Höllenjäger Band 13
Fluchtpunkt Calabi-Yau von Des Romero
Madame Sutterän quittierte das unbemerkte Überschreiten d...
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Höllenjäger Band 13
Fluchtpunkt Calabi-Yau von Des Romero
Madame Sutterän quittierte das unbemerkte Überschreiten des Grenz übergangs zu den verbotenen Welten mit einem triumphierenden Lä cheln. In den letzten Monaten hatte man es ihr immer schwerer ge macht, sich frei zu bewegen. Die Jünger vom Weißblütendornbusch und ihre Helfershelfer, die Heilsstifter, versuchten unermüdlich, ihrer habhaft zu werden. Schließlich nannte man sie nicht umsonst eine ›Kundige‹. Und Menschen, die über das System Bescheid wussten, wurden ganz automatisch als gefährlich eingestuft. Sie hatte nicht aufhören können, nach der Wahrheit zu forschen, lebte im Untergrund der Metropole Pospor und führte ein Leben in Angst. In Angst vor einer Entdeckung, der sich daran anschließenden Deportation und dem, was danach folgte, was niemand exakt zu be schreiben wusste und was doch nur den Tod bedeuten konnte. Vieles auf ihrer Welt, auf Arkelad, war nicht so, wie es schien. Omnipotent und unantastbar thronte über allem der Sapukral. Er lenk te die Geschicke jedes Einzelnen auf Arkelad und den benachbarten Welten. Er war Herrscher über seinen ganz persönlichen Kosmos, in dem er unangefochten regierte. Selbst diese oberflächliche Tatsache war kaum jemandem bekannt. Rixxa Sutterän hatte selbst lange ge braucht, um herauszufinden, dass Gott Sapukral nicht so edel und un eigennützig handelte, wie die allgemeine Lehrmeinung es darstellte. Von der Masse wurde er verehrt und angebetet, von einigen wenigen kritisch hinterfragt. Denn wer Frieden und Liebe predigte, brauchte doch wohl keine militanten Schergen, um sein Wort durchzusetzen...? Wieder zeigte sich auf dem Gesicht der Frau ein Lächeln, diesmal allerdings ein wissendes. Ja, es lief so vieles falsch im Leben der arglo sen Pahkahoota. Aufstehen, essen, arbeiten, Familie, schlafen. Dazwi schen die Beschäftigung mit dem Ein- und Auskommen, Steuern, Kre dite, Sapukralanbetung - eben das Übliche. Da blieb kein Platz für freie Gedanken. Und das war schließlich auch so gewollt. Hatte Madame Sutterän anfangs noch die Massen aufrütteln wol len, war sie auf zwei Hürden gestoßen, von denen die eine sogar eine völlig unerwartete darstellte: kein Mensch interessierte sich für ihre Aufklärungskampagne. Im günstigsten Fall wurde ihr noch Spott zuteil, oftmals aber auch blanke Ablehnung und massive Beschimpfungen. Als 4
hätte das noch nicht ausgereicht, waren die Jünger vom Weißblüten dornbusch auf sie aufmerksam geworden. Von da an wurde ihr Unter fangen zu einem unkalkulierbaren Risiko. Doch sie war bereits zu weit gegangen, um jetzt noch einen Rückzieher machen zu können. Sie ging nicht mehr an die Öffentlichkeit, sondern agierte vom Untergrund aus. Das war damals eine herbe Umstellung gewesen, ihr Haus zu rückzulassen und ihr Hab und Gut in die Bereiche unterhalb von Pospor zu verlagern. Leider war ihr keine andere Möglichkeit geblie ben, nachdem sie unter Dauerobservation der ›Jünger‹ gestanden hatte. Irgendwann, so hatte Rixxa vorausgesehen, hätten die Heilsstif ter vor der Tür gestanden und sie mitgenommen. Dann wäre es zu spät gewesen! Zu spät zum Handeln, zu spät zum Bereuen und zu spät für alles, was sie noch zu tun beabsichtigt hatte. Und davon gab es noch eine Menge. Ganz fest hatte Madame Sutterän sich vorgenommen, die Ma chenschaften des Sapukral aufzudecken, ihn womöglich bloßzustellen und damit seiner Macht zu berauben. Sie war sich durchaus bewusst, es mit einer - wie der Volksmund sich ausdrückte - Gottheit aufzu nehmen. Seine Stärke und sein Einfluss lagen fern jeder Vorstellung. Gerade deswegen musste die Frau taktisch besonnen vorgehen, Ein geweihte um sich scharen und das Regime des Sapukral von innen aushöhlen. Dazu benötigte sie Informationen über sein Wirken. Diese erhoffte sie sich bei ihren Reisen über die Dchettos, die Brücken in die verbotenen Welten, beschaffen zu können. Nur wer seinen Feind kennt, kann ihn besiegen. Leichter Wind kam auf, als Rixxa Sutterän die kreisenden Nebel durchschritten hatte und sich mitten in einem wabernden Nichts be fand. Der Wind wurde zunehmend stärker und zerrte nun schon an ihrer Kleidung. Laufend wechselte er die Richtung, sodass die Kundige niemals für längere Zeit geradeaus schauen konnte, ohne zu blinzeln und sich eingehend zu orientieren. So schloss sie die Augen und mar schierte stur voran. Ähnliche Szenarien hatte sie bei vergangenen Rei sen immer wieder erlebt, auch wenn es geringfügige Unterschiede gegeben hatte. Weiße Nebelbänke überlagerten einander, schoben 5
sich in- und übereinander, quollen in alle Richtungen und blieben doch unberührt von den heftigen Windböen. Bald wird sich die Umgebung verändern, wusste Rixxa aus Erfah rung, öffnete kurz die Lider und dachte unbehaglich an ihr erstes ver gleichbares Erlebnis zurück, das ihr einen regelrechten Schock versetzt und sie daran hatte zweifeln lassen, jemals nach Arkelad heimkehren zu können. Noch jedoch tat sich nichts. Die Nebelschwaden stoben hin und her und der Wind schnitt in ihre Augen und ließ sie tränen. Ein Zustand unbewussten Dahindämmerns, philosophierte sie.
Meine Augen sehen Dinge, die mein Verstand nicht begreifen kann. Er ist nicht Teil dessen, was sich mir zeigt und doch ist er genau an die ser Stelle existent. Es findet eine Art Annäherung statt. Das Fremde findet zueinander und wird bekannt. Das war es, was die Kundige im mer hatte ausdrücken wollen und einen Schwall umständlicher Formu lierungen parat gehalten hatte. Dabei war es so einfach. Sie lernten sich kennen - sie, Rixxa Sutterän und diese neue unbekannte Welt. Sie glichen sich an, damit das Fremde wich und sie sich gegenseitig ver ständigen konnten. Die verschiedenen Realitäten wurden eins, die neu erschaffene Wirklichkeit zum Substrat aller Gemeinsamkeiten. Gemächlich verklang der Nachhall der Ewigkeiten in ihrem trans zendenten Gehör. Gerne wäre sie ihm gefolgt, da sie eine eigentümli che Sehnsucht nach der Unendlichkeit verspürte. Doch schnell, viel zu schnell, um dieses erhabene Gefühl genießen zu können - ja, mehr noch, es in sich aufzusaugen und für immer festzuhalten - klang es ab und wurde ersetzt durch aufbrechende Schleier dicker, wattiger und feuchtkalter Luft, die weder dem lustvollen Fernweh noch dem Echo der Unermesslichkeit dieser großartigen Momente an emotionsgela dener Intensität gleichkamen; sie hinterließen nur frostigen Schauder. Jedes Mal ist ein bisschen anders. In der Feststellung lag keine Wertung. Wie hätte sie auch diesen Zustand zwischen Sein und Nichtsein als gut oder schlecht beurteilen können? Viel zu sehr war sie immer mit der Verarbeitung des Erlebten beschäftigt gewesen, viel zu klein war ihr Verstand, als der Größe des Augenblicks eine profane Benotung zuteilen zu können. Nicht mehr als ein Staubkorn war sie im 6
Vergleich zur Schöpfung und die Wunder, die sie erleben durfte, stell ten weit mehr dar, als ein Lebewesen ihrer Existenzstufe jemals Zeuge zu werden hoffen durfte. Die Majestät sekundenlanger Erhabenheit beugte sich vor den nüchternen Tatsachen. Der Wind blies weiter, auch wenn anstelle der weißen Schwaden nun ein spartanisches Farbenspiel den Eintritt in die andersartige Welt signalisierte. Braun- und Orangetöne mischten sich an einem tristen Himmel miteinander und schufen dunkle Spuren auf hellem Grund, die wie zerfahrene Pinselstriche wirkten. Anscheinend ließen sich die Böen einzig an der Oberfläche aus, denn am Himmel herrschte keine Hektik und die Wolken trieben schwer von Regen dahin. »Mir ist kalt«, sagte sie leise zu sich selbst, weil ihr eine vertraute Stimme fehlte. Madame Sutterän zog den schmalen Aufschlag ihrer Überjacke zusammen und suchte den Schutz eines felsigen Vorsprungs aus. Erst beim Näher kommen sah sie es bernsteinfarben glitzern, hockte sich hin und betrachtete den harzigen Überzug des Gesteins. »Niiiiicht anfassssn!« Rixxa erschrak. Lang gezogen und dumpf kämpften sich die Worte durch die stürmischen Böen. Wer hatte das gesagt? Wer beobachtete sie da, ohne dass sie et was bemerkt hatte? Unwillkürlich tat sie einen Schritt zur Seite, weg von dem zähflüs sigen Glanz. Trotzdem ließ sie die faszinierenden Rinnsale nicht aus den Augen, studierte ihre Länge und Form, wie sie auf dem schroffen Felsuntergrund mäanderten und an einer doppelt handbreiten Klippe in dicken Tropfen erstarrt waren, die den Boden nicht mehr erreichten. »Niiiicht anfassssn!« Die Kundige riss sich von dem Anblick los. Ihre Augen spähten umher, während eine Hand diese gegen den Wind und die spitzen kal ten Tropfen, die er nun mit sich führte, abschirmte. Die Schlagzahl der Tropfen erhöhte sich spürbar. Keine Minute später befand sich Rixxa Sutterän im schönsten Regenguss. Unbehaglich drückte sie sich gegen den Felsen, von dem sie gera de noch Abstand gesucht hatte. Ihr Verlangen, einen leidlich geeigne 7
ten Unterschlupf zu finden, überwog die Unsicherheit einer etwaigen Gefahr gegenüber, die sich bisher lediglich in diesen beiden mahnen den Worten widergespiegelt hatte. Der oder die Sprecher hatten sich immer noch nicht gezeigt. In der Frau keimte der Verdacht, dass sie vielleicht nur weggelockt werden sollte, um in eine andere Falle zu tappen. Auf einer solchen Welt gab es nur Jäger und Gejagte, Fressen und Gefressenwerden. Wenn da wirklich Beutejäger auf sie aufmerk sam geworden waren...
Ich bin vollkommen unbewaffnet. Kann mich nicht verteidigen.
Es hörte sich nach einer Schelte an, war aber gleichzeitig auch Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. Einerseits stellte es kaum ein Problem dar, zurück nach Arkelad zu gehen. Der Durchgang war wenige Schritte entfernt. Andererseits trieb sie ihr Forscherdrang dazu auszuharren, egal, welche Schrecknisse noch vor ihr lagen. Ob sie nun von den Heilsstiftern aufgegriffen wurde und in irgendeinem Konzentrationsla ger ihr Leben aushauchte, oder ob sie hier in dieser ungastlichen Um gebung starb, auf der Suche nach bisher unentdeckten Spuren, die zum Sapukral führten - die Entscheidung für die zweite Möglichkeit fiel ihr leicht. Und es war genau diese Entscheidung, die sie Front machen ließ gegen Sturm, Regen und Kälte und sogar gegen mordlüsternes Ungeziefer, sofern es sich bei den Wesen, die irgendwo in der Nähe waren, um solches handelte. »Niiiicht siiitzn! Wglauuuufn!« Das wurde ihr jetzt aber doch komisch. Und als sie die tastende Bewegung an der Schulter spürte, fuhr ihr eisiger Schrecken direkt bis in die Knochen. Madame Sutterän drehte ihren Kopf so weit herum, dass ihre Kinnspitze das Schlüsselbein berührte. Mit großen Augen und unfähig zu einer spontanen Reaktion sah sie die glitzernden Fäden, die sich vom Stein gelöst hatten. Einige hatten sich zitternd aufgerichtet, wäh rend viele andere bereits über ihre Kleidung krochen. Äußerst behutsam versuchte Rixxa, etwas Abstand zwischen sich und den Felsblock zu bringen. Was anfangs Erfolg versprechend aus sah, entpuppte sich rasch als trügerisch. Ein kleiner Ruck zu viel und die stehenden Fäden schnappten förmlich nach der Frau, hefteten sich 8
wie mit Widerhaken an den Stoff ihrer Jacke und wurden wieder starr, so, wie die Kundige sie zu Beginn vorgefunden hatte: harzig, hart und unbeweglich. Dadurch wurde plötzlich ihre Bewegungsfähigkeit dras tisch eingeschränkt. Bleich erkannte sie, dass die nicht einmal fingerdi cken Fäden sich nicht zerbrechen ließen. Sie waren leicht biegsam und an der Schwelle zu einer Flexibilität, die ihnen exakt jenes Maß an Dehnung erlaubte, um sie nicht bei Gewalteinwirkung zerspringen zu lassen. Sie würde sie ewig hin und her biegen können, bevor auch nur der Hauch einer Bruchkante entstand. Und Rixxa Sutterän hatte das eindringliche Gefühl, dass ihr diese Zeit nicht zur Verfügung stand. Wo waren sie jetzt, diese unsichtbaren Warner? Der Wind wurde stürmischer. Seine brüsken Berührungen in Ver bindung mit dem Regen wurden zu Peitschenschlägen in ihrem Ge sicht. Selbst im relativen Schutz des Felsenvorsprungs würde sie bald nass bis auf die Haut sein. Das Atmen wurde schwieriger und die Kälte setzte ihr mehr und mehr zu. Dann waren da noch diese unheimlichen Rufer, die goldbraunen Spinnfäden, die höchstwahrscheinlich nicht die eigentliche Bedrohung darstellten, sondern nur Wegbereiter einer gänzlich neuen Gefahr waren. Der rettende Weg in ihre eigene Dimension war nur einen Gedan ken und ein paar Schritte entfernt - und doch unerreichbar weit! Hektisch zerrte Madame Sutterän an ihren widerborstigen Fesseln. Mehrere feine Stiche verrieten ihr, dass noch weitere Fäden sie ange sprungen hatten. Je stärker ihr Widerstand wurde, desto mehr dieser klebrigen Stränge fraßen sich an ihr fest. Dann hörte sie das Geräusch. Eigenartigerweise war es deutlich durch Regen und Sturm zu hörbar. Das lag allerdings nicht daran, dass es sonderlich laut war. Es lag daran, dass es anders war. Es gehörte nicht in diese Geräuschkulisse, die aus Plätschern, Rauschen und Pfei fen bestand. Rixxa hielt den Atem an. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, hät te sie auch noch ihren Herzschlag angehalten. Sie verdrängte die Hin tergrundmelodie des Windes und des Regens und konzentrierte sich einzig auf dieses neue, ungewöhnliche und beängstigende Geräusch. 9
Stampfen und Schleifen! Das charakterisierte am ehesten ihre Sinneswahrnehmung.
Wie ein gewaltiger Raupenkörper, der sich zusammenzieht und dann fallen lässt, malte sie sich aus und ihr Blut wollte gefrieren. Wo hin war sie nur geraten, dass ihre ersten zaghaften Schritte sie bereits in Lebensgefahr gebracht hatten? Diese Welt war so vollkommen un terschiedlich zu denen, die sie in der Vergangenheit besucht hatte. Fast schien es, als wäre ganz bewusst ein extrem lebensfeindlicher Raum geschaffen worden, um mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die Pahkahoota sich im ureigensten Interesse nur auf Arkelad aufzu halten hatten. Und nur für den Fall, dass sich trotzdem eine Seele hier hin verirrte, sollte sie eine bitterböse Erfahrung mit nach Hause brin gen. Vorausgesetzt, sie überlebte diesen unerlaubten Ausflug. Stampfen. Schleifen. Stampfen. Schleifen. Stampfen... Monoton und mit der Gleichförmigkeit einer Maschine wiederhol ten sich die Geräusche. Es kommt näher, konstatierte Rixxa gleichmütig. Es kommt auf
mich zu...
Ihre Gelassenheit legte sich einen schweren Atemzug darauf und der anschwellende Sturm wollte ihr sogar dieses bisschen Luft noch aus den Lungen reißen. Wieder riss und zerrte die Kundige verzweifelt an den Schnüren und erreichte doch nur, dass sich ein halbes Dutzend zusätzlich an sie klammerte. Ihre Augen wanderten zum Himmel, der durch die Regenschleier ein diffuses Grau angenommen hatte. Als Madame Sutterän ihren Blick erneut nach unten lenkte, da sah sie diesen Schemen, hinter dem sich ein Berg von Körper versteckte! Jetzt sitze ich aber wirklich in der Patsche!, dachte sie zynisch, um ihre Angst zu bewältigen, die gleich einem düster orakelnden Schreck gespenst ihr Bewusstsein erfüllte. Ich könnte zum Dimensionsüber
gang spucken, aber diese verdammten Gummidrähte lassen mich nicht los! Der schattenhafte Berg verlor nichts von seiner drohenden Prä senz, auch wenn der Regen nachließ, die Sicht nicht mehr dramatisch einschränkte und auch der Wind abebbte und eine gewisse Wärme 10
aufkommen wollte. Das lag allerdings nur daran, dass Rixxa vorher im Zug der eisigen Regentropfen erbärmlich gefroren hatte; warm im eigentlichen Sinne eines merkbaren Temperaturanstiegs war es nicht geworden. Stampfen. Schleifen. Stampfen. Schleifen. Stampfen... Näher. Lauter. Immens viel lauter, da das Heulen des Sturms auf ein Minimum reduziert war. Der Himmel war auch nicht mehr Grau in Grau; er zeig te sich in den gewohnten Brauntönen, die Madame Sutterän zu Beginn empfangen hatten. Eventuell eine Spur dunkler, doch wesentlich freundlicher, als noch eine Minute zuvor. Freundlicher... Ein paar Herzschläge lang dachte sie über das Wort nach und ob es in dieser Welt überhaupt etwas gab, auf das diese Beschreibung zutraf. War es das hämische Antlitz des Todes, das Rixxa Sutterän dazu trieb, sich in Banalitäten zu ergehen, die weitab ihrer prekären Situati on dümpelten? Hatte sie sich bereits mit ihrem - möglichen - Ende abgefunden und lenkte den letzten Rest ihrer verbliebenen und daher unglaublich kostbaren Aufmerksamkeit davon fort, um ihm die Intensi tät zu nehmen und den Wechsel vom Leben zum Tod lediglich als flüchtiges Verlöschen wahrzunehmen und nicht in zersetzender Furcht und grausamem Schmerz? Das Wesen, das in schrecklichem Auf und Ab auf sie zukam, war kein Berg - es war ein Gebirge! Unterbrach es seine kontrahierenden Bewegungen nicht - dieses grauenerregende Zusammenkrümmen, gefolgt von einem plumpen Strecken, das in diesem fürchterlichen Stampfen endete - es würde Madame Sutterän unter sich begraben, zu Fleischfetzen zerreiben und es womöglich nicht einmal bemerken.
Bittebittebitte! Es muss etwas geschehen! Die Frau warf sich rückwärts gegen den Fels und sprang in einer Bewegung wieder vor. Wenn sie die Elastizität der Stränge damit auf die Probe hatte stellen wollen, so blieb es bei diesem Versuch. Die Schnüre hielten. 11
Da sah sie den Kopf des Ungetüms! Eine entsetzliche Kugel, die geradewegs in den massigen, aus schwammigen Wülsten bestehenden Körper überging und rundherum mit dunklen Auswüchsen besetzt war, die wohl die Sehorgane bildeten. Der dumpfe Stich in ihrem Hin terkopf, der sich in der Magengegend wiederholte, wies sie daraufhin, dass sie ihr Instinkt nicht getrogen hatte. Dieses Ungetüm war tat sächlich ein raupenähnliches Insekt, überragte dabei die Pahkahoota um mindestens das Sechsfache und war nur noch etwa zwei seiner typischen Bewegungsintervalle entfernt. Japuuragen?, dachte sie fassungslos. Hier? Rixxa Sutterän schlug das Rad! Sie schwang sich auf die Hände, die Beine nach oben und kreiselte zur Seite, wo sie jedoch nicht auf den Füßen zu stehen kam, sondern brutal zu Boden gerissen wurde, als die Fesselfäden ihrer Bewegung nicht mehr zu folgen vermochten, weil ihre Dehnungsgrenze erreicht war. Auch das hatte nicht funktioniert. Wieder hatte die Kundige ange nommen, mit Gewalt die Fäden brechen zu können und wieder hatte sie die Erfahrung machen müssen, dass ihnen auf diese Art nicht bei zukommen war. Der raupenartige Fleischberg setzte zur letzten Krümmung an, be vor er Rixxa zerschmettern würde. Mittlerweile war es offensichtlich, dass er nicht gekommen war, um sie zu fressen. Die Frau befand sich nur eben rein zufällig auf seinem Weg. Und das harzige Gespinst auf dem Stein hielt lediglich seine Beute fest, bis diese verendet war, um sie anschließend widerstandslos verdauen zu können. »Ooobaaacht!«, zischte es schrill an ihrem Kopf vorbei und in der selben Sekunde schnappten die Bernsteinstränge von ihrem Körper zurück, sodass die Kundige haltlos vornüber flog, sich aus eigenem Antrieb mehrfach zur Seite rollte und um Haaresbreite dem nieder schmetternden Raupenleib entging. Die Erschütterung des Bodens ließ sie ohne eigenes Zutun zwei kleine Hopser machen. Durchnässte Erde spritzte ihr ins Gesicht. Sie wischte sie herunter und sah gerade noch zwei fliehende Gestalten durch die Körperkrüm mung der Raupe. Sie bewegten sich zwar schnell, doch ungewohnt holprig, als hätten sie schlimme körperliche Behinderungen. Die Form 12
ihrer Schädel sah - falls man sich dieses Urteil aus der Ferne über haupt erlauben konnte - irgendwie unfertig aus. So, als fehlte noch das ein oder andere Teil zu seiner Vervollständigung. Der Anblick samt den daraus folgenden Mutmaßungen setzte sich in Rixxa Sutterän fest. Sie trug sich immer noch mit den eigentümli chen Eindrücken, als sie längst die andere Seite des Dchettos erreicht hatte... * Es fiel mir immer schwerer, mich zu erinnern. Meine Hauptaufgabe nahm immer größeren Raum in meinen Gedanken ein und verdrängte alles andere. Ich musste den Sapukral finden, das hatten die Priester mir eingetrichtert. Er war die Lösung all dessen, was ich sonst noch ausfindig machen wollte und an das ich mich allmählich nicht mehr so genau erinnerte. Da war dieser Code, der irgendetwas mit mir zu tun hatte. Ich wusste sicher, vorher genauestens darüber Bescheid ge wusst zu haben und ganz weit hinten in meinem Kopf regte sich etwas wie Erkenntnis. Jedoch blieb es bei diesem schwachen, kaum sichtba ren Funken, der auch gleich wieder verlosch. Eine Mission auf der Erde - selbst dieser Begriff wurde zunehmend abstrakt - hatte mich ziemlich mitgenommen. Kaum auf Col'Shan... nun, der Zitadelle, angekommen, erhielt ich ohne Verzögerung und Zeit zur Regeneration mein nächstes Ziel: Calabi-Yau. Vielleicht war zu dem Zeitpunkt meine Aufnahmefähigkeit zu stark eingeschränkt gewesen, um auf Anhieb zu begreifen, wo die Priester mich hinschicken wollten. Ihre vorangegangene Aussage eines unmög lichen Ortes hatte ich nicht so ernst genommen. Dann war mir klar geworden, dass jede einzelne Silbe schon fast ein Dogma war. Calabi-Yau - benannt nach zwei Wissenschaftlern des ausgehen den zwanzigsten Jahrhunderts - beschrieb Dimensionsräume von un vorstellbarer Winzigkeit. In der theoretischen Physik waren sie Be standteil der Stringthese, die sich mit winzigsten Schwingungsstruktu ren beschäftigte. Das Vorstellungsvermögen weigerte sich geradezu, derartige Größenordnungen zu akzeptieren. Ich hatte die Informatio 13
nen kritiklos hingenommen und erst bei meiner Ankunft in diesem ult ramikroskopischen Kosmos aufgearbeitet. Verschiedene Vergleiche gingen mir durch den Kopf um zu beschreiben, mit welchen Größen ordnungen ich es hier zu tun hatte. Ein simples Atom maß im Durch messer den zehnmillionsten Teil eines Millimeters. Das war mir schon zu viel, doch ich hatte es akzeptiert. Dehnte man dieses Atom auf die Größe unserer Milchstraße aus - das waren einhunderttausend Licht jahre, die meiner Vorstellungskraft ebenso bizarr erschienen wie ein zehnmillionstel Millimeter - dann machte der Calabi-Yau-Raum, diese absolut fremdartige mikroskopische Dimension, die eingebettet war in die mir bekannte dritte Dimension, wiederum gerade einmal die Größe eines Atoms aus. Bis zu diesem Punkt hatte mein Verstand schon längst gestreikt. Die Frage, wie man mich dorthin schicken wollte, erübrigte sich beina he, wenn die Antwort genauso abstrus ausfiel wie der Rest. Die Pries ter hatten es mir trotzdem - oder gerade deswegen - gesagt. Diesmal handelte es sich nicht um eine Seelenimplantation, wie ich sie schon einmal über mich hatte ergehen lassen müssen. Man hatte mir gesagt, dass ich als eine Art Datenpaket transportiert würde, das ein holografi sches Selbstbildnis des richtigen Richard Jordan beinhaltete und auf die Calabi-Yau-Matrix geeicht war. Welche Technik sich dahinter verbarg, daran wagte ich kaum zu denken. Selbst in der Zeit vor der großen Wende im Jahr 2012 war alles, was sich mit Strings und unter geordneten Einheiten und Räumen beschäftigte, nichts weiter als blan ke Theorie gewesen. Sollte die Theorie heute - das war für mich sub jektiv das Jahr 2022, wobei auf der Erde, hätte man die alte Zeitrech nung beibehalten, das zweiundzwanzigste Jahrhundert geschrieben wurde - durch die Praxis bestätigt werden? Eine Reise in einen CalabiYau-Raum entsprach nach meinem Verständnis einem Flug zum ande ren Ende des Universums - und die Menschen hatten es nicht mal bis zum nächsten Stern geschafft! Was sollte ich weiter darüber nachgrübeln? Ich war da und hatte einen Auftrag. Das soeben Gedachte wurde bereits diffus, die Zusam menhänge lösten sich auf. Ich war... ich war... 14
Nachdenklich musterte ich die Schönheit der Natur und begann eine fröhliche Melodie zu pfeifen. Ich war Shant. Mein Weg führte mich in die Stadt, die als Silhouette weit voraus im morgendlichen Glanz der aufgehenden Sonne strahlte. Wo eine Stadt war, da gab es auch Menschen. Und wo man Menschen traf, dort fand man Informationen. Meine Stimmung hätte nicht besser sein können. Ich freute mich auf die Stadt und wanderte heiter zwischen Bäumen hindurch auf ei nem kleinen Pfad, der durch üppige Vegetation und sattes, gesundes Grün führte. An Sträuchern pflückte ich Beeren und aß sie genüsslich. Es gab Bäume mit herrlichen Früchten, die meinen Hunger und Durst stillten und mich mit einem angenehmen Sättigungsgefühl erfüllten. Wenn ich mich auch nicht erinnern konnte, woher ich kam, so emp fand ich es als Wohltat und persönliche Bereicherung, derart schöne Orte kennen zu lernen und immer Neues erleben zu dürfen. Irgendwann, die Sonne stand schon hoch, setzte ich mich unter einen Baum, dessen gewaltige Krone kühlen Schatten spendete. Ich döste vor mich hin und schlief bald ein. Als ich erwachte, war höchs tens eine Stunde vergangen, so schätzte ich anhand des Son nenstands. Was mir aber prompt ins Auge fiel, war dieses Gebäude. Es stand keinen Steinwurf entfernt und ich schwor beim Barte irgendeines Propheten, dass es vor meinem Nickerchen noch nicht da gewesen war. Neugierig und voller Tatendrang ging ich darauf zu. Das Haus machte einen friedlichen und gepflegten Eindruck. Ich schmunzelte darüber, es einfach übersehen zu haben. Denn nicht anders konnte es gewesen sein. Woher hätte es sonst so plötzlich auftauchen sollen? Auf dem Flachdach ragte eine spitze Antenne hoch in das umge bende Blattwerk der Bäume und darüber hinaus. Man hört Sapukralfunk, dachte ich bei mir. Vielleicht haben die
Bewohner auch Sapukralinformationen.
Keine abwegige Idee, fand ich. Allerdings machte ich mir wenig Gedanken darüber, auf der Suche nach dem Aufenthaltsort eines gött lichen Wesens zu sein, das lediglich seine Repräsentanten in dieser 15
Welt unterhielt. Gab es überhaupt einen Weg zum Sapukral oder wür de man mich an irgendeine Behörde verweisen, die seine Lehrsätze predigte? Nein, ich war absolut davon überzeugt, Gott Sapukral finden zu können. Ich hatte meinen Auftrag. Wer auch immer mich losgeschickt hatte, konnte mir doch kaum eine unmögliche Mission aufgetragen haben? Das war für mich schlichtweg undenkbar. »Hallo, ist jemand zu Hause?«, rief ich. An der Tür angekommen, klopfte ich. Ich klopfte mehrmals, weil ich keine Klingel fand, doch niemand öffnete. Beherzt ergriff ich den Türknauf und drehte ihn. Ein leises Klacken nur und ich konnte eintreten. Behagliche Helligkeit und eine geschmackvolle Einrichtung emp fingen mich im Innern. Mehrere Sitzgelegenheiten luden zum gemütli chen Verweilen ein. »Erschreckt bitte nicht«, machte ich wieder auf mich aufmerksam. »Eure Haustür war nicht verschlossen.« Nichts und niemand regte sich. Die Hausbewohner mochten un terwegs sein und erst später zurückkehren. Ich überlegte, ob ich war ten sollte, betrachtete dies jedoch als Zeitverschwendung. Unter Um ständen würde es Tage dauern, die Stadt hingegen konnte ich in we nigen Stunden erreichen. Ich ging ein wenig herum, strich mit den Fingerspitzen über eine Anrichte und nahm ein Porzellanfigürchen in die Hand, das einen Säugling auf einem Rosenbett zeigte. Sehr detailreich und wunder schön bemalt betrachtete ich die Figur versonnen und stellte sie wie der an ihren gewohnten Platz. Die Menschen, die hier lebten, hatten sich eine heimelige Oase geschaffen. An so einem Ort, dachte ich sehnsuchtsvoll, wollte auch ich einmal sesshaft werden... Melancholisch angehaucht drehte ich mich zur Tür - und stutzte. Verwirrt hetzte mein Blick von einer Ecke des großen Raums zur ande ren. Meine anfängliche Heiterkeit wich schlagartig der Bestürzung. Die Tür war verschwunden! 16
An der Stelle, an der ich das Haus betreten hatte, war nichts! Nur glatte Wand! Unter meinen Füßen begann es zu vibrieren, ziemlich heftig sogar. Ein Rucken erfasste die Mauern des Gebäudes. Immer weniger Licht drang durch die Scheiben herein, bis sie sich vollständig verdunkelt hatten und nur die Wände noch einen blassen Schein abstrahlten. Das Mobiliar flirrte wie unter großer Hitze. Die Formen zerliefen und von der Decke tropfte vereinzelt flüssiges Wachs. Es traf mich wie ein Hammerschlag! Ich wusste plötzlich, wo ich mich befand! Ich wusste aber auch, dass ich gerade den Anfang von meinem Ende erlebte! * Ibanissad-Vrita I rang mehrere Tage mit dem Tode. Doch eigentlich war es weder ein Kampf noch ein Sterben. Es war eine Geburt. Tief im Innern war er glücklich, als er seine Gliedmaßen betrachte te, die von entsetzlichen Entzündungen übersät waren. Dies war ein deutliches Zeichen für das Fieberprodukt, das er aus dem Wundschlaf generierte. Sein Fleisch sonderte Substanzen ab, aus denen sich bei entsprechender Hege und Pflege sein Nachfolger als höchstinnigste Unterwürfigkeit bilden sollte. So war es vom Sapukral vorgesehen, dem er und seine Vorgänger sowie sein noch ungeborener Nachfolger mit jeder Faser ihrer Existenz dienten. Das Innerste kehrte sich nach außen. Aus dem Tod spross das Le ben. Vergehen und Werden, Werden und Vergehen - all dies war ein wundervoll harmonischer Kreislauf, der dem Wirken des Sapukral Re spekt zollte und ihn verherrlichte. Ibanissad-Vritas Körper hatte seine ursprüngliche Gestalt einge büßt und wirkte wie eine grüngelbe Gallertmasse, die von einer milchi gen Kunsthaut, die nicht seine eigene sein konnte, zusammengehalten wurde. Dunkle Flüssigkeiten schossen durch Adern, die sich ver ästelten und dadurch den Strom ins Stocken brachten. An vielen Stel 17
len stauten sich die Flüssigkeiten, erzeugten einen hohen Innendruck und brachen durch offene Geschwüre an die Oberfläche. Das Fieber stieg an und wurde durch die langen Stunden des Wundschlafs gefördert. Die erhöhte Körpertemperatur leitete einen Gärungsprozess ein, der die Qualität des eitrigen Produkts bestimmte. Auf dem austretenden weißgelblichen Saft bildete sich bereits ein fei nes Häutchen. Ein regelrechtes Gespinst entstand auf und um Ibanis sad-Vrita I herum, was er zufrieden zur Kenntnis nahm, so weit seine Sinne noch zur objektiven Wahrnehmung ausreichten. Erneut versank Seine höchstinnigste Unterwürfigkeit in traumlosen Schlaf. Er würde die letzte Phase der Zeugung und gleichzeitigen Ge burt von Ibanissad-Vrita II einleiten. Unbemerkt von dem unruhigen Schläfer zog sich das abgesonderte Gespinst zu einem einzigen großen Klumpen zusammen. Die Verästelungen verschmolzen miteinander und bildeten sich innerhalb des Klumpens neu aus, schufen Kapillare und Äderchen, in denen wiederum farbige Flüssigkeiten zirkulierten. Lange, sehr, sehr lange dauerte der letzte Wundschlaf. Und als Ibanissad-Vrita I fast völlig genesen, aber extrem hungrig, erwachte, da staunte ihn sein noch nicht vollständig ausgebildeter Nachfolger aus feuchten Augenkränzen an. Die Verständigung von Vater und Sohn, wenn man so wollte, fand nicht auf visueller oder akustisch nachvoll ziehbarer Ebene statt. Doch sie fand statt, auf einem Niveau, das inti mer und herzlicher war, als selbst physische Vereinigung jemals sein konnte. Monate gingen ins Land. Ibanissad-Vrita I war von der Entwick lung von Ibanissad-Vrita II äußerst angetan. In kürzester Zeit hatte sich der grobe Körper ausgeformt und der Verstand zu erster Größe aufgetan. Der Nachfolger war behutsam und intensiv an seine neuen Aufgaben herangeführt worden und konnte bald das Amt als oberster Untergebener des Sapukral übernehmen. Darauf war Ibanissad-Vrita I jeden Augenblick seiner Existenz vor bereitet. Und doch traf der biosensorische Impuls, mit dem der Spröss ling seinen Eiter tötete, diesen gänzlich überraschend. Der Impuls bewirkte rasenden Zellzerfall und Ibanissad-Vrita II sah gebannt zu, wie der Leib seines Erzeugers verfiel, einschrumpfte 18
und vertrocknete. Die pulvertrockenen Überreste hielten nicht einmal mehr dem atmosphärischen Druck stand und lösten sich in Staub auf. Zurück blieb einzig der elektronische Kasten, der als Körperspange mit diesem verwachsen gewesen war. Jede der hochinnigsten Unterwürfigkeiten, die dem Sapukral bis her gedient hatten, kannte ein solches Erlebnis aus eigener Erfahrung, da der Prozess sich von Generation zu Generation wiederholte. Beson ders eifrigen Untergebenen erteilte der Sapukral das Privileg zur Na mensgebung, sodass im Laufe der Jahrtausende bestimmte Geschlech ter beziehungsweise Dienerfamilien entstanden waren, die in der Be völkerung unterschiedliche Grade der Wertschätzung und Belobigung erreichten. Da es jedoch niemals vorkam, dass sich Seine hochinnigste Unterwürfigkeit in der Öffentlichkeit zeigte und das Herz desselben nicht mit Ehrbegriffen wie Stolz, sondern einzig dem Sinnen nach Wohlgefälligkeit dem Sapukral gegenüber erfüllt war, machte eine Rangfolge wenig Sinn und war letztendlich nur gut für Streitgespräche der Pahkahoota untereinander. Nichts bedeutete es Ibanissad-Vrita II, die Zwistigkeiten der Be wohner von Pospor und der anderen Städte mit anhören zu müssen. Er merkte nur dann auf, wenn ihm Sapukrallästerung oder ketzerisch Kritisches zu Ohren kam. Jede Lautäußerung und jeden Gedanken der Lebewesen konnte er aufgreifen und annähernd, aber nicht allzu ge nau, lokalisieren. Trat ein bedenklicher oder offenkundig blasphemischer Vorfall ein, erforderte es das Gebot der Stunde, unverzüglich zu handeln. Seine Exekutivorgane in der Welt der Pahkahoota waren die Jünger vom Weißblütendornbusch mit ihren Vollstreckern, den Heilsstiftern. Ibanissad-Vrita II streckte sich nach dem metallischen Kasten, dem Vermächtnis seines Gebärers. Er legte ihn um seine Leibesmitte und bemerkte unverzüglich die einsetzende Verschmelzung. Winzige Kabel verankerten sich an seinen Nerven und übernahmen die Steue rung verschiedener Neurotransmitter. Über einen Injizierungsmecha nismus und die darüber eingespritzte Droge konnte der Kontakt zum Sapukral hergestellt werden. Diese Möglichkeit der manipulativen Be wusstseinserweiterung zur Kommunikation stand beiden Seiten per 19
manent offen. Seine amtierende höchstinnigste Unterwürfigkeit wollte schon bald von dieser Methode Gebrauch machen. Vorerst jedoch gab es Dringlicheres zu erledigen. Als Ibanissad-Vrita II die frevlerischen Töne aus Pospor auf schnappte, gab er augenblicklich Alarm! *
Ich bin wie ein Einfaltspinsel in die Falle gelaufen! Denn genau darum handelte es sich bei diesem Gebäude mit all seinen Nettigkeiten: eine Falle! Aufgebaut von den Kraiyhs für solche Dummbeutel wie mich! Woher hatte ich auf einmal dieses Wissen? Warum kam die Erin nerung schlagartig in diesen Momenten und hatte mich zuvor schmäh lich im Stich gelassen? Keine Zeit zum Nachdenken. Die Welt um mich herum verflüssigte sich mit jedem weiteren Atemzug. Der Boden unter mir wurde weich und konnte mein Gewicht kaum noch halten. Unter das Vibrieren mischte sich ein hässliches Zischen und Schnalzen. Die Kraiyhs - jene Insektenart, die nahe der Städte unter der Erde lebte und menschliche Behausungen imitierte, was zum Teil auf einem gasähnlichen Nerven gift mit halluzinatorischer Wirkung beruhte - mussten just unter mir sein. Sollte ich abrutschen - und ich gab mich keinerlei Hoffnungen hin, daran noch etwas ändern zu können - schlitterte ich den melo nengroßen schwarzen Käfern unwillkürlich vor die Fresswerkzeuge. Die gesamte Einrichtung zerfloss, als stünde Bienenwachs auf ei ner heißen Herdplatte. Nichts, woran ich noch Halt finden konnte! Ich legte mich lang hin, während der Boden unter mir einbrach und der zähe Sud, in den sich das Häuschen verwandelte, in eine Trichteröffnung tröpfelte, von deren Grund Schaben, Klacken und Schnattern herauf klang. Das Klacken stammte von den Greifklauen der Kraiyhs, die restlichen Geräusche entstanden beim Aneinanderrei hen der Panzer und dem reflexartigen Öffnen und Schließen ihrer Mäu ler. 20
Meine Hände griffen in klebrigen, festen Schlamm, der von der Konsistenz an Teig erinnerte und überall dort, wo meine Finger sich hineinkrallten, auseinanderbrach. Ich strampelte mit den Füßen, bohr te mit den Schuhspitzen Löcher in die Masse und glitt doch immer wieder aufs Neue ab. Tiefe Furchen zogen meine verkrümmten Finger in den Untergrund. Das Einzige, was ich erreichte, war ein geringfügi ger Aufschub meines sicheren Todes. Hätte ich mich nicht gewehrt und meinen Untergang anstandslos akzeptiert, dann könnte es jetzt bereits vorbei sein. Schreckensbleich warf ich einen Blick über die Schulter, um zu se hen, wie nahe ich bereits dem Abgrund war. Dunkel und unergründlich zeigte er sich mir, mit unzähligen hellen Nadelstichen, die flackerten, verloschen und immer wieder neu aufglühten und die nichts anderes waren als die Augenpaare lauernder und hungriger Kraiyhs! In ohnmächtiger Angst verkrampfte sich mein Magen. Eiserner Wille und verborgene Kraftreserven ließen mich ein letztes Aufbäumen proben, verschafften mir kostbare Zentimeter entgegen der Treibsand strömung. Nur zu genau wusste ich, dass die Insekten mich nicht le bendig verspeisen würden. Sie wagten sich erst an ihre Opfer heran, wenn diese tot waren. Und bisher waren wohl alle verstorben, die eine Kraiyh-Falle von innen gesehen hatten, denn von einem Überlebenden war nie jemandem etwas zu Ohren gekommen. Die umfangreichen Kenntnisse über den Aufbau und die Wirkungsweise solcher Fallen hatte man anhand von Beobachtungen aus respektabler Entfernung sammeln können. Zuweilen hatte es Fanatiker gegeben, die für die Wissenschaft und zum Ruhme des Sapukral ihr Leben gelassen hatten. Diese Pahkahoota und deren Familien waren in den Status von Nati onalhelden erhoben worden. Für mich waren sie schlicht und ergrei fend sensationslüsterne Schwachköpfe, denen ihr eigenes Andenken wichtiger war als ihr Leben. Die Fachmedizin kannte für dieses Verhal ten sogar einen Namen: Paranoia. So erfrischend das Wissen um das geistige Elend der anderen auch war und so sehr mich meine sarkastischen Bemerkungen, die hin und wieder die Oberhand gewannen, unterhielten - sie würden mich nicht retten können! Das Gemeingefährliche an den Trichterfallen der 21
Kraiyhs waren die glatten Wände. Da bestand nicht der Hauch einer Chance, diese zu erklimmen. Mir stand ein elender Hungertod bevor. Bestenfalls würden die gierigen Käfer über mich herfallen, ehe der letzte Atem über meine Lippen gekrochen war. Dazu brauchte ich bloß mucksmäuschenstill dazuliegen und das Aas zu mimen... Der makabre Gedankengang verursachte ein Grollen in meinem Magen. Einmal noch sah ich voraus auf die tiefen Rillen, die ich gegra ben hatte, drehte mich im Rutschen auf die Seite und stierte in den gähnenden Schlund unter meinen Füßen. Mein Verstand weigerte sich hartnäckig, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Bange Herzschläge lang war ich unfähig zu einer wie auch immer gearteten Regung. Als mir gar nichts anderes mehr in den Sinn kommen wollte, schrie ich lang und anhaltend und stürzte in die Tiefe... * Die Entsetzensschreie kamen mit der üblichen Verzögerung, die das Gehirn brauchte, um die optischen Eindrücke weiterzuleiten. Aufge scheuchten Vögeln gleich spritzten die Massen auf dem Marktplatz in alle Richtungen, als die ersten Paralysesalven der Jünger vom Weiß blütendornbusch mitten in sie hineinmähten. Einigen blieb der Schrei förmlich im Halse stecken; die Muskellähmung wurde sofort wirksam und ließ die von der Schockwelle Getroffenen unverzüglich erstarrt umkippen. »Die sind doch wohl nicht hinter uns her!«, keuchte Gurg Tomba gequält und wandte sich, recht blass um die Nase, von den weiß Uni formierten ab, die das stilisierte Mal der Sapukralkirche über dem Her zen trugen. »Und wenn schon!«, rief Hilli Garilli von weiter rechts. »Du siehst, die Bande macht keine Unterschiede!« Eine Reihe Gläubiger, die sich zu einer Freiluftgebetsversammlung eingefunden hatte und an sich abseits des Trubels Lobpreisungen sang, fiel einfach in sich zusammen. Die Jünger fächerten großflächig mit ihren Waffen über den Platz, um absolut sicherzugehen wirklich alle zu treffen, für die sie in den Einsatz gezogen waren. 22
»Hier kommen wir im Leben nicht mehr raus!«, wimmerte Jenson Ohnegrim, der Dritte im Bunde, ängstlich. Tatsächlich sah es nicht gut aus. Der Marktplatz war zwar nach al len Seiten hin offen, doch endeten viele der Gassen an nicht öffentli chen, verschlossenen Gebäuden. Gezielt trieben die Jünger Hunderte Pahkahoota zum anderen Ende des Platzes, wo wie auf Kommando zahlreiche Einheiten der Heilsstifter auftauchten und an drei Stellen ihre mobilen Richtstrahlstationen aufbauten. »Scheißescheißescheiße! Jetzt sind wir dran!« Gurg Tomba ver krampfte sich und wurde langsamer. Er peilte nach einem möglichen Ausweg, stand dabei den nachdrängenden Männern und Frauen im Weg und wurde fast zwangsläufig mitgezogen. »Reiß dich zusammen und nimm die Beine in die Hand!«, war Hilli Garilli jetzt bei ihm und packte ihn am Kragen. »Halt den Kopf unten und sieh zu, dass du immer wen vor dir hast!« Ein Paralysierter krachte Jenson Ohnegrim in den Rücken. Dieser erhielt einen ordentlichen Stoß, während seine hochschnellende Furcht ihm Flügel verlieh, weil er glaubte, schon fast erwischt worden zu sein. Mit den Ellenbogen schaffte er sich Platz, brach unter erheblichem Krafteinsatz durch ein Knäuel Pahkahoota und schloss zu seinen Freunden auf. »Na endlich!«, sagte Hilli. »Wenn du's nicht selbst geschafft hät test, hätten wir dich zurücklassen müssen!« Jenson schluckte betroffen, rannte jedoch weiter. Vor ihnen entstand eine Breche. Wieder war ein halbes Dutzend Menschen getroffen umgefallen. »Nach links!«, schrie Hilli, riss Tomba mit sich und beobachtete auch schon, dass zwei Heilsstifter ihre kleine Gruppe ins Visier ge nommen hatten. Schon schwenkte die Richtstrahlstation zu ihnen her über. »Duck dich, verdammt!«, zischte Hilli Garilli an Ohnegrim ge wandt, der über die Menge hinwegzuschauen versuchte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Das Mädchen hielt sich an den Klei dungsstücken der neben ihr Laufenden fest, um immer eine seitliche Deckung zu haben. Wurden sie oder ihre beiden Freunde von dem 23
Richtstrahl erfasst, war es um sie geschehen, dann konnte ihnen kei ner mehr helfen und sie würden sich freiwillig und ohne weitere Ge walteinwirkung bei den Deportationszentren einfinden. Darauf war das semiorganische Implantat, das jeder Pahkahoota in sich trug, pro grammiert. »Die Trafostation!«, hellte sich Hillis Miene kurz auf. »Was...?« Gurg Tomba hatte sich aus ihrem Griff gelöst und rich tete im Rennen seinen Jackenkragen. »Blödian!«, schimpfte das Mädchen. »Bleibt einfach in meiner Nä he! Achtet auf nichts anderes als auf mich!« Die Trafostation war ein quadratischer Bau von zwei mal zwei Me tern Grundfläche und etwa doppelter Höhe. Auf einer Seite gab es eine Tür, die bei Arbeiten an den Energieleitungen unverschlossen war. Ein Schacht führte in ein unterirdisches Belüftungssystem und von dort aus zu jedem beliebigen Punkt von Pospor. »Kannst du die Tür sehen, Jenson?«, rief Hilli Garilli, die frontal auf den kleinen Bau zulief, während Ohnegrim zu ihrer Linken aus ei nem besseren Blickwinkel auch die Seitenwand erkennen konnte. »Keine Tür! Nein! Keine Tür!«, schrie er gegen den Lärm der Flüchtenden an. Dann auf die andere Seite!, folgerte das Mädchen rasch. »Richtungswechsel, Jungs!« Das war leichter gesagt als getan. Sie mussten sich quer zum Strom bewegen, darauf achten, ständig eine gute Deckung zu haben und im passenden Moment durch die - hoffentlich offene - Tür des Trafohäuschens springen, ohne von den Pahkahoota weiter mitgeris sen zu werden. Die Zeit wurde knapp, ebenso die flüchtenden Menschen. Die Jün ger hielten auf alles drauf. Ihre Selektierungsmöglichkeiten waren recht ungenau, Gesetzesbrecher nur ungefähr zu lokalisieren. Weiter rüber! Weiter rüber!, peitschten Hillis Gedanken sie vor. Sie sah nicht zurück und hoffte inständig, kein frei bewegliches Ziel ab zugeben. 24
Etwas riss sie an der Hüfte herum. Zuerst dachte sie an einen Schubs eines Vorbei rennenden, bis ihr dämmerte, dass sie getroffen war und im selben Sekundenbruchteil ihr rechtes Bein wegknickte. »Ich hab dich!«, packte Gurg Tomba sie unter den Armen, bevor sie haltlos aufs Pflaster klatschen konnte. In seinem Nacken spürte er Ohnegrims Atem. »Und da ist die Tür!« Hilli Garilli ließ sich von den geduckt laufenden Jungs mitschleifen und unterstützte sie so gut es ging mit dem linken, funktionstüchtigen Bein. »Das wird eng!«, ächzte Jenson Ohnegrim. Das hochfrequente Flirren der Schockergewehre hatte einen unangenehmen Klang in sei nen Ohren. »Bete, dass offen ist!« Tomba warf sich aus dem Lauf gegen die Tür, deren Magnetver schluss hell und laut klackte und aufsprang. Vor und neben dem Trio fielen die letzten Pahkahoota wie die Kegel um. Sofort schnappte die Tür wieder zu. Gurg, Jenson und Hilli richteten sich zu voller Größe auf und sahen in die erstaunten Gesichter zweier Techniker. »Kein Grund zur Sorge«, lächelte das Mädchen gezwungen und hopste auf ihrem einen Bein ein paar Mal auf der Stelle. »Wir sind gleich wieder verschwunden.« Nacheinander ließen sie sich in den Bodenschacht fallen und wur den von Gravitationsprojektoren sanft auf den Grund getragen. Als hoch über ihnen schließlich erneut das Aufschnappen des Magnet schlosses zu hören war, verbunden mit Kommandos und hektischen Stimmen, da waren sie bereits auf dem besten Weg, in den Lüftungs stollen auf Nimmerwiedersehen unterzutauchen. * Die Zeit stand still. 25
Wenigstens hatte ich diesen Eindruck, denn mein Fall dehnte sich endlos, obwohl er in Realzeit nur Bruchteile von Sekunden hätte dau ern dürfen. Ich schlug auf und das Krachen, das ich vernahm, war nicht das meiner Knochen, sondern das Brechen harter Chitinpanzer. Im Nu war ich wieder auf den Beinen, trat nach allem, was sich um mich herum bewegte, was zischte und klapperte, schnalzte und klackte. Ich trieb die ekligen Insekten auseinander, schuf mir einen kleinen Freiraum und wusste doch nur zu genau, dass die Käfer über mich herfallen würden, wenn meine Kräfte erlahmten. Angewidert wischte ich Hornreste und zermatschte Eingeweide von meiner Kleidung. Die Brocken warf ich den Viechern hinterher. »Fresst das und lasst mich in Frieden!« Frieden - nun, sie würden ihn mir nicht gönnen. Jetzt vielleicht, da der rudimentäre Ansatz von Verstand ihre Gier noch im Zaum hielt. Die Aasfresser konnten warten und warten. Ein vergleichbarer Luxus war mir nicht vergönnt. Jede Stunde, die verging, machte mich schwächer und mehr und mehr zu einer leichten Beute. Gegenwärtig hielten sie respektvollen Abstand, sodass ich mich umsehen konnte. Kaum ein Lichtstrahl fand seinen Weg in den Trichter und meine Augen mussten mit dem bisschen auskommen, was sich spärlich verteilte. Sah ich in die Höhe, erkannte ich den Rand des Lochs, durch das ich gestürzt war, dreifach mannshoch über mir. Ich war durch ein kurzes Schlauchgebilde gerutscht, das ebenfalls so hoch über mir endete, dass meine Fingerspitzen es gerade eben berühren konnten. An ein Hinaufsteigen war nicht im Traum zu denken. Eiskalte Schauer liefen mir über den Rücken. Das lag nicht nur an meinem Schicksal, das ich deutlich vor mir sah, sondern mit ebenso großem Anteil an den Geräuschen der Käfer, die mich aufwühlten und zermürbten. Die Frage war nicht, wie lange ich diese Belastungsprobe ertragen konnte - den Tod vor Augen und in einer Welt aus Furcht einflößenden Lauten gefangen, die mir das Wetzen von Fleischermes sern und Schlachterbeilen suggerierten. Die Frage musste lauten, was ich machen würde, wenn ich es nicht mehr aushielt? 26
Mir war nicht danach, die Antwort zu ergründen. Ich sprang in je de Himmelsrichtung jeweils einen forschen Schritt vor und presste ein lautes und anhaltendes »Ssscchhhhht!« heraus. Erneut wichen die Gliederfüßer klappernd zurück und ich sicherte mir mein kleines Ron dell, indem ich mich im Schneidersitz niederließ. Jeder, der mir zu na he kam, würde diese Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlen. Das nahm ich mir fest vor. Ich musste mir Respekt verschaffen, mich wehrhaft zeigen und dokumentieren, dass ich noch nicht zu haben war. Ob diese meine Botschaft die nussgroßen Gehirne erreichen wür de, blieb abzuwarten. An sich wollte ich nur für die nahe Zukunft ver sorgen, in der ich mich müde werden sah und irgendwann einschlafen würde. Mir sollte es nicht passieren, dass ich im weggetretenen Zu stand angefressen wurde. Das also war der Plan. Immer besser fand ich mich in der Dunkelheit zurecht. Meine Seh nerven konnten die sporadisch gestreute Helligkeit außerordentlich effektiv verarbeiten und erlaubten es mir, erstaunliche Details wahrzu nehmen. Ich hockte am Grund einer kugelförmigen Grube. In den ge rundeten Wänden waren in unregelmäßigen Abständen unter- und nebeneinander Löcher von gut und gerne einem halben Meter Durch messer. Darin wimmelte es von Leben. Die melonengroßen Käfer wan derten hin und her, sprangen aus den Löchern zu Boden, krabbelten vom Boden wieder hinein, ließen aus den hinteren Gängen Nach drängende vorbei, die neugierig näher kamen oder gleich wieder kehrtmachten. Eine verrückte Idee beschlich mich. Was wäre, wenn ich in eines der Löcher hineinkroch? Groß genug für einen Erwachsenen meiner Statur war es. Außerdem waren die Insekten nicht angriffslustig und würden mir sicher Platz machen. Auf der anderen Seite überlegte ich, dass ich bestimmt nicht der Erste war, der diese Überlegung durchge spielt hatte. Warum also war es bisher niemandem gelungen, dem unterirdischen Bau zu entfliehen...? Ich musste die Theorie in die Praxis umsetzen. Anders war es nicht möglich. Und ich hatte weiß Gott nichts zu verlieren, nur zu ge 27
winnen. Eine Lostüte mit lauter Hauptgewinnen wurde mir unter die Nase gehalten. Alles, was ich tun musste, war hineinzugreifen. Beherzt sprang ich vor, fischte mit beiden Händen einen der zap pelnden Kameraden aus dem erstbesten Loch und schob meinen O berkörper hinein. Dabei gab ich laute, hässliche Töne von mir und scheuchte die Bewohner des Röhrentunnels vor mir her. Tapfer unter drückte ich das klaustrophobische Gefühl, das in mir aufsteigen wollte, als ich die Enge registrierte und die Einschränkung meiner Fortbewe gungsmöglichkeiten. Hilflos und ausgeliefert fühlte ich mich und es war die pure Verzweiflung, die mich weiter kriechen ließ. Abnorme Vorstellungen von Killerkäfern, die auf das Verschlingen lebendiger Nahrung spezialisiert waren, frästen sich durch meine Gehirnwindun gen. Ich musste mich höllisch auf den Augenblick, das Hier und Jetzt, konzentrieren, um den Blick von einer grauenerregenden Zukunft ab zuwenden. Mein Atem ging stoßweise und viel zu unregelmäßig. Auch in die sem Fall gebot ich mir selbst, mich zu sammeln und meinen Atem zu kontrollieren. Hyperventilation führte leicht zu Panikattacken. In mei ner Lage konnte mich eine solche leicht den Kopf kosten, wenn sie etwa zum Herzstillstand führte. Mein Oberkörper lag auf den Unterarmen. Die Ellenbogen stützte ich immer wieder neu auf und zog mich Zentimeter für Zentimeter weiter vor. Bei jeder Bewegung spürte ich die räumliche Enge und richtete sogleich den Fokus meiner Überlegungen wieder auf mein eigentliches Ziel, nämlich die Flucht, achtete auf meine Atmung und spulte ohne Unterlass den Satz ›In der Gegensätzlichkeit liegt die Ein heit‹ herunter. Nur so kam ich voran. Nur so entrann ich dem Irrsinn. Der Tunnel machte einige üble Windungen, in denen ich sogar einmal stecken blieb. Meine alten Probleme wurden zu neuen Proble men. Rasend schnell pochte mein Herz. Auf den Handinnenflächen bildete sich sekundenschnell ein Schweißfilm.
Nicht durchdrehen, Shant! Bloß nicht durchdrehen! 28
Ich nahm die Rezitation des Satzes abermals auf. Wiederholung folgte auf Wiederholung, in der ich jegliches Bemühen, mich ruckartig aus meiner misslichen Lage zu befreien, einstellte. In der Ruhe liegt die Kraft, besänftigte ich schlussendlich mein re bellierendes Gemüt. Ein paar Minuten unternahm ich rein gar nichts. Vorsichtig trat ich den Rückzug an, kroch nicht weiter voraus, sondern glitt Stück für Stück rückwärts. Sogleich startete ich einen neuen Vor stoß, vermied jede offensichtliche Verkantung und musste trotzdem einen dritten Versuch unternehmen, um mich geschmeidig durch die ses Nadelöhr zu schlängeln. Offenbar hatte sich meine Anwesenheit in dem Stollensystem he rumgesprochen. Ich hörte zwar vereinzelt noch die käfertypischen Lautäußerungen, dieses durch Mark und Bein dringende Schaben, Knirschen und Klicken, doch kam mir keines der Insekten mehr unter die Augen. Wohin würde meine unkoordinierte Flucht führen? Ich schloss ab solut nicht aus, durch ein kilometerweit verzweigtes Röhrennetz zu robben. Ob es überhaupt einen Ausgang für mich gab, blieb zweifel haft. Die Insekten konnten natürlich Stellen erreichen, die für mich völlig unzugänglich waren. Sollte es hingegen doch einen für mich passierbaren und an die Oberfläche führenden Weg geben, wusste ich immer noch nicht, ob ich auch auf der richtigen Spur war. Ich konnte mich hoffnungslos verirren, ein Dutzend Mal an derselben Stelle vor beikommen und dabei vielleicht einen mickrigen Meter von der Freiheit entfernt sein. Wie sollte ich das wissen? Wie konnte ich mich orientieren, wo doch jeder Gang gleich aussah? Keinesfalls durfte ich jetzt wieder in alte Gewohnheiten verfallen und mir ein düsteres Schicksal ausmalen. Stoisch arbeitete ich mich vor, war wie eine Maschine, die nur dann zur Ruhe kommen würde, wenn jemand den entsprechenden Schalter umlegte. Ich kannte keine Müdigkeit, keine Erschöpfung und keine Ver zweiflung mehr. Ich hörte das Trippeln hornbewehrter Insektenbeine über, unter, links und rechts von mir - und es machte mir nichts aus. Auch meine Sorge, dass mir die Luft ausgehen könnte, hatte ich abge 29
legt und sorgsam auf den großen Stapel vergangener Probleme aufge schichtet. Nach einer schier endlosen Strecke, in der der Sauerstoff dünner, verbrauchter und sogar abgestanden schmeckte, schlugen diese Ein drücke ins exakte Gegenteil um. Meine gleichförmige Geschwindigkeit geriet aus dem Takt. Ich beschleunigte auf das Doppelte, wähnte mich nahe dem Ausstieg dieses Labyrinths, bog in einen toten Stollen ein und durchbrach ihn einfach in sieben oder acht Anläufen! Grell blendete mich das Sonnenlicht, als ich gierig die frische, wür zige Luft in meine Lungen sog, mich aus dem Durchbruch stemmte und rücklings fallen ließ. Geschafft!, hämmerte es synchron mit meinem Herzschlag zwi schen meinen Schläfen. Bald schon erhob ich mich, klopfte das feuchte Erdreich von mir ab und sah mich um. Auf Anhieb glaubte ich den Baum zu erkennen, unter dem ich eingenickt war. Er hatte einige un verwechselbare Äste, die eigenartige Figuren formten und stand ein gutes Stück von mir entfernt. Wenn ich diese Entfernung im Zickzack kurs unter der Erde wahrhaftig hinter mich gebracht hatte... Mir wurde schwindelig. Ebenfalls verwirrte mich der Stand der Sonne, denn nachdem ich unter dem Baum aufgewacht war, hatte sie den frühen Nachmittag eingeläutet. Nun befand sie sich weiter links und tiefer, als wäre sie vor kurzem erst aufgegangen... Himmel!, dachte ich bei mir. Ich bin einen kompletten Tag unter
der Erde gewesen.
Es dauerte ein wenig, bis ich die Erkenntnis verdaut hatte. »Ich sollte in Zukunft vorsichtiger sein«, fand ich rasch meinen Humor wieder und heftete meinen Blick auf die Skyline von Pospor. Als wäre nichts geschehen, wanderte ich der Stadt entgegen. * Versonnen drehte Gurg Tomba die kreisrunde Chipkarte zwischen den Fingern. »Wir müssen vorsichtiger sein«, sagte er. »Wir müssen viel, viel vorsichtiger sein.« 30
»Was soll das heißen?«, beschwerte sich Hilli Garilli. »Willst du kneifen?« Etwas versöhnlicher fügte sie hinzu: »Seit zwei Jahren ver suche ich eine Arbeit zu finden. Nichts zu machen. Nichts für mich zu kriegen. Da wird wohl ein wenig Sapukralkritik erlaubt sein.« »Ob mit oder ohne Kritik: Gebracht hat es uns noch nichts«, warf Jenson Ohnegrim missmutig ein. Sein Herzschlag hatte sich noch im mer kaum beruhigt seit der Hetzjagd über den Marktplatz. »Ich schlie ße mich da gerne an wenn jemand vorschlägt, die wöchentlichen Tref fen abzusagen. Jetzt sind wir noch mal mit einem blauen Auge davon gekommen.« In Pospor gab es eine ganze Reihe von gescheiterten Persönlich keiten, Menschen, denen das System nichts zu geben hatte, Men schen, die nicht hineinpassten und ewig außen vor standen. Men schen, die nichts waren und nichts wurden. Ohne Arbeit und schwer zu vermitteln. Ungläubig noch dazu. Oftmals trafen sich einige Grup pen zu offenen Gesprächen und zum Erfahrungsaustausch. In den Diskussionsrunden ging es mitunter recht aggressiv zur Sache und nicht selten wurde der Sapukral zum Thema gemacht. Viele dieser Gruppen gab es schon nicht mehr. An diesem Tag hätte es beinahe auch die Runde um Hilli und ihre Freunde erwischt. Das Forum hatte sich nach dem Hinweis eines Informanten aufgelöst und wäre dennoch fast von den Heilsstiftern erwischt worden. Möglich auch, dass Hilli, Gurg und Jenson als einzige mit heiler Haut entkommen waren. »Ich bin einfach noch zu jung, um schon mit dem Leben abzu schließen«, ließ Hilli Garilli nicht locker und sah Jenson ernst an. »Kann es denn sein, dass ich bereits mit siebzehn keine Zukunft mehr ha be...?« »Uns geht's doch auch nicht besser«, argumentierte Gurg lapidar. »Aber siehst du uns laufend meckern? Nein!« »Dann bleibt doch demnächst beide zu Hause!«, schimpfte das Mädchen und wischte sich eine bunte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ihr seid ja bereits so angepasst, dass einem übel wird.« Jenson Ohnegrim wirkte sichtlich betroffen. »Meinst du das wirklich, Hilli?«, fragte er kleinlaut. 31
Sie blickte ihm in die Augen und konnte nicht umhin, dass er ihr Leid tat. Kameradschaftlich legte sie einen Arm um seine Schultern und drückte ihm einen trockenen Kuss auf die Wange. »Quatsch, war nur so dahergesagt«, grinste sie keck. »Gehn wir jetzt zum Einlass, sonst fängt die Band noch ohne uns an.« Hilli und Jenson setzten sich in Marsch. »Kommst du, Gurg?« »Moment, wartet mal...« Er steckte seinen Chip in die Hemdta sche. »Was ist denn?«, rief Hilli. »Die Kassenschlange bewegt sich. Jetzt geh uns bloß nicht verloren.« »Da, der Typ«, deutete Gurg Tomba in die Menge hinter ihm. »Der haut jeden wegen dem Sapukral an. Der tickt wohl nicht richtig.« »Lass doch! Komm her!« Gurg Tomba trat aus dem Pulk der Wartenden und ging hinter dem Kerl her, der gerade auf der anderen Seite der Endlosreihe von Anstehenden vorbeiging und munter Fragen nach dem Sapukral und seinem Aufenthaltsort stellte. Meistenteils erntete er Unverständnis und Kopfschütteln. »Ist mit dir alles in Ordnung?«, überholte Gurg den Fremden und stellte sich vor ihn. Der schaute ihn freundlich an. »Danke der Nachfrage. Weißt du, wo ich den Sapukral finde?« »Jetzt hör mal mit dem Blödsinn auf!«, zog Tomba ihn beiseite. »Ist nicht besonders clever von dir, laufend dieses Wort in den Mund zu nehmen, ohne seinen Namen zu lobpreisen. Verstehst du?« »Nein, eigentlich nicht.« Tomba seufzte. »Als wenn wir nicht schon genug Probleme hätten«, sagte er mehr zu sich selber und dann, an den Fremden gewandt, fuhr er fort: »Du hast irgendwas, was ich nicht näher beschreiben kann. Wenn du willst, bringe ich dich zu meinen Freunden.« »Ja, sehr gerne.« Unter verärgerten Ausrufen bahnten sie sich ihren Weg wieder nach vorne. 32
*
»Wird aber auch Zeit!«, meinte Hilli leicht empört, als sie das Gesicht ihres Freundes zwischen den Köpfen der Menge auftauchen sah. »Wer ist denn das?« »Sein Name ist Shant«, antwortete Gurg Tomba. »Er interessiert sich sehr für den Sapukral.« »Dann hättest du ihn mal besser da gelassen, wo er hergekom men ist.« »Nein, Hilli, der hat was. Ich kann's nicht erklären. Nehmen wir ihn mit zum Konzert.« »Und wie soll das gehen? Bist du über Nacht reich geworden und hast 'n paar Eintrittskarten zu viel?« »Wir schleusen ihn rein«, überging Gurg Tomba die spitze Bemer kung. Hilli Garilli fasste sich an den Kopf. »Da vorne wartet eine elektronische Durchlasskontrolle. Nicht mal ein Zwergpudel stiefelt da unbemerkt durch!« »Jetzt stell dich doch nicht so an! Du bist doch sonst härter drauf!« »Ich will in den nächsten paar Stunden Spaß haben, keinen Trou ble! Geht das in deine Rübe rein?« »He!«, kam ein Ruf von hinten. »Sag der Kleinen, das geht schon klar mit dem Einschleusen!« Gurg Tombas Kopf ruckte herum. Der Sprecher machte mit Win ken auf sich aufmerksam. »Wie willste das denn anstellen, Kumpel?« »Warts ab. Hab selber keine Karte. Meine Jungs und ich regeln das schon.« Ganz schön schräge Vögel, dachte Gurg beim Anblick der bemal ten Gesichter und der teilrasierten Schädel. »Okay, alles klar!«, rief er ihnen noch zu. »Siehst du, Hilli, regelt sich alles von selber.« 33
Sie zuckte mit den Schultern und flüsterte kaum hörbar: »Unnüt zer Aufwand.« * Drei Stunden hatte uns die Band in Atem gehalten. Als wir die Kon zertarena verließen, dröhnten uns die Köpfe wie Kirchenglocken. Trotzdem ging mir der Beat nicht aus dem Ohr und ich schnippte lässig einen Endlosrhythmus in Kombination mit ein, zwei abgehackten Tanzbewegungen. Gurg und Jenson setzten noch einen drauf und ga ben den Refrain eines Ohrwurms wieder, der sich sogar einigermaßen melodisch anhörte. Hilli Garilli wirkte mir gegenüber auch nicht mehr besonders reserviert, schenkte mir gar ein Lächeln, schnalzte mit der Zunge und fiel in meine Bewegung mit ein. »Coole Aktion, wie die Beatniks eine Schlägerei angezettelt haben, um die Kontrollposten abzulenken.« Ich summte und schnippte weiter vor mich hin. Die Musik, die andernorts wohl eher als krawallartige Lärmbelästigung bezeichnet oder als Kriegsausbruch bewertet worden wäre, nahm mich gefangen. Einige der besten Verse und Strophen hatten sich mir regelrecht eingebrannt. Mir war nicht klar, ob ich heute eine neue Seite an mir entdeckt hatte oder ob ohrenbetäubendes Ge töse schon immer ein latentes Faible von mir gewesen war. »Hattest mächtig Massel, dass du uns über den Weg gelaufen bist.« Hilli knuffte mich in die Hüfte. »Bist vielleicht doch kein so schlechter Typ.« Ich gab ihr keine Antwort, sah sie nur an. Sie hatte natürlich recht mit dem ›Massel‹. Nachdem ich glücklich der Kraiyh-Falle entronnen war, hatte ich die Metropole Pospor erreicht. Die erstbesten Passanten hatte ich auf den Sapukral angesprochen. Anscheinend hatte ich dabei etwas falsch gemacht oder eine grundlegende Tatsache außer Acht gelassen, denn das Pärchen wies mich zurück und ging seines Weges. Mehrmals hatte ich den Versuch wiederholt, doch vernünftige Ergeb nisse waren nicht zu Tage getreten. Jeder verehrte den Sapukral, aber es wollte niemand offen über ihn sprechen. In einigen Blicken hatte ich sogar zu lesen vermeint, dass man mich als geistesgestört einstufte, 34
mich auch noch nach dem Aufenthaltsort von Gott Sapukral zu erkun digen. Das wiederum bestärkte mich in der Auffassung, mit mir könnte irgendetwas nicht stimmen. Dachte ich daran, dass mein Gedächtnis erst viel zu spät das Wissen um die Gefahr durch die Kraiyhs freigege ben hatte, durfte ich getrost davon ausgehen, mich im Bezug auf den Sapukral auf ähnlich unsicheres Terrain zu begeben. Wie es aussah, besaß ich eine Menge mehr Erinnerungen, als mir bewusst zugänglich waren. Ich konnte nicht ausschließen, dass bestimmte Informationen erst in Stresssituationen abrufbar waren, also immer dann, wenn es ernst wurde und das Kind schon fast in den Brunnen gefallen war. Auf eine Art fühlte ich mich ausgelassen und seltsam beschwingt in dieser schönen Welt, andersrum jedoch leer und unvollständig. Ich musste herausfinden, was dieser Zustand zu bedeuten hatte. Meine Vergan genheit war ein klinisch reiner Fleck in meinem Gedächtnis. Wieso wurde ich mir dessen erst jetzt bewusst? Ich war doch nicht aus ir gendeinem Koma erwacht... oder war ich doch? Ein Jugendlicher mit nacktem Oberkörper rempelte mich an. Er hatte den Mund weit auf und schrie die ganze Zeit über »Ah! Ah! A aahhh!«. Seine dünnen Ärmchen fuchtelten wild in der Luft herum, bis seine Hände vor dem blutigen Gesicht in zittrige Ruhe verfielen und die Zeigefinger in Richtung der Platzwunden und Blutergüsse deuteten. »Sick Dick hat mir eine rein gehauen, Mann! Siehst du's? Sick Dick hat mir eine rein gehauen!« Er sprang nach hinten weg auf den nächsten Pulk zu und wieder holte seine Show. Gurg Tomba klopfte mir auf die Schulter. »'n hübsches Andenken hat sich der Bastard geholt.« Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich verstand, worauf die Bemer kung abzielte. ›Sick Dick und die basischen Hämatome‹ war der Name der Band. Sollte der Frontman wirklich ausgerastet sein und einen Jungen verprügelt haben? Ich stellte Gurg und Jenson diese Frage. »Du bist echt nicht von hier, Shant, was?« Sie grinsten sich an, machten jedoch keine Anstalten, mir den Sachverhalt zu erklären. Hilli Garilli war es schließlich, die mich einweihte. 35
»Die Fresse von Sick Dick poliert zu bekommen, ist wie 'n Bran ding, ein Autogramm, weißt du. Die sind alle stolz auf 'ne zerschlagene Visage. In ein paar Tagen leuchten die Blutergüsse in allen Farben.« Das erklärte das Wort ›Hämatome‹ im Bandnamen. Ich fragte Hilli nun auch noch nach der Bedeutung des Wortes ›basisch‹. »Bist kein Chemiker, was? Mann, basisch ist das Gegenteil von sauer. Und sie nennen sich ›basische Hämatome‹, weil keiner sauer wird, der Prügel einsteckt. Kapiert?« Für einen Moment stutzte ich, dann musste ich laut lachen. »Das ist gut«, sagte ich belustigt. »Richtig gut. Sick Dick ist echt drauf. Hat Sinn für Humor.« »Krieg dich wieder ein«, taxierte mich Hilli, »hab mich schon bes ser amüsiert.« Sie überlegte eine Weile, während wir uns von der Are na entfernten. Das Publikum verlief sich in den Straßen; Groß raumtaxen und Shuttlebusse brachten die Besucher in alle Richtungen. Wir sprachen nicht während unseres Spaziergangs. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, schwelgte in den Erinnerungen der vergangenen Stunden, sang laut oder leise den ein oder anderen Song oder imitierte eins von Sick Dicks exotischen Musikinstrumenten. Hilli Garilli blieb abrupt stehen und legte mir eine Hand auf den Unterarm. Ihre Miene unterlag dem Wechselspiel von Misstrauen und Neugierde. »Wir vier werden uns gleich mal unterhalten.« Ihre Stimme dulde te keinen Widerspruch und reflektierte erneut ihren anfänglichen Un mut über mein Erscheinen, von dem ich glaubte, dass sie ihn bereits überwunden hatte. »Und dann, Shant - oder wer immer du auch bist legst du deine Karten auf den Tisch!« * Das war leichter gesagt als getan. Karten auf den Tisch legen - gute Güte! Ich war doch gerade selber erst zu dem Schluss gelangt, dass ich nichts über mich wusste, dass ich - es hörte sich nicht nur eigenar tig, sondern in höchstem Maße unglaubwürdig an und konnte vorhan denes Misstrauen nur weiter schüren - ein Mann ohne Vergangenheit 36
war. Ab und an - diese Feststellung hatte ich allerdings gemacht - gab es in meiner Erinnerung diverse Lichtblitze und mir wurden Dinge ge läufig, die mir vorher fremd gewesen waren. Mannomann, in meinem Kopf herrschte chaotisches Durcheinan der. Wenn ich mir diese Tatsache in jedem Augenblick meines Lebens bewusst machen und stets den Blick auf die unsortierten Berge in der Müllhalde meines Verstandes bewahren würde, ich hätte schreiend kapitulieren und auf der Stelle wahnsinnig werden müssen. In gewis ser Weise erzeugten meine Blockaden damit einen Schutzwall und an statt mich über sie zu ärgern oder auch nur zu wundern, sollte ich sie dankbar annehmen. Wir fuhren mit dem SpeedTrain raus zur Trabantenstadt Riba Wa nor. Mit dem Auftauchen der Wohnsilos am Fenster meines Sitzplatzes kamen mir Fragmente ihrer Entstehung in den Sinn. Vor meinem geis tigen Auge sah ich die ersten Siedler Hütten errichten. Erst zehn, dann hundert, dann viele tausend. Die Technik wurde verbessert, die Häuser größer, die Stadt dehnte sich aus. Dem gesunden Wachstum folgte die Stagnation. Immer mehr Bewohner wanderten ab und gingen nach Pospor. Vielleicht waren sich die beiden Städte einfach zu nahe ge kommen, als dass beide weiter expandieren konnten. In der heutigen Zeit verschlug es eher jene Menschen nach Riba Wanor, die gesell schaftlich in Pospor nicht Fuß fassen konnten und auf kostenlosen Wohnraum angewiesen waren. Den gab es nur in dieser Satelliten stadt. Entsprechend hatte sich Volk angesiedelt, das man in der Met ropole nicht gerne sah. Die Behörden hatten kein Problem damit, nicht korrespondierende Elemente, wie die offizielle Begründung lautete, auszugliedern. In Riba Wanor fand man Arbeitslose, Taugenichtse, Kleinkriminelle und ein Bandenwesen, das seine Fühler gerne auch nach Pospor ausstreckte. Wer an diesem Ort wohnte und lebte, wurde über kurz oder lang zum Spielball derer, die sich nahmen, was sie woll ten. Der einzig positive Gedanke war wohl noch, dass einem niemand etwas stehlen konnte, weil niemand in Riba Wanor etwas besaß. Vom SpeedTrain-Terminal ging es zur Riba-Wanor-Station, von wo alle fünfzehn Minuten ein Zug zur Trabantenstadt ging. Eine halbe Stunde darauf hockten wir auf Matratzen auf dem Boden jener Woh 37
nung, die Hilli und ihre Freunde mit Beschlag belegt hatten. Dass sich noch kein anderer hier festgesetzt hatte, war ein gutes Zeichen, sonst hätten wir in der Nacht noch auf die Suche nach einer Unterkunft für uns gehen müssen. Ich ließ meinen Blick kreisen, erkannte ein Metallbett, einen Tisch und zwei Stühle, was allgemein zur Grundausstattung des sozialen Wohnungsbaus gehörte, einen verkratzten Wandkühlschrank und viel Staub und Dreck. Aller Augen lasteten auf mir, das merkte ich deutlich und alle erwarteten etwas von mir, was Hilli herauszukitzeln bereit war. »Irgendwas an dir ist nicht ganz koscher«, rückte Hilli Garilli mit der Sprache heraus. Sie saß nach hinten auf die Hände gestützt auf ihrer Matratze und beäugte mich kritisch, aber auch mit dem Anklang von etwas, das ich nicht recht zu deuten wusste. »Was soll denn das, Hilli?«, fuhr ihr Jenson Ohnegrim dazwischen. »Der ist doch okay.« Sie schüttelte energisch den Kopf und zog die Brauen zusammen. »Shant, du bist uns doch nicht rein zufällig über den Weg gelau fen.« Was sollte ich sagen, was sich anders anhörte als ›Natürlich bin ich das‹? »Ihr seid auf mich zugekommen, nicht ich auf euch.« »Ha«, machte das Mädchen, »früher oder später hättest du uns sowieso angequatscht.« »Worauf willst du eigentlich hinaus?«, zeigte jetzt auch Gurg Tomba Interesse, der aufgestanden, zum Kühlschrank gegangen war und mit gerümpfter Nase wieder zurückkam. »Ich weiß nicht so ganz«, schwindelte Hilli, die sehr genaue Vor stellungen von meinem Auftritt hatte. »Ist nur so 'ne Ahnung...« »Glaubst du, ich bin ein Spitzel?«, sagte ich offen, was Hilli dach te. »Blödsinn!«, wehrte Jenson ab. »So was hab' ich ja noch nie gehört«, fiel auch Gurg in den Tenor ein. 38
»Warum nicht?«, regte sich das Mädchen plötzlich auf. »Die Jün ger werden immer cleverer, ihre Methoden hinterhältiger! Die warten doch nur darauf, Leute wie dich und mich abschieben zu können!« »Zu deportieren...?« »Zu den Sammelpunkten.« Seichtes Grauen lag in der Luft. Es waren diese verdammten Imp lantate, die über stationäre und mobile Richtstrahlgeneratoren der Heilsstifter aktiviert wurden und jeden Pahkahoota zu einem willenlo sen Instrument machten, das sich ohne eigenes Zutun an einem ge heimen Sammelpunkt einfand und danach nie mehr gesehen wurde. »Ich habe Leute gesehen, junge und Greise, die völlig unan sprechbar wie ferngesteuert aufgestanden und gegangen sind. Nicht und niemand konnte sie aufhalten!« Hilli Garilli war laut geworden und sagte in gemäßigtem Tonfall erklärend: »Ich will einfach nicht, dass das auch mit mir passiert...« Mir war die Situation unangenehm und ich wusste auch nicht, wie ich die Zweifel ausräumen konnte. »Ich bin keiner von denen«, sagte ich aus voller Überzeugung. »Das müsst ihr mir glauben.« »Wir glauben dir!«, kam es wie aus einem Mund von Gurg Tomba und Jenson Ohnegrim, die sich eine Matratze teilten. »Ich möchte es auch«, hauchte Hilli, »aber...« »Wie kann ich dich vom Gegenteil überzeugen?«, fragte ich. »Das kannst du nicht. Das kann nur die Zeit.« »Dann lässt du mich bei euch bleiben?«, hakte ich nach, als ob es Hillis alleinige Entscheidung wäre. Möglich, dass mir viel daran lag, dass sie es auch freien Stücken tat. Statt einer Antwort beugte sie sich zu mir vor und sagte: »Erzähl mir, was du vorhast.« * Hort des Sapukral
Was ich auch anstelle, welche Kombinationen ich verwende, welche Ingredienzien ich vermische, austausche, kreiere - das Ergebnis ist in 39
höchstem Maße niederschmetternd. Ich weiß nicht, was ich falsch ma che. Manchmal, wenn mich die Melancholie erfasst, möchte ich alles hinschmeißen und mich anderen Dingen zuwenden. Doch es ist gang offensichtlich, dass ich zum Erschaffen existiere. Öde Belanglosigkeit wäre überall, würde ich nicht den Funken der Schöpfung entzünden. Ich trage die Bildnisse meines Geistes in die Welt, erbaue die Welt und überlasse sie sich selbst, damit sie sich entwickle und wachse und ge deihe. Doch sie entspricht nicht den Bildern in meinem Selbst. Sie ist ähnlich - zum verwechseln ähnlich - und es sind immer wieder die De tails, diese winzigen, unscheinbaren Details, die verhindern, dass das Werk ein Meisterwerk wird. Wo liegt der Fehler? Welche Aspekte der Natur - der von mir erdachten Natur - weiß ich nicht recht zu deuten? Es ist die Verselbstständigung der Sache an sich. Sie hat mir die Kontrolle entrissen, indem sie aus meinen Vorgaben neue Aspekte schuf. Ich brachte die gute Saat aus, doch als die Frucht in der Reife stand, da entsprach sie nicht mehr meinen Vorstellungen, da hat sie sich entgegen meinem Willen gewandelt, in eine Richtung entwickelt, die mehr der Entartung denn der Erhaltung nahe kommt. So ich denn das Höchste allen Seins bin, weshalb verweigert mein Kosmos mir den Dienst? Ich betrachte meine Welten und sehe die einzelnen Stufen des Evolutionsmosaiks. Ich sehe die Kreaturen, die sie hervorgebracht ha ben und die so unbeschreiblich verschieden sind, dass ich Zweifel über die Allmacht meiner selbst verspüre. Soll ich trotzdem mein Werk lie ben? Indes, wie kann ich das, da es konsequent den Anforderungen nicht genügt. Beinahe ergreift mich Ekel beim Anblick der Deformier ten - doch darf ich derart empfinden? Liebe ich nicht alle meine Kin der? Unterstütze ich sie nicht in ihrer Liebe zu mir, die sie Tag für Tag zelebrieren? Denn die Liebe darf nicht nur das Produkt der einen Seite sein. Die Paarbildung ist das Besondere. Sie akzeptiert nur die Liebe und kann auch nur diese geben. Wenn sie sich berührt, umspielt und schließlich vereinigt, wird die Trennung zur Illusion. Des Öfteren sind meine Geschöpfe widerspenstig und ich bin ver sucht, mit eiserner Hand unter ihnen zu jäten. Schnell jedoch besinne 40
ich mich auch meine innige Liebe zu ihnen und lasse nur eine milde Strafe walten. Für sie will ich Vorbild und Orientierung sein, denn sie sind klein und schwach und bedürfen der Aufsicht... Gute Worte. Doch ich weiß, es werden nur Worte bleiben. Die Ge lüste in mir wechseln beständig ihr Angesicht. Noch ist es Freude und Zufriedenheit, die mich erfüllt, wenn sie ausgelassen die Straßen ihrer Städte füllen, mal hierhin, mal dorthin gehen und in ihrer Konfusion trotz allem so etwas wie System besitzen. Schon verlagert sicht das Gefühl, unterliegt es verheerenden Schwankungen, die mich aus dem Gleichgewicht stürzen und zu Taten forcieren, die voller Rache und Blutdurst sind. Mehrmals musste ich mich ihnen bereits ergeben und in tiefem Bedauern nach der grausamen Tat die Trümmer meines Wü tens beweinen. Warum gelingen sie nicht so, wie ich sie vor mir sehe? Das Bild ist so klar, die Form fast greifbar - und doch misslingt es! Als wandernder Geist durchstreife ich die Weiten meiner Welten, nähre die ohnmächtige Wut, statt sie zu zerdrücken. Auch darauf muss ich eine Antwort schuldig bleiben. Der Wider spruch, der sich ergibt, wenn der Schöpfer seiner Schöpfung nicht neutral gegenübersteht, sondern bewertet, kulminiert im Ausleben der Triebe. Kann Gott seinen Trieben erliegen und dem Hass - wenn auch nur einen unbedeutenden Moment - der Liebe vorziehen? Kann Gott Gott sein, wenn widerstrebende Empfindungen in ihm regieren? Ist das der Beweis, dass ich nicht das bin, was ich scheine und nutze, meine Einzigartigkeit zu begründen? Muss nicht aus dieser Konsequenz mein fortbewährendes Scheitern erwachsen? Ich kenne die Bedingungen. Ich kenne die Resultate. Wenn ich mehr herausfinden will über das Paradoxon meiner Unzulänglichkeiten, dann ist es geboten, mehr über mich selbst herauszufinden. Zuerst aber muss ich den Gewittersturm, der mein Gemüt verdun kelt, entfesseln. Er lässt sich nicht zurückhalten und ich zittere in Vor freude auf die wonnige Erleichterung, wenn ich abermals das Unkraut einer unvollkommenen Kultur aus meinem Garten der Glückseligkeit getilgt habe... 41
*
Im Kühlschrank hatte sich entgegen aller Erwartung noch etwas Ess bares gefunden. Erst als ich den ersten Bissen im Mund hatte merkte ich, wie hungrig ich gewesen war. Nun, zumindest mussten wir uns nachher nicht mit knurrendem Magen schlafen legen. Hilli brühte ein schwarzes Malzgetränk auf und eigentlich hatten wir damit alles, was wir brauchten. »Also, Shant«, erinnerte sie mich nochmals an meine Pflicht, »was hast du hier verloren und was hast du vor?« Das war gar nicht so leicht zu beantworten. Jedenfalls nicht, dass es auf Anhieb plausibel und einleuchtend erschien. Ich beschloss, der Wahrheit den Vorzug zu geben und keine glaubhafte Wahrheit zu kon struieren. »Ihr werdet lachen, aber ich habe vor kurzem erst festgestellt, dass mir meine ganze Vergangenheit fehlt.« Keiner fand das komisch. »Leidest du an Gedächtnisschwund?«, fragte Hilli. Gurg sah Jen son mit hochgezogenen Brauen an; der zuckte nur mit den Schultern. »Nein, so kann man das nicht bezeichnen.« Ich dachte ein paar Sekunden nach. »Ich hatte den Eindruck, gerade erst auf Arkelad an gekommen zu sein.« »Das eine schließt das andere doch nicht aus«, meinte Jenson Ohnegrim. »Bei einem Verlust des Erinnerungsvermögens sind die Symptome dieselben.« »Wahrscheinlich kann ich mich nicht richtig verständlich machen«, suchte ich weiter nach Worten, wollte einerseits der Wahrheit treu bleiben und andererseits nicht allzu viel konfuses Zeugs von mir ge ben. »Es war wie eine Geburt, wisst ihr? Eine Geburt in der Gestalt, Form und Größe, wie ich nun vor euch sitze.« Ich blickte in Gesichter, die wie Fragezeichen aussahen. In ihnen las ich die stille und einvernehmliche Aufforderung, weiterzuerzählen. »Also manchmal, auch jetzt wieder, suchen mich Erinnerungs fragmente heim, weiß ich plötzlich Dinge, die mir vorher fremd waren. Als ich in diese Kraiyh-Falle geraten bin...« 42
»Die Viecher haben dich in ihren Trichter gelockt und du bist noch am Leben?«, fuhr Gurg Tomba auf seiner Matratze hoch. »Da bin ich auch von den Socken«, sagte Hilli trocken und mit weit weniger Aufruhr in der Stimme. »Jaja, aber darum geht's mir gar nicht...!« »Bist 'n echter Komiker, was?«, wurde ich diesmal von Jenson un terbrochen, der ungläubig lachend seine Freunde anschaute. »Ist das erste verbriefte Exemplar, das 'ner Kraiyh-Falle entkommt und denkt sich nichts dabei.« »Es geht darum«, ergriff ich laut das Wort, »dass ich völlig ah nungslos in den Hinterhalt geraten bin. Als ich dann gefangen war noch bevor ich die Insekten sah - wusste ich sofort, wo ich mich be fand!« Gespannt blickte ich in die Runde und wartete auf einzelne Kom mentare. Jetzt mussten sie doch begriffen haben, worauf es mir an kam. »Meine Rede«, gab sich Hilli Garilli oberschlau. »Klarer Fall von Gedächtnisschwund.« Gurg und Jenson nickten ihr zu. »Es - ist - kein - Ge - dächt - nis - schwund!«, betonte ich jede Silbe in einer Weise, die weiteren Widerspruch im Keim ersticken soll te. Ich musste klarere Aussagen finden und mir ging auch schon eine durch den Kopf. Ein Rettungsanker, sozusagen. Sollten sie mich für verrückt halten, zumindest war ich kein Lügner. »Es ist wie die Erinnerung aus einem früheren Leben.« Jetzt war es raus. Ich war selbst überrascht von der Prägnanz des Gesagten. »Du spinnst!«, schüttelte das Mädchen den Kopf. »Mir ist ganz gleich, was ihr denkt«, sagte ich und es war mir na türlich nicht gleich. Die Hand des Schicksals hatte mich zu den dreien geführt. Ohne sie würde ich wie ein Blinder durch die Welt stolpern. Wie konnte ich sie bloß auf meine Seite ziehen, ihre Unterstützung erhalten? »Ich sagte schon, dass ich zum Sapukral will...« Gurg Tomba ergriff meine Schulter. 43
»Kumpel, der Sapukral ist irgendwo dort draußen.« Sein Arm voll führte eine ausholende Kreisbewegung. »Wie kommst du darauf, mal eben zu ihm hinspazieren zu können? Du kommst ja nicht mal zu den verbotenen Welten.« Da klingelte etwas in meinem Hinterkopf. »Wir müssen durch die Dchettos«, behauptete ich frei heraus. Wieder gesellte sich ein Fragment meiner Erinnerung zu den anderen Bruchstücken. »Vergiss es!«, spie Hilli die Worte aus wie einen Fluch. »Wir haben auch ohne Verstoß gegen die Sapukralgesetze schon genug Ärger am Hacken!« Unerwartet erhielt ich Unterstützung von Jenson. »Das ist aber nicht mehr die anarchische Hilli von früher. Die, die immer an den Grundfesten der Ordnung gerüttelt hat.« Jenson Oh negrim war zweifelsohne einige Jahre älter als Hilli, ebenso verhielt es sich mit Gurg Tomba. Ihr Festhalten an dem Mädchen mochte darin begründet sein, dass sie sich ihm hinsichtlich seiner Führungsqualitä ten unterordneten. Sie schätzten Hillis Durchsetzungsvermögen, weil sie selbst in dieser Gesellschaft untergegangen wären. »Wo willst du hin?«, erwachte eine neue Leidenschaft in ihr. »Wir gehen mit!« Nicht nur ich war verdutzt; Gurg und Jenson saßen da wie vom Donner gerührt. »Was glotzt ihr so?«, keifte sie gespielt herrisch zu ihnen rüber. »Das wolltet ihr doch von mir: eine Entscheidung!« »Sicher, Hilli, aber...« »Kein Aber«, machte sie Schluss mit der Diskussion. »Seht ihr hier irgendwas, was euch fehlen wird?« Außer mit zwei, drei gestotterten Silben wurde das Thema nicht diskutiert. »Nun denn«, wandte sich die wie ausgewechselt wirkende Hilli an mich. »Wohin gehst du?« »Tja, ich... ich...« »Fängst du jetzt auch damit an?« 44
»Ich dachte«, riss ich mich zusammen, »das könntet ihr mir sa gen...« »Wir?« Hilli Garilli ließ ihre Augen wandern, von mir zu den Wän den, zur Decke und wieder zu mir zurück. »Du willst zum Sapukral«, sagte sie gleich darauf. »Also gehen wir zum Sapukral.« Sie kickte die offenen Schnürhalbstiefel von den Füßen und legte sich hin. »Schlaft gut, Jungs«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Und renkt eure dusseligen Mienen wieder ein.« * Das Erwachen am nächsten Morgen geschah mit der Erkenntnis, dass er bereits verstrichen war. Und mit einem Ziehen in den Gliedern, als hätte ich mir im Schlaf sämtliche Knochen verrenkt. Bleischwer und ächzend brachte ich meinen Oberkörper in die Vertikale. Meine Glied maßen schienen mit dem Erdboden verwachsen, so wenig Gefühl und Kontrolle erlaubten sie mir über sich. Offenbar war mein Aufstöhnen laut genug gewesen, meine Gast geber ebenfalls aus dem Reich der Träume zu holen. Ich sah vor und neben mich, stellte fest, dass ich von der Matratze gerollt war und wohl stundenlang auf dem nackten Steinfußboden zugebracht hatte. Seufzend schob ich Jensons Bein von meinen Unterschenkeln, biss die Zähne zusammen und erhob auch noch den Best von mir. Ich gähnte und rieb mir über die Augen, machte ein paar Deh nungsübungen und wusste, die Verspannungen würden mir noch den Tag über Freude bereiten. »Ich schütte uns was zu trinken auf«, reckte sich Hilli und blickte mich an, ohne mich zu sehen, weil ihre Augen noch müde blinzelten. Schlaftrunken wankte sie in einen Nebenraum und goss Wasser auf. »Siehst blendend aus«, spottete Gurg und machte eine Geste der Anerkennung. Seine Haare standen ihm zu Berge und er drückte sie mit den Handflächen fest gegen seinen Kopf. Sie schienen flexibel wie Aluminiumdraht und gerieten auch nicht mehr aus der Form. 45
»Ich fühle mich auch blendend für jemanden, der auf kaltem Be ton genächtigt hat.« Gurg winkte ab und ging zum Kühlschrank. Dasselbe Ergebnis wie am Vorabend. »Hilli! Wieso steht nur Dreck im Eisschrank?« »Weil du das gute Zeug immer wegfrisst!«, schallte es um die E cke. »Ach, hör doch auf! Gestern haben wir auch nur Müll gegessen!« »Glaubst du, über Nacht hat sich daran was geändert...?« Hilli Garilli kam aus der schmalen Kammer. Sie brachte den Ge ruch frischen Malznitrats mit, der mir gleich in die Nase stieg. »Greif dir alles, was essbar ist und lass uns frühstücken«, bekam Gurg Tomba von der Siebzehnjährigen seine Anweisungen. »Den Stall hier sehen wir sowieso nicht wieder.« Sie meinte es ernst, stellte ich beruhigt fest. Sie hatte das nicht nur so dahergesagt mit dem Weggehen. Da war nicht viel, was Gurg zwischen den Matratzen aufbaute und an sich hatte ich auch keinen Hunger. Im selben Moment jedoch sagte ich mir, dass man nie wissen konnte, wann man die nächste Mahlzeit bekam. Also griff ich zu, hatte eine aufgerissene Kartonverpackung in der Hand, in der eine eigentümlich gefärbte Quarkspeise die besten Tage nach ihrer Herstellung bereits hinter sich hatte. Ich redete mir ein, dass damit alles in Ordnung war und erbrach keine zwei Minuten später den ganzen verklumpten Glibber wieder. Hastig schüttete ich den heißen Malztrunk nach, verbrannte mir Lippen und Zunge und fand das immer noch erträglicher als auch nur einen weiteren Teelöffel Gammelquark zu schlucken. »Habt ihr alles beisammen?«, klatschte Hilli nach unserem Brunch in die Hände. »Dann könnten wir nämlich aufbrechen.« »Hast du dir das echt gut überlegt?«, äußerte Jenson Ohnegrim plötzlich handfeste Zweifel. »Was ist mit unserer Erfahrungsgruppe? Was ist mit dem Geld, das wir uns immer abholen?« »Das«, erhob Hilli den Zeigefinger, »nehmen wir selbstverständ lich noch mit. Aber die Erfahrungsgruppe ist irgendwie ätzend. Da hat te ich schon lange keinen Bock mehr drauf.« 46
»Ausgerechnet!«, konnte Jenson nicht fassen, was er hörte. »Du hast dich doch am lautstärksten engagiert!« »Weil da keiner das Maul aufkriegt!«, stellte sie patzig richtig. »Ich hab' aber keine Lust, nur alleine zu quatschen und mir dabei noch die Heilsstifter an den Arsch zu heften! Wir hatten ein Scheißglück gestern!« Keiner konnte auch nur im Geringsten widersprechen. Mir selbst war die Geschichte nicht bekannt. Draußen brandete Lärm auf. Menschen schrieen durcheinander und ich vernahm das Rasseln von Fahrzeugketten. Gurg und Hilli waren mit zwei Sätzen am Fenster. »Heilsstifter!«, zischte sie wütend. »Sind wir in Gefahr?«, erkundigte ich mich nichts ahnend. »Das gilt nicht uns«, beschwichtigte Tomba. »Die sind schon fün dig geworden, ein paar Stockwerke unter uns.« Hilli Garilli drehte sich zu Jenson und mir um und lehnte lässig an der Brüstung. »Auf eine Stunde mehr oder weniger kommt's jetzt nicht mehr an«, erklärte sie. »Wir warten, bis sich die Lage beruhigt hat. Und dann kehren wir Riba Wanor für immer den Rücken...« Gurg Tomba und Jenson Ohnegrim zeigten keine nennenswerte Regung. Ob sie nun dafür waren oder nicht - mit von der Partie waren sie allemal. * Wir wollten uns das Geld holen, unsere jeweiligen Tagessätze. Dazu mussten wir uns beim Treusorgeamt einfinden. Und das befand sich in Pospor, also genau dort, wo wir uns so schnell nicht wiederhatten se hen lassen wollen. Einerseits, weil erst ein bisschen Gras über den Tumult von gestern wachsen sollte. Die behördlichen Exekutivorgane dazu zählten vor allem die Jünger vom Weißblütendornbusch und die Heilsstifter selbstverständlich - mochten die nächsten Tage noch be sonders wachsam sein. Ein verräterischer Gedanke konnte uns zum 47
Verhängnis werden oder ein Beamter, der sich an unsere Gesichter erinnerte. Da natürlich vorzugsweise an die von Hilli, Gurg und Tomba. Mir steckte der morgendliche Einsatz der Heilsstifter noch in den Knochen. Nicht, dass sie rabiat oder gewalttätig vorgegangen wären. Das hätte ich durchaus verkraften können. Nein, es war dieser ominö se Richtstrahl. Sie hatten ihn auf eine Wohnung im Untergeschoss ge richtet, nachdem sämtliche Fluchtwege abgeriegelt waren. Ihr Opfer hatten sie exakt ins Visier genommen und schon eine knappe Minute später war es anstandslos aus dem Haupteingang herausgekommen. Von da an beachteten die Heilsstifter den Delinquenten nicht mehr, der unbeirrt einem Zielpunkt entgegenstrebte, den wohl nur er selbst kannte. Das Implantat des Pahkahoota war aktiviert worden und über nahm von nun an die Kontrolle. Genau das war es, was mich bis ins Mark erschreckt hatte. Dieses vollkommene Ausgeliefertsein. Keine Möglichkeit zur Eigeninitiative zu besitzen. Erwischte es mich oder die anderen, wurden wir zu Sklaven eines elektronischen Chips, der jedem schon bei der Geburt eingepflanzt worden war. Ihn zu entfernen, so hatten mir die drei berichtet, war äußerst schwierig. Für Leute in unse rer gesellschaftlichen und finanziellen Lage sogar unmöglich. Ich fror und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als wir im SpeedTrain saßen und die Metropole Pospor ansteuerten. Vom Terminal ging es quer durch die City. Ich ließ mich mitschlei fen und versuchte die Flut an Einzelheiten, die mich überschwemmte, aufzunehmen. Ein gläserner Turm ragte aus dem Stadtviertel, in dem wir uns befanden, heraus. »Das Treusorgeamt«, zeigte Gurg Tomba voraus. »Etliche Tau sende holen sich Tag für Tag hier ihre paar Kröten ab.« Hilli Garilli knurrte unterdrückt und plärrte daraufhin munter los: »Treusorgeamt, Amt für bevorzugte medizinische Behandlung, Bewer tungsamt für Wohnraumflächenbelegung, Kontrollinstitut für postmor tale Ausgleichszahlungen - alle und noch eine Menge mehr vereint unter einem Dach.« Das Mädchen wirkte richtiggehend heiter. »Spreng den ganzen Bau in die Luft und die Welt hat eine Masse Probleme we niger.« 48
»Laber mal ruhig weiter«, sprach sie Jenson Ohnegrim wie ne benher an, »dann brauchen die Jünger uns wenigstens nicht lange zu suchen.« In dem Bürokomplex gab es einen Vorraum, der zu mehr als fünf zig Schaltern führte. An jedem Schalter stand eine Schlange aus kreuz und quer stehenden Menschen, sodass es schwer fiel, ihre Anzahl zu schätzen. »Ist hier immer so viel los?«, raunte ich Jenson zu. »Ich meine, wir sind doch an sich ziemlich spät dran.« Ohnegrim neigte seinen Kopf zu mir rüber und sagte direkt in mein Ohr: »Daher ist es völlig gleich, wann wir kommen. Die einen kommen früh morgens und wundern sich, warum es brechend voll ist. Die anderen kommen später und kapieren nicht, warum die Leute von frühmorgens immer noch da stehen.« Er kratzte sich am Kopf und schien darüber nachzudenken, ob sei ne Argumentation nicht irgendwo ein unlogisches Element besaß. »Letztendlich gibt es keine Ruhe-, nur Stoßzeiten. Du musst im mer warten.« »Aber irgendeiner ist doch zuerst da«, schränkte ich ein. »Der muss dann doch auch sofort bedient werden.« »Weiß ich nicht. Solche Typen kenne ich nicht.« »Wer zuerst kommt, wird nach ganz hinten geschickt«, sagte Hilli mit Bestimmtheit, »damit die Bürokraten erst mal ein Päuschen ma chen können. Der Zweite und der Dritte müssen dann warten, bis die Pause zu Ende ist, haben aber keine Geduld, stellen sich an der nächs ten Warteschlange an, weil's da sichtlich flotter vorangeht. Und gera de, wenn sie ihre Personalien abgeben wollen und das Geld in greifba re Nähe rückt, geht das Schalterrollo runter. Und da steht dann ›Pau se‹ drauf.« Ich kicherte in mich hinein. »Nein, echt«, beharrte Hilli, »so muss es sein. Deshalb hat es kei nen Zweck, logisch zu überlegen und einen günstigen Zeitpunkt aus zuknobeln. Deshalb kommen wir immer, wenn wir gerade Lust haben. Ist wirklich egal, Shant.« 49
Meine Augen wanderten Kassenhaus um Kassenhaus ab. Nir gendwo herrschte Bewegung. Die Menschenmengen schienen einge froren, bewegten sich lediglich minimal seitwärts, vielleicht auch mal kurz vor, aber sofort auch wieder zurück. Das konnte Stunden dauern, bis wir an der Reihe waren. »Ihr seid doch täglich hier«, fragte ich meine Begleiter. »Wie lan ge wartet ihr denn gewöhnlich?« »Schon so einen halben Tag«, meinte Gurg und blickte Jenson an, ob dieser einverstanden war. »Aber wir tun uns das nicht jeden Tag an. Lieber verzichten wir mal auf das Geld und sind was sparsamer.« »Ihr verschenkt, was euch rechtmäßig zusteht?«, erkundigte ich mich ungläubig. »Das Warten zermürbt einen, Shant«, bemerkte Hilli mit neutraler Stimme. »Das macht dich fertig. Die Behörden sparen so einen Haufen Geld, weil viele ähnlich reagieren.« »Aber das muss man euch doch nachzahlen! Alles andere ist doch unsozial!« »Dieser Sozialstaat ist ein Bürokratenstaat mit religiöser Anbin dung. Die interessiert nur, dass du funktionierst. Kranke und Arbeitslo se haben nichts zu melden, weil sie keinen wirtschaftlichen Nutzen besitzen. Die sind Ballast. Wir sind Ballast. Und irgendwann werden wir abgeworfen...« Was darunter zu verstehen war, ließ sich vielfach interpretieren. Schließlich gab es Gesetze und Grundrechte. Darüber konnten sich selbst die Behörden nicht hinwegsetzen. »Denen sind wir kackegal«, steigerte sich Hilli in ihre Ausführun gen hinein. »Das siehst du schon daran, wie wir hier vorgeführt wer den. Lange Viehschlangen, die sich um einen viel zu kleinen Futtertrog drängen. Da ist nur Diätkost für uns drin. Wenn's mir zu bunt wird, hau ich wieder ab.« Gurg und Jenson sahen sie bedeutungsvoll an, sagten jedoch wie meistens - nichts. »Eine Barauszahlung der Tagessätze findet an diesem Schalter nicht mehr statt«, sagte nach Stunden die Stimme einer unscheinba 50
ren Gestalt mit ungesunder Gesichtsfarbe. »Dazu müsst ihr nach oben zur Abteilung für Öffentliche Bedürfnisbeurteilung.« »Was soll denn das?«, regte sich Hilli Garilli auf. »Das war doch immer hier!« »Wurde gestern Abend geändert. Die Berechtigungen müssen neu geprüft werden.« Auf jedem Wort lag dieselbe Betonung und gab der Gesamtaussage etwas Stereotypes. »Die Aufzüge befinden sich fünfzig Meter links vom Haupteingang.« Wir traten vom Kassenhäuschen weg und beratschlagten uns. »Das verstehe ich nicht«, flüsterte Gurg Tomba. »Jetzt fängt die Warterei von vorne an.« Jenson Ohnegrim hatte noch weiterführende Bedenken. »Ich sehe einen Zusammenhang mit dem Auflauf am Markt. Viel leicht wurden schon Fotos von Verdächtigen rumgereicht. Bei einer Personenüberprüfung laufen wir denen unter Umständen direkt in die Arme.« »Jenson hat Recht«, nickte Hilli. »Aber wir müssen trotzdem die Kohle lockermachen. Da gibt's kein Überlegen. Wir müssen hochfah ren.« »Ich hab' da ein saudummes Gefühl«, murmelte Gurg. Mir kamen die behördlichen Abläufe reichlich sonderbar vor. Abge sehen davon konnte ich mit ihnen auch nichts anfangen. Mein Ge dächtnis verweigerte mir den Zugriff auf entsprechende Infor mationen, sofern sie überhaupt vorhanden waren. Ich war mir jedoch sicher, dass ich weiterhin beruhigt schlafen konnte, auch wenn mir das Sozialsystem irgendwie urasozial erschien. »Mann, Mann, Mann!«, zeterte Hilli, als wir mit dem dreiundsieb zigsten Menschenschwung in den Aufzug drängten. »Eine Tür in die sem Gebäude möchte ich sehen, vor der sich nicht die halbe Stadt versammelt hat.« »Das zulässige Gesamtgewicht dieses Fahrstuhls wurde über schritten«, sagte eine ungewohnt sanfte und sogar freundliche Stim me. »Der Transport wird erst aufgenommen, wenn die maximal zuläs sige Tragkraft erreicht ist.« 51
Annähernd dreißig Leute hatten sich mit uns in die Kabine ge quetscht. Keiner von ihnen fühlte sich angesprochen. Gurg Tomba, sonst schüchtern und besonnen, riss der Geduldsfa den. Die enervierende Warterei hatte ihre Spuren hinterlassen. Er packte den vor ihm stehenden Mann kraftvoll bei den Armen und stieß ihn nach draußen. »Ist das jetzt okay?«, wandte er sich an den Fahrstuhl und richte te den Blick nach oben. »Reicht das? Können wir jetzt los? Nein?« Er fuhr herum und ergriff eine weitere Person. Ihr Keifen und der halbherzige Widerstand nützten ihr nichts; sie gesellte sich zu dem vor ihr hinausbeförderten Mann, der schimpfend am Boden hockte. Die Masse der Nachrückenden hatte einen kleinen Freiraum geschaffen, drängte jedoch schon wieder vor. Unmutsäußerungen über die Verzö gerung wurden laut. »Maximal zulässige Tragkraft erreicht«, schlossen sich die Auf zugstüren. Weiter ging's und wieder einige Stunden später hatten wir die Bastion erstürmt, standen wir an jenem Schalter, der von Anfang an Ziel unserer Begierde gewesen war. »Wie lange wird das hier dauern?« Der Beamte sah kurz von seinem Schreibtisch auf und unterzog uns einer oberflächlichen Musterung. Seines Erachtens war eine gründ lichere Untersuchung auch nicht nötig. Er senkte den Kopf und gab erst hinterher eine Antwort. »Solange es nötig sein wird, junge Dame.« »Wissen Sie, wir haben nicht viel Zeit.« »Das ist schade«, meinte der Beamte stocksteif, »ich habe jede Menge davon. Und der Kollege, der meine Schicht übernimmt ebenso. Und dessen Kollege auch. Wir haben alle keine Eile.« »Wir warten bereits einen halben Tag!«, ereiferte sich Gurg Tom ba, vielleicht eine Spur zu laut. Der Beamte sah sich genötigt, noch einmal aufzusehen. »Ich glaube kaum, dass ihr irgendwelche Termine habt. Wenn man zum Treusorgeamt kommt, sollte man genügend Zeit mitbringen. 52
Wir gewährleisten eine zügige Bearbeitung und bisher ist noch jedem Bedürftigen geholfen worden.« Gurg Tomba hatte nicht übel Lust, den verknöcherten Schreib tischtäter aus seinem Stuhl zu zerren, durchs Fenster zu werfen und sich selbst an der Kasse zu bedienen. »Dürfte ich dann die Personalien einsehen«, weckte uns irgendwann die Stimme des Beamten aus unserem Dämmerschlaf. Hilli zögerte sichtlich, ihren Identity-Chip abzugeben. Was, wenn tatsächlich Fahndungsbilder existierten? Sie kamen dann nicht mehr ungeschoren aus dem Gebäude heraus. »Die Personalien, bitte«, wiederholte der Mann gleichmütig. Hilli wurde unsicher. Sie waren bis hierher gekommen, aber war das bisschen Geld es wert, freiwillig den Kopf in die Schlinge zu ste cken? Es musste zwar nichts gegen sie vorliegen - betrachtete man es objektiv, war es sogar eher unwahrscheinlich - doch selbst der Hauch einer Möglichkeit besaß denselben Effekt wie ein Berg an stichhaltigen Beweisen einer Mittäterschaft an Sapukralversündigung. »Wir haben es uns anders überlegt«, platzte Hilli heraus. »Wir kommen morgen wieder.« »Bist du verrückt?«, stieß Jenson sie an. »Alles umsonst?«, wurde Gurg säuerlich. »Wir gehen!«, erwiderte das Mädchen energisch. Die Blicke des Beamten sprachen Bände. Wahrscheinlich hatte er im Laufe seiner Dienstzeit einen derartigen Vorfall noch nicht erlebt. Trotzdem enthielt er sich eines Kommentars, prägte sich die Gesichter der Anwesenden ein und wandte sich seinem hauchdünnen Dop pelmonitor zu. Über Sensorfelder blätterte er in einigen Unterlagen. »Los, Kinder, ab durch die Mitte«, drängelte Hilli und schob Gurg, Jenson und mich vor sich her. »Einen Moment noch, bitte«, sprach der Beamte uns an. Wir drehten uns nicht um, zwängten uns durch die Magnettüre und befanden uns gleich darauf in dem überfüllten Flur. »Einen Moment noch, bitte!«, wiederholte der Beamte und dies mal drang die Stimme aus einem über der Tür befindlichen Lautspre 53
cher, sodass alle es hören konnten und alle sahen, wer damit gemeint war. »Jetzt wird's aber höchste Zeit!«, konstatierte Gurg Tomba. »Aus dem Weg! Aus dem Weg! Aus dem Weg!«, scheuchte Hilli die unschlüssigen Gaffer zur Seite. Einige schienen wahrhaftig zu über legen, ob sie uns aufhalten sollten. »Das musst du mir aber mal eben erklären«, raunte ich Hilli zu. Wir gingen nicht zurück zum Aufzug, sondern nahmen das Trep penhaus. Nur vereinzelt standen Menschen in Warteposition und lauer ten auf das Aufrufen ihres Identity-Codes. »Mir wird's hier zu heiß!«, rief das Mädchen im Laufen. »Diese außerordentlichen Kontrollen haben nichts Gutes zu bedeuten.« Sie nahm mehrere Stufen mit einem Sprung und fuhr kurzatmig fort: »Ich weiß immer noch nicht, ob der Aufruhr am Markt uns und unseren Gesinnungsgenossen gegolten hat. Ich weiß aber ziemlich genau, dass ich das nicht an einem Ort wie diesem herausfinden möchte.« Als wäre das noch nicht Erklärung genug, blieb sie Süchtig stehen und sah zu uns hoch, die wir es ein wenig langsamer angingen, obwohl Hilli Garil lis Hektik uns ansteckte. »Die kriegen mich nicht«, blickte ich in große, traurige Augen, hin ter denen ich eine weite Leere auszumachen glaubte. »Die deportieren mich nicht in eins ihrer Lager, wo... wo...« Wir erreichten den Absatz, auf dem die Siebzehnjährige stand. »Wo was?«, fragte ich. Ein durchdringender Summton ließ uns zusammenfahren und ver schob die Antwort auf meine Frage erst einmal auf unbestimmte Zeit. »Der Kittelträger hat Alarm gegeben!«, keuchte Jenson Ohnegrim. Hilli hatte ihren rasanten Abstieg bereits wieder aufgenommen. »Die Fahrstühle kontrollieren sie zuerst«, sagte sie. »Wenn unser Timing stimmt, verfehlen sie uns knapp.« »Wo willst du denn hin?«, bellte Gurg Tomba ihr hinterher, drück te sich an zwei Wartenden vorbei und lauschte dem Hall seiner Stimme nach, die sich hohl an den Wänden des schmalen Treppenhauses brach. Hilli fegte wie der Blitz abwärts und verlangte uns ungewohnte Kraftanstrengungen ab, um ihr auf den Fersen zu bleiben. 54
»Nicht zum Haupteingang! Viel weiter runter!« »Woher...« ... kennst du dich so gut aus?, hatte ich fragen wollen und dabei eingesehen, dass ich mir auch das für später aufheben sollte. Es gab eine Zeit zu fragen und eine Zeit zu laufen. Das war definitiv die zweite. Das Summen war nervtötend, beeinträchtigte die Konzentration und führte - zumindest bei mir - zu latenten Angstzuständen. Jeden Moment rechnete ich mit einer auffliegenden Tür und zuschnappenden Händen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf meine Beine und die Stufen und konnte noch ein Quäntchen mehr Geschwindigkeit her ausholen. Die Stockwerke waren durchnummeriert. Gerade erst fiel es mir auf und so beantwortete ich die unausgesprochene Frage nach der Bedeutung der Zahlen, die im obersten Winkel neben den Türen ange bracht waren und die ich zwar gesehen, jedoch nicht wahrgenommen hatte, in einem Zug. Das Minuszeichen davor sagte mir, mittlerweile unterhalb der Hauptebene angekommen zu sein. Hilli spurtete ohne Unterlass weiter und wir braven Lämmer trotteten gehorsam hinten drein. Noch hatte sich niemand an unsere Fersen geheftet. Noch hatte niemand bemerkt, wohin wir uns begeben hatten und dass sie ihre sämtlichen Aufzüge ohne Ergebnis nach uns durchsuchen konnten. Zu viel brauchten wir uns auf unseren Vorsprung nicht einzubilden. Die Heilsstifter konnten in Minutenschnelle mehrere Cityblocks abriegeln. Ein Wunder würde dann zu wenig sein, um uns zu retten. Am meisten aber regte mich die Tatsache auf, dass wir auch noch selber auf uns aufmerksam gemacht hatten, unser ungewöhnliches Verhalten dem Beamten gegenüber hatte schließlich erst dessen Misstrauen geweckt. Ich konnte im Nachhinein nicht verstehen, warum Hilli es nicht hatte drauf ankommen lassen. Im Arsch waren wir so oder so. Scharf sog ich die Luft ein, bremste ab und torkelte linkisch an dem Mädchen vorbei, das am Ende der Treppe stand - und am Ende unseres Fluchtweges. »Tiefer geht's nicht, Jungs.« 55
»Aber weiter«, sagte ich und wies auf die Türen zu beiden Seiten des Vorraums. »Also wieder ab in die Lüftungsschächte«, ergab sich Jenson in sein Schicksal. »Da kennt ihr euch doch aus«, sagte ich fröhlich. »Jetzt werd mal bloß nicht witzig!« Gurg funkelte mich lauernd an. Poltern! Irrsinnig lautes Poltern! So laut, dass selbst das durch dringende, lähmende Summen des Alarms für entscheidende Augen blicke übertönt wurde. »Die brechen auf allen Ebenen durch!« Hilli und Gurg wechselten gehetzte Blicke. »Teilen wir uns auf?«, fragte Ohnegrim besorgt. »Wir bleiben zusammen! Immer!« Das Mädchen deutete nach links. »Durch die Tür!« Ein schräges Kreischen schnitt wie ein Messer in ihre Gehörgänge. »Mobiler Richtstrahl!«, fluchte Jenson. »Die wissen, dass wir hier unten sind! Wir sitzen in der Falle!« Ein Berührungsdruck ließ die Magnettüre aufschwingen. In unse rem Rücken ertönte das heisere Fauchen der Schockergewehre. Die Strahlen verpufften am Geländer, den Stufen und den Wänden. Uns saß die nackte Panik im Nacken. Mir waren die Heilsstifter noch niemals hinterher gejagt. Ich konnte mich jedenfalls nicht dran erinnern. Für Gurg, Jenson und Hilli sah die Sache schon anders aus. Doch auch ihnen war anzusehen, dass es heute ganz besonders knapp werden würde. Im Rennen warf ich schnell einen Blick über die Schulter. Viel zu langsam entfernte sich die Kellertüre von uns. Als wir einem recht winkligen Knick nachliefen, wurde auch schon die Tür aufgerissen, ohne dass wir unsere Verfolger zu Gesicht bekamen. Es blieb zu hof fen, dass wir ebenfalls nicht gesehen worden waren. In diesem Fall hatten wir eine nicht unbeträchtliche Chance, uns zu verdrücken. Ich nahm mir für die Zukunft vor, Hillis Entscheidungen wo es ging zu hin terfragen und lieber auf meine eigene Intuition zu hören. Dass ich da mit besser fuhr, wollte ich nicht einmal behaupten. Es entband mich 56
jedoch von dem Verlangen, jemand anderem die Schuld für meine eigene Misere zu geben. Ein geheimes Kommando verpflichtete uns zum Schweigen und unterband jedes Geräusch, das wir normalerweise verursacht hätten. Auf Katzensohlen schlichen wir weiter, sahen fast gleichzeitig die kreis runde Schleuse an der nächsten Gabelung und wussten, dass wir es geschafft hatten. Die Abdeckung bestand aus solidem Stahl. Das Schwungrad ließ sich mit vereinten Kräften spielend leicht drehen. Das Stampfen schwerer Stiefel folgte uns unablässig. Ebenso das nervenstrapazierende hochfrequente Sirren des Richtstrahlgenerators. Die Paralysegewehre schwiegen, da sich vor ihren Mündungen keine Ziele bewegten. Die fast hundert Meter Vorsprung nutzten wir perfekt aus. Als un sere Häscher um die Ecke bogen, war der Schleusendeckel längst hin ter uns eingerastet und verriegelt. Keiner kam zu uns herein. Wir ka men nicht mehr nach draußen. Was uns anfangs wie ein Segen erschienen war, verlor mit der Gewissheit relativer Sicherheit schnell an Glanz. Denn sogar Hilli konn te sich nicht erinnern, jemals eine vergleichbare Schleusenklappe in den Lüftungsschächten gesehen zu haben! * Zögerlich verebbte der Nachhall des Sapukralkontaktes in seinem Kör per. Er war an einigen Stellen deutlich aus der Form geraten und wür de Tage brauchen, sich zurückzubilden. Die Ausdünstungen während der Kommunikation traten beim ersten Mal verstärkt hervor; sie äußer ten sich in einem Geruch, der Nadelgehölzen nicht unähnlich war und hinterließen einen cremigen, altrosafarbenen Film auf der Haut. Ibanissad-Vrita II hatte sich verpflichtet gefühlt, den Sapukral ü ber seine anfänglichen Maßnahmen zur Verfolgung von Ungläubigen und systemzersetzenden Elementen zu informieren. Gleichfalls hatte er zugeben müssen, nur einen Teilerfolg errungen zu haben, da den Heilsstiftern lediglich eine Handvoll Abtrünniger ins Netz gegangen war. Viel weniger, als markiert worden waren. Zuerst mit Befremden, 57
dann mit kreatürlicher Ergebenheit hatte er das gelinde Desinteresse des Sapukral zur Kenntnis genommen und auch die unterlassene - fast schon erhoffte - Bestrafung. Seine hochinnigste Unterwürfigkeit horchte in sich hinein und lauschte in leiser Aufregung den Reaktionen ihres Körpers. Alles war neu und ungewohnt für ihn, da er den Vorgang einzig aus den Vorbe reitungslehren seines Eiters und Vorgängers kannte, aber niemals zu vor selbst erfahren hatte. Seine Organe schienen verrutscht zu sein, die Flüssigkeitssysteme befanden sich in Aufruhr und beruhigten sich kaum merklich. Der elektronische Baukasten um seine Leibesmitte war zu einem Teil seines Organismus geworden und wurde von ihm auch als solches akzeptiert. Ibanissad-Vrita II besaß zu wenig kreativen Verstand, um mit sei nem Schicksal zu hadern. In der Welt des Sapukral hatte die eigene Existenz nur die Bedeutung zu dienen, aber niemals in eigenem Inte resse tätig zu werden. Das war kein verbaler Kodex, sondern eine ge netische Bedingung. Seine hochinnigste Unterwürfigkeit war gar nicht in der Lage, sein Leben in wie auch immer gearteter Eigenständigkeit zu betrachten, sondern immer in Abhängigkeit vom Ganzen zu sehen. Vorrangig in Abhängigkeit vom Sapukral. Er wollte alles besser machen beim zweiten Versuch. Wenn sein Wunsch zu dienen einherging mit der Effizienz seiner Aktionen bei den Pahkahoota, dann würde der Sapukral ihm schon die nötige Aufmerk samkeit schenken, ihn Wohlwollen oder Abneigung spüren lassen. Iba nissad-Vrita II verdrängte seine abgezählten Emotionen, die ihm im Rahmen seines Daseins zustanden und schrieb die Indifferenz des Sa pukral der Belanglosigkeit seiner Leistungen zu. So fasste er den Vorsatz, noch intensiver zu dienen und sondierte die großen Städte. Vornehmlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf Pospor. Dort wollte er erneut ansetzen. Dort wollte er einen großen Sieg erringen zur Glorie des Sapukral. Dazu mussten die Kontroll mechanismen ausgebaut werden. Seine hochinnigste Unterwürfigkeit gab entsprechende Anweisungen an die Jünger vom Weißblütendorn busch weiter. Die behördlichen Instanzen sollten stärker in das Über wachungskonzept eingebunden werden. Ein ungewöhnlicher Schritt, 58
der durchaus auf allgemeine Empörung stoßen konnte und mit einem vollständig aufgebrachten Volk konnte niemand etwas anfangen. In einer derartigen Situation war keine Kontrolle mehr möglich. Nur die Möglichkeit der Kontrollausübung verschaffte schließlich eine gehobe ne Machtposition. Ibanissad-Vrita II ging das Wagnis reinen Herzens ein. Sollte die Lage eskalieren, wurde sie automatisch zur Sapukralangelegenheit. Arkelad wäre nicht die erste Welt gewesen, die er in seinem Zorn vernichtet hatte! * »Sieht... komisch aus hier drin«, war Gurg Tombas erste Äußerung, nachdem wir das Schott zugezogen hatten. Hilli Garilli schien mit anderen Dingen beschäftigt zu sein, denn für gewöhnlich hätte sie sich ganz von selbst genötigt gefühlt, einen Kommentar abzugeben. »Was genau meinst du?«, fragte ich interessiert. »Na, diese Rohrleitungen, den Dampf. Außerdem ist es schwül warm.« »Das stimmt«, bestätigte Jenson Ohnegrim, dessen Stirn bereits andeutungsweise glänzte. »Könnt ihr euer Kaffeekränzchen 'ne Stunde verschieben«, polter te Hilli dazwischen. »Ich möchte noch etwas Abstand bringen zwischen mich und diese Schleusentür.« Die ist knallhart bei der Sache, fand ich längst überfällige Worte der Anerkennung. Bei einem Mädchen ihres Alters hätte ich nie ein
solches Durchsetzungsvermögen und - ja, es hört sich unpassend an, trifft es aber vielleicht am besten - militärische Disziplin erwartet. We der ich noch die anderen, die wir ein gutes Stück älter sind, haben ein Problem mit ihrer Führung. Sie hat einfach was... Sie hat Charisma. »Nein, hört mal zu!«, beharrte Tomba. »Die letzten Rohrleitungs schächte müssen vor zwanzig, dreißig Jahren abgerissen worden sein. Ihr wisst doch, dass die heute ganz anders aussehen...« »Schnabel dicht und mir folgen!«
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Wir rannten hinter Hilli her, durch eine knöcheltiefe warme Lauge. Die kleinste Anstrengung sorgte für Schweißbildung. Unsere Haut ver klebte schon nach zwei Minuten mit der Kleidung. Eine dritte Minute würde es nicht geben. Der Gang war plötzlich zu Ende. »Kann mir mal einer sagen, was das für 'n Mist ist?«, schimpfte Hilli. Ratlos und entsprechend zornig stand sie vor einer massiven Wand, über die mehrere kleine Rohrleitungen und ein wesentlich grö ßeres Hauptrohr liefen. »Nicht vor und nicht zur Seite geht's weiter«, wirkte auch ich be troffen. »Das heißt, wir müssen zurück.« »Damit die Spinner uns gleich kaltstellen?« »Aber was willst du denn machen?« Jetzt machte Jenson seiner Verzweiflung Luft. »Es geht nicht mehr weiter!« »Es geht immer weiter!«, widersprach das Mädchen energisch. Sie wollte sich auf keinen Fall geschlagen geben. »Helft mir mal hoch.« Nach oben durch das Röhrengewirr, die heiße Abluft, dachte ich zweifelnd. Hilli verschwand in einer zischenden Wolke warmer Luft. Wasser tröpfchen rieselten auf uns herab. »Das Warten geht mir auf den Geist«, beschwerte sich Gurg. »Wir stehn hier wie die Deppen rum und warten auf unsere Hinrichtung.« »Nichts zu hören von Soldaten«, winkte ich ab. »Oder hörst du was, Jenson?« »Nein«, antwortete er gereizt, »und da bin ich froh drum! Denn wenn wir sie hören könnten, wären sie schon viel zu nah!« Sekunden vergingen, in denen wir unter äußerster Anspannung in alle Richtungen horchten, jedes Geräusch als verdächtig einstuften und darauf mit innerem Erschrecken reagierten. Unser Nervenkostüm geriet mächtig ins Flattern. Zudem machte ich eine Beobachtung, die mir eine Gänsehaut bescherte und die ich weiter verfolgt hätte, wenn nicht vollkommen unerwartet... ... die Erlösung gekommen wäre! 60
Oder auch nicht. Ich wollte mich nicht unbedingt auf eine der bei den Optionen festlegen, als über uns ein Aufschrei laut wurde, gefolgt von einem zerdrückten Fluch, lautem Scheppern, dem Ratschen und Reißen von Stoff - und unserer Hilli, deren Beine über uns zwischen einigen Leitungen strampelten. »Zieht mich raus aus diesem elend verdreckten dreimal verdauten und ausgekotzten Haufen Müll von einem beschissenen Kackschacht!« Ihre Stimme wurde eigenartig verzerrt und klang auch irgendwie blechern. Gurg und Jenson griffen je eins ihrer Beine, während mein Blick zurück zu meiner Entdeckung wanderte. »Ihr reißt mich doch in zwei Teile, dumme Trottel!« Teufel! Was geschah hier? Das war wie ein Gongschlag in meinem Kopf und ich konnte immer noch nicht zuordnen, was ich sah. Diese Veränderung, die schleichend aber deutlich sichtbar wurde. Dieses... »Vor! Ein Stück vor! Dann dreh ich mich und ihr zieht mich raus!« ... Schmelzen, Ineinanderfließen. Dieses Verwischen der Formen. »Aaaahhhhhiiiiiaaaaaauuuuuh!!!!« Lärmendes Platschen. Drei Körper gingen zu Boden und Hilli sprang natürlich augenblicklich wie eine Furie auf und schüttelte sich das Nass vom Körper. »Kraiyhs!«, rief sie aus. »Wir sind mitten in einem KraiyhTrichter!« * Das war es also! Wieso war ich derart mit Blindheit oder Ignoranz oder was auch immer geschlagen, dass mir der zündende Funke nicht selbst gekommen war? Gut denkbar, dass ich mich im hohen Alter einmal intensiv mit die ser Frage auseinander setzen würde. Im Moment jedoch war meine größere Sorge der unter mir weg brechende Boden, verbunden mit einem Sog, der noch erträglich war, doch zunehmend fordernder wur de. Gehetzte Bildfragmente setzten sich vor meinen Augen zu einer unvollkommenen Wirklichkeit zusammen, in der Hilli, Gurg und Jenson 61
nur sich bewegende Teile in einem sich ständig verändernden Mosaik waren. Lange dünne Rohre verbanden sich zu noch längeren und viel dünneren Rohren, entwickelten winzige Pseudopodien, die rasch an wuchsen, sich untereinander verwoben, zu einem Gespinst vernetzten und doch von einem glitschigen, pochenden Untergrund wieder ver schluckt wurden. Zweimal innerhalb von zwei aufeinander folgenden Tagen in eine Kraiyh-Falle zu geraten, war bereits so unerträglich abwegig, dass es keine Worte dafür geben mochte, an zwei aufeinander folgenden Ta gen einer Kraiyh-Falle leibhaftig zu entkommen! Die Not hatte uns unvorsichtig werden lassen. Vielleicht hatte ich die Fähigkeiten Hillis auch zu hoch gelobt. Doch was fiel mir ein, ein Kind für unser Unglück verantwortlich zu machen? Da musste ich nun doch Farbe bekennen und mir selbst die Schuld zuschreiben. Schließ lich besaß ich einen Verstand, Augen und Ohren... Die donnernde Explosion zerriss mir bald die Trommelfelle! Sen gende Schrapnelle flogen an mir vorbei, streiften mich, drehten mich, zwangen mich nieder. »WOOOO...«, dröhnte es dumpf in den pochenden Wunden, die einmal meine Ohren gewesen waren. »SIIIEEE...« Ich verstand nicht! Alles geschah so langsam, ver setzte mich in einen Zustand, der sich vom aktiven Geschehen ausge schlossen fühlte. »SCCHHHT!« Dumpf! Zu dumpf! Zu viel Watte in den Ohren. Das Echo der Explosion, das immer noch durch das Labyrinth meines gefol terten Gehirns raste! Meine Arme schienen um das Doppelte angeschwollen. Daher spürte ich auch kaum das Reißen an ihnen. Ich fiel nicht in das Loch unter mir. Eine Minute verging, bis ich von meinen Füßen nach oben geschaut hatte, verschwommene, ver drehte Gesichter erkannte, selber ein wahnsinnig dümmliches Gesicht machte... ... und von dem Strudel einlullenden Vergessens ausgespieen wurde in eine harte, kalte, laute und verdammt unfreundliche Realität! 62
Metallisches Kreischen trieb mir das Blut in die Gehörgänge. Bis ich bemerkte, dass es die Todesschreie von Tieren waren. Die kopfgroßen Kraiyhs, die unter uns lauerten und uns nicht mehr gefährlich werden konnten, da sich das saugende Loch halbwegs wieder geschlossen hatte, wurden heimgesucht von einer unerbittli chen Killerarmee. Dass die Heilsstifter außer Schockern und Richt strahlantennen auch Mordwaffen bei sich trugen, erhöhte unser laten tes Grauen vor den Schergen des Sapukral immens. Zu wissen, in Ge fangenschaft zu geraten, war eine Sache - jede Sekunde mit dem si cheren Tod zu pokern eine ganz andere! »Bist du begriffsstutzig oder einfach nur blöd?«, ranzte mich Hilli an, während Gurg und Jenson an mir zerrten. »Wenn ich ›Vorsicht!‹ rufe, dann meine ich auch ›Vorsicht!‹« Meine Trommelfelle vibrierten wie Insektenflügel. Ich hatte dieses lang gezogene Etwas von Wort zwar gehört, aber nicht verstanden. »Du hast Glück gehabt, dass die Schleuse nicht mehr solide war, als die Heilsstifter sie aufsprengten. Hast nur 'n paar Brocken dicker Schlacke abbekommen und 'nen Knallschaden.« Ich stand unfähig mich zu bewegen da, als die beiden Jungs mich losließen. »Shant, du lieber Himmel! Schwing die Hufe!« Hilli regte sich absichtlich auf und bewirkte zumindest, dass ich hinterher trabte. »Wieso geht's denn plötzlich in dieser Richtung weiter?«, rief ich nach vorne und versuchte den Druck an den Schläfen zu verdrängen. »Die Wand ist blitzartig weg geschmolzen, als die Schleuse auf flog! Die Heilsstifter sind allerdings direkt dahinter eine Etage runter geplumpst. Wie du gehört hast, räumen die unter den Käfern gehörig auf!« »Aber die werden doch schnell mit denen fertig!«, japste ich. »Und dann sind sie wieder hinter uns her!« »Das ist der Grund«, holte Hilli beim Sprechen einmal tief Luft, »warum du die Beine in die Hand nehmen sollst. In diesen Lüftungs 63
schächten haben wir eine Chance. An der nächsten Abzweigung kön nen wir sie abhängen.« Die nächste Abzweigung lag gut hundert Schritte voraus. Ge dämpftes Licht tauchte unseren Weg in blassen Schein, sodass alles gut zu erkennen war, ohne die Augen zu überanstrengen. »Links oder rechts?«, wollte Gurg Tomba wissen, als wir keine zehn Meter mehr entfernt waren. An der Gabelung blieb Hilli wie vom Blitz gerührt stehen. Auch Gurg wurde bleich. »Weder noch...«, hauchte Hilli und es war Ergebenheit in ihr Schicksal, die ihre Stimme erfüllte. Schlagartig wusste ich, dass man uns eingekesselt hatte! * Aufgebracht drängte ich mich zwischen Hilli und Gurg. Mein Kopf flog von der linken zur rechten Seite und wieder zurück. In beiden Rich tungen dasselbe Bild: Heilsstifter! »Die lassen nichts anbrennen.« Jenson Ohnegrim ersetzte Furcht durch Sarkasmus. Erstmals wurden Stimmen unserer Verfolger laut. »Bitte stellt eure Fluchtversuche ein und begebt euch in unsere Obhut!« Die Worte wurden über eine Art Verstärker am Einsatzhelm über mittelt, denn noch waren die Truppen für eine gewöhnliche Verständi gung zu weit entfernt. Der Sprecher gebärdete sich freundlich und hinterließ bei mir sogar den Eindruck, uns wirklich helfen zu wollen. »Da kann man ja fast nicht nein sagen«, spöttelte Hilli. Ich sah ih re Augen, wie sie unablässig nach einer weiteren Fluchtmöglichkeit Ausschau hielten. »Bitte stellt eure Fluchtversuche ein und begebt euch in unsere Obhut!« Diesmal kam die Ansprache von der anderen Seite. »Lassen die da ein Band ablaufen?« Die Illusion der lauteren Ab sichten der Sapukralvollstrecker zerbröckelte. Die Freundlichkeit wirkte 64
mit einem Mal mechanisch auf mich, nicht mehr menschlich. Die Vor stellung, was solche Wesen mit einem anstellten, verdoppelte meinen Herzschlag nahezu. »Warum schießen die nicht?«, fragte Tomba unterschwellig ängst lich. »Weil wir ihnen schon sicher sind. Was brauchen sie noch ihre Gewehre.« »Die haben ihren Blutdurst erst mal an den Kraiyhs ausgelassen«, spekulierte ich. Ob sie damit allerdings zufrieden waren, würde sich wohl noch herausstellen. Eine dritte Ansage folgte. Derselbe Wortlaut. Diesmal aus unserem Rücken. Wir drängten uns dicht zusammen, nahmen uns bei den Händen. Es war die richtige Zeit für ein Gebet. Ein Gebet an Gott Sapukral. Auch wenn die Schergen in seinem Namen handelten, hieß das nicht, dass der Sapukral dies auch für gut befand. Menschen tendierten eben immer in Richtung Pragmatismus. Die Glaubensgrundsätze wechselten mit den gesteckten Zielen. »Ihre Gewehre haben sie im Anschlag«, bedeutete Jenson mit ei ner fahrigen Kopfbewegung. »Das sind doch die Schocker - oder etwa nicht...?« »Du meinst die Waffen, mit denen sie die Kraiyhs abgemetzelt ha ben.« Hilli sah an ihm vorbei auf die heranmarschierenden Soldaten aus der Kraiyh-Falle. »Was macht das noch für einen Unterschied?« Ich ertappte mich dabei, die Schritte der Heilsstifter bis zu unserer Festnahme zu zählen. Ein Rumpeln klang auf. Zuerst führten wir es auf die drei Einsatzgruppen zurück, stellten jedoch gleich darauf fest, dass sich in einer der Schachtwände etwas bewegte. Eine Abdeckung geriet ins Rucken, verschob sich um einen Zentimeter nach unten, verhakte und drehte sich unmerklich. Zwei Herzschläge lang gebanntes Schweigen. Dann flog die Abdeckung lärmend und scheppernd in den Gang. In der entstandenen Öffnung erschien das Gesicht einer Frau. »Kommt! Sonst seid ihr alle tot!« 65
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Eine weitere Täuschung oder ein Zufall, den es so nicht geben konnte - es war uns egal! Die Öffnung war gerade so groß, dass zwei Erwachsene neben einander hineingleiten konnten. Doch so sehr wir uns auch beeilten, konnten wir dem Paralysatorfeuer der Heilsstifter nicht entrinnen. Zie len und schießen war bei ihnen eine Aktion. Ich glaube, Hilli war die Einzige, die ungeschoren davonkam. Die Schergen des Sapukral, die uns von dem fingierten Schleuseneingang gefolgt waren, hatten freies Schussfeld. Gurg Tomba stöhnte lang auf. Jenson und ich entgingen drei Sal ven durch rechtzeitiges Ducken, sahen aber bereits in vier weitere Ge wehrläufe. Hastig sprangen wir Hilli und Gurg hinterher, doch selbst diese eine kleine Sekunde war viel zu lang, als dass die Heilsstifter sie nicht für gezieltes Schockerfeuer nutzten. Mich erwischte es an der Hüfte, Jenson am rechten Oberschenkel. Wir stürzten ungebremst vornüber auf metallischen Grund. Ein großer Teil meines Körpers wollte aufstehen, doch der gelähmte Teil ignorier te diesen Wunsch. Es war ein Gefühl der Hilflosigkeit, das ich in dieser Intensität und Prägung - wenn überhaupt - nur wenige Male erlitten hatte und das ich niemandem wünschte. »Dreck! Die können nicht laufen!«, krakeelte Hilli. Lag da ein An klang von Hysterie in ihren Worten oder redete ich mir das nur ein? »Wir nehmen beide in unsere Mitte und stützen sie ab!« Eine fremde Stimme. Die Stimme einer Frau. Das Gesicht in der Wandöffnung. Der Gang war breit genug, dass wir zu fünft nebeneinander gehen konnten. Außen gingen Hilli und Gurg, den es wohl nicht so schlimm erwischt hatte, wie man seinem Schrei nach hätte annehmen können. In der Mitte ging diese Frau. Links und rechts von ihr hingen Jenson und ich - beidseitig gestützt - sozusagen in den Seilen. Ein Bein konnte ich zum Gehen gebrauchen, ebenso wie Jenson. Leider kamen wir auf diese Weise nicht sonderlich schnell voran. 66
»Wie lange wird es dauern, bis die den Zugang aufgebrochen ha ben?«, fragte ich in die knisternde Spannung hinein, die zumindest uns vier umgab. »Sehr, sehr lange. Weil es nämlich keinen Zugang mehr gibt.« Ich blickte die asketische Frau zweifelnd an und auch sie hatte mich beim Sprechen angesehen. »Ich heiße übrigens Rixxa«, sagte sie. »Bei al lem Ärger wollen wir die Höflichkeit nicht vergessen.« »Hilli«, sagte Hilli. »Gurg.« »Jenson.« Ich nannte meinen Namen zuletzt. Dazu brachte ich mein Unver ständnis über ihre Antwort zum Ausdruck. »Ich werde euch Antworten geben, die ihr versteht«, sagte sie ru hig. »Wenn wir bei mir sind. Es ist nicht weit und ich ziehe die Sicher heit meiner eigenen vier Wände diesem Schacht allemal vor.« Wie zur Erklärung sagte sie: »Die Öffnung ist zwar nicht mehr vorhanden, aber die Grobiane könnten auf die Idee kommen, ein heilloses Chaos zu verursachen, indem sie ein Loch in die Wand sprengen.« Ich sah mich nicht mehr um. Die Angst, die mir im Nacken saß, brauchte nicht zusätzlich genährt zu werden. Sie war jetzt schon dick, rund und schwer. * Die Lähmungserscheinungen in meiner Hüfte verschwanden ziemlich schnell. Auch Jenson betrieb bereits Dehnungsübungen mit seinem getroffenen Bein. Gurg saß auf einem Sitzkissen und rutschte darauf hin und her. Ganz zaghaft und auch nur, wenn er der Meinung war, dass es niemand sah. Ich erachtete das als deutlichen Hinweis, wo es ihn erwischt hatte und schmunzelte in mich hinein.
Ist also nichts Lebenswichtiges in Mitleidenschaft gezogen wor den.
Stumm untersuchten wir mit unseren Blicken die kleine Wohnung, die Rixxa sich im Gewirr der Lüftungsschächte, Ablufträume und toten Winkel eingerichtet hatte. Tatsächlich kam in mir ein Gefühl von Wohl 67
befinden auf, denn die Atmosphäre hatte etwas Gemütliches und Ein ladendes. Dunkle und vorwiegend helle Brauntöne wechselten ein ander ab. Es gab Kommoden und Vitrinenschränkchen, in denen aller lei undefinierbares Zeug aufgereiht stand: Figuren, Kerzen, kleine ge rahmte Bilder, Bücher, Mini-Discs und obskure Zeichnungen und Sym bole. Obwohl der Raum sehr klein war, wirkte er nicht überladen. Ma dame Sutterän hatte an den Möbeln wohl noch geringfügige Ände rungen vorgenommen, damit sie wirklich die Ecken ausfüllten und kei nen Platz verschwendeten. »Ist hübsch geworden, oder?« »Gefällt mir gut«, meinte Hilli anerkennend. »Schon 'ne Ecke bes ser, als ich's gewohnt bin.« Ich saß mit Jenson auf einem Sofa, Hilli hockte uns gegenüber zwischen zwei armdicken Rohren, die angenehme Wärme verbreiteten. Rixxa hatte sich einen Flechthocker zurechtgeschoben und nahm dar auf im Schneidersitz Platz. Sie lächelte Gurg freundlich zu, der an ihrer linken Seite vorgebeugt kauerte und fast mit dem Kinn die Tischplatte berührte. Aus einer Kanne goss sie uns Tee in kleine Gläser, die auf dem Tisch gleich vor ihr standen. »Nehmt euch, Kinder«, wies sie auf die Gläschen, »wird euch gut tun. Die Kräutermischung gibt euch innere Ruhe und besänftigt die aufgebrachten Nerven.« Süffisant fügte sie hinzu: »Mein eigenes Re zept. Gibt's nicht zu kaufen.« Der Tee schmeckte... gewöhnungsbedürftig. Ich war gespannt, ob die erwartete Wirkung einsetzte, denn ich war immer noch ziemlich aufgewühlt und fühlte mich auch keineswegs sicher. Noch mehr ge spannt war ich allerdings auf einige Erklärungen, die Rixxa Sutterän uns noch schuldig geblieben war. Ich musste das Thema jedoch erst mal auf Eis legen, weil Hilli ei ne Feststellung machte. »Du bist eine Kundige, nicht wahr?« Rixxa Sutterän drehte sich ein wenig zur Seite und schaute an Gurg vorbei auf das Mädchen. »Das ist eine Bezeichnung, unter der man mich kennt.« 68
»Mann«, klopfte die Siebzehnjährige sich auf die Schenkel, »das ist ja jetzt echt nicht wahr. Die Madame Sutterän sitzt gleich vis-à-vis. Ein großer Tag in meinem jungen Leben.« »Du kennst Rixxa?«, fragte ich argwöhnisch. »Shant«, schüttelte sie mitleidig den Kopf, »du kannst nicht von dieser Welt sein. Vor dir thront die Erhabenheit selbst im Kampf gegen den Sapukralkult.« Ich horchte auf. Hatte der Zufall mich da eine heiße Spur aufneh men lassen? »Seit ihren Predigten in der Öffentlichkeit wird sie nicht nur vom Pöbel geschnitten, sondern steht auch ganz oben auf der Liste der destruktiven, gesellschaftsfeindlichen Elemente.« Hilli Garilli hielt einen Moment inne, als musste sie erst über ihre Aussage nachdenken und überprüfen, ob sie nichts Entscheidendes ausgelassen hatte. »Kein Wunder«, sagte sie mit Blick auf ihr Idol, »dass du dich unter Pospor verkriechst. Die Weißblütenbastarde würden freiwillig jeder ein Auge lassen, um dich in die Finger zu kriegen.« »Nun übertreibe aber nicht«, schwächte Madame Sutterän milde lächelnd ab. »Ich stelle für sie keine konkrete Gefahr mehr da, weil die Pahkahoota mir nicht zuhören. Von Regierungsseite ist man sich ziem lich sicher, dass ich mich auf den verbotenen Welten herumtreibe...« Die Frau mit den asketischen, aber frischen Gesichtszügen und dem silberlockigen Haar grinste verschmitzt: »Im Ernst, ich treibe mich wirklich da rum.« Sodann wurde sie eine Spur ernster. »Seine hochin nigste Unterwürfigkeit befürchtet, ich könnte im Untergrund Sympathi santen um mich scharen. Nur aus diesem Grund machen sie weiter Jagd auf mich. Nur deshalb muss ich mich verstecken und auf der Hut sein.« »Dein wagemutiger Einsatz hat uns allen das Leben gerettet.« Ich fühlte tiefe Dankbarkeit in mir und einen Ausdruck von Schuld, die ich wohl niemals abbezahlen konnte. »Wie hast du nur das Kunststück fertig gebracht, uns gleich drei Heilsstiftertrupps vor der Nase wegzuschnappen?« Gurg Tomba nippte an seinem Tee, während ihm Rixxa antworte te. 69
»Nicht nur das sozialpolitische Oberhaupt, Ibanissad-Vrita II, be sitzt außersinnliche Wahrnehmungsmöglichkeiten. Ich habe sie auch. In unserer Welt werden sie gerne totgeschwiegen, doch sie sind vor handen. Und glaubt mir, Kinder, eure Gedanken waren verzweifelte Hilfeschreie. Selbst, wenn ich gewollt hätte, wären sie nicht zu über hören gewesen.« »Und was ist mit den Kraiyhs?«, meldete sich jetzt auch Jenson Ohnegrim zu Wort. »Was machen sie hier? Ich dachte...« »... sie befänden sich nur außerhalb der Städte«, vollendete Rixxa Sutterän. »Aber ihre Lebensart ist bedroht. Nicht nur unser Wissen um die Art ihrer Fallen, sondern auch gewisse umweltbedingte Aspekte tragen daran die Hauptschuld. Zwangsläufig kommen sie also zur Nah rung, wenn die Nahrung nicht mehr zu ihnen kommt...« »Ist ja gruselig«, schüttelte sich Jenson, während Hilli hämisch grinste. »Ich fürchte«, schloss die Kundige das Thema ab, »es gibt eine ganze Menge Kraiyh-Fallen unter der Stadt. Und sicher auch einige Nester.« »Unsere Rettung«, brachte ich das Gespräch wieder auf den mir am Herzen liegenden Punkt. »Wie hast du das gemacht? Oder anders: Wie hast du den Heilsstiftern den Weg verbaut?« »Den Weg?«, fragte sie vieldeutig. »Da war kein Weg.« Ihre Lip pen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln, hinter dem sich alle Ge heimnisse des Universums verbergen mochten. »Doch«, widersprach ich und auch Gurg, Jenson und Hilli beka men lange Ohren, »diese Öffnung in der Wand, die Luke, die du raus getreten hast.« »Das habt ihr also gesehen, ja?«, sagte sie betont langsam und nachdenklich. Ihre Brauen hoben sich. »Seltsam, wie die Dinge für jeden anders sind...« Ich zuckte mit den Schultern und sah in die ratlosen Gesichter meiner neuen Freunde. »Könntest du das erklären?«, hockte sich Hilli auf die Knie und stützte die Arme auf den Oberschenkeln ab. Dabei reckte sie sich et 70
was nach vorne. Sicher wurde es ihr zwischen den Abluftrohren zu warm. »Erklären... - Wie? - Ja!« Madame Sutterän war für einige Sekun den mit ihren Gedanken in eine ganz andere Welt abgedriftet und hat te Hillis Worte nur oberflächlich verarbeitet. Jetzt aber war sie wieder bei der Sache. »Ihr habt gesehen, was ihr sehen wolltet«, verriet sie uns und förderte damit nicht unser Verständnis, sondern unsere Verwirrung. »Hinter eurem Rücken stand eine unbegrenzte Zahl an Möglichkeiten zur Verfügung, wie sich eure weitere Realität verwirklichen würde. Die unwahrscheinlichste - nämlich ein Fluchtweg - hat sich manifestiert.« Sie blickte mich an, meinte aber uns alle, als sie sagte: »Könnt ihr mir folgen?« Einhelliges Kopfschütteln. Madame Sutterän seufzte schwach. »Natürlich versteht ihr es nicht. Was habe ich bloß erwartet. Ich will es anschaulicher formulieren.« Die eintretende Stille in der Wohnung machte das dumpfe Rau schen in den Lüftungsschächten zum Sturmwind. »Gurg, sieh mich mal an. Und jetzt stell dir Hilli vor, wie sie da sitzt. Du weißt nicht, was sie gerade tut. Du weißt nur, dass sie an der Wand sitzt. Also gibt es jede Menge Möglichkeiten, was sie gerade tun könnte. Sie könnte dir die Zunge rausstrecken, die Augen verdrehen oder gymnastische Übungen machen. - So weit klar?« Gurg Tomba nickte, aber erst, nachdem er mit einem dezenten Blick auf Jenson und mich festgestellt hatte, dass keiner widersprach. »Drehst du dich nun um, Gurg...« Gurg machte Anstalten, das Ge sagte in die Tat umzusetzen und wurde von Rixxa mit »Nicht umdre hen. Sieh weiterhin mich an« davon abgehalten. »... bestimmt deine Wahrnehmung deine Realität. Nämlich jene Realität, mit der du Hilli siehst. Von den unbegrenzten Möglichkeiten, die sich hinter dir ab spielten, hast du jene gewählt, die deine Augen dir im Moment des Herumdrehens vermittelten. Dabei ist das, was du in diesem Augen blick siehst, entscheidend geprägt von deiner Erwartungshaltung.« 71
Der Junge bemühte sich redlich zu verstehen, was die Kundige ihm hatte plausibel machen wollen. »Wenn ich nun die Erwartung gehabt hätte«, zeigte er sich geleh rig. »Hilli hätte sich in einen Kraiyh verwandelt...« »... so wäre es in höchstem Maße unwahrscheinlich, dass es in deiner und der Realität von uns anderen dazu gekommen wäre. Nicht, weil es unmöglich gewesen wäre. Bedenke, dass die Zahl der Möglich keiten unendlich ist. Doch die Verwirklichung dieser abstrakten Idee wäre der gegenwärtigen Situation vollkommen zuwider verlaufen. Den Umständen entsprechend hätte nicht einmal der Wunsch, Hilli würde sich in ein Monstrum verwandeln, ausgereicht, ihn Wirklichkeit werden zu lassen. Was übrigens auch gut so ist. Stellt euch vor, eure Gedan ken würden sofort real - nicht auszudenken, was ihr anderen und euch selbst Fürchterliches zufügen könntet!« »Korrigiere mich bitte, wenn ich was Falsches sage«, warf ich ein, »aber heißt das, die Öffnung in der Wand ist auf unseren kollektiven Wunsch nach Rettung hin entstanden? Und die Heilsstifter konnten sie gar nicht sehen? Und du hast auch etwas ganz anderes gesehen...?« »In etwa«, wogte Rixxa Sutterän ab. »Für die Heilsstifter war die Möglichkeit eures Entfliehens nicht vorhanden. Euer Überlebenswille war aber so stark, dass ihr damit die Wirklichkeit eurer Verfolger über lagert und sozusagen eure neue Realität zu der ihren gemacht habt. Ich hingegen löste die Struktur der Trennwand aus dem Jetzt und machte sie für euch durchlässig.« »Wieso haben wir das nicht auch so gesehen? Ich meine: wieso die Klappe und das Loch?« »Nun, gekoppelt an den Wunsch des Entkommens war eine Wandöffnung für euch am plausibelsten. Niemand hätte sich in diesem Augenblick eine transparente Wand vorgestellt. Man kann nur das se hen, was man kennt. In eurer Erfahrung waren Mauern, durch die man einfach hindurchspaziert, nicht vorhanden.« »Ich kann's immer noch nicht glauben«, qualmte mir der Kopf. »Ist so etwas überhaupt möglich...?« »Du bist Zeuge des Vorgangs geworden. Alles kann geschehen, nichts muss. Auf Arkelad geschehen Dinge, die sich den meisten seiner 72
Bewohner entziehen. Das heißt aber nicht, dass sie unwahr wären. Es ist schlichtweg für die Masse beruhigender, sie auszuklammern und sich eine angepasste und überschaubare Welt zu schaffen. Menschen wie ich, die sich des Übersinnlichen bedienen, lösen nur Schrecken aus und stören die Ruhe, die man auf dem weichen Kissen der Einfalt sucht.« Anscheinend war in diesem Moment, in denen unsere Sprache versagte und Worte nur wenig Sinnvolles wiedergegeben hätten, unser Kollektivwunsch, einen Schluck aus den Teegläsern zu nehmen. Fast gleichzeitig führten wir vier sie zum Mund und fanden es noch vor dem ersten Lippenkontakt befremdlich, so zu reagieren, als wären wir fern gesteuert oder nur eine Person, die ihre vier Individualitätsformen ver loren hatte. »Bemerkenswert«, kommentierte Madame Sutterän, »wie sich das Verhalten der Menschen in denselben Situationen ähnelt...« »Ich denke«, sagte ich überzeugt, »wir haben das Grundprinzip begriffen.« »Das freut mich zu hören. Dann können wir ja auf euer nächstes Problem zu sprechen kommen. Es ist im Übrigen auch meins, womit wir dann eine verbindende Gemeinsamkeit besäßen.« »Hören die Probleme denn niemals auf?«, murmelte Gurg Tomba vor sich hin, warf einen Blick auf die Teekanne, dann einen fragenden auf Madame Sutterän, die verstehend nickte und füllte sein Glas bis knapp unter den Rand. »Ihr wisst von den Implantaten...?« Eine beunruhigende Stille machte sich breit. Hilli durchbrach sie als Erste, zaghaft jedoch und unsicher. »Man spricht viel darüber. Also da, wo wir uns aufhalten. Ich weiß gar nicht, wie diese Gerüchte aufgekommen sind. Ich halte nicht viel davon, dass so ein Ding in mir sein soll.« »Aha«, machte Rixxa und ein Schatten schien über ihr Gesicht zu streifen, doch sie fasste sich. Ich schaute Hilli ungläubig an. Hatte sie mir nicht noch am Morgen von diesem Chip erzählt, der bereits kurz nach der Geburt eingepflanzt wurde? Warum wusste sie jetzt nichts mehr davon? Oder warum tat 73
sie die Angelegenheit einfach als leeres Gerede ab? Ein Zeichen ihrer eigenen Furcht? Wollte sie sich den Tatsachen nicht stellen und for derte auf diese närrische Art ihr Selbstbestimmungsrecht ein? »Seid versichert: es ist da! Jeder von euch hat es! Und wenn die Zeit reif ist, wird es aktiviert und ihr verschwindet für immer aus Pospor, verschwindet von der Erdoberfläche.« Natürlich wollte ich es genauer wissen, als meine drei Kumpane es vorzogen, zu schweigen und lieber Löcher in den Fußboden zu starren. »Erzähle mir mehr über dieses Implantat. Was genau ist es? Wozu dient es? Wie kann man es wieder entfernen?« Rixxa Sutterän lachte. »Hübsch der Reihe nach, Shant.« Mein Wissensdrang schien der Kundigen zu imponieren, wenn ich das, was ich in ihren Augen sah und in ihrer Stimme hörte, als Anerkennung deutete. Dass Hilli, Gurg und Jenson sich mehr und mehr in sich zurückzogen, je weiter ich in das Geheimnis des mysteriösen Implantates vordrang, fiel mir nur am Rande auf und ich vermutete, die Einzelheiten waren ihnen unange nehm. Mir fiel nicht auf, wie Hillis zwei Freunde ihr ganz selten und auch nur flüchtig Blicke zuwarfen, ihre Abwesenheit registrierten, sich gegenseitig verlegen ansahen und schließlich wieder in die unergründ lichen Weiten zu ihren Füßen stierten. »Das Implantat ist semiorganischer Natur und hat lediglich die Größe eines Fliegenauges. Es vernetzt sich mit dem körpereigenen Nervensystem. Wird es von außerhalb stimuliert - und da kommt der Richtstrahl ins Spiel - sendet es Transmittermoleküle aus, die sich in den Synapsen der Nervenzellen festsetzen und eine Nekrose, einen Zelltod, einleiten. Die Folge ist die Ausschaltung des freien Willens samt Verlust der Körperkontrolle. Gleichzeitig - und das ist nur eine unbestätigte These, die sich aus allgemeinen Beobachtungen ergibt wird der Betroffene auf ein Ziel programmiert, das nur er kennt...« »Und... weiter...?«, fragte ich stockend und ließ zum wiederholten Male den Überfall der Heilsstifter auf unseren Wohnblock in Riba Wa nor vor meinem geistigen Augen vorüberziehen. »Nichts weiter«, zuckte Rixxa mit den Schultern. »Das ist das En de.« 74
»Ist nie jemand den bestrahlten Menschen gefolgt? Wohin gehen sie? Was passiert danach?« »Der Versuch alleine ist schon strafbar«, wich Madame Sutterän aus. »Das hat mich selbstverständlich nicht abgehalten, aber...« »So genau wollten wir das gar nicht wissen!«, zerschnitt Hilli Garil lis Stimme den Raum. »Wir haben jetzt mehr als genug Informationen und können uns auf die Suche nach dem Sapukral machen.« »Moment mal!«, sagte ich. »Wir wissen noch lange nicht genug! Wer kann schon sagen, wo unsere Suche uns noch hinführt und wel chen Gefahren wir uns stellen müssen. Wir sollten Rixxa weiter zuhö ren.« »Und was soll das bringen?« Hilli wirkte aus unverständlichen Gründen genervt. »Ich halt's hier nicht mehr aus!« Das Mädchen sprang geschmeidig auf die Füße, verließ den Raum jedoch nicht, son dern wandte sich von uns ab und zeigte uns den Rücken. Ich sah Rixxa an, die sich ebenfalls erhob und auf Hilli zuging. »Rede mit mir«, sagte die Kundige sanft, bevor sie ihre Hände auf die Schultern der Siebzehnjährigen legte. »Es war sehr schlimm, nicht wahr? Damals...« Die Worte drangen lediglich als Flüstern zu mir herüber und ich musste mich anstrengen, sie zu verstehen. Hilli drehte den Kopf halb zur Seite, sodass ihr Profil sichtbar wur de. »Was weißt du schon...?« Madame Sutterän streichelte beruhigend über Hillis Halsansatz bis hinunter zu den Schulterblättern. »Dieses Massensterben vor acht Jahren«, sprach die Frau weiter. »Deine Eltern waren dabei, ja?« »Lass mich!«, zischte Hilli wütend, aber ohne Überzeugungskraft. »Das liegt alles so weit zurück.« »Ein halbes Leben, Hilli. Für dich ist es ein halbes Leben.« »Sie waren alle in diesem riesigen Operationssaal«, kam es plötz lich erstickt und weinerlich heraus. »Dutzende von Chirurgen nahmen immer dieselben Eingriffe vor. Auch an Mutter und Vater. Und an tau send anderen.« 75
»Sie wollten helfen.« »SIE WUSSTEN NICHT, WAS SIE TATEN!«, schrie Hilli, fuhr herum und ergriff Rixxas Handgelenke, die sie noch erhoben hielt. In den Augen des Mädchens schimmerte es feucht. Die Tränen standen kurz davor, über den Lidrand zu schwappen. Einige Sekunden sahen die Frau und das Kind sich intensiv an. Ein spürbares Einvernehmen baute sich zwischen ihnen auf, ein Band der Verständigung. Fast war es wie die stille Sprache zwischen Mutter und Tochter. Hilli spürte die Güte in Rixxa und wusste, dass sie sich ihr beden kenlos anvertrauen konnte. Sie wusste auch, dass sie der Kundigen nichts Neues erzählen würde, wollte sich aber den Schmerz von der Seele reden. »Zwei Tage nach der Operation setzte der Verfall ein.« Hilli schluckte und gab ihrer Stimme einen annähernd festen Klang; das Wasser wischte sie sich von den Wangen. »Finger und Hände wollten nicht mehr so, wie gewohnt. Krämpfe setzten ein, nervöses Zucken. Als Nächstes war das Sprachzentrum dran...« Sie schluchzte und ein Laut tiefen Schmerzes entrang sich ihrer Kehle. »Mutter war nicht mal mehr in der Lage, meinen Namen auszusprechen!!!« Rixxa Sutterän zog das Mädchen an sich, drückte es und streichel te seinen Kopf. Anstandslos ließ Hilli es über sich ergehen, zitterte und weinte und war dankbar für die Geborgenheit, die Nähe und Wärme. In diesen Momenten wollte sie nicht mehr kaltschnäuzig, überlegen und eine Anführerin sein. Sie wollte das sein, was sie war: Ein junges, elternloses Mädchen, das sich nach Liebe, Verständnis und einem be hüteten Heim sehnte. »Macht ihr mir bitte mal Platz«, kam Madame Sutterän auf Jenson und mich zu. Wir standen flugs auf, während die beiden sich setzten. Mir ging die Geschichte an die Nieren. Dieses traumatische Kind heitserlebnis hatte Hilli nach außen hin hart gemacht. Doch ihr Herz war eine einzige große Wunde. Ich vermutete, dass Gurg und Jenson Bescheid gewusst hatten, was ihr fast schon devotes Verhalten zu Hilli erklärte. 76
Rixxa und Hilli redeten angeregt, bereinigten die Situation und ir gendwann sah ich das Mädchen sogar wieder lachen. Vielleicht, so dachte ich, war ihr endlich die schwere Last vom Herzen gefallen. Aufgemuntert und mittlerweile ohne den Kloß in meinem Hals, reichte ich zu der Teekanne hinüber und stellte fest, dass sie leer war. »Ich setze neuen auf«, zeigte sich Rixxa als aufmerksame Gastge berin. »Danach besprechen wir euren weiteren Weg. Und möglich, dass ich sogar noch eine gute Nachricht für euch habe, denn ich kenne jemanden, der sich auf die Implantattechnologie versteht.« Bestürzt warf sie einen Seitenblick auf Hilli, die auf das Thema je doch nicht mehr reagierte. »Die heutigen Methoden sind den damaligen haushoch überle gen«, ergänzte sie trotzdem schnell. Hilli Garilli zeigte sich entspannt und unbeschwert, wie wohl seit Kleinkindeszeiten nicht mehr. Ich hatte ein gutes Gefühl für die Zukunft. Nicht nur, was unsere kleine, verschworene Gemeinschaft betraf, sondern auch, was meine Mission anging, die ich stets im Hinterkopf behalten hatte. * Das stete Verlangen vorwärts zu kommen, etwas zu erreichen und zu bewegen, machte sich bei unserem Teeplausch beinahe unangenehm bemerkbar. Wir wollten etwas unternehmen, die Dinge in Fluss brin gen, gerade auch, wo Hilli ihren inneren Konflikt verarbeitet hatte und voller Tatendurst mit den Füßen wippte; es hielt sie kaum noch auf ihrem Sofasitzplatz. Den Boys und mir ging es ähnlich. Als Madame Sutterän von Anta Mjorkosad erzählte, waren wir be reits eine Weile unterwegs. Mjorkosad war jener Professor, der im ge hobenen Stand der Bourgeoisie anerkannte Ämter und Titel innehatte. Die Offiziere der Jünger vom Weißblütendornbusch gingen bei ihm ein und aus. Hohe Würdenträger aus Kirche und Politik zählte er zu seinen Freunden und Gönnern. Seine Verbindungen zum Untergrund und sei ne Sympathien für die gestrauchelten Individuen dieser zwiegespalte nen Gesellschaft waren nur den Wenigsten bekannt. Dass Madame 77
Sutterän davon erfahren hatte, lag nicht zuletzt an dem Informanten kreis, der sich aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammensetzte und aus nachweislich glaub- und vertrauenswürdigen Personen be stand. Diese hatten Kontakt mit ihr aufgenommen und bewiesen, dass sie offensichtlich über effektivere Sondierungsmaßnahmen verfügten, als die Jünger und deren Vasallen. Sonst hätten die Regierungsorgane sie längst ausfindig gemacht. Ob Rixxa daraus hingegen den Schluss ziehen durfte, sich vor den Heilsstiftern in relativer Sicherheit zu befin den, solange sie sich nicht allzu auffällig verhielt, blieb dahingestellt. Meine Gedanken rotierten um dieses eigenwillige Implantat und fassten noch einmal alles, was ich darüber aufgeschnappt hatte, zu sammen. Schwierig, wenn nicht gar unmöglich war seine Entfernung. Die Vernetzung mit den menschlichen Synapsen machte es zu einem festen Bestandteil des Organismus. Durch Herausschneiden oder brennen löste man einen biomechanischen Selbstzerstörungsprozess aus. Scherte man sich nicht um seine Anwesenheit, stand man ständig im Visier dieser Heilsarmisten - ich schmunzelte über den von mir kon struierten Begriff - die vermittels ihres vermaledeiten Richtstrahls die Abberufung eines Pahkahoota auslösen konnten. Dass es noch eine weitere Eigenschaft des Implantats gab, sollten wir erst kurz nach Ein treffen im Hause des Professors erfahren. »Nicht nach oben raus!«, warnte mich Rixxa, die davon gespro chen hatte, ganz in der Nähe des Anwesens zu sein und ich mich dar an machte, zu einem Ausstieg hochzuklettern. »Wir gehen von unten rein. An der Oberfläche ist es nicht nur für uns zu gefährlich, es wäre auch für Professor Mjorkosad mit unangenehmen Folgen verbunden, wenn man ausgerechnet mich zur Eingangstür hineinspazieren sähe.« Das leuchtete uns ein. Gute Kontakte waren wichtig. Man setzte weder sie noch das Leben anderer Menschen leichtfertig aufs Spiel. »Kommen wohl 'ne ganze Menge unerwünschter Besucher«, sponn Hilli sich ihre eigene Erklärung zurecht, »wenn's für sie 'nen Extraeingang gibt.«
Wie gut sich Rixxa unter den Straßen und Gebäuden der Stadt zu rechtfindet, grübelte ich und fühlte den Ansatz von Orientierungslosig keit. Sicher hat sie sich Details eingeprägt, die mir entgangen sind. 78
»Dort vorne ist es«, deutete Madame Sutterän mit dem Zeigefin ger auf eine Wand, die alles hatte, was man von ihr erwartete - nur eben keine Tür! Die Kundige spürte förmlich die Frage nach dem Fortkommen in der Luft liegen. »Macht euch drauf gefasst, noch eine Etage tiefer zu steigen. Und bleibt dicht hinter mir. Ihr könntet sonst in den sich anschließenden Gängen verloren gehen.« Ein seltsamer, blendender, dunkelblauer Lichtreflex riss eine Bo denluke aus dem Nichts. Noch vor einer Sekunde war sie nicht da ge wesen. Ich hätte sie nicht übersehen können, das war völlig unmög lich. »Ein fotoelektrisches Absorptionsfeld«, erriet Rixxa erneut die un ausgesprochene Frage. Dass sie es tat zeigte mir wenigstens, dass ich keine Halluzinationen hatte. »Darüber wird eine holografische Projekti on emittiert. Geratet ihr in den Abstrahlwinkel, verdeckt ihr die Projek tion und die Luke wird sichtbar.« Jenson Ohnegrim schüttelte staunend den Kopf. »Du bist nicht zufällig Doktorandin für angewandte Physik?« »Ich habe den Satz auswendig gelernt«, erwiderte sie launig. »Der Professor meinte, ich könnte ihn irgendwann verwenden. Er sagt, es gibt nichts im Leben, was man umsonst tut.« »Recht hat er«, ächzte Hilli, als sie den gusseisernen Deckel hoch zog und sich dabei auf den Hintern setzte, »denn was ich hier tue muss einen guten Grund haben, sonst würde ich es ja bleiben lassen.« Weibliche Logik ist auch eine Logik, dachte ich fröhlich. Mir war äußerst wohl zumute. Die Anstrengungen der vergangenen Tage schienen sich zu rentieren. Wenn Professor Mjorkosad das konnte, was Madame Sutterän ihm nachsagte, standen unsere Chancen an sich ganz gut, das gesteckte Ziel ohne die erwarteten unüberwindlichen Schwierigkeiten zu erreichen. Mit der Kundigen an unserer Seite sah ich den Sapukral bereits aus greifbarer Ferne locken. »Hat noch niemand die Täuschung durchschaut?«, kam ich noch einmal auf die Projektion zu sprechen und hangelte mich geschmeidig 79
als Vorletzter in die Lukenöffnung. Bis zum Kinn verschwand ich darin und schaute Rixxa erwartungsvoll an. »Dieser Schacht ist tot und wird nicht einmal mehr zu Wartungs arbeiten aufgesucht. Hierhin hat sich noch keiner verirrt. Außerdem ist er gegen mentale Abtastung isoliert.« Mein Haarschopf verschwand nun vollständig in dem Loch, kam aber sogleich wieder zum Vorschein. Madame Sutterän war schon in die Hocke gegangen, um mir hinterher zu klettern. »Was ist denn noch?«, erkundigte sie sich zuvorkommend. Sie bewahrte offenbar immer die Ruhe. »Nur mal angenommen, wir sind mental gescannt worden, dann hätten wir doch beim Eintritt in den abgesicherten Tunnel für einen Beobachter plötzlich spurlos versehwunden sein müssen.« »Das stimmt«, gab die Frau mit den Silberlocken zu. »Wenn man den genauen Punkt unseres Verschwindens also aus findig machen kann«, überlegte ich weiter, »müsste man direkt auf diesen toten Schacht stoßen.« »Mach dir keine Sorgen«, lächelte die Kundige mich an und beug te sich ein Stück zu mir runter. »Die prozentuale Wahrscheinlichkeit einer solchen Entdeckung liegt bei einer Null mit einem halben Dut zend Nullen hinter dem Komma. Der Professor hat's ausgerechnet.« Ich zog die Brauen zusammen und entspannte sie sogleich wieder. Mathematik war mir immer schon suspekt gewesen. Sie hatte so gar nichts Liebenswertes an sich, war einfach nur kalte Logik. Ich sah momentan auch keinen Grund, sie in mein Herz zu schließen. * Seine Denkstruktur war nicht darauf ausgerichtet, in einer Weise emo tional zu reagieren, wie es die Pahkahoota taten. Trotzdem ertappte sich Ibanissad-Vrita II dabei, Gefühle der Verachtung für diejenigen zu entwickeln, die sich erfolgreich den Zugriffen seiner Einsatztruppen zu entziehen vermochten. Er dachte darüber nach, ob es möglicherweise an seiner eigenen Vorgehensweise lag, ob er überhaupt befähigt war, die Jünger vom Weißblütendornbusch adäquat zu lenken. Das große 80
Manko seiner mentalen Sondierung lag in der unpräzisen Bestimmung. Tatsächlich fühlte er sich teilweise wie ein Blinder, der auf gut Glück aktiv wurde, der einen hellen Punkt auf dem Fahndungsraster Pospors erkannte, der sich auflöste und irgendwann - vielleicht Stunden oder sogar Tage später - erneut sichtbar wurde. Auch drängte sich ihm die Befürchtung auf, Opfer einer geschickten Täuschung geworden zu sein. In ihm regte sich etwas, das man durchaus als rudimentäres Ego hätte bezeichnen können. Er wusste, dass er kein Ego haben sollte und vermutete eine Fehlentwicklung bei seiner Zeugung und Aus scheidung. Andererseits verlieh ihm diese knospende Selbsterkenntnis die Fähigkeit, Dinge zu analysieren und zu bewerten. Sie versetzte ihn in den Status der Selbstwahrnehmung und erlaubte ihm, seine eigene Situation einzuschätzen und den Gegebenheiten gegenüber abzuwä gen. Einfach war es, sich den Emotionen hinzugeben, ja, sich ihnen in Ermangelung des richtigen Umgangs regelrecht auszuliefern. Hatte er die Empfindungen anfangs zu unterdrücken versucht, weil ihre Fremd artigkeit seinem Drang zu dienen entgegenlief und obendrein wider sprach, bemerkte er zu seinem Erstaunen - auch ein neues, sympa thisches Gefühl - dass absolut unerwartet das Gegenteil davon zu Tage trat. Der Erfolgsdruck, dem er sich aussetzte, führte unweigerlich zu progressiven Maßnahmen im Kampf gegen die Sapukralverleugner. Rückblickend betrachtete Ibanissad-Vrita II sein energisches Vorgehen beim Treusorgeamt als einen ersten, bedeutenden Schritt in eine voll kommen neue und effiziente Form der Überwachung und Kontrolle. Doch wollte er sich nicht einzig auf die Pahkahoota als Ausführungsor gane seines Willens verlassen. Seine eigenen geistigen Perspektiven mussten sich erweitern. Diese oberflächliche Fixierung der Delinquen ten stufte er als genetisches Hemmnis seines Vorgängers und Gebä rers Ibanissad-Vrita I ein. Davon musste er sich lösen und er war auf einem guten Weg in die Eigenständigkeit. Erfolg war der Schlüssel. Er führte unweigerlich zu Anerkennung und Achtung. Nicht die Hartnäckigkeit, mit der man einer Sache nach ging, war ausschlaggebend. Es war die Qualität der Nachforschungen. 81
Als Ibanissad-Vrita II den Weg der Flüchtenden aus dem Treusor geamt verfolgte, hatte ihn die Aussicht auf den erfolgreichen Abschluss der Observierung, die in Festnahme und Deportation münden würde, fast in euphorische Stimmung versetzt. Eingekesselt von drei aus un terschiedlichen Richtungen heranmarschierenden Heilsstifterzügen war ein Entkommen schlichtweg unmöglich gewesen. Trotzdem war diese Unmöglichkeit für ihn zur ernüchternden Realität geworden. Sein un terschwelliger Zorn kam jedoch nicht zum Ausbruch. Die Wellen der Erregung, die über seinen ausufernden Körper gerollt waren, versan deten. Nichts und niemand verschwand einfach. Auch wenn die Realität dieses billige Konstrukt aus beschränkten Wahr nehmungsmöglichkeiten - dehn- und formbar war, unterlag sie spezifi schen Gesetzmäßigkeiten. Diese konnte sich nicht nur die andere Par tei zunutze machen. Ibanissad-Vrita II hatte nur stets das Potenzial seines Wirkungsbereichs nicht ausgeschöpft, was er wiederum der minderwertigen Gensubstanz seines Erzeugers zuschrieb. Da war irgendwo ein Weg! Da musste irgendwo eine Spur sein! Seine mentale Ebene der Abtastung war nicht ausreichend, sie zu erkennen. Wenn er aber imstande sein sollte, das Level seiner Wahr nehmung zu verändern und eine höhere Stufe zu erreichen... Gleich einem diffusen Schleier wurde das Bild klar, zeigte ihm Ein zelheiten, die er vorher einfach nicht hatte sehen können. Seine Organe gerieten in Aufruhr! Hatte lediglich der Gedanke an die Erreichung einer höherwertigen Sondierungsqualität das vermeint liche Wunder bewirkt? Er war nicht so naiv anzunehmen, dass ihm nun alles in den Schoß fallen würde. Er spielte weiter mit seiner Wahrnehmung, erzeugte so gar diverse Filter in seinem Geist und war bald schon in der Lage, ei nem Flüchtenden überall hin zu folgen und ihn punktgenau festzuna geln. Auch die Fünf, an die sich sein spionierendes Auge geheftet hatte, machten keine Ausnahme. Nicht mehr lange, stieg prickelndes Glücks empfinden in Seiner hochinnigsten Unterwürfigkeit auf und er würde den energetischen Mustern, die er erfasste, Namen zuordnen können. 82
Jetzt wollte er allerdings erst mal der aufgenommenen Fährte wei ter folgen. Sie führte ihn zu einem verlassenen und gut getarnten Raum, in dem sich die Verfolgten niederließen. Innerhalb weniger Mi nuten hätten die Truppen zupacken können; der Raum befand sich praktisch vor ihrer Nase. Es war lächerlich. Trotzdem gab er den Heilsstiftern nicht das Signal. Ihm gefiel der Gedanke, nicht nur fünf, sondern zehn oder fünfzig Aufrührer aus dem Verkehr zu ziehen. Dazu wollte er warten, bis sich diese hier zu ihren Verbündeten in Bewegung setzten. Es war ein Spiel auf Zeit, denn es war nicht gesagt, dass sie es überhaupt taten oder zu einer größeren Gruppe gehörten. Doch das Warten war Bestandteil von IbanissadVritas neuer Konzeption, von seiner neuen Interpretation ultimativen Dienens. Nicht lange und die Gruppe verließ den kleinen Raum, begab sich auf eine Wanderschaft quer durch das Lüftungsstollensystem und lan dete in einem toten Schacht. Dann tat sich etwas auf und der Reihe nach verschwanden die Personen scheinbar im Nichts. Ein Gefühl tiefster Zufriedenheit breitete sich wohlig in Seiner hochinnigsten Unterwürfigkeit aus. Von jetzt an war es unmöglich, sich seiner Macht zu entziehen! * »Bleibt dicht beieinander und verliert mich nicht aus den Augen«, wie derholte Madame Sutterän ihren Appell, als wir uns vollzählig am Fuß des Abstiegs eingefunden hatten und damit gleichzeitig im nächsten Tunnelsystem gelandet waren. »Sind die Gänge denn so verwinkelt und labyrinthartig, dass wir voneinander getrennt werden könnten?« Ich sah mich um und erfasste mit einem nachlässigen Rundblick auf Anhieb einprägsame Muster und Verfärbungen an den Wänden, die es leicht machten, sich zu orientie ren. »Mehr als das«, entgegnete die Kundige und legte einen Ernst in ihre Stimme, den ich bei ihr nie vermutet hätte. »Du würdest für den Rest deines Lebens herumirren, ohne jemals den Ausgang zu finden.« 83
Sie trat nah an mich heran. »Für den Rest eines sehr kurzen Le bens...« »Sieht für mich aber auch nicht sonderlich verwirrend aus«, hall ten Hillis Worte aus einigen Metern Entfernung zu uns herüber. »Mit ein bisschen Verstand und Gedächtnispower kommst du hier leicht wieder raus.« »Du kommst jetzt langsam zu mir herüber...« Rixxa kontrollierte ihren Atem leidlich und geriet ins Stocken. »Was machst du denn jetzt für Stress? Es geht doch eh nur gera deaus...« »Du gehst keinen einzigen Schritt mehr weiter, sondern kommst sofort zu mir herüber!« Rixxa hatte leise, aber energisch gesprochen. Bei dieser Frau, die man nur als personifizierte Liebenswürdigkeit be zeichnen konnte, gebot der Ton doppelte Wachsamkeit. Auch ich schluckte gebannt; Gurg und Jenson hielten die Stellung links und rechts von Rixxa. Hilli trottete heran, sichtlich beleidigt über die Bevormundung. »Stell dich vor mich und dreh dich um«, verlangte die Silberlocki ge, legte eine Hand auf Hillis linke Schulter und wies mit dem anderen Arm über deren rechte Schulter hinweg voraus. »Siehst du die Markierung auf dem blanken Stein, Kind, dort, wo du gerade noch gestanden hast?« Das Mädchen kniff die Augen zusammen. Es war nicht übermäßig hell, doch hell genug, um sich zurechtzufinden. »Ich sehe nichts«, gab Hilli zu, strengte sich nochmals an und gab schließlich auf. »Ich kann beim besten Willen nichts erkennen.« Nacheinander wurden Gurg, Jenson und ich heran gerufen, um Rixxa unsere Beobachtungen mitzuteilen. Keiner von uns war auch nur ansatzweise in der Lage, die von Madame Sutterän angesprochene Markierung wahrzunehmen. »Ihr könnt also alle vier nichts sehen?«, wollte sie uns eine weite re Bestätigung abringen. Sie wartete allerdings dieses überflüssige Eingeständnis gar nicht ab. »Ich kann sie sehen. Sehr deutlich übrigens. Und weil das so ist, weil diese Gänge gespickt sind mit versteckten Hinweisen, die ihr nicht 84
sehen könnt, werdet ihr schön an meiner Seite bleiben.« Sie verstärkte die Wirkung ihrer Worte mit einer kleinen Pause, in der niemand zu sprechen wagte. »Habt ihr das wirklich und absolut begriffen?« »Logo«, sagte Hilli. »Kein Problem«, raunten Gurg Tomba und Jenson Ohnegrim im Duett. »Hmhm«, machte ich. »Ist das das Geheimnis dieses Labyrinths?«, gab ich mich dann doch mit dem bloßen Hinweis auf eine Gefahr nicht zufrieden und er wartete von Madame Sutterän zumindest eine winzige Erläuterung. »Kein Geheimnis, Shant. Ein teuflischer Mechanismus. Einige druckempfindliche Punkte in den Gängen aktivieren zusätzliche Tun nelschächte, die jedoch nur Irrläufer sind. Es gibt Verbindungsstücke, die höchst komplex aufgebaut sind, dir ein Vorwärtskommen suggerie ren und dich doch nur ständig im Kreis herumlaufen lassen. Wände, Böden und Decken verschieben sich nach einem festgelegten Muster, verschachteln sich, ohne dass du das Schema dahinter erkennen könn test. Dadurch entsteht ein vom Rest der unterirdischen Gänge abge schottetes System. Unter Umständen dauert es Tage, die Ausgangs konstellation wieder herzustellen. Viele haben diese Prozedur nicht überlebt.« »Wir... bl-bleiben... bei d-dir«, stotterte Jenson. Auch in mir hatte die Vorstellung leises Grausen ausgelöst. Wer dachte sich so etwas aus? Setzte die herrschende Staatsform derart grausige Maßstäbe, dass man zu solch drastischen Abwehrmitteln zu greifen gezwungen war? Vielleicht war es an der Zeit abzuwägen, ob ich mich noch auf der richtigen Seite befand. Vielleicht musste ich ja meinen eigenen Weg gehen. Die beiden, die man mir aufgezeigt hatte, waren bei nä herer Betrachtung gar nicht mehr so sehr voneinander zu unterschei den. Rixxa Sutterän hielt uns an einer imaginären Leine, so folgsam blieben wir die nächste halbe Stunde oder länger - wer wollte das schon genau sagen? - an ihr kleben, während die Kundige verbor genen Anhaltspunkten folgte, die sie, wie es aussah, teilweise selber 85
erst treffend deuten musste. Offenbar war die Kenntnis der Hinweise nicht gleichbedeutend mit deren sinnvoller Nutzung. »Bin schon riesig gespannt, was der Professor für 'n Typ ist«, brach Hilli irgendwann das Schweigen. »Er ist wie die meisten seiner Sorte«, antwortete Rixxa. »Akade misch steif, aber herzensgut.« Ungesehen von uns verdrehte die Siebzehnjährige die Augen, was sie wohl gerne tat, wenn ihr etwas nicht hundertprozentig in den Kram passte. »In ein paar Minuten hast du Gelegenheit, ihn genauestens unter die Lupe zu nehmen.« Hilli Garilli gähnte gekünstelt. »Wenn das nicht mein Glückstag ist...« * Die eigentliche Pforte zum Haus des Anta Mjorkosad konnte nur über ein Brückensegment betreten werden, das aus unergründlicher Tiefe hochfuhr und in das abgeschnittene Teilstück, an dessen Ende wir uns befanden, einrastete. Vierzig Meter etwa legten wir zurück bis zu ei nem Tor, das sich plötzlich von selbst öffnete, indem mehrere hinter einander liegende, gegeneinander versetzte Teilstücke nach links und rechts, oben und unten sowie diagonal auf glitten. Dahinter nahm uns eine schweigsame Person in Empfang, ein Mann, wie ich vermutete, der aber ebenso gut eine Frau hätte sein können. Die Gesichtszüge ließen beide Deutungen zu, der Körperbau auch. Wir wurden in einen hübsch eingerichteten Raum geführt, in dem es sechs Türen gab. Unsere ›Empfangsdame‹ gab uns mit Gesten zu verstehen, Geduld zu bewahren und ließ uns alleine. Unerwarteterweise dauerte es nicht einmal lange, bis der Profes sor uns aufsuchte. Er entschuldigte sich knapp für die Wartezeit und bat uns, ihm zu folgen. Durch einen hellen Korridor gelangten wir in die Praxis- und La borräume. 86
»Ihr habt Schwierigkeiten mit den Behörden«, brummelte Anta Mjorkosad vor sich hin. »Wir kommen wegen einer Operation«, stellte Rixxa richtig. Ich hatte Gelegenheit, den Professor eingehend zu mustern. Er war ein Mann mittleren Alters, der durch den dunklen Vollbart sicher älter wirkte, als er war. Sein Gesicht besaß eine längliche Form; das Kinn war ausgeprägt und eingekerbt. Die flinken Augen lagen tief in den Höhlen, wohingegen die Nase sich enorm hervorreckte. Auf ihrem Rücken befand sich ein Höcker. Der Mund entblößte eine Zahnreihe, die der Korrektur bedurft hätte, jedoch dem äußeren Eindruck dieses Mannes nicht zuwiderlief. Er war kein herausgeputzter Kauz, sondern lebte für seine Arbeit. Wenn er irgendetwas Schrulliges an den Tag zu legen gedachte - dabei kam mir das Klischee des zerstreuten und welt fremden Professors in den Sinn - musste man es ihm nachsehen. Schließlich waren wir hier, weil er etwas konnte, was vor ihm noch keinem gelungen war. »Zu alt«, antwortete Professor Mjorkosad eine Spur zu schnell. »Sie sind bereits zu alt für eine Operation. Für diese Operation...« Madame Sutterän ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Ihre Erwiderung war durchsetzt von der ihr angeborenen Ruhe und mitfüh lender Freundlichkeit. »Ich bin zu alt«, legte sie eine Hand auf ihre Brust. »Darüber hat ten wir schon gesprochen. Und ich habe es akzeptiert. Aber diese Pah kahoota hier haben lange nicht das dreißigste Lebensjahr erreicht; Hilli nicht einmal das zwanzigste.« »Ich will kein Risiko eingehen! Bei einer Person, die älter als zehn oder zwölf ist, kann ich die Verantwortung einfach nicht übernehmen.« Anta Mjorkosad hatte die Stimme erhoben, nicht so allerdings, dass man Wut oder Verärgerung darin zu erkennen vermochte. Vielmehr ein Gefühl von Angst. Versagensangst vielleicht. Rixxa hätte man ihre Enttäuschung kaum angemerkt, wenn sie nicht weiter gesprochen hätte. »Ich hatte mir den Besuch bei dir ein klein wenig anders vorge stellt...« Sie machte eine halbe Drehung nach links, dann eine nach 87
rechts und beäugte die Umgebung. »Du hast mich zu einer Bespre chung auch noch nie ins Labor gerufen.« In den Worten schwang die Aufforderung zur Erklärung mit. »Ich... bin nicht alleine«, rückte der Professor mit der Sprache heraus. »Der Vorraum war mir zu unsicher und in den Wohnräu men...« Er druckste herum. »Es sind einige Jünger und ein Sapukral geistlicher anwesend. Laschica, das Hausmädchen, bewirtet sie gera de. Doch ich kann die hohen Herren nicht lange sich selbst überlas sen.« »Du genießt höchstes Ansehen in Regierungskreisen«, formulierte Rixxa einen Einwand. »Sie werden schon nicht misstrauisch werden.« Das war genau der Punkt, der Mjorkosad zu schaffen machte. »Es hat eine Menge Veränderungen gegeben. Und es werden noch weitere folgen. Seine hochinnigste Unterwürfigkeit, so habe ich eben erst erfahren, beschreitet völlig neue Wege. Seine Geisteskräfte sollen sogar wesentlich ausgeprägter sein, als die von Ibanissad-Vrita I.« Madame Sutterän zuckte zusammen. Von derart beunruhigenden Neuigkeiten war ihr noch nichts zu Ohren gekommen. »Schade«, sagte sie nur. »Zumindest diesem ungewöhnlichen jungen Mann hätte ich es gewünscht, von dem Implantat befreit zu werden.« Sie blickte mich an und ein heller, liebevoller Schein legte sich auf ihre Züge. »Irgendwie habe ich einen Narren an ihm gefres sen...« »Ungewöhnlich...?«, erwachte nun doch spätes Interesse in Mjor kosad. »Was an ihm ist ungewöhnlich?« »Ach, er kann sich nicht an seine Herkunft erinnern. Glaubt, er wäre einfach so aufgetaucht, sozusagen vom Himmel gefallen...« Anta Mjorkosads flinke Pupillen stellten ihre unentwegte Bewe gung zumindest für ein, zwei Herzschläge ein. »Ich will ihn durchleuchten«, sagte er entschlossen. »Eine plötzliche Einkehr? Sagtest du vorhin nicht, dass...« »Ich weiß, was ich vorhin sagte. Jetzt sage ich: Ich will ihn durch leuchten.« Er ging hinüber zu einem Gerätebaum, der auf einem drei gliedrigen Standfuß platziert war, löste einige Verschraubungen und 88
klappte eine kreisrunde, konische Platte aus, auf die schwarzes Glas gespannt war. »Komm bitte zu mir rüber, Junge.« Ich warf Rixxa einen fragenden Blick zu, die auffordernd den Kopf in Richtung Mjorkosad bewegte. Hilli wies mit beiden Händen voraus und Gurg und Jenson erfreuten mich mit einem typischen Was-soll'sGesicht. Der Professor dirigierte mich hinter die Glasscheibe und betätigte verschiedene Kontrollen, legte kleine Schnapphebel um und verstellte ein paar Drehregler. Eine Folge satter Pieptöne erweckte die Apparatur zum Leben. »Ruhig stehen bleiben«, riet mir Mjorkosad und konzentrierte sich weiter auf seine Einstellungen. Meine drei Gefährten kamen neugierig näher; Rixxa Sutterän blieb im Hintergrund. Ein Summen ertönte und ich führte eine hastige Bewegung aus. »Ruhig bleiben, habe ich gesagt.« »Es hat gekribbelt. Ganz doll«, verteidigte ich mich. »Es hat dir nicht wehgetan, also brauchst du keinen solchen Tanz aufzuführen. Die Justierung muss sehr präzise ausgeführt werden.« »Ich war auf das Kribbeln nicht vorbereitet. Hätte ich damit ge rechnet...« Ich sprach den Satz nicht mehr zu Ende, denn der Professor hörte mir gar nicht zu. »Ich beginne jetzt die Durchleuchtungssequenz«, sagte Anta Mjorkosad. Die Worte galten nicht mir, sondern hatten den Charakter einer dokumentarischen Aufzeichnung. Wahrscheinlich kommentierte der Wissenschaftler alle seine Aktionen in ähnlicher Weise, um sie sich besser einprägen zu können. »Ich kann überhaupt nichts erkennen«, blaffte Hilli. Sie starrte mit abnehmendem Interesse auf die schwarze Fläche. Professor Mjorkosad sagte auch jetzt nichts, griff in einer mechanischen Bewegung nach einer Ablage und ertastete ein Brillengestell, auf das zwei Objektive gesteckt waren. »Ich werde nun versuchen, das infiltrierte Gewebe ausfindig zu machen.« Er verstellte ein Rädchen an seiner Brille, die anscheinend 89
Daten oder Bilder von der dunklen Projektionsfläche empfing, hinter der ich stand. Ohne dieses Hilfsmittel blieb der Schirm leer. »Das dauert ja ewig«, zog sich Hilli nach mehreren ereignislosen Minuten zurück und gesellte sich zu Madame Sutterän. »Gewöhnlich geht es ziemlich schnell«, wunderte sich auch die Kundige. Professor Mjorkosad war beileibe nicht zufrieden. »Ich starte in drei Sekunden den Tiefenscan«, leierte er und zähl te fast unhörbar bis null herunter. Wieder machte er neue Einstellun gen an dem Gerätebaum und seiner eigenwilligen Brillenkonstruktion. Zwei Minuten vergingen. »Erhöhe auf Stufe vier.« Gurg Tomba ging mit der Nase näher an den schwarzen Schirm heran, weil er einen minimalen Lichtreflex zu sehen geglaubt hatte. »Erhöhe auf Stufe sieben.« Waren das Schweißperlen auf Mjorkosads Stirn? »Alles okay, Prof?«, erkundigte sich Gurg und hielt etwas mehr Abstand. Sein Eindruck von flackernden Lichtpunkten verflüchtigte sich. »Erhöhe auf Maximum«, ignorierte der Professor die Frage des Jungen. Mir wurde ganz anders. Aus dem Kribbeln war ein Brennen ge worden, das meinen Brustkorb wie mit Millionen Nadelstichen erfüllte. Und das Brennen und Stechen entwickelte sich zu einem schmerzhaf ten Beißen. Noch presste ich die Zähne aufeinander, sagte mir, dass es zu meinem Besten wäre, die Prozedur über mich ergehen zu lassen und danach als freier Mensch weiterleben zu können. Lange jedoch, da war ich mir absolut sicher, würde ich die Tortur nicht mehr aushalten. »Aus!«, rief Anta Mjorkosad, riss sich die Brille vom Kopf und stell te das Durchleuchtungsgerät ab. »Ich habe genug gesehen!« »Du bist sehr aufgeregt«, ging Rixxa besorgt auf ihn zu. »Was ist geschehen? Eine Fehlfunktion?« Sie glaubte nicht wirklich daran und war auf die Ausführungen des Professors gespannt. 90
»Es ist so, wie ich dachte«, erklärte er hastig und kurzatmig. »Keine Möglichkeit, das Implantat zu entfernen.« »Sicher?«, fragte Rixxa. Irgendetwas machte sie stutzig. »Die Gewebestrukturen lassen sich nicht mehr voneinander tren nen. Alles verwachsen. In diesem Stadium der Symbiose wäre es das selbe, als wollte ich sein Gehirn entfernen. Sofortiger Exitus wäre die Folge.« »Der Herr bewahre uns!«, hob Madame Sutterän die Arme. »Las sen wir es dabei bewenden. Ich danke dir für deine Hilfsbereitschaft. Wir werden uns auf eigene Faust durchschlagen.« »Du und deine Freunde seid immer in meinem Haus willkommen.« Anta Mjorkosad rieb sich nervös die Hände, was nicht unbemerkt blieb. »Deine Gäste«, tat Rixxa, als wären ihr just in diesem Moment die unliebsamen Besucher aus dem Sapukralorden wieder eingefallen. »Du solltest sie nicht länger warten lassen.« »Dorm wird euch hinausgeleiten.« Der Geschlechtslose wartete bereits in dem an das Labor angren zenden Korridor. »Euch allen viel Erfolg«, verabschiedete sich der Professor und wandte sich zum Gehen. Am anderen Ende des Flurs musste er durch zwei angrenzende Räume und blieb vor der Doppeltür des Gesell schaftszimmers einige Augenblicke stehen. Bevor er eintrat und den Gesprächsfaden erneut aufnehmen konnte, wollte er erst - so gut es ging - seine Nervosität niederkämpfen. Sein Puls hatte sich nach den Messergebnissen immens beschleunigt und war nur wenig abgeklun gen. Bereits auf Stufe sieben hatte er gewusst, dass mit Shant etwas nicht stimmte. Die maximale Scantiefe hatte Mjorkosad als experi mentell erforderlichen, aber im Nachhinein überflüssigen Schritt gese hen, denn sie hatte am Ergebnis nichts mehr verändert: Der Junge namens Shant besaß kein Implantat! Auch gab es keine Spuren, das ein solches jemals bestanden hatte und operativ entfernt worden war. Shant war ein Phänomen, das es nicht geben durfte! Anta Mjorkosad atmete einige Male tief durch den Mund ein und durch die Nase wieder aus. Beherzt stieß er die Doppeltür auf... 91
*
Der getarnte Zugang zu der kleinen Wohnung von Madame Sutterän zerplatzte. Plastik- und Metallschrapnelle fauchten in glühenden Spu ren durch die Luft. Die Uniformierten drängten durch die entstandene Öffnung, sammelten sich zum Teil in dem Raum, während die meisten aus Platzmangel draußen in dem Lüftungsschacht blieben. Die Verständigung der Heilsstifter verlief nach außen hin ge räuschlos. Sie standen einige Momente regungslos zwischen den Schränken, dem Tisch, dem Sofa und den Hockern, als würden sie auf Anweisungen warten. Dann, auf einen geheimen Impuls hin, wurden sie wieder lebendig, rissen Bücher, Bilder und Schmuckaccessoires aus den Regalen, zertrümmerten mit bloßen Händen das Mobiliar und zer störten alles, was sich mit reiner Körperkraft zerstören ließ. Nach ge taner Arbeit zogen sie sich zurück. Zwei Soldaten stellten sich in den aufgesprengten Eingang und feuerten ihre großkalibrigen Detonations projektilwaffen wahllos in die Wohnung ab. Die Sprengkraft war nicht so groß, dass sie die Außenwände des Lüftungssystems angriff. Sie reichte jedoch vollkommen aus, die zerschmetterten Ein richtungsgegenstände noch weiter zu zerfetzen und nur kleinste, rau chende Bestandteile zurückzulassen. RATTENNEST AUSGERÄUCHERT. ZIELOBJEKTE NICHT ANWE SEND, meldete sich der Anführer des Trupps in lautloser Kommunika tion bei Seiner hochinnigsten Unterwürfigkeit. Da nicht augenblicklich eine neue Anweisung erfolgte, wiederholte der Kommandant seine Meldung. FINDET EUCH IN DER BASIS EIN UND ERWARTET NEUE IN STRUKTIONEN, ließ Ibanissad-Vrita II seine Untergebenen wissen. Der Zug rückte ab. Ibanissad-Vrita II verschob seinen ausufernden Leib in der Saft wanne. Am Rande bereitete ihm das Auslaufen und Aufquellen seines Körpers Sorge, denn er wusste, dass dies nicht zum gewohnten Pro zess seiner Entwicklung gehörte. Ob es mit den neu erworbenen Fä higkeiten zusammenhing oder - wie er bereits vermutet hatte - mit 92
dem genetisch nicht einwandfreien Material seines Vorgängers, wollte er rückblickend zu einem späteren Zeitpunkt beurteilen. Er spielte ein paar Möglichkeiten neuer Kontrollfunktionen in sei nem Geist durch und war mit seinem Teilerfolg nicht gerade zufrieden, aber doch einverstanden. Generell stimmte die Richtung. Es war ledig lich eine Frage der Zeit, bis ihm sämtliche Widersacher der Sapukra lordnung ins Netz gingen. Schon begann er mit einer neuen Obser vierung und schaltete die mentalen Beobachtungsfilter der Reihe nach durch. Wenn er sich das nächste Mal bei Gott Sapukral meldete, würde seine Botschaft eine gänzlich neue Qualität besitzen! * Fast hätte es uns erwischt! So, wie die unterirdische Pforte zum Haus des Professors beim Eintritt gesichert war, war sie es auch beim Verlassen. Hilli Garilli hatte sich in jugendlicher Selbstüberschätzung einige Schritte von unserer Gruppe entfernt, war einfach ein Stück zurück geblieben und in einen Seitenarm des Stollenlabyrinths gegangen. Madame Sutterän bemerkte, wie sich eins der für uns unsichtba ren Zeichen am Boden und den Wänden veränderte und damit auf eine Umformung der Gänge hindeutete. Innerhalb einer Sekunde er fasste sie die Lage, als sie sich zu uns umdrehte und Hillis Fehlen be merkte. »Lasst mich durch!«, drängte sie sich in Windeseile an uns vorbei zur nächsten Abzweigung und traf sofort auf Hilli, die gar nicht be merkte, dass die Wände und Decken sich um sie herum verschoben. Rixxa ergriff sie unsanft an einem Arm und zerrte sie durch den sich verschließenden Schacht, zerrte sie immer weiter und gab uns das Kommando zum Rennen. »Vorwärts! Vorwärts!«, schrie sie uns an, ließ Hilli los, die ganz von selbst weiter rannte und dirigierte uns links um die nächste Kurve, hinter der sich plötzlich Barrikaden zusammen schoben. 93
»Springt durch das Loch! Sofort!«, half uns Rixxa nachhaltig auf die Sprünge. Noch konnten wir die Öffnung passieren, doch mit jeder verstreichenden Sekunde wurde sie kleiner, schoben sich aus vier Richtungen die Trennelemente aufeinander zu. Die Kundige lotste Hilli an sich vorbei und kletterte als letzte durch das Loch. Fünfzehn Sekunden später hatte es sich vollständig ge schlossen. »Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte Madame Sutterän streng. »Glaubst du, ich gebe die Anweisungen nur zum Spaß?« »Nein«, murrte die Siebzehnjährige. »Weiß auch nicht, was in mich gefahren ist.« Sie senkte den Kopf und wirkte mit einem Mal un gewohnt hilflos. »Sei bitte in Zukunft vorsichtiger«, kritisierte nun auch Jenson, der die Entscheidungen ansonsten Hilli überließ. »Wenigstens dann, wenn unser aller Leben davon abhängt.« Das Mädchen hob den Kopf und schenkte ihm einen Blick, der sa gen wollte: ›Und mein Leben? Ist euch das egal?‹ »Du hast dich unverantwortlich verhalten«, schimpfte Gurg Tom ba. »Wir hatten tot sein können!« Hilli schwieg. Und sie sagte auch nichts mehr, als wir durch die Seitenstraßen von Pospor gingen und uns der Peripherie der Metropole näherten. * »Hier trennen sich unsere Wege. Von nun an seid ihr auf euch selbst gestellt.« Ich traute meinen Ohren nicht und blickte Rixxa Sutterän ver ständnislos an. Auch wenn ich insgeheim mit einer solchen Eröffnung gerechnet hatte, kam sie in einem unerwarteten Moment. Madame Sutterän lächelte uns an und es war ein ehrliches Lä cheln, hinter dem sich der Kummer jedoch nur unzureichend zu ver bergen wusste. »Ich werde in der Stadt gebraucht«, fuhr sie fort, »es gibt viele wie euch, die der Hilfe bedürfen. Außerdem darf ich in meinem Bemü 94
hen nicht nachlassen, die Wahrheit über den Sapukral ans Tageslicht zu bringen und Anhänger für die gute Sache zu suchen.« »Aber genau das wollen wir auch!«, begehrte Hilli auf. »Du kennst unser Ziel! Wo wir hingehen, kannst du unglaublich viel mehr ausrich ten, als von unterhalb Pospors!« »Das könnte ich bestimmt«, erwiderte die Kundige, »doch ich würde die, die meiner bedürfen, im Stich lassen. Meine Devise ist nicht, dass der Zweck die Mittel heiligt. Ich trage Verantwortung für den Zirkel, der im Untergrund operiert und nicht müde wird, das herr schende System auszuhöhlen und das Fundament, auf dem es steht, bröckeln zu lassen. Wisst ihr, was ich meine...?« Hilli Garilli zögerte lange. »Du bist eine große Frau. Und dir bedeuten Treue und Ehre et was.« Wir schlossen uns dieser Meinung an, verabschiedeten uns jeweils mit einer Umarmung und wollten sie dennoch nicht ziehen lassen. »Soll ich euch den Weg noch einmal erklären?«, erkundigte sie sich. »Wenn ihr Fragen habt, ist dies eure letzte Gelegenheit, sie zu stellen.« »Nein«, ergriff ich das Wort. »Mit deiner Beschreibung kommen wir bestens klar. Der Weg ist nur recht beschwerlich.« »Mehrere Tagesmärsche vorbei an den Hauptverkehrsstraßen«, murmelte Gurg Tomba düster. »Versteckt halten und Pflanzen und Gräser essen. Da wird einem richtig warm ums Herz.« »Der Durchgang in eine der verbotenen Welten liegt auf der Route der Gerembba«, erinnerte uns Rixxa. »Geht den Japuuragen aus dem Weg. Wenn sie Pollen tragen, sind sie unausstehlich.« »Wie werden wir die Fährte des Sapukral aufnehmen können?«, hakte ich noch einmal nach. Dieser Punkt war meiner Ansicht nach zu kurz gekommen und für den erfolgreichen Abschluss meiner Mission am wichtigsten. Ich wusste, dass von ihrer Erfüllung eine Menge ab hing. Nur was das war, darauf fand ich in meinem Gedächtnis keinen Hinweis. »Vergesst nicht, dass die verbotenen Welten miteinander vernetzt sind. So viel konnten der Professor und meine anderen Mitstreiter aus 95
findig machen. Arkelad ist dabei der Planet mit dem höchsten zivilisa torischen Standard. Ich selbst habe Dimensionen bereist, die öde, fins ter und leer waren und nur vom Ausschuss der Schöpfung besiedelt wurden.« »Aber wie finden wir die anderen Zugänge? Wir könnten jahrelang herumirren, ohne sie zu entdecken.« Madame Sutterän gab uns eine Antwort, die genau das Gegenteil von dem bewirkte, was wir uns vorgestellt hatten: sie raubte uns den letzten Mut. »Wenn der Übergang gefunden werden soll, dann werdet ihr ihn auch finden. Dann ist dies euer Schicksal.« Sie hob bedächtig die Hand zum Gruß und dieser Abschied war nun endgültig. »Der Weg«, rief ich ihr hinterher. »Wie gelangen wir auf den rich tigen Weg?« »Ihr seid dabei, ihn zu beschreiten«, sagte Rixxa Sutterän vieldeu tig. »So oder so: Er wird euch zum Ziel führen...« Mehr würden wir nicht erfahren, das war uns klar. Die Kundige drehte sich nicht mehr zu uns um und war Minuten später, die wir ihr noch hinter hergesehen hatten, zwischen den Häu sern Pospors verschwunden. Für uns begann ein elendes, langwieriges Versteckspiel. Rixxa hat te uns nahe gelegt, öffentliche Plätze und Verkehrsmittel zu meiden. Die neuen Fähigkeiten Seiner hochinnigsten Unterwürfigkeit hatten ihr ein wenig Kopfzerbrechen bereitet. Inwiefern seine Geisteskräfte an gewachsen waren, ließ sich nicht einmal annähernd sagen. Vorsicht war also in jedem Fall geboten, denn es bestand der dringende Ver dacht, dass er mittlerweile ganz gezielt vorgehen konnte und diejeni gen, die er suchte, punktgenau zu bestimmen wusste. Der Aufstand im Treusorgeamt war nur ein kleiner Vorgeschmack gewesen. So hatte sich Madame Sutterän zumindest ausgedrückt. »In einer Stunde wird's dunkel«, meinte Jenson Ohnegrim. »Ist doch toll«, reckte Hilli die Arme in die Höhe. »Schlafen unter freiem Himmel. Natur pur.« Ich teilte ihre Begeisterung nicht ganz. 96
»Was ist mit essen und trinken?« »Furchtbar seid ihr! Könnt einfach nur diesen schönen Augenblick kaputt machen!« »Jetzt sag doch mal!«, wurde Gurg patzig. Sein Respekt vor ihrer stillschweigend geduldeten Anführerin hatte scheinbar erste Risse be kommen. »Auf dem Land gibt es Bauernhöfe. Dort finden wir Nahrung. Viel leicht auch ein schönes Bett im Heu.« »Weißt du denn, wo so ein Hof ist?« »Plärre nicht, Shant, sondern pfeif ein Lied. Dann ist der Rest ein Kinderspiel.« Hilli Garilli war wieder ganz die alte. Und weil das so war, fing ich tatsächlich an, eine Melodie zu summen. Nicht lange und ich pfiff frohgemut drauflos. Meine immer besser werdende Laune wirkte ansteckend. Gurg und Jenson stimmten in das Flöten mit ein und Hilli gab einen leisen Gesang zum Besten. Kameradschaftlich vereint gingen wir dem Sonnenuntergang ent gegen. * Die Nacht war bereits fortgeschritten und der Morgen in nicht allzu weiter Ferne, als Madame Sutterän das subterrane Lüftungsstollensys tem verließ und in einer Seitenstraße an die Oberfläche zurückkehrte. Etwas war nicht in Ordnung, das spürte sie deutlich. Ihre außer sinnliche Wahrnehmung schien sie auf gewisse Abweichungen auf merksam machen zu wollen, Abweichungen, die das energetische Re sonanzfeld betrafen, in dem sich die Gedanken und Stimmungen aller Lebewesen widerspiegelten. Dieses Ungleichgewicht - ihr fiel keine bessere Interpretation ihrer Sinneseindrücke ein - verlagerte sich in eine Richtung, die sie alarmiert hatte. Je näher sie ihrer Wohnung gekommen war, desto mehr hatte sich diese Empfindung verstärkt. Sie haben mich gefunden!, hämmerte die Erkenntnis von da an permanent in ihrem Kopf und blieb selbst dann noch als beunruhigen 97
de Hintergrundschwingung, als sie den Vorgang bereits verdaut glaub te. Lange, sehr lange hatte sich Rixxa vor den Häschern des Sapukra lordens versteckt halten können, dass sie fast schon der Annahme gewesen war, man hätte sie als zu gering eingestuft, um weiterhin nach ihr zu fahnden. Zwischenzeitlich waren diese Gedanken immer mal wieder akut geworden, doch in ihrer Vorsicht war die Kundige nie mals nachlässig geworden. Ihre Intuition war stets ein besserer Bera ter gewesen als ihre Logik. Für diese Nacht würde sie sich wohl ein anderes Quartier suchen. Zuerst kam ihr die Idee, irgendwo im Freien zu übernachten, dann besann sie sich und machte sich auf den Weg zu Professor Anta Mjor kosad. Erneut verschwand sie unter der Erde, durchlief dieselbe Proze dur wie am gestrigen Tag mit Hilli Shant und Freunden. Nachdem das Hauptschott sich hinter Rixxa Sutterän geschlossen hatte, stand sie im Dunkeln. Diesmal trat Dorm, der Mann und Frau in einem zu sein schien ihr nicht entgegen.
Er wird schlafen. Ich habe ja auch eine schlechte Zeit für meinen Besuch ausgewählt. Die Kundige dachte darüber nach, ob sie sich bemerkbar machen sollte, beließ es jedoch dabei, sich auf leisen Sohlen in den Empfangs raum zu begeben und dort auf einem Stuhl niederzulassen. Sie würde nicht gerade angenehm schlafen, aber immerhin würde sie schlafen. Tief, fest und erholsam war ihre Nachtruhe. Im Traum hatte sie Shant gesehen, der mit Hilli, Gurg und Jenson über sonnige Wiesen marschierte, dem Wanderweg der Nomaden folgte und sich rasch sei nem Ziel näherte. Es war ein schöner Traum gewesen, denn in ihm hatte es keine Furcht und keine Gewalt gegeben, sondern nur Friede und Fröhlichkeit. Madame Sutterän erwachte und verzog bei dem Stich in der Seite gleich das Gesicht. Im Schlaf hatte sie das Gewicht auf eine Stelle ih res Körpers verlagert und genau diese Stelle machte nun unmissver ständlich auf sich aufmerksam. Sie gähnte und öffnete erst danach die Augen. 98
Bevor sie noch erfassen konnte, wer die Leute um sie herum wa ren, traf sie ein Schockerstrahl und setzte sie außer Gefecht. Nein, bitte, nein! Ihrem schwindenden Bewusstsein prägten sich als dominierende Wahrnehmungen die Uniformen der Heilsstifter ein, auf denen das Zeichen der Sapukralkirche prangte. Grob wurde sie hoch gezerrt. Wieso hatte man gewartet, bis sie aufgewacht war und sie nicht im Schlaf überwältigt? Sie kämpfte gegen die Betäubung an, die die Konzentration auf die Beantwortung dieser Frage kaum mehr zuließ. Der Professor! Mjorkosad! Er stand hinter den Soldaten, dass sie ihn fast übersehen hätte. Seine Augen! Was war das nur in seinen Augen? Für Rixxa spiegelten sich darin die Angst und die Sorge um das Wohlergehen einer guten Freundin wider. Vielleicht auch die Sorge um die eigene Zukunft. Wie wollte Mjorkosad ihre Anwesenheit in seinem Haus erklären? Die Regierungskräfte würden den geheimen Zugang finden. In dem Fall würde keine Reputation auf der ganzen Welt den Professor vor der Verschleppung retten. In dem Bewusstsein, die Untergrundbewegung leichtfertig ans Messer geliefert zu haben, wurde Madame Sutterän ohnmächtig. * Ibanissad-Vrita II, Seine hochinnigste Unterwürfigkeit, war Oberhaupt der Jünger vom Weißblütendornbusch und ihrer Untergebenen, Inha ber und Anwender der exekutiven, der legislativen und der judikativen Gewalt, direkter Befehlsempfänger des allerheiligsten Sapukral - und im Grunde genommen ein ebensolcher Mythos. Niemand kannte sei nen Aufenthaltsort. Niemand konnte von seinem Äußeren berichten. Jeder kannte ihn. Und jeder hatte die Erbschaftsfolge mitbekommen und damit vom Dahinscheiden des 1. Ibanissad-Vrita gehört. Ich hatte eine Menge gelernt in jener Zeit, die ich mit meinen neuen Freunden und auch mit Rixxa Sutterän hatte verbringen dürfen. Ich hatte mir Wissen angeeignet, das ich eigentlich selbst hätte besit 99
zen müssen und unweigerlich - warum nur jetzt erst? - empfand ich keine so starke Abneigung gegen Hillis Vermutung, ich könnte unter Gedächtnisschwund leiden. Konnte ich das ausschließen? War mein vehementes Abstreiten dieser Möglichkeit nicht lediglich ein Einges tändnis, wenig oder gar keine Ahnung von meinem Zustand zu haben? Ich verließ die Scheune des Bauernhofes, den wir nach stunden langer Wanderung erspäht hatten und trat in den jungen, frischen Morgen hinaus. Viele Kilometer lag Pospor bereits hinter uns. Kühle Luft umfing mich und ich schloss entspannt die Augen, um den kostbaren und unverbrauchten Sauerstoff einzuatmen und seinen Geschmack zu speichern. Ein wunderschöner Einklang herrschte zwi schen mir und Mutter Natur vor, den ich in der Stadt nicht empfunden hatte, den man in der Stadt gar nicht empfinden konnte. »Du fühlst die Schönheit des Tages auch, nicht wahr?« Hilli war an mich herangetreten, legte den Kopf in den Nacken, ließ ihn vorsichtig kreisen und schaute anschließend in die Ferne. »Ein grenzenloses Gefühl von Freiheit«, erwiderte ich. »Alles um einen herum wird unwichtig...« Wir sahen uns nicht an, sondern standen gleich nebeneinander, die Augen zum Horizont gerichtet. Ein stilles Einvernehmen lag zwi schen uns, die zarte Berührung zweier verwandter Seelen. Wie viel Zeit vergangen war, die wir uns einträchtig unseren Ein drücken der Natur hingegeben hatten, bis Gurg und Jenson herange schlurft kamen, konnten wir nicht sagen. Eine Minute oder mehrere Stunden - was machte das schon aus? »Besser, Hilli, wir verkrümeln uns bald«, brach Gurgs Stimme in unser Schweigen. »Im Haupthaus sehe ich Licht.« »Ja«, löste sich Hilli aus unserer gemeinsamen Aura. »Du hast Recht. Packen wir etwas Obst zusammen und verduften.« Ich erntete einen eigentümlichen Blick von Jenson Ohnegrim, der aber wahrscheinlich selbst nicht wusste, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Vielleicht nahm er Anstoß daran, dass ich mich alleine in Hillis Nähe aufhielt. Ich hoffte inständig, kein Rivalitätsgebahren ausgelöst zu haben, zumal mir nicht aufgefallen war, dass innerhalb der Gruppe irgendwelche Begehrlichkeiten geweckt worden wären. 100
Sechs Tage marschierten wir tapfer durch Wald und Flur, stibitz ten hier ein wenig und ließen auch dort immer eine Kleinigkeit mitge hen. Ebenso trafen wir ein Mal auf Pahkahoota, die uns Essen und Unterkunft für eine Nacht boten. Meistens jedoch schliefen wir unter freiem Himmel. Wir rasteten selten und wollten uns nur so kurz wie eben möglich an einem Ort aufhalten. Gegen Mittag des sechsten Tages sah ich die riesigen Silhouetten weit voraus, wie sie sich fast schwarz vor dem Antlitz der Sonne ab zeichneten. »Japuuragen«, stellte Jenson trocken fest. »Wir sind auf der Rou te der Nomaden.« * Gemäß Rixxa Sutteräns Mahnung hielten wir Abstand zu den Japuura gen. Ich ließ es mir trotzdem nicht nehmen, diese gewaltige Raupenart aus relativer Nähe zu betrachten. Die Körpersegmente waren nicht sehr tief eingeschnitten. Die kontrahierenden Bewegungen waren trotz des eher abstoßenden Äußeren des Mammutinsekts voller Anmut. Man musste schon einige Pahkahoota aufeinander stellen, um bis zu dem kugeligen Kopf hochreichen zu können, der mit stumpfen, schwarzen Ausbeulungen besetzt war. Es konnte sich um Sehorgane handeln oder auch verkümmerte Tastfühler. Am interessantesten war allerdings das grobe Schuppenmuster, das ich jetzt eingehender unter die Lupe nahm und nach diesen Pollen Ausschau hielt, die sich darin verfangen haben sollten. Meine drei Freunde hatten mir erklärt, dass es eine Pflanzenart gab, einen Kelchblüher, der seine Samen trompetenartig ausstieß. Vorzugsweise wuchsen sie weit um den Rand der Nomaden route. Die Raupen nahmen die Samen auf, die gleichzeitig einen Ge ruch ausströmten, der lästige Kleininsekten fern hielt. Während der Wanderung der Raupen reiften die Samen heran und wenn diese eine bestimmte Größe erreicht hatten, fielen sie aus der Schuppenhaut her ab und reuten am Boden weiter. Die Minikokons rollten selbsttätig ganz langsam zum Rand des Weges, prägten kleinste Wurzeln aus, um sich aus dem Boden mit Nährstoffen und Wasser zu versorgen. Weite 101
re Energie erhielten sie durch Sonneneinstrahlung. War der Reifepro zess beendet, brach der Kokon auf und ein junger Gerembba schälte sich daraus hervor. Oftmals warteten sie, bis sie zu mehreren waren, um gemeinsam die Route der Nomaden zu beschreiten. Ich war äußerst fasziniert von der Vorstellung, dass die Nomaden demnach pflanzlichen Ursprungs waren. Sie waren menschenähnliche Ableger des Kelchblühers, der durch seine außergewöhnliche Art der Bestäubung dafür sorgte, immer und überall auf Arkelad vertreten zu sein. Seine parasitäre Ausbreitung fand jedoch nur entlang der Route der Nomaden statt und die Lebensspanne der Gerembba lag weit un terhalb der Lebenserwartung eines Pahkahoota. All dies wusste ich nun. Meine Hochachtung vor der Weisheit der Natur erhielt einen ordentlichen Schub. »Sehen wir zu, dass wir auf die gegenüberliegende Seite kom men«, wies Hilli voraus. »Wenn ich richtig verstanden habe, was Rixxa gesagt hat, befindet sich der Übergang irgendwo dort.« »Werden die Dimensionsbrücken nicht bewacht?«, machte Gurg Tomba einen Einwand. »Kann schon sein, dass sich ein paar Jünger hier herumtreiben«, murmelte Hilli. »Haltet also die Augen offen.« »Klarer Fall«, bestätigte ich heiter. »Du hast einen fast unerschütterlichen Gleichmut«, meinte Jen son. »Weißt du das?« Ich tat verwundert. »Die Natur ist so voller Schönheit und großer Wunder - wer würde da schlechte Gedanken haben?« »Dann schnapp dir doch einen Japuuragen als Haustier. Aber erst, wenn wir wieder zurück sind.« Darauf hoffte ich stark, wurde ich melancholisch. Wieder nach Ar kelad zurückkehren zu können. Oder dorthin, von wo ich gekommen war. Die Hindernisse, die sich uns entgegenstellen würden, mochten die Kraft eines Menschen übersteigen. War auch das Gefühl für den Erfolg ebenso nachhaltig verankert wie meine Missionsparameter, fühl te ich doch den Zweifel in mir angesichts der Größe der Aufgabe. 102
Weit brauchten wir nicht mehr zu laufen, nachdem wir die Noma denroute, die sich wie ein Gürtel um Arkelad wand, überquert hatten. »Das ist es!«, war sich Jenson Ohnegrim sicher. »Das Abenteuer kann beginnen.« Ob er die Situation wirklich so optimistisch einschätzte, wie er ge rade tat, stellte ich infrage. Mitten in die Landschaft schien der Pinsel eines Malers einen hel len Klecks gemacht zu haben, der zwar unregelmäßig zu den Rändern auslief, insgesamt jedoch Kreisform besaß. Losgelöst von den natürli chen Gegebenheiten schien er einerseits irgendwie aus dem Erdboden herauszuragen, andererseits schwebte er darüber, drehte sich ge mächlich wie eine Windrose bei flauer Luft und ließ die ausgefransten Klecksränder Spuren ziehen, die sich schnell wieder auflösten. »Keine Menschenseele in der Nähe«, sagte Hilli und lugte weiter hin über das Gebüsch hinweg, das den lichten Hain, durch den wir gegangen waren, nach außen hin abschloss. »Mir nach, Jungs.« »Da gehe ich nicht rein!«, protestierte Gurg Tomba, stand auf und verschränkte die Arme. »Dann bleib eben hier!« Hilli Garilli sprang federnd auf und lief aus dem Wäldchen. Jenson und ich folgten ihr dichtauf. Gurg beobachtete uns für fünf Sekunden. Dann warf er auch schon seinen Entschluss, an dem er eisern hatte festhalten wollen, über Bord. * Das Dchetto - die Dimensionsbrücke - lockte mit nie gesehenen Myste rien und würde uns in eine Welt entführen, die so ganz anders war als Arkelad. Aus Rixxa Sutteräns Beschreibungen hatten wir uns alles Mögliche ausgemalt, nicht nur Schönes, aber immerhin Fremdes. Und das galt es zu erforschen. Ich glaubte, dass dies auch die Triebfeder meiner Begleiter war, die einfach nur raus wollten aus ihrem grauen, nichts sagenden Alltag, der voll war von Routine und Altbekanntem 103
und dem sie nach Jahren des Dahinvegetierens keine neue Seite mehr abgewinnen konnten. Mich trieb die Mission an, dieser rätselhafte Auftrag, der mir ge läufiger war als mein Name. So konnte es gut sein, dass die in Reichweite geratene Erfüllung unserer Ziele und Sehnsüchte uns hatte unvorsichtig werden und ü bersehen lassen, wie ideal das freie Feld, über das wir dem Dchetto entgegenjagten, für einen Angriff war. Aus den Augenwinkeln sah ich die Bewegung und den hellen Re flex oberhalb des Felsgürtels, der sich an unseren Hain anschloss und einige Hundert Meter weiter auf einer bewaldeten Anhöhe weit hinter dem Dimensionstor endete. Sekundenbruchteile darauf stürmte ein Tross Uniformierter mit Sapukralkennung auf der Brust über die steinige Barriere hinweg und eröffnete ohne Warnung das Feuer. Hilli, die vorneweg lief, wurde von den Schussgeräuschen abge lenkt, wurde langsamer und wollte bereits stehen bleiben. »Renn weiter! Um Himmels willen! Renn doch weiter!« Ich legte das ganze Entsetzen, das ich auszudrücken fähig war, in meinen Schrei. Und Hilli rannte tatsächlich weiter, immer das Dchetto im Auge, das zum Greifen nahe war. Ein paar Meter hinter mir wusste ich Jenson Ohnegrim; sein Keu chen übertönte selbst das schrille Surren der Schockergewehre. Nicht nach links und rechts sehen!, trichterte ich mir ein. Nur ge
radeaus!
Wir hatten keine Zeit, den Übergang zu testen, uns langsam vor zutasten und eventuell doch vom Durchschreiten Abstand zu nehmen. Was uns bevorstand, war der sprichwörtliche Sprung ins kalte Wasser. Ob und wie wir ihn überstanden, blieb abzuwarten. Ein langer, gequälter Schrei durchbrach die Schranken, die das Pochen in meinen Schläfen errichtet hatte. Ein Schrei, der mir erst mit einiger Verzögerung sagte, dass Gurg Tomba es nicht schaffen würde. Mein Gott! Wir hatten ihn vergessen, waren der Annahme gewe sen, dass er bluffte, als er sich weigerte, uns zu folgen und auch 104
wahrhaftig so lange gewartet hatte, bis ein größerer Abstand zwischen ihm und uns dreien entstanden war. Hilli hechtete mit einem tollkühnen Sprung ins Dchetto. Ich ver drehte im Lauf den Kopf so weit, dass ich einen Blick auf Gurg werfen konnte, der zu Boden gestürzt war und nur noch abgehackte, zackige Bewegungen mit den Armen vollführen konnte. Jenson setzte ebenfalls zum Hechtsprung an und riss mich zwangsläufig mit sich, bevor uns doch noch ein Paralysestrahl treffen konnte, denen wir trotz des Hinterhalts wie durch ein Wunder bisher entgangen waren. Nebel umfing uns. Und Kälte. Und etwas, das wie Nieselregen auf die Haut einstach. Schnell rafften wir uns auf und verständigten uns kurz. »Laufen wir weiter!«, wollte ich mich schon in Bewegung setzen, doch Jenson, der Hillis Miene richtig gedeutet hatte, hielt mich am Arm zurück. »Warte noch«, sagte er. »Wir sollten nicht blindlings umher rennen«, brachte uns die Sieb zehnjährige ihre Sicht näher. »Rixxa hat auf die Gefahren hingewiesen. Wir müssen gut auf uns Acht geben.« »Die Heilsstifter werden uns folgen!«, gab ich aufgeregt zu be denken und zerrte meinen Arm aus Jensons leichtem Griff. »Die Heilsstifter sind für Arkelad zuständig. In den Dchettos haben sie nichts verloren.« »Lasst uns jetzt trotzdem weitergehen. Wir sind nicht weit genug vom Ausgang entfernt. Der eigentliche Übergang hat noch nicht statt gefunden.« Diesem Argument von meiner Seite konnte Hilli sich nicht ver schließen. Wir nahmen uns an den Händen und gingen zügig weiter. Von Verfolgern merkten wir nichts. Aber in dem eigenartigen Ne bel schien man sich auf seine Sinne sowieso nicht verlassen zu kön nen. Die Kälte nahm noch zu und Wind kam auf. Der Regen entwickel te sich zu einem riesigen Nadelkissen, das uns fortwährend mal trätierte. 105
Kühle Böen fegten durch die Quellwolken kondensierten Wassers, erzeugten sich aufblähende Schwadengebilde und verstellten uns die Sicht. Der Wind schnitt uns ins Gesicht, sodass wir uns abwendeten und mit dem Kopf nach unten voranschritten. Dabei suchten wir stän dig die Hand unseres Vordermanns, um auf Biegen und Brechen nicht voneinander getrennt zu werden. Ich dachte zurück an Gurg Tomba und daran, was ihm nun wider fahren würde. Was würden die Häscher des Sapukral mit ihm anstel len? War er für sie überhaupt von Wert oder ein sicherer Kandidat für die Deportation? Auch Rixxa kam mir in den Sinn und dass ich sie in dieser Situati on liebend gerne bei mir gehabt hätte. In ihrem Beisein wäre alles halb so schlimm gewesen. Ein geflüstertes Zischen fuhr mir zusätzlich zu dem kalten Wind durch die Glieder. »Habt ihr das auch gehört?«, fragte ich laut. »Was denn?«, erhielt ich ebenso laut Hillis Erwiderung. »Ein Zischlaut! Oder mehrere! Fast wie richtige Worte!« »Guuut Mnschn! Aaarrkeelaaad!« »Ich hab's auch gehört!« Jenson Ohnegrim hieb mir zur Verdeutli chung auf den Unterarm. »Von wo kam das?«, drehte Hilli sich zu uns um und wir steckten die Köpfe zusammen. »Wenn ich das wüsste. Wie willste denn hier was erkennen?« »Die können uns doch auch sehen.« »Der Nebel muss sich doch mal auflösen«, behauptete ich. »Dumm rum stehen kann uns auf dieser Welt den Kopf kosten. Wir brauchen ein Plätzchen, von wo aus wir uns ungestört umsehen kön nen.« »Uuumshn kööönn'n!«, gurrte es aus undefinierbarer Richtung. »Mir wird's langsam unheimlich«, hauchte Hilli. »Mir ist schon die ganze Zeit mulmig!«, gestand Jenson. »He! Seht mal da!« 106
Ruckartig wirbelten Hilli und Jenson herum und betrachteten jene Stelle, die mir aufgefallen war, an der der Nebel zu einem dünnen Schleier wurde und zwei oder drei Schattenrisse offenbarte. »Sind sie das?« »Woher soll ich das wissen?« Mein Herz schlug bis zum Hals. Warum ich diese Angst fühlte, entbehrte jeder Logik, schließlich hatte sich noch keine Gefahr zu er kennen gegeben. Die Situation war ungewöhnlich, aber eigentlich nicht erschreckend. Die Schatten stiegen durch den Nebel hindurch, der vor ihnen - so schien es und das wiederum wirkte auf mich furchteinflößend - bereit willig zur Seite wich. Die Gestalten erhielten Formen. Das Verschwommene wurde klar. In dem Augenblick, in dem Hilli einen markerschütternden Schrei ausstieß, verstand ich, warum ich dieses instinktive Gefühl der Furcht nie losgeworden war...! * Hort des Sapukral
Ich lerne beständig. Voller Freude ist mein Auge, blickt es auf die Schöpfung vor ihm. Sie sind gut gelungen, diese Kreaturen, die ich nach meinem Bildnis wachsen ließ. Beinahe verflüchtigen sich die schweren Gedanken an die Unvollkommenheit meines Schaffens in der Vergangenheit, wenn ich nun entdecke, dass das Bild in mir dem Bilde vor mir entspricht. Das Glücksgefühl über das wohlgeratene Werk weicht einer Art Misstrauen, da ich den Fortschritt meiner Bemühungen nicht aus mir selbst heraus begründen kann. Etwas ist in der Nähe, auf das ich anspreche. Etwas, das den Weg vom Gedanken zur Tat begünstigt und beschleunigt hat. Mir wurde Hilfe zuteil. Betrübnis ist die erste Empfindung, die dieser Erkenntnis voraus eilt, gefolgt von Enttäuschung, aber auch Neugierde. 107
Nur etwas, das ist wie ich, kann denken wie ich, kann die Bildnisse in meinem Geist erfassen und zu Form werden lassen. Dieses Wesen, diese Person, dieser Zustand - was immer ich mir unter diesem Etwas auch vorstellen soll - ist mir sehr nahe, durch streift meinen Kosmos. Ein Teil von mir wünscht sich eine Zusammen kunft, ein anderer Teil möchte vor ihm fliehen. Bin ich nicht neutral und erhaben? Sind Begutachtungen solcher Art nicht niederer Natur? So sehr ich mich einer Bewertung dessen, was mir harret, entzie hen möchte, so sehr drängt sie sich mir auf, dass ich mich frage, wes halb dieser Zwiespalt proportional zur Qualität meines Schaffens an wächst. Der Ausweg liegt in der Gegenüberstellung. Ich werde warten, was kommt. Warten und beobachten. Ich bin das Größte, das ist. Wer wollte sich mit mir messen...? Ende
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