gegenseitig stachelten sie sich zu immer größerer Brutalität an. Blut floß. Selbst im Gras liegende Opfer wurden weiter mit Schlägen und Tritten traktiert. Dabei ging alles furchtbar schnell. Erste Wagen brannten bereits lichterloh, aber Landru stand immer
noch wie angewurzelt da und schaute zu, wie die Berserker unter den Wehrlosen wüteten. Er hatte nicht jeden Einzelnen hypnotisiert, sondern den Troß der Schausteller durch Massensuggestion gefügig gemacht. Seine Hütermagie war in jeden Wagen gedrungen und hatte Landrus Willen auf den Willen der jeweiligen Person aufgepfropft. Landru schüttelte die Erstarrung ab und änderte kurzerhand das Programm, das er in den Fahrensleuten verankert hatte. Er befahl ihnen, Widerstand zu leisten. Gleichzeitig begann er seinen Willen auf die Dörfler auszudehnen. Aber dies ließ sich nicht von einem Augenblick auf den nächsten vollbringen, und so setzte sich die Gewalt zunächst fast ungehemmt fort. Die Brände dehnten sich aus, sprangen von einem Wagen zum anderen über. Knisternde Flammen und Funkenflug erhellten die Nacht. Der Wind trug Geschrei und die typischen Gerüche einer Brandschatzung zu Landru, der in diesem Moment den mutmaßlichen Anführer der Entfesselten entdeckte. Einen Pfaffen! Er wollte sich ihm zuwenden, als Eucharius ihn durch sein jähes Auftauchen ablenkte. Sein Diener wankte ihm trotz brennender Kleider ohne einen einzigen Klagelaut aus der aufgerührten Nacht entgegen! Landru handelte gedankenschnell und entsandte einen magischen Windstoß, der – anders als ein natürlicher – die Flammen augenblicklich erstickte. Wenig später stand der ehemalige Kelchhüter der Zwillingskreatur gegenüber und erfuhr in aller Kürze von dem Unglaublichen, das ihm widerfahren war. »Lydia?« echote Landru/Racoon, umflirrt vom Lärm des immer erbitterterer geführten Kampfes. »Eine Frau, die Vampire wohl kennt, aber nicht fürchtet, und die mit Dienerwesen wie mit lästigem Ge-
schmeiß verfährt …?« Er machte aus seiner Verblüffung keinen Hehl. In diesem Augenblick wendete sich im Lager das Blatt. Und schuld daran war – Lydia …
* Saquefort war von den wehrhaftesten seiner Bewohner entblößt. Lydia hatte sie auf ihrem Weg ins Dorf losmarschieren sehen. Von den aufgewiegelten Männern jedoch hatte keiner sie bemerkt … Die Schlupflöcher der Nacht waren hilfreich und vertraut geworden in all den Jahren des Aufenthalts in der Fremde. Heimisch war sie nirgends geworden, an keinem Platz der Welt, und inzwischen war sie sicher, daß sich ein Gefühl von Heimat auch nie bei ihr einstellen würde. Sie hatte sich damit arrangiert. Zwangsläufig. Nahezu lautlos glitt sie durch die stockfinstere Nacht. Nach der Entladung, die ihr Eucharius zumindest vorübergehend vom Halse geschafft hatte, leuchtete ihr Körper nicht mehr ganz so verräterisch, eher wie das unruhige Feuer in einem jahrmillionenalten Diamanten. Dennoch hatte sie die Haut mit schwarzem Tuch verhüllt; selbst das Gesicht lag, bis auf die Augenpartie, unter einem dämpfenden Schleier. Dieses kalt phosphoreszierende Licht war nur das sichtbare Symptom eines weit komplizierteren und unerklärlicheren Prozesses, der Lydia zum Diebstahl zwang. Auch jetzt wieder. Seit der Vampir die Wagen der Wanderschau von Paris fortgelotst und sich das Gros der Schausteller unterworfen hatte, war Lydia noch nicht wieder nächtens unterwegs gewesen. Sie hatte sich erst einen Eindruck von dessen Stärke verschaffen wollen. Aber gerade
dies war zu einem schwierigeren Unterfangen geworden als gedacht. Jener Angehörige der Alten Rasse schien ein Außenseiter und Einzelgänger zu sein – verwunderlich genug. Dennoch war Lydia nach Eucharius’ Besuch zu dem Entschluß gelangt, die Konfrontation mit dem Blutsauger zu suchen. Er machte ihr das Revier streitig, und das würde sie sich nicht länger gefallen lassen, zumal sie sich nicht noch weiter von Paris entfernen, sondern dorthin zurückkehren wollte … Aber zunächst wollte sie Kräfte schöpfen, denen ihr Gegner – die Vergangenheit hatte es bewiesen – nicht gewachsen sein würde! Noch schneller glitt sie durch die Nacht, auf die Häuser und das darin befindliche Leben zu. Eine Diebin ohne Hemmungen; eine Diebin, die den Bewohnern von Saquefort das kostbarste ihrer Güter stehlen wollte. Denn was war dem Menschen mehr wert als die Spanne Zeit, die er von seinem Schöpfer zum Geschenk erhielt und die ihm doch wie feiner Sand zwischen den Fingern zerrann …?
* Goulue wurde von einem Zittern durchlaufen, sein Herz pochte hart, und seine beiden Hände krampften sich um die Bügel der Holzkrücken, auf die er gestützt stand – in sicherem Abstand des von ihm angezettelten Überfalls. Eine Kolik rollte vom Steiß an aufwärts und versuchte ihn in die Knie zu zwingen. Aber er blieb unerschütterlich. Selbst wenn sich jemand unmittelbar neben ihm aufgehalten hätte, wäre ihm der Kampf, den der Pfaffe von Saquefort ausfocht, wahrscheinlich verborgen geblieben. Der Kampf gegen die Strafe, die nun schon im dritten Jahr in ihm tobte. Längst hatten sich gummiartige Knoten an den intimsten Stellen seines Körpers ausgebildet, und die Koliken waren noch das geringste, was ihn peinigte. Manchmal ver-
lor er völlig den Kontakt zu seiner Umgebung. Manchmal verwandelte sich sein Hirn in ein pelziges Ding, das ihn eine endlos scheinende Weile in Blindheit und Taubheit stürzte, bis sich seine Sinne endlich wieder öffneten. Eines Tages, das wußte er, würde ein Anfall kommen, der nicht mehr vorüberging, aber wenn er es geschickt anstellte, würde auch dann noch niemand die wahre Todesursache erfahren, die unweigerlich zu Ehrverlust und – auch nachträglicher – Ächtung geführt hätte … »Prêtre Goulue?« Er biß die Zähne zusammen. Schwerfällig drehte er sich um. Die Nebel um seine Wahrnehmung lichteten sich gerade rechtzeitig, so daß er Roland erkannte, den Enkel der alten Tabitha, die in einem Häuschen am Dorfrand lebte, und im ersten Moment glaubte er, der Junge, der den Hügel herabgestolpert kam, wolle ihn darum bitten, an der Vertreibung der Fahrensleute teilzunehmen zu dürfen. Doch dann … mißtraute Goulue seinen Sinnen erneut. Die brennenden Wagen hellten die Umgebung auf, und so glaubte der Priester erkennen zu können, daß der elfjährige Junge seltsam verändert wirkte. Viel älter als gewohnt … »Roland!« Goulue war es, als griffe eine kalte Hand nach seiner Kehle. »Prêtre, bitte, Prêtre … kommt! Kommt schnell zurück ins Dorf … Ich weiß nicht, was dort geschieht, aber es ist furchtbar – entsetzlich! Meine Großmutter, die Nachbarn … bitte, beeilt Euch …«
* Landru hatte Eucharius zu Boden gestoßen. Vielleicht hätte er ihn hier und jetzt in den Staub getreten und seines Dieneramtes enthoben, wenn … ja, wenn in diesem Moment nicht der Ruf des Pfaffen in das Getümmel hineingefahren wäre: »Genug! Laßt es genug sein!
Wir müssen zurück, sofort! Folgt mir!« Bemerkenswert, wie befehlsgewohnt die Stimme des Krüppels, den Landrus Augen schon vorher zwischen dem Gesträuch ausgemacht hatten, in den Kampflärm hineinschnitt und sich Gehör verschaffte. Während er zusah, wie sich die Dörfler aus dem Lager zurückzogen und mit dem voraushinkenden Pfaffen Richtung Saquefort strebten, beschäftigten sich Landrus Gedanken mit dem Bericht des Zwillingsköpfigen. Es war auszuschließen, daß Eucharius gelogen oder etwas hinzugedichtet hatte. Aber wenn es sich um keinen Defekt im Dienerhirn handelte, welche Erklärung gab es dann noch für die Vorgänge in Lydias Wagen? »Wo hast du dich außer bei Rößlin und Lydia noch aufgehalten?« wandte sich Landru noch einmal an das Geschöpf, das zwischen Tot- und Untotsein schwankte. »Nirgends sonst«, antwortete Eucharius. Die Flammen hatten ihm nicht nur sämtliche Haare von beiden Häuptern gesengt, sondern darüber hinaus an einigen Stellen beinahe kryptisch anmutende Muster in die Haut gebrannt. Muster, die Landru nicht mehr allein dem Zufall zuzuschreiben versucht war. »Du warst etwa drei Stunden weg.« Die Dieneraugen flackerten irritiert. Dann schüttelte Eucharius so heftig den Kopf, daß auch der seines Gerüsts beraubte Bruder hin und her geschleudert wurde. »Das kann nicht sein, Herr …« Er schilderte Landru exakt den Ablauf, wie er sich aus seiner Sicht zugetragen hatte, seit er den Meister am Bachufer aufgesucht und wieder verlassen hatte, um Rößlin dessen Nachricht zu überbringen. Der Abstecher zu dieser Lydia war dem Durst einer Dienerkreatur zuzuschreiben, deren Eigeninitiative für die Beschaffung des Lebensnotwendigen ausreichte und die ihr zugebilligt werden mußte. Landru fand keine Erklärung für die etwa zwei Stunden umfassende Lücke im Gedächtnis des Zweiköpfigen. Da Untote nicht zu
hypnotisieren waren, schied eine entsprechende Manipulation aus. Nur Landru als der uneingeschränkte »Meister« dieser Dienerkreatur hätte Eucharius eintrichtern können, er solle dieses oder jenes vergessen – aber ein anderer … Nein! Ein solcher Fall war ihm noch nie zu Gehör gekommen. Selbst die Magie eines anderen Vampirs hätte es nicht vermocht, eine Kreatur zu veranlassen, ihren Herrn zu belügen … Was steckte aber dann dahinter? Was hatte sich wirklich im Wagen der Frau ohne Haut zugetragen? Wie hatte sie es geschafft, dem Angriff eines blutrünstigen Untoten mit unmenschlichen Kräften zu entrinnen, sich quasi von einer Sekunde auf die andere aus seiner Wahrnehmung auszuklinken? Eucharius war von den Flammen, die die Wagen verzehrten, völlig überrumpelt worden. Aber die Brände hatten sich erst zu ihrer verderblichen Größe ausweiten müssen. Wieso hatte er die Gefahr nicht viel früher bemerkt und sich in Sicherheit gebracht …? Wie auch immer Landru es drehte und wendete, es lief auf dasselbe hinaus: Eine Erklärung für die Ungereimtheiten konnte ihm nur diese Lydia selbst geben. Aber dafür mußte er sie erst finden. Nicht zuletzt das Verhalten des Pfaffen und der plötzliche Rückzug der Dorfbewohner lenkten Landrus Schritte auf den Hügel zu, hinter dem Saquefort lag. Ein Dorf, das trotz der fortgeschrittenen Stunde gewiß nicht schlief …
* Die am Himmel dahinziehende Wolkenfront riß kurz auf, und die sichtbar werdende Sichel des Mondes streute einen silbrigen Schimmer über Lager und Landschaft, auch über jene Kuppe, hinter der die gewaltbereiten Dorfbewohner verschwunden waren. Rößlins Wanderschau existierte nur noch als Ansammlung rauchender Trümmer. Die lebenden Attraktionen versuchten sich ge-
genseitig Hilfe und Trost zu spenden. Von Rößlin war nichts zu sehen. Entweder war er Opfer des feigen Anschlags geworden, oder er hatte sein Heil in der Flucht gesucht … Landru verschwendete keinen Gedanken mehr an ihn. Als er den Kamm des Hügels überschritten hatte, sah er unter sich in der Senke eine zusammengewürfelte Ansammlung von Häusern, aber keine Menschenseele. Und das, obwohl sich zumindest der wie ein Pfaffe gekleidete Krüppel kaum so schnell auf seinen Krücken hätte davonstehlen können. Etwas stimmte nicht. Landru blieb stehen. Der winzige Ort lag wie ausgestorben zu seinen Füßen. In der Mitte erhob sich im Schatten einer mächtigen Linde eine schlichte Kirche, von der sich Landru sofort angezogen fühlte. Widersinnig genug, denn normalerweise stießen ihn solche Bollwerke fatalen Glaubens ab. Ein Rascheln veranlaßte Landru, über die Schulter zu blicken. Mit Racoons Augen, die nun ihm gehörten, blickte er über die Schulter und sah Eucharius auf allen Vieren die Hangsteigung heraufklettern. Dem nicht nur verbrannten, sondern inzwischen auch halbverwesten Schädel, der neben Eucharius’ Haupt baumelte, hing die Zunge wie hechelnd aus dem Mund. Erneut stand Landru kurz davor, der Anhänglichkeit des Monstrums, für das er eigentlich keinen Bedarf hatte, ein Ende zu bereiten. Doch wiederum unterdrückte er diesen Impuls und lief statt dessen einen ausgetretenen Pfad hügelabwärts. Eucharius fiel hinter ihm zurück, aber es war unwahrscheinlich, daß er die Verfolgung aufgab. Warum Landru darauf verzichtete, sich Flügel zu verleihen oder in die von ihm favorisierte Gestalt eines Wolfs zu verwandeln, hätte er selbst nicht zu sagen gewußt, denn in jeder dieser Masken wäre er beträchtlich schneller vorangekommen.
Kurz vor Erreichen der ersten Häuser hielt er noch einmal inne. Eine unnatürliche Stille hatte sich wie eine schallundurchlässige Glocke über Saquefort gestülpt. Weder Geräusche, noch Stimmen waren auszumachen. Während Landru zu dem spätmittelalterlichen Dörfchen spähte, überkam ihn mehr und mehr das Gefühl, in einen Film versetzt worden zu sein, dessen Ton willkürlich abgedreht worden war. Anders als in dem ominösen Zwischenreich, in das er zunächst gelangt war*, gehorchte ihm in der Gegenwart des 17. Jahrhunderts seine Magie wieder vorbehaltlos. War dies der Beweis, daß er wirklich hier war? Landru schüttelte den Kopf. Befremdet ging er weiter. Er konnte sich nicht erinnern, je in einer Zwickmühle gesteckt zu haben, die annähernd mit dieser zu vergleichen gewesen wäre. Irgendwie erwartete er jeden Augenblick, aus einem Traum zu erwachen und sich im Gewölbe des Monte Cargano wiederzufinden, in Gabriels Gesellschaft. Gabriel. Was hatte er mit all dem zu tun? Gab es überhaupt Zusammenhänge? Landru schüttelte die Fragen, auf die er keine Antworten wußte, ab und schritt in den nächtlichen Ort. Eine aufrührende Stille nahm ihn in sich auf, als hätte sie nur darauf gewartet, daß nach den heimkehrenden Dorfbewohnern nun auch er hierher fände … Genug mit diesen Wahnvorstellungen! Reiß dich zusammen! Seltsam, wie leicht sich ein Mann mit seinen Erfahrungen aus der Bahn werfen ließ. Landru zögerte, sich Zutritt zu einem der Häuser zu verschaffen. Bei einer der Stallungen, an denen er vorüberkam, spürte er diesen unerklärlichen Hemmschuh nicht. Ohne darüber zu spekulieren, was ihn drinnen erwarten könnte, zog er das knarrende Tor auf. *siehe VAMPIRA T18: »Jenseits des Tores«
Falls eine Konfrontation mit den hiesigen Bewohnern unumgänglich war, würde er sich dem stellen … Doch dann spiegelten die Züge des Wirtskörpers Landrus Betroffenheit wider. Er lief hinein in ein Dunkel, das noch genügend Helligkeit enthielt, um sich darin wie in einem grauenden Morgen zurechtzufinden. Zu seiner Rechten und Linken lagen die Kadaver des Viehs im Stroh. Manche Kuh, die kurz angebunden worden war, hing mit ihren eingeknickten Vorderläufen wie vorsätzlich erhenkt an ihrem Strick. Aber daran, daß der Tod schon vorher eingetreten war, gab es bei näherem Hinsehen kaum Zweifel. Landru durchquerte den ganzen Stall und sah in jeden Winkel, ehe er sich einem der Kadaver näherte, einer tote Ziege, und deren spröde Hülle berührte. Als die Schockwelle ihn traf, schrie er leise auf. Es war tatsächlich wie ein Schock, die in der toten organischen Materie erhalten gebliebene Furcht des Tiers auf sich überspringen zu fühlen und sich davon elektrisieren zu lassen … Nachdem dieser jenseitige »Funke« verglüht war, durchdrangen Landrus Finger das dehydrierte Gewebe der Ziege wie ein uraltes Papyrus. Knisternd gab das verdorrte und all seiner Flüssigkeit beraubte Fleisch schon unter leichtem Druck nach. Grauer Staub wölkte auf. Landru atmete ein paar der Schlieren ein, die ihm Hustenreiz verursachten. Trotzdem wühlte er mit beiden Händen weiter in den eingetrockneten Innereien, die jedoch keinerlei Hinweis auf die Ursache der Mumifizierung gaben, die sehr plötzlich, aus heiterem Himmel, eingetreten sein mußte. Landru zog seine Hände zurück und klopfte sie im Aufstehen an den Schenkeln ab. Ein Verdacht durchzuckte ihn, eine Möglichkeit … Aber war es möglich, daß nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen von Saquefort ein Opfer dieses spektakulären Phänomens
geworden waren? Auch jene Bewohner, die noch kurz zuvor Rößlins Wanderschau überfallen hatten? Überfallen warum eigentlich? Nur aus der durchaus verständlichen Sorge vor dem Unbekannten heraus, vor menschlichen Entartungen, deren bloße Nähe schlichte Gemüter dazu trieb, ihr Hab und Gut, ihre Familie verteidigen zu wollen …? Landru räumte ein, daß das in einer Zeit wie dieser durchaus ein triftiger Grund sein konnte. Immerhin waren Hexenwahn und -verfolgung längst nicht ausgerottet, und die Greuel des Krieges hatten den sogenannten Aberglauben allerorten wieder aufblühen lassen, selbst in Gebieten, die bislang von den marodierenden Heeren verschont geblieben waren. Unterschwellige Weltuntergangsstimmung mochte ein mitauslösendes Moment des feigen Überfalls auf das Lager der Schausteller gewesen sein – aber sie erklärte nicht dieses Viehsterben. Landru wechselte zu einer der Kühe, zögerte nicht und berührte auch sie … … und durchlitt auch deren Gefühle im Moment des Sterbens, als beträfe es für einen Sekundenbruchteil ihn selbst! Kopfschüttelnd kehrte er nach draußen ins Freie zurück, und diesmal kämpfte er seinen Widerwillen, in eines der Häuser einzubrechen, nieder. Er wollte Gewißheit. Gewißheit, ob nicht auch den Bewohnern Saqueforts das Schicksal der Tiere dieses Stalls widerfahren war …
* Das Haus war nicht nur still, es war auch leer. Verlassen. Keine Leichen, in welchem Zustand auch immer, erwarteten den Vampir unter dem Dach des bäuerlichen Besitzes. Landru nahm noch weitere Häuser unter die Lupe. Dort bot sich
dasselbe Bild. Manche Schlafstätten erweckten den Eindruck, Hals über Kopf verlassen worden zu sein und waren noch warm unter den Decken. Aber nirgends fanden sich Hinweise auf den Verbleib der Bewohner. Auch nicht auf den Straßen. Dafür entdeckte Landru weiteres verendetes Vieh. Die Ställe waren voll davon, überall. Und je weiter Landru ins Dorf vordrang, desto häufiger säumten die Kadaver von Vögeln, Mäusen, Ratten, Katzen und Hunden seinen Weg. Sie alle sahen aus, als lägen sie seit Jahren da, aber ihr Zustand ließ sich schon aufgrund der Witterungsbedingungen in diesen Breiten nicht erklären. Magie? Welche Art von Magie war hier am Wirken? Keine vampirische, soviel stand fest. Aber auf welche unbekannte Form von Energie war er dann gestoßen? Hing sie mit dem Erlebnis seiner Dienerkreatur in Lydias Wagen zusammen? War Lydia die Verursacherin? Landru blickte sich um. Er sah Eucharius nicht mehr, aber er meinte seine Nähe zu spüren. Einen Todesimpuls, der auf das jähe Ende des Untoten hingewiesen hätte, hatte ihn jedenfalls noch nicht erreicht. Der Hüter ohne Kelch setzte seine Suche nach den verschwundenen Bewohnern des Dorfes fort. In einem Körper, der normale vampirische Bedürfnisse bei ihm anmeldete. Nicht zum ersten Mal, seit sie Paris den Rücken gekehrt hatten. In seiner unmittelbaren Umgebung schien es jedoch niemanden zu geben, der den erwachenden Durst hätte stillen können … Landru spürte ein leises Beben, das nur den von ihm eroberten Körper erschütterte, nicht aber den Boden unter seinen Füßen. Es war die Reaktion auf die Erkenntnis, daß er sich nun unmittelbar bei der Dorfkirche befand – einem Platz also, den Vampire aus gutem Grund mieden. Doch dann stellte er zu seiner Verblüffung fest, daß kein wirklicher Schaden, kein verderblicher Einfluß von den düsteren Mauern
auf ihn übergriff. Im Gegenteil, die Kirche von Saquefort lag so still und von einer Aura der Nichtexistenz umflort da, wie jedes andere Gebäude des Ortes. Landru streckte seine Fühler vergeblich nach dem bekannt haarsträubenden Echo einer Bedrohung aus. Wie ein toter, ungefüger Klotz ruhte die Kirche in der Nacht. Doch dann … … flackerte unvermittelt heller Schein durch den Raum hinter den Bleiglasscheiben! Ein Leuchten, scheinbar nur entzündet, um die einsam draußen in der Dunkelheit stehende Gestalt zu bewegen, endlich durch das Kirchenportal einzutreten. Landru war an einem Punkt angelangt, an dem er beinahe jede Einladung angenommen hätte, um endlich Licht ins Dunkel der auch ihn betreffenden Mysterien zu bringen …
* »Komm ruhig herein …« Von der Kanzel herab tönte die brüchige Stimme, die dennoch Widerhall im weiten Rund fand. Auch in Landru. Seltsam berührt schob er sich vollends durch den Spalt, der entstanden war, als er am eisernen Ring des Türflügels gezogen hatte, und so gelangte er geradewegs zu den restlos besetzten Rängen des Kirchenschiffs. Auf den Bänken saßen die von ihm vermißten Bewohner Saqueforts. Sie hockten da und hoben ihre Gesichter dem Mann auf der Kanzel entgegen, den Landru unschwer als denjenigen wiedererkannte, der den Überfall auf das Lager aus sicherer Entfernung verfolgt hatte. Den Pfaffen, der sich irgendwann auf Krücken davongemacht hatte, zurück ins Dorf … Krücken entdeckte Landru nirgends, aber er suchte auch nicht danach; so wenig, wie es ihm von Bedeutung schien, auf welche Weise
und mit wessen tatkräftiger Hilfe der Priester es geschafft hatte, die steinerne Wendeltreppe zu erklimmen, die in einer kleinen überdachten Empore fünf Meter über den Köpfen der Gemeinde endete. Er kam gar nicht dazu, sich Gedanken über solche Nebensächlichkeiten zu machen. »Setz dich, wo gerade Platz ist«, sagte der Pfaffe, ehe er sich – wie jemand, der in seiner eigentlichen Rede kurz unterbrochen worden war – wieder allen Kirchgängern zuwandte, zu denen nun auch Landru gehörte. Er selbst mochte es anders sehen, aber das änderte nichts. Obwohl er keine Anstalten machte, der Aufforderung des Priesters nachzukommen, provozierte er damit auch keine erneute persönliche Ansprache. Während die nun schon vertraute Stimme den Raum zu füllen begann, schweiften Landrus Blicke suchend durch den Raum. Aber eine Frau, auf die Eucharius’ Beschreibung zugetroffen hätte, fand er nicht. Keine der eher grobschlächtigen weiblichen Besucher glich jener Lydia auch nur im entferntesten. Nicht allein die rund um den Altar aufgereihten Kerzen sahen aus, als wären sie gerade erst angezündet worden; auch die Zeremonie als solche schien gerade erst begonnen zu haben. Aber was hatten die Menschen dann die ganze Zeit hier gemacht? Stumm gebetet? Im Dunkeln? Landru trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Die respektvoll schweigenden Menschen kehrten ihm die Rücken zu. Vielleicht war ihm deshalb zunächst entgangen, wie alt sie samt und sonders aussahen, alle, selbst die Kinder und Halbwüchsigen … alt, gebeugt und erschöpft! Landru widerstand dem aufflackernden Wunsch, sich umzudrehen und den Weg, den er gerade gekommen war, so schnell er konnte wieder zurückzulegen. Fortzulaufen. Nicht nur aus der Kirche, sondern aus dem ganzen gespenstischen Dorf! Er löste seinen Blick von den abgemagerten, verhärmten Gestalten
und ließ ihn zurück zu dem Pfaffen schweifen, der als einziger noch einigermaßen vital wirkte; jedenfalls nicht so ausgebrannt wie seine Zuhörer. Und zum erstenmal hörte auch Landru bewußt, was den Kirchgängern hier und heute gepredigt wurde. Es war überhaupt keine Predigt, es war … eine Beichte! »… gestehe ich, große Schuld auf mich geladen zu haben«, sagte der Mann auf der Kanzel, dessen Gesicht in welker Blässe schwelgte. »Ich bin ein großer Sünder, denn ich habe Unzucht getrieben mit dem Weibsvolk, obwohl Amt und Würden dies vor Gott dem Allmächtigen auf Strengste verbieten. Dafür wurde ich aber auch von dem einzigen Gott, unserem Herrn, gestraft. In mir nagt und frißt seit langem die gemeine, unersättliche Syphilis! Sie ist kaum weniger schmerzvoll, nur schleichender als die Pest, die ich von euch fernzuhalten schwor!« Der Pfaffe hielt kurz inne. Die in seinen Augen wuchernde Qual schien nicht allein mit dem Martyrium erklärbar zu sein, über das er gerade gesprochen hatte, und es paßte zur ganzen Groteske, in die sich Landru versetzt fühlte, daß kein Gemeindemitglied mit wie auch immer gearteter Betroffenheit auf das Geständnis des Priesters reagierte. Alles blieb ruhig, alles saß still. Als wären die Menschen, die zuhörten, selbst Gespenster an diesem gespenstisch verkommenen Ort, der so gar nicht die Ausstrahlung einer Kirche hatte, in der christlicher Glaube gelebt wurde. Hier schien alles bereits tot oder zumindest im Sterben begriffen. Erstarrt in Agonie … Diese lähmende Kraft (eigentlich die Abwesenheit jeglicher Kraft) griff mehr und mehr auch auf Landru über. Er spürte, wie ihm die Kontrolle über Racoons Körper zu entgleiten drohte, wie er ihn nicht mehr ganz so selbstverständlich manövrierte wie noch wenige Sekunden zuvor. »Wer von euch da ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein ge-
gen mich«, fuhr der Pfaffe auf der Empore fort und fuchtelte mitleidheischend mit seinen Armen. »Ich weiß, ich habe euch belogen, betrogen und falsches Zeugnis über meine Charakterfestigkeit geredet – ich habe mich an euren Frauen vergangen, an mehr als einer, habe sie auf dem Felde besucht und wenn der Mann zur Arbeit war, oder in meiner Kammer empfangen … und stets habe ich mir ihr Entgegenkommen mit Drohungen erschlichen. Ich drohte ihnen, sie würden in der Verdammnis enden, wenn sie sich den Bedürfnissen eines Dieners des Herrn verweigerten, und ich wußte sie stets wortgewandt zu überzeugen, daß sie nichts wirklich Verbotenes täten. Meine Zunge wurde zur eitlen, schlauen Schlange, die in Grund und Boden redete, was sich ihr entgegenstellte … Ich weiß, ich bin ein großer Sünder, ein schlimmer Versucher, dem die Ehre und Gesundheit anderer um der Befriedigung eigener niederer Triebe willen nicht viel zählten, und so mag ich viele von euch über das Weibsvolk angesteckt haben … Es tut mir leid. Es ist unverzeihlich. Ich werde dafür büßen – und auch euch wird die Demut, die im Leid liegt, nicht erspart bleiben. Keinem von euch, denn wer da ohne Schuld ist, der …« Landru konnte die Litanei nicht länger mit anhören. »Schweig!« schleuderte er dem Mann droben auf der Kanzel entgegen. »Still, du Narr aller Narren! Sag mir, wo sie ist – sofort!« Die Hände des Pfaffen hatten sich um das hüfthohe Steingeländer der Empore geklammert. Dennoch wankte sein Oberkörper wie Schilfröhricht in einer stürmischen Brise. »Sie?« Er starrte auf Landru herab. Dabei sah es aus, als tropfe aus einem seiner Nasenlöcher ein schaumiger Schleim. »Sie?« wiederholte er. Dabei löste er eine der Hände, ballte sie zu Fäusten, spreizte sie dann, als müßte er einen Krampf lösen, und fuhr sich mit den Fingernägeln so heftig durchs Gesicht, daß blutige Striemen zurückblieben. Sein Stöhnen drang bis in den letzten Winkel der Kirche. Aber so wie das sonst allgegenwärtige Schweigen waren auch diese Laute seiner Pein auf ihre Weise unwirklich.
Landru beobachtete nicht nur das Treiben des Priesters auf der Kanzel, er bemühte sich, die Augen überall zu haben. Dies hier war eine Farce! Ein vielleicht nicht nur – aber auch – für ihn initiiertes Schauspiel! »Zeig dich!« rief er noch stimmgewaltiger als zuvor. Er brachte das Eingangsportal in seinen Rücken, um aus dieser Richtung nicht überrascht werden zu können. »Ich weiß, daß du da bist, Lydia! Zeig dich, damit ich dich lehren kann, daß selbst mein niederster Diener nicht so behandelt werden darf, wie du es getan hast! Und vielleicht hast du ja noch andere Antworten für mich – vielleicht ahnst du gar nicht, wie nützlich du mir sein kannst …? Hast du mich hierher geholt? Bist du eine Komplizin des Kindes – oder gar das Kind selbst …?« Er verstummte, als das Stöhnen über den Köpfen der Gemeinde in einen animalischen Schrei mündete. Im Hochschauen sah Landru noch, wie der Priester ein Übergewicht nach vorne bekam, über die Balustrade hinwegkippte … … und hilflos zappelnd wie ein Käfer in die Tiefe stürzte. Obwohl der freie Fall nur eine, höchstens zwei Sekunden dauerte, war Landru überzeugt, den Paffen während dieser kurzen Spanne zeitrafferschnell vergreisen zu sehen. Der Mann, der auf dem Steinboden aufschlug, war uralt, beinahe so mumienhaft und ausgetrocknet wie die Tiere in den Ställen. Und als hätte sein Tod eine Signalfunktion, erhoben sich im selben Moment die stillen Kirchgänger wie ein Mann von ihren Bänken, um sich Landru zuzuwenden. Wankend. Auch schon halbtot. Aber von einem Denken beseelt, das alles, was der Mann am Portal verkörperte, abgöttisch haßte …!
*
Eucharius schleppte sich durch die trostlose Stille des Dorfes. Er hatte das Gefühl, innerlich auszudörren, und seine Müdigkeit hing eng mit dem schrecklichen Durst zusammen, der sich mit der Anhänglichkeit dem Meister gegenüber zu arrangieren versuchte. Der Meister war ihm vorausgeeilt, und Eucharius tappte hinter ihm her. Seine Bewegungen wurden immer ungelenker, und ein lepröser Wahn wollte ihn glauben machen, er würde bei jedem seiner Schritte ein Stück von sich verlieren. Immer wieder blickte er zum hin und her baumelnden Kopf seines Bruders, als müßte auch dieser sich jeden Moment von der gemeinsamen Schulter lösen und in den Staub der Straße rollen. Tatsächlich sah Hermes schlecht aus. Im nachhinein wußte Eucharius nicht, wie er sich den Spuren der fortschreitenden Verwesung so lange hatte verschließen können. Aber nun schälte sich die Haut unübersehbar vom Fleisch des Bruders, mehr noch: sie schien sich in ein zähes, wässerndes Sekret zu verwandeln, dessen gärende Fäulnis auch im Gewebe darunter steckte. Die Augen waren geschrumpft und ein Anblick, der Eucharius in den dunklen Kammern seines Herzens zu rühren vermochte. Er schüttelte sich, blieb aber nicht stehen, sondern trottete von Gebäude zu Gebäude, betrat Ställe und Häuser, ganz wie sein Meister es ihm vorgemacht hatte, denn wenn es eine Fährte gab, die er nie verloren hätte, dann war es die seines Herrn. Jede andere Witterung, die ihm eine Linderung seiner Qual verhießen hätte, vermißte er. Gab es hier keinen Menschen, der den ehrlichen und verzweifelten Durst einer Kreatur hätte stillen können? Fast schien es so. Fast. Als die Kirche des Dorfes schon in Sichtweite war, vernahm Eucharius plötzlich Laute, die an das erstickte Weinen eines Kindes erinnerten. Kinder waren verboten.
Von dem wenigen, was der Meister dem Zwilling an Regeln mitgegeben hatte, klang Eucharius die strikte Maßgabe Hände weg von Kindern! am lautesten im Ohr. Sein Herr hatte dies nicht begründet; das hatte er nicht nötig. Eucharius zögerte. In seinem Hirn stoben kleine schwarze Blitze. Um dem leisen Wimmern zu folgen, mußte er die Fährte des Meisters verlassen. Und während der zum Gehorsam verdammte Teil seines Denkens sich immer noch nicht vorstellen konnte, die Gesetze seines Herrn zu überschreiten, lenkte der vor Durst wahnsinnige Teil die Schritte der Dienerkreatur bereits dorthin, wo ihm ein baldiges Ende seines quälenden Verzichts in Aussicht gestellt wurde …
* Die Bewohner von Saquefort sahen aus wie Vampire, denen man Pflöcke tief ins Herz getrieben hatte. Ihr Zerfall ging jedoch im Gegensatz zu ihrer vorherigen Alterung zeitlupenhaft verlangsamt vonstatten und erlaubte es diesen armen Teufel vielleicht sogar noch, ihr bitteres Los zu begreifen. Arme Teufel … Landru war weit davon entfernt, echtes Mitleid für jene zu empfinden, die ihm im Gleichschritt entgegenkamen. Für ihn zählte nur die dumpfe Kompromißlosigkeit, mit der sie sich ihm näherten. Eine Übermacht wie diese bereitete auch ihm Probleme, zumal diese Marionetten bereits einem fremdem Willen unterlagen und nicht mehr auf seine vampirische Hypnose ansprachen. Mit der eigenen Suggestivkraft schaffte es nicht einmal, sie ins Stocken zu bringen. Zehn Schritte trennten die robotischen Bewohner des Ortes noch von ihm. Er hatte also genügend Zeit, sich umzudrehen und aus dem Tor zu flüchten. Glaubte er. Aber im nächsten Moment waren sie mit einem einzigen Schritt bei
ihm! Sie streckten ihre Arme aus, berührten ihn und versuchten ihn festzuhalten! Landru zweifelte an seinem in Racoons Hirn eingepferchten Verstand. Dennoch reagierte er und trieb seinen neuen Körper in die sofortige Metamorphose. Mit seinen Klauen packte er den am nächsten stehenden, einem lebendigen Leichnam ähnelnden Mann. Dessen Haut barst schon unter geringstem Druck, und nichts anderes als Haut schien die Knochen aller, die Landru entgegenwankten, zu umschließen. Es waren alles Greise – auch wenn manche Statur das Kind oder den Halbwüchsigen noch erahnen ließ, der vom Alter wie mit einer dämonischen Schminke überzogen worden war, von einem Tag auf den anderen, von einer Stunde auf die nächste. So wie dem Volksmund nach in einem sehr korpulenten Menschen bei genauem Hinsehen noch der ehemals schlanke auszumachen war, so ließ sich hier hinter den faltigen, furchendurchzogenen und runzlig welken Grimassen noch die Glätte der verlorenen Jugend und hinter erloschen matten Blicken die Neugierde eines rasend verflossenen Lebens zumindest vermuten. Landru bändigte die Wut und Kraft seiner Bestiengestalt in keiner Weise. Wie Dreschflegel mähten seine Arme über das erste und die folgenden Opfer hinweg. Seine Extremitäten und zu grausamen Waffen mutierten Zähne verheerten, was sie berührten. Dumpfe Laute, aber kein einziger echter Schrei erfüllten das Gotteshaus, das seinem Namen keine Ehre machte. Es hatte die Aura, die ein Geschöpf von der abseitigen Natur Landrus fürchten mußte, verloren – und der Grund dafür blieb rätselhaft. Landru wütete berserkerhaft unter den Bewohnern Saqueforts, die ein gnadenloser Wille voranpeitschte. Ein Wille, der aber noch mehr vermochte, als Menschen in seinen Bann zu ziehen und sie ihrer Zu-
kunft zu berauben. Es geschah ebenso plötzlich wie der Schritt über zehn Meter hinweg: Landru nahm seine Gegner nur noch wie stroboskopartige Lichtblitze wahr! Unglaublich schnell bewegte sich mit einemmal alles um ihn herum. Racoons Körper empfing Schläge in solcher Vielzahl und Geschwindigkeit, daß selbst ein Vampir Schwierigkeiten hatte, sie zu verdauen! Landru fühlte sich zu Boden gerissen. Sein Schädel wurde mehrfach gegen die Steinplatten geschmettert, ehe er sich blutüberströmt aus der vielarmigen Fessel befreien und in seine geflügelte Gestalt verwandeln konnte. Niemand hinderte ihn daran. Seine – nichts Racoons – Magie kam zur Entfaltung. Die Magie eines Hüters! Eine Feuerwalze raste auf die unter ihm zurückbleibenden Greise zu und verwandelte sie in lebendige Fackeln, die von dem widernatürlichen Feuer zu Aschehaufen verbrannt wurden – schneller, als der Blick zu folgen vermochte. Und noch während Landru sich von seinen ledrigen Schwingen unter die Decke der Kirche tragen ließ, noch während sich erneut beklemmendes Schweigen über die entweihte Stätte breitete, öffnete sich hinter der Altarerhebung eine Tür, und eine Gestalt erschien, die trotz ihrer Vermummung als überaus feminin zu durchschauen war. Landru zögerte nicht, zum Boden zurückzukehren.
* Die Tür des armseligen Häuschens war unverschlossen. Eucharius brauchte sie nicht mit Gewalt einzudrücken, obwohl er keinen Augenblick gezögert hätte, dies zu tun.
Das Weinen, das ihn angelockt hatte, war auf dem Weg hierher kaum lauter gewonnen, obwohl der Zweiköpfige sicher fühlte, daß er den Ursprung fast erreicht hatte. Der Blutgeruch lenkte seine Schritte untrüglich. Jener Duft, der selbst durch ein geschlossenes Netz von Adern, durch unverletzt ummantelndes Fleisch nach draußen drang und von den Sinnen eines Wiedergängers aufgefangen werden konnte. Es gab kein Versteck, das sicher gewesen wäre … Eucharius stapfte schwerfällig ins Innere der Stube, warf einen Blick auf die beiden nebeneinanderstehenden verlassenen Schlaflager, hielt sich aber nicht auf, sondern ging weiter in die Mitte der Stube. Dort legte er den Kopf schief und lauschte. Das Wimmern war verstummt. Beobachtete das Kind den Einbrecher? Hielt es den Atem an, weil es ahnte, was ihm blühte? Ein bizarres Lächeln schmiegte sich um den Mund des Untoten. Die Witterung war immer noch da, und er bildete sich sogar ein, den Schlag eines Herzens zu hören. Das seine konnte es nicht sein. Er bückte sich. Als er mit den Fingern in den Spalt tauchte, der einem weniger argwöhnischen Besucher kaum aufgefallen wäre, setzte das leise Jammern wieder ein. Eucharius hob den Deckel der Falltür. Wie die umgebende Nacht wich auch die gähnende Dunkelheit hinter der Öffnung vor seinen Augen zurück. Eine primitive Leiter führte steil nach unten in ein elendes, winziges Gefängnis von kaum fünf Ellen Durchmesser. Die Sprossen ächzten unter Eucharius’ Gewicht, aber davon ließ er sich nicht beirren. Wenig später langte er am Ende der Leiter an, wo sein Opfer mit aufgerissenen Augen in die Schwärze starrte. Eucharius war so nah, daß er nur die Hände auszustrecken
brauchte, aber die Augen der Gefangenen berührten den Grund seiner Seele, die genauso gefangen war wie dieses in Ketten gelegte, von der Außenwelt ferngehaltene Mädchen, das kein Kind mehr war. In Eucharius’ Mund zogen sich die Säfte erwartungsvoll zusammen. Obwohl es nichts sehen konnte, schien das Mädchen mit dem schwammig runden Antlitz genau zu wissen, daß ein Fremder erschienen war. Und dieses Wissen verwandelte es in ein tobsüchtiges Ding, das sich ohne Aussicht auf ein Entrinnen in seinen Fesseln aufbäumte. Das Wimmern schwoll furienhaft an; ein Schreien ließ der Knebel nicht zu. Eucharius versuchte sich von den ihm entgegenquellenden Augen zu lösen. Endlich gelang es. Er hob seine Hände und vergrub sie in der verfilzten Haarwolle der bleichhäutigen Gestalt, die weiterhin versuchte, sich ihm zu entwinden. Vergeblich. Eucharius zerfetzte das Tuch, das durch ihren Mund schnitt und den Knebel darin festhielt, nur aus einem Grund: Es war ihm hinderlich. Ihr schrill hervorbrechender Schrei störte ihn nicht. Längst folgte er einem Trieb, der mächtiger war als alles, was die Gefangene dem entgegenzusetzen hatte. Und kaum daß ihr Blut Eucharius’ dürstende Kehle netzte, wurde sein schwermütiger Geist federleicht. Der zufriedengestellte Keim des Meisters stürzte Eucharius in schwelgerische Träume. Ewig leben. Warmen Nektar schlürfen … Eucharius versank ganz und gar im Rausch der Gier, und es hätte ihm wenig ausgemacht, nie wieder daraus zu erwachen. Doch dann …
*
»Bist du Lydia?« Landru versuchte das Gefühl zu verdrängen, ein Gestrandeter in einer längst vom Zeitfluß überholten Epoche zu sein. Solche Gedanken verstellten den Blick auf das Wesentliche, und das war gefährlich, denn die notdürftig geschlossenen Wunden seines hiesigen Körpers schienen ein Indiz zu sein, daß er sehr wohl in dieser Vergangenheit sterben konnte … »Ich weiß nicht, wer ich bin«, sagte die verschleierte Gestalt. »Aber ich höre auf diesen Namen, ja.« »Dann nenn mir den Grund deiner Feindseligkeit!« Landru hatte die Distanz zwischen sich und seiner Gegnerin aus dem Gespür heraus gewählt, das er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hatte. Knapp fünf Meter trennten ihn von der französisch sprechenden Frau. »Für mich genügt als Grund«, sagte die weder sonderlich kostbar noch anders auffällig gekleidete Frau, »daß du einer von ihnen bist – womit sich mir die Frage stellt: du oder ich?« Landru machte nicht den Fehler, seine Wachsamkeit zurückzunehmen. »Nur weil du dich durch mich bedroht fühlst, hast du das alles inszeniert …?« Sie lachte nur. Heller, als es die finsteren Taten erwarten ließen. »Bedroht?« Ihr Sarkasmus schien einen Abgrund unter Landrus Füßen zu öffnen. »Von dir?« »Du redest, als würden wir uns kennen.« Landru zerbrach sich den Kopf, wer sie sein könnte. Auf keinen Fall Lilith, die sich mit ihm im Monte Cargano herumgetrieben hatte – obwohl er es in Betracht zog, ihr hier wiederzubegegnen. Auch sie konnte vom TOR verschlungen worden sein, um anschließend die Lilie zu finden, die sein Bewußtsein entführt hatte. Nach kurzem Zögern sprach er diesen Gedanken aus. »Heißt du gar nicht Lydia, sondern – Lilith?«
Ganz gleich, welches Aussehen sie gerade besaß, möglicherweise war sie, wie er, in einen fremden Körper verpflanzt worden. »Wer ist das? Ich wüßte niemanden, der so hieße …« Es klang so verdammt ehrlich, daß Landru die Geduld verlor. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich in blinder Rage auf sie geworfen. Aber sein Vertrauen in die eigene Stärke wurde jäh erschüttert, als die Vermummte unvermittelt den Gesichtsschleier lüftete. »Du …?« rann es über seine bleichen Lippen. Die Frau vor ihm war einmal seine schamlose Geliebte gewesen. Damals … in ferner Zukunft.
* Was wunderst du dich, daß deine Reisen dir nichts nützen, da du dich selbst mit herumschleppst? Sokrates 3. August 1618, unterwegs Es regnet in Strömen. Der helle Tag ist zur sinistren Nacht verkommen, nur durchdrungen von Blitzen, die für die Dauer von Wimpernschlägen tödliche Säulen zwischen Himmel und Erde spannen. Von solcher Energie getroffen, müßte wohl auch ich verbrennen, dessen bin ich sicher. Doch danach steht mir nicht der Sinn. Nicht mehr. Ich habe mich in mein Los ergeben; es ist besser als das derer, die ich bestehle. Gerade drei Monate sind vergangen, seit ich mich auf einem Felde vor den Toren Prags wiederfand, nahe einem Hirten und dessen Herde. Und war es damals nicht viel stärker als heute, viel weniger zu kontrollieren? Es … Das Verderben, das mir anhängt. Der schlim-
me Magnetismus, der Eisen verschmäht, dafür aber Leben an sich zieht und bindet – das Leben anderer … ihre kostbare und ach so schwindsüchtige Zeit! Die Hufe der Pferde, die die Kutsche ziehen, hämmern über das grobe Kopfsteinpflaster. Ihr Geräusch mischt sich mit dem tickenden Lärm einer nahen Windmühle, deren Schöpfwerk tagein, tagaus dabei hilft, das Land, auf dem sie steht, trockenzulegen. Cees Wynant hat mir dies erklärt. Cees, der mir gegenüber sitzt und seine Augen geschlossen hält, als schliefe er. Aber er ist wach. Sein Täuschungsversuch kann nicht gelingen, denn ich kenne sein Schlafgesicht. Ich habe ihn in der Nacht, als er mich das erste Mal beschälen durfte (so nennt er es, als wäre ich keine Frau, sondern eine Stute), stundenlang nur angesehen. Er sah aus wie ein kleiner Junge. Jetzt nicht. Jetzt sieht er aus wie ein Mann, der genau weiß, was er will. Und der immer noch nicht ahnt, daß auch ich es weiß … Ich verbinde keine Erfahrung mit dem Wörtchen Liebe. Dennoch bin ich sicher, dergleichen noch nicht erlebt zu haben, seit ich mit wachen Sinnen ums nackte Überleben kämpfe. Auch nicht mit Cees, der mir das Paradies auf Erden versprochen hat, sobald wir Amsterdam erreichen. Für wie naiv hält er mich? Amsterdam, hat er mir erzählt, sei die Schatzkammer Europas, mit mehr als hunderttausend Einwohnern, und täglich würden es mehr, denn auch der Krieg mit Spanien habe den Einwandererstrom nicht bremsen können. Wie seltsam, denke ich und lehne mich auf der gepolsterten Bank zurück. Der Spalt, den meine Finger am Fenster der Kutsche offenhielten, schließt sich wie ein geheimnisvolles Lid. Und während nah der Donner eines weiteren Blitzes rollt, während dicke Tropfen auf das Dach unseres Gefährts herniederprasseln, denke ich noch einmal: Wie seltsam – seltsam, daß ich selbst die Bedeutung von Wor-
ten wie Krieg, Spanien oder Schatzkammer auf eine Weise erst erlernen mußte, als hätte ich sie nie zuvor gehört. Die Sprache, die Cees verwendet, wenn er sich mit dem Kutscher unterhält, kenne und beherrsche ich nicht. Nur wenn er sich des Angelsächsischen bedient, verstehen wir einander. Ich traf ihn auf einer einsamen Landstraße. Er ritt auf einem schnellen Pferd an mir vorbei. Doch nach einer Weile kehrte er zurück und fragte mich nach dem Ziel meiner Wanderung und ob er mich ein Stück weit mitnehmen könne. Ich willigte ein, und da ich noch satt war von dem Knaben und dem Mädchen, die ich auf dem Hradschin zurückgelassen hatte, schonte ich seine hübschen Züge und die Jugend, die ich hätte welken lassen können, als wäre sie eine geschnittene Rose in der prallen Gluthitze eines hochsommerlichen Tages. Nein, ich gestattete Cees, mich auf sein Pferd hinaufziehen und mit den Armen zu umschlingen, auch wenn mir klar war, daß er dies mit mehr Nachdruck tat, als erforderlich gewesen wäre, allein um mich im Sattel droben zu halten. Ich fand ihn gleich recht amüsant. Er mich wohl auch, denn als es zu dämmern begann, erreichten wir eine Herberge am Wegesrand, und er lud mich ein, mir die Unterkunft und ein warmes Essen zu bezahlen. Ich weiß noch, wie ich ihn angesehen habe. Essen? dachte ich – und war bereit, es noch einmal zu probieren. Schon während meiner Kerkerzeit hatte ich Wasser getrunken und harte Brotrinden gekaut, mich aber jedesmal darauf erbrechen müssen. An diesem Abend in der Herberge behielt ich das Mahl aus Grütze und Milch bei mir, auch wenn es nur wenige Bissen waren, die ich zu mir nahm. Cees lobte meine Bescheidenheit – und im selben Atemzug meine Figur. Daß sie ihm gefällt, weiß ich schon, seit ich seine Brust als
Rückhalt benutzt habe und er sich an mich drücken durfte. In jener Nacht wollte er noch mehr. Ich aber jagte ihn zum Teufel und drohte, das ganze Haus zusammenzuschreien, sollte er mich nicht sofort in Frieden lassen. Seine Flüche werde ich nie vergessen. Und er mein Zieren nicht. Es hat uns beide nicht davon abgehalten, zusammenzubleiben. »Hör sofort auf, mich so anzustarren, Lydia!« Seine Stimme stoppt den Flug meiner Gedanken. Cees hat seine Haltung nicht verändert; noch immer kauert er mit verschränkten Armen auf der gegenüberliegenden Kutschbank und stützt das Kinn auf die Brust. Aber nun blickt er mich von unten herauf an, so daß seine Augen fast weiß sind, und sein ganzes Wesen gewinnt dadurch etwas von jener Dimension, die eigentlich doch ich in mir trage: Unheimlich glimmen sie zu mir herüber. Cees ist Anfang dreißig. Er hat ein schmales, markantes Gesicht, und die Augen sind sonst vielleicht das Schönste an ihm. Die Vorstellung, das kluge und interessierte Leuchten darin einmal vergehen zu sehen, verursacht mir eine Gänsehaut – als wäre nicht ich selbst es, die darüber entscheidet, ob es je soweit kommt. »Wie sehe ich dich denn an?« frage ich zurück. Das Spiel der Schatten im Innern der Kutsche erinnert an die in mir hausenden Gespenster. Sie toben nicht nur in meinem Kopf, sondern überall in meinem Körper, und ich bin schon froh, daß sie leiser geworden sind – aber werden sie auch schwächer? Besteht Hoffnung, daß sie eines Tages, gar nicht fern, ganz verstummen und Ruhe geben? Mich Ruhe finden lassen? Ich weiß nichts über mich, gar nichts. Nicht einmal der Name, von Cees verliehen, gehört wirklich mir. Eine Frau, um deren Gunst er vor langer Zeit vergeblich warb, hieß so – das jedenfalls erzählte er mir. Ein Name ist so gut wie der andere. Warum also nicht Lydia …?
»Ich weiß nicht. Aber es gefällt mir nicht.« Er schürzt die Lippen. »Nein, es gefällt mir ganz und gar nicht.« Ich drehe den Kopf zur Seite. Meine Finger schieben erneut den Vorhang beiseite, und ich vertiefe mich wieder in die Blitze, die den Tag erhellen, der in Regen ertrinkt. Eine kleine Weile lang stelle ich mir vor, dieses Unwetter sei nur meinetwegen geschickt worden. Als versuchte die Natur ein Ding, das nicht ihr, sondern einer dunklen, jenseitigen Schöpfung entsprungen ist, wieder dorthin zu spülen, woher es gekommen ist. Ich wünschte, ich wüßte, wo der Ort liegt, an dem ich zu Hause war. Zugleich aber wuchert wie ein bösartiges Gewächs die Gewißheit in mir, daß dieser Ort längst aufgehört hat zu existieren. Weil er erloschen ist. Zusammen mit dem, was die Menschen Erinnerung nennen …
* Als wir Amsterdam erreichen, spiegelt sich die Sonne in unzähligen Pfützen. Am Himmel jagen wenige noch verbliebene Wolken. Es ist brütend heiß geworden und kaum noch auszuhalten im Verschlag der Kutsche, die wenig später vor einem ebenso einfachen wie solide errichteten Gebäude hält. Die Backsteinfassade ist von Rundbogenfenstern und -türen durchsetzt, die dazugehörigen Läden sind in leuchtenden Farben gestrichen. Cees hilft mir beim Aussteigen. Der Kutscher bleibt auf seinem Bock sitzen und wirft das Gepäck meines Begleiters zu Boden. Ich selbst habe nichts außer dem Kleid, das ich am Leib trage. Mein Liebhaber hat es bezahlt. Geld scheint für ihn keine Rolle zu spielen, doch meine geheimen Erwartungen, das Ziel unserer Reise betreffend, werden enttäuscht. Hier wohnt mein Galan? Das Gebäude sieht nicht besser aus als die vielen hohen Speicher, an denen wir vorbeigefahren sind. In der
Luft hängt Rauch, der aus den Schornsteinen der umliegenden Häuser quillt. Überall brennen die Torffeuer, selbst bei dieser Hitze. Die Leute heizen nicht nur, sondern kochen auch damit. »Da sind wir«, sagt Cees. Meine Miene verrät, was ich von dieser Adresse halte, aber er geht mit einem Lächeln darüber hinweg, zahlt den Kutscher aus, schultert sein Gepäck und führt mich am Arm zum Eingang. Erst jetzt fällt mir auf, daß wir die einzigen Menschen weit und breit sind. Die Straße liegt verlassen, als die Kutsche sich mit Peitschenknallen entfernt. »Das ist dein Heim?« frage ich, als er mit der Faust in einem verabredet klingenden Rhythmus gegen das Türholz schlägt. »Mein Heim?« Irgend etwas an seinem Lächeln sollte mich beunruhigen. Aber ich höre nicht auf die warnende Stimme in meinem Innern. »Es ist dein Zuhause – von heute an. Keine Sorge, dir wird es an nichts fehlen. Die Fassade täuscht.« In diesem Augenblick wird die Tür geöffnet. Eine dezent geschminkte, sehr üppige Frau in einem geschmackvollen, offenherzigen Kleid begrüßt Cees wie einen verloren geglaubten, unerwartet heimgekehrten Sohn. Dabei plappert sie wie ein Wasserfall in jenem holländischen Dialekt, den ich schon bei Cees nicht verstehe. Er erwidert in derselben Sprache. Sie drücken und kosen sich, und erst nach einer guten Weile beachtet die walkürenhafte Erscheinung mich. In ihren Augen blitzt es auf. »Oh«, sagt sie. Es bleibt das einzige, was ich verstehe, und als sie schweigt, wende ich mich mit hörbarem Vorwurf an Cees. »Wer ist das? Und was sagt sie?« »Das?« Sein Lächeln wird nun endgültig zur Fassade, genauso falsch wie die des Hauses. »Das ist die warmherzige Camille. Sie führt dieses Haus der Freude und heißt dich willkommen. Wenn du keine Schwierigkeiten machst, wird sie dir wie eine Mutter sein und dich alles lehren, was du in diesem Gewerbe wissen mußt …«
* Das Haus, zu dem mich Cees gebracht hat, ist ein Bordell – aber nicht irgendein Sündenpfuhl, in dem es abgehalfterte Huren mit schmutzigen Seeleuten und Tagedieben treiben, sondern eine der ersten Adressen für namhafte Herren, die nächtens nicht Weg noch Risiko scheuen, um hier ihre ausschweifenden Gelage zu feiern und öffentlich verpönten Neigungen nachzugehen …! Und ich? Warum lasse ich in dieser erniedrigenden Weise mit mir umspringen? Gott, wenn ich die Antwort darauf wüßte! Von der ersten Stunde an sind die Eindrücke, die mich in diesem Haus bestürmen, so faszinierend widersprüchlich, daß ich gar nicht auf den Gedanken verfalle, die schreckliche Kraft in mir zu wecken, um Cees für seinen Betrug an mir zu strafen. Camille führte mich von Raum zu Raum, und Cees übersetzt mir ihre Erklärungen oder gibt selbst Kommentare ab. Ich lasse es geschehen, als wäre es ein Traum. Die »Warmherzige«, wie Cees sie nennt, zeigt mir die Räume, in denen zahlungskräftige Freier empfangen werden. Es sind nicht nur erstaunlich saubere Zimmer mit überaus bequem scheinenden Lotterbetten, sondern, über die Stockwerke verteilt, auch mehrere große Salons, in denen Mannsleuten beim Glücksspiel Gesellschaft geleistet wird, ehe man sich – bei gegenseitigem Gefallen – über intimere Spiele zu verständigen weiß und zurückzieht. Cees streichelt mir in einem dieser pompösen Räume über die Wange. Er scheint meine Gedanken zu erahnen, auch das aus meiner Sicht wohl gerechtfertigte Mißtrauen, denn er sagt: »Es stimmt. Alle, die sich hier verdingen, tun dies freiwillig. Niemand wird gezwungen, auch du nicht. Zwang würde nur die Atmosphäre stören, in der sich unsere ausgesuchten Gäste am wohlsten fühlen. Und sehr gut ausgesucht werden auch diejenigen, die den feinen Herren
hier ihre Gunst schenken dürfen.« »Von dir?« frage ich und sehe ihn an. »Ja.« »Gehört dieses Haus dir?« Er bejaht erneut, ohne jede Verlegenheit. »Und hast du jede Frau, die hier ›aus freien Stücken‹ ihren Stolz verschachert, beschält, um dich von ihrer Eignung zu überzeugen?« Cees nickt. Seine Hand in meinem Gesicht hält kurz inne, dann legt sich sein Finger warm auf meine Lippen. »Ich habe dir auf unserer Reise nichts versprochen, was nicht wahr wäre. Hier wartet, wenn du willst, wirklich ein neues Leben in bescheidenem Wohlstand auf dich – und das ist mehr, als du aus eigener Kraft je erreichen könntest, oder? Und der Preis muß ganz und gar nicht dein Stolz sein! Als ich dich traf, warst du in einem so desolaten Zustand, daß ich die außergewöhnliche Schönheit unter all dem Schmutz und den Lumpen fast übersehen hätte. Ich weiß nicht, was dir widerfahren ist, welches Unglück dir all deine Erinnerungen raubte, so daß du nicht mehr weißt, woher du stammst und was für ein Leben du früher geführt hast. Sicher ist: Wenn du mir nicht begegnet wärest, wenn du die staubige Straße weitergewandert und einem Halunken in die Hände gefallen wärest, wie es sie in rauhen Mengen gibt, dann lägest du vielleicht heute schon in irgendeiner Gosse oder würdest in einem der Zuchthäuser verrotten. Darüber solltest du nachdenken und dich dann entscheiden. Aber allzu lange werde ich mein Angebot nicht aufrechterhalten …« Er zieht seine Hand zurück. Camille steht vor einem mächtigen Badezuber, der nicht nur zum Waschen, sondern gewiß auch für frivolere Dinge gebraucht wird. Sie lächelt stumm, abwartend wie Cees, und sie scheint zu wissen, was er mir an Vorteilen aufgezählt hat. Vermutlich ähneln sich seine Reden bei allen Frauen, die er mitbringt. »Ich habe nie darüber nachgedacht, ob ich eine Hure sein will«,
sage ich. »Aber ich weiß nun, was du von mir erwartest, und das ist gut so. Laß mir eine Nacht Zeit. Morgen geb ich dir die Antwort, wie ich mich entschieden habe.« Diese Frist scheint ihm akzeptabel. Er gibt Camille einen Wink. »Sie wird dich bei einem Mädchen unterbringen, das Dianne heißt. Dianne spricht deine Sprache. Für die Dauer deines Aufenthalts wird sie sich um dich kümmern. Sie hat ungefähr deine Statur und kann dir an Kleidung leihen, was dir paßt. Du kannst dich überall frei bewegen. Wir beide sehen uns dann zum Frühstück, und es würde mich freuen, wenn du dich zum Bleiben entschließen könntest.« Mit diesen Worten verabschiedet er sich, und auch Camille geht, nachdem sie mich mit dem Mädchen bekannt gemacht hat, das sein Zimmer mit mir teilen soll.
* Dianne ist blutjung. Sie hat helles, glattes, bis auf den Busen herabfallendes Haar und einen vollen Mund, mit dem sie ihre Favoriten gewiß verrückt machen kann. Als wir einander die Hand zum Gruße reichen, bin ich wie verzaubert von ihrer Natürlichkeit, die ich so nicht erwartet hätte, und sofort spüre ich, daß diese spontane Sympathie auf Gegenseitigkeit beruht. Ein paar Worte, und das Eis zwischen uns ist gebrochen. Nicht nur ich bin verblüfft. Kaum hat Camille die Tür von draußen geschlossen, überfällt mich Dianne ganz ungeniert mit tausend Fragen über meine Herkunft. Aber noch ehe ich das geringste darüber sagen kann, wie es sich bei mir verhält, hat sie schon ihre halbe Lebensgeschichte ausgebreitet. Sie ist die pure Lebensfreude, und fast bin ich schon jetzt geneigt, Cees’ schön-sprecherisches Angebot anzunehmen. Mein Körper bedeutet mir nicht allzuviel. Er kann nicht noch mehr
beschmutzt werden, und man kann ihm nicht noch Schlimmeres antun als während der Inhaftierung in Prag, dessen bin ich überzeugt. Und während ich dies denke, versuche ich mich an den schattenhaften Besuch in meinem Kerker zu erinnern … … es gelingt mir kaum. In Diannes Nähe, scheint es, hat die Bosheit, haben Abgründe menschlicher Seele keinen Platz! Sie kann nicht nur, fast ohne Atem zu holen, in einem fort nur reden, sie vermag auch mit ebensolcher Leidenschaft zuzuhören. Mühelos reißt sie mit ihrem Charme die Mauern ein, die ich um mein Innerstes errichtet habe. Keine ihrer Reaktionen auf meine Geschichte ist geheuchelt. Ohne Falsch nimmt sie mich in die Arme und spendet mir Trost. Bis zu diesem Moment wußte ich gar nicht, daß ich Trost brauche. Sie ist ein Waisenkind, das Cees aus Britannien mitbrachte, schon im vergangenen Jahr. Heute ist Dianne sechzehn, damals … »Dieser Höllenhund!« Dianne dämpft meinen Zorn und erzählt, wie schlecht es ihr in der Familie, in der sie nach langem Heimaufenthalt aufwuchs, ergangen ist. Für sie, so versichert sie, war es wie eine Neugeburt, als sie die Chance erhielt, auch noch Geld für das zu bekommen, was ihr Stiefvater sich tagtäglich ohnehin mit brutaler Gewalt von ihr genommen hatte. »Wie sieht es hier mit Gewalt aus?« frage ich. »Wird einer von uns Gewalt angetan, muß es derjenige, der sich dazu hinreißen läßt, schwer büßen«, erwidert sie. »Die meisten, die herkommen, sind verheiratet und stadtbekannt. Sie wissen, wie sich ein Skandal auf ihr Privatleben und ihre Karriere auswirken würde. Cees läßt keinen im Zweifel, daß er alles zum Schutz der ihm anvertrauten Frauen täte …« Ich bin immer noch skeptisch. »Auch Mächtige wie die, die du beschreibst, können sich rächen«,
sage ich. »Ich glaube nicht, daß Cees ein solches Haus –« »Seine Freunde sind mächtiger«, fällt Dianne mir mit solchem Nachdruck ins Wort, daß es keinen Sinn macht, hier und jetzt weiter darüber zu diskutieren. »Kam es denn schon einmal vor, daß er zu diesem Mittel greifen mußte?« frage ich. »Seit ich hier bin, einmal«, sagt Dianne, und ihre rehbraunen Augen scheinen sich zu verdunkeln. »Was ist geschehen?« »Eine von uns wurde von einem betrunkenen Gast während des Akts stranguliert. Als man sie fand, kauerte der Dreckskerl noch über ihr. Die Polizei holte ihn ab. Er wurde öffentlich bloßgestellt und schmort noch heute im Gefängnis!« »Was wurde aus der Frau?« »Sie überlebte …« Dianne tippte sich an die Stirn. »Aber in ihrem Oberstübchen ist einiges durcheinandergeraten. Die Luftknappheit, heißt es, habe sie krank bis ans Ende ihrer Tage werden lassen. Sie lallt nur noch und versteht kein Wort von dem, was man ihr sagt. Ich bin immer ganz fertig, wenn wir sie besucht haben …« »Besucht?« »Cees hat uns darum gebeten. Einmal im Monat gehen wir zu ihr ins Spital. Man tut für sie, was man kann. Aber sie lebt nur noch, um eines Tages zu sterben.« Kopfschüttelnd sage ich: »Wenn man dich hört, könnte man diesen Luden für einen Engel halten!« »Er ist weder ein Engel noch das Gegenteil. Er ist einfach ein Mann mit Facetten. Nicht nur böse und gewiß nicht nur gut. Er kann zauberhaft sein – aber auch ein Rabenaas zu denen, die ihm Schaden zufügen. Zu uns ist er überwiegend gerecht … Aber genug! Ich klinge, als wollte ich ihn anpreisen! Dem ist nicht so. Weder er noch Camille haben mich angehalten, dich zu beeinflussen.« Ich nicke, denn mein Instinkt hat sich als verläßlich bewährt, und
bei Dianne spüre ich auch jetzt noch nicht den Hauch eines Vorbehalts. »Was geschieht mit den Frauen, wenn sie älter werden und ihre Attraktivität verlieren? Oder wenn die Kundschaft nach frischem Blut verlangt?« Zum erstenmal wirkt ihre Natürlichkeit für einen Augenblick wie eingefroren. Diesen Ausdruck weiß auch ich nicht zu deuten. »Frisches Blut«, wiederholt sie wie benommen. Dann fällt sie so warnungslos zu Boden, daß ich es nicht mehr verhindern kann. Zuckend liegt sie da. Ihre Augen rollen hin und her. Ihr Kopf schlägt gegen die gewachsten Dielen. Brüllend schlägt und tritt sie um sich. Ich muß alle Kraft aufbieten, um sie festzuhalten. Ihr Geschrei hat andere alarmiert. Die Tür geht auf, und Dianne wird fortgetragen …
* Die Hand, die mich mitten in der Nacht aufweckt, gehört Cees. Ich schrecke aus bleierner Tiefe. Es ist immer dasselbe: Das Dunkel überfällt mich wie ein Erdrutsch, und ich bezweifele, daß das, worin ich jede Nacht versinke, wirklich Schlaf genannt werden darf. Es ist, als würde mein Bewußtsein wie eine Flamme erstickt – und anderentags immer wieder neu entzündet. In mir streiten keine Traumgestalten. Solche Phantasmagorien kenne ich nur aus Erzählungen anderer. »Es geht ihr besser«, sagt er. »Ich dachte, es interessiert dich vielleicht …« »Dianne?« Er nickt. Seine Züge zeigen Erschöpfung. Er hat noch kein Auge zugetan. »Was fehlt ihr?«
»Wir wissen es nicht. Jedenfalls ist der Anfall vorbei.« »Wohin wurde sie überhaupt gebracht?« »Mein Leibarzt wohnt in der Nähe. Er hat versprochen, sie in seiner Obhut zu behalten, bis sie wieder ganz gesund ist.« »Hatte sie eine solche Anwandlung schon früher einmal?« Er verneint. Die Lampe, die er hält, wirft trübes Licht über uns und das Mobiliar. »Ich gehe jetzt«, sagt er, »es sei denn, du willst, daß ich bleibe.« Mein Blick kann ihm nicht geheuer sein. »Das kommt darauf an.« »Worauf?« »Wieviel es dir wert wäre, bleiben zu dürfen.« »Heißt das, du hast dich entschieden …?« Ich ziehe ihn zu mir herab. Es genügt ihm als Antwort. Aber mir nicht. »Ich stelle eine Bedingung.« Er furcht die Stirn. »Ich möchte, daß Dianne mir die Kniffe des Gewerbes beibringt – nicht Camille. Können wir uns darauf einigen?« Er entspannt sich und verspricht es mir. Als er in mich eindringt und sich die Befriedigung holt, die jeden anderen künftig teuer zu stehen kommen wird (teurer, als sie ahnen können), denke ich nur an Dianne. Ich hoffe, sie kehrt wirklich zurück. Ich hoffe, wir werden Freundinnen … Cees sinkt über mir zusammen. Dieses eine Mal, beschließe ich, wird ihn meine Gunst noch keine grauen Haare kosten.
* In den kommenden Tagen, mehr noch aber in den Nächten, lerne ich begreifen, worauf ich mich tatsächlich eingelassen habe. Ich hat-
te mir eingebildet, es zu wissen. Aber alle Theorie ist grau. Mein erster Kavalier ist jung und recht ansehnlich, deshalb gebe ich seinem Werben nach und führe ihn in das Zimmer, das ich von Camille zugewiesen bekam. Es liegt direkt neben dem von Dianne, denn seit ich mich zum Bleiben entschlossen habe, leben wir nun Tür an Tür. Kaum bin ich mit meinem Gast allein, greift er derb zwischen meine Beine. Er tut mir weh, aber daran scheint weniger seine Absicht als seine Tumbheit Schuld zu tragen. Er keucht, sein Gesicht ist rot durchblutet. Er kommt mir vor, als hätte er vor mir noch nie eine Frau bestiegen. Ich stoße ihn zurück und fauche: »Langsam! Ich zeige dir, wie es für dich und mich schön wird!« Dianne hat mir geraten, auch mit dem ungehobeltsten Flegel freundlich umzugehen. Ich versuche es. Mein Kunde ist spindeldürr, aber als ich ihn entkleidet habe, erschrecke ich. Wie eine Lanze ragt mir sein Geschlecht entgegen. Es ist so gewaltig, daß ich meine Zusage an Cees jetzt schon bereue – aber es ist zu spät. Das einzige, was mir ein wenig hilft, ist das Wissen, daß Diannes Augen bei mir sind. Ohne sie, die durch einen geheimen Spalt zwischen zwei Gemälden zu mir herüberstarren, könnte diese Stunde verheerend enden … Ich bezähme mich. Dieses Haus ist ein zu gutes Versteck, rede ich mir ein, um es zu gefährden. Ein idealer Wohnort für ein Monstrum, das sich ernährt wie ich … »Faß es an!« keucht Andries – diesen Namen, ob echt oder nicht, hat er mir genannt. Und auch er spricht meine Sprache. »Es ist ganz heiß! Faß es an!« Ich tue ihm den Gefallen. Zuvor habe ich mich meines Oberkleids entledigt. Als er meine kleinen Brüste unter dem Mieder sieht, meine ich Enttäuschung über das hektische Gesicht ziehen zu sehen.
Doch allzu lange währt dies nicht, und schon gar nicht löscht der Unterschied zwischen seinem Wünschen und der Wirklichkeit seine Erregtheit. Seine knochigen Fingern tauchen unter das Mieder und sind dort so ungeschickt wie vorhin zwischen meinen Schenkeln. Diesmal stoße ich ihn nicht zurück. Diesmal zahle ich es ihm mit gleicher Münze heim. Wie von einem Skorpion gestochen lupft er das Hinterteil von der Bettstatt, als ich das schwere Gehänge unter seinem harten Pfahl umschließe und so grob begrapsche wie er soeben meine Brüste. »Paß doch auf, du dummes Luder!« kreischt er weinerlich. Ich entschuldige mich und gelobe wortreich Besserung. Doch danach ist sein Glied nur noch halb steif. Die Lust scheint ihm vergangen. Trotzdem schaffe ich es, ihn mit den Händen zum Orgasmus zu bringen. Er gibt vor, daß es ihm genügt. Ich bin noch einmal davongekommen, aber nachdem mein Gast gegangen ist, schlüpft Dianne ins Zimmer, und ich muß mir ihre Vorwürfe gefallen lassen. Wir einigen uns darauf, daß sie mir zeigen wird, wie man einen Mann umgarnt, damit er dem Haus als Kunde erhalten bleibt. Also tue ich, als wäre ich ein Gast, den Dianne nach allen Regeln ihrer Kunst verführt. Die Freundin, die ich gleich an meinem ersten Tag in der Herengracht Nummer 13 gewann, nimmt ihre Lektionen ernst, darum läßt sie ihre Wäsche bis auf einen knielangen Unterrock fallen und steigt zu mir ins Bett. Ich selbst liege auf dem Rücken, die Arme und Beine wie zur Kapitulation ausgestreckt – eine Pose, die das Mannsvolk liebt, sagt meine Lehrerin. Auf diese Weise braucht ein Kerl nicht viel zu tun. Er liegt nur da und kann sich verwöhnen lassen. So wie ich gerade. Mit ihren Fingern, Lippen und den harten Spitzen ihre Brüste streicht Dianne sacht über mich hinweg und zeichnet unsichtbare Fi-
guren auf meine Haut. Ich möchte zerfließen. Mein Stöhnen klingt so echt, weil es echt ist. Es läßt den wundervollen Körper über mir kurz innehalten. Im Schein der Kerzen wirft Dianne mir einen undeutbaren Blick zu. Doch statt sich von mir abzuwenden, steigert sie sich selbst in einen Sinnesrausch. Ihr Mund verweilt nicht lange saugend an den Knospen meiner Brüste, die kaum ein Drittel so groß sind wie die ihren. Plötzlich liegen wir uns in den Armen und küssen einander weit über das Maß einfacher Freundinnen hinaus. Unsere Zungen tun, was unsere Gedanken und Phantasien längst vorweggenommen haben. Es ist unbeschreiblich. Ich wehre mich nicht. Tue ich denn Verbotenes? Selbst wenn, es wäre mir egal! Von dieser Nacht an sind Dianne und ich noch unzertrennlicher, fast könnte man sagen, ein Paar. Aber es bleibt dabei: Nur ihr gegenüber zeige ich soviel Verletzbarkeit. Keiner der Männer, die mir fortan in mein Zimmer folgen, vermag auch nur annähernd zu geben, was Dianne mir schenkt. Und ich ihr. Niemand soll davon wissen … Doch schon wenige Nächte später erfahre ich, daß dieses Haus kaum etwas für sich behält. Es hat noch andere Augen und Ohren als die, die sich hinter Venezianischen Spiegeln und Mauerspalten verbergen, und es ist eine große Lüge, daß es Cees gehört – auch wenn dieser bedauernswerte Narr selbst daran wohl glauben mag.
* Vom Fenster meines Zimmers aus habe ich freien Blick auf den Kanal, der Amsterdam mit Haarlem verbindet. Fährschiffe bringen die Reisenden von hüben nach drüben. Das erste Boot legt frühmorgens, sobald das Stadttor geöffnet wird, ab. Danach folgt jede Stun-
de ein weiteres, bis zum späten Abend, wenn das Tor wieder schließt. Die Stadt scheint vom Terror, der draußen in der Welt tobt, nur insofern berührt zu sein, als sich Kriegsschiffe im Hafen tummeln. Seit die Feindschaft mit der spanischen Seemacht eskaliert ist, verläßt kein Handelsschoner die Bucht mehr ohne Eskorte. Nach überall hin laufen die schwerbeladenen Schiffe aus, und nicht wenige zieht es nach Nieuw Amsterdam und Nieuw Nederland, das sind die Namen der Festung und jungen Kolonie, die von der Westindischen Kompanie an der Südspitze der Insel Manhattan gegründet wurden. Zehn Jahre, sagt Dianne, ist das erst her. Aber in diesen zehn Jahren haben wohlhabende Amsterdamer Kaufleute ein Vermögen investiert, um diesen Fixpunkt am anderen Ende des Ozeans zu erkunden und auszubauen. Viele sehen ihre Zukunft dort. Ich nicht. Ich sehe überhaupt keine Zukunft. Ich lebe von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, und kann selbst nicht erklären, warum mein Verstand nicht in der Lage ist, Pläne zu schmieden, die über den jeweiligen Tag hinausreichen. Vielleicht kennt etwas in mir mein Geheimnis, und vielleicht hat es recht, wenn es mir kein Leben zubilligt, das lange genug währen wird, um Visionen oder auch nur Hoffnungen damit zu verknüpfen … Es ist Abend. Der Herbst war kurz, und der frühe Wintereinbruch hat alle überrascht, die den Jahreszeiten Bedeutung beimessen. Draußen auf den Dächern und Straßen liegt der Schnee weiß wie das Linnen, in das man Tote zur letzten Ruhe bettet. Noch ist der Kanal eisfrei, aber niemand weiß, was kommen wird, wenn sich die grimmige Kälte fortsetzt. Cees ist schon seit Wochen fort. Er ist offenbar nicht dafür geschaffen, lange am selben Ort zu verweilen. Und ich?
Seltsam, aber darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht – ich tue es auch jetzt nicht. Das Haus ist trotz der schlechten Witterung gut besucht heute, dennoch habe ich mich aus dem Salon gestohlen, um ein wenig für mich zu sein. Ganz für mich. Nicht einmal Dianne möchte ich jetzt in meiner Nähe haben. Diese Momente überwältigen mich von Zeit zu Zeit. Dann brauche ich nur Wände um mich herum, keine Menschen. Es ist immer dasselbe: Ich hadere mit mir selbst. Mit der Frage, wer – nein, was – ich denn nun eigentlich bin. Manchmal vermag ich es tagelang zu verdrängen, was mich von Dianne oder den anderen unterscheidet, die mich hier umgeben. Ich bin anders – und das auf eine so entsetzliche und fordernde Weise, daß ich mich bisweilen aus dem Fenster stürzen möchte, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Vielleicht ist es die Angst, mich dort unten wieder von dem steinernen Pflaster zu erheben und dann noch unmenschlicher zu sein als jetzt, was mich davon abhält. Ich habe getötet, und das ohne jegliche Gewissensbisse, was den Verdacht erhärtet, daß ich gar kein Gewissen besitze. Zumindest kein solches, das wert zu erwähnen wäre. Woher komme ich? Wer hat mir dort draußen auf dem Feld zu Prag Leben eingehaucht? Einen Körper belebt, der in den ersten Tagen und Wochen sonderbar gläsern – durchscheinend – wirkte, so daß ich als Hexe verfolgt und verhört wurde? Ich allein weiß, daß ich keine Hexe bin. Ich bin weit Schlimmeres als das. Und ich erhielt meine Freiheit von etwas zurück, das noch wüster ist als ich. Noch fremder. Noch verschlagener und um seiner selbst bedacht, ohne Rücksicht auf die, die neben ihm existieren …! Aber wie verträgt sich das mit meinem Verhältnis zu Dianne? Ein halbes Jahr nach Prag besitze ich nur noch verschwommene
Erinnerungen an die Gefühle und Einsichten, die mein Befreier in mir weckte. Mein Blick treibt hinaus in die Winterlandschaft, die wie ein düsteres Gemälde wirkt. Mond und Schnee erhellen die Nacht draußen, nicht aber die Nacht in mir. Ich seufze, und gerade will ich meine Augen dem Zimmer, in dem ich stehe, zuwenden, als ich etwas bemerke, was mich stocken läßt. Die Geflügelten scheinen aus dem vollen Mond heraus zu kommen. Plötzlich sind sie da! Größer als Vögel, ihre Schwingen glatt und ohne Federn – nackt … Sie scheinen genau auf mich herabzustürzen, doch als sie das Gebäude in der Herengracht, an dessen Fenster ich wie erstarrt stehe, beinahe erreicht haben, korrigieren sie ein wenig ihren Flug … … und entziehen sich meinen Blicken seitwärts, nach rechts. Ich weiß nicht, warum, aber ich reiße das Fenster auf und sehe gerade noch den letzten des Schwarms im Haus verschwinden. Durch ein Fenster, das sofort hinter ihm geschlossen wird! Erst nach einer Weile merke ich, wie mein Herz hämmert. Die Frau, die die geflügelten Besucher empfangen hat, ist Camille, kein Zweifel. Und das Fenster, durch das sie Einlaß erhielten, gehört zum prächtigsten Salon des Hauses, in dem ein Fest im Gange ist, von dem mir niemand sagen konnte oder wollte, zu wessen Ehren es stattfindet. Auch Dianne nicht. Dianne, die sich wie ich noch vor wenigen Minuten darüber wunderte, wie groß der Besucherandrang an einem Tag wie diesem ist. Was mir an dem Gesehenen den größten Schauder bereitet, kann ich nicht sagen. Aber es friert mich, wenn ich daran denke, zu den anderen zurückzukehren. Welche Art von Gespenst hat Camille ins Haus gelassen? Ich bin versucht, an einen Streich zu glauben, den mir meine über-
reizten Sinne spielen. Der Festlärm ist unverändert. Er war auch keinen Moment unterbrochen. Ich muß mich geirrt haben … In diesem Moment höre ich mir unbekannte Schritte, die vor meiner Tür verstummen. Ich weiß nicht, warum ich so hastig die Kerzen auf der Kommode ausblase. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken wie tanzende Schneeflocken. Die Tür ist unverriegelt. In dem Moment, da ich einer Eingabe folge, mich aufs Bett werfe und die Augen schließe, als hätte ich mich zu einem Nickerchen niedergelegt, tritt die Fremde ein. Ich sehe sie nur den flüchtigen Moment lang genau, als sie kurz im hellen Türgeviert innehält. Als sie ins Dunkel taucht, wird sie selbst zu einem Schatten, der neben mich tritt und mich eine ganze Weile schweigend mustert. Ich spüre den Blick wie Ungeziefer, das über meine Haut kriecht – selbst über Stellen, die den Blicken entzogen sein müßten. Plötzlich sagt eine Stimme: »Erhebe dich und beantworte meine Fragen!« Es kribbelt noch stärker in meinen Gliedern, als wollten sie diesem Befehl folgen, ganz ohne abzuwarten, was ich eigentlich dazu meine. Von irgendwoher ziehe ich die Kraft, um die drohende Panik niederzuringen, und doch erschüttert es mich, daß es in erster Linie Neugierde zu sein scheint, die mich zum Gehorsam nötigt. Neugier, wie es weitergeht. Ich setze mich auf den Rand des Bettes und halte die Augen geschlossen. Sie zu öffnen, wurde mir noch nicht gestattet. »Du hast eine interessante Geschichte«, sagt die Frau, und trotz der rauchigen Stimme verrät der Ton, wie wenig sie mich achtet. Es klingt, als unterhielte sie sich mit einem dahergelaufenen Hund. »Cees erzählte uns, unter welchen Umständen er dich aufgelesen hat. Angeblich fehlt dir jede Erinnerung – aber könnte es nicht sein,
daß du alle hier an der Nase herumführst? Könnte es nicht sein, daß du etwas zu verbergen hast, was dich, wenn es herauskäme, in neuem Licht erscheinen ließe? Immerhin, Cees traf dich im Böhmischen, nahe Prag. Und wir haben lange nichts mehr von unseren dortigen Schwestern gehört …« Schwestern? echot es in mir. Sie hat Verwandte dort, woher ich kam …? Ich spüre, daß mehr hinter ihrer Frage steckt. Hinter der ganzen Gestalt, die förmlich bei mir eingebrochen ist! »Ich verheimliche nichts«, sage ich. In meinem Kopf ist ein unbeschreiblicher Druck, der mich drängt, Antwort auf alles zu geben, wonach diese Fremde mich befragt. Ich fühle, daß ich diesem Zwang widerstehen kann, wenn ich es nur wirklich will – aber ich zweifele, daß dies auch ratsam wäre. Klüger ist es, zumindest den Anschein zu erwecken, der in mir rumorenden hypnotischen Stimme gehorchen zu müssen. Eine Stimme, die beständig anschwillt. Wer ist die Frau, die zu mir kam? Keine von Cees’ Eroberungen, daran zweifele ich entschieden! Ihr ganzes Auftreten und ihre Ausstrahlung beweisen, daß sie eine höchst seltene Blume ist. Eine Blume, die nur des Nachts in voller Schönheit blüht. Was für ein abwegiger Gedanke. Aber offenbar nicht absurd genug, denn ich verweile mit morbidem Genuß in der Idee, auf ein Wesen getroffen zu sein, dessen Menschsein sich – fast wie bei mir – in seinem äußeren Erscheinungsbild erschöpft. Am liebsten würde ich dieser Frau ins Gesicht brüllen: Wer bist du? Und wer … bin ich? Doch das wage ich nicht. Es hätte alles verraten, alles zunichte machen können. Von dieser Frau geht eine spürbare Gefahr aus, denn auch als Unheilsbringerin scheint sie mir überaus ähnlich zu sein … »Wenn du nichts zu verbergen hast, warum bist du dann hier – und nicht bei euren Gästen, wie es sich gehören würde? Weißt du nicht, was sich geziemt?«
Diesmal ist ihre Stimme mit Sarkasmus getränkt. »Ich war müde«, lüge ich (oh, ich wußte, daß ich widerstehen kann, zu jeder Zeit – den geheimen Triumph lasse ich mir dennoch nicht anmerken). »Müde wovon?« »Ich weiß es nicht.« »Nein?« Dieses Nein schwebt eine Weile wie ein drohend erhobenes Henkersbeil über meinem Haupt, und ich schließe nicht aus, daß mein Betrug längst durchschaut ist. Trotzdem gebe ich mir keine Blöße. »Nein«, rinnt es lakonisch über meine Lippen. Danach muß ich ihr erzählen, woran ich mich erinnere. Aber obwohl sie mich kein einziges Mal unterbricht, kann man sie nicht als gute Zuhörerin bezeichnen (nicht mit Dianne vergleichen), dazu sind ihre Motive und Absichten nicht lauter genug. Jedenfalls glaube ich das. Ich verschweige ihr dasselbe, was ich auch schon Cees vorenthielt. So erfährt sie nichts über meine Gefangenschaft, nichts über die Taten, die mich in den Kerker brachten – und am wenigsten von meinem Befreier, dessen Identität mir ohnedies mehr und mehr entrückt ist. Ich fürchte, ich könnte ihn nicht einmal beschreiben, wenn ich wollte. Er ist wie ein Traumgespinst verblaßt … Nachdem ich erzählt habe, was ich ihr zu wissen zubillige, ist es zunächst still im Raum. Unaufhörlich spüre ich die Kraft, die von der Besucherin ausstrahlt, die mich aber nicht mit der beabsichtigten Wucht erreicht. Dennoch bin ich versucht, mich ihr zu offenbaren. Vielleicht besitzt sie die Antworten, nach denen ich bislang vergeblich suchte. Vielleicht könnte sie mir bei der Suche nach meiner Identität helfen … Doch wieder obsiegt mein Mißtrauen. Mein Gefühl für Gefahr. In diesem Augenblick sagt mein ungebetener Gast: »Etwas so Hübsches wie du sollte als Dekoration bei unserem Schmaus nicht
fehlen. Komm! Folge mir! Ich führe dich zu meinen Schwestern!« Nach diesen Worten greift sie meine Hand. Trotz der Dunkelheit muß sie nicht erst tasten, sondern findet sie zielsicher. Ich erhebe mich. Der Duft, der diese Frau begleitet, ist herber als alles, was meine Nase je gerochen hat, beinahe maskulin. Aber irgendwie harmoniert es mit der schwelenden Kraft, die unter der schlanken, geschmeidigen Figur schlummert, mit der Stimme, hinter der bei jedem leisen Satz ein wilder Schrei darauf zu lauern scheint, ausbrechen zu dürfen, und auch mit dem Druck, den sie durch ihren bloßen Willen erzeugt! Ich frage mich, was geschehen würde, wenn ich sie herausforderte. Wenn ich an ihr erproben würde, was ich schon manchem Manne ohne Mühe antat. Was würde geschehen, wenn ich versuchte, ihre Zeit zu stehlen, ihre kommenden Jahre, die durch meine Gier unwiederbringlich verloren wären …? Noch übe ich Geduld und bleibe abwartend. Und so erreichen wir den Salon, in dem sich alle versammelt haben: Camille, Dianne, die anderen – wie man unsere Zunft jenseits dieser Mauern herabwürdigend heißt – »gemeinen Töchter« und die Gäste. Meine Augen sind nun offen. Die Stimmung hier ist ausgelassener, als ich sie je seit meiner Zugehörigkeit zu diesem Milieu erlebt habe. Doch frage ich mich, wer all die fremden Frauen sind, die sich mit dem Mannsvolk vergnügen. Diejenigen, die dies normalerweise zu tun hätten, sitzen oder stehen herum wie reine Staffage (Dekoration nannte es die Frau an meiner Seite). Auch ich werde irgendwo abgestellt und dort Zeugin von Greueltaten, wie selbst ich sie kaum für möglich gehalten hätte! Bizarr, wenn einem Monster vor Monstern graut …
* Hier und jetzt lerne ich die Mächtigsten der Mächtigen kennen – einige von ihnen. Sie sitzen auf den Knien wohlhabender Herren oder lassen diese auf ihren Schößen Platz nehmen. Auf den ersten Blick mag es sogar scheinen, als trieben sie nur allerlei Schabernack, als küßten und kosten sie einander. In Wahrheit aber … … hängen diese fremden Frauen – eine jede so unnahbar wie die, die mich besuchte – durstigen Blutegeln gleich an den Kehlen des Mannsvolks! Von überall her dringt obszönes Schmatzen, und es dauert eine Weile, bis ich begreife, warum sich die Herren gefallen lassen, was mit ihnen geschieht: Sie stehen völlig im Bann der Gestalten, die ich nie zuvor hier sah! Tiefe Hypnose verhindert, daß sie begreifen, wie sich an ihnen vergangen wird – und auch in den Augen derer, die, wie ich, sonst zur Verfügung stehen, um sich für klingende Münze beschlafen zu lassen, lese ich Blindheit gegenüber dem, was sich hier wirklich abspielt. Was steht wohl in meinem Blick zu lesen? Auf jeden Fall Verräterisches, denn plötzlich streckt eine der Gestalten den Arm nach mir aus und stößt rauh hervor: »Die da! Nehmt euch vor dieser in acht! Sie verstellt sich! Sie tut bloß, als wäre sie uns verfallen …!« Mir wird heiß und kalt zugleich. Ich gebe meine starre Haltung auf, mit der ich die Blutrünstigen zu täuschen versuchte, und wende mich der Tür zu, durch die ich gekommen bin. Die Frau, die mich in den Salon geleitet hat, mischte schon in dem orgiastischen Treiben mit, doch nun ist sie die Erste, die den lebendigen Trunk aus ihren Fängen gleiten läßt und sich mir entgegen-
wirft. Ich reagiere ohne nachzudenken. Nachdem ich gesehen habe, wie die Besucherinnen mit den Gästen verfahren, weiß ich, was mir blüht. Diese Frauen sehen aus wie Ikonen des Bösen, und obwohl ich selbst ein Geschöpf bin, das eher der Dämmerung denn dem Licht zuzuordnen ist, obwohl ich die Moral der Menschen weder kenne noch teile, unterscheide ich mich doch von solchen Bestien! In den Monaten, die seit Prag verstrichen sind, habe ich gelernt, meine Sucht nach der Zeit anderer zu bezähmen. Ich nehme mir nicht mehr alles auf einmal, was die dunkle Flamme in mir zum Verzehr fordert, sondern stehle in kleinen Dosen, und so gehen unsere Gäste nicht sichtbar gealtert von dannen, sondern nur um soviel beraubt, daß sie ihre Schwäche mit der Manneskraft entschuldigen können, die ihnen bei uns abverlangt wurde. Doch jetzt bin ich in Bedrängnis. Jetzt bin ich ein in die Enge getriebenes Tier, das sich von seinen Jägern gestellt sieht! Mir bleibt kein anderer Weg, als zu entfesseln, was ich so mühsam im Zaum zu halten lernte. Auge in Auge mit der Furie, die auf mich zustürmt, stelle ich mir vor, wie ihre ebenmäßigen Züge vergreisen – wie die Glätte der Haut von Schluchten durchfurcht wird und sich Flecke bilden, wie sich die Zähne in ihrem Fleische lockern, das gerade noch glänzend vitale Haar spröde und brüchig wird … Ich stelle mir so vieles vor, was nicht in Erfüllung geht! Mein Wünschen, so sieht es aus, hat seine Kraft verloren. Unbeeindruckt wirft sich die Furie mir entgegen. Ihre oberen Eckzähne sind lang wie Finger. Sie schimmern und drohen wie mit Blutfäden überzogenes Elfenbein. Mein Verstand nimmt vorweg, was gleich geschehen wird – und was ich nicht mehr aufzuhalten imstande bin: Diese Zähne werden
mich durchbohren, ohne Gnade, nicht sacht und gefühlvoll wie die Haut jener Männer, die glotzend dahocken, liegen oder knien, sondern mit sich entladendem Zorn auf die Betrügerin – auf mich. Meine Kehle wird zerfetzen. Ich werde noch sehen, wie mein Blut nach allen Seiten spritzt, werde … Das Gewicht der Furie reißt mich zu Boden. Spitze Klauen graben sich in meine Arme. Der Schmerz ist erst grell, dann strahlt Taubheit von diesen Stellen aus, und dann kommt etwas wie das Maul eines Hais auf mich zu. Vor meinen Augen zerfällt die Welt. Ich sterbe, und so werde ich nie erfahren, welches Geschick mich vor die Tore Prags verschlug. Oder warum der Tod, der hungrig jeden Menschen frißt, ausgerechnet diese Kreatur verpönt! Es ist ausssssss …!!!
* stille. alles erlischt. jede regung außerhalb meiner selbst stirbt, und für eine unbestimmbare spanne ähnelt dieser salon mit seinen anwesenden einem gemälde, in dem nur ein einziges ding stört: ich! ich scheine als einzige nicht in dieses bild hineinzupassen, ich bin der fremdkörper, der anachronismus! ich weiß nicht, ob ich dem, was hier passiert, trauen darf. viel leicht wurde ich sterbend von einem traum in den nächsten geschleudert. oder dies ist der tod. oder …
* Ich stoße das gnadenlose, seine Zähne bleckende Ungeheuer von mir. Was für eine Art Uhr mag in seinem Alptraumkörper ticken, daß
er mir so entschieden Widerstand zu leisten versteht? Benommen erhebe ich mich. Alles um mich herum ist inmitten des Treibens erstarrt. Nur ich bewege mich, niemand sonst. Mein Leben war nie unwirklicher als in dieser Stunde. Ich suche nach Dianne – und finde die Geliebte. Wie gelähmt starre ich zu ihr hin. Nur zögernd sickert in mein Bewußtsein, daß sie zu einer alten Frau geworden ist – zu einer uralten … War ich das? Mir wird übel, denn vor dieser Einsicht gibt es kein Entfliehen, und Dianne ist nicht mein einziges Opfer. Jeder Mann und jede Frau im Salon ist von einem Atemzug zum anderen um Jahrzehnte gealtert – davon ausgenommen sind nur jene Frauen, die an den Hälsen der reichen Herrschaften hängen! Einer der Gäste trägt einen ganz besonderen Schmuck: An seiner Brust, mit den Klauen im Stoff des Wamses verfangen, hängt eine Fledermaus. Ihre Schwingen sind voll entfaltet. Ist es eines der geflügelten Tiere, die Camille einließ? Aber wo sind die anderen geblieben? Plötzlich überkommt mich die Furcht, daß diese angehaltene Szenerie jeden Moment wieder in Bewegung geraten kann. Daß ich nur eine Galgenfrist herausgeschunden habe. Wenn ich sie nicht nutze und rechtzeitig die Flucht ergreife, war alles umsonst … Ich kann immer noch nicht glauben, daß ich das Verhängnis für Dianne und die anderen Bewohner des Hauses in der Herengracht gesät habe. Wozu brauchte ich diese Unmenge fremder Zeit? Etwa um die Zeit nach meinem Willen zu formen, sie zum Stillstand zu bringen? Gab es nur diese eine Möglichkeit, um mich zu retten, und hat mein Instinkt dies vor dem Verstand erkannt? Noch immer hadernd, nehme ich mir einen Mantel und etwas Geld und flüchte hinaus in die eisige Nacht. So schnell mich meine Füße tragen, entferne ich mich von dort, wo ich für ein paar Monate Unterschlupf fand.
Ich lasse ein Grab zurück, denn im Fliehen stehle ich meinen Opfern auch noch den letzten Funken Zeit, der ihnen sonst vielleicht geblieben wäre. Es ist ein Akt der Gnade. Mehr kann ich für Dianne nicht tun, denn meine Diebstähle rückgängig zu machen, habe ich nie gelernt. In dieser Nacht verlasse ich Amsterdam, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Mein Fluchtweg ist gesäumt mit Menschen, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, so schnell verlieren sie ihr Leben. Ich brauche ihre Jahre, um mich den Verfolgern sicher zu entziehen, denn irgendwann erlischt der Bann um diejenigen, die ich mir in dieser Nacht zu Erzfeinden gemacht habe. Dann werden sie nach mir auszuschwärmen. Ich fliehe vor ihnen ins Frankenreich, in die winterrauhe bretonische Küstenlandschaft. Dort will ich mich wenigstens bis zum Sommer in einer kleinen Stadt verstecken, die frei scheint von der Plage, die mich aus Amsterdam vertrieb. Vielleicht kann ich die Gabe, von deren Existenz ich bis dato nicht einmal ahnte, näher erforschen. Das Talent, die Zeit für mich selbst zu beschleunigen, so daß alle anderen wie erstarrt wirken! Offenbar braucht es enorm viele Leben, um Dinge, Mensch und Tier in einem Maße »einzufrieren«, wie ich es in der Herengracht 13 erprobte. Ohne echte Not, das schwöre ich mir, werde ich mich zu solchem Sterben nie wieder verführen lassen. Aber in dem Moment, als ich diesen Schwur ablege, ahne ich nichts von dem, was ich sonst noch in mir trage – auch nichts von der unumgänglichen zweiten Begegnung mit dem, der mich aus der Prager Burg befreite. Wenn ich ihn treffe, werde ich erfahren, daß alles, was er tut, ein Entgegenkommen verlangt, und muß den Preis, den er mir nennt, wohl zahlen. Wie jeder, der mit ihm paktiert – selbst wenn es die endgültige Verdammnis besiegelt. Niemandem, der SEINE Wege kreuzt, bleibt eine Wahl …
* Saquefort, einige Jahre nach diesen Ereignissen Landru starrte auf die knabenhaft schlanke Frau, deren Schönheit geradezu unirdisch zu ihm herüberstrahlte. Sie war höchstens Mitte zwanzig. Ihre Haut wirkte durchscheinend wie Glas, und dieses Phänomen erlaubte es, die Vorgänge, die sich unter der Transparenz abspielten, schemenhaft zu verfolgen. »Wir kennen uns?« Ihre Stimme wurde durch das Idiom verfälscht, das sie verwendete. Aber es war ihre Stimme, die Stimme, die zur äußeren Erscheinung paßte. Diese Frau hatte früher nur nie auf Französisch mit ihm gesprochen. »Früher«, mehr als 400 Jahre in der Zukunft …! Dort war sie auch gestorben. Landru hatte sie mit eigenen Augen am Eingang zum Zeitkorridor von Uruk liegen sehen, das Gesicht auf den Rücken gedreht, das Genick gebrochen, als hätte ein Vampir sich seiner Dienerkreatur zu entledigen versucht! Aber Beth MacKinsay (ja, vor ihm stand Beth MacKinsay!) war nicht wie der Kadaver eines Untoten zu kalter Asche zerfallen. Sie hatte noch dagelegen, als Landru sich an Liliths Fersen geheftet hatte, um ihr zum Ende des Korridors zu folgen. Und wer sie umgebracht, wer ihr die Freundschaft schlecht gedankt hatte, stand außer Frage: Nur Creannas Balg Lilith konnte es getan haben! Sie war zu diesem Zeitpunkt völlig von der Macht besessen gewesen, die am Anfang der Zeit aus ihrem Stasisgrab erweckt werden wollte *: die Urmutter der Vampire, die Mutter der Geheimen Kinder, zu denen *siehe VAMPIRA Hefte 46-50
auch Landru in direkter Linie zählte … Normalerweise hatte Landru keine Probleme mit Toten. Wie alle Vampire gebot er in gewissem Umfang mit seiner Magie über sie. Aber bei Beth MacKinsay besaß der Begriff »Tod« eine unverkennbar neuartige, befremdliche Qualität. So, wie sie stolz und ungebrochen in ihrem Selbstbewußtsein vor ihm stand, war sie kein einfacher Knecht, der nur noch von einem magischen Keim bewegt wurde. Und was sie ganz beträchtlich auch von ihm selbst unterschied, war klar ersichtlich: Sie besaß noch ihren eigenen Körper – über die vermeintliche Transparenz konnte man dabei getrost hinwegsehen! »Ja, wir kennen uns«, sagte er. »Zumindest erkenne ich dich – mich hast du in anderer Erinnerung. Aber mein Name müßte dir etwas sagen.« »Nenn ihn mir, auch wenn ich ausschließe, dir schon einmal begegnet zu sein.« »Warum?« »Weil du dann längst in alle Winde verweht wärst.« Wie gelassen sie ihn demütigte. Landru unterdrückte den aufglimmenden Haß. Wenn Beth MacKinsay – noch dazu ohne Körpertausch – hierher gelangt war, gab es noch andere Wege in diese Zeit als den unfreiwilligen, den er hatte nehmen müssen! Existierte der Korridor bei Uruk noch? War Beth gar nicht darin gestorben? Oder hatte ein Zeitparadoxon sie reproduziert …? Nur sie selbst konnte ihm diese Fragen beantworten. Vielleicht besaß sie gar den Schlüssel zurück. Notfalls wäre Landru unter Umständen sogar bereit gewesen, sein Dasein in diesem Körper fortzusetzen. Nur nicht in dieser Zeit, in der er schon einmal irgendwo existierte … Ehe die Dimension dieser Vorstellung sein Verständnis von Logik völlig sprengen konnte, sagte er: »Ich bin Landru! Auch wenn ich
aus einem mir selbst fremden Mund zu dir spreche, es ist so: Ich bin Landru!« Ihre Reaktion enttäuschte ihn, zumal sie ihm den Gleichmut nicht nur vorspiegelte. Sie schien diesen Namen tatsächlich noch nie gehört zu haben! War das möglich? War es möglich, daß sie Beth MacKinsay nur wie ein Ei dem anderen glich und nicht mit ihr identisch war? Landru vertiefte sich noch einmal in jedes Detail ihrer Erscheinung. Nein! Kein Zweifel, sie war es! Er hatte dieses Gesicht geküßt, hatte seine Lippen mit ihren Lippen vermählt und leidenschaftliche Stunden mit dieser Frau verlebt, als sie der magischen Seuche von Sydney verfallen und ihre Gefühlswelt auf den Kopf gestellt gewesen war! »Landru? Ich kenne keinen Landru – aber du mußt sehr an deinem Leben hängen, wenn du deinen Untergang auf so durchschaubare Weise hinauszuzögern versuchst …« »Du kannst mich nicht umbringen!« Sie lachte. Düster wie das Morgengrau, das durch die Bleiglasfenster hereinsickerte. »Du hast immer noch nicht begriffen, mit wem du es zu tun hast!« »Da irrst du gewaltig. Jedenfalls kenne ich deinen Namen!« Täuschte er sich, oder begann ihre Haut stärker zu leuchten? Eine blendend helle Korona schien die Frau einzuspinnen, die in dieser Kirche so deplaziert war wie er selbst. »Lydia?« Ihr Ton glich nun einem Abgesang. Sie winkelte die Ellbogen an, so daß die Hände auf ihn zeigten. In ihren Augen, die zwei dunkle Flecken in der Helligkeit blieben, zog etwas auf, das Landru noch nie zuvor bei einem Geschöpf gesehen hatte. Ein Unwetter, das sich entladen würde. Über ihm! Seine Stimme verriet nichts über die Sorge, die sich in ihm zu for-
men begann: »Deinen wahren Namen«, sagte er, so bestimmt er nur konnte. Für einen Moment brachte er sie ins Wanken. »Ja? Dann nenn ihn mir!« »Elisabeth … Beth MacKinsay!« So wenig wie mit seinem, konnte sie mit ihrem Namen etwas anfangen. Landru erhielt keine zweite Chance. Wie sie es tat, blieb ihm verborgen. Aber sie demonstrierte ihm, wozu sie fähig war. Ein Vorhang fiel. Ein unsichtbarer Schleier, der die schädlichen Einflüsse dieses Ortes bislang von Landru ferngehalten hatte. Aber plötzlich war die Gewalt da, die ihn zu zermalmen versuchte! Das Feuer göttlicher Weihe, das sich in den umgebenden Mauern, in den Kruzifixen, Heiligenbildern und Insignien manifestierte. Von einem Moment zum anderen hatte Landru das Gefühl, in kochendem Öl gesotten zu werden! Nicht nur Racoons Körper rebellierte, auch der darin eingeschlossene Geist litt Höllenqualen! Landru begriff nur noch, daß er seine Gegnerin maßlos unterschätzt hatte, obwohl ihn die Größe der Falle, die sie ihm gestellt hatte, hätte warnen müssen. Wie von Sinnen wand er sich am Boden. Der Schmerz war überall, war schrecklich und hinderte ihn, auch nur einen einzigen Gedanken für Gegenwehr oder Flucht aufzubieten. Die Frau, die nicht Elisabeth MacKinsay heißen wollte, sah ungerührt zu, wie die Macht dieser Stätte, die sie selbst auch weiterhin nicht anfocht, ihren Feind verschlang.
* Eucharius hielt inne. Zweierlei rührte ihn an. Zum einen das Flehen seines Opfers hier
unten in dem finsteren Loch: »Aufhören, bitte … Auf-hö-ren …!« (Rührte es ihn wirklich, oder bildete er es sich nur ein?) Zum anderen das viel dringendere Gefühl, daß sein Herr und Meister in Bedrängnis geraten war – in tödliche Bedrängnis! Noch bevor wirkliche Sättigung eintrat, ließ Eucharius von dem Mädchen im Kellerloch ab. Im Zurückweichen sah er, wie der Blutfluß aus den Malen heraus, die seine Zähne hinterließen, gerann. Die beiden Wunden schlossen sich. Mehr als ein paar Tropfen des kostbaren Quells gingen nicht verloren. Der Diener würde das Gefäß bei seiner Rückkehr vorfinden, wie er es jetzt verließ. Falls er zurückkehrte. Behender, als ein Betrachter es erwartet hätte, kletterte Eucharius an die Oberfläche zurück. Und wie einem abgespulten Faden folgend fand er sicher seinen Weg dorthin, wo zwei ungleiche Gegner aufeinandergeprallt waren …
* Sein Handballen und die linke Wange brannten, als würde rotglühendes Eisen dagegengepreßt! Landru schrie gellend aus Racoons Mund. Racoons Körper schien wie Wachs zu zerlaufen. Zu schmelzen. Gleichzeitig war es, als ritzte eine unsichtbare Hand Stigmen hinein, zur Strafe dafür, daß ein Geschöpf der Nacht es überhaupt gewagt hatte, ein Haus wie dieses zu betreten! Die Qual, die in ihm tobte, hätte die Mauern zum Einsturz gebracht, wenn es ihm nur einen Moment gelungen wäre, sich seiner Hütermagie zu besinnen. Aber es gab keine Pause, keine Gelegenheit der Sammlung, unaufhörlich strömten die Ausdünstungen der Kirche wie giftige, ätzende Gase auf ihn ein! Woher schöpfte Beth MacKinsay solche Möglichkeiten? Wer hatte
ihr die Kräfte verliehen, die sie als Trumpfkarten gegen ihn ausspielte? Wenn sie wirklich im Korridor der Zeit gestorben war … … wer hatte sie wiedererweckt? Selbst diese Fragen waren nur Splitter. Sie stoben durch Racoons kaltes Gehirn und trugen zur völligen Irritation des Wesens bei, das Einlaß in ihn gefunden hatte. Landrus Bewegungen am Boden erlahmten. Die Kräfte verließen den Körper, dessen Eigentümer sich nicht einmal in dieser Situation, nicht einmal in den entlegensten Winkeln dieses Gehirns regte. Offenbar gab es ihn wirklich nicht mehr. Offenbar hatte die Seele des Hüters Racoon einfach ausradiert … Aber selbst als Verbündete hätten Racoon und Landru kaum dem imaginären Gewicht, das sie niederdrückte, zu trotzen vermocht. Stöhnend versuchte der Hüter den Kopf zu wenden und dorthin zu schauen, wo die durchscheinende Frau vielleicht immer noch stand. Vielleicht war sie aber auch schon längst gegangen. Zurück zu den Resten von Rößlins Wanderschau. Zurück zu Spielleuten, Akrobaten und Mißgeburten, die glaubten, sie sei eine von ihnen … Blitze. Splitter. Lautlose Entladungen. Landrus Geist zerstob im Hagel einer Magie, die auf reinem Glauben fußte. Einer Religion, die ein Vampir in jeder Epoche zu fürchten hatte. Sein Bewußtsein versank in der Marter, die kein Ende nehmen wollte. Erst wenn sie ihn ganz besiegt hatte, würde sie für immer verstummen. Und das würde bald sein. Sehr bald. Jetzt …?
* Als Landru die Augen aufschlug, pochte der Schmerz noch wie ein fremder Herzschlag in ihm. Es war heller Tag, und er lag im Freien, im Staub der Straße, zwischen strohgedeckten Häusern, die mehr denn je den Käfigen absonderlicher Tiere ähnelten. »Endlich, Meister …« Die Stimme ließ ihn vollends zu sich finden. Neben ihm kniete Eucharius – noch entsetzlicher zugerichtet, als er ihn nach dem Wohnwagenbrand in Erinnerung hatte. An manchen Stellen seines teilverbrannten Körpers hatte sich das Fleisch nun völlig abgelöst. Blanke Knochen waren sichtbar. Der verwesende Kopf seines Zwillings war nun gänzlich verschwunden. Dort, wo er einmal auf der Schulter aufgesessen hatte, war nur ein schwarzer, schwärender Fleck zu erkennen, und ein zertrümmerter Nackenwirbel ragte heraus. Es schien, als hätte jemand einfach solange an dem unnütz gewordenen Schädel gedreht, bis er herabgefallen war. »Ich bin so froh, Meister …« »Was – ist passiert?« Landrus Blicke lösten sich von Eucharius und glitten hinüber zur Kirche, die einen Steinwurf entfernt lag und zu ihnen herüberdrohte. Das Torportal stand sperrangelweit offen. Zu sehen war niemand. »Wie komme ich hierher?« Eucharius senkte den Kopf. »Ich habe euch getragen.« »Getragen?« »Ihr wärt fast umgekommen. Ich fand euch bewußtlos. Die Haut eures Leibes schlug Blasen …« »Und deine?« »Seht selbst, Herr …« Landru hatte es längst gesehen. Und nun wußte er auch, worauf Eucharius’ Wunden beruhten: Er mußte trotz der Auswirkungen auf seinen untoten Körper in die Kirche eingedrungen sein, um seinem
Meister beizustehen. Aber wie war ihm das gelungen? Wieso hatte die Frau, die Landru immer noch für Beth MacKinsay hielt, es zugelassen? Auf seine Frage antwortete Eucharius: »Sie war ganz auf euch konzentriert. Sie merkte nicht, wie ich mich von hinten an sie heranschlich und sie …« »Und sie?« »Ich schlug sie mit einer der Heiligenfiguren nieder.« Eucharius hob ohne Klagen seine beiden Hände. Sie sahen aus, als hätten sie in einer feurigen Esse gelegen. Landru setzte sich auf. »Ist sie tot?« Eucharius verneinte. »Nur bewußtlos. Ich wußte nicht, was Ihr vielleicht noch mit ihr vorhabt …« »Sie liegt noch immer dort in der Kirche?« Sein Diener schüttelte das Haupt, dessen frühere Behaarung hie und da noch als kleiner Ascherest klebte, auch über den Augen, wo sich die Brauen befunden hatten. »Nein. Hier hinter uns, in dem Haus. Ich habe sie gefesselt.« »Gefesselt.« Landru krümmte sich leicht. Ohne Zweifel unterschätzte sein Diener das Ausmaß der Gefahr, das von seiner Gefangenen ausging, beträchtlich. Eucharius hatte sich aufgerichtet und war zur Tür gegangen. Landru sah, wie er sie öffnete und einen Blick hineinwarf. »Und?« »Sie kommt gerade zu sich, Herr. Ihr könnt nach Belieben mit ihr verfahren …« So schlau und richtig sich Eucharius in der Kirche verhalten hatte, so unentschuldbar dumm tat er es jetzt. Landru wartete keine weitere Erklärung ab. Obwohl der Körper, in dem er steckte, unerhört unter der zurückliegenden Folter gelitten hatte, zwang er ihn auf die Füße und trieb ihn durch die offene Haustür. Seinen im Weg stehenden Diener stieß er einfach zur Seite und erreichte so den in läppische Stricke gewickelten Körper seiner
Feindin in buchstäblich letzter Sekunde. Sie rührte sich bereits, versuchte die Ohnmacht abzustreifen. Landru schmetterte seine Faust so wuchtig gegen ihre Schläfe, daß es knirschte, und ihre gerade blinzelnd zitternden Lider beendeten ihren flügelähnlichen Schlag und schlossen sich wieder. Aber er atmete erst wirklich auf, als ihre Muskeln erschlafften. »Soll ich sie für Euch töten, Meister?« fragte von der Tür aus Eucharius eilfertig.
* Landrus Geist drang in Gefilde vor, wie er sie noch nie zuvor auch nur gestreift hatte. Er kannte Hypnose in jeder gebräuchlichen Form. Er selbst benutzte sie bei passenden Gelegenheiten, um Willen zu beugen, Willen zu formen. Aber hier … prallte er gegen etwas völlig Unbekanntes! Als entspränge es einem anders strukturierten Bewußtsein. Nicht wie eine hauchdünne Membran, sondern wie eine stahlharte Barriere umkapselte das Vergessen Beth MacKinsays Langzeitgedächtnis ab einer bestimmten Schwelle! Wußte sie deshalb nichts mehr über sich und ihn? Glaubte sie, diese Lydia zu sein? Landru wußte sehr wohl, daß er sie töten mußte, falls sein Versuch mißlang. Wenn auch nur der leiseste Zweifel blieb, daß der hypnotische Block restlos beseitigt war, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als Beth hier an Ort und Stelle zu vernichten, sonst … … würde sie mich vernichten! Nur wenn es ihm gelang, ihre frühere Persönlichkeit wachzurütteln und unter der undurchdringlich wirkenden Schale hervorbrechen zu lassen, konnte er es riskieren, sie am Leben zu lassen.
Unter keinen anderen Umständen. Und so legte er sein ganzes Können, seine ganze Magie in die Waagschale. Er vergaß die Zeit und den Ort, an dem er war. Er bekämpfte den gletscherkalten, dunklen Panzer im Kopf seiner Feindin, der er die Feindseligkeit austreiben wollte. Er brauchte Verbündete, war auf sie angewiesen, wollte er je wieder in die Zeit zurückfinden, aus der er entführt worden war – und wer hätte ihm eher helfen können als jemand, der es verstand, sich die Zeit Untertan zu machen? Anfangs perlte der Schweiß nur auf Racoons Stirn. Später lief er in Bächen über einen Körper, der noch nie vor dieser Stunde überhaupt je geschwitzt hatte. Doch irgendwann …
* Eucharius stand mit einem erhobenen Knüppel hinter ihr. Landru kauerte vor ihr auf den Fersen. Die Spannung, die ihn erfüllte, entsprang keiner Angst. Er hätte es sich einfach nicht verziehen, wenn es ein Fehler gewesen wäre, sie am Leben zu lassen. Diesmal durfte Beth MacKinsay ungehindert ihre Augen öffnen. Ihre Haut glomm nun nicht mehr so durchscheinend, als ließe sich an diesem Leuchten ihre grundsätzliche Verfassung ablesen. Auch ihre Stärke? Landru wußte, daß Eucharius und der Knüppel nur eine Beruhigungspille waren, die im Ernstfall nichts bewirken würde. Wie sollte man jemanden in Schach halten, der sich urplötzlich tausendmal schneller bewegen konnte? Er wünschte, er wäre imstande gewesen, die Gedanken der am Boden liegenden Frau zu lesen. Da er dies nicht vermochte, wuchs sei-
ne Nervosität von Sekunde zu Sekunde. Endlich öffnete sie nicht nur die Augen, sondern auch den Mund: »Du lebst noch?« Er lächelte karg. »Wie du.« Sein Tonfall sollte ihr klarmachen, wem sie es verdankte, noch am Leben zu sein. Der Ausdruck ihres Gesichts verriet, daß seine Absicht fruchtete. Die Beth MacKinsay, die er aus der Zukunft kannte, war von Vampiren nicht hypnotisierbar gewesen – und auch jetzt vermochte er es nicht, ihr seinen Willen aufzupfropfen. Trotzdem war er in der Lage gewesen, niederzureißen, was ein anderer – wer? – errichtet hatte. »Du behauptest immer noch, Landru zu sein?« fragte die Frau, die sich auf den Ellbogen aufgestützt hatte und den Diener mit dem Knüppel wie Luft behandelte. »Es ist die Wahrheit.« Sie preßte kurz die Lippen zusammen, dann nickte sie. »Warum solltest du dir auch so etwas ausdenken …« »Heißt das, du erinnerst dich an mich?« Wieder dauerte es eine Weile, bis sie antwortete: »Viel bedeutsamer ist, daß ich mich an mich erinnere. – Elisabeth MacKinsay … Großer Gott, es ist nicht nur ein Name, der durch meinen Kopf spukt! Ich sehe Autos, Computer, Flugzeuge … lauter Dinge, von denen ich drüben in der Kirche noch nicht einmal träumen konnte …!« »Das ist die Zukunft«, nickte Landru, vage zufrieden mit dem Verlauf, den ihr Erwachen nahm. »Aber wir befinden uns beide Jahrhunderte von diesen Erfindungen entfernt, und ich möchte wissen, wie du hierher gelangen konntest. Wie du in den Besitz solcher Macht kamst …« Ihre Augen verengten sich ein wenig. »Waren wir dort, woher wir stammen, nicht auch schon – Feinde?« »Nicht ausschließlich«, wiegelte Landru ab. »Und selbst wenn,
sollten wir dies zurückstellen, bis wir es uns wieder leisten können, uns gegenseitig zu schwächen!« »Wahrscheinlich hast du recht.« Er nickte, und auf seinen Wink hin trat Eucharius hinter ihr zurück. Der Prügel fiel abseits zu Boden. »Wie lange irrst du schon in dieser fremden Zeit herum?« richtete Landru seine Frage an Beth. Ihre Antwort traf ihn unvorbereitet: »Im siebzehnten Jahr. Und du?« »Seit wenigen Tagen. Seit ich auf die Wanderschau traf!« Sie deutete zu ihm hoch. »Habe ich dir das zugefügt?« Er verstand nicht, was sie meinte. Doch ihr ausgestreckter Finger und ihr Blick waren beharrlich. Plötzlich erinnerte er sich der Stellen, die ihn in der Kirche am heftigsten gepeinigt hatten. Seine Hand fuhr zur Wange. Dort, unter dem linken Auge, ertastete er etwas so Absurdes, daß er für kurze Zeit von der Hoffnung überwältigt wurde, wieder in seinen eigenen Körper zurückversetzt worden zu sein – so, als hätte sein Geist die Hülle, in die er einst geboren wurde, durch Raum und Zeit nachgeholt. »Eine Narbe …«, murmelte er, fast unhörbar. »Sie sieht aus wie ein Kreuz«, sagte Beth. »Wie das Kreuz, das der Landru trug, den ich besser kenne als dich! – Vorhin, beim Betreten der Kirche, hattest du es jedenfalls noch nicht …« Landru nickte. Dann hob er seine Hand und zeigte ihr das sichtbar gewordene Narbengewebe im Ballen, das so entzündet glomm, wie er es auch von dem Stigma im Gesicht annahm. »Was ist damit?« fragte Beth. »Daran erinnere ich mich nicht.« »Es ist noch nicht so alt, daß du es kennen könntest … höchstens eine Million Jahre«, fügte er hinzu, wobei seine Miene so ausdruckslos blieb, daß die leuchtende Frau nicht sicher sein konnte, ob er es wirklich nur ironisch meinte. »Diese Narbe stammt von der Opferschlange, die ihre Wurzeln in mich schlug, um mich mit dem Blut
meiner Mutter zu füttern … Und sie gehört so wenig zu diesem Körper wie die Kreuznarbe im Gesicht!« Da sie seinen Worten mit Unverständnis begegnete und offenbar auch keine Erklärung hatte, warum diese Narben nun an Racoons Körper blühten, wechselte er das Thema: »In siebzehn Jahren hast du sicher manches herausgefunden, was uns weiterhelfen könnte. Erzähl mir davon – erzähl mir alles! Was war deine erste Station, und wie ging es weiter? Wolltest du etwas Bestimmtes in Paris …?« »Ja. Ein Kind finden.« »Ein Kind?« Landru dachte automatisch an Gabriel und war wie elektrisiert. »Welches Kind?« Eine neben ihm detonierende Bombe hätte ihn nicht tiefer erschüttern können als ihre Antwort: »Mein Kind. Meinen Sohn, den ich hier in dieser Zeit gebar – und der mir gestohlen wurde vom leibhaftigen Satan, dem ich seither folge, woher auch immer mich sein untrüglicher Gestank erreicht …!« ENDE des ersten Teils
Fürsten der Nacht Leserstory von Thomas Backus Düstere Gewitterwolken zogen vor den Mond und machten die Nacht noch finsterer, noch bedrohlicher. Obwohl ich mir meiner selbstauferlegten Aufgabe wohl bewußt war, schlug mein Herz heftiger in meiner Brust. Für einen viel zu langen Augenblick kauerte ich mich hinter den verwitterten Grabstein. Ich wußte, wenn ich jetzt zauderte, dann würde ich meine Furcht nie wieder überwinden. Und das, was ich hier vorhatte, mußte nun einmal getan werden. Ich gab mir einen Ruck und erhob mich. Ein Käuzchen schrie in die Einsamkeit der Nacht hinaus. Lang und klagevoll, beinahe menschlich. Meine Faust klammerte sich krampfhaft um den Griff der Sporttasche, die heute etwas ganz anderes beinhaltete als Turnschuhe. Mit zielsicheren, jetzt kraftvollen Schritten näherte ich mich der alten Familiengruft. Ein verwitterter Marmorengel stand am Tor Wache. Das verwitterte Gesicht der Statue wirkte auf mich wie eine verzerrte, dämonische Fratze; so echt, daß ich das Gefühl nicht loswurde, daß mich diese verfluchte Kreatur jeden Moment anspringen und in die tiefsten Schlünde der Hölle hinabziehen konnte. Natürlich ein Trugschluß meiner überhitzten Nerven. Dieser steinerne Wächter würde mir nichts tun. Er nicht. Das Eisengitter, welches den Eingang versperrte, war alt und verwittert. Der Bewohner dieser Gruft hatte es nicht nötig, es zu öffnen, wenn er es passieren wollte. Im Gegensatz zu mir. Doch ich hatte vorgesorgt. In meiner Tasche befand sich auch ein Brecheisen, welches mir nun gute Dienste leistete. So dauerte es nicht lange, bis ich den alten, zertretenen Stufen in
die Tiefe folgte. Der Staub der Jahrhunderte knirschte unter meinen Schuhen. Immer tiefer ging es hinab in den Untergrund. Dunkelheit umhüllte mich, nur spärlich vertrieben vom schwachen Licht meiner Taschenlampe. Es wurde kühler. Sehr kühl. Außerdem schmeckte die Luft stickiger. Der schleimige Duft der Verwesung legte sich auf meine Lungen. Aber davon ließ ich mich nicht abbringen. Unaufhaltsam schritt ich weiter. Bis ich in die eigentliche Grabkammer gelangte. Für eine Totenkammer war sie erstaunlich groß. Hunderte von Leichnamen hatten hier ihre letzte Ruhe gefunden, ob in steinernen Sarkophagen oder in längst zerfallenen Holzsärgen. Manche Toten hatte man einfach nur in eine der unzähligen Nischen gebettet. Ich kam mir fehl am Platze vor. Mir war, als schrien mir die Mauern dieses Mausoleums zu, ich solle verschwinden. Dies war das Reich des Todes, wo Lebendiges nichts verloren hatte. Alles in mir drängte danach, diesen Ort zu verlassen – aber ich konnte es nicht. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Ich bahnte mir einen Weg durch die morschen Gebeine, wischte durch den Staub der Toten. Skelette, Mumien oder einzelne Knochen und Schädel säumten meinen Weg durch die Dunkelheit. Endlich gelangte ich an mein Ziel. Ein einzelner Sarkophag stand vor mir. Sein steinerner Deckel war so oft bewegt worden, daß er längst zerbrochen war; vielleicht schon vor Jahrhunderten, wer vermochte das schon zu sagen? Die steinerne Truhe war alt und schmucklos. Kein Steinmetz hatte je einen Namen eingehauen. Jeder Schnörkel war hier unten nutzloser Tand. Was zählte, war ein Material, das die Ewigkeiten überdauerte – und natürlich das, was ewiger währte als selbst der Stein. Eine gewaltige Ehrfurcht, gepaart mit schauriger Beklemmung, erfüllte mein Herz, und ich war mir mit einemmal gar nicht mehr so sicher, ob ich mein Vorhaben wirklich ausfuhren sollte. Doch für eine Umkehr war es längst zu spät. Leise Schritte ließen die Stille der Grabkammer erzittern.
Er kam! Langsam. Kraftvoll. Gefährlich. Dieses Wesen, diese Kreatur, welches ich so herbeigesehnt hatte und vor dem ich mich so unendlich fürchtete. Ich wich langsam zurück, stolperte blindlings nach hinten, bahnte mir wieder meinen Weg durch die Überbleibsel der hier Bestatteten. Angstvoll kauerte ich mich in den hintersten Winkel der Gruft. Verkroch mich hinter dem Schatten eines Kruzifixes, welches meine zitternde Hand kaum zu halten vermochte. Die Kreatur war vor mir. Ich konnte sie nicht sehen, denn sie verschmolz mit der Dunkelheit. Sie war die Dunkelheit; jene Dunkelheit, die dunkler war als die Schatten der Schatten. Jene Dunkelheit, welche die Seele erzittern läßt. Aber ich spürte sie. Da war ein Hauch von Moder, noch kräftiger, noch existentieller als der Duft der Toten, die mich umgaben. Da war ein Hauch von Grausamkeit und Mordgier, der meine Brust umklammerte und mein Herz am Schlagen hinderte. Und da waren Augen, so böse und gemein, daß ich ihren Blick nicht zu ertragen vermochte. »Jetzt habe ich dich da, wo ich dich haben wollte!« Meine Stimme klang ganz und gar nicht so fest und bestimmend, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber ich war auch noch nie mit einem wie ihm konfrontiert worden. Keine der uralten Legenden konnte seiner gerecht werden. Und wenn man ihn noch so blutig beschrieben hatte, seine wahrhaftige Erscheinung konnte man einfach nicht in Worte fassen. Doch so, wie ich den bösartigen Geifer seines Hasses spüren konnte, so bemerkte ich auch sein Zögern. Er hätte mich wahrhaftig in Stücke gerissen, hätte mich zerfetzt – aber er konnte es nicht. Zwischen uns stand die geballte Macht Gottes, und war mein Kruzifix auch noch so armselig, so trug es doch die gesamte Liebe Jesu in sich. Das gab mir Mut. Meine nächsten Worte klangen nicht mehr ganz so weinerlich. »Du wirst jetzt alles tun, was ich von dir verlange!«
Wie rotglühende Kohlen loderten seine Augen auf meiner Seele. Sein Haß schien sich noch zu verstärken, wollte mich zu Staub verbrennen. Doch gegen das Kreuz kam er nicht an. Sein bleiches, totes Fleisch nickte. Ein Nicken, das mich zu zerschmettern drohte. Und das mich ermutigte, meinen Entschluß in die Tat umzusetzen. Wie in selbstmörderischer Absicht ließ ich das geweihte Kleinod fallen. Ein Lächeln stahl sich auf meine bibbernden Lippen: »Mache mich zu einem Vampir!« Die Kreatur der Nacht sah mich durchdringend an. Für einen Augenblick schien die ganze Aura des Schreckens in sich zusammenzufallen. Der Nosferatu war überrascht. Er, der die Jahrhunderte, die Jahrtausende überdauert hatte, war für einen winzigen Augenblick aus dem Konzept gebracht. Doch die Macht der Hölle legte sich sofort wieder über ihren Fürsten, kleidete ihn erneut in den purpurnen Mantel des Bösen. Sein Blick brannte wieder auf meiner Seele, die ich ihm soeben auf einem silbernen Tablett serviert hatte. Ja, ich wollte ein Vampir sein. Schon immer hatten mich diese Geschöpfe fasziniert. Und das schon zu Zeiten, in denen ich noch nicht einmal einen Schatten ihrer selbst geschaut hatte. Ich hatte jeden Film und jedes Buch über sie verschlungen. Sie waren die wahren Fürsten der Dunkelheit; ihre Fähigkeiten grenzten an Allmacht. Sie konnten sich in Fledermäuse und Wölfe verwandeln, auf Mondstrahlen reiten, und sie konnten uneingeschränkte Macht über die Menschen ausüben. Was machte es da schon, daß sie Knoblauch, Kreuze und Eichenpfähle meiden mußten? Es gab genug Orte auf dieser Erde, wo diese unheilvollen Gegenstände nicht vorhanden waren. Und hatte der Blutkuß nicht etwas ungemein Erotisches an sich? Mich hatte es immer gereizt, beim Liebesspiel meine Partnerin neckisch in den Hals zu beißen. Kaum zu vergleichen mit der banalen Nahrungsaufnahme der Menschen.
Und nun hatte ich die Gelegenheit, selbst zu einem der dunklen Fürsten zu werden, unendliche Macht und unbeschreibliche Freuden zu genießen! Sofern mich dieses Wesen bar meines Schutzes nicht einfach in Stücke riß … Ein Lachen, von einer Bösartigkeit durchdrungen, die ich nie für möglich gehalten hatte, hallte von den Wänden der Leichenkammer wider. Dann paarte sich der Haß in seinen Augen mit einer grauenvollen, unbeschreibbaren Gier, und der Dämon stürzte sich mit gebleckten Fängen auf meine bleiche Kehle. Wie kalter Marmor fetzten seine Hauer in mein Fleisch, rissen meine Halsschlagader in Stücke. Mein Blut besudelte die Wände der Totengruft. Sein Maul umklammerte meine Wunde, und er saugte sich an mir fest, während mein kostbares Blut in seine Kehle strömte. Bis zum letzten Tropfen. Bis zum Tod. Und mit dem Tod kam die Kälte. Nicht die der Gruft; die wäre zu ertragen gewesen. Die entsetzliche Kälte der Hölle grub sich tief in mein Fleisch, in meine Knochen. Erfüllte jeden Faser meines Seins. Hastig entriß ich einem der Leichname den Mantel. Er vermochte mich nicht zu wärmen. Voller Grausen erfaßte ich die Erkenntnis. Vampire waren keine Fürsten, die das untote Dasein genossen – sie waren einzig und allein Sklaven dieser alles verschlingenden Kälte, der sie nur für einen winzigen Augenblick zu entfliehen vermochten, wenn sie das Blut tranken. Blut war Leben, und Leben war Wärme! Feuer war Reinheit; die Hölle bestand aus Kälte. Die Legenden waren nichts als himmelschreiende Lügen, ausgedachte Propaganda der Hölle, doch zu erkennen vermochten dies nur die Verdammten, die Verlorenen – und ich gehörte nun dazu … ©Thomas Backus, Hohenfelsstr. 27, 35.232 Dautphetal
Die Loge der Nacht von Adrian Doyle und Timothy Stahl
Äußerlich waren sie normale Menschen, doch ihr Geist wurde vom Bösen beherrscht. Ihr Ziel war es, einen Ort zu schaffen, wo Satan sich manifestieren und sein Reich auf Erden errichten konnte. Sie nannten sich die »Loge der Nacht«. Ihre Waffen waren Lüge, Hinterlist, Verrat – und Schwarze Magie. Mit ihr schufen sie eine Armee der Spinnen, die ihr schleichendes Gift in alle Gassen und Winkel der Stadt tragen sollte. Doch es regte sich Widerstand. Gottesfürchtige Männer, die die Ziele der Loge durchschaut hatten, fanden zusammen, um sich gegen den Dunklen Plan zu stellen. Man schrieb das Jahr des Herrn 1635. Die Stadt wurde Heidelberg genannt. Es war die Zeit einer großen Schlacht des Guten gegen die Übermacht des Bösen …