Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 699 Das Juwel von Alkordoom
Diener des Juwels von Marianne Sydow
Die...
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Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 699 Das Juwel von Alkordoom
Diener des Juwels von Marianne Sydow
Die Steppenpiraten schlagen zu
Im Jahr 3818 wird Atlan aus seinem Dasein als Orakel von Krandhor herausgerissen. Sein neuer Einsatzort ist die Galaxis Alkordoom, wo eine Entwicklung im Gang ist, die das weitere Bestehen der Mächte der Ordnung in Frage stellt. Bereits die ersten Stunden von Atlans Aufenthalt in der neuen Umgebung zeigen auf, wie gefährlich die Situation ist. Der Arkonide hätte längst sein Leben verloren, hätten die Celester, nach Alkordoom entführte Terra‐ Abkömmlinge, oder ANIMA, das von den Kosmokraten ausgesandte Raumschiff, nicht zugunsten Atlans eingegriffen. In seinem Bestreben, mehr über die Zusammenhänge in Alkordoom zu erfahren, ist unser Held bereits große Risiken eingegangen, wie seine gewagten Unternehmen beweisen. Kein Wunder daher, daß Atlan immer wieder in Schwierigkeiten gerät, wie etwa in Yog‐Mann‐Yogs Gefangenschaft oder in den Bann der Plasmaparasiten, aus dem er nur durch die Samariter von Alkordoom befreit werden kann. Als diese selbst in Not geraten, ist Atlan selbstverständlich zur Stelle, um seinerseits zu helfen. Anschließend macht der Arkonide sich an die Rettung ANIMAS, doch als er wieder die Sonnensteppe ansteuert, erwarten ihn bereits die DIENER DES JUWELS …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide im Gewahrsam des Erleuchteten. ANIMA ‐ Das lebende Raumschiff am Ende seines Weges. Colemayn ‐ Der Weltraumtramp taucht wieder auf. Arien Richardson ‐ Kommandant der VIRGINIA. Jallesh ‐ Der Planetarier erhält einen Auftrag des Erleuchteten. Kaldrin ‐ Ein Steppenpirat, der Atlan verhört.
1. Der Planetarier Jallesh hatte normalerweise einen außerordentlich guten Schlaf, und es war sehr ungewöhnlich, daß er mitten in der Nacht hochfuhr, mit jagendem Puls und heißer, feuchter Haut, als hätte ein Fieber ihn gepackt. Im ersten Moment wußte er nicht, wo er sich befand, denn das gewohnte Nachtlicht brannte nicht, und als er mit allen vier Händen um sich tastete, fand er keines der vertrauten Schaltelemente. Dann entdeckte er das Fenster, richtete sich hastig auf und starrte auf die seltsam geformten Hügel von Kous‐Mathonn, die sich wie ein Heer von erstarrten Riesen‐Juptern gegen den glimmenden Nachthimmel abhoben. Jetzt erinnerte er sich: Der See der Zwillinge, die Hügel von Kous‐ Mathonn – er war hierhergekommen, um ein wenig auszuspannen, aber es schien, als sei er zum falschen Zeitpunkt auf diese Idee verfallen. Es war Frühling in Kous‐Mathonn, und die Gegend war völlig überlaufen. Er hatte sich trotz seines hohen Ranges mit einer winzigen Kammer begnügen müssen, deren Wände dünn wie Kragenleder waren. Das blubbernde Schnarchen seines linken Nachbarn war ebenso deutlich hörbar gewesen wie das liebeskranke Gezwitscher eines Kazmortels zur Rechten. Jetzt war kein Laut zu vernehmen, und nicht einmal Jalleshs Warner gab ein Piepsen von sich. Der Planetarier ertastete endlich einen Kontakt, und die
Deckenbeleuchtung schaltete sich flackernd und knisternd ein. Der Kazmortel befand sich nicht in seinem Schlafnest. Das war das erste, was Jallesh bemerkte. Im ersten Moment hegte Jallesh allen Ernstes den Verdacht, das Tierchen könne sich heimlich davongemacht haben, um mit dem verliebten Kazmortel von nebenan zu flirten, aber dann sah er den Warner, und er erschrak. Das kleine Tier lag auf dem Boden, als wäre es tot. Als Jallesh den Kazmortel aufhob, spürte er jedoch Leben in dem winzigen, federleichten Körper. Hilflos saß er da und wärmte den Warner zwischen zwei Händen. Nach einiger Zeit begann das Tierchen zu zucken. Jallesh öffnete die Hände. Der Kazmortel hockte benommen da, begann dann sein hellblaues Gefieder zu ordnen und spähte dabei immer wieder zu Jallesh hinauf. »Was war mit dir los, Chubim?« fragte der Planetarier leise. Der Kazmortel legte den Kopf schräg und ließ ein leises, sehr hohes Pfeifen hören. »Du mußt dich irren, mein Kleiner«, bemerkte Jallesh tadelnd. »Hier droht uns keine Gefahr. Ich weiß nicht, worauf du diesmal hereingefallen bist. Wahrscheinlich hast du nur schlecht geträumt – genau wie ich.« Das war die einfachste Erklärung, denn es kam relativ oft vor, daß ein Kazmortel nicht nur vor Gefahren warnte, sondern auch auf die Emotionen seines Herrn ansprach – und Jalleshs Alptraum war äußerst intensiv gewesen. Noch jetzt schüttelte es ihn, wenn er nur daran dachte. Welch gräßliche Vorstellung, die hohe Position als Planetarier zu verlieren und als einfacher Pirat in der Sonnensteppe herumirren zu müssen! Der Kazmortel schüttelte sein Federkleid zurecht, flatterte heftig mit den Flügeln und piepste langgezogen. Dann flog er zu seinem Schlafnest, setzte sich auf dessen Rand und stimmte ein schrilles Gezeter an. »Wirst du wohl endlich den Schnabel halten?« schimpfte Jallesh entsetzt. »Du weckst unsere Nachbarn auf …«
Aber es war bereits zu spät, denn von rechts und links hörte er das Geschrei anderer Warner, die Stimmen aufgebrachter Jupter und ein lautes Klopfen, das von der Tür her kam. Jallesh schlug ärgerlich auf einen Knopf, bereit, auf seinen Rang zu pochen und notfalls mitten in der Nacht diese schäbige Herberge räumen zu lassen, falls es dem Wirt einfallen sollte, ausfallend zu werden. Der Jupter, der an der sich öffnenden Tür stand, machte jedoch keinen kampfbereiten Eindruck. Er schlotterte am ganzen Leibe, und als er zu sprechen versuchte, kamen nur einige unartikulierte Laute dabei heraus. »Der blaue Turm …«, verstand Jallesh schließlich mit einiger Mühe. »Der Erleuchtete …« Mehr brauchte er nicht zu hören. Er steckte den Kazmortel einfach in die Tasche und eilte auf seinen vier kurzen Beinen davon. * Der blaue Turm stand im Zentrum der Ebene von MʹShosh, umgeben von zahlreichen kuppelförmigen Gebäuden und weitläufigen Grünanlagen, in denen sich hier und da kleine Tempel erhoben. Offiziell war das ganze Gebiet dem Erleuchteten geweiht, aber inoffiziell standen in vielen der alten Tempel noch die Statuen jener Götter, denen die Jupter in grauer Vorzeit gehuldigt hatten. Der Erleuchtete erfreute sich keineswegs der ungeteilten Anbetung von Seiten der Steppenpiraten. So mancher Jupter benutzte den Namen des Juwels ausschließlich dazu, die Sonnensteppe im allgemeinen mit allerlei Flüchen zu belegen. Nur bei den Planetariern war das anders, denn sie hatten Grund, den Erleuchteten zu fürchten. Zwar hatten auch sie den Erleuchteten nie gesehen, aber einige von ihnen kamen hin und wieder in den zweifelhaften Genuß der Gnade, ihn zumindest zu hören. Als Jallesh beim blauen Turm anlangte, standen dort bereits an die
zweihundert Planetarier herum, alle mit roten Kragen und von hohem Rang, aber bisher hatte sich keiner von ihnen in den Turm hineingewagt. Jallesh beneidete sie, denn er war der Ranghöchste, und sie konnten sich darauf berufen, daß sie ihm den Vortritt lassen wollten. Wenn er sich schon der Stimme im Turm stellen mußte, so wollte er das jedoch nicht ganz ohne Rückendeckung tun. Außerdem war dies eine günstige Gelegenheit, seinen Gegnern und Neidern einen Denkzettel zu verpassen. Jallesh hatte die Stimme des Erleuchteten schon einmal vernommen, und er wußte, welche Wirkung sie auf die Jupter ausübte. Es war noch immer Nacht, und auf der Spitze des Turmes pulsierte das blaue Licht. Auf dem Planeten Djornk war der blaue Turm die einzige Kontaktstelle des Juwels. Jalleshs Untergebene bildeten ein langes Spalier, und er schritt hindurch und wählte im Vorübergehen seine Begleiter aus. Als er die Tür erreichte, die in den blauen Turm hineinführte, folgten ihm die dreißig machthungrigsten Jupter von ganz Djornk. Jeder von ihnen hätte Jallesh bedenkenlos mattgesetzt, wenn er eine Möglichkeit dazu gefunden hatte. Die Folge davon war, daß einige der Delegierten ausgesprochen gierig darauf waren, die Stimme des Erleuchteten zu hören. Jallesh beobachtete sie mit geheimer Schadenfreude, bis er die Tür durchschritt. Von diesem Augenblick an zog er es vor, sich zu konzentrieren und sich abzublocken, so gut es eben ging. Nur wenige Jupter gelangten jemals in ihrem Leben in das Innere eines Kontaktturmes, und es gab ein Tabu, das es denen, die Bescheid wußten, verbot, ihre Kenntnisse auszuplaudern. Jallesh hielt in der Vorkammer an, wies auf eine lange Reihe von Schlafnestern und empfahl seinen Begleitern, ihre Kazmortel dort abzusetzen. Jalleshs Chubim machte den Anfang. Andere Kazmortel weigerten sich strikt, sich von ihren Herren trennen zu lassen, aber endlich gaben auch sie Ruhe, und Jallesh öffnete die zweite Tür.
Der Raum, in den sie gelangten, war völlig finster, nur aus großer Höhe drang ein schwacher, pulsierender Lichtschein herab, gerade ausreichend, um die Jupter eines erkennen zu lassen: Das Innere des Turmes war völlig leer. Sie standen auf dem Grund eines viele hundert Meter hoch aufragenden, hohlen Pfeilers. »Wir müssen in die Mitte gehen«, erklärte Jallesh. Seine Stimme klang dumpf und unheimlich in dieser seltsamen Umgebung. Er schritt voraus, und indem er sich an die Markierungen hielt, erreichte er die genaue Mitte der kreisförmigen Fläche. Die Jupter folgten ihm nur zögernd. Wenn er jetzt die Kontaktplatte betreten und den Erleuchteten gerufen hätte, wäre er fast alle ernsthaften Konkurrenten auf einen Schlag losgewesen. Aber Jallesh war nicht der Jupter, der so etwas tun konnte. »Ihr müßt näher zu mir herkommen!« rief er den anderen zu. »Wenn der Erleuchtete zu uns spricht, kommt das blaue Leuchten die Wände herab. Wer sich dort aufhält, ist verloren. Nur hier, im inneren Kreis, sind wir sicher!« Einige trauten ihm und kamen rasch zu ihm herüber. Andere versuchten, die Tür zum Vorraum von innen her zu öffnen, mußten aber feststellen, daß das nicht möglich war. Jallesh wartete auf sie, bis das Licht in der Höhe intensiver wurde und langsam an den Wänden des Turmes herabkroch. »Beeilt euch!« rief der Planetarier denen zu, die noch immer zögerten. »Dieses Leuchten ist tödlich. Kommt in den inneren Kreis!« Da endlich reagierten sie. Das Licht war bereits in halber Höhe des Turmes angelangt. Es hing wie ein drohendes, bläulich flimmerndes Gespinst über den Köpfen der Jupter. Jallesh trat auf die Kontaktplatte, entschlossen, es endlich hinter sich zu bringen. Das blaue Licht sank rasch herab, sammelte sich zu einer gleißenden Zone rund um den inneren Kreis, und dann erklang die
Stimme des Erleuchteten. Die Botschaft war kurz und bündig: »Aus den Sektor Janzonborr nähern sich zwei Raumschiffe, die nichts im Bereich der Sonnensteppe zu suchen haben. Eines dieser beiden Schiffe ist kugelförmig und trägt den Eigennamen VIRGINIA, das andere ist von veränderlicher Form und wird ANIMA genannt. In einem dieser Schiffe, wahrscheinlich in dem Objekt namens ANIMA, befindet sich ein Wesen, das sich Atlan nennt. Dieses Wesen ist ein überaus gefährlicher Gegner, der schon einmal in die Sonnensteppe eingedrungen und euch Juptern entkommen ist. Ich wünsche, daß der Fremde eingefangen und zu einem meiner Augen geschafft wird.« Das blaue Leuchten konzentrierte sich zu einem so grellen Ring rund um den inneren Kreis, daß Jallesh die Augen schließen mußte. Die anderen Jupter lagen in demütiger Haltung am Boden. Jallesh widerstand der Versuchung, es ihnen gleichzutun, obwohl er nicht wußte, woher er die Kraft dazu nahm. »Du, der du noch stehst, wo alle anderen sich neigen, sollst diese Aufgabe übernehmen«, fuhr der Erleuchtete fort. »Geh und bring mir den Fremden!« Das blaue Leuchten stieg sehr schnell im Innern des Turmes auf. Viel zu spät dachte Jallesh daran, daß er genug Zeit gehabt hätte, die Kontaktplatte zu verlassen oder zumindest ebenfalls eine demütige Haltung einzunehmen. Inzwischen hatten die anderen längst gemerkt, daß der unmittelbare Druck von ihnen gewichen war. Sie spähten zu ihm hin und sahen ihn in aufrechter Haltung. Damit war sein Schicksal besiegelt. * Jallesh gehörte zu den wenigen Juptern, die sich keineswegs sicher waren, als was sie den Erleuchteten anzusehen hatten. Er glaubte
nicht, daß es sich wirklich um eine Gottheit im ursprünglichen Sinne handelte. Manchmal dachte er sogar, daß es den Erleuchteten gar nicht gab, sondern daß es sich um eine Gruppe von machthungrigen Wesen handeln mochte, die im Innern des Nukleus hausten. Er hatte Gerüchte von einem Objekt oder einem Wesen namens EVOLO gehört, an dessen Vollendung der Erleuchtete arbeiten sollte. Er wußte nicht, was er sich unter EVOLO vorstellen sollte. Es hieß, daß EVOLO dem Erleuchteten zu noch mehr Macht verhelfen sollte, und Jallesh fragte sich, ob das überhaupt möglich war. Der Erleuchtete herrschte über die ganze Galaxis Alkordoom. Sowohl die Steppenpiraten als auch die Facetten waren im Grunde machtlos, wenn sie sich nicht auf den Erleuchteten berufen konnten, und wenn diesem unheimlichen Wesen im Zentrum von Alkordoom das Verhalten eines noch so hochgestellten Planetariers oder einer Facette mißfiel, dann war dieses Mißfallen mit einem Todesurteil gleichzusetzen. Macht über eine ganze Galaxis – war das nicht genug? Aber es stand einem Jupter nicht zu, sich über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Der Erleuchtete ließ die Steppenpiraten im allgemeinen in Ruhe, und es gab nur wenige Völker in Alkordoom, die das von sich behaupten konnten. Es gab keine Psi‐Jäger im Bereich der Sonnensteppe. Die Piraten konnten in Ruhe ihre Beutezüge unternehmen, und nur selten leuchtete das blaue Licht auf. Oft vergingen viele Jahre, bevor wieder einmal ein direkter Befehl des Erleuchteten an die Jupter erging. Jallesh wußte das alles, und bisher war er der Ansicht gewesen, daß sie alle es nicht schlecht getroffen hatten. Die Jupter hatten keine Feinde, und wer es einmal zum roten Kragen des Planetariers gebracht hatte, der konnte ein bequemes Leben führen. Und nun war es zum erstenmal geschehen, daß der Erleuchtete mit diesen Traditionen brach. Jallesh war sich der Tatsache bewußt, daß dies ein Ereignis von historischer Bedeutung war. Sein Name würde in die Geschichte
eingehen: Jallesh war der erste Planetarier, der in den freien Weltraum zurückkehrte, um dort einen ihm direkt erteilten Auftrag des Erleuchteten zu erfüllen. Vielleicht hätte ihn das stolz machen sollen – aber das war leider nicht der Fall. Als er den blauen Turm verließ und die anderen ausschwärmten, um vom Befehl des Erleuchteten zu berichten, fühlte Jallesh sich wie ein Todeskandidat. Der Kazmortel saß bedrückt auf Jalleshs Kopf und piepste klagend vor sich hin. Im Osten stieg die Sonne über den Horizont und überschüttete die Ebene von MʹShosh mit goldenem Glanz, aber Jallesh sah nur den langen, schwarzen Schatten, den der blaue Turm warf. 2. Alkordoom war nicht gerade das, was man eine Miniaturgalaxis nennen konnte. Der Nukleus, also jener Bereich, von dem man nach allen bisherigen Erkenntnissen annehmen mußte, daß er allein dem Erleuchteten gehörte, hatte einen Durchmesser von achtundzwanzigtausend Lichtjahren. Die Sonnensteppe umgab diesen Kern in Form einer Kugelschale, deren Dicke neun‐ bis zehntausend Lichtjahre maß. Es war ein gewaltiges Gebiet, und die Idee, darin nach einem bestimmten Objekt zu suchen, von dem man nicht mehr als den Namen wußte, ließ die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen wie ein Kinderspiel erscheinen. Das Objekt, das man finden wollte, hieß MEMORIUM und war offenbar eine Art von Archiv. Es befand sich am »inneren« Rand der Sonnensteppe, also in unmittelbarer Nähe des Nukleus. Oder besser gesagt: Es sollte sich dort befinden. »Glaubst du, daß wir wirklich eine Chance haben, das MEMORIUM zu finden?« fragte ANIMA skeptisch. »Eine Chance besteht immer«, erwiderte Atlan. »Es sieht in Wirklichkeit nicht ganz so schlecht aus, wie es auf den ersten Blick
scheinen mag. Wir haben Dhonat und seine Träume, und wir haben Mycara. Wir wissen, daß das MEMORIUM lebende Wesen als Datensammler benutzt, und daß es mindestens drei davon gibt.« »Von denen einer tot ist«, stellte ANIMA fest. »Wer weiß, was mit den beiden anderen geschehen ist. Sie können wie RHM‐3 bei irgendeiner Facette festsitzen, aber selbst wenn sie noch am Leben und aktiv sein sollten – ich weiß nicht, in welcher Weise uns das helfen könnte. Sie hier in Alkordoom zu finden, dürfte genau so schwierig sein, wie das MEMORIUM zu entdecken.« »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?« fragte Atlan nachdenklich. »Umkehren«, erwiderte ANIMA prompt. »Und dann?« »Wir könnten versuchen, eine der Facetten auszuhorchen.« »Hast du den. Eindruck, daß das Wesen sind, die sich so einfach aushorchen lassen?« »Natürlich nicht«, sagte ANIMA gereizt. »Aber wir könnten es doch wenigstens versuchen.« »Eben«, konterte Atlan. »Wir können auf gut Glück versuchen, draußen Informationen zu bekommen – oder aber das MEMORIUM zu finden. Es kommt alles auf dasselbe heraus. Ich persönlich glaube, daß wir hier in der Sonnensteppe die besseren Chancen haben.« »Wie du meinst«, murmelte ANIMA. »Wenn es schiefgeht, solltest du dich nicht bei mir beklagen.« »Das werde ich ganz bestimmt nicht tun«, versicherte der Arkonide besänftigend. »Wie kommst du voran?« »Nicht so schnell, wie ich gerne möchte. Ich mache mir Sorgen wegen des Steppenwindes. Wissen deine Freunde in der VIRGINIA Bescheid?« »Sie sind gewarnt und vorbereitet. Außerdem sind Dhonat, Wasterjajn Kaz und die beiden Kjokerinnen bei ihnen. Wegen der VIRGINIA solltest du dir keine Gedanken machen.«
»Ich tue es aber«, gab ANIMA ärgerlich zurück. »Es sind Menschen an Bord, und die VIRGINIA ist nur ein gewöhnliches Raumschiff.« »Die Steppenpiraten haben auch nur das, was du als gewöhnliche Raumschiffe bezeichnest, und sie kommen ganz gut damit zurecht.« »Daran zweifle ich nicht. Aber wie gut bist du über ihre Raumschiffe informiert?« »Stimmt etwas nicht?« fragte Atlan mißtrauisch. »Fehlt dir etwas, oder merkst du den Steppenwind?« »Es geht mir großartig!« behauptete ANIMA. »So, und warum bist du dann so gereizt und pessimistisch?« »Das bin ich nicht. Ich sehe die Dinge nur so, wie sie wirklich sind.« »Und wie sieht es deiner Meinung nach aus?« »Das werde ich dir lieber nicht erzählen«, erwiderte ANIMA schnippisch. »Da vorne kommt übrigens etwas auf uns zu.« »Ich kann vorne aber nichts entdecken.« »Das habe ich mir gedacht. In dieser Hölle sind die Geräte der KORALLE nichts wert – und die der VIRGINIA auch nicht. Das ist einer der Punkte, über die ich mir Sorgen mache. Atlan, wir sind hier unseres Lebens nicht sicher. Laß uns umkehren, oder schicke wenigstens die VIRGINIA zurück! Ich weiß, du denkst, daß zwei Schiffe gegen die Steppenpiraten mehr ausrichten können, aber ich fürchte, hier sind ein paar unbekannte Faktoren im Spiel, die du in deine Berechnungen nicht einbeziehen konntest.« Der Arkonide blickte durch eine transparente Fläche nach draußen. Das Bild, das sich ihm bot, war durchaus nicht ungewohnt. Hier, im äußeren Bereich der Sonnensteppe, standen auch die Sterne noch nicht so auffallend dicht beieinander, wie es zweifellos näher zum Zentrum hin der Fall war. Wenn man davon absah, daß es auffallend viele Wolken kosmischen Staubes gab, dann gab es hier nichts zu entdecken, was ungewöhnlich gewesen wäre. Sie befanden sich im freien Weltraum, und dieser sah hier nicht anders aus als in
anderen Galaxien auch. »Was ist es?« fragte er. »Ein Piratenschiff?« »Ich glaube kaum. Es steckt hinter diesem leuchtenden Nebel dort vorne, und es ist zu groß für ein Piratenschiff. Es mag sich verrückt anhören, aber ich glaube fast, es ist ein Lebewesen.« »Vielleicht ein Plasma‐Psi‐Torso?« »Dafür ist es viel zu groß. Jetzt bewegt es sich. Ich glaube, es hat uns ebenfalls bemerkt.« »Kommt es näher?« »Ja, aber nur langsam. Es wirkt ängstlich. Wir sollten ihm ausweichen.« »Wenn es ängstlich ist, wird es uns wohl kaum angreifen«, vermutete Atlan. »Bist du sicher, daß es ein lebendes Wesen ist?« »Nein.« »Wir werden es uns trotzdem ansehen. Ich verständige die VIRGINIA. Warte solange.« Arien Richardson in der VIRGINIA reagierte mißtrauisch und abweisend. »Wir sollten uns jetzt und hier nicht trennen«, bemerkte er. »Es könnte eine Falle sein.« »Eben darum möchte ich, daß ihr den Nebel umfliegt. ANIMA kann sich dort drinnen bewegen und orientieren – für euch wäre das ein zu hohes Risiko. Wenn es eine Falle ist, dann hat ANIMA erstens die besseren Chancen, davonzukommen, und zweitens könnt ihr uns zu Hilfe eilen, sobald wir wieder aus dem Nebel heraus sind.« Atlan sah, daß Mycara sich bewegte, und wartete geduldig. »Meine kleine Freundin hier behauptet, daß sie das fremde Wesen spüren kann und daß es sanft und gutmütig ist«, erklärte der Celester und streichelte Mycara, die wie ein dünner Pelzkragen um seinen Hals geringelt lag. »Aber sie spürt auch Impulse von Angst. Du solltest sehr vorsichtig sein, Atlan!« »Keine Sorge, ich werde schon aufpassen.« Während ANIMA sich dem Nebel näherte, beobachtete Atlan die
VIRGINIA, die – so sah es wenigstens aus – steil nach unten zog, um den kürzesten Weg um das Hindernis herum zu suchen. ANIMA dagegen drang schon nach kurzer Zeit in die Wolke ein. Für die nächste Zeit war Atlan auf ANIMAS Aussagen angewiesen, denn die Geräte der KORALLE versagten im Innern des Nebels völlig. Durch die transparenten Flächen sah man nichts als ein Gewirr von leuchtenden Schemen und dunklen Schatten. »Es hat gemerkt, daß wir uns ihm nähern«, bemerkte das Schiff nach geraumer Zeit. »Es zieht sich aber nicht zurück. Ich glaube; es betrachtet diesen Nebel als sein Versteck. Es flieht zur Seite. Der Nebel ist dort so dicht, daß selbst ich es kaum noch ausmachen kann.« »Glaubst du, daß du dich mit ihm verständigen kannst?« »Woher soll ich das wissen«, erwiderte das Schiff schlechtgelaunt. »Was immer es ist – wir sollten es in Ruhe lassen!« »Erst möchte ich versuchen, ihm ein paar Fragen zu stellen.« »Du glaubst doch wohl nicht, daß es den Standort des MEMORIUMS kennt?« Atlan verzichtete auf eine Antwort. Er sagte sich, daß ANIMA eine schwere Zeit hinter sich hatte und wahrscheinlich immer noch unter den Nachwirkungen litt. Ein dumpfes Geräusch ließ ihn zusammenschrecken. »Was war das?« fragte er. »Nur ein Gesteinsbrocken«, erklärte ANIMA nüchtern. »Ich verringere die Geschwindigkeit. Wir sind dem Versteck schon sehr nahe.« Es rumpelte noch ein paarmal, aber keiner der Brocken konnte ANIMA etwas anhaben. »So«, sagte das Schiff schließlich. »Jetzt ist es direkt vor uns. Wie soll es nun weitergehen?« Atlan blickte nach draußen, aber mit bloßem Auge sah er so gut wie nichts. Er blickte auf die Geräte in der KORALLE, aber die lieferten nur
unsinnige Werte, sofern sie nicht einfach streikten. »Vielleicht reagiert es auf Lichtzeichen«, meinte der Arkonide. »Ich werde es versuchen.« Auf irgendeine Weise ließ ANIMA einen Teil ihrer Oberfläche rhythmisch leuchten. Erst jetzt konnte Atlan deutlich erkennen, daß sie in einer dichten Wolke aus Staub und Gesteinstrümmern steckten. Von dem fremden Wesen sah er nichts – bis die gesamte Umgebung plötzlich in Aufruhr geriet. »Festhalten!« schrie ANIMA und bildete gleichzeitig um den Arkoniden herum schützende, weiche Wände. Etwas ungeheuer Großes rannte das lebende Raumschiff förmlich über den Haufen und ließ es haltlos umhertrudeln. Kleine Gesteinsbrocken prasselten wie Hagel auf ANIMA ein. Dann trat ebenso plötzlich wieder Ruhe ein. »Es ist abgehauen«, bemerkte ANIMA salopp. »Was jetzt? Soll ich ihm folgen?« »Was denn sonst? Beeile dich, wir dürfen seine Spur nicht verlieren.« »Es scheint an einem Gespräch nicht sehr interessiert zu sein.« »Weil es Angst hat. Wahrscheinlich wird es von den Steppenpiraten oder anderen Schergen des Erleuchteten gejagt. Wenn es merkt, daß wir nicht zu seinen Gegnern gehören, wird es sicher freundlicher reagieren.« »Du bist der Ritter«, erklärte ANIMA in einem Tonfall, der sich nach einem resignierenden Schulterzucken anhörte. »Ich habe also zu gehorchen.« Atlan sah schweigend zu, wie erneut die leuchtenden Schwaden vor dem Fenster vorbeizogen. Er war sich selbst nicht sicher, ob diese Jagd einen Sinn hatte. Er wußte nur eines: Er brauchte jeden Hinweis, den er bekommen konnte, und ein Wesen, das fähig war, im Vakuum zu existieren und frei in der Sonnensteppe umherzustreifen, konnte ihm wahrscheinlich eine ganze Menge Hinweise liefern.
»Es wird den Nebel verlassen«, verkündete ANIMA nach einiger Zeit. »Aber die Richtung, die es dafür gewählt hat, gefällt mir nicht. Die VIRGINIA wird eine Weile nach uns suchen müssen.« »Sobald wir aus dem Nebel heraus sind, können wir Arien über Funk verständigen.« »Ich fürchte, das ist ein Irrtum. Der Nebel wird zwischen uns und der VIRGINIA sein. Atlan, laß dieses Wesen in Ruhe. Es hat Angst, und es fühlt sich angegriffen. Wir wissen nicht, auf welche Weise es sich wehren kann.« »Was kann es dir schon anhaben. Du bist so gut wie unzerstörbar.« »Aber eben auch nur so gut wie.« Der Arkonide zögerte. »Wenn es den Nebel verläßt, werden wir es sehen können«, sagte er gedehnt. »Ich möchte wenigstens wissen, womit wir es zu tun haben. Wir werden uns in sicherer Entfernung halten – einverstanden?« ANIMA war nicht gerade begeistert, aber sie sah keine Möglichkeit mehr, den Arkoniden umzustimmen. Als das lebende Raumschiff aus dem Nebel hervortauchte, sah Atlan sofort, daß sie von hier aus die VIRGINIA nicht oder nur infolge eines unwahrscheinlichen Zufalls erreichen konnten. Wäre der Nebel eine Landschaft gewesen, so hätten sie sich in einer ungeheuren Schlucht befunden. Weit »über« ihnen leuchteten die Sterne und andere, entferntere Nebel. Und mitten in der »Schlucht« hing das, was sie gejagt hatten. Es war gewaltig, eine ungeheure Masse, ein riesiger Ball aus Staub und Gesteinsbrocken – oder so sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Wenn man genauer hinsah, dann konnte man unter dieser Hülle Bewegungen ausmachen. Atlan war davon überzeugt, daß er von dem Wesen selbst bisher noch gar nichts gesehen hatte. Es tarnte und schützte sich durch diesen Mantel, und so, wie es da schwebte, erweckte es tatsächlich den Eindruck, als sei es ängstlich
und unentschlossen. Aber warum hatte es den Nebel verlassen? Dort drinnen war es schier unauffindbar. Warum präsentierte es sich seinen vermeintlichen Gegnern nun so offensichtlich? Um euch auszuschalten, du Narr! »Wir bleiben auf Distanz«, sagte der Arkonide zu dem lebenden Raumschiff. »Versuche es noch einmal mit Lichtsignalen.« ANIMA gehorchte schweigend. Das fremde Wesen bewegte sich unruhig, die Gesteinsbrocken auf seiner Oberfläche krochen zu kleinen Wellen übereinander – und dann, so plötzlich, daß der Arkonide der Bewegung mit den Augen nicht zu folgen vermochte, tat es einen Satz in den Nebel hinein und war erneut verschwunden. »Wo ist es hin?« wollte Atlan wissen. »Ich versuche es aufzuspüren, aber bis jetzt habe ich keine Ahnung, wo es steckt. Willst du es noch einmal versuchen?« »Vielleicht«, erwiderte der Arkonide ausweichend und dachte an die Adresse des Logiksektors: ,Ausschalten wollte es uns also? Das sah mir eher nach einer Flucht aus.ʹ Es ist geflohen, aber nicht vor euch! »ANIMA! In den Nebel – schnell!« schrie der Arkonide, dem plötzlich klar wurde, daß er etwas versäumt hatte: Er hatte sich auf dieses fremde Wesen konzentriert und nicht mehr auf die Geräte in der KORALLE geachtet. Mit einem Blick, ihm selbst unbewußt, mußte er sie aber doch gestreift haben, und der Logiksektor hatte diesen Blick ausgewertet. ANIMA reagierte schnell, aber die Steppenpiraten, die sich unbemerkt genähert hatten, waren auf ein Fluchtmanöver gefaßt. Trotzdem wären sie entkommen, wenn die Schiffe der Piraten nicht auf das Vorhandensein derartiger Nebelwolken eingerichtet gewesen wären. Sie kamen schneller darin vorwärts als ANIMA, und offenbar arbeiteten ihre Ortungsgeräte einwandfrei. Sie stürzten sich wie riesige Raubvögel auf das lebende Raumschiff, fesselten es mit Traktorstrahlen und hielten es fest, und dann bombardierten sie ihre Beute mit lähmenden Strahlen.
Was Atlan nie für möglich gehalten hätte, geschah: ANIMA, ohnehin nicht auf der Höhe ihrer Kraft, darüber hinaus verwirrt und durch die Nebelwolke gehandikapt, erlag diesen Strahlen. Die Steppenpiraten nahmen ANIMA mit sich fort. Als Atlan versuchte, aus der KORALLE einen Funkspruch an die VIRGINIA abzusetzen, entsandte eines der Piratengeschütze ein mattes, blaues Flimmern, das mühelos die Außenhülle der nun wehrlosen ANIMA durchdrang. Um den Arkoniden wurde es dunkel. Er spürte noch, daß er zu Boden stürzte, dann umfing ihn eine tiefe Ohnmacht. 3. Jallesh war noch immer Planetarier, und er trug seinen roten Kragen, aber manchmal fühlte er sich wie ein rechter Dummkopf. Natürlich durfte er das niemanden merken lassen. Unglücklicherweise war Jallesh niemals ein Steppenpirat im eigentlichen Sinn gewesen. Sein Talent bestand darin, andere Jupter für sich arbeiten zu lassen. Das allein hätte für eine Karriere nicht ausgereicht, aber Jallesh verstand sich ganz ausgezeichnet darauf, die Verdienste anderer für sich in Anspruch zu nehmen, und auf diese Weise hatte er sich bis in eine Position hinaufgearbeitet, wie sie höher kaum noch zu erreichen war. Und jetzt, als er gedacht hatte, sich in aller Ruhe dem Spiel der Intrigen auf dem Planeten Djornk widmen zu können, mußte ihm eine so dumme Geschichte passieren. Aber Jallesh war ein Realist. Wenn der Erleuchtete höchst persönlich sich dazu herabließ, einem Jupter einen Befehl zu erteilen, dann war es für den Jupter ratsam, zu gehorchen. Die Sonnensteppe war weit, und selbst die Grenze zum Sektor Janzonborr besaß noch eine so ungeheure Ausdehnung, daß theoretisch ganze Flotten von Raumschiffen ungeniert hin und her
fliegen konnten, ohne von irgend jemandem bemerkt zu werden. Selbst wenn man alle Piratenschiffe aus diesem Gebiet dazu abgestellt hätte, die Grenze zu bewachen und den Eindringling abzufangen, hätte das nicht gereicht. Also, sagte sich Jallesh, mußte man andere Wege beschreiten. Er bezog eine komfortable Kabine auf einem Schiff, dessen Namen aus der Typenbezeichnung MYGULL und einer Nummer bestand, taufte es kurzerhand um und machte es zu seinem fliegenden Hauptquartier. Der neue Name des Schiffes lautete KANZATAYA, das bedeutete soviel wie »Verlängerter Arm des Erleuchteten«. Dieser Name machte ungeheuren Eindruck auf die Gemeinen und die Umsetzer, und die Tatsache, daß ein hochgestellter Planetarier von einem solchen Schiff aus Befehle gab, war so ungeheuerlich, daß Jallesh sich des Gehorsams seiner Untergebenen von vornherein sicher sein konnte. Seine nächste Tat bestand darin, daß er sich von einigen erfahrenen Umsetzern, Kommandanten und Piloten berichten ließ, welche Aktivitäten man zur Zeit beobachten und anmessen konnte. Bald schwirrte ihm der Kopf von all den für ihn meist unverständlichen Daten, und er entschied, daß andere Jupter sich mit diesem Kram befassen sollten. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt meldeten sich die Kommandanten der Flotte von Skahrl und behaupteten, den Befehl erhalten zu haben, sich Jalleshs Befehlen unterzuordnen. Dann kamen die der Flotte von Mryn hinzu, und allmählich wurde Jallesh klar, daß der Erleuchtete zwar die obersten Planetarier aller Wohnwelten gerufen und mit seinem Auftrag betraut hatte, daß man aber überall wortwörtlich denselben Text empfangen hatte. Und die Planetarier der anderen Wohnwelten in diesem Sektor waren offenbar allesamt klug genug gewesen, sich vor der Stimme des Juwels zu beugen. Immerhin mochte das aber auch sein Gutes haben, denn er brauchte nicht mit den Kommandanten anderer Flotten zu konkurrieren.
Zu seiner Erleichterung wußten die Steppenpiraten recht gut, auf welche Weise sie einen Eindringling aufspüren und abfangen konnten. Als Jallesh auf einem Bildschirm die taktische Darstellung der Manöver sah, glaubte er zunächst, seinen Augen nicht trauen zu können. Erstens hatte er im Geist eine lange Linie von Raumschiffen vor sich gesehen, aber was sich ihm jetzt darbot, das war eher mit einem in vielen Falten unordentlich aufgehängten Netz zu vergleichen, in dem noch dazu große Löcher klafften. Zweitens reichte dieses Netz nicht nur nach links und rechts, sondern auch nach oben und unten und sogar nach hinten und nach vorne. »Was soll das?« fragte Jallesh im ersten Zorn den Umsetzer Terlkuor, den er zu seinem Assistenten gemacht hatte. Umsetzer Terlkuor erklärte seinem obersten Vorgesetzten in respektvoll‐vorsichtigem Tonfall, daß dieses Netz so und nicht anders aussehen mußte, weil die Grenze zum Sektor Janzonborr eben keine Linie, sondern Teil einer Kugelschale war. »Schon gut«, wehrte Jallesh ab, ärgerlich über sich selbst. Als Planetarier hatte er sich an ein zweidimensionales Denkschema gewöhnt, das hier draußen natürlich fehl am Platz war. Aber selbst auf die. Gefahr hin, sich abermals zu blamieren, fragte er: »Und diese Lücken dort?« »Nebel, Gaswolken, Gravitationswirbel und so weiter«, erklärte Terlkuor. »Wenn die Fremden dort hineinfliegen, sind sie ohnehin verloren, und falls sie wider Erwarten doch hindurchfinden sollten, werden sie so angeschlagen sein, daß wir sie nur noch einzusammeln brauchen.« »Sie dürfen nicht verlorengehen«, sagte Jallesh energisch. »Der Erleuchtete will diese Fremden haben, und er wird sie bekommen. Ist das klar?« »Ich werde deinen Befehl weitergeben«, versicherte Terlkuor hastig. »Man wird sich danach richten.« »Das will ich hoffen«, murmelte Jallesh unbehaglich. Ihm wurde immer deutlicher bewußt, daß der Erleuchtete diesmal etwas fast
Unmögliches von den Juptern verlangte. Glücklicherweise gab es in der Sonnensteppe einige Phänomene, die den Steppenpiraten beim Aufspüren ihrer Beute behilflich sein konnten. Eines dieser Phänomene reizte die Piraten schon seit langem, aber es war ihnen nie gelungen, einen Molayn zu fangen. Niemand wußte genau, wer oder was die Molayns waren. Wahrscheinlich handelte es sich um Plasma‐Psi‐Torsi, die eine Möglichkeit gefunden hatten, sich zu Gemeinschaftswesen zusammenzuklumpen und im freien Weltraum zu überleben. Man nannte sie auch »Nebelgeister«, weil sie bevorzugt in dichten Gasnebeln und Staubwolken hausten. Molayns waren extrem scheu und ängstlich. Trotzdem war es schon vorgekommen, daß sie sich an treibenden Raumschiffswracks und ähnlichen Objekten vergriffen hatten. Nachdem Jallesh von Terlkuor auf die Molayns aufmerksam gemacht worden war, erteilte er einer gewissen Anzahl von Schiffen den Befehl, so viele Molayns wie nur irgend möglich in das Grenzgebiet zu treiben. Diese Maßnahme erwies sich als überflüssig, denn noch ehe die ersten Molayns aus ihren Verstecken, herausgelockt waren, beobachtete man seltsame Turbulenzen in einem Nebel nahe dem Stützpunkt Ghuurm. Dort floh ein Molayn ohne zwingenden Grund aus seinem Versteck – so schien es jedenfalls. Als man nachsah, fand man eines der gesuchten Objekte. »Die Suche wird fortgesetzt«, befahl Jallesh. »Das zweite Objekt muß ebenfalls gefunden werden. So lautet der Befehl des Erleuchteten.« Dann ließ er die KANZATAYA Kurs auf Ghuurm nehmen, um sich persönlich um das bereits gefangene Objekt zu kümmern. * Ghuurm war eine gräßliche Welt, düster, kalt und stürmisch. Vor
vielen tausend Generationen hatte man dort Wesen ausgesetzt, die man ihres Psi‐Potentials wegen in die Sonnensteppe gebracht hatte. Sie hatten sich für die Zwecke des Erleuchteten als unbrauchbar erwiesen, und so waren sie unbehelligt geblieben. Hätte man sie auf ihre Heimatwelt zurückgebracht, so wäre ihnen möglicherweise eine ganz annehmbare Zukunft beschert worden. Auf Ghuurm aber waren sie zu gefräßigen Bestien mutiert, die jede Art von organischer Materie vertilgten, sobald sie in die Reichweite ihres sonderbaren Verdauungsapparats gelangte. Niemand wußte, warum der Erleuchtete darauf bestanden hatte, ausgerechnet auf Ghuurm einen Stützpunkt zu errichten, aber die Beschlüsse des Erleuchteten hatten niemals Gegenstand einer Diskussion zu sein. Sie wurden befolgt – auch wenn sie den Juptern noch so viel abverlangten. Der Stützpunkt lag in Äquatornähe, weil es dort wenigstens während des kurzen Sommers von Ghuurm warm genug war, daß man ohne Schutzanzüge ins Freie gehen konnte. Als die Jupter diesen Standort wählten, hatten sie noch nicht gewußt, was aus den fladenförmigen, damals noch recht friedlichen Shirgen einmal werden sollte. Als sie es merkten, stand das Auge des Erleuchteten bereits, und es war zu spät, um noch etwas zu ändern. Die Steppenpiraten hatten ein enormes Bedürfnis nach Wärme und Leben. Das war verständlich, denn die meisten von ihnen verbrachten den größten Teil ihres Lebens im Weltraum. Was die Wärme betraf, so waren selbst die Sommer von Ghuurm nicht dazu geeignet, einen Polarbären das Schwitzen zu lehren, aber wenn es um das Vorhandensein von Leben ging, so wurde der Stützpunkt mitunter buchstäblich darunter begraben. Mindestens drei‐, viermal im Jahr landeten ganze Horden von Shirgen auf dem Gelände und fraßen alles kurz und kahl, was dort zu wachsen wagte. Als die KANZATAYA auf Ghuurm landete, ging gerade der lange Winter seinem Ende entgegen, und es begann jene Jahreszeit, die man offiziell als Sommer bezeichnete, ein kurzes, nur wenige
Wochen währendes Aufbäumen des Lebens. Jallesh betrachtete mit großem Widerwillen das Panorama auf dem Sichtschirm und wünschte sich, er hätte einen anderen Stützpunkt wählen können, als ausgerechnet diese Hölle. Leider ließ sich dieser Wunsch nicht erfüllen. Das nächste Auge des Erleuchteten war ein paar tausend Lichtjahre entfernt. Es wäre zu riskant gewesen, das gefangene Objekt über eine so weite Strecke zu transportieren. »Komm her, Kleiner«, befahl Jallesh seinem Kazmortel, der ebenfalls den Sichtschirm beäugte. Der Kazmortel piepste mißmutig und hüpfte außer Reichweite. Er hatte gesehen, daß Jallesh die Tasche unterhalb seines roten Planetarierkragens geöffnet hatte, und als kluger Kazmortel wußte er genau, was das bedeutete. Er haßte es, in Taschen gesteckt zu werden. Da drinnen war es dunkel und eng, und oft dauerte es sehr lange, bis die Tasche wieder geöffnet wurde. »Wie du willst«, murmelte Jallesh, der seinen gefiederten Begleiter lange genug kannte, um einige Tricks zu beherrschen. »Du wirst es dir schon noch überlegen.« Er tat eine Handvoll Honigkörner in die Tasche und tat so, als sei er mit weiteren Vorbereitungen so beschäftigt, daß er auf den Kazmortel gar nicht achten konnte. Als Terlkuor erschien, um den Planetarier zu dem gefangenen Objekt zu führen, hockte der Kazmortel immer noch auf der obersten Umrandung des Sichtschirms, »Willst du ihn nicht mitnehmen?« fragte Terlkuor verwundert – sein eigener Warner saß bereits in der schützenden Tasche und steckte neugierig den Kopf heraus. Jallesh warf seinem gefiederten Freund einen unfreundlichen Blick zu. Natürlich – Terlkuors Kazmortel war daran gewöhnt, den Befehlen seines Besitzers jederzeit schleunigst zu gehorchen. Auf einem so angenehmen Planeten wie Djornk dagegen brauchte ein Kazmortel nur selten in schützenden Taschen zu verschwinden.
»Er wird schon kommen«, meinte Jallesh leichthin, aber er bemerkte Terlkuors seltsame Blicke und ärgerte sich darüber. Der andere zerbrach sich allzu offensichtlich den Kopf darüber, was für ein Befehlshaber das wohl sein müsse, der nicht einmal mit seinem Warner fertig wurde. Der Kazmortel folgte Jallesh schimpfend und zeternd hinaus auf den Gang, und je näher sie der Schleuse kamen, desto aufgebrachter wurde das Tierchen. Als die Schleuse sich öffnete und ein kalter Windstoß hereinfauchte, landete das Tierchen erschrocken und verwirrt auf einer Schaltleiste. Jallesh ergriff seinen Warner, ehe der nächste Windstoß das Tierchen nach draußen entführen konnte. Der Kazmortel piepste protestierend, als er in die dunkle Tasche gesteckt wurde, aber gleich darauf hörte Jallesh ein unverkennbares Knistern und Knuspern: Der Kazmortel machte sich über die Honigkörner her. Damit war zumindest sichergestellt, daß das Tier für die nächste Zeit Ruhe gab. Vor der Schleuse wartete Umsetzer Golroph auf die Ankunft des obersten Planetariers von Djornk. Einige von Golrophs wichtigsten Mitarbeitern waren ebenfalls anwesend. Einer davon war auffallend jung – es konnte höchstens zwei Jahre her sein, daß er seinen ersten Warner bekommen hatte. Erstaunlicherweise trug dieser junge Jupter bereits das gelbe Kragenband eines Umsetzers. »Wo ist das Objekt?« fragte Jallesh, um von vornherein klarzustellen, daß er die Leitung des Unternehmens innehatte. »Es wird gerade gebracht«, erwiderte Golroph und deutete nach oben. Jallesh blickte in die angegebene Richtung, sah aber nichts als finstere, schnell dahinjagende Wolken, zwischen denen es ab und zu wetterleuchtete. Verärgert wandte er sich an Terlkuor, um sich danach zu erkundigen, was das zu bedeuten habe: Hatte Terlkuor ihm nicht gesagt, daß das Objekt bereits eingetroffen sei? Aber bevor Jallesh auch nur das erste Wort formulieren konnte, fauchte ein so heftiger Windstoß heran, daß das Multiorgan des
Jupters dem Druck der Luft nicht mehr gewachsen war. Das Multiorgan tat das einzige, was ihm in dieser Situation übrigblieb: Die Ringmuskeln zogen sich fest zusammen, und die Membran schloß sich. Jallesh war vorübergehend stumm und taub, und riechen konnte er auch nichts mehr. ,Die Raumpest soll den Erleuchteten holen!ʹ fluchte er in Gedanken und drehte sich hastig aus dem Wind. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, daß die Augen des sehr jungen Jupters verräterisch glitzerten. Wenn dieses Bürschchen es wagen sollte, sich über einen gestandenen, ehrwürdigen Planetarier lustig zu machen … »… Schwierigkeiten«, hörte Jallesh den Umsetzer Golroph gerade noch sagen, und ihm wurde bewußt, daß es jetzt wichtigere Dinge als die Respektlosigkeit eines jungen Jupters gab. »Das Objekt hat versucht, sich zu befreien. Dadurch wurde die Landung verzögert.« »Wie konnte das passieren?« fragte Jallesh betroffen, denn er hatte bisher geglaubt, daß eine Beute, die die Steppenpiraten erst einmal in den Klauen hatten, weder Befreiungsversuche noch sonst etwas unternehmen konnte. »Ich weiß es nicht«, gestand Golroph mit erstaunlicher Offenheit. »Es scheint ein sehr – äh – ungewöhnliches Objekt zu sein.« Wie hatte der Erleuchtete gesagt? Ein kugelförmiges Raumschiff und ein Objekt von veränderlicher Form. ANIMA. Nun, man würde sehen. Endlich, als Jallesh schon glaubte, er solle am Boden festfrieren, senkte sich ein Raumschiff aus den dunklen Wolken herab, und dieses Raumschiff brachte etwas mit, das aussah … Jallesh machte zuerst zwei seiner Augen zu, dann schloß er auch das dritte. Schließlich riß er sich zusammen und sah noch einmal genau hin. »Was ist das?« fragte Golroph ratlos. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Jallesh gab sich innerlich einen Ruck. Er durfte hier nicht
herumstehen wie ein hilfloses Junges, dem der Kazmortel davongeflogen war. Er mußte zeigen, warum der Erleuchtete gerade ihn mit diesem heiklen Auftrag betraut hatte. »Das ist ANIMA«, sagte er, und dabei versuchte er, überzeugend zu klingen. »Ein veränderliches Objekt. Wir werden hineingehen und uns darin umsehen. Wahrscheinlich werden wir im Innern das Wesen namens Atlan finden. Das Auge des Erleuchteten ist hoffentlich vorbereitet?« »Das Auge des Erleuchteten ist immer vorbereitet!« erklärte Golroph. »Genau wie der Erleuchtete selbst.« »Gut«, murmelte Jallesh und setzte sich energisch in Bewegung. * Das veränderliche Objekt namens ANIMA sah aus wie ein überdimensionaler Schwamm – oder wie ein Asteroid, aus dem ein Molayn alle nahrhaften Substanzen herausgenagt hatte. Auf keinen Fall glich es einem Raumschiff. Es war schwer, sich vorzustellen, daß es ein lebendes Wesen in sich bergen könnte. Allerdings, behauptete die Besatzung der MYGULL‐301, daß ANIMA zuerst ganz anders ausgesehen habe, wie ein langgestrecktes Schiff mit silbriger Hülle. Dann hatte es sich in eine Art Felsbrocken verwandelt, und nachdem man es zum zweitenmal mit lähmenden Strahlen beschossen hatte, nahm es schließlich die schwammartige Form an, die es nun besaß. Es erschien als sehr fragwürdig, ob das Wesen namens Atlan, falls es sich da drinnen befand, diese Veränderungen lebend überstanden hatte. »Nach der ersten Veränderung hat er versucht, einen Funkspruch abzusetzen«, berichtete Kommandant Shrodym. »Wir mußten ihm eine Extradosis verpassen.« »Könnt ihr feststellen, in welchem Teil von diesem … Ding er sich jetzt befindet?« wollte Jallesh wissen.
»Ungefähr im Zentrum befindet sich ein Raumgleiter. Dort hat er sich zuletzt aufgehalten.« »Dann werden wir dort auch zuerst nach ihm suchen«, entschied Jallesh. »Setzt das Ding ab – aber vorsichtig!« Die MYGULL‐301 aktivierte ihre Traktorstrahlen, und ANIMA glitt sanft zu Boden. Als das schützende Kraftfeld erlosch und der Wind sich in den vielen Öffnungen fing, erhob sich ein vielstimmiges Heulen und Pfeifen. »Unheimlich!« murmelte Golroph, und Jallesh gab ihm im stillen recht, aber das sagte er selbstverständlich nicht. Er hatte eine Öffnung gefunden, die groß genug war, und nun kletterte er vorsichtig hinein. Er prüfte den Boden unter seinen Füßen und fand ihn fest und sicher. Auch die Wände schienen nicht die Absicht zu haben, sich im nächsten Augenblick zu verändern und zu verformen und dabei etwa den Jupter zu umschlingen. »Folgt mir!« befahl Jallesh den anderen und ging, wie es sich für einen Helden gehörte, tapfer voran. Sein Kazmortel rührte sich immer noch nicht. Seltsamerweise war es im Innern des Objekts namens ANIMA einigermaßen hell. Stellenweise ging von den Wänden ein sanftes Leuchten aus, so daß die Jupter keine zusätzlichen Lampen benötigten. Dennoch war es ein befremdendes Gefühl, in diesem Ding herumzulaufen. Sie hatten ständig Angst davor, daß ANIMA sich urplötzlich wieder in irgendeiner Weise verändern könnte – es war ein ziemlich beunruhigender Gedanke, plötzlich in einem Felsblock festzusitzen. Aber es tat sich nichts, und nachdem sie einige Male die Richtung verloren hatten, näherten sie sich schließlich doch dem Zentrum dieses merkwürdigen Gebildes. Dort fanden sie tatsächlich einen Raumgleiter vor, ein ziemlich großes Gefährt, und vor einem der Sitze lag ein hellhaariger Zweibeiner. Jallesh, der vorher kaum je ein Fremdwesen gesehen hatte und derartige Lebensformen praktisch nur von Bildern her kannte, hielt
unwillkürlich die Luft an. Er besaß ein recht gutes Augenmaß und konnte sich gut vorstellen, daß dieses Wesen, wenn es aufrecht stand, einen Jupter um ein gutes Stück überragte. Der Fremde mit seinen langen, dünnen Gliedmaßen und dem behaarten, durch einen dünnen Hals vom Körper abgesetzten Kopf war für Jallesh der Inbegriff aller Häßlichkeit. Er hatte Bilder von solchen Zweibeinern gesehen, und schon da hatte er sie als abstoßend empfunden. Die Wirklichkeit war für ihn um vieles schlimmer. Glücklicherweise waren die anderen weniger empfindlich. Besonders dieser sehr junge Jupter, über dessen Rolle Jallesh sich noch nicht ganz klar war, schien überhaupt nichts dabei zu empfinden, den Fremden nicht nur genau anzusehen, sondern ihn sogar zu berühren. »Er lebt«, erklärte dieser Junge, nachdem er den Zweibeiner eine Weile betastet hatte. »Soweit ich das beurteilen kann, ist er lediglich betäubt. Wir sollten ihn von hier wegschaffen, ehe er wieder zu sich kommt.« »Übernimm du das, Kaldrin«, stimmte Golroph nach einem fragenden Blick zu Jallesh zu. »Sorge dafür, daß er sicher untergebracht wird. Er darf uns auf keinen Fall entkommen.« »Und es darf ihm auch nichts geschehen, bis er im Auge steckt«, fügte Jallesh hinzu. Der junge Jupter versicherte, daß er auf den Fremden achtgeben würde, hob das abscheuliche Wesen geschickt auf und marschierte davon. »Wir sollten auch den Gleiter wegschaffen«, meinte Terlkuor. »Das dort ist zweifellos das Funkgerät, mit dem der Fremde herumhantiert hat. Wir wissen nicht, ob das Ding nicht plötzlich zu senden beginnt.« Jallesh, der sich nach der Entfernung des Zweibeiners wesentlich wohler fühlte, stimmte zu, aber als sie den Gleiter untersuchten, stellten sie fest, daß zwischen dem Fahrzeug und dem veränderlichen Objekt mehrere feste Verbindungen bestanden.
Jallesh lehnte Terlkuors Vorschlag, diese Verbindungen gewaltsam zu zerstören, energisch ab. »Wir können den Gleiter immer noch herausholen«, erklärte er. »Aber solange wir nicht wissen, ob wir diesem Objekt nicht durch die Zerstörung der Verbindungen ernsthaften Schaden zufügen, werden wir nichts unternehmen. Es ist möglich, daß der Erleuchtete auch dieses Objekt untersuchen möchte.« »Es dürfte ziemlich schwierig sein, dieses Ding in das Auge zu bringen«, gab Golroph zu bedenken. »Wir werden sehen!« war alles, was Jallesh darauf erwiderte. Er fühlte sich plötzlich unwohl, eingeengt, wie in einer Höhle eingeschlossen, und er hatte es eilig, aus dieser unheimlichen Umgebung zu entkommen. Während sie den Weg, den sie gekommen waren, entlangeilten, lauschte Jallesh besorgt auf seinen Kazmortel. Nichts – das Tierchen verhielt sich völlig ruhig. Dann sah er das graue Tageslicht von Ghuurm vor sich, und unwillkürlich schritt er noch schneller aus. Wenn ihm jemand noch wenige Stunden zuvor prophezeit hätte, daß er sich über den Anblick von grauem, schmelzendem Schnee und ebenso grauem Felsboden freuen würde, so hätte er die betreffende Person glatt für verrückt erklärt. Und doch war es so: Als er den letzten Schritt tat und den scharfen, eisigen Wind spürte, machte er einen tiefen Atemzug. Als er sich umdrehte, sah er die anderen aus dem veränderlichen Objekt hervorkommen. Das Ding namens ANIMA rührte sich nicht. Es dachte gar nicht daran, sich zum Beispiel in einen Felsbrocken zu verwandeln. ,Braver kleiner Chubimʹ, dachte Jallesh und legte behutsam eine seiner Hände auf die Tasche, in der der kleine Warner steckte. ,Ich hätte wissen müssen, daß ich mich auf dich verlassen kann!ʹ Er hatte es eilig, die nötigen Anweisungen zu geben. Aufatmend betrat er wenig später das gut geheizte, gemütliche Quartier, das Golroph ihm zur Verfügung gestellt hatte. Sobald er alleine war, öffnete er
die Tasche, um dem Kazmortel die wohlverdiente Bewegungsfreiheit zu gewähren. Das Tierchen rührte sich nicht. Als Jallesh es vorsichtig aus der Tasche angelte, stellte er fest, daß der Warner sich fast bis zum Platzen mit Honigkörnern vollgestopft hatte. Verwirrt legte er den Warner in das Schlafnest. Er hatte niemals gehört, daß ein Kazmortel so etwas tun konnte. »Was hat das zu bedeuten, Chubim?« fragte er. Der Warner gab ihm keine Antwort. Er schlief tief und fest. 4. Atlan kannte die Begleiterscheinungen einer abklingenden Paralyse, und er versuchte sich zu entspannen, so gut ihm das in dieser Situation möglich war. Offensichtlich hatte er eine sehr hohe Dosis erwischt. Die Schmerzen waren entsprechend stark, aber er biß die Zähne aufeinander und zwang so früh wie möglich seine Augen auf. Kaum einen Meter von ihm entfernt hockte ein Jupter auf einem runden Schemelchen. Er wirkte ruhig und entspannt, und man hätte glauben können, daß dieses Wesen schlief. Aber nur zwei der eigentümlichen Augen waren geschlossen. Das dritte Auge starrte Atlan unverwandt an. Der Arkonide erinnerte sich an die letzten Augenblicke vor dem Einsetzen der Betäubung, an die Raumschiffe, die plötzlich herangeschossen kamen, an ANIMAS plötzliches Verstummen, an den Versuch, die VIRGINIA über Funk zu erreichen, und er begriff, daß er ein Gefangener war. Das war keine so neue Erfahrung, daß er deswegen in Panik geraten wäre. In seinem langen Leben waren ihm solche Dinge schon sehr oft widerfahren. Er schloß die Augen und wartete geduldig darauf, daß die Schmerzen verschwanden. Nach einiger Zeit spürte er das Pulsieren des Zellaktivators, und
er verspürte Erleichterung angesichts der Tatsache, daß man ihm dieses Gerät nicht abgenommen hatte. Wahrscheinlich hatten die Jupter es – wie viele andere Gegner in der Vergangenheit auch – für einen harmlosen Glücksbringer gehalten. Allmählich fühlte er sich besser, und er schlug die Augen wieder auf und musterte den Jupter, der sich inzwischen um keinen Millimeter gerührt zu haben schien. »Wo bin ich?« fragte er auf alkordisch. »Auf dem Planeten Ghuurm«, antwortete der Jupter und öffnete die beiden anderen Augen. »In einem unserer Stützpunkte und in unmittelbarer Nähe des Auges des Erleuchteten. Wer bist du? Wie ist dein Name? Welchem Volk gehörst du an?« »Verrate mir zuerst, was das Auge des Erleuchteten ist«, schlug Atlan vor, obwohl er kaum damit rechnen konnte, daß der Jupter auf seine Frage eingehen würde. »Genau das, was der Name aussagt«, erwiderte der Jupter jedoch. »Eine Beobachtungsstation, eine technische Einrichtung, die es dem Erleuchteten erlaubt, Wesen wie dich zu betrachten, ohne daß er sie zu sich holen muß.« »Ich nehme an, es ist mehr als eine einfache Aufnahmeoptik?« »Das ist anzunehmen«, stimmte der Jupter zu. »Du weißt es also selbst nicht genau!« »Niemand weiß es – außer dem Erleuchteten selbst. Er weiht auch uns Jupter nicht in seine Geheimnisse ein. Wir haben jene Wesen und Gegenstände, die er betrachten will, in das Auge zu bringen. Alles andere geht uns nichts an.« Atlan nickte nachdenklich. Der Erleuchtete hatte entschieden etwas dagegen, sich in die Karten schauen zu lassen – aber das war auch keine sehr neue Erkenntnis. »Ich bin Kaldrin«, fuhr der Jupter fort. »Der Zufall will es, daß ich mich auf den Umgang mit Wesen wie dir verstehe – besser jedenfalls als andere Jupter. Der Grund dafür ist einfach: Ich bin auf einem Planeten aufgewachsen, der von Zweibeinern bewohnt
wurde. Du erinnerst mich an meine Heimat, und darum finde ich dich recht sympathisch. Andere Jupter sind da ganz anderer Ansicht.« »Mit anderen Worten: Du sollst zunächst mal versuchen, auf friedlichem Wege alles aus mir herauszuholen, was ihr wissen wollt. Wenn ich nicht mitspiele, sind die anderen dran. Ist es so?« »Ja.« »Und was willst du von mir wissen?« »Deinen Namen.« Vorsicht, wisperte das Extrahirn. Der Erleuchtete hat Wind von deinen Aktivitäten bekommen. Jetzt will er dich unter die Lupe nehmen. Wenn du erst mal in diesem geheimnisvollen Auge steckst, bist du deinem Gegner auf Gedeih und Verderb ausgeliefert! ,Denk mal an, du Schlaumeier, darauf bin ich auch schon gekommen!ʹ dachte Atlan zurück. ,Ich fürchte allerdings, die werden mich so oder so in das Auge stecken.ʹ »Der Erleuchtete befahl uns, einen Fremden namens Atlan zu fangen«, erklärte der Jupter. »Er sagte uns, daß zwei Objekte vom Sektor Janzonborr aus in die Sonnensteppe eindringen würden. Eines ist ein kugelförmiges Raumschiff. Das andere ist ein veränderliches Objekt namens ANIMA. Dieses Objekt haben wir gefangen und dich darin gefunden.« »Und das andere Raumschiff?« »Wir werden auch das noch finden. Wenn du uns bis dahin nicht verraten hast, wer du bist oder wo wir Atlan finden können, werden deine Freunde es uns sagen.« Also war die VIRGINIA noch frei, und da der Erleuchtete ausdrücklich Atlan zu betrachten wünschte, würden die Steppenpiraten die Suche nach dem Raumschiff sicher nicht mehr ganz so intensiv betreiben, sobald sie wußten, daß ihnen ihre wichtigste Beute sicher war. Jetzt war nur noch eine Frage zu klären. »Was habt ihr mit ANIMA gemacht? Existiert sie noch?« »Du meist das veränderliche Objekt? Ja, das existiert. Es ist
gelähmt, und da wir nicht wissen, um was für eine Art von Objekt es sich handelt, kann ich dir keine genaueren Auskünfte geben.« Früher oder später würde ANIMA aus der Betäubung erwachen. Die Frage war, wie lange das erstens dauern mochte, und ob sie zweitens durch diese Betäubung noch weiter geschwächt wurde. Wenn sie irgendeine Chance sah, dem Arkoniden zu helfen, dann würde sie das ohne Bedenken tun. Atlan gab sich keinen Illusionen hin: Seine Lage war schlecht. Aber als ganz und gar aussichtslos erschien sie ihm nicht. Die Steppenpiraten hatten zunächst erstaunlich leichtes Spiel mit ANIMA gehabt – es war zu hoffen, daß sie das Schiff jetzt unterschätzten. ANIMA war sehr viel härter im Nehmen, als es jetzt scheinen mochte. Und die VIRGINIA? Man würde nach Atlan suchen. Aber ob man ihn auch fand? Wie weit war der Planet Ghuurm von jenem Punkt entfernt, an dem sie sich getrennt hatten? Er wagte es nicht, Kaldrin danach zu fragen. »Was geschieht mit den Wesen, die ihr in das Auge bringt?« erkundigte er sich statt dessen. »Das weiß ich nicht. Es heißt, daß der Erleuchtete sie betrachtet.« »Das hast du bereits erzählt. Aber was geschieht danach, wenn der Erleuchtete genug gesehen hat? Kommen eure Gefangenen wieder heraus?« »Das ist unterschiedlich.« »Besteht eine Chance, daß man diese Prozedur ohne Schaden übersteht?« »Ja.« »Sind schon Wesen in diesem Auge gestorben?« »Auch das ist bereits geschehen.« Es ist ein Spiel mit dem Feuer, warnte der Extrasinn, der Atlans Absichten erfaßt hatte. Du solltest versuchen, Zeit zu gewinnen. Die Frage war nur, wie lange die Jupter sich ein solches Spiel gefallen ließen. Bisher hatte Atlan nicht den Eindruck gehabt, daß Geduld eine der hervorstechenden Eigenschaften der
Steppenpiraten war. »Man wird dich auf jeden Fall in das Auge bringen«, sagte Kaldrin, als hätte er Atlans Gedanken gelesen. »Es kommt auf dich an, in welchem Zustand du dorthin gelangst. Ich will dir nicht verschweigen, daß unser oberster Kommandant, Jallesh, nicht viel für Zweibeiner übrig hat. Er findet Wesen wie dich abstoßend. Er wäre unter diesen Umständen sicher nicht sehr wählerisch, wenn es darum geht, Informationen aus dir herauszupressen. Selbst wenn du nicht Atlan bist, wird er dich in das Auge schicken. Deine Überlebenschancen wären dann sehr gering.« Das sind sie ohnehin, kommentierte der Logiksektor. Sei kein Narr! Bist du erst in dem Auge, dann bist du so gut wie tot. ,Das glaube ich nichtʹ dachte Atlan zurück. ,Er hat einigen Aufwand getrieben, um mich an diesen Ort zu bringen. Wenn er mich töten wollte – das könnte er einfacher haben.ʹ Er wird dich töten – sobald er weiß, wer und was du bist. ,Aha. Und wer und was bin ich, bitte schön?ʹ Ein Beauftragter der Kosmokraten. Das allein reicht schon. ,Vorausgesetzt, der Erleuchtete bekommt das heraus, weiß, wer die Kosmokraten sind und hat Grund genug, sich vor ihnen zu fürchten.ʹ Er wird es herausbekommen! ,Ja, aber er wird dazu etwas Zeit, brauchen. Inzwischen kann ANIMA sich erholen, und die VIRGINIA kann meine Spur aufnehmen. Ich habe keine Lust, mich erst noch von den Piraten in die Mangel nehmen zu lassen!ʹ Der Logiksektor schwieg. Er hatte seine Argumente vorgebracht, und es blieb Atlan überlassen, was er damit anfing. Der Jupter verhielt sich ruhig, als wollte er dem Arkoniden genug Zeit geben, seine weiteren Schritte zu überdenken. Dem Aussehen nach handelte es sich bei Kaldrin um einen noch sehr jungen Vertreter seines Volkes. »Wie denkt ihr Jupter eigentlich über den Erleuchteten?« fragte Atlan spontan. »Er ist für euch eine Art Gottheit, nicht wahr? Wie
sehr verehrt ihr ihn?« »Nur sehr wenige von uns verehren ihn«, erwiderte Kaldrin ruhig. »Die meisten fürchten ihn, und weil sie ihn fürchten, gehorchen sie ihm. Es wäre sehr dumm von uns, anders zu handeln. Der Erleuchtete kennt Ungehorsamen gegenüber keine Gnade.« »Ihr könntet euch gegen ihn auflehnen. Niemand hat das Recht, andere Lebewesen in Furcht und Schrecken zu halten, geschweige denn ganze Völker zu versklaven. Wenn ihr euch alle einig seid, werdet ihr den Erleuchteten aus Alkordoom hinausjagen können!« »Viele Völker haben versucht, sich aufzulehnen, und sie sind alle gescheitert. Diejenigen, die dabei im Kampf getötet wurden, waren noch am glücklichsten dran. Der Erleuchtete ist zu mächtig und zu erfahren. Kein Sterblicher hat gegen ihn auch nur die leiseste Chance. Darum ist es sinnlos, solche Gespräche zu führen.« Kaldrin warf einen Blick auf eine Reihe von Leuchtfeldern über der Tür und fuhr fort: »Es wird Zeit, daß du eine Entscheidung triffst. Jallesh wird ungeduldig. Wenn du mir deinen Namen nennst, garantiere ich dir, daß du gesund und im Vollbesitz deiner Kräfte das Auge des Erleuchteten betreten wirst. Wenn nicht …« Der Jupter vollführte eine bedauernde Geste. »Also gut«, sagte der Arkonide langsam. »Ich bin Atlan.« * Außerhalb des Gebäudes war es kalt und stürmisch. Dunkle Wolken jagten über den Himmel, das Licht war grau und trostlos, genauso grau und trostlos wie der Stützpunkt der Jupter und die ganze Umgebung. Der Stützpunkt selbst war recht groß. Er bestand aus vielen, meist flachen Gebäuden, in der Hauptsache wahrscheinlich Lagerhallen für die Beute der Steppenpiraten. Hier und da erhoben sich graue, würfelförmige Gebäude, die weder Türen noch Fenster besaßen, und wenn es ein Tor in ihnen gab, dann war es mit einem
auffallenden, giftgelben Siegel versehen. »Die Siegel des Erleuchteten«, erklärte Kaldrin, der sich neben Atlan hielt – es war schwer zu sagen, welche Rolle der junge Jupter zur Zeit spielte. Vielleicht hatte man Kaldrin befohlen, bei dem Arkoniden zu bleiben, um diesen an panischen Reaktionen zu hindern. »In diesen Gebäuden«, fuhr Kaldrin fort, »befinden sich Dinge, die dem Erleuchteten gehören. Sie arbeiten auf einer uns unverständlichen Basis. Viele von ihnen sind gefährlich, ihre Ausstrahlungen töten uns, wenn wir versehentlich zu nahe an sie herankommen.« Atlan nickte nur. Sie befanden sich am äußeren Rand des Stützpunkts, und vor ihnen, auf einem Landefeld, lag neben einem Raumschiff vom Typ MYGULL ein dunkler Klumpen auf dem mit verharschtem Schnee und gefrorenen Pfützen bedeckten Boden: ANIMA. Der Arkonide blieb stehen und deutete auf das lebende Raumschiff. »Darf ich zu ihr gehen?« fragte er. Kaldrin sah sich nach den Wachen um. »Es tut mir leid«, sagte er dann. »Aber das darf ich dir nicht erlauben. Komm hier entlang.« Atlan zögerte, und während er noch zu ANIMA hinübersah, bemerkte er dicht über dem Horizont einige dunkle Punkte. Fast gleichzeitig hörte er ein dumpfes Geräusch, und der Boden unter seinen Füßen erzitterte kaum merklich. Weit draußen auf dem Landefeld erhob sich ein Fladen von ungeheurer Größe und setzte in einem plumpen Sprung ein paar Kilometer weiter wieder auf. Alarmsirenen begannen zu schrillen, kleine Boote stiegen auf und rasten der unheimlichen Erscheinung entgegen. »Das sind die Shirgen«, erklärte Kaldrin. »Sie leben auf diesem Planeten. Ab und zu versuchen sie einen Überfall auf den Stützpunkt, weil sie hier Nahrung wittern.«
»Was für Nahrung?« »Alles, was lebt. Aber uns werden sie ganz sicher nicht bekommen. Komm jetzt, es wird Zeit, daß wir uns zum Auge des Erleuchteten begeben.« Atlan warf einen letzten Blick auf das lebende Raumschiff, dann hinauf zum wolkenverhangenen Himmel, und er spürte, wie seine Zuversicht schwand. ANIMA war noch immer betäubt, völlig unfähig, auch nur sich selbst zu schützen. In diesem Zustand konnte sie niemandem helfen. Und die VIRGINIA? Atlan wußte nicht, ob der Funkspruch nach dem Überfall der Piraten noch hinausgegangen war, aber selbst wenn – würde es der VIRGINIA gelingen, diesen Planeten zu finden? Für einen Augenblick dachte er an Flucht. Er konnte versuchen, ANIMA zu erreichen. Seine Gegenwart hatte das lebende Raumschiff schon oft dazu befähigt, über sich hinauszuwachsen … aber es gab zu viele Jupter um ihn herum. Und wenn er einen von ihnen als Geisel nahm, Kaldrin, zum Beispiel? Aber nein, auch das würde ihn nicht weiterbringen. Man würde ihn und den Jungen paralysieren, und wahrscheinlich würde es Kaldrin sein, der für Atlans Widerstand büßen müßte. Abgesehen davon, daß ein paralysierter Atlan um so leichter in das Auge des Erleuchteten zu stecken war und dort bis zu seinem Erwachen keine Möglichkeit hatte, sich zur Wehr zu setzen. Kaldrin führte den Arkoniden durch den Ring von Gebäuden, der den eigentlichen Stützpunkt bildete, und nach einigen Minuten konnte Atlan zum erstenmal das Auge des Erleuchteten sehen. Er blieb unwillkürlich stehen. Das Auge des Erleuchteten ähnelte einer Zusammenballung von riesigen Seifenblasen – einer Ansammlung von vielen durchsichtigen, wirr aneinandergepappten Kuppeln. Einige davon waren von einem schwachen Glimmen erfüllt, und in ihnen erkannte Atlan Wesen, die sich an den Wänden entlangtasteten und vergeblich nach einem Ausgang suchten. Nur wenige Blasen waren
besetzt. Die meisten waren dunkel, und auf ihren Wänden spiegelten sich die jagenden Wolken in seltsamen Farben. Kaldrin war ebenfalls stehengeblieben. »Das ist das Auge des Erleuchteten«, sagte er überraschend sanft, und dabei fuhr er mit der Hand über eine Tasche, die an seinem gelben Halsband hing. Hinter ihnen blitzte und rumpelte es – die Jupter lieferten den fladerförmigen Shirgen einen verbissenen Kampf. Ein schnelles Aufblitzen ließ Atlan den Gegenstand erkennen, den Kaldrin unauffällig aus der Tasche hervorgezogen hatte. Es war ein Dolch, blank und scharf. »Nimm ihn – schnell!« wisperte Kaldrin so leise, daß Atlan ihn gerade noch verstehen konnte. »Es ist alles, was ich für dich tun kann. Du wirst dem Erleuchteten nicht lange widerstehen können.« Eine Gruppe von Juptern kam auf sie zu. Die meisten waren in dicke Schutzkleidung gehüllt. Nur drei von ihnen – zwei mit gelben Halsbändern und einer mit einem roten Kragen – stemmten sich gegen den schneidend kalten Wind. Die Wachen waren durch die Ankunft so hoher Würdenträger abgelenkt. Atlan nahm den Dolch und ließ ihn blitzschnell in seiner Kleidung verschwinden. Er würde ihn gewiß nicht zu dem Zweck verwenden, an den Kaldrin gedacht hatte, aber er war dem jungen Jupter trotzdem dankbar. Der Jupter mit dem roten Kragen bedachte Atlan mit einem seltsamen Blick. »Häßliche Geschöpfe, diese Zweibeiner«, sagte er schließlich. »Auch ein Kazmortel hat nur zwei Beine, Planetarier Jallesh«, sagte Kaldrin gelassen. »Trotzdem soll es Jupter geben, die in ihrem Kazmortel mehr als nur einen nützlichen Warner sehen!« Jallesh tastete nach dem Gegenstück zu jener Tasche, aus der Kaldrin den Dolch gezogen hatte, ließ die Hand dann aber in einer ärgerlichen Geste sinken. »Es wird höchste Zeit!« verkündete er. »Wir alle wissen, daß es gefährlich ist, den Erleuchteten warten zu lassen. Wird der
Zweibeiner uns freiwillig folgen?« »Ja«, behauptete Kaldrin. »Dann ist er verrückt«, behauptete Jallesh ungerührt. »Golroph, du begleitest uns. Terlkuor – da wir offensichtlich den Falschen erwischt haben, solltest du dafür sorgen, daß die Jagd nach dem Objekt namens VIRGINIA mit noch größerer Intensität fortgesetzt wird.« »Moment«, sagte Atlan. Jallesh drehte sich so plötzlich, daß er den heftigen Wind nicht mehr rechtzeitig berücksichtigen konnte. Atlan sah, daß der Planetarier etwas sagen wollte, es aber nicht aussprechen konnte, weil sein Multiorgan sich verkrampfte. »Der Erleuchtete hat euch befohlen, einen Mann namens Atlan zu fangen«, fuhr der Arkonide fort. »Ich bin Atlan. Ich bin in die Sonnensteppe gekommen, um den Erleuchteten zu finden, denn ich habe ihm eine wichtige Botschaft zu überbringen. Ich verlange, daß man mich so schnell wie möglich in das Auge führt.« »Keine Sorge, Fremder«, bemerkte Jallesh spöttisch, nachdem er sich aus dem Wind gedreht hatte. »Du sollst das Auge von innen sehen und die Stimme des Erleuchteten vernehmen.« * Es war lange her, daß ANIMA sich auf ähnliche Weise hilflos gefühlt hatte. Sie war gelähmt, aber nicht betäubt. Ihr Verstand arbeitete so klar wie je zuvor, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie sagte sich, daß dieser Zustand nicht von Dauer sein konnte, und sie zwang sich dazu, geduldig zu sein und auf ihre Chance zu warten. Sie hatte einmal zu früh reagiert. Man hatte sie erneut und noch nachhaltiger gelähmt. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen. Sie hatte die Jupter beobachtet, ihre Gespräche belauscht und
gezwungenermaßen tatenlos zugesehen, als man Atlan entführte. Ihr Instinkt gebot ihr, dem Arkoniden zu helfen, indem sie physisch reagierte – denn diese physischen Reaktionen waren ihre Stärke … … gewesen! Das Blatt hatte sich gewendet. Wenn sie jetzt auch nur den leisesten Versuch unternahm, ihre Struktur zu verändern, dann würde man sie erneut paralysieren, und dann würde es noch länger dauern, bis sie etwas für den Arkoniden tun konnte. Oder gab es noch einen anderen Ausweg? Das Funkgerät in der KORALLE fiel ihr ein. Die Jupter hatten keine Wachen zurückgelassen. Vielleicht rechneten sie auch nicht damit, daß ANIMA mehr tun konnte, als sich vor ihren Augen zu verwandeln. Sie saßen hinter ihren Paralysegeschützen und warteten auf Zeichen einer äußeren Veränderung. Das Funkgerät war auf die Frequenz der VIRGINIA eingestellt, ein Notsignal war eingespeist. Atlan hatte versucht, noch einen Funkspruch abzusetzen – ANIMA konnte sich schwach daran erinnern. Sie wußte nicht, ob das Signal hinausgegangen war. Selbst wenn das der Fall gewesen war, hätte das Signal die VIRGINIA kaum erreichen können. Jetzt herrschten nur wenig bessere Voraussetzungen, aber es gab eine winzige Chance, und das war für ANIMA entscheidend. Sie konzentrierte sich darauf, einen kleinen Teil ihrer Materie von der Lähmung zu befreien. Es dauerte lange, bis ihr das gelang. Sie schickte einen dünnen Pseudoarm in das Innere der KORALLE und aktivierte den Sender. Sekunden später reagierten die Jupter. Die Paralysegeschütze begannen zu arbeiten, und ANIMA verlor die Kontrolle über den Pseudoarm, aber sie zog ihn rechtzeitig zurück. Das Funkgerät arbeitete automatisch weiter, das Notsignal ging hinaus. Eine Horde Jupter eilte herbei und schaltete das Gerät aus, dann zerstörten sie das Cockpit der KORALLE. ANIMA hoffte verzweifelt, daß die VIRGINIA das Signal empfangen hatte. Sie selbst war erneut zur Untätigkeit verdammt.
* Obwohl dem Planetarier Jallesh deutlich anzumerken war, daß er sich in Gesellschaft des Arkoniden sehr unbehaglich fühlte, ließ es sich der Jupter nicht nehmen, Atlan persönlich in das Auge zu geleiten. Im grauen Sockel dieses merkwürdigen Gebildes öffnete sich eine Pforte, und ein Gang führte bis zu einer Schleuse, an der das gelbe Siegel des Erleuchteten haftete. Ein uralter Jupter erschien und nahm Atlan in Empfang. »Teile dem Erleuchteten mit, daß der Planetarier Jallesh vom Planeten Djornk seinen Auftrag erfüllt hat!« befahl Atlans Begleiter. »Der Erleuchtete weiß es bereits«, versicherte der alte Jupter. »Folge mir, Fremder.« Jallesh blieb zurück. Er wirkte unzufrieden, aber vielleicht irrte Atlan sich auch – die Jupter waren in ihrem Aussehen zu fremdartig, als daß man ihre Mimik so leicht hätte durchschauen können. »Wie heißt du?« fragte er den Alten. »Mein Name tut nichts zur Sache«, erklärte der Jupter. »Außerdem habe ich ihn längst vergessen. Wer sich eine Zeitlang hier aufhält, der vergißt vieles, verstehst du? Komm hier entlang, wir müssen in eine der oberen Kammern. Du bist ein erlauchter Gast, wie? Selten, daß der Erleuchtete jemanden wie dich mit solcher Sehnsucht erwartet!« »Ist es nicht gefährlich für dich, hier zu arbeiten?« fragte Atlan, während er dem alten Jupter folgte. Noch befanden sie sich im Sockel des Auges. Der Alte wandte sich einer engen Wendeltreppe zu. »Gefährlich?« fragte er und produzierte ein Geräusch, das ein Lachen sein mochte. »Natürlich ist es gefährlich, aber ich habe alle Fragen schon vor vielen Jahren beantwortet. Von mir will der
Erleuchtete nichts mehr wissen. Mit denen da ist es etwas anderes!« Sie hatten das Ende der Treppe erreicht, und um sie herum wölbten sich die durchsichtigen Kuppeln. Der Alte nötigte Atlan auf eine kleine, graue Plattform, die langsam vorübergeschwebt kam. Dabei deutete er auf einige Gefangene, die hinter den durchsichtigen Wänden standen und den Neuankömmling beobachteten. Atlan erkannte einen Thater – die anderen entstammten Völkern, mit denen er noch keine Bekanntschaft gemacht hatte. »Warum sind sie hier?« fragte er. »Was will der Erleuchtete von ihnen wissen?« »Was interessiert mich das?« fragte der Alte zurück. »Und dich sollte es auch nicht interessieren. Du wirst genug mit dir selbst zu tun haben.« Er weiß gar nichts, kommentierte der Logiksektor. Von ihm darfst du weder Antworten noch Hilfe erwarten. Die Plattform hielt an, und der Alte deutete auf die Wand der nächsten Kuppel. »Geh hinein«, befahl er. »Aber wie?« fragte Atlan verblüfft. »Ich kann keinen Eingang erkennen.« »Das ist auch nicht nötig. Geh einfach geradeaus.« Der Arkonide streckte die rechte Hand aus und berührte die durchsichtige Wand. Er spürte keinen Widerstand, nur ein leichtes Prickeln. Er zuckte die Schultern und betrat die Kuppel. Als er sich umdrehte, war der Alte verschwunden. Vorsichtig berührte er die Wand – sie war kühl und fest, aber während er daran herumtastete, begann sie von innen heraus zu glimmen. Atlan zog sich vorsichtig in die Mitte der Kuppel zurück. Das Glimmen in den Wänden wurde heller und stärker, aber sonst geschah nichts. Nach einer Weile ließ er sich im Zentrum der Kuppel nieder. Die glühenden Wände verwehrten ihm den Blick nach draußen. Von
irgendwoher kam ein kühler Luftzug. 5. Jallesh wartete eine Weile außerhalb des Auges. Er konnte beobachten, wie der Zweibeiner eine der Blasen des Auges betrat, und er rechnete damit, daß irgend etwas Aufregendes geschehen würde. Jetzt, da er den Eindringling gefangen hatte, fühlte er sich als Held, dem eine Belohnung zustand. Aber es geschah nichts weiter, als daß die Blase zu glimmen begann. Der Zweibeiner verhielt sich ruhig. Man konnte ihn von draußen sehen. Er versuchte nicht, die Blase zu verlassen. Er stand ganz ruhig da, als würde auch er auf etwas warten. Nach geraumer Zeit verlor Jallesh die Geduld. Er fror erbärmlich. Er sehnte sich nach der Wärme seiner Unterkunft und nach der beruhigenden Nähe des kleinen Kazmortels. Golroph und Terlkuor, die mit ihm gewartet hatten, wurden bereits unruhig, und wenn er noch lange wartete, würden sie einfach davongehen, ob er nun der oberste Planetarier von Djornk war oder nicht. Jallesh wandte sich ärgerlich ab. Er fand, daß der Erleuchtete wenigstens ein kleines Zeichen dafür hätte geben können, daß er mit der Leistung der Jupter zufrieden war. Statt dessen erntete er pure Nichtachtung, und … Er hielt inne, denn er sah plötzlich überaus deutlich seinen Schatten auf dem gefrorenen Boden. Eine rosige Helligkeit breitete sich aus. Erschrocken drehte er sich um. Das Auge des Juwels hatte zu leuchten begonnen. Alle Blasen, nicht nur die, in denen Gefangene untergebracht waren, erstrahlten in rötlichem Licht. »Das ist noch nie geschehen!« verkündete Golroph aufgeregt. Der Umsetzer mußte schreien, um sich verständlich zu machen, denn
die Shirgen waren näher an den Stützpunkt herangerückt, und das Donnern und Krachen der Waffen, mit denen man sie zu vertreiben suchte, war ohrenbetäubend. »Es muß etwas mit dem Zweibeiner zu tun haben«, vermutete Kaldrin. Jallesh hatte gar nicht bemerkt, daß dieser Junge auch noch anwesend war. Er blickte ratlos zu den Blasen auf. Jallesh hatte das Auge des Erleuchteten nie zuvor in Aktion gesehen und konnte sich daher kein Urteil darüber erlauben, was in diesem Zusammenhang als normal zu bezeichnen war. Plötzlich flog die Tür im Sockel des Auges auf. Der Alte stürzte heraus, sah sich suchend um und rannte auf die Gruppe um Jallesh zu. »Eine Botschaft!« stieß er keuchend hervor. »Eine Botschaft vom Erleuchteten!« Jallesh straffte sich – jetzt erhielt er die Belohnung für seine Heldentaten. »Die Suche nach dem Objekt namens VIRGINIA«, keuchte der Alte. »Ihr sollt sie sofort einstellen. Kein Schiff darf auf Ghuurm landen, keines starten, solange das Auge strahlt.« »Was sagst du da?« fragte Jallesh unwillig. »Das kann nicht der Befehl des Erleuchteten sein.« »Aber es ist so. Entfernt euch vom Auge. Das Leuchten wird noch stärker werden. Es ist gefährlich, dieses Licht. Geht, geht doch endlich!« Jallesh bemerkte, daß der Alte davonrennen wollte, und er hielt ihn fest. »Du bleibst!« herrschte er ihn an. »Ich will mehr darüber wissen. Berichte mir alles, was du gehört und gesehen hast!« Aber der Alte stammelte nur wirres Zeug, dann sank er zu Boden und rührte sich nicht mehr. »Kaldrin, untersuche ihn!« befahl Jallesh grimmig. Der junge Jupter brauchte nur wenige Sekunden.
»Er schläft«, erklärte er verwundert. »Wir müssen ihn ins Warme schaffen.« »Er ist verrückt«, kommentierte Golroph. »Seit Jahren schon. Er ist so verrückt, daß er sogar seinen Namen vergessen hat. Wer weiß, was er gehört hat. Schaff ihn uns aus den Augen, Kaldrin.« »Und wenn er doch die Wahrheit gesagt hat?« murmelte Terlkuor unbehaglich. »Wie lange arbeitet er schon im Auge?« »Er arbeitet dort überhaupt nicht«, sagte Golroph unwillig. »Er war früher Umsetzer hier auf Ghuurm, aber er hatte sie schon damals nicht alle beieinander. Er wollte die Jupter aus der Sonnensteppe hinausführen – stellt euch das nur vor! Er ging in das Auge. Der Erleuchtete hatte ihn nicht dorthin gerufen, aber er ging trotzdem, aus freien Stücken. Und wißt ihr, warum? Er wollte dem Erleuchteten Fragen stellen! Seitdem hat er das Auge nie wieder verlassen. Er bildet sich ein, daß er der Wächter des Auges ist.« »Aber der Erleuchtete hat ihn am Leben gelassen, oder nicht? Und ich habe gesehen, wie er den Zweibeiner zu einer Blase führte. Er ist der einzige Jupter, der sich frei im Innern des Auges bewegen kann. Warum sollte der Erleuchtete ihm keine Botschaft zukommen lassen, wenn das notwendig ist?« Golroph bedachte Kaldrin mit einem seltsamen Blick. »Vielleicht hast du recht«, murmelte er. Fast gleichzeitig zuckte er zusammen, denn die Leuchtkraft des Auges verstärkte sich sprunghaft. »Hier können wir sowieso nicht bleiben«, entschied Jallesh. »Ich werde Verbindung mit Djornk aufnehmen. Vielleicht leuchtet dort das blaue Licht. Der Erleuchtete wird eine so wichtige Nachricht an mehrere Stationen durchgeben – falls es diese Botschaft wirklich gibt.« Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, endlich vom Auge des Erleuchteten wegzukommen. Während Kaldrin den schlafenden Alten zu einem der Wohnblocks schleppte, begaben die anderen sich zu einer der großen, leistungsfähigen Funkstationen des
Stützpunkts. Verblüfft blieben sie an der Tür stehen und starrten auf das Durcheinander, das sich vor ihnen ausbreitete. »Was ist hier passiert?« fuhr Golroph einen vorbeihastenden Jupter an, einen Gemeinen mit grünem Halsband. »Das siehst du doch«, erwiderte der Gemeine respektlos. »Die Geräte sind buchstäblich in die Luft geflogen.« »Aber warum?« »Es gibt offenbar eine Verbindung zum Auge des Erleuchteten, und die wurde vor ein paar Minuten aktiviert. Alle Geräte arbeiteten für kurze Zeit mit voller Leistung und dann – puff! Es war einfach zuviel für sie.« »Kennst du den Inhalt der Sendung?« »Ja, natürlich. Kein Schiff darf auf Ghuurm landen, solange das Auge leuchtet.« Golroph ließ den Jupter los, wagte es aber nicht, Jallesh ins Gesicht zu sehen. »Mir scheint, der Alte ist doch nicht ganz so verrückt, wie du geglaubt hast«, stellte Jallesh mit innerer Befriedigung fest. »Ich möchte nur wissen, was an diesem Zweibeiner tatsächlich so wichtig ist. Seht zu, daß ihr hier aufräumt und so schnell wie möglich die nötigen Reparaturen durchführt. Golroph, du bist mir dafür verantwortlich, daß ich in spätestens zehn Stunden mit meinen Leuten auf Djornk reden kann!« Golroph sah nicht sehr glücklich aus, als Jallesh und Terlkuor ihn verließen. Als sie ins Freie traten, bemerkten sie, daß rund um den Stützpunkt nicht mehr geschossen wurde. »Ist der Angriff der Shirgen schon vorüber?« fragte Jallesh. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, murmelte Terlkuor unbehaglich. »Diese Bestien sind außerordentlich stur. Normalerweise dauert es mehrere Tage, bis sie weiterziehen.« Jallesh trat wortlos an ein Sprechgerät und verlangte Auskunft. »Der Angriff ist eingestellt, Planetarier«, berichtete ein sehr müde aussehender Jupter. »Die Shirgen sind vorläufig ungefährlich. Sie
sind einfach eingeschlafen.« »Eingeschlafen?« rief Terlkuor ungläubig. »Ja, eingeschlafen«, bestätigte der Jupter auf dem Bildschirm. Dabei schloß er zwei seiner Augen. Dann dehnte sich sein Multiorgan zu einem langen Gähnen. »Tut mir leid, aber ich habe noch mehr zu tun.« Der Bildschirm wurde dunkel. »Jallesh, hier stimmt etwas nicht!« behauptete Terlkuor. »Die Shirgen schlafen nicht während eines Überfalls ein. Sie schlafen überhaupt so gut wie nie.« »Vielleicht haben sie eingesehen, daß sie nicht zu uns durchkommen können.« »Sie sind nicht imstande, irgend etwas einzusehen. Ein Kazmortel ist im Vergleich mit ihnen ein Genie.« Terlkuor unterbrach seinen Vortrag, als er sah, daß Jalleshs Multiorgan sich zu dehnen begann. Der Planetarier gähnte lange und ausgiebig. »Wie dem auch sei«, murmelte Jallesh, als er wieder sprechen konnte, »ich bin furchtbar müde. Kein Wunder nach allem, was passiert ist. Kümmere du dich um alles weitere, Terlkuor. Wenn es etwas Wichtiges gibt, findest du mich in meinem Quartier.« Damit tat er einige Schritte, lehnte sich dann schwer gegen die Wand und rutschte daran herunter. »Du kannst hier nicht schlafen!« rief Terlkuor entsetzt, wütend und ratlos zugleich. »Steh auf, Jallesh!« Als Jallesh nicht reagierte, packte Terlkuor ihn bei den Armen und schüttelte ihn, aber auch das brachte nichts ein. Der Umsetzer packte seinen Vorgesetzten und schleifte ihn in das Innere der Funkstation. Dort war es wenigstens warm. Angenehm warm sogar. Terlkuor sah ein paar Dutzend Jupter, die es sich in irgendwelchen Ecken bequem machten und sich anschickten, ein Schläfchen abzuhalten. Auch er selbst fühlte sich plötzlich sehr müde. »Ich darf nicht schlafen!« sagte er laut zu sich selbst. »Irgend etwas Unheimliches geschieht hier. Ich muß wachbleiben.«
Aber das war leichter gesagt als getan. Die Schwerkraft von Ghuurm schien plötzlich um etliche Grade zu steigen, und es zog den Jupter mit aller Macht zu Boden. Er schleppte sich bis zu einem Fenster, von dem aus man das Auge des Erleuchteten sehen konnte. Es leuchtete jetzt so hell, daß man überall auf dem Platz die zusammengesunkenen Gestalten schlafender Jupter sehen konnte. ,Ich muß hinaus und ihnen helfenʹ, dachte Terlkuor. ,Sie werden erfrieren, wenn man sie dort liegen läßt.ʹ Aber es waren so viele, die gerettet werden mußten, und er war ganz allein und darüber hinaus unsagbar müde … 6. Im Gegensatz zu ANIMA war die VIRGINIA ein echtes Raumschiff, und wo ANIMA nur passiv zu reagieren vermochte, da war die VIRGINIA imstande, sich zu wehren. Man hatte die Nebelwolke umflogen, aber ANIMA nicht gefunden, und auch Atlan hatte sich nicht gemeldet. Dafür waren schon wenig später die Steppenpiraten erschienen, insgesamt drei Schiffe, und es war zu befürchten, daß der Gegner sehr bald Verstärkung erhalten würde. Mitten in der Auseinandersetzung hatte man ANIMAS Notsignal aufgefangen. »Das Signal kommt genau aus der Richtung, in die diese Piraten uns dirigieren wollen«, stellte Arien Richardson fest. »Wir geben ihnen am besten ein wenig nach. Aber paßt auf, daß sie uns nicht falsch verstehen!« Ukeleie Ysa, die Leiterin der Waffenzentrale, lächelte nur. Wenig später drehten die Piraten überraschend ab. »Wo wollen sie hin?« fragte Traugott »Polo« Hawaii, der Erste Pilot, überrascht. »Jedenfalls nicht an jenen Ort, von dem ANIMAS Notsignal kam«,
s
tellte Richardson fest und runzelte die Stirn. »Merkwürdig. Funkzentrale, habt ihr etwas aufgefangen?« »Da war ein starker Hyperimpuls«, berichtete Carla Kaukiki. »Aber wir können nichts damit anfangen. Diese Staubwolken verzerren jedes Signal.« »Aber wir haben doch ANIMAS Signal einwandfrei empfangen«, protestierte Richardson. »Und die Piraten wissen offensichtlich, was es mit dem Impuls auf sich hat.« »Erstens haben wir uns vorhin wahrscheinlich per Zufall in einer besseren Position befunden«, meinte die Funkerin der VIRGINIA, »und zweitens dürften die Piraten Geräte haben, die auch hier in der Sonnensteppe einwandfrei arbeiten.« Diese Erklärung hatte etwas für sich. Arien Richardson beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die drei Piratenschiffe, die in eine kosmische Staubwolke eintauchten und damit scheinbar spurlos verschwanden. ,Kannst du mir einen Rat geben?ʹ fragte er lautlos. Mycara hob ihren kleinen, runden Kopf. »Wir sollten dahin fliegen, wo ANIMA sich jetzt befindet«, wisperte sie. »Und zwar schnell.« »Du meinst also, daß Atlan und ANIMA in Gefahr sind?« »In sehr großer Gefahr. Da bin ich mir sicher.« »Und wenn es eine Falle ist?« »Dann werden wir es schon noch rechtzeitig merken.« »Also gut«, murmelte Richardson und nickte Hawaii zu. »Wir folgen dem Signal des lebenden Raumschiffs.« Er hörte, daß jemand sich hinter ihm räusperte und drehte sich hastig um. Dhonat, der Steppenforscher aus dem Volk der Hugerer, sah beunruhigt zu ihm auf. »Ich hatte einen Traum«, sagte er in seinem rauhen, harten Akzent. »Einen furchtbaren Traum. Wir müssen uns beeilen.« »Wir sind bereits unterwegs«, versicherte Richardson beruhigend. »Willst du mir den Inhalt deines Traumes erzählen?«
»Lieber nicht«, meinte Dhonat beinahe unwirsch. »Obwohl …« »Obwohl was?« fragte der Celester ungeduldig, als Dhonat abrupt verstummte. »Nichts!« erklärte der Steppenforscher, und das war ungewöhnlich. Normalerweise diskutierte Dhonat gerne über alle möglichen Themen. Jetzt drehte er sich um und ging schnell davon. »Ein seltsamer Bursche«, murmelte Hawaii, als Dhonat die Zentrale verlassen hatte. »Warum macht er erst großartige Andeutungen, wenn er dann doch nichts sagen will?« »Wer weiß, was er geträumt hat«, sagte Richardson beschwichtigend. »Wahrscheinlich war es der reinste Horror. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir uns in der Sonnensteppe befinden. Auch wenn wir bis jetzt noch nichts vom Steppenwind gemerkt haben – wenn wir schlafen, mag er vielleicht doch unsere Träume beeinflussen. Morrisson, was sagt die Ortung?« »Keine Piratenschiffe mehr in Sicht«, meldete Morrisson Kaukiki. Arien Richardson sagte sich, daß diese Meldung eine beruhigende Wirkung hätte haben sollen. Seltsamerweise war das Gegenteil der Fall. * Der Ort, von dem aus ANIMA das Notsignal gegeben hatte, entpuppte sich als der vierte Planet eines nahen Sonnensystems. Die Tatsache, daß es bis dorthin praktisch nur ein Katzensprung war, machte den überraschenden Rückzug der Piraten noch rätselhafter. Es hätte ihnen leichtfallen sollen, unter diesen Bedingungen Verstärkung anzufordern, und selbst wenn sie aus unerfindlichen Gründen die Lust an der Jagd auf die VIRGINIA verloren hatten – warum waren sie nicht zu ihrem nahe liegenden Stützpunkt zurückgekehrt? Und einen Stützpunkt gab es auf diesem Planeten, einen sehr
großen sogar, wie die Energieortung bewies. »Komisch«, meinte Morrisson Kaukiki. »Ich kann zwar ein paar Raumschiffe anmessen, aber keines davon scheint sich auf einen Start vorzubereiten.« »So wie das von hier aus aussieht«, murmelte Hawaii sorgenvoll, »brauchen sie keine Raumschiffe, um uns herunterzuholen.« »Dazu müßten sie erstmal auf uns zielen«, gab Morrisson zu bedenken. »Bis jetzt haben sie uns noch nicht einmal geortet.« »Keine Funksprüche«, meldete seine Frau Carla aus der Funkzentrale. »Ob ihr es glaubt oder nicht, aber dieser Stützpunkt schweigt. Wenn ich mich nicht sehr irre, werden dort unten nicht einmal interne Gespräche geführt.« Die beiden Kjokerinnen betraten die Zentrale. »Wir haben einen Vorschlag zu machen«, begann Kjok‐ Almergund. »Eine von uns könnte mit einem Beiboot landen.« »Wir machen uns Sorgen«, fuhr Kjok‐Duun fort. »Wir könnten auskundschaften, wie es dort unten aussieht. Einer von euch könnte mich begleiten.« Arien Richardson dachte nur kurz über den Vorschlag nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ihr meint es gut«, sagte er, »aber mit einem solchen Unternehmen verschwenden wir nur kostbare Zeit. Irgend etwas stimmt dort unten nicht. Wenn die Piraten auf uns schießen wollten, hätten sie das längst tun können. Nein, wir landen, und zwar sofort!« »Wir wissen nicht einmal, ob ANIMA sich noch auf diesem Planeten aufhält«, murrte Hawaii. »Sie und Atlan können längst über alle Berge sein.« »Ohne uns zu verständigen?« Richardson schüttelte abermals den Kopf. »Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Komm schon, bring deine ›Kokosnuß‹ nach unten!« »Wenn ich die VIRGINIA als ›Kokosnuß‹ bezeichne, ist das eine Sache!« knurrte der Pilot mißgestimmt. »Wenn du es tust, klingt es für mich wie eine Beleidigung. Schon gut, es geht los!«
Aber auch als sie landeten, fiel kein Schuß, und niemand funkte sie an, um auch nur zu fragen, wer sie waren und was sie auf diesem Planeten zu suchen hatten. Sie entdeckten einen weiten Ring von Gebäuden und im Mittelpunkt dieses Ringes eine seltsame, turmartige Ansammlung von grell leuchtenden Blasen. Sandra McMooshel, die Zweite Pilotin, die inzwischen in die Zentrale gekommen war und ausnahmsweise keinen Streit mit Hawaii angefangen hatte, holte die »Blasen« in starker Vergrößerung auf den Schirm. Schweigend wies sie plötzlich auf eine Gestalt, die in einem der strahlenden Gebilde zu erkennen war. »Es muß nicht Atlan sein«, sagte Arien Richardson zögernd. »Er ist es!« behauptete Mycara. »Ich spüre es.« »Und ANIMA?« Sie entdeckten das lebende Raumschiff auf einem Landefeld. Es rührte sich nicht. Drei Piratenschiffe hatten ANIMA im Schußfeld, aber auch auf ihnen blieb alles still. »Sie haben ANIMA paralysiert«, vermutete Richardson. »Und sich selbst anschließend auch?« fragte Sandra McMooshel skeptisch. »Da draußen liegen Wesen – es müssen Jupter sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sich aus freien Stücken im Freien schlafen gelegt haben.« »Es ist das Auge«, sagte Dhonat, der unbemerkt die Zentrale betreten hatte. »Das Auge des Erleuchteten.« Richardson fuhr herum. »Was für ein Auge?« fragte der scharf. »Dieser leuchtende Turm dort«, erwiderte Dhonat ungerührt. »Ich habe schon mal davon gehört. Das hier muß der Planet Ghuurm sein, und das Auge ist eine Kontaktstation.« »Warum hast du uns das nicht schon vorher erzählt? Dhonat, wir brauchen jede Information, die wir nur bekommen können!« »Ich weiß«, erwiderte der Hugerer leise, aber es hörte sich keineswegs schuldbewußt an. »Es tut mir leid, aber ich habe vorher einfach nicht … daran gedacht.«
Arien Richardson hatte das deutliche Gefühl, daß dies nur eine Ausrede war, aber er verzichtete darauf, eindringlichere Fragen zu stellen. Vielleicht, so dachte er, hatte Dhonat diese Informationen in seinem Traum erhalten – es klang zwar unwahrscheinlich, ließ sich aber nicht ausschließen. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn der Steppenforscher zumindest jetzt seine Zurückhaltung aufgegeben und seinen Traum geschildert hätte, aber offensichtlich wollte Dhonat über dieses Thema nicht sprechen. »Wir werden versuchen, ANIMA zu wecken – aber zuerst müssen wir Atlan aus dem Auge herausholen«, stellte Richardson fest. Ein pelziges Knäuel landete auf seiner Schulter, quietschte Mycara herausfordernd an und flitzte an dem hochgewachsenen Celester hinab. Mycara stieß ein unwilliges Geräusch aus und zeigte ihre kleinen, spitzen Zähne. »Du hast recht«, sagte Arien zu seiner kleinen Freundin und erhob die Stimme: »Florian Lopp, fang auf der Stelle diesen Derwisch ein. Sperr dich am besten gleich dazu.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Sandra, teile eine Wache ein. Auch wenn hier alles zu schlafen scheint, sollten wir gut auf die VIRGINIA aufpassen. Niemand geht ohne Schutzanzug nach draußen. Wir wissen nicht, was uns dort erwartet!« * Über Ghuurm war die Nacht hereingebrochen, und die düsteren Wolken verbargen die dicht stehenden Sterne und leuchtenden Nebelwolken der Sonnensteppe. Dennoch war es nicht dunkel: Das Auge des Erleuchteten hüllte die gesamte Umgebung in ein rosiges Licht. Die Gebäude warfen tiefe Schatten. Hinter vielen Fenstern brannte Licht, aber nirgends rührte sich etwas. »Das ist gespenstisch«, murmelte Wasterjajn Kaz und leuchtete einem Jupter ins Gesicht. »Meinst du wirklich, daß das Auge des
Erleuchteten daran schuld ist?« »Ich bin mir dessen sogar ganz sicher«, erklärte Dhonat und sah sich dabei nervös nach allen Seiten um. »Und warum schläfert es uns dann nicht auch ein?« fragte der Doppelköpfige. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht sind wir noch nicht lange genug hier – oder es hat diese Wirkung nur in dem Augenblick, in dem es zu arbeiten beginnt.« Wasterjajn Kaz sah sich um – Arien Richardson war mit seinen Begleitern bereits auf dem freien Platz angelangt, der das Auge umgab. Niemand war in der Nähe. »Dhonat«, sagte der Doppelköpfige leise. »Erzähle mir deinen Traum. Bitte! Du weißt doch, was hier geschehen wird, nicht wahr?« »Ich weiß gar nichts«, wehrte der Steppenforscher ärgerlich ab. »Es war ein Alptraum und sonst nichts.« »Warum hast du ihn dann überhaupt erwähnt?« »Weil er mich im ersten Augenblick beeindruckt hat, das ist alles.« »Das ist nicht alles. Verdammt, bleib stehen und antworte mir: Wovor hast du Angst? Davor, daß alles so kommt, wie du es in deinem Traum gesehen hast? Wird Atlan sterben? Werden wir alle sterben?« Der Hugerer zögerte, dann wandte er sich ab und ging davon. Wasterjajn Kaz betrachtete den schlafenden Jupter, dann schaltete er die Lampe aus und folgte dem Steppenforscher. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, noch länger Fragen zu stellen, und er sagte sich, daß es im Grunde genommen vielleicht sogar besser war, nicht zu wissen, was die Zukunft bringen würde. Was ihn selbst betraf, so war ihm sein Leben nicht mehr sehr wichtig. Er wußte, daß er sein Volk für immer verloren hatte. Vielleicht gab es irgendwo noch Überlebende, aber es war unwahrscheinlich, daß er sie finden würde. Alkordoom war groß – wo hätte er mit seiner Suche beginnen sollen? Er hatte sich damit abgefunden, daß er der letzte seiner Art war.
Als er die anderen erreichte, fiel ihm auf, daß einige der Celester sich langsamer und mühevoller als sonst bewegten. Klecks, das Kunstwesen, stapfte schwankend auf den Sockel des Auges zu und begann, daran herumzutasten, aber seine Bewegungen wirkten ungerichtet, ziellos. ,Jetzt fängt es auch bei uns anʹ, dachte der Doppelköpfige betroffen. Dabei haben wir es nicht einmal mit dem Erleuchteten selbst, sondern nur mit einer seiner Kontaktstationen zu tun.ʹ »Wir müssen den Eingang finden!« sagte Arien Riehardson energisch, und für einen Augenblick hoffte Wasterjajn Kaz, daß zumindest einige aus dieser Gruppe imstande waren, dem Einfluß des Auges zu trotzen. Aber dann sah er, daß der Celester bei dem Versuch, dem Kunstwesen Klecks zu folgen, über seine eigenen Füße stolperte. Richardson fing sich zwar schnell wieder, aber wenn selbst er, der mentalen Einflüssen gegenüber so gut wie immun war, schon jetzt zu reagieren begann, waren die Aussichten auf einen Erfolg nicht sehr groß. »Glaubst du, daß du da hinaufkommen kannst?« fragte Dhonat, ohne noch einmal auf ihr Gespräch einzugehen. Der Doppelköpfige betrachtete den Sockel, der etwa fünf Meter hoch war, und die Blasen, die sich darüber wölbten. »Tut mir leid, mein Freund, aber ich fürchte, das schaffe ich auch nicht«, sagte er schließlich. »Jeder von uns kann es!« rief Kjok‐Almergund schrill. »Worauf wartest du noch, Wasterjajn? Komm, wir holen ihn heraus!« Der Doppelköpfige dachte erschrocken, daß das Auge des Erleuchteten offenbar nicht nur einen einschläfernden, sondern auch einen verdummenden Einfluß haben mußte. Sie alle trugen Schutzanzüge, und zu denen gehörten Antigravgeräte. Sie brauchten nicht nach einem Eingang zu suchen. Sie konnten zu der fraglichen Blase hinaufsteigen, die Wand zerstören und Atlan herausholen. Als er sich umsah, stiegen bereits mehrere Celester in die Höhe. Er
folgte ihnen, und als er oben ankam, mußte er feststellen, daß er sich falsche Hoffnungen gemacht hatte: Woraus auch immer diese Blasen bestehen mochten, sie waren so gut wie unzerstörbar. »Versucht es an anderen Stellen«, kommandierte Arien Richardson. »Bei Blasen, in denen kein Gefangener sitzt.« Wasterjajn Kaz dachte, daß dies kein schlechter Gedanke war, aber er zweifelte daran, daß man auf diese Weise in das Auge hineingelangen konnte. Dieses Gebilde gehörte dem Erleuchteten, und der hatte sicher dafür gesorgt, daß man ihm keinen seiner kostbaren Gefangenen rauben konnte. Während der Doppelköpfige allen Befürchtungen zum Trotz versuchte, einen Weg zu öffnen, bemerkte er jedoch, daß seine Bewegungen langsamer wurden. Seine Gedanken irrten ab. Verzweifelt riß er sich zusammen. Arien Richardson steuerte schwerfällig dem Boden zu, und er zog Kjok‐Almergund mit sich, die offenbar die Orientierung verloren hatte. Zwei Celester krochen mit müden Bewegungen über eine der Blasen, und der eine legte sich plötzlich zum Schlafen zurecht. Dhonat schwebte regungslos ein paar Meter vom Auge entfernt. »Wir müssen uns zurückziehen«, sagte Riehardson über Funk, und es hörte sich an, als müsse er bei jedem einzelnen Wort ein Gähnen unterdrücken. »Hört ihr mich? Alle, die nicht mehr bei Sinnen sind, müssen vom Auge herunter!« Er selbst und ein anderer Celester stiegen erneut auf, um jene, die in Schlaf gefallen waren, zu holen und in Sicherheit zu bringen. Falls es in der Umgebung des Auges so etwas wie Sicherheit überhaupt noch gab. »Hier VIRGINIA!« erklang Sandra McMooshels Stimme über den Helmfunk. »Was ist bei euch los? Sollen wir euch helfen?« »Nein, bleibt, wo ihr seid«, befahl Richardson. »Der Einfluß des Auges ist zu stark. Wir ziehen uns zurück.« Aber es war kaum noch jemand imstande, sich zurückzuziehen, und Richardson selbst tastete sich wie ein Schlafwandler voran.
Wasterjajn Kaz packte Dhonat am Arm und zog ihn mit sich nach unten. Dabei begegnete er dem Celester. Er sprach ihn über Funk an, aber Richardson reagierte nicht. Der Doppelköpfige flog ganz nahe an den Celester heran. »Wir schaffen es nicht«, sagte er drängend. »Wir brauchen Hilfe!« »Wir müssen es schaffen!« flüsterte der Celester keuchend. Dann sank er in sich zusammen. »VIRGINIA!« rief der Doppelköpfige. »Sie schlafen fast alle. Ich schaffe es nicht ohne Hilfe, sie vom Auge wegzubringen. Kommt und helft uns!« Er erhielt keine Antwort. Zu seinem Erstaunen war er selbst offenbar verhältnismäßig widerstandsfähig. Vielleicht lag es daran, daß er zwei Gehirne besaß, die sich gegenseitig ergänzten. Er war zwar erschreckend langsam in seinen Reaktionen, aber er konnte sich immer noch einigermaßen gezielt bewegen. Er schleppte die anderen vom Auge weg, einen nach dem anderen. Ein paarmal rief er noch nach der VIRGINIA, aber niemand antwortete ihm. Als letzten brachte er das Kunstwesen Klecks in die fragwürdige Sicherheit im Schatten eines Gebäudes. »… verstehe nicht viel von Technik«, hörte er Klecks blubbern. »Weiß auch nicht, wie es funktioniert. Bin so müde …« Wasterjajn Kaz blickte verzweifelt in die Runde. Einige seiner Gefährten bewegten sich schwach, vollführten wie im Traum Bewegungen, die der Doppelköpfige als kraftlose Fortsetzung jener Handlungen erkannte, mit denen sie Atlan aus dem Auge hatten herausholen wollen. Er ging umher und nahm ihnen Waffen und Werkzeuge ab, aus Angst, daß sie sich in ihrem Trancezustand gegenseitig verletzen könnten. Dann ertappte er sich dabei, daß er geistlos zwischen den Gefährten und der Stelle, an der er die Geräte deponierte, hin und her pendelte. Wenig später sank er zu Boden und fiel in tiefen Schlaf. Tiefe Ruhe herrschte im Stützpunkt der Jupter. Die Wolken jagten über den Himmel, der Sturm heulte um die Gebäude, und ab und
zu prasselten Hagelschauer hernieder. Sonst rührte sich nichts und niemand. Nur im Auge des Erleuchteten betasteten hilflose Gefangene die rosig schimmernden Wände ihrer seltsamen Kerker. 7. Irgend jemand wanderte durch lichtlose Gänge, mit Schritten, die wie Donnerschläge hallten, und eine laute Stimme rief ihren Namen. »ANIMA!« Sie hörte es, aber sie konnte nicht darauf reagieren. Sie befand sich in einem seltsamen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, und der Klang der Stimme und ihres Namens konnte sie nicht wecken, sondern beschwor lediglich Bilder herauf, die sie gerne vergessen hätte. »ANIMA!« Hartmann vom Silberstern im Kampf gegen Vergalos Schatten, das blitzende Schwert in der Hand; die Gegner, die in immer neuen Scharen aus dem Boden und den Säulen hervorwuchsen; Verrin, dessen glänzender Körper niedergerissen wurde. Und sie selbst hilflos, vor Angst und Entsetzen fast erstarrt. »Du mußt es tun, ANIMA! Beeile dich!« Und dann flog ein Speer durch die Luft und durchbohrte den Ritter der Tiefe. Nein, sie wollte keine Stimmen mehr hören, die ihren Namen riefen. Ihr Ritter war tot, und sie wollte nur noch schlafen und vergessen. Aber die Stimme gab keine Ruhe. »Du mußt aufwachen, ANIMA! Dein Ritter ist in Gefahr.« O nein, ihr Ritter war tot. »Atlan befindet sich im Auge des Erleuchteten!« Atlan! ANIMA erkannte erschrocken, daß sie sich auf Vergangenes
konzentriert und darüber die Gegenwart vergessen hatte. Sie begann, gegen die Trägheit anzukämpfen, und sie wunderte sich darüber, wie schwer es ihr fiel, diese entsetzliche Müdigkeit abzuschütteln. Sie erinnerte sich daran, daß man sie paralysiert hatte, aber von der eigentlichen Lähmung spürte sie nichts mehr. Es war etwas anderes, das sie festhielt und in den Schlaf zu bannen versuchte. »Wer bist du?« fragte sie mühsam. »Colemayn. Du kennst mich.« Ja, sie kannte ihn, und seltsamerweise gab ihr das Bewußtsein seiner Gegenwart neue Kraft. »Woher kommst du?« wollte sie wissen. »Wie hast du mich gefunden?« »Wir haben keine Zeit für unnütze Fragen«, behauptete Colemayn. »Atlan ist in höchster Gefahr. Noch kann er dem Erleuchteten standhalten, aber das Auge wird noch stärker zu glühen beginnen, und dann kann es passieren, daß alles Leben auf diesem Planeten erlischt. Wir müssen den Arkoniden aus dem Auge befreien, ehe es zu spät ist.« »Er darf nicht sterben!« Sie bäumte sich auf, sammelte ihre Kräfte und stellte fest, daß sie wieder fähig war, ihre normale Gestalt anzunehmen. Gleichzeitig entdeckte sie das Gebilde im Mittelpunkt der Anlage, und sie erschrak. »Ist es das?« fragte sie Colemayn. »Diese glühenden Blasen – sind sie das Auge des Erleuchteten?« »Ja.« »Ich werde diese Blasen zerschmettern.« »Nein, warte. Ich glaube nicht, daß wir auf diese Weise etwas erreichen. Hilf mir, den Eingang zu finden.« »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich bin etwas zu groß, um nach einer kleinen Tür zu suchen. Ich könnte mich in einen Kristall verwandeln und die Kuppeln zerbrechen.«
»Damit warten wir noch«, bestimmte Colemayn. »Wenn es nicht anders geht, müssen wir Gewalt anwenden, aber zuerst versuchen wir es auf andere Weise. Halte dich bereit, sofort zu starten, wenn ich Atlan zu dir bringe. Er muß aus der Sonnensteppe hinaus, so schnell wie möglich, hast du verstanden?« »Aber ich kann doch nicht einfach nur warten! Ich muß etwas tun. Ich muß ihm helfen.« »Du wirst ihm helfen, indem du ihn fortbringst.« Colemayn eilte zu einem Ausgang, den sie für ihn schuf. Sie lag jetzt dicht neben dem Auge, und sie entdeckte unter den reglosen Gestalten draußen auf dem Platz auch Besatzungsmitglieder aus der VIRGINIA. »Was wird aus den Celestern und den Steppenforschern?« rief sie Colemayn zu, aber der Weltraumtramp antwortete ihr nicht. Beunruhigt und nervös beobachtete sie ihn. Er schritt am Sockel des Auges entlang, blieb ab und zu stehen und betastete kleine Vorsprünge an der Wand, und dann verschwand er auf der anderen Seite des Gebäudes. Wieder war sie alleine. Sie hielt Ausschau nach Atlan, und instinktiv ahnte sie, in welcher der Blassen er steckte. Durch die leuchtende Wand war der Arkonide kaum zu erkennen, aber es schien ihr, als säße er aufrecht im Zentrum der Blase, regungslos, wie gebannt. Was tat er dort? Stellte der Erleuchtete Fragen an ihn, und beantwortete er sie? Oder weigerte er sich, irgend etwas zu verraten, und glühte das Auge deshalb immer heller? Sie wußte es nicht, und die Ungewißheit machte sie nervös. Was, wenn Colemayn keine Tür fand – oder wenn er sie zwar fand, es dann aber schon zu spät war? ANIMA hatte einmal mit ansehen müssen, wie ihr Ritter starb. Sie wollte das nie wieder erleben. Sie hatte sich geschworen, eher ihr eigenes Leben zu opfern, als zuzulassen, daß man Atlan etwas antat. Wo blieb Colemayn? Warum meldete er sich nicht?
Sie begab sich auf die Suche nach ihm, aber er war verschwunden. Für eine kurze Weile schöpfte sie Hoffnung. Offensichtlich, so dachte sie, hatte er die Tür gefunden. Er war bereits im Auge und konnte jeden Augenblick in jener Blase erscheinen, in der Atlan gefangensaß. Voller Spannung wartete sie, bereit, den Arkoniden aufzunehmen und sofort mit ihm davonzufliegen – aber nichts geschah, und ihre Sorge und Nervosität wurden immer stärker. Schließlich faßte sie einen Entschluß. Sie hatte dem Weltraumtramp eine lange Frist eingeräumt. Jetzt war sie nicht gewillt, noch länger zu warten. Sie veränderte ihre Gestalt, fest entschlossen, die Blase mit Gewalt zu öffnen und ihren Ritter herauszuholen. * Es war Colemayn nicht sonderlich schwergefallen, die äußere Tür zu finden, aber leider war das Problem damit nicht gelöst. Drinnen stand er vor einer Schleuse, die mit einem gelben Siegel versehen war, und es wollte ihm nicht gelingen, dieses Siegel zu durchbrechen. Er dachte an ANIMA und hoffte, daß sie die Geduld behielt, während er das Siegel studierte und nach jenem Punkt suchte, an dem er ansetzen mußte. Dabei bemerkte er, daß seine Gedanken immer wieder abirrten. Das war ein schlechtes Zeichen. Draußen, außerhalb des Auges, hatte er der geheimnisvollen Ausstrahlung widerstehen können. Jetzt aber wurde sie offenbar auch für ihn zu stark. Eine plötzliche Ungeduld erfaßte ihn, und er schlug wütend mit der Faust auf das Siegel. Im nächsten Augenblick erschrak er über sich selbst. Er lauschte in sich hinein. Es war nicht seine Art, ungeduldig zu werden und in spontanem Zorn Gewalt anzuwenden. Ganz
abgesehen davon, daß er dieses Siegel nicht mit Faustschlägen brechen konnte. Es mußte an dem Auge liegen und der hier drinnen noch viel stärkeren Ausstrahlung. Colemayn glaubte eines mit absoluter Sicherheit zu wissen: Wenn der Erleuchtete erfuhr, daß Atlan aus einer anderen Galaxis kam, dann würde er den Arkoniden töten, und zwar auf der Stelle. Der Erleuchtete mußte einen Grund gehabt haben, alle Bereiche von Alkordoom unter Kontrolle zu bringen, und er mußte auch einen Grund gehabt haben, es in dieser ganz bestimmten Form zu tun. Alle Facetten waren – wenn auch aus den unterschiedlichsten individuellen Gründen – geradezu darauf versessen, Fremdlinge einzufangen. Colemayn glaubte nicht daran, daß das Zufall war. Wer immer von außen in diese Galaxis eindringen wollte, der blieb meist schon im Netz der Facetten hängen. Wenn er sich da hindurchwand, dann fingen ihn die Steppenpiraten. Und für die, die noch weiter in Richtung Nukleus vordrangen, gab es noch ganz ändere Abwehrmaßnahmen. Wenn man all dies auf einen gemeinsamen Nenner brachte, dann mußte man beinahe zwangsläufig zu dem Schluß kommen, daß der Erleuchtete auf eine von außen kommende Gefahr gewartet hatte – fast fünftausend seiner langen Jahre hindurch. Denn mit Widerstand aus der Galaxis Alkordoom brauchte er nach Lage der Dinge schon seit langem nicht mehr zu rechnen. Und nun war ihm ausgerechnet Atlan ins Netz gegangen. Colemayn spürte, wie sich ihm die Haare sträubten. Wenn er die Oberfläche der Schleuse berührte, dann sprangen knisternde blaue Funken zwischen seinen Händen und dem grauen Metall hin und her. Er ballte die Fäuste und kämpfte gegen die Versuchung an, dem Siegel erneut mit Schlägen zuleibe zu rücken – und dann, durch einen Zufall, sah er es. Seine Hände waren dem Siegel so nahe, daß die blauen Funken nur so hätten sprühen müssen, aber das war nicht der Fall. Statt
dessen begannen neun Punkte auf der Fläche des Siegels zu leuchten, acht kleinere und ein großer. Die Stellen, an denen das Leuchten erschien, unterschieden sich ansonsten in nichts von der übrigen Oberfläche des Siegels. Acht Facetten gab es in Alkordoom, und die acht kleineren Leuchtpunkte bildeten die Ecken eines unregelmäßigen Achtecks. In der Mitte saß ein größerer, leuchtender Fleck, er stand dort zweifellos für das Juwel. Colemayn hielt den Atem an und zwang sich gewaltsam, ganz ruhig zu bleiben, während er das Muster der leuchtenden Flecke betrachtete und herauszufinden versuchte, was sich damit anfangen ließ. Vielleicht mußte man sie in einer bestimmten Reihenfolge berühren – dann hatte er kaum eine Chance, denn bis er alle Kombinationen durchprobiert hatte, war es mit Sicherheit schon zu spät. Oder man mußte gleichzeitig einen Kontakt zu allen neun Punkten herstellen – dann brauchte man dazu ein Werkzeug oder ein Lebewesen mit sehr großen und noch dazu sehr seltsam geformten Händen. Colemayn zog ein Stöckchen aus einer seiner vielen Taschen und drückte es gegen einen der Punkte. Er war vorsichtig genug, sich dabei seitlich vom Siegel zu halten. Der Stab flammte sofort auf, und gleichzeitig schoß eine dünne Nadel aus blauem Licht aus dem Siegel hervor. So ging es also nicht. Wenn er herumexperimentierte, reizte er diesen Mechanismus nur, und früher oder später würde er auf rabiatere Abwehrmethoden stoßen. Colemayn trat erneut vor das Siegel hin, hütete sich aber, es zu berühren. Vielleicht, so dachte er, konnte man dem Problem mit Logik beikommen: Acht Facetten gab es in Alkordoom, und wer in ihren Machtbereichen leben mußte, der mochte sie für mächtig halten. Der Erleuchtete tat das ganz gewiß nicht. Also war nur der mittlere Fleck von wirklicher Bedeutung. Die Frage war nur: Von welcher
Bedeutung? Konnte der Mechanismus hinter dem Fleck zwischen Freund und Feind unterscheiden? Der Weltraumtramp wußte, daß er Atlan retten mußte. Er hatte gar keine andere Wahl, als das Risiko einzugehen, und er war bereit, es zu tun. * Atlan wußte nicht, wie lange er sich bereits in seinem schimmernden Kerker befand, aber ihm war klar, daß er es nicht mehr lange aushalten würde. Man hatte ihm weder Wasser noch Nahrung gebracht, und selbst der Zellaktivator war nicht imstande, diesen Mangel auszugleichen. Was den Arkoniden irritierte, das war die Tatsache, daß niemand auch nur eine einzige Frage an ihn richtete. Hatte Jallesh ihm nicht gesagt, daß er die Stimme des Erleuchteten hören sollte? Nun gut, er wartete darauf, aber der Erleuchtete schwieg. Das war noch nicht alles: In der seltsamen Blase war es auf wirklich unnatürliche Weise still. Absolut still. Es gab kein Knistern, kein Rauschen, kein Summen. Nicht einmal das Heulen des Sturmes drang bis an diesen Ort. Als Atlan mit dem Fuß auf den Boden stampfte, vernahm er nichts, und selbst als er mit Kaldrins Messer gegen die Wände klopfte, entstand kein Geräusch. Allmählich wurde diese Stille zu einer Bedrohung. Der Arkonide fragte sich, was der Erleuchtete damit bezweckte. Wartete er darauf, daß sein Opfer zu reden begann, nur um dieser Stille zu entkommen? Das wäre ein ziemlich umständliches Verfahren gewesen. Aber was wußte er schon über den Erleuchteten und seine Art, zu denken und zu planen? Andererseits hatte sich das Glühen der Wände immer weiter verstärkt – oder kam es ihm nur so vor? Es ist stärker geworden, bestätigte der Logiksektor.
,Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?ʹ fragte Atlan in seinen Gedanken. Das Extrahirn schwieg. Offenbar konnte es mit dieser Situation auch nichts anfangen. Wenn nicht bald etwas geschah – ja, was sollte er dann unternehmen? Es gab keine Möglichkeit, aus dieser Blase auszubrechen. Es gab nicht einmal irgendeinen Wächter, den man hätte überlisten können. Und die absolute Lautlosigkeit zerrte an den Nerven. * Weit entfernt, im Zentrum der Sonnensteppe, empfing der Erleuchtete die Daten, die das Auge ihm lieferte. Das, was er bisher über Atlan erfahren hatte, beunruhigte ihn. Dieses Wesen war wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte von Anfang an unübersehbare Spuren hinterlassen. Allem Anschein nach handelte es sich um einen Einzelgänger, obwohl auch einiges dafür sprach, daß dieses veränderliche Objekt namens ANIMA mehr als nur ein zufälliger Verbündeter Atlans war – und außerdem hatte der Fremde mittlerweile Freunde gefunden. Woher war er gekommen, und was hatte er vor? Anfangs hatte der Erleuchtete geglaubt, es handele sich um einen Celester. Dieses kleine, in Alkordoom ziemlich unbedeutende Volk schien für einige Überraschungen gut zu sein. Aber Atlan war kein Celester. Die Daten bewiesen es. Er war in seiner ganzen Beschaffenheit den Angehörigen dieses Volkes sehr ähnlich, aber er gehörte ihm nicht an. Und er hatte etwas an sich, was sich dem Auge widersetzte. Das war noch nie vorgekommen. Das Auge war ein so zuverlässiges Instrument, daß der Erleuchtete an die Möglichkeit einer Fehlfunktion gar nicht erst dachte.
Er schickte mehr Energie in das Auge, immer noch mehr. Er wußte, daß er damit die Jupter vorübergehend außer Gefecht setzte, aber das kümmerte ihn nicht. Das Auge konnte noch sehr viel mehr aushalten. Wenn es mit voller Kraft arbeitete, würden seine Ausstrahlungen so stark sein, daß alles Leben auf dem Planeten Ghuurm ausgelöscht wurde. Nur die Gefangenen im Auge würden überleben – zumindest so lange, bis der Erleuchtete erfahren hatte, was er zu wissen wünschte. Und er wollte alles wissen. Noch einmal verstärkte er die Energiezufuhr. Das Auge flammte auf. Seine Leuchtkraft verdoppelte sich im Bruchteil einer Sekunde. Fast im selben Augenblick geschahen auf Ghuurm drei Dinge. Atlans Zellaktivator begann plötzlich so rasend schnell zu pochen, daß der Arkonide erschrocken die Hand auf das lebenserhaltende Gerät preßte. Colemayn preßte einen Finger auf den leuchtenden Fleck im Zentrum des Siegels und öffnete damit die ins Innere des Auges führende Schleuse. Und ANIMA warf sich wie ein lebendes Geschoß auf das Auge des Erleuchteten, um die Blasen zu zerbrechen und ihren Ritter zu retten. Der Erleuchtete registrierte diese Ereignisse und noch einiges mehr, und er mußte von einem Augenblick zum anderen erkennen, daß er sich verkalkuliert hatte. Er hatte sich im Zentrum von Alkordoom sicher gefühlt, aber er war es nicht. Er würde es auch nie wieder sein. Er hatte geglaubt, daß jeder Feind sich in diesem riesigen Netz, das Alkordoom hieß, fangen mußte. Wer immer auch versuchen mochte, von außen zum Erleuchteten vorzustoßen, der bekam es mit den Facetten und ihren Häschern zu tun, und für den unwahrscheinlichen Fall, daß er dies alles überstand, standen die Steppenpiraten bereit, die alles angriffen, was sich in ihren Herrschaftsbereich wagte.
Und doch hatte all das nichts genützt. Die Gefahr war da, sie ließ sich nicht länger leugnen. Sie würden kommen, um EVOLO zu zerstören, und sie würden es schaffen – keine Facette, kein Steppenpirat konnten das verhindern. Und der Erleuchtete selbst würde nichts anderes als ein hilfloses Opfer sein. Es war ein Fehler gewesen, ein Herrschaftssystem aufzubauen, das ganz Alkordoom umfaßte, denn ein so gewaltiges System erregte Aufmerksamkeit. Es war, als würde ganz Alkordoom dem Feind entgegenschreien: »ich bin das Versteck des Erleuchteten!« Und der Feind hatte das Signal empfangen und war gekommen, und niemand hatte ihn aufhalten können. Nie wieder würde der Erleuchtete einen solchen Fehler begehen, das jedenfalls nahm er sich in diesem Augenblick vor. Er brauchte ein neues Versteck. Eines, in dem er sicher war und in dem EVOLO zu jener furchtbaren Waffe heranreifen konnte, als die der Erleuchtete ihn geplant hatte. Gerade jetzt konnte jede Störung verheerende Folgen haben. EVOLO war schutzlos, und er war es in um so stärkerem Maße, je größer er wurde. Solange er nicht vollendet war, drohten ihm und seinem Schöpfer zahllose Gefahren. Der Erleuchtete beschloß, von panischem Schrecken getrieben, Alkordoom sofort zu verlassen. EVOLO nahm er mit. 8. Atlan hielt noch immer die Hand auf dem Zellaktivator, als in der vor ihm liegenden Wand ein Riß entstand. Gleichzeitig hatte auch die Stille ein Ende. Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, hinter dem Riß verschwommen etwas sehr Großes zu sehen, das sich bewegte, und über das Heulen und Brausen des Sturmes hinweg vernahm er einen Schrei, aber er bekam keine Gelegenheit, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen.
Überall bildeten sich jetzt Risse. Es schien, als wolle das ganze Auge des Erleuchteten früher oder später in sich zusammenbrechen. Vielleicht ging es sogar sehr schnell – höchste Zeit, endlich nach einem Ausgang zu suchen. Atlan hatte keine Ahnung, worauf die plötzlichen Veränderungen zurückzuführen waren, aber im Augenblick interessierte ihn das auch nicht im geringsten. Keiner der Risse war breit genug, um Atlan einen Ausstieg zu bieten, und außerdem zeigten sie in die falsche Richtung. Er hatte das Auge des Erleuchteten von außen gesehen – ein Abstieg über die vielen, runden Blasen war ohne die entsprechenden Hilfsmittel höchstens dazu geeignet, sich die Knochen zu brechen. Er mußte den Weg nehmen, den er gekommen war. Als er die Wand berührte, um nun, unter veränderten Bedingungen, nach der Tür zu suchen, zuckte er entsetzt zurück. Das Material war heiß geworden. Auch das Glühen hatte sich geändert, und hinter einem der Risse sah der Arkonide winzige, blaue Flammen züngeln. Er trat mit dem Fuß gegen jene Stelle, an der er die Tür vermutete, und tatsächlich entstanden einige zusätzliche Risse. Gleichzeitig fauchte ihm ein heißer Windstoß entgegen. Er nahm das Messer zu Hilfe und schaffte es mit einiger Mühe, einen Riß so weit zu verbreitern, daß er sich hindurchzwängen konnte. Er versengte sich dabei ein wenig, aber das war ihm egal. Er hielt Ausschau nach der schwebenden Plattform, aber die war nicht in Sicht. Das war schlecht. Im Innern des Auges gab es einen großen Hohlraum, um den herum die einzelnen Zellen angeordnet waren. Offenbar entsprach es nicht den Plänen des Erleuchteten, seinen Gefangenen ab und zu einen erholsamen Spaziergang zu gönnen, denn es gab weder Galerien noch Treppen, über die man die einzelnen Zellen erreichen konnte. Wen der Erleuchtete hier zu betrachten wünschte, der wurde mit der Plattform zu der betreffenden Blase gebracht und blieb dort, bis man ihn wieder
abholen konnte. Zum Glück gab es wenigstens einige metallene Pfeiler und Streben, an denen man sich zur Not entlanghangeln konnte. Leider waren auch sie mittlerweile so heiß geworden, daß man sie nicht mehr mit der bloßen Hand berühren konnte. Aber das Schuhwerk des Arkoniden würde ihn vor der Hitze schützen – zumindest vorerst noch. Er zerriß den Umhang, den Kaldrin ihm vorsorglich gegeben hatte, bevor sie sich auf den Weg zum Auge gemacht hatten. Einen langen Streifen warf er über eine über seinem Kopf beginnende Strebe, zog daran und blickte skeptisch hinauf. Er hatte Glück: Das Material war widerstandsfähig genug. Nachdem er sich auf diese Weise gegen einen Absturz gesichert hatte, trat er auf die erste Strebe hinauf und erreichte alsbald einen Pfeiler, an dem er nach unten gleiten konnte. Er sah sich jedoch erst noch einmal um. Die Zellen, die mit der seinen auf einer Höhe lagen, begannen jetzt zu zerfallen. Zum Glück fielen die Trümmerstücke nach innen, anstatt in den Mittelschacht. Und außerdem waren diese Zellen samt und sonders leer. Atlan umwickelte seine Hände mit zwei Lappen, ergriff den Pfeiler und rutschte auf die nächste Ebene hinab. Dort sah es schon weniger erfreulich aus. Vier Zellen waren belegt. In einer der Blasen sah Atlan den Thater, der ihm schon bei seiner Ankunft aufgefallen war. Dieser Thater war auch der bisher einzige, der es geschafft hatte, sich aus seiner Zelle zu befreien. »Wir müssen die anderen herausholen!« rief Atlan ihm zu. Der Thater starrte ihn zunächst verständnislos an. Atlan benutzte wieder seine primitive Sicherungsschlinge und ging zu ihm. »Hier«, sagte er, und dabei drückte er dem Fremden einen zweiten Stoffstreifen in die Hand. Der Thater machte sich wortlos auf den Weg zu einer der Zellen. Als er sein Ziel erreicht hatte, versetzte er der Wand einen kräftigen Fußtritt. Ein Stück, gut zwei Meter hoch und ebenso breit, brach ab
und fiel mit Donnergetöse ins Innere der Zelle. Der Gefangene war geistesgegenwärtig genug, um zur Seite zu springen. Dann allerdings bewies er einen totalen Mangel an Vernunft, denn kaum sah er eine Öffnung, durch die er fliehen konnte, da stürzte er vorwärts. Er wäre mit tödlicher Sicherheit in den Schacht gefallen, wenn der Thater ihn nicht im letzten Augenblick an einem seiner vielen Arme erwischt hätte. Der Gefangene war klein und zierlich und erinnerte im ersten Augenblick an einen Kraken, der auf den Einfall gekommen war, auf Stelzen gehen zu wollen. Da dieses Wesen noch dazu sehr hitzeempfindlich war und die Stege nicht betreten konnte, nahm der Thater den kleinen Fremden einfach auf den Rücken. Inzwischen hatte Atlan einen anderen Gefangenen befreit, der zum Glück keine weitere Hilfestellung brauchte: Er breitete zwei kräftige Schwingen aus, stieß sich ab und segelte elegant nach unten. Der letzte Gefangene erwies sich als ein schuppiges Ungetüm, hinter dem sich ein Haluter mühelos hätte verstecken können. Aber trotz seiner Größe war er ein sehr empfindsames, ängstliches Wesen, das offensichtlich auch sehr unter der Gefangenschaft gelitten hatte. Er tat keinen einzigen Schritt, bevor man ihn energisch dazu aufgefordert hatte. Da dieser Riese der alkordischen Sprache anscheinend nicht mächtig war, blieb dem Arkoniden nichts anderes übrig, als seine »Aufforderungen« in Form von Knüffen und Püffen anzubringen. »Sind unten noch mehr Gefangene?« fragte der Thater, als sie sich am Mittelpfeiler trafen. »Zwei oder drei«, sagte Atlan. Zwei in der nächsten Ebene, ein weiterer ganz unten, meldete das Extrahirn. Um sie herum knisterte und knirschte es in den Wandungen der Kuppeln, und an einigen Stellen schossen Stichflammen hoch, fielen aber gleich wieder in sich zusammen. Es war sehr heiß. Das Wesen auf dem Rücken des Thaters jammerte leise vor sich hin. Atlan
hängte den Rest des Jupter‐Umhangs über den Kleinen und hoffte, daß ihm das etwas Schutz und Erleichterung bot. Der Thater rutschte zuerst nach unten, dann folgte der Dicke, wie Atlan das schuppige Geschöpf kurzerhand nannte. Als Atlan ihm folgen wollte, gab es plötzlich einen heftigen Ruck. Der Arkonide verlor den Halt auf der schmalen Strebe, bekam eben noch den Pfeiler zu fassen und fiel mehr daran hinab, als daß er geglitten wäre. Der Thater fing ihn auf und deutete auf die umliegenden Zellen: Sie waren bereits fast völlig zerbrochen und leer. »Um so besser«, murmelte Atlan und beeilte sich, auch das letzte Stück des Weges in die Tiefe zurückzulegen. Seine Handflächen waren verbrannt, und seine rechte Schulter schmerzte, weil er heftig gegen den Pfeiler geprallt war. Er hatte es eilig, aus dem Auge herauszukommen. Für die anderen galt das nicht minder. Selbst der Dicke benötigte nur einen kleinen Klaps, dann rutschte er herab – und hatte im nächsten Augenblick alle Hände voll zu tun, um sich eine pelzige Kreatur vom Leib zu halten, die ihm mit einem Dolch an die Kehle gehen wollte. »Ruhe!« brüllte der Thater, kaum daß er dem Dicken gefolgt war, und dabei versetzte er dem Pelzigen eine Ohrfeige und schlug ihm gleichzeitig das Messer aus der Hand. »Er ist verrückt«, sagte ein dürrer Humanoide, der offenbar versucht hatte, die schwebende Plattform in Gang zu bringen. »Und dieses Ding taugt auch nichts mehr«, fügt er hinzu. »Habt ihr da oben nicht noch mehr Gefangene gefunden?« »Wir haben jeden herausgeholt, den wir finden konnten!« beteuerte der Thater. »Dann hat es meinen Partner also doch erwischt«, sagte der Dürre traurig, drehte sich um und ging davon. »Komm zurück!« rief Atlan ihm zu. »Der Ausgang ist auf der anderen Seite!« »Du irrst dich«, sagte der Dürre ruhig. »Es gibt keinen Ausgang.
Hast du tatsächlich gedacht, daß du dem Erleuchteten so einfach entkommen kannst?« »Wenn hier einer verrückt ist, dann ist er das!« behauptete der Pelzige giftig. »Gib mir mein Messer zurück, Großer.« Ein lautes Krachen schnitt ihm das Wort ab. Das Auge des Erleuchteten erbebte, und glühende Trümmer fielen von oben herab. Das große, schuppige Wesen rannte plötzlich dem Dürren nach, der in einer zerbröckelnden Zelle verschwunden war. , »Die Treppe dort hinunter«, befahl Atlan hastig. »Ich komme gleich nach.« »Der ist auch noch verrückt!« hörte er den Pelzigen kreischen, dann ging ein unheilvolles Kreischen durch das Auge. Einige Streben lösten sich, der mittlere Pfeiler begann zu schwanken und krachte in die in Auflösung befindlichen Blasen. Erneut regnete es Trümmer, aber Atlan erreichte die Zelle, in der die beiden Ausreißer verschwunden waren. »Kommt raus!« schrie er ihnen zu. »Los, beeilt euch!« Aber sie starrten ihn nur an und rührten sich nicht, und ehe er noch irgend etwas tun konnte, brachen die Überreste der Zelle über ihnen zusammen. Er hörte sie schreien, und er versuchte, die Trümmer zur Seite zu räumen, da knirschte es, und plötzlich war direkt vor seinen Füßen ein Spalt im Boden, der schnell breiter wurde und die Trümmer samt den beiden Gefangenen verschluckte. Atlan warf sich nach hinten, klammerte sich irgendwo fest und verbrannte sich erneut die Hände. Zwei Meter neben ihm fuhr fauchend eine Stichflamme in die Höhe. Er rollte sich weg und rannte durch ein Inferno von Flammen, Trümmerstücken und herabstürzenden Streben der rettenden Treppe zu. Es war höchste Zeit, denn auch die Wendeltreppe war schon in Rauch und Flammen gehüllt. Er rannte hinunter. Er hatte das untere Ende schon fast erreicht, da ging erneut ein Ruck durch das Auge des Erleuchteten. Atlan wurde durch die Luft geschleudert, sah den Boden auf sich zukommen und rollte sich ab. Hinter ihm krachte und schepperte es, aber er sah sich nicht um, sondern sprang auf
und rannte weiter. Schon konnte er die anderen vor sich sehen, da entdeckte er am Ende eines kurzen Seitengangs einen hellen Lichtschein. Unwillkürlich sah er hin. Er blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand geprallt. Er hatte nicht gewußt, daß es hier unten auch noch Zellen gab. Diese Erkenntnis allein hätte ihn allerdings kaum erschüttern können. Es war der Gefangene in dieser Zelle, der ihn dazu veranlaßte, in den kurzen Gang hineinzugehen. »Colemayn!« rief er. »Ich hole dich heraus!« Auch die Wände dieser Zelle leuchteten, aber sie zeigten keine Risse. Colemayn stand in der Mitte des kleinen Raumes. Er wirkte ganz ruhig. Atlan suchte den Mechanismus, mit dem man die Zelle öffnen konnte, aber er fand ihn nicht. Hinter ihm tauchte der Thater auf, immer noch den kleinen Fremden mit den vielen Armen auf dem Rücken. »Wir bekommen die Schleuse nicht auf!« schrie der Thater. Atlan zögerte, dann sah er, daß Colemayn ihm mit einem Zeichen bedeutete, er solle sich zuerst diesem Problem widmen. »Ich komme wieder!« rief der Arkonide beschwörend. »Ich hole dich da heraus!« Colemayn lächelte und nickte. Da, wo vorher die Treppe in die Höhe geführt hatte, loderten Flammen, aber nach der anderen Seite war der Gang noch fast völlig intakt. Ein paar Trümmerstücke lagen herum, und die meisten Beleuchtungskörper waren ausgefallen. Aber wenigstens brannte es hier noch nicht. Die Gefangenen standen in der Schleusenkammer und bemühten sich vergeblich, das Schott zu öffnen. Der Geflügelte, der sich vorhin so elegant in die Tiefe geschwungen hatte, war bei ihnen, und noch ein Wesen, das wie ein grauer Kartoffelsack aussah, dafür aber wunderschöne, goldene Augen besaß. »Diese Tür ist verrückt!« kreischte der Pelzige und fummelte an
seinem Gürtel herum. »Wer von euch Bastarden hat mein Messer gestohlen? Gebt mir sofort mein Messer zurück, dann werde ich dieser Tür schon beibringen, was sie zu tun hat!« »Ich weiß mir keinen Rat mehr«, murmelte der Thater. »Es scheint keinen Mechanismus zu geben, mit dem man diese Tür öffnen kann.« Dabei warf er einen besorgten Blick über seine Schulter. Der Kleine mit den vielen Armen verhielt sich sehr still. Atlan fragte sich, was den Erleuchteten dazu veranlaßt haben mochte, ein so offensichtlich wehrloses Geschöpf in sein Auge zu holen. Atlan musterte das widerspenstige Schott, dann tastete er jene Stelle ab, an der er auf der anderen Seite das Siegel des Erleuchteten wußte. Das Metall unter seinen Fingern war warm, und allmählich wurde es heiß. Willst du warten, bis es vor deiner Nase explodiert? fragte das Extrahirn sarkastisch. Es gehört dem Erleuchteten, falls dir das etwas sagt! Atlan fuhr herum und riß den Pelzigen und den Fremden mit den goldenen Augen mit sich. »Weg hier!« schrie er dabei. »Geht in Deckung!« Sie stürmten in panischer Angst davon und warfen sich in den nächsten Seitengang. Für einen Augenblick wurde es hinter ihnen sehr hell. Dann sirrten Metallsplitter durch die Luft. »Das warʹs«, sagte Atlan, als sie nur noch das Knistern der Flammen hörten. »Der Weg nach draußen ist frei. Macht, daß ihr wegkommt!« Das sackförmige Wesen mit den goldenen Augen flitzte mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon, und die anderen folgten ihm, jedes auf seine Art. Nur der Thater blieb zurück. »Wir gehen zusammen oder gar nicht!« sagte er sehr bestimmt. »Und der Kleine?« Der Thater zögerte. »Also gut«, murmelte er. »Ich bringe ihn nach draußen – aber
dann komme ich zurück und helfe dir.« Er stapfte schwerfällig davon, drehte sich noch einmal kurz um und fragte: »Wie heißt du?« »Atlan. Und du?« »Gharrosh. Ich wünsche dir Glück, Freund Atlan!« »Auch ich wünsche dir Glück, Freund Gharrosh«, erwiderte der Arkonide und eilte davon. Jetzt war auch der Gang von Rauch erfüllt, und an vielen Stellen liefen kleine blaue Flammen über den Boden und an den Wänden entlang. Atlan fand den Seitengang und eilte zu Colemayn. Der Weltraumtramp stand noch immer im Zentrum seiner Zelle. Deren Wände leuchteten viel heller als zuvor, und noch während Atlan erneut mit der Suche nach einem Ausgang begann, glühten sie plötzlich bläulich‐weiß auf. Atlan hörte einen erschrockenen Schrei aus dem Innern der Zelle. Unwillkürlich sah er hin. Colemayn wurde von einer unsichtbaren Kraft gegen eine der Wände gedrückt. Er berührte das grell leuchtende Material und verging in einer Lichterscheinung. Atlan war wie erstarrt. Das muß nicht bedeuten, daß er tot ist, sagte das Extrahirn grob. Aber du wirst es sehr bald sein, wenn du hier stehenbleibst. Atlan wußte, daß diese Bemerkung gerechtfertigt war. Was immer diese Zelle auch darstellen mochte, das immer greller werdende Glühen konnte nicht ohne Folgen bleiben. Er drehte sich um und rannte davon, durch den Hauptgang, in dem die blauen Flammen nun schon viel größer und zahlreicher waren, durch die Schleuse und dann zur Außentür. Eiskalte Luft schlug ihm entgegen, und für einen Augenblick zögerte er, denn er hatte das Gefühl, eine Hölle gegen eine andere einzutauschen, wenn er nach draußen ging. Dann sah er Gharrosh auf sich zukommen, und hinter ihm brach der Gang zusammen. Er eilte dem Thater entgegen.
* Außerhalb des Auges ging es fast so chaotisch wie in dessen Innerem zu. Überall lagen Jupter herum, die offenbar betäubt waren, nun aber allmählich erwachten. Auch Celester waren da – die VIRGINIA hatte Ghuurm also doch noch gefunden. Aber auch die Celester waren wie betäubt, und als sie erwachten, schienen sie nicht zu wissen, wo sie sich befanden. Atlan wollte zu ihnen gehen, aber irgend etwas hielt ihn zurück. »Was macht der Kleine?« fragte er Gharrosh – die anderen Gefangenen waren längst auf und davon. »Er lebt«, sagte der Thater. »Aber ich fürchte, daß sein Verstand gelitten hat. Er liegt da drüben. Ich hatte keine Zeit, ihn noch weiter wegzutragen.« Atlan blickte in die angegebene Richtung und entdeckte die Reste des zerrissenen Jupter‐Umhangs, ein winziges, dunkles Häufchen auf dem eisigen Boden, in direkter Nähe zum Sockel des Auges. Noch während er hinsah, wurde der Umhang zur Seite geschleudert, und der kleine Fremde richtete sich auf. Er sah merkwürdig aus mit seinen langen, dünnen Beinen, die anscheinend nichts anderes als einen Kranz dünner, lebhaft wedelnder Ärmchen zu tragen hatten. Über das Heulen und Brausen des Sturmes hinweg vernahm Atlan eine Reihe von Rufen, einige dumpf und dunkel, andere laut und befehlend. Er sah sich um und entdeckte ein paar Jupter, die umherrannten und Befehle brüllten, und er sah fladenförmige Wesen, die dumpfe, quakende Laute ausstießen und sich davonschnellten. Aber er hörte auch eine dünne, sehr hohe Stimme, die wie das vergnügte Zwitschern eines Vogels klang. »Ist er das?« fragte er. »Ja«, nickte der Thater. »Ich habe es dir ja gesagt. Er muß den Verstand verloren haben.« »Das kann ich nicht beurteilen. Ich verstehe kein Wort von dem,
was er sagt.« »Er sagt auch nichts. Er singt. Vorsicht, er kommt auf uns zu. Erschrecke ihn nicht.« Atlan hatte nicht vor, den Kleinen zu erschrecken. Das seltsame Wesen wirbelte herum wie die Karikatur eines Schlittschuhläufers, breitete dabei seine Ärmchen aus und zwitscherte etwas. Als es den Arkoniden entdeckte, glitt es dicht vor ihn hin, kreuzte dann seine dünnen Beinchen und hielt an. »Nenne mir deinen Namen, Fremder!« bat es auf seine schwer verständliche, zwitschernde Weise. »Ich heiße Atlan«, erwiderte der Arkonide vorsichtig, denn er war sich nicht ganz sicher, ob er die Frage richtig verstanden hatte. »Atelean«, zwitscherte und sang der Vielarmige und drehte sich übermütig im Kreis. »Oder auch Atulan, das klingt noch besser, findest du nicht? Wir brauchen einen Namen, den wir singen können und mit Verlaub gesagt«, der Vielarmige hielt plötzlich an und senkte die Arme, »Atlan ist in meiner Sprache für keinen einzigen Vers zu gebrauchen. Das klingt einfach nicht, und es paßt in keinen unserer Gesänge. Und, mit Verlaub gesagt, dein Name soll in all unseren Gesängen genannt werden. Das hast du verdient.« »Womit?« fragte der Arkonide. »Womit, fragst du?« Der Kleine stieß sich ab, beschrieb einen Bogen, kehrte zurück und legte eine erstklassige Pirouette hin. Mitten in einer Umdrehung stoppte er. »Spürst du es nicht, Atulan? Oh, ich denke, ich werde bei dieser Form bleiben. Ateleanʹ paßt zu einem Verliebten oder einem netten Dummkopf, aber ›Atulan‹ – das ist ein Name für einen Helden. Für den Helden. Ich wette, es wird bald tausend Lieder über dich geben. Wir lieben Lieder, weißt du?« Der Vielarmige drehte sich ein‐, zweimal, dann stoppte er abrupt. »Oder weißt du es nicht?« zwitscherte er nachdenklich. »Sage mir, was du spürst!« bat der Arkonide.
Der Vielarmige, gerade im Begriff, davonzuwirbeln, hielt an. »Der Steppenwind«, sagte er. »Er ist verschwunden. Merkst du es nicht?« Atlan schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Aber es ist wirklich so«, sagte der Kleine, und plötzlich klang seine Stimme fast normal. »Ich habe ihn die ganze Zeit hindurch gefühlt, diesen Steppenwind, und er hat mich fast umgebracht. Aber jetzt ist er weg. Weißt du, was das bedeutet?« Zwischen den Gebäuden des Stützpunktes blitzte es auf, dann folgte der Donner einer Explosion. An einer anderen Stelle, am inneren Rand der Anlage, begann eines der grauen Gebäude mit dem gelben Siegel des Erleuchteten zu glühen. »Nein«, sagte Atlan. »Weißt du es denn?« »Es gibt nur eine Erklärung«, meinte der Kleine und drehte sich übermütig, hielt aber gleich wieder an. »Der Erleuchtete ist verschwunden. Siehst du nicht, was um uns herum geschieht? Der Steppenwind hat sich gelegt, und nun vergehen die Werke des Erleuchteten – zuerst das Auge, dann die anderen Einrichtungen, die er hierher gebracht hat.« Es klingt logisch, wisperte das Extrahirn dem Arkoniden zu. ,Er hatte keinen Grund, zu verschwindenʹ, dachte Atlan ärgerlich. ›Das ist Wunschdenken, weiter nichts.‹ Der Kleine wirbelte bereits wieder davon. »Er wird sich noch umbringen mit seinem Übermut«, stieß Gharrosh hervor, und damit konnte er sehr leicht recht behalten, denn immer neue Explosionen zerrissen die grauen Gebäude des Erleuchteten. Der Thater rannte hinter dem Kleinen her, und Atlan wollte ihnen folgen und nach den Celestern sehen, aber als er sich ein kurzes Stück von dem Auge entfernt hatte, entdeckte er etwas, das bisher seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Das war kein Wunder, denn dieser riesige, dunkle Klumpen lag zum größten Teil so, daß das immer noch glühende und brennende Auge des Erleuchteten die
Sicht auf ihn fast völlig verdeckt hatte. Im ersten Augenblick glaubte Atlan, es handele sich um eines der fladenförmigen Wesen, die auf diesem Planeten hausten, aber er war sich seiner Sache von Anfang an nicht sicher. Während er langsam auf das Gebilde zuging, wartete er auf eine Bemerkung seines Logiksektors. Dieser aber schwieg. Dicht vor dem Gebilde blieb er stehen und hob zögernd die Hand. Die Masse unter seinen Fingern fühlte sich kalt und schwammig an. Das allein sagte wenig aus, und so ging er an dem Gebilde entlang, auf der Suche nach einem Beweis, beziehungsweise irgendeinem Hinweis, der ihm zeigen konnte, daß seine bösen Vorahnungen ungerechtfertigt waren. Und dann fand er die KORALLE. »ANIMA!« sagte er leise. Aber ANIMA antwortete nicht und würde das auch nie wieder tun. Das lebende Raumschiff, Atlans treueste Begleiterin auf seiner Reise durch die Galaxis Alkordoom, existierte nicht mehr. Der gewaltige Körper war tot, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Atlan blieb regungslos stehen. Was sollte er tun? Um ihn herum herrschte das Chaos. Alles, was dem Erleuchteten gehört hatte, verging in lodernden Flammen, verglühte oder explodierte. Die Jupter waren in wilder Flucht begriffen. Schon starteten die ersten Raumschiffe. Von dem Stützpunkt auf Ghuurm würde nicht viel übrigbleiben, und bald würden die fladenförmigen Shirgen diesen Planeten ganz für sich haben. Der Steppenwind existiert wirklich nicht mehr, meldete sich das Extrahirn. Es gibt keine andere Erklärung – der Erleuchtete und EVOLO sind aus Alkordoom verschwunden. ,Warum?ʹ Wer weiß! Vielleicht hat der Erleuchtete in dir einen Beauftragten der Kosmokraten erkannt – dein Zellaktivator mag ihm den entscheidenden Hinweis geliefert haben. ,Das würde bedeuten, daß er sich ein neues Versteck sucht.ʹ Das ist
anzunehmen. ,Irgend etwas stimmt nicht daran. Ein so mächtiges Wesen wie der Erleuchtete flieht doch nicht einfach. Er hatte auch gar keinen Grund dazu. Ich war in seiner Hand. Er hätte mich vernichten können.ʹ Das ist nicht sicher. Vielleicht hat er es sogar versucht und keinen Erfolg dabei gehabt. Außerdem darfst du eines nicht vergessen: Nach all dem zu schließen, was wir in dieser Galaxis vorgefunden haben, ist der Erleuchtete kein sehr mutiges Wesen. Er scheut jede direkte Auseinandersetzung, und du hattest möglicherweise größere Chancen, zu ihm vorzudringen, als du je geglaubt hast. ,Die Steppenpiraten …ʹ Auf die konnte er sich ebenso wenig verlassen, wie auf seine Facetten. Er hat einen großen Fehler gemacht: Er hat es versäumt, sich rechtzeitig zum Mittelpunkt eines umfassenden Kultes zu machen. Nicht einmal die Steppenpiraten haben ihn in seiner Rolle als Gottheit ernst genommen. Niemand hat ihm aus innerer Überzeugung heraus gedient. Seine Ziele konnten niemals auch die Ziele seiner Untertanen werden, weil sie alle ihm nur aus Furcht gedient haben. Sie waren seiner überdrüssig, und sie waren dies schon seit langer Zeit. Es ist nicht anzunehmen, daß ihm das verborgen geblieben ist. ,Aber sie haben ihm gehorcht! Sie hätten es auch dann getan, wenn er ihnen den Befehl erteilt hätte, mich zu töten.ʹ Wäre Ghuurm der Stützpunkt einer Facette, so hätte er diesen Befehl geben können, und er wäre auch befolgt worden. Aber wir befinden uns in der Sonnensteppe, und er hatte den Steppenpiraten befohlen, dich lebend einzufangen und in das Auge zu bringen. Dich wieder hinauszuschicken und es den Steppenpiraten zu überlassen, dich vom Leben zum Tode zu befördern, wäre einem Versagen seinerseits gleichgekommen. Die Piraten hatten vor ihm als Gottheit ohnehin keinen großen Respekt. Das Auge war für sie eines der wenigen wirklichen Symbole seiner Macht. Was wäre dieses Symbol noch wert gewesen, wenn es dich nicht hätte vernichten können? ,Sie hätten sich deswegen noch lange nicht gegen ihn erhoben. Sie hätten mich umgebracht, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Vielleicht wären sie ins Grübeln gekommen, aber das hätte mir dann
auch nichts mehr genützt.ʹ Das stimmt. Aber du mußt die Tatsache berücksichtigen, daß das Sicherheitsbedürfnis des Erleuchteten offenbar unvorstellbar groß ist. Anders läßt sich die Gliederung seines Machtbereichs gar nicht erklären. Für ein Wesen mit einer solchen Mentalität muß die bloße Möglichkeit einer Bedrohung einen ganz anderen Stellenwert besitzen als zum Beispiel für dich. ,Das bedeutet, daß er unfähig ist, mit Risiken zu leben.ʹ Nicht ganz. Um ein Machtgebilde wie dieses hier in Alkordoom aufzubauen, mußte er zweifellos eine ganze Reihe von Risiken auf sich nehmen. Er wird das auch wieder tun können, aber er wird bestrebt sein, sich jedes Risiko so schnell, so weit und so gründlich wie nur irgend möglich vom Leib zu schaffen. ,Indem er sich eine andere Galaxis vornimmt und ein zweites Alkordoom aus ihr macht?ʹ Diese Frage läßt sich jetzt noch nicht beantworten. Es wird darauf ankommen, ob und in welchem Maß er imstande ist, aus seinen Fehlern zu lernen – und ob er überhaupt fähig ist, sie aus eigener Kraft zu erkennen. ,Wohin wird er gehen?ʹ In eine andere Galaxis. Auf gar keinen Fall wird er in Alkordoom bleiben. Das ist aber leider auch schon alles, was man zu diesem Zeitpunkt dazu sagen kann. ,Somit dürfte schon jetzt feststehen, daß die Suche nach ihm nicht gerade einfach sein wirdʹ, dachte Atlan spöttisch. Sie ist mit den hier gegebenen Mitteln völlig aussichtslos, bestätigte der Logiksektor. ,Mit anderen Worten: Es ist mir zwar – durch mir nicht ganz erklärliche Umstände – gelungen, Alkordoom zu befreien, aber das eigentliche Spiel habe ich verloren. Der Erleuchtete und EVOLO befinden sich außerhalb meiner Reichweite. Die Bedrohung, vor der die Kosmokraten gewarnt haben, besteht nach wie vor. Der einzige Unterschied liegt darin, daß ich nichts mehr dagegen tun kann.ʹ So ist es. Aber da die Kosmokraten sehr daran interessiert sind, die Bedrohung, die von EVOLO und dem Erleuchteten ausgeht, auszuschalten, mußt du damit rechnen, daß sie erneut eingreifen werden. ,Und auch du kannst mir natürlich nicht sagen, wann, wo und wie
das geschehen wirdʹ, dachte Atlan. Er rechnete nicht damit, daß er diesmal eine Antwort erhalten würde. Es konnte keinen Hinweis darauf geben, wann, wie und wo die Kosmokraten erneut eingreifen würden. Um Schlußfolgerungen dieser Art zu ziehen, waren Informationen nötig, die Atlan – und dessen war er sich absolut sicher – weder bewußt noch unbewußt jemals aufgenommen hatte. Er wußte viel zu wenig über die Kosmokraten, den Erleuchteten und EVOLO. Und trotzdem behauptete der Logiksektor: Es wird sehr bald geschehen. Du solltest dich schon jetzt innerlich darauf vorbereiten. »Warum?« fragte Atlan überrascht, und diesmal sprach er diese Frage auch aus, fügte dann aber hinzu: »Warum glaubst du, daß es so schnell gehen wird?« Weil es logisch ist, erklärte der Extrasinn. Das konnte Atlan nicht finden, im Gegenteil. Aber mit dem Logiksektor konnte man schlecht streiten. Eine weitere, räumliche Versetzung … Atlan ballte die Fäuste und blickte auf das, was einmal ein lebendes Raumschiff gewesen war, dann hinter sich auf die Überreste des Auges, in dem noch immer Flammen loderten und Explosionen stattfanden – bei Colemayn konnte man nie wissen, aber alles sprach dafür, daß auch er den Versuch, Atlan zu befreien, mit dem Leben bezahlen mußte. Niemand hätte sagen können, wie viele Opfer die Aktivitäten des Erleuchteten gefordert hatten. Fünftausend Jahre lang hatte seine Herrschaft über Alkordoom gewährt, und jedes dieser Jahre war ungefähr eintausend Erdentage lang. Jetzt hatten die Bewohner dieser Galaxis eine Chance, zu normalen Verhältnissen zurückzukehren. Ohne den Erleuchteten und die ständige Drohung, die seine Anwesenheit bedeutete, war die Macht der Facetten nicht mehr viel wert, und die Jagd auf Psi‐Potentiale würde mangels Nachfrage bald in Vergessenheit geraten. Es würde sicher noch einige Zeit dauern, bis sich die Lage in Alkordoom
völlig normalisiert hatte, aber dies war eine Aufgabe, die die hier lebenden Völker aus eigener Kraft bewältigen konnten, wenn sie nur wollten. Es konnte nicht die Aufgabe des Arkoniden sein, jedes einzelne Volk auf den richtigen Weg zu bringen. Aber andererseits wäre es reizvoll gewesen, zu beobachten, was zum Beispiel aus den Celestern wurde – ganz abgesehen davon lebte auf New Marion eine Celesterin namens Sarah Briggs. Atlan hoffte, daß ihm trotz der beunruhigenden Auskunft des Logiksektors genug Zeit blieb, um nach New Marion zurückzukehren und Sarah noch einmal zu sehen und sie darauf vorzubereiten, daß er sie verlassen mußte. Er kehrte auf die andere Seite des Auges zurück und sah Arien Richardson, der den Helm seines Raumanzugs zurückgeschlagen hatte und sich bemühte, die desorientierten Celester und Steppenforscher um sich zu versammeln. Wasterjajn Kaz und eine der Kjokerinnen halfen ihm dabei. Der Doppelköpfige entdeckte Atlan und wollte ihm entgegenlaufen, aber das Kunstwesen Klecks, das offenbar noch nicht ganz bei Besinnung war, versperrte Wasterjajn den Weg. Atlan ging auf die Gruppe zu, als er plötzlich den ihm bereits bekannten Sog verspürte. »Nein!« schrie er verzweifelt. »Noch nicht! Gebt mir wenigstens noch ein paar Stunden Zeit!« Aber niemand hörte ihn, und das war sein Glück, denn wenn die Kosmokraten seiner Forderung nachgegeben hätten, dann hätte Atlan nicht einmal mehr ein paar Sekunden gehabt: Während er der realen Welt entglitt, brach das Auge endgültig zusammen. Ein riesiges Trümmerstück stürzte auf die Stelle, an der der Arkonide sich befunden hatte, und wurde fast im gleichen Augenblick von einer Explosion zerfetzt. Atlan spürte noch einen leisen Hauch der Hitze, dann wurde es finster um ihn herum. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, in tausend Stücke zerrissen zu werden.
»Dein Auftrag ist noch nicht erfüllt«, sagte eine Stimme, die in seinen Ohren dröhnte. »Wir wissen, in welche Galaxis der Erleuchtete flieht, aber es wird allein deine Aufgabe sein, ihn dort zu finden und zu stellen.« Es war die kürzeste Botschaft, die er bisher von den Kosmokraten empfangen hatte. Aber er bekam keine Gelegenheit mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn er verlor das Bewußtsein. 9. »Ich verstehe nicht viel von Technik, aber ich weiß, wie das hier funktioniert«, blubberte Klecks vor sich hin, während er – noch halb betäubt Dhonat aus dem Schutzanzug zu schälen versuchte. Er wußte nicht, warum er das tat. Auf ihn hatte die Ausstrahlung des Auges besonders schnell gewirkt, und er brauchte daher auch sehr lange, um sich davon zu erholen. Auch die seltsamen Sinne, mit deren Hilfe er seine Umgebung wahrnahm, arbeiteten noch nicht wieder so, wie sie es hätten tun sollen. Was Dhonat betraf, so war der Hugerer noch ohne Bewußtsein, und Wasterjajn Kaz konnte nicht wissen, wie es um diese beiden stand. So trug keiner von ihnen die Schuld an dem Zusammenprall, der sie zu Boden riß. Und doch stellte dieser Zusammenprall einen jener unwahrscheinlichen Zufälle dar, die das Schicksal lebender Wesen beeinflussen. Wäre Wasterjajn Kaz nicht über Klecks gestolpert, so hätte er Atlan in genau jenem Augenblick erreicht, als das Trümmerstück herabstürzte und die Explosion stattfand. Dieses Ereignis wäre sein Tod gewesen. Nicht, daß ihm das etwas ausgemacht hätte – er hatte längst aufgehört, den Tod zu fürchten. Als er sich nach der Explosion aufrappelte und begriff, was geschehen war, befiel ihn tiefe Mutlosigkeit. Seit er wieder zu sich gekommen war und gesehen hatte, daß das Auge mehr und mehr zerfiel, hatte er wie in einem Rausch gehandelt. Aus irgendeinem
Grund war er fest davon überzeugt gewesen, daß ein Wunder geschehen war, daß Atlan es irgendwie geschafft hatte, die Macht des Erleuchteten zu brechen. Darum war er – wie von Sinnen vor Freude – sofort losgestürmt, als er Atlan erblickte. Die Ernüchterung war um so schrecklicher. Atlan existierte nicht mehr. Niemand konnte den Aufprall des Trümmerstücks und die nachfolgende Explosion überlebt haben. Ein paar hundert Meter entfernt flog ein Gebäude in die Luft. Als der Donner der Explosion verhallte und das Prasseln der Flammen wieder hörbar wurde, vernahm Wasterjajn Kaz erneut die blubbernde Stimme des Kunstwesens. »Ich verstehe nicht viel von Technik, aber …« Er wirbelte herum. »Sei endlich still!« schrie er wütend. Klecks hatte weder Augen, noch ein Gesicht oder eine Mimik, aber seinen Reaktionen war zu entnehmen, daß er noch immer kein Wort verstand. »Laß ihn los!« befahl der Doppelköpfige und deutete auf Dhonat, der allmählich wieder zu sich zu kommen schien. Als Klecks nicht, reagierte, faßte Wasterjajn Kaz zu und befreite den Steppenforscher behutsam aus dem Griff des Kunstwesens. Er half Dhonat auf die Beine und stützte ihn. Als er sich umsah, trottete Klecks ihnen unbeholfen nach. »Was ist denn passiert?« fragte Dhonat benommen. »Nichts«, erwiderte Wasterjajn Kaz kurz angebunden. »Komm jetzt!« Er sah, daß einige Celester offenbar wieder völlig Herr ihrer Sinne waren. Sie machten sich auf den Rückweg zur VIRGINIA. Ein Beiboot landete unter erheblichen Schwierigkeiten, und unter Arien Richardsons Kommando wurden Kjok‐Duun, die sich nicht rührte, und einige verletzte Celester abtransportiert. Als Wasterjajn Kaz bei Arien Richardson anlangte, trottete Klecks immer noch hinter ihm her. Dhonat setzte mechanisch einen Fuß vor
den anderen. »Paß auf sie auf!« befahl Richardson kurz, dann sprach er wieder in sein Funkgerät. Ein zweites Beiboot landete. Richardson bedeutete dem Doppelköpfigen, mit seinen beiden Schützlingen an Bord zu gehen, aber Wasterjajn Kaz brachte nur Dhonat und Klecks in das Beiboot und kehrte dann um. »Es hat keinen Sinn, nach ihm zu suchen, nicht wahr?« fragte er, als der Celester ausnahmsweise nicht mit seinem Funkgerät beschäftigt war. »Nein«, erwiderte Arien Richardson wortkarg. »Hast du gesehen, wie es passiert ist?« Der Celester drehte sich zur Seite und sah den Doppelköpfigen an. Wasterjajn Kaz wußte mittlerweile genug über die Menschen, um Richardsons Blick deuten zu können. »Ich habe genug gesehen«, erklärte Richardson rauh. »Ich wollte, es wäre nicht so gewesen.« Wasterjajn Kaz wußte, wie der Celester das meinte, und er fühlte mit ihm. Auch er wünschte sich, er wäre noch bewußtlos gewesen, als es geschah. Dann hätte er sich einreden können, daß es noch Hoffnung gab, daß Atlan zwar verschwunden, aber nicht tot war. Er fühlte sich hilflos und suchte lange nach Worten, ehe er sagte: »Es tut mir sehr leid. Wenn Klecks mir nicht in die Quere gekommen wäre, wenn ich ihn noch erreicht hätte …« »Dann wärst du jetzt ebenfalls tot«, sagte Arien Richardson nüchtern. »Glaubst du, daß damit irgend jemandem geholfen wäre?« »Ja, mir«, wollte der Doppelköpfige sagen, aber er ließ es bleiben. Zum einen, weil das etwas war, das nur ihn etwas anging, und zum zweiten, weil er plötzlich eine Gestalt sah, die ihn an seinem Verstand zweifeln ließ. Er kniff seine vier Augen in den zwei Gesichtern zusammen, aber als er sie wieder öffnete, war die Erscheinung ihm lediglich um ein gutes Stück näher gekommen. »Sieh doch!« flüsterte er, und Arien Richardson drehte sich
zögernd um. Im ersten Augenblick konnte man beinahe glauben, den Arkoniden Atlan zu sehen, nur daß der sich niemals auf eine so exzentrische Weise bewegt hätte: Er drehte sich in kunstvollen Pirouetten, verfiel auf den noch verbliebenen Eisresten in schwärmerisches Gleiten und kam dabei mit einer Geschwindigkeit voran, die nichts Menschliches an sich hatte, hielt aber immer wieder inne, als wolle er den ihn verfolgenden Thater necken. Wenn man nur etwas genauer hinsah, dann erkannte man, daß der angebliche Atlan nur eine Illusion war, ein aus flirrenden Linien bestehender Umriß, unter dem sich ein Wesen verbarg, das nur aus einem Kranz von äußerst beweglichen Armen und zwei langen, dünnen Beinchen bestand. Diesem seltsamen Wesen folgte ein Thater, und hinter diesem schritt ein Jupter her. Der Stützpunkt der Jupter brannte an vielen Stellen, aber der zuckende Schein der Flammen wurde zunehmend schwächer. Es war Tag geworden. Ein langer, schräger Sonnenstrahl durchbrach die dunklen Wolken und erzeugte eine Zone goldenen Lichtes, in der das Wesen mit den vielen Armen plötzlich zum Stillstand kam. Es drehte sich hin und her, als wisse es nicht, wohin es sich wenden sollte. »Haltet ihn auf!« schrie der Thater. »Er wird in sein Verderben rennen, wenn ihr ihn nicht aufhaltet!« Der kleine Vielarmige stimmte einen zwitschernden Gesang an. Wasterjajn Kaz wollte ihn festhalten, aber in diesem Augenblick hörte er, was der Kleine sang: »Der Erleuchtete ist fort. Ein Held namens Atulan hat ihn verjagt. Wir sind frei!« »Er hat den Verstand verloren«, kommentierte Arien Richardson und griff zu, aber der Kleine drehte sich geschickt und entkam. Er tänzelte davon, und der Thater blieb keuchend stehen. »Warum habt ihr ihn entkommen lassen?« fragte er enttäuscht. »Habt ihr seine Botschaft nicht gehört? Wir müssen ihn von hier fortbringen. Er ist ein Sänger von Galeph und ein Augenzeuge noch
dazu. Wißt ihr denn nicht, was das bedeutet?« Der Celester und der Doppelköpfige hätten nichts dagegen gehabt, wenn der Thater diese letzte Frage auch gleich beantwortet hätte, aber der jagte schon wieder dem kleinen Tänzer nach. Dafür kam der Jupter heran. Der Celester hob unwillkürlich seine Waffe, aber der Steppenpirat demonstrierte Friedfertigkeit, indem er seine leeren Hände vorzeigte. »Ich bin Kaldrin«, sagte er. »Ich möchte nicht mit denen dort fliegen«, und er deutete in die Richtung des Landefelds, wo ein Piratenschiff donnernd in den wolkigen Himmel von Ghuurm hinaufjagte. »Der Steppenwind ist fort, und wir sind frei. Niemand kann uns jetzt noch zwingen, in der Sonnensteppe zu bleiben. Nehmt mich zu einer der bewohnten Welten in den äußeren Sektoren mit, und ich werde euch gut bezahlen.« »Wie bitte?« fragte Arien Richardson verblüfft. »Ich habe nicht viel mitnehmen können, wie ihr seht«, fuhr der Steppenpirat ein wenig verlegen fort. »Nur eine Handvoll Sonnensteine.« »Deine Sonnensteine interessieren mich nicht«, wehrte der Celester ab. »Kannst du mir erklären, was hier eigentlich vorgeht? Wer ist dieser Verrückte dort?« »Der Sänger von Galeph? Er stammt aus der Grafschaft Skull. Die Gräfin Pymonia hält sein Volk gefangen. Dieser dort entkam, reiste überall umher und verkündete, daß das Ende des Erleuchteten nahe sei. Die Sänger von Galeph können sehr überzeugend wirken, und bei einigen Völkern von Skull glaubt man, daß die Prophezeiungen dieser vielarmigen Wesen stets eintreffen. Das ist natürlich nur ein Aberglaube. Jedenfalls habe ich das bis jetzt angenommen. Nach den letzten Ereignissen bin ich mir nicht mehr so sicher.« »Dann bist du also auch der Meinung, daß wir den Erleuchteten los sind?« fragte Richardson verblüfft. »Ja«, sagte der Jupter nachdenklich. Er öffnete eine Tasche, die an seinem gelben Kragen hing, blickte kurz hinein und verschloß die
Tasche sehr vorsichtig wieder. »Allerdings ist das keine Meinung, sondern eine Tatsache.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er fort ist.« »Es gibt mit Gewißheit viele, denen es so geht«, meinte Kaldrin gelassen. »Nimm zum Beispiel mein Volk. Keiner von ihnen wird es glauben wollen, aber es wird ihnen nichts anderes übrigbleiben, als es zu akzeptieren. Ihr habt gesehen, wie sie gerannt sind. Sie sind außer sich vor Furcht. Wir haben bisher stets geglaubt, daß wir den Steppenwind nicht spüren, aber das war ein Irrtum. Er hat uns Mut und Stärke verliehen. Übrigens gibt es noch ein anderes Anzeichen dafür, daß der Erleuchtete uns verlassen hat. Ihr habt erlebt, daß sein Auge zerstört wurde und viele von diesen Gebäuden dort in die Luft geflogen sind. Das ist aber noch nicht alles. Auf unseren Wohnwelten und in unseren Stützpunkten gibt es viele Einrichtungen, die dem Erleuchteten gehören. Sie alle haben auf die gleiche Weise reagiert. Wenn wir die Sonnensteppe verlassen haben, werden wir wahrscheinlich feststellen, daß es auch in den äußeren Sektoren zahllose Explosionen und Brände gegeben hat.« Arien Richardson dachte an den Planeten Birzt, und er fröstelte. All diese furchtbaren Maschinen, die den Birzern die Psi‐Potentiale raubten – er hätte zu gerne gesehen, wie sie eine nach der anderen vergingen. Mycara hob den Kopf, und er nickte. »Wenn du sicher bist, daß du es möchtest, werde ich dich zurückbringen«, versprach er. Mycara kuschelte sich an ihn. Richardson blickte den Steppenpiraten an und zuckte die Schultern. »Du solltest es dir auch noch einmal überlegen«, meinte er. »Du wirst Heimweh bekommen.« »Wenn es soweit ist, kann ich immer noch umkehren«, erklärte Kaldrin. »Ihr nehmt mich also mit?« »Ja. Wasterjajn …« Aber der Doppelköpfige war bereits unterwegs. Es fiel ihm nicht schwer, den Sänger von Galeph einzufangen. Wenig später kehrten
sie mit einem Beiboot in die VIRGINIA zurück. Mit Erleichterung hörten sie, daß alle, auch Kjok‐Duun, sich mittlerweile außer Gefahr befanden. Nur ein einziges Piratenschiff stand noch auf dem Landefeld, als die VIRGINIA startete und den Planeten Ghuurm verließ. Die Stimmung an Bord war bedrückt. Der Erleuchtete war fort, aber noch konnte sich niemand über diesen Sieg freuen. Ein seltsames Ereignis bot für kurze Zeit Gesprächsstoff: Als man die Protokolle der Beibootpiloten kontrollierte, stellte man fest, daß eine Person zu viel an Bord sein mußte. Ehe man aber nach dem Eindringling suchen konnte, startete ein Beiboot und war so schnell verschwunden, daß man darauf verzichtete, es zu verfolgen. * Als ANIMA sich in wilder Verzweiflung auf das Auge gestürzt hatte, war etwas geschehen, was sie für lange Zeit aktionsunfähig gemacht hatte. Vor langer Zeit, als sie, die Wandlungsfähige, um das Leben ihres ersten Ritters gekämpft hatte, waren ihr zusätzliche Körperkomponenten aufgezwungen worden. Auf diese Weise war aus ihr das lebende Raumschiff geworden, als das Atlan und alle anderen sie kannten. Beim Angriff auf das Auge aber kehrte sich dieser Vorgang um. ANIMA wurde zurückgeschleudert, und als sie zu Boden prallte, bildete sie keine Einheit mehr. Der Schmerz und der Schock betäubten sie. Als unscheinbarer Klumpen organischer Materie lag sie im Schatten eines Gebäudes, das glücklicherweise keine Einrichtungen des Erleuchteten in sich barg. Lange Zeit war sie unfähig, etwas anderes als den Schmerz wahrzunehmen. Dann nahm sie instinktiv die Gestalt jenes jungen Mädchens ein, das sie einst gewesen war. Fassungslos, noch immer unfähig, sich von der Stelle zu bewegen, starrte sie auf jene Masse, die lange Zeit hindurch zu ihr gehört hatte
und die nun, von der eigentlichen Anima getrennt, abstarb und zu zerfallen begann. Sie sah Atlan, und sie beobachtete, wie er auf den Anblick dieser toten Masse reagierte. Sie wollte zu ihm eilen, rufen, sich irgendwie bemerkbar machen, aber der Schock war noch immer zu groß. Regungslos kauerte sie unter einem Mauervorsprung. Und dann verschwand der Arkonide. Im Gegensatz zu Arien Richardson wußte Anima sofort, was geschehen war. Sie wußte, daß Atlan nicht gestorben war, sondern daß die Kosmokraten ihn abberufen hatten. Sie wartete darauf, daß auch sie von dem Sog ergriffen wurde, denn sie betrachtete sich als Atlans Orbiterin, und die Kosmokraten konnten nicht so grausam sein und Anima von ihrem Ritter trennen. Aber es geschah nichts. Anima wußte nicht, woran es lag. Sie war sicher, daß die Kosmokraten es versucht hatten. Aber sie konnten nicht wissen, was mit Anima geschehen war. Vielleicht waren sie einfach nicht imstande, diese neue Anima zu erkennen und zu erfassen. Wie dem auch sein mochte: Anima blieb auf dem Planeten Ghuurm zurück, während die Kosmokraten den Arkoniden auf eine Reise mit unbekanntem Ziel schickten. Anima wußte von Anfang an, daß sie alles daransetzen würde, zu ihrem Ritter zurückzukehren, gleichgültig, wohin er gegangen sein mochte. Aber das würde nicht so einfach sein, denn gleichzeitig wußte sie auch, daß sie in ihrer neuen Form nie wieder fähig sein würde, als lebendes Raumschiff durch den Kosmos zu eilen. Das bedeutete, daß sie sich beeilen mußte, denn bald würde das letzte Schiff gestartet sein, und es konnte sehr lange dauern, bis wieder einmal jemand auf diesem unfreundlichen Planeten landete. Anfangs hoffte sie noch, daß Colemayn erscheinen und ihr helfen würde, aber Colemayn ließ sich nicht blicken. Entweder war er tot, oder er war Atlan bereits gefolgt. Anima wußte nicht, wer oder was Colemayn war, aber seit seinem überraschenden Auftreten hier, auf
diesem Planeten, den er auf normalem Weg nicht erreichen konnte, war sie felsenfest davon überzeugt, daß auch Colemayn etwas mit den Kosmokraten zu tun hatte. Daher erschien es ihr logisch, daß auch er dorthin gegangen war, wo Atlan sich jetzt aufhielt. Wenn aber Colemayn ihr nicht half, mußte sie selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen, und sie mußte es schnell tun. Die Beiboote der VIRGINIA kamen, und Anima besann sich auf ihre Fähigkeiten. Dieser vergleichsweise winzige, schmerzende Körper, der ihr jetzt gehörte, barg noch immer alle Fähigkeiten in sich, die Anima einst erworben hatte. Unter großer Mühe gelang es ihr, die Gestalt einer jungen Celesterin anzunehmen. Das war ein schmerzhafter Prozeß, denn sie war erschöpft, und der neue Körper war ihr noch ungewohnt. Zu allem Überfluß entsann sie sich der Tatsache, daß Celesterinnen nicht nackt herumzulaufen pflegten, schon gar nicht in einer solchen Umgebung. Für das lebende Raumschiff hatte Kleidung so lange keine Rolle mehr gespielt, daß Anima fast vergessen hatte, was das war. Im Stützpunkt der Jupter wäre es Anima sehr schwergefallen, passende Kleidung zu finden, zumal sie Mühe hatte, sich überhaupt zu bewegen. So blieb ihr nur eines: Sie mußte auch ihre Bekleidung mit Hilfe ihrer seltsamen Fähigkeiten simulieren. Umgeben von Bränden und Explosionen, geschockt durch die Ereignisse und bestrebt, alle Besatzungsmitglieder wohlbehalten an Bord der VIRGINIA zu bringen, ehe vielleicht noch Schlimmeres passierte, waren die Piloten der Beiboote nicht darauf erpicht, ihre Passagiere genauestens unter die Lupe zu nehmen. Was wie ein Celester oder wie einer der Steppenpiraten aussah, das wurde auch mitgenommen. So gelangte Anima unerkannt an Bord der VIRGINIA. Sobald sie sich unbeobachtet fühlte, verschwand sie im erstbesten Versteck. Lange Zeit dachte sie darüber nach, ob sie sich den Celestern offenbaren sollte, aber sie fürchtete sich, das zu tun. Die
Wandlungsfähigkeit des lebenden Raumschiffes hatte man akzeptiert, aber was würde man von einem jungen Mädchen denken, das nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen Lebewesen in formlose Plasmaklumpen verwandeln konnte? Außerdem gab es nach Atlans Verschwinden nichts mehr, was Anima mit dem Volk der Celester verband. Vielleicht hätte sie ihnen trotzdem sagen sollen, daß Atlan lebte und daß auch sie selbst noch einmal davongekommen war, aber sie tat es nicht. Sie machte sich mit den Einrichtungen des Beiboots vertraut und verließ die VIRGINIA. Sie wußte, daß sie etwas anderes als dieses winzige Schiffchen brauchte, um Atlan zu finden, und sie wußte auch, daß ihre Suche fast hoffnungslos war. Aber das störte sie nicht. Was auch geschehen mochte – sie würde ihren Ritter finden. Irgendwann und irgendwo … * Jallesh verließ Ghuurm mit dem allerletzten Schiff. Bis zuletzt hatte er ausgeharrt und darauf gehofft, daß der Erleuchtete sich doch noch meldete. Er konnte sich nicht vorstellen, daß das Schicksal so ungerecht mit einem Jupter verfahren sollte. Er hatte eine Heldentat vollbracht und eine Belohnung verdient, und er hätte diese Belohnung sicher auch bekommen, wenn der Erleuchtete imstande gewesen wäre, Jalleshs Verdienste gebührend zu würdigen. Aber nichts geschah. Kein Erleuchteter – keine Belohnung. Als sei es damit noch nicht genug, mußte Jallesh feststellen, daß die Jupter – zumindest die anderen – sich außerordentlich schnell umzustellen vermochten. Der Steppenwind war wie weggeblasen, und mit ihm war etwas verschwunden, von dessen Existenz kein Jupter jemals etwas geahnt hatte. Es war, als hätte das ganze Volk bisher unter einer geistigen Glocke gelebt, die man plötzlich
abgehoben hatte. Die Jupter erkannten, daß sie es gar nicht nötig hatten, sich ausschließlich als Piraten zu betätigen und ihr ganzes Leben im Raum zu verbringen. Sie mußten nicht Planetarier werden und einen roten Kragen verliehen bekommen, um sich auf einem Planeten niederzulassen. Viele von ihnen entwickelten die seltsamsten Pläne. Es gab viele Planeten im Bereich der Sonnensteppe. Wer konnte es ihnen jetzt noch verbieten, sich dort anzusiedeln? Die Planetarier? Die von ihrer geistigen Glocke befreiten Gemeinen lachten darüber nur. Waren sie nicht alle tüchtige Kerle, die durchaus imstande waren, ihr Leben auch ohne die Befehle der Planetarier und Umsetzer zu meistern? Wozu brauchte man die überhaupt? Sie taten ihr ganzes Leben lang nichts, gaben nur Befehle und überließen es den Gemeinen, sie mit allem zu versorgen. Hatte Jallesh bis dahin noch hoffen können, wenigstens auf dem Planeten Djornk für die entgangene Belohnung entschädigt zu werden, so wurde er nun eines Besseren belehrt. Die Piraten beschlossen nämlich kurzerhand, gar nicht dorthin zurückzukehren. Trotzdem ging die Sache für Jallesh gut aus. Der Umsetzer Golroph, ebenso plötzlich seines ehrenvollen Amtes beraubt, beschuldigte ihn nämlich, an all den Veränderungen schuld zu sein. Woraufhin die abtrünnigen Gemeinen Jallesh als ihren Befreier verehrten. * Als Atlan zu sich kam, fühlte er sich an seine Ankunft in Alkordoom erinnert, denn in seinem Schädel pochte der Schmerz, und er fühlte sich wie zerschlagen. Er ahnte, daß er einen weiten Weg zurückgelegt hatte. Allmählich wurde er sich seiner näheren Umgebung bewußt, und dann merkte er, daß jemand zu ihm sprach. »Willkommen«, sagte eine Stimme. »Möchtest du, daß ich dir eine
Erfrischung serviere?« Atlan schlug vorsichtig die Augen auf. Er befand sich in einem komfortabel eingerichteten Raum. Es war angenehm warm, aber keineswegs zu heiß. Das Licht war gedämpft. Der Bildschirm zeigte eine öde, von einzelnen großen Felsen geprägte Landschaft unter einem schwarzen Himmel, an dem die Sterne so hell und ruhig leuchteten, daß man schon daraus erkennen konnte, daß dieser Planet, wie auch immer er heißen mochte, keine Atmosphäre besaß. Der Arkonide versuchte zu sprechen, aber seine Stimmbänder versagten ihm den Dienst. Trotzdem schien der unbekannte Sprecher verstanden zu haben, was er sagen wollte, denn ein kleiner Wagen rollte heran, und auf diesem Wagen standen drei Becher mit verschiedenfarbigem Inhalt. Atlan nippte an dem ersten Becher. Der Inhalt sah aus wie Orangensaft, schmeckte aber etwas bitter. Trotzdem trank er den Becher leer, und gleich darauf ließ der pochende Schmerz in seinem Kopf nach. »Wer bist du?« fragte er, nachdem er auch den zweiten Becher geleert hatte. »Das Schiff.« »Hast du keinen Namen?« »Ich hatte mal einen, aber ich habe mich daran gewöhnt, daß die, die mich benutzen, mir doch immer wieder eine andere Bezeichnung geben. Ich nehme an, daß du es auch nicht anders machen wirst.« »Was für ein Raum ist das hier?« »Die Kommandozentrale.« »Und wo ist die Besatzung?« »Es gibt keine Besatzung. Du bist das einzige lebende Wesen an Bord. Aber du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen. Ich werde mich nach deinen Anweisungen an jedes von dir gewünschte Ziel steuern. Du brauchst mir nur zu sagen, in welche Richtung ich fliegen soll.«
»Immer mit der Ruhe«, murmelte Atlan, der sich nach dem dritten Becher angenehm schläfrig fühlte. »Droht uns von draußen irgendeine Gefahr?« »Nein. Ich glaube nicht, daß es auf diesem Planeten Leben gibt. Andere Raumschiffe sind nicht in der Nähe. Es gibt hier auch keine Station, in der energieerzeugende Geräte laufen.« Die letzten Worte hörte der Arkonide nicht mehr. Er fiel in tiefen Schlaf, und als er erwachte, hatte er die Folgen der neuerlichen Versetzung überwunden. Er sah auf den Bildschirm und fragte sich, in welcher Galaxis er diesmal gelandet sein mochte. Aber das würde er noch früh genug herausfinden, und außerdem spielte es im Augenblick keine Rolle, wie dieses Sternensystem hieß. Viel wichtiger war die Frage, wie und wo er hier den Erleuchteten finden konnte. ENDE Mit der überstürzten Flucht des Erleuchteten aus Alkordoom geht auch Atlans dortiges Wirken zu Ende. Der Arkonide, von seinen Gefährten und Mitstreitern für tot gehalten, erlebt in höchster Not eine erneute Ortsversetzung in völlig unbekannte Bereiche des Universums. Ein eigenwilliges Raumschiff, für seinen persönlichen Gebrauch bestimmt, erwartet ihn – und Atlan ist sicher, daß er damit die Spur des Erleuchteten weiter verfolgen soll. SPUR DES ERLEUCHTETEN – so lautet der Titel des Atlan‐ Jubiläumsbandes 700, mit dem Marianne Sydow einen neuen Zyklus einleitet, der in der Galaxis Manam‐Turu spielt.