Herausgegeben vom Palmtop Magazin. Textquelle: Till Frommann (
[email protected]) Konvertierung: Rainer Gievers Weitere eBooks finden Sie beim Palmtop Magazin (http://www.palmtopmagazin.de/ebook/)
Falsch verbunden Es war ein milder Sommermittag, und das Telefon klingelte. Frederik Bebel rannte aus der Küche in den Flur, und er beeilte sich, weil er einen Anruf seiner Freundin erwartete. Diesen Anruf durfte er nicht verpassen, denn er liebte sie; jedenfalls war er sich fast sicher, daß er das tat. Richtig sicher war er sich immer erst nach einigen Monaten, doch nach einigen Monaten war es dann meistens auch wieder mit der Beziehung vorbei. „Frederik Bebel“, keuchte er außer Atem in den Hörer, als er das Telefon im Flur erreicht hatte und sagte daraufhin für kurze Zeit nichts. „Was wollen Sie von mir?“, fragte er irritiert, dann ließ er seinen Gesprächspartner erneut auf sich einreden. „Netter Versuch! Mach deine Telefonstreiche das nächste Mal woanders!“, schrie er in den Hörer und schmiß ihn zurück auf die Gabel. Bebel starrte das Telefon noch einmal mit einem verunsicherten Blick an, verzog die Miene zu einem wütenden Gesichtsausdruck und fluchte ein „Idiot“ aus sich heraus. Daraufhin ging er zurück in die Küche und stellte frustriert fest, daß die Nudeln schon mehr als verkocht waren, die er vor zwanzig Minuten in heißes Wasser geschmissen hatte. Frederik Bebel fluchte ein zweites Mal auf den Telefonstreich. Also bestellte er sich eine Pizza, denn viel Lust zum Selberkochen war ihm nicht geblieben. Bebel setzte sich in seinen gemütlichen Fernsehsessel, schaltete durch sechsunddreißig Sender, die alle nur langweilige Serien und Talkshows zeigten und wartete, daß der Bringdienst endlich die bestellte Pizza liefern würde. Seine Freundin hatte bisher immer noch nicht angerufen, und Frederik Bebel wurde aus diesem Grund immer deprimierter. Melde dich endlich, betete er förmlich. Ruf doch endlich an. Nach einer halben Stunde klingelte es an der Haustür, und die Pizza roch schon einladend lecker, als der Lieferant sie Bebel überreichte. Genüßlich stopfte er den Fast-Food-Fraß in sich hinein, während er weiter stupide Gespräche über Beziehungsdramen und Brustvergrößerungen in sich aufnahm, um sie
gleich danach wieder zu vergessen. Schließlich klingelte das Telefon erneut. Die gleiche Stimme! Der Typ hat doch schon vorhin gemerkt, daß er mich mit seinen Albernheiten nervt. „Hallo Vater“, hörte er die Stimme schüchtern sagen, die mit leichtem Rauschen aus dem Hörer drang. „Vater?“, Frederik Bebel wurde aggressiv, „Vater? Ich habe keine Kinder! Und außerdem hasse ich Telefonstreiche! Das habe ich dir vorhin schon gesagt. Also laß den Schrott, du pubertäres Miststück“ Wieder einmal knallte Bebel den Hörer auf die Gabel und starrte erneut auf das Telefon. „Telefonterror“, sagte er zu sich selbst, „das ist purer Telefonterror“ Ein gelangweiltes Kind, mehr war das nicht. Schlägt sich auf Kosten seiner Eltern die Zeit tot. Ruft fremde Leute an. Nervt. Es war ein ganz normaler Nachmittag, und das Fernsehprogramm langweilte ihn. Irgend etwas Sinnvolles wollte Bebel jedoch auch nicht machen, dazu hatte er einfach keine Lust. Vielleicht durch die Stadt schlendern, dachte er sich, verließ seine Wohnung und spazierte tagträumerisch durch die Gegend. Hier gibt es nichts zu sehen. Trostlose Stadt. Und die Menschen sind auch alle gleich. Und das Schlimme ist, daß Klara mich vergessen hat. Sie ruft mich nicht an. Sie meldet sich nicht. Vielleicht ruft sie jetzt an, aber ich bin nicht zuhause. Egal. Es ist eigentlich alles egal. Frederik Bebel ließ seinen Gedanken freien Lauf, und je mehr er über das Leben und seine Freundin nachdachte, desto deprimierter wurde er. Plötzlich riß ihn ein Klingeln aus seinem Grübeln: Die Telefonzelle, an der er gerade vorbeiging, wurde angerufen. Egal, dachte Bebel und verkroch sich erneut in Gedanken. Was soll schon los sein? Sie hat mich vergessen - mehr war nicht passiert. Abgehakt und weggeordnet. Ich bin nicht mehr wichtig. Sie liebt mich nicht. Frederik Bebel ging an der nächsten Telefonzelle vorbei, deren Telefon ebenfalls zu klingeln begann. Langsam aber sicher bekam er es mit der Angst zu tun. Das war nur ein Zufall, redete er sich ein. Weitergehen, als ob nichts geschehen ist, dachte er. Weitergehen, ohne es weiter zu beachten. Ich bin nicht der Auslöser für das Klingeln, versuchte er sich weißzumachen. An der nächsten Telefonzelle schlich er mit einer leisen Vorahnung vorbei, und diesmal tat er das Klingeln nicht als Zufall ab: Auch dieses Telefon wurde angerufen. Frederik Bebel meldete sich zögernd mit Namen und hörte am anderen Ende der
Leitung eine ihm wohlbekannte Stimme. „Vater? Kann ich jetzt mit dir reden?“ „Wie machst du das“, flüsterte Frederik Bebel zitternd, „das geht doch etwas zu weit! Was bist du für ein Sadist? Hör mit deinen Telefonstreichen auf, aber schnell“ Der Hörer in seiner Hand hüpfte vor Nervosität hin und her. Diesmal wagte Bebel nicht, einfach so aufzulegen. Diesmal wollte er wissen, was das alles sollte. „Kein Telefonstreich“, erwiderte die Stimme fragend, „aber ich habe mit dieser Reaktion gerechnet“ „Wer bist du?“, preßte Bebel aus sich heraus, obwohl er wußte, welche Antwort ihn erwartete. „Das habe ich dir doch schon gesagt, aber so wie es aussieht glaubst du mir immer noch nicht - ich bin dein Sohn“ „Ja?“, fragte Bebel, und er war mit den Nerven nun völlig am Ende, „und weswegen rufst du an?“ „Ich möchte meine und deine Gegenwart ändern“ Es war ein kühler Sommerabend, und Frederik Bebel lag geknickt und aufgewühlt im Bett, wälzte sich von einer Seite zur anderen und konnte nicht einschlafen. Sein Sohn aus der Zukunft hatte ihm einige Dinge erzählt, die ihn an der Realität zweifeln ließen. Einige davon schienen einen hohen Wahrheitsgehalt zu haben, einige andere schienen sogar ohne Zweifel zu stimmen. Einige dieser Dinge konnte nur Bebel selbst wissen - sie waren zu persönlich, als daß irgend ein Fremder sie hätte erraten können. Er fühlte sich wie in einem billigen Science-Fiction-Roman, den er in diversen Variationen schon oft gelesen hatte. Vielleicht war er wirklich mein Sohn und kein Sadist, der Telefonstreiche spielte. Vielleicht hatte er wirklich vor, einen Vorteil für sich selbst, aber auch für mich herauszuschlagen. Die ganze Sache sei illegal, hatte sein Sohn behauptet, man dürfe keine Gespräche mit der Vergangenheit führen. Und dann unterhielten sie sich mehrere Stunden darüber, was sie gerade taten, wie es ihnen beruflich ging. Mario Bebel, so hieß sein Sohn, habe es nach eigener Einschätzung zu nichts gebracht. Er verkaufte in einem Elektroladen Transistoren, Computerchips und Speichermodule und verdiente damit gerade so viel Geld, um über die Runden zu kommen. Mario Bebel wollte etwas an seiner derzeitigen Lage ändern, und deshalb hatte er sich die Baupläne für ein Zeittelefon besorgt. Das sei sehr schwierig gewesen, hatte er gemeint, denn seit drei Jahren sei es verboten, solche Zeittelefone zu besitzen geschweige denn zu benutzen. Es habe zwei Monate gebraucht, um solch ein Telefon herzustellen und vier weitere, um herauszufinden, wie er seinen Vater erreichen konnte.
Mit diesen Gedanken im Kopf schlief Frederik Bebel dann schließlich doch noch ein, aber er schlief nur unruhig, und eigentlich war es mehr ein Dösen als ein richtiger Tiefschlaf. Es war mitten in der Nacht, und Frederik Bebel wurde vom Klingeln des Telefons geweckt. Schlaftrunken taperte er in den Flur, und er wußte, mit welchem Gesprächspartner er rechnen konnte. Wer sonst sollte um diese Zeit anrufen? „Hallo Sohn“, grinste er in das Telefon hinein, und Bebel war froh, daß er mit dieser Begrüßung richtig lag. Es war zwar ein merkwürdiges Gefühl, mit einem Verwandten zu sprechen, der nicht einmal geboren war, doch gleichzeitig fühlte er sich zu dieser Person hingezogen. Ja, ich bin sein Vater. Und ich bin stolz auf meinen Sohn. Er ist intelligent. Gerissen. Versucht alles, um sein Leben zu verbessern. „Wie geht es dir, Vater?“, erkundigte sich Mario Bebel. „Geht so. Ich hasse meine Arbeit“, lachte dieser und sah verstohlen zur Decke. „Ich auch. Ich muß immer freundlich zu den Kunden sein. Ich muß fragen, ob sie noch einen Wunsch haben, und ich muß die Drecksarbeit machen. Immer wieder. Jeden Tag. Vielleicht verstehst du, wie mich das alles ankotzt“ „Klar! Das kann ich auf jeden Fall verstehen. Bei mir ist es nämlich fast genauso. Immer die gleichen Handgriffe - und das jetzt schon seit vier Jahren. Es ist wirklich schrecklich. Eigentlich ist es nicht nur schrecklich, es ist richtig unerträglich“ Mario Bebel stöhnte in das Telefon. „Ach ja“, gab er frustriert von sich, „und sonst läuft auch nichts so wie ich will“ „Frauen?“, lächelte sein Vater. „Frauen“, antwortete sein Sohn mit einem deprimierten Unterton. Mario Bebel war ungefähr genauso alt wie er. Sie hatten die gleichen Probleme, sprachen über ihre Ängste und Sorgen ganz so, als wären sie seit Jahren die besten Freunde. Nichts erinnerte daran, daß man es hier mit einem Vater und seinem Sohn zu tun hatte. „Es ist einfach frustrierend“, litt Mario Bebel, „die Frauen, die mich interessant finden, wirken auf mich langweilig, und die Frauen, die ich faszinierend finde, nehmen mich überhaupt nicht wahr und wissen nicht mal, daß es mich gibt“ „Stimmt. So ist es bei mir auch. Aber ich unterhalte mich längere Zeit mit den Frauen, die sich in mich verguckt haben, merke, wie nett die sind und verliebe mich von heute auf morgen in sie“ „Aber“, meinte Mario Bebel, „das ist doch keine Liebe. Ich glaube nicht, daß man sich mir nichts dir nichts in Frauen verlieben kann. Das klingt irgendwie so
aufgezwungen“ Frederik Bebel dachte einen kurzen Moment nach, dann antwortete er. „Was ist schon Liebe?“ „Liebe ist“, lächelte sein Sohn, verstummte und brach diesen Gedankengang ab, „laß uns lieber über etwas anderes reden. Ich werde immer so depressiv, wenn es um Liebe geht“ Es war ein Morgen, der für ihn mehr wie eine späte Nacht wirkte, als er seine dritte Tasse Kaffee herunterschlürfte. Wach werden, wach werden, wach werden. Werd endlich wach, du mußt zur Arbeit! Langsam fing das Koffein zu wirken an, leider jedoch viel zu stark, so daß Frederik Bebel noch hektischer war, als er es schon ohne den Kaffee gewesen wäre. Schließlich stand er wie jeden Morgen am Fließband, schraubte immer wieder mehrere Schrauben fest, die irgend etwas zusammenhielten, von dem er nicht einmal wußte, was es sein könnte. Angeblich arbeitete er in einer Firma, die Autos produzierte, doch Bebel hatte sich schon des öfteren Gedanken gemacht, daß er in Wirklichkeit an etwas anderem mitarbeitete. Wir arbeiten an einer neuartigen Waffe, sinnierte er. In Wirklichkeit stellen wir Vernichtungswerkzeuge her. Frederik Bebel wußte genau, daß diese Vermutungen Unsinn waren, doch er wollte sich seinen Acht-Stunden-Tag so spannend wie möglich machen. Und deshalb dachte er sich immer neue Verschwörungstheorien aus. Eine Lautsprecherdurchsage weckte ihn aus seinen Tagträumen. „Frederik Bebel bitte zum Personalbüro, ein Anruf für Sie“ Überrascht legte er seinen Schraubendreher beiseite, blickte den Arbeiter links neben sich mit fragenden Blicken an und verließ das Fließband. Er wollte sich beeilen, damit sein Kollege nicht allzu lange die doppelte Arbeit verrichteten mußte; dieser mußte zusätzlich zu seiner eigenen Beschäftigung nämlich auch noch Bebels Handgriff übernehmen, damit die Produktion weitergehen konnte. Am Telefon meldete sich Mario Bebel, der sehr aufgeregt klang. Ohne eine einleitende Begrüßung begann er, seinem Vater von einem gewagten Vorhaben zu erzählen. „Wir bauen eine Maschine“, überschlug sich Marios Stimme, „und du erfindest sie“ Frederik Bebel schwieg. Er war viel zu durcheinander, als daß er etwas von sich geben konnte. Erst einmal verstand er nicht, was ihm sein Sohn erklären wollte, und dann übertrug sich dessen Aufgeregtheit.
„Die Maschine gibt es in der Vergangenheit noch nicht, aber hier in der Zukunft ist sie ein Verkaufsschlager. Der Erfinder von dem Ding ist verdammt reich geworden und schwimmt in Geld. Hast du ein Fax, Frederik?“ „Hä?“, gab dieser von sich, denn er war noch immer nicht in der Lage, einen vernünftigen Gedanken auszusprechen. „Wenn nicht solltest Du dir eins kaufen, damit ich dir die Baupläne der TWK faxen kann“ Es war ein äußerst kalter Winter, als Frederik Bebel wieder einmal im Wartezimmer seines Therapeuten saß. Er hatte Verfolgungsängste, glaubte nun wirklich daran, daß er nicht an einer Autoproduktion, sondern an einer Waffenherstellung beteiligt war. Wenn jemand aus der Zukunft mit mir sprechen kann, dann stimmen meine anderen Vermutungen auch, holperte es durch seinen Kopf. Ja, dann stimmt alles! Alles ist wahr, was ich geglaubt habe. Diese Ängste hatten ihn so weit gebracht, daß er den Arbeitsplatz aufgegeben hatte. „Ich möchte keine Schrauben mehr festdrehen, die in einer todbringenden Waffe stecken. Alles ist wahr! Ich weiß es ganz genau. Und darum habe ich gekündigt“ Der Psychiater hörte sich Frederik Bebels Ängste an, nickte öfter einmal beruhigend und sagte nach einer Dreiviertelstunde, daß die Sitzung beendet sei. Mario Bebel saß am Schreibtisch und dachte über sein Leben nach. Schön, lächelte er, schönes, gutes Leben. Ich habe Geld, ich habe Spaß, ich habe alles, was ich brauche und vielleicht auch noch ein wenig mehr. Ich kriege jede Frau, die ich haben will. Ich bin eine wichtige Person, und ich habe Einfluß. Und all das wegen der Erfindung meines Vaters. Es gab so viele Dinge, über die er mit ihm reden wollte. Er wollte seinen Vater fragen, wie er auf die Idee für die Traum-Wirklichkeits-Kabine gekommen ist, wollte fragen, ob er viel Zeit für die Ausarbeitung benötigt hatte, ob alles sofort funktionierte. Er wollte sich stundenlang mit ihm unterhalten, doch es ging nicht. Sein Vater war tot. Er starb, als Mario Bebel noch ein kleines Kind war. Mit der Technik von heute hätte er gerettet werden können; heute war Krebs eine Krankheit, die ungefähr genauso schlimm wie eine mittelstarke Erkältung war. Mario Bebel sah auf seine Armbanduhr und stellte mit Erschrecken fest, daß er in wenigen Minuten eine wichtige Sitzung leiten mußte. Er drückte den Knopf der Sprechanlage, um seine Sekräterin nach dem Verlauf der Konferenz zu fragen. „Sven Schneider hat wieder einmal ein Programm für die Traum-WirklichkeitsKabine geschrieben. Sie müssen es einfach nur noch absegnen, Herr Bebel“ Der Schundschreiber! Was für einen erbärmlichen Dreck dieser Typ schreiben konnte. Schlimm, daß sich der Müll so gut verkauft. Sonst hätte ich ihn längst gefeuert, das
schwöre ich. „In Ordnung. Dann werde ich mich in Richtung Konferenzzimmer begeben. Und“, Bebel war unwahrscheilich froh, daß er Menschen hatte, denen er Anweisungen geben konnte und die nichts als Arbeitskräfte für ihn waren, „kochen Sie für mich und meine Kollegen Kaffee!“ „Ich präsentiere Ihnen nun den Werbefilm für mein neues TWK-Programm. Sie werden sehen, daß es genial wird. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer“, protzte Sven Schneider, schaltete das Licht des Raums aus und ließ den von ihm produzierten Film auf dem Flachbildfernseher ablaufen. Vierundzwanzig Augenpaare blickten auf und beobachteten interessiert den Bildschirm. Auf dem Fernseher sah man eine Landschaft, die von Nebelschwaden verschluckt wurde. Nach kurzer Zeit verschwand diese Szenarie; das Bild wurde schwarz. „Glauben Sie an das Übernatürliche?“, fragte eine dunkel klingende Stimme, und die neblige Landschaft erschien erneut. Eine Katze huschte in Richtung der Nebelschwaden, blieb stehen, sah sich um. Schließlich schlich die Katze weiter und verschwand im Nebel - das Bild wurde wieder schwarz, und auch die düstere Stimme meldete sich erneut zu Wort. „Glauben Sie an das Böse?“ Ein neues Bild wurde eingeblendet: Ein Mann hielt eine weiße Rose in der Hand und starrte mit verbissenem Gesichtsausdruck in die Kamera. Wieder verschwand das Bild, und die Stimme sprach ebenfalls genauso unheimlich wie vorher in die Leere des Fernsehschirms. „Glauben Sie, daß Sie alles wissen?“ Die weiße Rose wurde am Stiel festgehalten, danach wurde sie mit einem schnellen Ruck von oben nach unten gerissen. Nachdem der Bildschirm schwarz geworden war, redete die Stimme wieder, diesmal jedoch war sie mit Hall unterlegt. „Dann brauchen Sie auf jeden Fall das neue TWK-Modul!“ Es wurde eingeblendet, wie sich die Dornen der Rose in menschliches Fleisch bohrten. Das Bild wurde vollständig rot, und in altdeutscher Schrift stand der Spieltitel auf diesem flackernden Untergrund. „Die Weiße Rose“, hauchte die Stimme, „ein TWK-Modul der Spitzenklasse. Spielen Sie den Helden, das Böse oder das Opfer - Sie werden nie mehr davon loskommen!“ Was für ein Schund, dachte sich Mario Bebel. Diesmal hat sich Schneider selbst übertroffen. Diesmal sage ich ihm, was ich von seinem elenden Mist halte. Das Licht wurde angestellt, und nachdem der Raum wieder hell erleuchet war, brüllte
Bebel mit einer widerlichen Stimme, daß das die schlimmsten drei Minuten seines Lebens gewesen seien. „Raus“, schrie er den TWK-Designer an, „was wollen Sie noch hier? Raus aus diesem Zimmer, Sie unerträglicher Müllproduzent. Und wagen Sie es nicht noch einmal, mir zu begegnen!“ Schneider verließ den Raum, blaß im Gesicht, und man sah ihm den Schock an, der sich von einem Moment zum anderen in seiner Mimik breitgemacht hatte. Bebel schrie weiter. „Und warum sind Sie noch nicht weg?“, giftete er seine Kollegen an, „hauen Sie gottverdammt noch mal ab. Ich will Sie hier genauso wenig sehen, wie diesen hirnlosen Pfuscher“ Verängstigt und irritiert huschten diese nun auch aus dem Konferenzzimmer, und Mario Bebel blieb alleine an dem riesigen Tisch sitzen. Eigentlich sah der Werbefilm gar nicht schlecht aus. Ehrlich gesagt wirkte das Konzept wirklich so, als wenn es sich verkaufen könnte. Ich glaube, daß ich mir das Manuskript und das Schema des TWK-Spiels genauer ansehen sollte. Und so blätterte er sich durch das Drehbuch, das vor ihm auf dem Tisch lag, verfolgte gespannt den Verlauf der Handlung und fieberte förmlich mit. Eine wirklich gute Geschichte, dachte er, warum habe ich das nicht geschrieben? Warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen? Ein hinterhältiges Schmunzeln huschte über sein Gesicht. Da fällt mir ein, freute er sich über seine grandiose Idee, ich habe dieses Spiel ja doch geschrieben! Bebel nahm einen Kugelschreiber aus seiner Seidenweste, strich den Namen des ursprünglichen Autoren durch und ersetzte diesen durch seinen eigenen. Schön, lächelte er, schönes, gutes Leben. Ich habe alles, was ich brauche und vielleicht auch noch ein wenig mehr. Mario Bebel saß am Schreibtisch und gierte das Telefon an, das er vor sich aufgestellt hatte. Das Telefon hatte Bebel nach einem undurchsichtigen und sehr kompliziert wirkenden Bauplan konstruiert. Würde man dieses Gerät einem Menschen zeigen, der nicht wußte, was das sein sollte, so würde dieser nie auf die Idee kommen, daß das ein Telefon darstellen sollte: Es bestand aus einer Wählscheibe, die bei genaurem Hinsehen wie ein normales Teil eines Telefons aussah; nur standen statt Zahlen diverse Buchstaben und einige mystisch anmutende Symbole auf ihr. Unzählbare Kabel hingen um das Gehäuse herum, sodaß der Eindruck entstand, daß irgend ein Amateurbastler zuviel Freizeit gehabt hatte. Auf der hinteren Seite ragte ein unisoliertes Kabel heraus, welches nicht etwa in irgendeiner Steckdose befestigt worden war, sondern ohne eine Verbindung herumlag. Ich rufe jetzt meinen Vater an, freute sich Bebel, drehte die Wählscheibe nach irgendeiner Logik, die nur er zu verstehen schien und ärgerte sich, als es nicht so klappen wollte, wie er gehofft hatte.
Mist! Dabei hatte mir der Händler doch gesagt, daß das ganz einfach ist. Na gut. Keine Geschäfte mehr mit diesem verdrehten Idioten. Ist sowieso nur ein Betrüger. Der Bauplan stimmt bestimmt überhaupt nicht. Bebel stellte das Telefon in die Schreibtischschublade, knallte diese zu und ärgerte sich darüber, daß etwas ausnahmsweise nicht so lief wie er wollte. Am nächsten Tag probierte er noch einmal, seinen Vater anzurufen. Er hatte fast ununterbrochen darüber nachgedacht, was er falsch gemacht haben könnte. Schließlich war ihm eingefallen, daß die Drehrichtung nicht gestimmt haben könnte: Er mußte die Wählscheibe in die andere Richtung drehen- er wollte doch schließlich mit der Vergangenheit telefonieren. Frustriert mußte Mario Bebel jedoch feststellen, daß auch das nichts brachte. Aus dem Hörer konnte er nur ein Rauschen hören, das ihn nervös, aber genauso aggressiv machte. Wieder schmiß er das Telefon in die Schublade, wieder knallte er sie zu, wieder war der Tag für ihn gelaufen. Nach einigen Wochen und vielen gescheiterten Versuchen hatte Mario Bebel es dann schließlich doch noch hinbekommen. Ich habe es geschafft! Ich! Ich wußte doch, daß ich das kann! Endlich. Ich kann alles, was ich will! „Frederik Bebel“, hörte er seinen Vater sagen. „Hallo, Vater“, sprach Mario Bebel so langsam, daß es selbst ein Mensch aus der Vergangenheit verstehen konnte, „ich bin es! Dein Sohn“ „Oh“, erwiderte dieser, und man konnte ihm seine Freude anmerken, „du hast dich aber lange nicht mehr gemeldet!“ Ich habe doch noch nie mit meinem Vater telefoniert? Noch nie! Ist mein Vater ein verrückter, alter Sack, der nicht mehr richtig tickt? Ist mein Vater jemand, der Beruhigungstabletten einschmeißt und in ärztlicher Behandlung ist? Der Probleme mit der Realität hat? „Ich habe noch nie mit dir telefoniert“, krächzte Mario Bebel voller Empörung, und er war verwirrt. Er hatte gedacht, daß er seinen Vater erst einmal davon überzeugen müßte, wirklich sein Sohn zu sein. Er hatte gedacht, daß Frederik ihm nicht glauben könnte. Wenn ich einen Anruf aus der Zukunft bekommen würde, so grübelte er, dann würde ich meinen Gesprächspartner für verrückt erklären. Und so? Wenn mir mein Vater das einfach so abnimmt? Dann ist das nichts anderes! Mein Vater ist verrückt. Noch bevor Frederik Bebel ein Wort aussprechen konnte, schrie sein Sohn in den Hörer, daß er sich hinlegen sollte, Pillen einschmeissen müsse oder einfach aufhören sollte zu trinken. Er knallte den Hörer auf die Gabel. Oh ja, mein Vater war ein alter, verrückter Sack! Es war ein schwüler Sommertag, als Frederik Bebel sein Telefon völlig verstört anglotzte. Seitdem die TWK- Produktion begonnen hatte, hatte er nichts mehr von
seinem Sohn gehört. Sein Psychiater hatte ihn in den letzten Monaten davon überzeugen können, daß nie jemand aus der Zukunft mit ihm telefoniert hatte; auch war Bebel von dem Gedanken abgekommen, daß er an einer Waffenproduktion beteiligt gewesen war. Trotz alledem hatte er nicht wieder damit angefangen, in einer Fabrik zu arbeiten, denn mit der Traum-Wirklichkeits-Kabine verdiente er soviel Geld, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nie hatte vorstellen können. Jede größere Stadt wollte mindestens vier TWK-Zentren aufmachen, und jedes dieser Zentren machte einen so enormen Umsatz, daß Kinos geschlossen und als altmodisch abgetan wurden. Und nun starrte Bebel das Telefon an. Mario hat sich zurückgemeldet! Aber es konnte ihn nicht geben. Er war nur eine Einbildung gewesen. Wie hatte sein Therapeut noch gesagt? „Herr Bebel“, hatte dieser immer wieder erklärt, „Sie bilden sich das nur ein, weil Sie mit ihrem Leben nicht zufrieden sind. Das sind Tagträume. Glauben Sie mir“ Und nun war Frederik Bebel verwirrt. Ihm war schwindelig, und er mußte sich setzen. Sein Psychiater hatte gelogen! Er konnte ihm nicht mehr vertrauen. Sie waren alle gegen ihn. Die ganze Welt hat sich gegen mich verschworen. Alle wollen, daß ich mich schlecht fühle. Und mein Sohn haßt mich auch. Er hat mir gesagt, daß ich ein Alkoholiker bin. Daß ich mich hinlegen soll. Daß ich Pillen nehmen muß. Ich hasse diese gottverdammte Welt! Tränen liefen Frederik Bebel über die Wangen, und er fühlte sich hundeelend. Der Psychiater hätte das höchstwahrscheinlich als Rückfall bezeichnet. Es war ein sonniger Nachmittag, an dem Frederik Bebel im Bett lag und an die Decke starrte. Mario haßt mich! Mein Sohn beleidigt mich nur noch. Aber ich habe doch nichts Falsches getan? Er ist - er ist gar nicht mehr so wie sonst. Er ist böse. Wenn er wieder anruft, werde ich fragen, was passiert ist. Und dann soll er mir erklären, warum er mich haßt. O ja, er haßt mich. Die ganze Welt haßt mich. Und alle wollen mich kaputtmachen. Frederik Bebel lag schon sein mehreren Stunden im Bett, rollte sich hin und her und verstrickte sich immer weiter in Gedanken, die niemand mehr nachvollziehen konnte. Am Ende glaubte er sogar daran, daß er der einzige Mensch auf dieser Welt war und seine Mitmenschen in Wirklichkeit nur Maschinen sein konnten, die ihm sein Leben schwer machten. Und dann klingelte das Telefon. Bebel zuckte zusammen, preßte sich gegen die Wand und saß völlig verstört auf dem Bett. Das Telefon klingelte weiter, und Bebel glotzte es an, als wenn es ihn mit einer Pistole bedrohen würde. Trotzdem nahm Frederik Bebel den Hörer ab. „Wie bist du auf die Idee zur Traum-Wirklichkeits-Kabine gekommen?“, fiel Mario Bebel über seinen Vater her, „war das Zufall? Oder hat dir dein Arzt zuviele Tabletten verschrieben, und du hast die TWK als Vision gesehen? Los! Sag es. Ich will es
wissen“ Frederik Bebel legte auf. Das konnte nicht sein Sohn sein! Mit Mario hatte er sich doch so gut unterhalten können. Er hatte mit ihm über alles gesprochen, was ihm wichtig war. Frauen! Sein Beruf. Über alles. Und er war verständnisvoll. Mario war ihm so ähnlich gewesen. Und nun? Er ist ein eingebildetes Ekelpaket! Er ist beleidigend. Er ist einfach schrecklich. Frederik Bebel konnte nicht begreifen, was passiert war: Es ging nicht in seinen Kopf, weshalb Mario plötzlich nicht mehr wußte, daß er mit seinem Vater wochenlang telefoniert hatte und er auf die Idee gekommen war, die Baupläne für die TWK durch die Zeit zu schicken. Es schien, als sei sein Sohn ein völlig anderer Mensch geworden. Wieder klingelte das Telefon, und wieder nahm Frederik Bebel den Hörer ab. „Leg nicht einfach auf“, schrie Mario, „ich will mit dir reden. Niemand legt einfach so auf, wenn ich etwas wissen will!“ „Du“, stammelte Frederik Bebel, „du bist so anders als früher“ Mario keifte weiter. „Früher? Früher? Ich habe doch noch nie mit dir gesprochen! Und wenn ich gewußt hätte, wie verrückt du bist, wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, mit dir zu reden“ „Aber die TWK?“ „Ja, ja, ja. Du hast sie erfunden. Toll. Schön“, höhnte Mario Bebel, „und deswegen soll ich dich lieben?“ „Aber wir haben sie doch beide - ich meine, du hast mir doch die Baupläne geschickt? “ „Jetzt reicht es aber! Was soll ich getan haben? Ich habe ja schon gemerkt, daß du spinnst, aber das ist der größte Schwachsinn, den ich jemals in meinem Leben gehört habe“ „Du hast nicht?“ Frederik Bebel war am Boden zerstört. „Natürlich nicht. Und was habe ich sonst noch so getan, wovon ich nichts weiß? Habe ich die Welt vor kleinen grünen Marsmenschen gerettet?“ „Was ist denn los?“, stotterte Frederik Bebel, „ich verstehe das alles nicht“ „Tja. Scheint wohl ein Gefühl zu sein, daß du jeden Tag hast. Anders kann ich mir auch nicht erklären, wie du meine Mutter geheiratet hast“ „Ich habe“, Frederik Bebel versuchte, seine Gedanken zu sortieren, „habe geheiratet?“
„Aber sicher doch. Und noch dazu das größte Scheusal, das es auf dieser Welt geben kann. So wie es aussieht, paßt sie zu dir“ „Wen?“, fragte Bebel schockiert. „Klara Schulze. Den schönsten Kotzbrocken, der frei herumläuft“ „Aber, aber sie ist so symphatisch. So schön. So freundlich“ „Ein richtiges Weichei“, ergänzte sein Sohn, „eine Heulsuse. Eine Memme“ Das reicht jetzt! Irgendwann kann ich einfach nicht mehr. Irgendwann ist Schluß. Wenn das nicht mein Sohn wäre, hätte ich schon viel früher aufgelegt. Aber jetzt ist das Maß voll. Mehr deprimiert als wütend legte Frederik Bebel den Telefonhörer auf. Ich habe Schuld, stellte er traurig fest. Mario ist nur so schrecklich geworden, weil wir die Zukunft verändert haben. Er ist mit viel Geld groß geworden, weil ich die TWK gebaut und verkauft habe. Er ist jetzt ein geldgeiler und erfolgsorientierter Geschäftsmann. Er ist ein Sklaventreiber geworden! Anders kann ich mir das ganze nicht erklären. Frederik Bebel schrie auf. Er schrie noch einmal, diesmal lauter und verzweifelter. Sein Gesicht war rot angelaufen, und Tränen liefen ihm aus den Augen. Er schlug mit der Hand auf den Fußboden. Er schlug noch fester zu. Die Hand tat fürchterlich weh, doch das machte ihm nichts aus. Er schlug wieder auf den Boden ein. Schlug noch einmal. Und noch einmal. Und er schrie: „Vernichtungsmaschinen“, jaulte er, „und ich bin dafür verantwortlich!“ Noch ein Schlag mit der geröteten Hand. „Ich war es nicht! Ich wollte doch nur Autos bauen!“ Er schlug gegen die weiße Wand, und an den Stellen, auf die er eindrosch, verfärbte sich die Tapete dunkelrot. Seine Hand blutete, doch das machte ihm nichts aus. Er schlug noch fester zu. Sein Psychiater wird am nächsten Morgen viel mit ihm reden, damit er sich beruhigt. Er wird versuchen, ihm klarzumachen, daß es keinen Anrufer aus der Zukunft gibt und daß Bebel nur in einer Autofabrik gearbeitet hat und nicht an einer Waffenproduktion beteiligt war. Er wird ihm vernünftig erklären, daß es so etwas gar nicht geben kann. Und er wird scheitern, denn Bebel weiß, daß es das alles gibt! Es gibt einen Anrufer aus der Zukunft. Und es gibt eine geheime Waffenproduktion, die als Autofabrik getarnt ist! Es war ein ruhiger Abend, als die Kerze auf dem Eßtisch angezündet wurde. Das flackernde Licht ließ das Zimmer gemütlicher erscheinen als es ohnehin schon war. Frederik Bebel hatte seine Freundin zum Essen eingeladen; fast den gesamten Nachmittag hatte er in der Küche verbracht, um das Drei-Gänge-Menü zuzubereiten.
Es sollte ihr schönster Abend werden. Die Sektflasche knallte, als er sie öffnete, und Klara seufzte, weil sie ihren Freund noch nie so romantisch erlebt hatte. Sie saß da und wartete darauf, daß Frederik den Schweinebraten aus der Küche hereintrug. Der Fleischgeruch schoß ihr in die Nase und versetzte sie in eine entspannte Stimmung. Ein toller Mann! Er ist einfach hinreißend. „Hier ist es“, strahlte Frederik, als er sich auf den Stuhl gegenüber Klara gesetzt hatte, „ich hoffe, daß dir der Braten schmeckt“ „Die Tomatensuppe war ja auch gelungen. Ich weiß jetzt schon, wie gut die Hauptspeise sein wird“, lobte Klara seine Kochkünste. Frederik sah verschämt auf den Boden, und mehrere Tränen kullerten über seine linke Wange. Wir sehen uns auf der anderen Seite. Mit funkelnden Augen blickte sie ihn an. Sie freute sich. Sie war verliebt; ihr ganzes Gesicht wirkte verliebt. Er kann wirklich gut kochen! Und es ist der schönste Abend meines Lebens! So romantisch. Ich liebe ihn. Ja, ich liebe ihn. Ich werde es ihm sagen. Später! Klara Schulze hatte ihm über die schwere Zeit hinweggeholfen, sie war immer bei ihm geblieben, als er die Panikattacken bekommen hatte. Er glaubte, daß er in einer Waffenfabrik gearbeitet hat. Er hat geglaubt, daß Menschen aus der Zukunft mit ihm telefonieren. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Und ich liebe ihn wirklich! „Möchtest du noch ein Glas Rotwein?“, fragte Frederik, und er hatte sich die Tränen so schnell und unauffällig wie möglich aus dem Gesicht gewischt - er wollte nicht, daß Klara etwas davon mitbekam. „Oh ja“, summte ihre Stimme, „einen Wein hätte ich jetzt wirklich gerne“ Sie hatte es nicht bemerkt! Zum Glück. In der Küche wurde Frederik heiß und kalt, ihm war schwindelig. Sollte er das wirklich tun? Er kam zu dem Entschluß, daß es keine andere Möglichkeit gab, er konnte gar nicht anders. Ich liebe Klara, sinnierte er, aber ich hasse meinen Sohn. Jedenfalls hasse ich ihn so, wie er jetzt ist. Und wenn mein Sohn nicht geboren wird, dann kann er auch nicht mit mir telefonieren. Und dann wird er auch kein ekliger, arroganter Geschäftsmann. Ich kann wirklich nicht anders.
Und Alternativen? Sicher ist sicher. Sieh es ein. Es geht nicht anders. Er griff in seine Hosentasche und holte ein Plastiktütchen mit weißem Pulver heraus. Er nahm eine Schere aus der Schublade, schnitt das Tütchen mit der Schere auf. Er goß den Wein in das eine, goß den Wein in das andere Glas. In dem einen Glas schäumte der Wein ein wenig, weil sich das Pulver auflöste und in der Flüssigkeit verteilte. Er ging zurück zum Eßtisch. Damit biege ich alles gerade. Jedenfalls hoffe ich das. Alles wird sich ändern. Auf der anderen Seite! Zitternd reichte er Klara das eine Weinglas und hielt das andere festumklammert in seiner rechten Hand. „Stimmt etwas nicht?“, fragte sie besorgt, „du siehst so blaß aus“ „Es ist nichts“, log Frederik und sah sie halb feierlich, halb traurig an. Wir sehen uns auf der anderen Seite, dachte er immer wieder, wir sehen uns auf der anderen Seite, Klara. „Ich möchte auf uns anstoßen“, erhellte seine Stimme den Raum, „ich denke, daß wir eine schöne Zeit zusammen hatten“ Jetzt nur nicht weinen. Nur nicht weinen. Nicht weinen. Es ist richtig, was du machst. Es geht gar nicht anders. Denk immer daran: Du haßt deinen Sohn! Du willst nicht, daß er leben wird. Die Weingläser berührten sich, und das klingende Geräusch konnte Frederik in Mark und Bein spüren, als wenn es tausend Mal so laut gewesen wäre. Es wird nie passieren. Nichts davon wird geschehen. Nichts davon. Es wird nie zu dieser Situation kommen. Alles wird sich ändern. Und dann trank sie den Wein in kleinen Schlücken. Es sei der beste Wein ihres Lebens, hatte sie gesagt. Und dann sagte sie, daß sie ihn lieben würde. Frederik Bebel konnte sich nicht länger zusammenreißen: Viele kleine Tränen liefen ihm über die Wangen. Das hätte er nie tun dürfen, doch jetzt war es zu spät. Er schluchzte laut auf und weinte. Es ist ein milder Sommertag, und das Telefon klingelt. Frederik Bebel ist gerade dabei, sich Nudeln zu kochen. Er hat sie vor kurzem in kochendes Wasser geworfen, und gleich würden sie fertig sein. Bebel hört das Telefon klingeln, und er rennt in den Flur, weil er einen Anruf seiner Freundin erwartet. Falsch verbunden, denkt er, noch bevor er den Hörer abgenommen hat, und er ist felsenfest davon überzeugt. „Hallo Vater“, meldet sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung. „laß mich kurz ausreden, bevor du auflegst. Ich spreche aus der Zukunft mit dir, und ich weiß, daß du
mir nicht glauben wirst. Aber bitte glaub mir, daß ich dein Sohn bin“ Eine gute halbe Stunde später ißt Frederik Bebel eine Pizza, die er sich bei einem Bringdienst bestellt hat. Im Fernsehen sieht er sich langweilige Serien und Talkshows an und amüsiert sich bei Gesprächen über Beziehungsdramen und Brustvergrößerungen. Till Frommann (
[email protected]) # Falsch verbunden von Till Frommann Es war ein milder Sommermittag, und das Telefon klingelte. Frederik Bebel rannte aus der Küche in den Flur, und er beeilte sich, weil er diesen Anruf nicht verpassen durfte. Er hoffte, daß ihn seine Freundin endlich anrufen würde, und er war sich fast sicher, daß er sie liebte. Richtig sicher war er sich immer erst nach einigen Monaten, doch nach einigen Monaten war es dann meistens auch wieder mit der Beziehung vorbei. „Frederik Bebel“, keuchte er außer Atem in den Hörer, als er das Telefon im Flur erreicht hatte und sagte daraufhin für kurze Zeit nichts. „Was wollen Sie von mir?“, fragte er irritiert, dann ließ er seinen Gesprächspartner erneut auf sich einreden. „Netter Versuch! Mach deine Telefonstreiche das nächste Mal woanders!“, schrie er in den Hörer und schmiß ihn zurück auf die Gabel. Bebel starrte das Telefon noch einmal mit einem verunsicherten Blick an, verzog die Miene zu einem wütenden Gesichtsausdruck und fluchte ein „Idiot“ aus sich heraus. Daraufhin ging er zurück in die Küche und stellte frustriert fest, daß die Nudeln schon mehr als verkocht waren, die er vor zwanzig Minuten in heißes Wasser geschmissen hatte. Frederik Bebel fluchte ein zweites Mal auf den Telefonstreich. Also bestellte er sich eine Pizza, denn viel Lust zum Selberkochen war ihm nicht geblieben. Bebel setzte sich in seinen gemütlichen Fernsehsessel, schaltete durch sechsunddreißig Sender, die alle nur langweilige Serien und Talkshows zeigten und wartete, daß der Bringdienst endlich die bestellte Pizza liefern würde. Seine Freundin hatte bisher immer noch nicht angerufen, und Frederik Bebel wurde aus diesem Grund immer deprimierter. Melde dich endlich, betete er förmlich. Ruf doch endlich an. Nach einer halben Stunde klingelte es an der Haustür, und die Pizza roch schon einladend lecker, als der Lieferant sie Bebel überreichte. Genüßlich stopfte er den Fast-Food-Fraß in sich hinein, während er weiter stupide Gespräche über Beziehungsdramen und Brustvergrößerungen in sich aufnahm, um sie
gleich danach wieder zu vergessen. Schließlich klingelte das Telefon erneut. Die gleiche Stimme! Der Typ hat doch schon vorhin gemerkt, daß er mich mit seinen Albernheiten nervt. „Hallo Vater“, hörte er die Stimme schüchtern sagen, die mit leichtem Rauschen aus dem Hörer drang. „Vater?“, Frederik Bebel wurde aggressiv, „Vater? Ich habe keine Kinder! Und außerdem hasse ich Telefonstreiche! Das habe ich dir vorhin schon gesagt. Also laß den Schrott, du pubertäres Miststück“ Wieder einmal knallte Bebel den Hörer auf die Gabel und starrte erneut auf das Telefon. „Telefonterror“, sagte er zu sich selbst, „das ist purer Telefonterror“ Ein gelangweiltes Kind, mehr war das nicht. Schlägt sich auf Kosten seiner Eltern die Zeit tot. Ruft fremde Leute an. Nervt. Es war ein ganz normaler Nachmittag, und das Fernsehprogramm langweilte ihn. Irgend etwas Sinnvolles wollte Bebel jedoch auch nicht machen, dazu hatte er einfach keine Lust. Vielleicht durch die Stadt schlendern, dachte er sich, verließ seine Wohnung und spazierte tagträumerisch durch die Gegend. Hier gibt es nichts zu sehen. Trostlose Stadt. Und die Menschen sind auch alle gleich. Und das Schlimme ist, daß meine Freundin mich vergessen hat. Sie ruft mich nicht an. Sie meldet sich nicht. Vielleicht ruft sie jetzt an, aber ich bin nicht zuhause. Egal. Es ist eigentlich alles egal. Frederik Bebel ließ seinen Gedanken freien Lauf, und je mehr er über das Leben und seine Freundin nachdachte, desto deprimierter wurde er. Plötzlich riß ihn ein Klingeln aus seinem Grübeln: Die Telefonzelle, an der er gerade vorbeiging, wurde angerufen. Egal, dachte Bebel und verkroch sich erneut in Gedanken. Was soll schon los sein? Sie hat mich vergessen - mehr war nicht passiert. Abgehakt und weggeordnet. Ich bin nicht mehr wichtig. Sie liebt mich nicht. Frederik Bebel ging an der nächsten Telefonzelle vorbei, deren Telefon ebenfalls zu klingeln begann. Langsam aber sicher bekam er es mit der Angst zu tun. Das war nur ein Zufall, redete er sich ein. Weitergehen, als ob nichts geschehen ist, dachte er. Weitergehen, ohne es weiter zu beachten. Ich bin nicht der Auslöser für das Klingeln, versuchte er sich weißzumachen. An der nächsten Telefonzelle schlich er mit einer leisen Vorahnung vorbei, und diesmal tat er das Klingeln nicht als Zufall ab: Auch dieses Telefon wurde angerufen. Frederik Bebel meldete sich zögernd mit Namen und hörte am anderen Ende der
Leitung eine ihm wohlbekannte Stimme. „Vater? Kann ich jetzt mit dir reden?“ „Wie machst du das“, flüsterte Frederik Bebel zitternd, „das geht doch etwas zu weit! Was bist du für ein Sadist? Hör mit deinen Telefonstreichen auf, aber schnell“ Der Hörer in seiner Hand hüpfte vor Nervosität hin und her. Diesmal wagte Bebel nicht, einfach so aufzulegen. Diesmal wollte er wissen, was das alles sollte. „Kein Telefonstreich“, erwiderte die Stimme fragend, „aber ich habe mit dieser Reaktion gerechnet“ „Wer bist du?“, preßte Bebel aus sich heraus, obwohl er wußte, welche Antwort ihn erwartete. „Das habe ich dir doch schon gesagt, aber so wie es aussieht glaubst du mir immer noch nicht - ich bin dein Sohn“ „Ja?“, fragte Bebel, und er war mit den Nerven nun völlig am Ende, „und weswegen rufst du an?“ „Ich möchte meine und deine Gegenwart ändern“ Es war ein kühler Sommerabend, und Frederik Bebel lag geknickt und aufgewühlt im Bett, wälzte sich von einer Seite zur anderen und konnte nicht einschlafen. Sein Sohn aus der Zukunft hatte ihm einige Dinge erzählt, die ihn an der Realität zweifeln ließen. Einige davon schienen einen hohen Wahrheitsgehalt zu haben, einige andere schienen sogar ohne Zweifel zu stimmen. Einige dieser Dinge konnte nur Bebel selbst wissen - sie waren zu persönlich, als daß irgend ein Fremder sie hätte erraten können. Er fühlte sich wie in einem billigen Science-Fiction-Roman, den er in diversen Variationen schon oft gelesen hatte. Vielleicht war er wirklich mein Sohn und kein Sadist, der Telefonstreiche spielte. Vielleicht hatte er wirklich vor, einen Vorteil für sich selbst, aber auch für mich herauszuschlagen. Die ganze Sache sei illegal, hatte sein Sohn behauptet, man dürfe keine Gespräche mit der Vergangenheit führen. Und dann unterhielten sie sich mehrere Stunden darüber, was sie gerade taten, wie es ihnen beruflich ging. Mario Bebel, so hieß sein Sohn, habe es nach eigener Einschätzung zu nichts gebracht. Er verkaufte in einem Elektroladen Transistoren, Computerchips und Speichermodule und verdiente damit gerade so viel Geld, um über die Runden zu kommen. Mario Bebel wollte etwas an seiner derzeitigen Lage ändern, und deshalb hatte er sich die Baupläne für ein Zeittelefon besorgt. Das sei sehr schwierig gewesen, hatte er gemeint, denn seit drei Jahren sei es verboten, solche Zeittelefone zu besitzen geschweige denn zu benutzen. Es habe zwei Monate gebraucht, um solch ein Telefon herzustellen und vier weitere, um herauszufinden, wie er seinen Vater erreichen konnte.
Mit diesen Gedanken im Kopf schlief Frederik Bebel dann schließlich doch noch ein, aber er schlief nur unruhig, und eigentlich war es mehr ein Dösen als ein richtiger Tiefschlaf. Es war mitten in der Nacht, und Frederik Bebel wurde vom Klingeln des Telefons geweckt. Schlaftrunken taperte er in den Flur, und er wußte, mit welchem Gesprächspartner er rechnen konnte. Wer sonst sollte um diese Zeit anrufen? „Hallo Sohn“, grinste er in das Telefon hinein, und Bebel war froh, daß er mit dieser Begrüßung richtig lag. Es war zwar ein merkwürdiges Gefühl, mit einem Verwandten zu sprechen, der nicht einmal geboren war, doch gleichzeitig fühlte er sich zu dieser Person hingezogen. Ja, ich bin sein Vater. Und ich bin stolz auf meinen Sohn. Er ist intelligent. Gerissen. Versucht alles, um sein Leben zu verbessern. „Wie geht es dir, Vater?“, erkundigte sich Mario Bebel. „Geht so. Ich hasse meine Arbeit“, lachte dieser und sah verstohlen zur Decke. „Ich auch. Ich muß immer freundlich zu den Kunden sein. Ich muß fragen, ob sie noch einen Wunsch haben, und ich muß die Drecksarbeit machen. Immer wieder. Jeden Tag. Vielleicht verstehst du, wie mich das alles ankotzt“ „Klar! Das kann ich auf jeden Fall verstehen. Bei mir ist es nämlich fast genauso. Immer die gleichen Handgriffe - und das jetzt schon seit vier Jahren. Es ist wirklich schrecklich. Eigentlich ist es nicht nur schrecklich, es ist richtig unerträglich“ Mario Bebel stöhnte in das Telefon. „Ach ja“, gab er frustriert von sich, „und sonst läuft auch nichts so wie ich will“ „Frauen?“, lächelte sein Vater. „Frauen“, antwortete sein Sohn mit einem deprimierten Unterton. Mario Bebel war ungefähr genauso alt wie er. Sie hatten die gleichen Probleme, sprachen über ihre Ängste und Sorgen ganz so, als wären sie seit Jahren die besten Freunde. Nichts erinnerte daran, daß man es hier mit einem Vater und seinem Sohn zu tun hatte. „Es ist frustrierend“, sagte Mario Bebel, „die Frauen, die mich interessant finden, wirken auf mich langweilig, und die Frauen, die ich faszinierend finde, nehmen mich überhaupt nicht wahr und wissen nicht mal, daß es mich gibt“ „Stimmt. So ist es bei mir auch, aber ich unterhalte mich längere Zeit mit den Frauen, die sich in mich verguckt haben, und dann merke ich, wie nett sie sind und verliebe mich in sie.“ „Und so hast du meine Mutter kennengelernt?“, fragte Mario Bebel, „das kann ich mir
überhaupt nicht vorstellen - das klingt irgendwie so aufgezwungen“ „Deine Mutter?“, Frederik Bebels Stimme zitterte, und er war dermaßen aufgeregt, dass ihm seine Worte nur so aus dem Mund rasten, „wer ist deine Mutter?“ „Klara Schulze. Kennst du sie schon?“ Frederik Bebel dachte kurz nach, doch der Name sagte ihm nichts. „Nein, keine Ahnung, wer das ist.“ „Was nicht ist“, lachte sein Sohn, „kann ja noch werden.“ Es war ein Morgen, der für ihn mehr wie eine späte Nacht wirkte, als er seine dritte Tasse Kaffee herunterschlürfte. Wach werden, wach werden, wach werden. Werd endlich wach, du mußt zur Arbeit! Langsam fing das Koffein zu wirken an, leider jedoch viel zu stark, so daß Frederik Bebel noch hektischer war, als er es schon ohne den Kaffee gewesen wäre. Schließlich stand er wie jeden Morgen am Fließband, schraubte immer wieder mehrere Schrauben fest, die irgend etwas zusammenhielten, von dem er nicht einmal wußte, was es sein könnte. Angeblich arbeitete er in einer Firma, die Autos produzierte, doch Bebel hatte sich schon des öfteren Gedanken gemacht, daß er in Wirklichkeit an etwas anderem mitarbeitete. Wir arbeiten an einer neuartigen Waffe, sinnierte er. In Wirklichkeit stellen wir Vernichtungswerkzeuge her. Frederik Bebel wußte genau, daß diese Vermutungen Unsinn waren, doch er wollte sich seinen Acht-Stunden-Tag so spannend wie möglich machen. Und deshalb dachte er sich immer neue Verschwörungstheorien aus. Eine Lautsprecherdurchsage weckte ihn aus seinen Tagträumen. „Frederik Bebel bitte zum Personalbüro, ein Anruf für Sie“ Überrascht legte er seinen Schraubendreher beiseite, blickte den Arbeiter links neben sich mit fragenden Blicken an und verließ das Fließband. Er wollte sich beeilen, damit sein Kollege nicht allzu lange die doppelte Arbeit verrichteten mußte; dieser mußte zusätzlich zu seiner eigenen Beschäftigung nämlich auch noch Bebels Handgriff übernehmen, damit die Produktion weitergehen konnte. Am Telefon meldete sich Mario Bebel, der sehr aufgeregt klang. Ohne eine einleitende Begrüßung begann er, seinem Vater von einem gewagten Vorhaben zu erzählen. „Wir bauen eine Maschine“, überschlug sich Marios Stimme, „und du erfindest sie“ Frederik Bebel schwieg. Er war viel zu durcheinander, als daß er etwas von sich
geben konnte. Erst einmal verstand er nicht, was ihm sein Sohn erklären wollte, und dann übertrug sich dessen Aufgeregtheit. „Die Maschine gibt es in der Vergangenheit noch nicht, aber hier in der Zukunft ist sie ein Verkaufsschlager. Der Erfinder von dem Ding ist verdammt reich geworden und schwimmt in Geld. Hast du ein Fax, Frederik?“ „Hä?“, gab dieser von sich, denn er war noch immer nicht in der Lage, einen vernünftigen Gedanken auszusprechen. „Wenn nicht solltest Du dir eins kaufen, damit ich dir die Baupläne der TWK faxen kann“ Es war ein äußerst kalter Winter, als Frederik Bebel wieder einmal im Wartezimmer seines Therapeuten saß. Er hatte Verfolgungsängste, glaubte nun wirklich daran, daß er nicht an einer Autoproduktion, sondern an einer Waffenherstellung beteiligt war. Wenn jemand aus der Zukunft mit mir sprechen kann, dann stimmen meine anderen Vermutungen auch, holperte es durch seinen Kopf. Ja, dann stimmt alles! Alles ist wahr, was ich geglaubt habe. Diese Ängste hatten ihn so weit gebracht, daß er den Arbeitsplatz aufgegeben hatte. „Ich möchte keine Schrauben mehr festdrehen, die in einer todbringenden Waffe stecken. Alles ist wahr! Ich weiß es ganz genau. Und darum habe ich gekündigt“ Der Psychiater hörte sich Frederik Bebels Ängste an, nickte öfter einmal beruhigend und sagte nach einer Dreiviertelstunde, daß die Sitzung beendet sei. Mario Bebel saß am Schreibtisch und dachte über sein Leben nach. Schön, lächelte er, schönes, gutes Leben. Ich habe Geld, ich habe Spaß, ich habe alles, was ich brauche und vielleicht auch noch ein wenig mehr. Ich kriege jede Frau, die ich haben will. Ich bin eine wichtige Person, und ich habe Einfluß. Und all das wegen der Erfindung meines Vaters. Es gab so viele Dinge, über die er mit ihm reden wollte. Er wollte seinen Vater fragen, wie er auf die Idee für die Traum-Wirklichkeits-Kabine gekommen ist, wollte fragen, ob er viel Zeit für die Ausarbeitung benötigt hatte, ob alles sofort funktionierte. Er wollte sich stundenlang mit ihm unterhalten, doch es ging nicht. Sein Vater war tot. Er starb, als Mario Bebel noch ein kleines Kind gewesen war. Mit der Technik von heute hätten ihn die Ärzte retten können, denn heute war Krebs eine Krankheit, die ungefähr genauso schlimm wie eine mittelstarke Erkältung war. Wenn es denn Krebs gewesen wäre! Die inoffizielle Todesursache war, dass Frederik Bebel einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte und er immer verwirrter geworden war. Schließlich soll er so verrückt geworden sein, daß er einfach so aus dem Fenster gesprungen war. Doch wie hätte sich das angehört? Der Erfinder der TWK ist ein verrückter, alter
Mann gewesen, der sich aus dem Fenster gestürzt hat - nein, so etwas hatte man nicht im Raum stehen lassen können. Und so hatte man die wahre Todesursache halt vertuscht. Ein Krebstod. Ja, das war doch etwas ganz Ordinäres. Das hatte etwas von einem ruhmhaften Tod im Vergleich zur Wahrheit. Mario Bebel sah auf seine Armbanduhr und stellte mit Erschrecken fest, daß er in wenigen Minuten eine wichtige Sitzung leiten mußte. Er drückte den Knopf der Sprechanlage, um seine Sekräterin nach dem Verlauf der Konferenz zu fragen. „Sven Schneider hat wieder einmal ein Programm für die Traum-WirklichkeitsKabine geschrieben. Sie müssen es einfach nur noch absegnen, Herr Bebel“ Der Schundschreiber! Was für einen erbärmlichen Dreck dieser Typ schreiben konnte. Schlimm, daß sich der Müll so gut verkauft. Sonst hätte ich ihn längst gefeuert, das schwöre ich. „In Ordnung. Dann werde ich mich in Richtung Konferenzzimmer begeben. Und“, Bebel war unwahrscheilich froh, daß er Menschen hatte, denen er Anweisungen geben konnte und die nichts als Arbeitskräfte für ihn waren, „kochen Sie für mich und meine Kollegen Kaffee!“ „Ich präsentiere Ihnen nun den Werbefilm für mein neues TWK-Programm. Sie werden sehen, daß es genial wird. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer“, protzte Sven Schneider, schaltete das Licht des Raums aus und ließ den von ihm produzierten Film auf dem Flachbildfernseher ablaufen. Vierundzwanzig Augenpaare blickten auf und beobachteten interessiert den Bildschirm. Auf dem Fernseher sah man eine Landschaft, die von Nebelschwaden verschluckt wurde. Nach kurzer Zeit verschwand diese Szenarie; das Bild wurde schwarz. „Glauben Sie an das Übernatürliche?“, fragte eine dunkel klingende Stimme, und die neblige Landschaft erschien erneut. Eine Katze huschte in Richtung der Nebelschwaden, blieb stehen, sah sich um. Schließlich schlich die Katze weiter und verschwand im Nebel - das Bild wurde wieder schwarz, und auch die düstere Stimme meldete sich erneut zu Wort. „Glauben Sie an das Böse?“ Ein neues Bild wurde eingeblendet: Ein Mann hielt eine weiße Rose in der Hand und starrte mit verbissenem Gesichtsausdruck in die Kamera. Wieder verschwand das Bild, und die Stimme sprach ebenfalls genauso unheimlich wie vorher in die Leere des Fernsehschirms. „Glauben Sie, daß Sie alles wissen?“ Die weiße Rose wurde am Stiel festgehalten, danach wurde sie mit einem schnellen Ruck von oben nach unten gerissen. Nachdem der Bildschirm schwarz geworden war, redete die Stimme wieder, diesmal
jedoch war sie mit Hall unterlegt. „Dann brauchen Sie auf jeden Fall das neue TWK-Modul!“ Es wurde eingeblendet, wie sich die Dornen der Rose in menschliches Fleisch bohrten. Das Bild wurde vollständig rot, und in altdeutscher Schrift stand der Spieltitel auf diesem flackernden Untergrund. „Die Weiße Rose“, hauchte die Stimme, „ein TWK-Modul der Spitzenklasse. Spielen Sie den Helden, das Böse oder das Opfer - Sie werden nie mehr davon loskommen!“ Was für ein Schund, dachte sich Mario Bebel. Diesmal hat sich Schneider selbst übertroffen. Diesmal sage ich ihm, was ich von seinem elenden Mist halte. Das Licht wurde angestellt, und nachdem der Raum wieder hell erleuchet war, brüllte Bebel mit einer widerlichen Stimme, daß das die schlimmsten drei Minuten seines Lebens gewesen seien. „Raus“, schrie er den TWK-Designer an, „was wollen Sie noch hier? Raus aus diesem Zimmer, Sie unerträglicher Müllproduzent. Und wagen Sie es nicht noch einmal, mir zu begegnen!“ Schneider verließ den Raum, blaß im Gesicht, und man sah ihm den Schock an, der sich von einem Moment zum anderen in seiner Mimik breitgemacht hatte. Bebel schrie weiter. „Und warum sind Sie noch nicht weg?“, giftete er seine Kollegen an, „hauen Sie gottverdammt noch mal ab. Ich will Sie hier genauso wenig sehen, wie diesen hirnlosen Pfuscher“ Verängstigt und irritiert huschten diese nun auch aus dem Konferenzzimmer, und Mario Bebel blieb alleine an dem riesigen Tisch sitzen. Eigentlich sah der Werbefilm gar nicht schlecht aus. Ehrlich gesagt wirkte das Konzept wirklich so, als wenn es sich verkaufen könnte. Ich glaube, daß ich mir das Manuskript und das Schema des TWK-Spiels genauer ansehen sollte. Und so blätterte er sich durch das Drehbuch, das vor ihm auf dem Tisch lag, verfolgte gespannt den Verlauf der Handlung und fieberte förmlich mit. Eine wirklich gute Geschichte, dachte er, warum habe ich das nicht geschrieben? Warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen? Ein hinterhältiges Schmunzeln huschte über sein Gesicht. Da fällt mir ein, freute er sich über seine grandiose Idee, ich habe dieses Spiel ja doch geschrieben! Bebel nahm einen Kugelschreiber aus seiner Seidenweste, strich den Namen des ursprünglichen Autoren durch und ersetzte diesen durch seinen eigenen. Schön, lächelte er, schönes, gutes Leben. Ich habe alles, was ich brauche und vielleicht auch noch ein wenig mehr. Mario Bebel saß am Schreibtisch und gierte das Telefon an, das er vor sich aufgestellt
hatte. Das Telefon hatte Bebel nach einem undurchsichtigen und sehr kompliziert wirkenden Bauplan konstruiert. Würde man dieses Gerät einem Menschen zeigen, der nicht wußte, was das sein sollte, so würde dieser nie auf die Idee kommen, daß das ein Telefon darstellen sollte: Es bestand aus einer Wählscheibe, die bei genaurem Hinsehen wie ein normales Teil eines Telefons aussah; nur standen statt Zahlen diverse Buchstaben und einige mystisch anmutende Symbole auf ihr. Unzählbare Kabel hingen um das Gehäuse herum, sodaß der Eindruck entstand, daß irgend ein Amateurbastler zuviel Freizeit gehabt hatte. Auf der hinteren Seite ragte ein unisoliertes Kabel heraus, welches nicht etwa in irgendeiner Steckdose befestigt worden war, sondern ohne eine Verbindung herumlag. Ich rufe jetzt meinen Vater an, freute sich Bebel, drehte die Wählscheibe nach irgendeiner Logik, die nur er zu verstehen schien und ärgerte sich, als es nicht so klappen wollte, wie er gehofft hatte. Mist! Dabei hatte mir der Händler doch gesagt, daß das ganz einfach ist. Na gut. Keine Geschäfte mehr mit diesem verdrehten Idioten. Ist sowieso nur ein Betrüger. Der Bauplan stimmt bestimmt überhaupt nicht. Bebel stellte das Telefon in die Schreibtischschublade, knallte diese zu und ärgerte sich darüber, daß etwas ausnahmsweise nicht so lief wie er wollte. Am nächsten Tag probierte er noch einmal, seinen Vater anzurufen. Er hatte fast ununterbrochen darüber nachgedacht, was er falsch gemacht haben könnte. Schließlich war ihm eingefallen, daß die Drehrichtung nicht gestimmt haben könnte: Er mußte die Wählscheibe in die andere Richtung drehen- er wollte doch schließlich mit der Vergangenheit telefonieren. Frustriert mußte Mario Bebel jedoch feststellen, daß auch das nichts brachte. Aus dem Hörer konnte er nur ein Rauschen hören, das ihn nervös, aber genauso aggressiv machte. Wieder schmiß er das Telefon in die Schublade, wieder knallte er sie zu, wieder war der Tag für ihn gelaufen. Nach einigen Wochen und vielen gescheiterten Versuchen hatte Mario Bebel es dann schließlich doch noch hinbekommen. Ich habe es geschafft! Ich! Ich wußte doch, daß ich das kann! Endlich. Ich kann alles, was ich will! „Frederik Bebel“, hörte er seinen Vater sagen. „Hallo, Vater“, sprach Mario Bebel so langsam, daß es selbst ein Mensch aus der Vergangenheit verstehen konnte, „ich bin es! Dein Sohn“ „Oh“, erwiderte dieser, und man konnte ihm seine Freude anmerken, „du hast dich aber lange nicht mehr gemeldet!“ Ich habe doch noch nie mit meinem Vater telefoniert? Noch nie! Ist mein Vater wirklich ein verrückter, alter Sack, der nicht mehr richtig tickt? Ist mein Vater jemand, der Beruhigungstabletten einschmeißt und in ärztlicher Behandlung ist? Der Probleme mit der Realität hat? Wahrscheinlich stimmte es wirklich, dass er verrückt
geworden war. „Ich habe noch nie mit dir telefoniert“, krächzte Mario Bebel voller Empörung, und er war verwirrt. Er hatte gedacht, daß er seinen Vater erst einmal davon überzeugen müßte, wirklich sein Sohn zu sein. Er hatte gedacht, daß Frederik ihm nicht glauben könnte. Wenn ich einen Anruf aus der Zukunft bekommen würde, so grübelte er, dann würde ich meinen Gesprächspartner für verrückt erklären. Und so? Wenn mir mein Vater das einfach so abnimmt? Dann ist das nichts anderes! Mein Vater ist wirklich verrückt. Noch bevor Frederik Bebel ein Wort aussprechen konnte, schrie sein Sohn in den Hörer, daß er sich hinlegen solle, Pillen einschmeissen müsse oder doch ganz einfach aus dem Fenster springen könnte. Er knallte den Hörer auf die Gabel. Oh ja, mein Vater war ein alter, verrückter Sack! Es war ein schwüler Sommertag, als Frederik Bebel sein Telefon völlig verstört anglotzte. Seitdem die TWK- Produktion begonnen hatte, hatte er nichts mehr von seinem Sohn gehört. Sein Psychiater hatte ihn in den letzten Monaten davon überzeugen können, daß nie jemand aus der Zukunft mit ihm telefoniert hatte; auch war Bebel von dem Gedanken abgekommen, daß er an einer Waffenproduktion beteiligt gewesen war. Trotz alledem hatte er nicht wieder damit angefangen, in einer Fabrik zu arbeiten, denn mit der Traum-Wirklichkeits-Kabine verdiente er soviel Geld, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nie hatte vorstellen können. Jede größere Stadt wollte mindestens vier TWK-Zentren aufmachen, und jedes dieser Zentren machte einen so enormen Umsatz, daß Kinos geschlossen und als altmodisch abgetan wurden. Und nun starrte Bebel das Telefon an. Mario hat sich zurückgemeldet! Aber es konnte ihn nicht geben. Er war nur eine Einbildung gewesen. Wie hatte sein Therapeut noch gesagt? „Herr Bebel“, hatte dieser immer wieder erklärt, „Sie bilden sich das nur ein, weil Sie mit ihrem Leben nicht zufrieden sind. Das sind Tagträume. Glauben Sie mir“ Und nun war Frederik Bebel verwirrt. Ihm war schwindelig, und er mußte sich setzen. Sein Psychiater hatte gelogen! Er konnte ihm nicht mehr vertrauen. Sie waren alle gegen ihn. Die ganze Welt hat sich gegen mich verschworen. Alle wollen, daß ich mich schlecht fühle. Und mein Sohn haßt mich auch. Er glaubt, daß ich verrückt bin. Ich bin nicht verrückt. Das weiß ich. Ich hasse diese gottverdammte Welt! Tränen liefen Frederik Bebel über die Wangen, und er fühlte sich hundeelend. Der Psychiater hätte das höchstwahrscheinlich als Rückfall bezeichnet. Es war ein sonniger Nachmittag, an dem Frederik Bebel im Bett lag und an die Decke starrte. Mario haßt mich! Mein Sohn beleidigt mich nur noch. Aber ich habe doch nichts Falsches getan? Er ist - er ist gar nicht mehr so wie sonst. Er ist böse. Wenn er wieder anruft, werde ich fragen, was passiert ist. Und dann soll er mir erklären,
warum er mich haßt. O ja, er haßt mich. Die ganze Welt haßt mich. Und alle wollen mich kaputtmachen. Frederik Bebel lag schon sein mehreren Stunden im Bett, rollte sich hin und her und verstrickte sich immer weiter in Gedanken, die niemand mehr nachvollziehen konnte. Am Ende glaubte er sogar daran, daß er der einzige Mensch auf dieser Welt war und seine Mitmenschen in Wirklichkeit nur Maschinen sein konnten, die ihm sein Leben schwer machten. Und dann klingelte das Telefon. Bebel zuckte zusammen, preßte sich gegen die Wand und saß völlig verstört auf dem Bett. Das Telefon klingelte weiter, und Bebel glotzte es an, als wenn es ihn mit einer Pistole bedrohen würde. Trotzdem nahm Frederik Bebel den Hörer ab. „Wie bist du auf die Idee zur Traum-Wirklichkeits-Kabine gekommen?“, fiel Mario Bebel über seinen Vater her, „war das Zufall? Oder hat dir dein Arzt zuviele Tabletten verschrieben, und du hast die TWK als Vision gesehen? Los! Sag es. Ich will es wissen“ Frederik Bebel legte auf. Das konnte nicht sein Sohn sein! Mit Mario hatte er sich doch so gut unterhalten können. Er hatte mit ihm über alles gesprochen, was ihm wichtig war. Frauen! Sein Beruf. Über alles. Und er war verständnisvoll. Mario war ihm so ähnlich gewesen. Und nun? Er ist ein eingebildetes Ekelpaket! Er ist beleidigend. Er ist einfach schrecklich. Frederik Bebel konnte nicht begreifen, was passiert war: Es ging nicht in seinen Kopf, weshalb Mario plötzlich nicht mehr wußte, daß er mit seinem Vater wochenlang telefoniert hatte und er auf die Idee gekommen war, die Baupläne für die TWK durch die Zeit zu schicken. Es schien, als sei sein Sohn ein völlig anderer Mensch geworden. Wieder klingelte das Telefon, und wieder nahm Frederik Bebel den Hörer ab. „Leg nicht einfach auf“, schrie Mario, „ich will mit dir reden. Niemand legt einfach so auf, wenn ich etwas wissen will!“ „Du“, stammelte Frederik Bebel, „du bist so anders als früher“ Mario keifte weiter. „Früher? Früher? Ich habe doch noch nie mit dir gesprochen! Und wenn ich gewußt hätte, wie verrückt du bist, wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, mit dir zu reden“ „Aber die TWK?“ „Ja, ja, ja. Du hast sie erfunden. Toll. Schön“, höhnte Mario Bebel, „und deswegen soll ich dich lieben?“ „Aber wir haben sie doch beide - ich meine, du hast mir doch die Baupläne geschickt? “ „Jetzt reicht es aber! Was soll ich getan haben? Ich habe ja schon gemerkt, daß du
spinnst, aber das ist der größte Schwachsinn, den ich jemals in meinem Leben gehört habe“ „Du hast nicht?“ Frederik Bebel war am Boden zerstört. „Natürlich nicht. Und was habe ich sonst noch so getan, wovon ich nichts weiß? Habe ich die Welt vor kleinen grünen Marsmenschen gerettet?“ „Was ist denn los?“, stotterte Frederik Bebel, „ich verstehe das alles nicht“ „Tja. Scheint wohl ein Gefühl zu sein, daß du jeden Tag hast. Denn sonst würdest du wissen, dass man eine Wohnung durch die Tür verlässt und nicht durch ein Fenster. Verwirrter Psychopath!“ Das reicht jetzt! Irgendwann kann ich einfach nicht mehr. Irgendwann ist Schluß. Wenn das nicht mein Sohn wäre, hätte ich schon viel früher aufgelegt. Aber jetzt ist das Maß voll. Mehr deprimiert als wütend legte Frederik Bebel den Telefonhörer auf. Ich habe Schuld, stellte er traurig fest. Mario ist nur so schrecklich geworden, weil wir die Zukunft verändert haben. Er ist mit viel Geld groß geworden, weil ich die TWK gebaut und verkauft habe. Er ist jetzt ein geldgeiler und erfolgsorientierter Geschäftsmann. Er ist ein Sklaventreiber geworden! Anders kann ich mir das ganze nicht erklären. Frederik Bebel schrie auf. Er schrie noch einmal, diesmal lauter und verzweifelter. Sein Gesicht war rot angelaufen, und Tränen liefen ihm aus den Augen. Er schlug mit der Hand auf den Fußboden. Er schlug noch fester zu. Die Hand tat fürchterlich weh, doch das machte ihm nichts aus. Er schlug wieder auf den Boden ein. Schlug noch einmal. Und noch einmal. Und er schrie: „Vernichtungsmaschinen“, jaulte er, „und ich bin dafür verantwortlich!“ Noch ein Schlag mit der geröteten Hand. „Ich war es nicht! Ich wollte doch nur Autos bauen!“ Er schlug gegen die weiße Wand, und an den Stellen, auf die er eindrosch, verfärbte sich die Tapete dunkelrot. Seine Hand blutete, doch das machte ihm nichts aus. Er schlug noch fester zu. Sein Psychiater wird am nächsten Morgen viel mit ihm reden, damit er sich beruhigt. Er wird versuchen, ihm klarzumachen, daß es keinen Anrufer aus der Zukunft gibt und daß Bebel nur in einer Autofabrik gearbeitet hat und nicht an einer Waffenproduktion beteiligt war. Er wird ihm vernünftig erklären, daß es so etwas gar nicht geben kann. Und er wird scheitern, denn Bebel weiß, daß es das alles gibt! Es gibt einen Anrufer aus der Zukunft. Und es gibt eine geheime Waffenproduktion, die als Autofabrik getarnt ist!
Es war ein ruhiger Abend, als er die Kerze auf dem Eßtisch anzündete. Das flackernde Licht ließ das Zimmer gemütlicher erscheinen als es ohnehin schon war. Frederik Bebel hatte seine Freundin zum Essen eingeladen; fast den gesamten Nachmittag hatte er in der Küche verbracht, um das Drei-Gänge-Menü zuzubereiten. Es sollte ihr schönster Abend werden. Die Sektflasche knallte, als er sie öffnete, und Klara Schulze seufzte, weil sie ihren Freund noch nie so romantisch erlebt hatte. Sie saß da und wartete darauf, daß Frederik den Schweinebraten aus der Küche hereintrug. Der Fleischgeruch schoß ihr in die Nase und versetzte sie in eine entspannte Stimmung. Ein toller Mann! Er ist einfach hinreißend. „Hier ist es“, strahlte Frederik, als er sich auf den Stuhl gegenüber Klara gesetzt hatte, „ich hoffe, daß dir der Braten schmeckt“ „Die Tomatensuppe war ja auch gelungen. Ich weiß jetzt schon, wie gut die Hauptspeise sein wird“, lobte Klara seine Kochkünste. Frederik sah verschämt auf den Boden, und mehrere Tränen kullerten über seine linke Wange. Wir sehen uns auf der anderen Seite. Mit funkelnden Augen blickte sie ihn an. Sie freute sich. Sie war verliebt; ihr ganzes Gesicht wirkte verliebt. Er kann wirklich gut kochen! Und es ist der schönste Abend meines Lebens! So romantisch. Ich weiß, daß Frederik der Mann meines Lebens ist. Ich will ihn heiraten. Ich werde es ihm sagen. Später! Klara Schulze hatte ihm über die schwere Zeit hinweggeholfen, sie war immer bei ihm geblieben, als er die Panikattacken bekommen hatte. Er glaubte, daß er in einer Waffenfabrik gearbeitet hat. Er hat geglaubt, daß Menschen aus der Zukunft mit ihm telefonieren. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Und ich liebe ihn wirklich! „Möchtest du noch ein Glas Rotwein?“, fragte Frederik, und er hatte sich die Tränen so schnell und unauffällig wie möglich aus dem Gesicht gewischt - er wollte nicht, daß Klara etwas davon mitbekam. „Oh ja“, summte ihre Stimme, „einen Wein hätte ich jetzt wirklich gerne“ Sie hatte es nicht bemerkt! Zum Glück. In der Küche wurde Frederik heiß und kalt, ihm war schwindelig. Sollte er das wirklich tun? Er kam zu dem Entschluß, daß es keine andere Möglichkeit gab, er
konnte gar nicht anders. Ich liebe Klara, sinnierte er, aber ich hasse meinen Sohn. Jedenfalls hasse ich ihn so, wie er jetzt ist. Und wenn mein Sohn nicht geboren wird, dann kann er auch nicht mit mir telefonieren. Und dann wird er auch kein ekliger, arroganter Geschäftsmann. Ich kann wirklich nicht anders. Und Alternativen? Sicher ist sicher. Sieh es ein. Es geht nicht anders. Er griff in seine Hosentasche und holte ein Plastiktütchen mit weißem Pulver heraus. Er nahm eine Schere aus der Schublade, schnitt das Tütchen mit der Schere auf. Er goß den Wein in das eine, goß den Wein in das andere Glas. In dem einen Glas schäumte der Wein ein wenig, weil sich das Pulver auflöste und in der Flüssigkeit verteilte. Er ging zurück zum Eßtisch. Damit biege ich alles gerade. Jedenfalls hoffe ich das. Alles wird sich ändern. Auf der anderen Seite! Zitternd reichte er Klara das eine Weinglas und hielt das andere festumklammert in seiner rechten Hand. „Stimmt etwas nicht?“, fragte sie besorgt, „du siehst so blaß aus“ „Es ist nichts“, log Frederik und sah sie halb feierlich, halb traurig an. Wir sehen uns auf der anderen Seite, dachte er immer wieder, wir sehen uns auf der anderen Seite, Klara. „Ich möchte auf uns anstoßen“, erhellte seine Stimme den Raum, „ich denke, daß wir eine schöne Zeit zusammen hatten“ Jetzt nur nicht weinen. Nur nicht weinen. Nicht weinen. Es ist richtig, was du machst. Es geht gar nicht anders. Denk immer daran: Du haßt deinen Sohn! Du willst nicht, daß er leben wird. Die Weingläser berührten sich, und das klingende Geräusch konnte Frederik in Mark und Bein spüren, als wenn es tausend Mal so laut gewesen wäre. Es wird nie passieren. Nichts davon wird geschehen. Nichts davon. Es wird nie zu dieser Situation kommen. Alles wird sich ändern. Und dann trank sie den Wein in kleinen Schlücken. Es sei der beste Wein ihres Lebens, hatte sie gesagt. Und dann fragte sie, ob er sie heiraten wolle. Frederik Bebel konnte sich nicht länger zusammenreißen, und viele kleine Tränen liefen ihm über die Wangen. Das hätte er nie tun dürfen, doch jetzt war es zu spät. Ja, dachte er, jetzt war wirklich alles zu spät. Es ist ein milder Sommertag, und das Telefon klingelt. Frederik Bebel ist gerade
dabei, sich Nudeln zu kochen. Er hat sie vor kurzem in kochendes Wasser geworfen, und gleich würden sie fertig sein. Bebel hört das Telefon klingeln, und er rennt in den Flur, weil er einen Anruf seiner Freundin erwartet. Falsch verbunden, denkt er, noch bevor er den Hörer abgenommen hat, und er ist felsenfest davon überzeugt. „Hallo Vater“, meldet sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung. „laß mich kurz ausreden, bevor du auflegst. Ich spreche aus der Zukunft mit dir, und ich weiß, daß du mir nicht glauben wirst. Aber bitte glaub mir, daß ich dein Sohn bin“ Eine gute halbe Stunde später ißt Frederik Bebel eine Pizza, die er sich bei einem Bringdienst bestellt hat. Im Fernsehen sieht er sich langweilige Serien und Talkshows an und amüsiert sich bei Gesprächen über Beziehungsdramen und Brustvergrößerungen. Till Frommann