Fluchtpunkt Schemmenstern
Frank Borsch
(Atlan Traversan Fortsetzung) Vorwort Abenteuerliche Science Fiction ist roman...
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Fluchtpunkt Schemmenstern
Frank Borsch
(Atlan Traversan Fortsetzung) Vorwort Abenteuerliche Science Fiction ist romantisch, überlebensgroß. Raumschiffe sind mehrere Kilometer lang, Sonnenuntergänge auf fremden Planeten werden von verschiedenen Sternen gezaubert, Außerirdische überraschen mit fremden Sitten und Gebräuchen, und Sternprinzessinnen reisen durch die Unendlichkeit. Auf kaum einen Helden der Science Fiction trifft dieser romantische Aspekt so zu wie auf Atlan, die wohl beliebteste Figur aus dem Umfeld der PERRY RHODAN-Serie. In der Serie begleitet der dank eines Zellaktivators unsterbliche Arkonide seit mehr als zehntausend Jahren die Geschichte der Menschheit. Als er Ende des fünften Jahrtausends eine geheimnisvolle Nachricht vom Planeten Traversan erhält, steuert er diese Welt an. Wissenschaftler haben dort auf Traversan eine uralte Station entdeckt, die vor Zehntausenden von Jahren errichtet worden sein muß. Nur Atlan kann ihren Kern betreten. Der Arkonide stößt auf eine intakte Zeitmaschine und wird in die Vergangenheit geschleudert, gut sechstausend Jahre vor Beginn der terranischen Zeitrechnung. Eigentlich will er nur wieder in die aktuelle Zeit zurück. Doch er trifft auf Tamarena, die Sternenprinzessin des Planeten Traversan ... Und Atlan bleibt nichts anderes übrig, als für die Freiheit Traversans und für seine Liebe zu Tamarena zu kämpfen. Auf dem Gerichtsplaneten Celkar muß er sich ebenso bewähren wie auf Dschungelwelten und im Einsatz gegen Weltraumpiraten. In insgesamt zwölf Heftromanen spannte der TRAVERSAN-Zyklus einen Bogen über Jahrtausende spannender PERRY RHODAN-Historie. Die Rettung des Planeten Traversan erweist sich als nicht sehr einfach - vor den Augen des Lesers entfaltet sich so das bunte Bild der »alten« Arkon-Kultur. Einer der spannendsten Romane des TRAVERSAN-Zyklus war »Der Preis der Freiheit« von Frank Borsch. Der 1966 geborene Frank Borsch arbeitet seit Jahren als freier Journalist mit Fachgebiet Internet und Übersetzer. Mit »Fluchtpunkt Schemmenstern« schrieb er eine direkte Fortsetzung zu den TRAVERSAN-Romanen. Wer die Handlung dieser Bände nicht kennt, braucht nicht zu verzweifeln - der vorliegende Roman ist auch ohne diesen Hintergrund zu verstehen. Offene Fragen klärt im Zweifelsfall das kleine Glossar im Anhang des Buches. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre des Buches zu wünschen. Begleiten Sie Atlan zum Schemmenstern und zu den Orbitalen Städten! Klaus N. Frick
Fluchtpunkt Schemmenstern
Kapitel 1 Es begann mit einem leisen, allgegenwärtigen Brummen, vertraut und fremd zugleich. Ich versuchte die Augen aufzuschlagen, aber meine Lider gehorchten nicht. Ich versuchte den Arm zu heben, um die störrischen Hautlappen mit den Fingern hochzuziehen, aber der Arm wollte meinen Befehlen nicht folgen. Nein, das war falsch, erkannte ich: Ich spürte den Arm nicht, genausowenig wie meinen restlichen Körper. Was war mit mir geschehen? War ich ... Bleib ruhig, Arkonide! Die Stimme ertönte übergangslos in meinen Gedanken. Die Panik, die gedroht hatte, mich wie eine Welle zu überrollen und davonzutragen, ebbte ebenso schnell ab wie sie gekommen war. Ich kannte diese Stimme. Sie schien mir vertraut wie die eines Bruders. Es war die eines manchmal hämischen und launischen, aber unbedingt verläßlichen Freundes. Ich konnte der Stimme vertrauen. Das Brummen wurde lauter. Meine nicht vorhandenen Augen mühten sich, die absolute Dunkelheit zu durchdringen. Wo war ich? Und: Wie kam ich hierher? Als hätten sie nur auf ihr Stichwort gewartet, stiegen Bilder aus der Tiefe meines Gedächtnisses hervor. Die absolute Dunkelheit verblaßte. Plötzlich umringten mich unzählige Sterne und Galaxien, manche nur winzige stecknadelkopfgroße Lichter, andere drängten sich in gleißenden Haufen und Nebeln. Dann sah ich die Scheibe eines Planeten. Eine dichte Wolkendecke verdeckte einen Teil der südlichen Hemisphäre, doch überall sonst schimmerte das lockende Blau lebensspendender Ozeane. Die Nordhalbkugel bedeckte ein mächtiger, unförmiger Kontinent. Funkelnde Lichter markierten seine Küsten. Der Planet war bewohnt - was ich sah, waren die Lichtansammlungen von Städten und Industrieanlagen. Dann bemerkte ich den Mond. Sein blutrotes Antlitz schien mich mit Blicken zu durchbohren. Der Einschlag mehrerer Meteoriten hatte die Illusion eines gewaltigen Auges erzeugt. Travs Nachtauge! Die Stimme meines Freundes klang jetzt ungeduldig. Als wollte er sagen: Verstehst du immer noch nicht? Nein, ich verstand nicht. Ich ließ den Namen auf meiner nicht vorhandenen Zunge mein Geist konnte sich offenbar nicht von körperlichen Analogien freimachen - zergehen: Travs Nachtauge. Ich hatte den Namen schon einmal gehört, dessen war ich mir sicher. Aber was hatte er zu bedeuten? Und wieso stiegen diese Bilder in mir auf? Was hatten sie mit mir zu tun? Im selben Moment bemerkte ich die Raumschiffe. Es mochten 200, 300 Kugelraumer sein, die aus dem Nichts heraus materialisiert waren und nun dem Planeten und seinem Trabanten entgegenjagten. Ich brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu verstehen, was geschah. Ein Angriff! Andere schienen eine ähnlich schnelle Auffassungsgabe zu besitzen. Überall auf dem Mond öffneten sich verborgene Hangarschleusen. Dutzende von Kugelraumern stiegen auf viele Kilometer langen Feuerschweifen in das Vakuum und warfen sich den Angreifern entgegen. Verstehst du jetzt endlich? erkundigte sich die Stimme meines immateriellen Begleiters ungläubig. Das Zittern, das mich geweckt hatte, steigerte sich zu einem durchdringenden Vibrieren. Nein! antwortete ich fast schreiend Im Laufe der Jahrtausende hatte ich viele Raumschlachten verfolgt, zu viele. Na gut, du hast es so gewollt. Die ersten Raumer vergingen in lautlosen Explosionen. Irrlichternde Sonnen traten an die Stelle des Sternenmeers, blähten sich auf, blendeten mich. Absolutes Weiß überflutete meine Sinne. 2
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Als die blendende Helligkeit verblaßte, fand ich mich auf einem Planeten wieder. Ein stetiges Donnern lag in der Luft, unterbrochen nur von unregelmäßigen, markerschütternden Explosionen. Dies mußte der Planet des Trabanten sein. Trav ... Trav ... Traversan! Mir schien, als wäre der Name ein Schlüssel. Der Schlüssel zur rettenden Erkenntnis. Und ich spürte meinen Körper! Schweiß rann über meine Stirn, stach in meinen Augen. Mein Atem ging keuchend und stoßweise. Meine Arme, deren Finger sich um den Griff eines Dagor-Schwertes verkrampften, waren schwer und schmerzten. Mir gegenüber tänzelte ein ganz in schwarzes Leder gekleideter, sehniger Arkonide. Sein Dagor-Schwert schnitt mit spielerischer Leichtigkeit durch den dünnen Rauch, der sich über das Land gelegt hatte. Trokk! durchfuhr es mich. Der Dagor-Meister, der dich während der Schlacht um Traversan zum Duell gefordert hat! Meine Erinnerung kehrte jetzt in Schüben zurück. Dennoch spürte ich, daß der entscheidende Teil noch fehlte. Ich wußte, daß ich Trokk besiegen würde. Traversan würde den Angriff der Flotte des rachsüchtigen Leuhar da Merrits überstehen, wenn auch nur mit knapper Not. Aber da war noch etwas gewesen. Etwas, das ... Dann sah ich sie. Sie war nur ein Schemen am äußerten Rand meines Sichtfelds, aber das genügte. Wie hatte ich sie nur vergessen können? Ihre schlanke, hochgewachsene Gestalt war unverkennbar. Sie hatte diese besondere Art, Stolz auszustrahlen ohne dabei überheblich zu wirken - eine rare Eigenschaft in der von Standesdünkel bestimmten Gesellschaft des Tai Ark’Tussan, des Großen Imperiums der Arkoniden. Doch jetzt wirkte sie verkrampft, angespannt. Ihre vollen Lippen hatten sich in dünne, blutleere Striche verwandelt. Sie hatte Angst um mich. Und ich um sie. Unvermittelt wußte ich, was gleich geschehen würde. Ich versuchte auszubrechen, zur Seite zu springen und sie mit mir zu Boden zu reißen, sie außer Reichweite von Trokks grünlich schimmerndem Dagor-Schwert zu bringen. Meine Beine reagierten nicht. Tamarena! Meine Gedankenstimme überschlug sich. Bitte, tu es nicht! Sie hörte mich nicht. Dann geschah alles wie in Zeitlupe: Trokks konzentrierte Züge verzerrten sich, wichen einer Maske der Überraschung. Der Dagor-Meister war ein Mann, dem Ehre mehr als nur ein Wort war. Verzweifelt mühte er sich, den Hieb zu stoppen oder zumindest seine Richtung zu ändern. Vergeblich. Die herabsausende Waffe traf den Kopf der zu meiner Hilfe herbeieilenden Tamarena - und nur der Tatsache, daß es Trokk gelungen war, das Desintegratorfeld des Schwertes einen Sekundenbruchteil vor dem Aufprall zu deaktivieren, verdankte sie, daß sie nicht an Ort und Stelle starb. »Tamarena!« Wieder schrie ich auf. »Bei allen Sternengöttern, nein! Bitte nicht.« »Es tut mir leid, Altao Sie ist nicht hier.« Diese Stimme! Das war nicht das Gedankenflüstern meines Bruders. Nein, es war die Stimme einer Frau. Und ich hatte sie gehört, nicht nur in Gedanken vernommen. Plötzlich nahmen meine Sinne noch mehr wahr: Das Brummen von an ihren Kapazitätsgrenzen arbeitenden Aggregaten, den Stich einer Injektionsnadel in meinem Unterarm, die wohlige Warme, die mich umgab. In der abgestandenen Luft vermischte sich der stechende Geruch von Urin mit dem verschiedener Desinfektions- und Reinigungsmittel. Und da war noch etwas: ein frisches Blütenaroma, köstlich unaufdringlich und von unentrinnbarer Präsenz zugleich. Ich kannte diesen Duft. Nur, woher? Ich schlug die Augen auf. Im schwachen Schein indirekter Leuchtkörper saß eine Frau. Sie lächelte. »Altao ... Atlan! Oh, du weißt nicht, wie gut es tut, dich wiederzusehen!« Ich starrte die Frau verständnislos an. Sie war eine Arkonidin - ob reinrassig oder von einem Kolonialplaneten konnte ich in dem Dämmerlicht nicht erkennen - und mußte um die Achtzig oder Fünfundachtzig sein. Eine alte Frau nach arkonidischen Maßstäben, aber 3
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noch längst keine Greisin. Sie trug einen einfachen, mit geometrischen Mustern bedruckten Umhang aus Kunstfaser, der ihre erhebliche Leibesfülle nur unzureichend kaschierte. Ihr langes, sprödes Haar wurde von einigen Haarklammern nur leidlich gebändigt. Dicke Tränensäcke drohten beinahe die unnatürlich geröteten Wangen zu berühren. Wahrscheinlich Alkoholmißbrauch, vermeldete mein Gedankenbruder kühl. Jetzt, wieder zu Sinnen gekommen, erkannte ich ihn als meinen Extrasinn, eine durch fünfdimensionale Bestrahlung aktivierte Region meines Gehirns, die zu einem bisweilen unangenehmen Eigenleben neigte. »Du ... du erkennst mich nicht?« Das Lächeln der Frau verschwand. »Hast du denn schon vergessen?« Die Frage klang fast wie eine Anklage. Streng dich an! ermahnte ich mich. Wozu hast du ein fotografisches Gedächtnis? Forschend musterte ich die Frau. Ich lächelte höflich. Wer immer sie sein mochte, ich war gut beraten, sie nicht gegen mich aufzubringen. Meine Muskeln schienen geschmolzen zu sein. Was von ihnen übrig war, schmerzte pochend. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es mir, den Kopf einige Zentimeter anzuheben. Nach wenigen Augenblicken sackte er wieder auf das Kissen. Ich war dieser Frau ausgeliefert. »Gib mir einen Augenblick Zeit, ich bin noch etwas verwirrt«, bat ich. Ich blickte mich um. Ich lag auf einer Konturliege in einer niedrigen Kammer. Die Wände waren aus stumpfem, unpoliertem Arkonstahl. Neben einem Medo-Robot, der lautlos auf einem Antigravfeld schwebte, war der einfache Plastikstuhl, auf dem die unbekannte Arkonidin saß, der einzige Einrichtungsgegenstand. Wieder kehrte ein Teil meiner Erinnerung zurück. Zweifellos, dies hier war dieselbe Kammer, in der ich mich in einen künstlichen Tiefschlaf hatte versetzen lassen - ein Akt der bloßen Verzweiflung, um nach der Vernichtung der Zeitstation der Meister der Insel in meine Gegenwart zurückzugelangen. Doch das hier konnte sie nicht sein, das sagte mir mein Instinkt. Aber in welcher Zeit war ich dann gestrandet? War mein Vorhaben gescheitert? Befand ich mich immer noch im Jahr 12.402 da Ark, beinahe 5800 Jahre vor Beginn der terranischen Zeitrechnung? Mein Blick heftete sich wieder auf die Frau vor mir. Sie rutschte nervös hin und her und schien den Tränen nahe, ob aus Erregung oder Trauer, darüber wagte ich keine Vermutung. Sie hat dich Atlan genannt, schaltete sich der Extrasinn ein. Dieser Name war nur wenigen vertraut; sie kann nicht durch Zufall auf die Station gestoßen sein. Eine kluge Beobachtung - und darüber hinaus der Beweis dafür, daß ich nicht lange geschlafen haben konnte, sollte ich die Frau wirklich kennen. Höchstens ein paar Jahrzehnte, ein Nichts für einen Unsterblichen, der sich eigentlich niedergelegt hatte, um mehr als zehn Jahrtausende zu überbrücken. »Du warst Mitglied in einem der Sonderkommandos, die Traversan vor Pyrius Bit retteten«, sagte ich in Anspielung auf den Sonnenkurs des Großen Imperiums, der sich die Vernichtung Traversans auf die Fahnen geschrieben hatte. Mein Einwurf war ein Schuß ins Blaue, wie es meine terranischen Freunde genannt hätten, ein Bluff. Aber ein erfolgreicher. »Ich wußte, du würdest dich erinnern, Atlan!« Die Frau schien sich zu straffen. »Ich Dummkopf hätte damit rechnen sollen; der Tiefschlaf setzt dem Körper hart zu, das weiß jedes Kind. Du mußtest erst zu dir kommen. Aber jetzt bist du wieder klar, nicht? Wie könntest du auch deine treue Gefährtin vergessen, die an deiner Seite den Tato der Orbitalen Städte ...« Die Orbitalen Städte! Die Erwähnung des Namens zerriß die letzten Schleier der Verwirrung, die sich über mein Bewußtsein gelegt hatten. »Riaal! Du bist es!« rief ich. »Du trägst dasselbe Parfum wie an dem Tag, als wir diese große Schau auf TAI MEREN NOAS veranstalteten, nicht wahr?« Riaal nickte so heftig, daß ihre Tränensäcke gegen die Backen klatschten.
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Damals war sie eine üppig gebaute, herbe Schönheit gewesen. Ich war - getarnt als der neureiche Adlige Altao Ta-Camlo - mit allem Pomp auf TAI MEREN NOAS, der Großraumstation Eins und Hauptstadt des Schemmenstern-Systems eingezogen, um den örtlichen Gouverneur, den sogenannten Tato, zu beeindrucken. Wie es meinem vorgeblichen Stand gebührte, hatte sich in meinem umfangreichen Troß auch eine Mätresse befunden. Und diese Rolle hatte die Wirtschaftsexpertin Riaal mit atemberaubender Perfektion gespielt dieselbe Riaal, von der ich mich, subjektiv gesehen, erst vor Stunden verabschiedet hatte, und die jetzt von den Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert vor mir saß. Wieviele Jahrzehnte mochten vergangen sein? Drei? Oder vielleicht sogar vier? »Riaal, bitte verzeih mir, du siehst so ... so ... anders aus«, stotterte ich unbeholfen. Der Blick der Arkonidin war stechend. »Du nicht, Atlan. Du scheinst keinen Tag gealtert. Dann ist es also wahr. Ich wollte es nicht glauben, aber du bist tatsächlich unsterblich.« Tränen traten aus ihren Augen. Ich nickte vorsichtig. War das der Grund, wieso sie mich geweckt hatte? Aus Neid auf meine Unsterblichkeit, in der verrückten Hoffnung, daß ich auch ihren Alterungsprozeß anhalten oder vielleicht sogar wieder rückgängig machen konnte? Einige Sekunden lang schwiegen wir bedrückt, dann flüsterte ich: »Riaal, sag mir, wie lange habe ich geschlafen?« »21 Arkon-Jahre.« »Das ist unmöglich!« Ich bereute meine Worte noch im selben Moment. Riaal, erinnerte ich mich, war damals 46 Jahre alt gewesen, jetzt wirkte sie wie Achtzig oder Neunzig. Narr! zischte der Extrasinn. Gerade du solltest doch wissen, wie hart das Leben einem zusetzen kann. »Ich meine«, korrigierte ich mich hastig, »es fällt mir schwer, mir vorzustellen, daß Jahrzehnte verstrichen sind. Mir scheint, daß ich mich gerade erst vor Stunden schlafen gelegt habe.« »Sieh mich doch an.« Die Arkonidin deutete verächtlich auf ihren aufgedunsenen Körper. »Könntest du dir einen besseren Beweis vorstellen?« Ich verzichtete darauf, auf ihre Bemerkung einzugehen. Statt dessen drehte ich mich langsam zur Seite und stützte den Kopf mit dem Ellbogen ab. Die rasenden Schmerzen, mit denen meine Muskeln die Bewegung quittierten, ignorierte ich. Es war Zeit, endlich die entscheidende Frage zu stellen. »Riaal«, setzte ich an. Ich sah ihr direkt in die Augen; sie erwiderte meinen Blick. »Riaal, wieso hast du mich geweckt?« »Wegen Tamarena.« Nur ein kaum wahrnehmbares Zittern in ihrer Stimme verriet ihre Aufregung. »Tamarena?« Meine Gedanken überschlugen sich. Meine geliebte Rena! Die Tochter des Nert Kuriols, des Herrschers von Traversan, die mir hier, in dieser Zeit über zehntausend Jahre vor meiner eigenen Gegenwart, zur Gefährtin geworden war! Die bereit gewesen war, ihr Leben für das meine zu opfern. »Was ist mit ihr?« krächzte ich. »Ist sie ... gestorben?« »Nein.« Riaal schüttelte den Kopf. »Sie ist aus dem Koma erwacht.«
Kapitel 2 Das schrille Kreischen der Warnsirenen hallte bereits durch den Hangar, als Lathir durch den schmalen Spalt der sich schließenden Schleusentore hetzte. Der junge Unither 5
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machte kurz halt und sah sich um - da sein halbkugelförmiger Kopf direkt auf der Schulterpartie aufsetzte, war dies ein Manöver, bei dem er den gesamten Oberkörper drehen mußte. Da! Dort drüben, halb verdeckt von der wuchtigen Walze eines Springerraumers, reckte sich die schnittige Silhouette der Fähre gegen die von den Steuerdüsen zahlloser Raumschiffe geschwärzte Hangardecke. Lathir ignorierte das Protestgeschrei eines in einen klobigen Raumanzug gehüllten Dockarbeiters - ein ungewöhnlicher Akt für den stets beflissen höflichen Unither - und setzte zu einem letzten Sprint an. Er mußte diese Fähre erreichen! Zwar würde zwei Tontas später ein weiteres Shuttle sein Zuhause, TAI MEREN NOAS oder - im Sprachgebrauch der Unither - YARUZAS LETZTE HOFFNUNG verlassen, aber dann würde er zu spät kommen. Und Lathir spürte, hoffte, daß dies nicht sein Hradith war. Schwer atmend erreichte Lathir die Fähre. Sein Rüssel fand den Notöffnungsschalter der Luke. Der geschmeidige Muskelstrang, zugleich Greiforgan und Sitz der Luftröhre, war für gewöhnlich der Stolz eines jeden Unithers. Viele Stunden täglich verbrachten die stämmigen Wesen mit seiner Pflege. Doch für Lathir war der Rüssel eine stetige Quelle der Scham. Sein Rüssel war zwar ebenso kräftig wie der seiner Altersgenossen, maß aber nur 50 Zentimeter, gerade einmal die Hälfte der Norm, und machte den jungen Unither zur Zielscheibe des Spotts. Lathir dachte oft daran, daß er es nur der schützenden Hand Khalankas, der Herdenältesten, zu verdanken hatte, daß der Spott gutmütig blieb. Mit einem kurzen Tasten der linken Hand gegen seine Jacke versicherte sich der Unither, daß der Schwingquarz noch an Ort und Stelle war. Dann wirbelte er kurz herum, winkte dem immer noch fluchenden Dockarbeiter entschuldigend zu und sprang in die Öffnung, die sich zwischenzeitlich in der Außenseite der Fähre aufgetan hatte. Hinter ihm schloß sich die Luke wieder, undurchdringliche Schwärze senkte sich über die Schleusenkammer. Mit pochendem Herzen reckte er den linken Arm in die Höhe; den Arm, in dessen Muskel ein kaum staubkorngroßer Chip implantiert war. Lathir wußte, daß die Geste nüchtern betrachtet sinnlos war. Die Sensoren der Schleusenkammer konnten den Chip selbst durch einen dicken Schutzanzug hindurch auslesen. Aber die Angst, daß sein Vorhaben jetzt, so kurz vor seiner Vollendung, scheitern könnte, trieb den jungen Unither zu irrationaler Vorsicht. Ein Spalt blendenden Lichts zeigte an, daß Lathir sich umsonst Sorgen gemacht hatte. Mit einem zufriedenem Brummen betrat er die Passagierkabine - und starrte in die mißmutigen Mienen von etwa vier Dutzend Reisenden. Einen kurzen Augenblick erstarrte Lathir, dann senkte er den Rüssel in einer Bedauern anzeigenden Geste und stapfte unablässig Entschuldigungen murmelnd an seinen Platz. Seine Mitpassagiere stellten einen ungefähren Querschnitt der Bevölkerung der Orbitalen Städte dar: In den ersten Reihen drängten sich ein Dutzend Naats, ihrer derben Sprache nach zu urteilen einfache Bergmänner, die in einer der Minen der vielen Monde des Schemmenstern-Systems nach wertvollen fünfdimensionalen Schwingquarzen schürften. Hinter ihnen, in einem sorgfältig gewählten Abstand von zwei Sitzreihen, folgte die Mittelschicht der Orbitalen Städte. Es waren Männer und Frauen wie diese Renoner, Zaliter, Ekhoniden und andere Kolonialarkoniden, die das System der 268 Orbitalen Städte am Laufen hielten. Aus ihren Reihen rekrutierten Verwaltung, Garde und Schürfunternehmen der riesigen Raumstationen die zuverlässigen Arbeitskräfte, denen der Aufstieg des Schemmenstern-Systems zu einer der wohlhabendsten Regionen des Tai Ark’Tussan zu verdanken war. Wiederum zwei Sitzreihen von ihnen getrennt begann die Sektion der Nicht-Humanoiden. Drei oder vier von ihnen wurden von undurchsichtigen Schirmfeldern verborgen, die übrigen - Lathir identifizierte unter anderem mit fachmännischem Blick einen sechsgliedrigen Fantan - saßen, standen oder lagen auf den Kontursesseln, die sich automatisch ihrer jeweiligen Körperform anpaßten. 6
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Wie immer, wenn er mit einer Fähre flog, warf Lathir den Nicht-Arkoniden wehmütige Blicke zu. Alles in ihm drängte danach, sich zu ihnen zu setzen, sie über ihre Heimatplaneten zu befragen, zu erfahren, was sie in die Orbitalen Städte gezogen hatte. Er wollte wissen, wie sie das Universum sahen. Aber das war unmöglich, die Gesellschaft des Tai Ark’Tussan hatte sehr genaue Vorstellungen davon, welcher Umgang von Intelligenzen sich gehörte und welcher nicht. Die Arkoniden als herrschende Rasse des Imperiums ließen sich nicht mit Nicht-Humanoiden ein. Viele Kolonialarkoniden wiederum kompensierten ihren Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem reinrassigen Herrschervolk mit demonstrativer Herablassung gegenüber all jenen, die körperlich noch weiter vom Ideal abwichen. »Entschuldigt bitte vielmals die Störung, Zhdopanda. Ist hier noch frei?« Lathir deutete auf einen Kontursessel in der Gangmitte. Der Mann auf dem Nebensitz, ein schlanker Kolonialarkonide mittleren Alters, blickte von seinem Trivideowürfel auf. Er musterte den jungen Unither mit gerunzelter Stirn. Sein Blick sprach Bände. Was für ein schräger Vogel bist du, mich mit einem Adelstitel anzusprechen? Willst du mich verspotten oder weißt du es nicht besser? Nach einigen Augenblicken schien der Mann sich für letzteres zu entscheiden, denn er murmelte ein paar Worte, die Lathir als Wenn es unbedingt sein muß! interpretierte, und widmete sich wieder seinem Würfel. Lathir setzte sich. Er hatte die Reaktion des Mannes vorausgeahnt. Als Unither fiel er durch alle Raster: Dank zweier Beine, zweier Arme und einem Augenpaar wäre seinesgleichen ohne Schwierigkeiten als humanoid durchgegangen wenn da nicht der geschmeidige Rüssel gewesen wäre, der den Angehörigen seiner Rasse zu eigen war. Irgendwie, so das diffuse Gefühl der Arkoniden, gehörten die Unither zu ihnen. Doch gleichzeitig genügte ein Blick in das von ledriger, gelblich brauner Haut bedeckte Gesicht eines Unithers, um mit letzter Sicherheit zu urteilen, daß er ein Fremdkörper in der Gemeinschaft der Arkoniden und ihrer Abkömmlinge war. Diese Zwiespältigkeit erzeugte paradoxe Resultate: So verbot es die Konvention dem neugierigen Lathir, sich zu den Nicht-Humanoiden zu gesellen, während viele Humanoide, zu denen er angeblich gehörte, ihn wie einen Aussätzigen behandelten. Inzwischen hatte die Fähre den Hangar hinter sich gelassen. Lathir verscheuchte die trüben Gedanken und blickte durch das großflächige Fenster aus Panzertroplon. Er mußte in den 19 Arkon-Jahren, die seit seiner Geburt auf YARUZAS LETZTER HOFFNUNG vergangen waren, bereits Hunderte von Flügen zwischen den einzelnen Raumstationen absolviert haben, anfangs in Begleitung von Khalanka, die immer wieder zu Besuchen bei den 14 anderen Herden, die über die Orbitalen Städte verstreut lebten, aufbrach, in jüngster Zeit zum Befremden seiner geselligen Artgenossen alleine, von Abenteuerlust und Neugierde getrieben. Doch noch immer drohte ihm der Blick ins All den Atem zu rauben. Jede der 268 Orbitalen Städte war unverwechselbar, ein Konglomerat aus den unterschiedlichsten Stilen, Formen und Materialien. Doch den Kern jeder Stadt bildeten Raumschiffwracks - traurige Überreste des jahrzehntelangen, blutigen Ringens zwischen Methans und Arkoniden um das rohstoffreiche System des Schemmensterns. Aber seit den letzten Kämpfen waren Jahrhunderte vergangen, und der einstmals winzige Schürfposten des Imperiums war zu einem Drehkreuz des Handels geworden. Der Wohlstand hatte seine Spuren in Form von gewaltigen Anbauten hinterlassen, die vielerorts die ursprünglichen Orbitalen Städte, die einst die Bezeichnung Raumstationen verdient gehabt hätten, komplett einschlossen. Überall, so schien es Lathir, reckten sich die stolzen Kelchbauten der reichen Händler und Prospektoren ins All. Und wir sind es, denen sie ihren Reichtum verdanken! Die bittere Feststellung schob sich gegen seinen Willen in Lathirs Gedanken. Er schob sie weg, unterstützt von dem wohlwollenden Schwingen des Quarzes in seiner Jackentasche. Bald, schien es ihn zu trösten. Bald bist du frei. 7
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Ein leises Zischen kündigte eine Kurskorrektur an. Die positronisch gesteuerte Fähre drehte ab und nahm Kurs auf ihr nächstes Ziel, PARUNKAS UNGLÜCK, die Orbitalstadt 112. Eine gewaltige, gelbbraune Scheibe schob sich in Lathirs Sichtfeld und nahm schließlich die gesamte Fläche des Fensters ein. Es war Schemmen, der einzige Planet des Systems. Ein über 183.000 Kilometer durchmessender Gasriese mit einer von ewigen Stürmen gepeitschten Atmosphäre aus Wasserstoff, Methan und Ammoniak - der Vorhof der Hölle für die Arkoniden, ein Paradies für die Methans. Lathir hatte im Intranet der Städte von den Heldentaten der tapferen arkonidischen Flotte gelesen. Aber er verstand immer noch nicht, wieso man überhaupt um das System des Schemmensterns gekämpft hatte. Die Interessen der beiden Seiten hätten nicht unterschiedlicher sein können: Den Arkoniden war es um die 23 Monde des Gasriesen gegangen; dort fanden sie die fünfdimensionalen Schwingquarze, auf die ihre hochentwickelte Technik angewiesen war. Die Methans dagegen hatten eine neue Heimat gesucht. Einen Ort, der ihrem über alle Maßen fruchtbaren Volk - wenigstens für kurze Zeit - Entlastung bringen konnte. Man hätte sich mühelos arrangieren können, glaubte Lathir. Mit einem Quentchen guten Willens ... Der Zwischenstopp auf PARUNKAS UNGLÜCK schien quälend lange. Lathir rutschte unruhig hin und her. Der Kontursessel war für Arkoniden und ihre Abkömmlinge entworfen, nicht für das entschieden anders geformte Gesäß eines Unithers. Immer öfters hob der Kolonialarkonide neben ihm den Kopf und strafte ihn mit mißbilligenden Blicken. Schließlich legte die Fähre wieder ab und machte sich auf den Weg nach dem GARTEN ERFORS, einer der schönsten unter den Stationen. Die dortige zalitische Bevölkerungsmehrheit hatte das Gewirr aus Stahl und Glassit in einen blühenden Garten verwandelt - mit demselben, bereits sprichwörtlichen Eifer, der sie zu den besten und treuesten Verbündeten des Tai Ark’Tussan gemacht hatte. An einem anderen Tag hätte Lathir es sich nicht nehmen lassen, dort haltzumachen und auf Erfors Spuren zu wandeln. Der Anblick von Grün besaß für ihn, der noch nie einen Planeten betreten hatte, eine geradezu magische Anziehungskraft. Aber nicht heute; heute mußte er weiter. Das wichtigste Treffen seinen jungen Lebens wartete auf ihn. Dann - sechs Tontas und vier weitere Zwischenstopps später - legte die Fähre endlich an Orbitalstadt 78 an; TARIKS ZUFLUCHT, wie sie die Unither nannten. Lathir trat in die hektische Empfangshalle. Sein Puls machte einen Satz; er blieb nach wenigen Metern stehen, unfähig, auch nur einen kleinen Schritt zu machen. Alle Augen, so schien es ihm, waren auf ihn gerichtet. Unwillkürlich strich er mit der Spitze seines Rüssels über die Hörstreifen am Kopfansatz eine beruhigende Geste, die selten ihre Wirkung verfehlte. Sein Puls normalisierte sich wieder. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und überblickte die weitläufige Halle. An den Ausgängen standen jeweils zwei Rupiaki, Angehörige der persönlichen Garde des Tato Rupiaks, des Gouverneur des Schemmenstern-Systems. Doch die Männer und Frauen in den olivgrünen Uniformen schenkten ihm keine Beachtung, sie scherzten miteinander und schienen vor allem anderen das Ende ihrer Schicht im Auge zu haben. Erleichtert setzte sich Lathir wieder in Bewegung. Von dieser Seite drohte ihm keine Gefahr. Blieb noch das Risiko, von Artgenossen entdeckt zu werden. Eigentlich war dies eine zu vernachlässigende Größe - von den über 50 Millionen Bewohnern der Orbitalen Städte waren keine 500 Unither -, aber Lathir wußte, daß sein Plan gescheitert wäre, sollte er einer Gruppe seiner Artgenossen in die Arme laufen. Für die geselligen Unither war die bloße Vorstellung, sich alleine in der Öffentlichkeit zu bewegen, ein absurder Gedanke. Einer der ihren, der sich dennoch absonderte, mußte krank sein und bedurfte sofortiger Behandlung. Vielleicht bin ich das ja wirklich, dachte Lathir, ein Kranker. Vielleicht sollte ich umkehren, solange ich noch kann.
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Der Unither schüttelte die Zweifel ab. Nein, er wußte, daß er auf dem richtigen Weg war. Dies hier war sein Hradith. Er durfte jetzt nicht aufgeben. Wenige Minuten später saß Lathir im hinteren Teil des STERNENTAUS, einem auf die Wünsche einer gemischtrassigen Kundschaft ausgerichteten Restaurant in der Nähe des Fährterminals. Nervös starrte er auf das in die Tischplatte eingelassene Display eines Chronometers. Er war zu früh. Noch eine halbe Tonta, dann ... »Lathir?« Der Kopf des Unithers ruckte hoch. Vor ihm stand ein Arkonide mittleren Alters in einem einfarbigem, leichten Overall. Lathir hätte ihn, wäre er ihm zufällig in den Gängen einer Orbitalstadt begegnet, mit keiner besonderen Aufmerksamkeit bedacht. Ohne eine Antwort abzuwarten setzte sich der Mann. Auf seinen Knopfdruck hin legte sich ein licht- und schallundurchlässiger Energieschirm über den Tisch. »Oh, wie gut, daß Ihr hier seid«, sprudelte es aus dem Unither hervor. Sein Rüssel pendelte aufgeregt von links nach rechts und wieder zurück; er erinnerte sich an die endlosen Ermahnungen Khalankas, stets höflich zu sein. Eigentlich war er ihrer längst überdrüssig, aber in diesem Augenblick war er froh, etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte. »Ich versichere Euch, daß ich die Ehre zu schätzen ...« »Ich habe gehört, ihr habt Namen für die Orbitalen Städte, nicht Nummern«, unterbrach ihn der Mann. »Ist das wahr?« »Ja«, antwortete der Unither verwirrt. Worauf wollte der Mann hinaus? »Und wie nennt ihr diese Stadt?« »DIE ZUFLUCHT TARIKS.« »Ein schöner Name ... und wie passend für den Anlaß.« Lathir musterte den Mann vor ihm ratlos. Obwohl der Unither unter Arkoniden und ihren Abkömmlingen aufgewachsen war, war es ihm oft unmöglich, ihre Gesten und Äußerungen zu deuten. Was ging hier vor? Sie waren zusammengekommen, um über ein Geschäft zu sprechen. Wieso also tat der Mann es nicht? Lathir beschloß, weiter auf Höflichkeit zu setzen. »Oh, dessen bin ich mir sicher, Zhdopanda.« Der Unither diente sich seinem Gegenüber bewußt mit der eigentlich für Hochedle reservierten Anrede an. »Mein verehrter Vorfahr fand in dieser Stadt, was er suchte: Schutz vor seinen Feinden außerhalb wie innerhalb der Herde. Ich bin zuversichtlich, Ihr könnt mir geben, wonach ich suche.« Der Arkonide lächelte und beugte sich über den Tisch. Im Ausschnitt des Overalls sah Lathir eine Tätowierung, halb Schlange, halb Drache. Das Zeichen der Sentenza, des organisierten Verbrechens. »Und was könnte das sein, Unither?« flüsterte er. »Rauschgift? Die Beseitigung eines Rivalen? Oder geht es dir um irgendein eigenartiges religiöses Ritual?« »Nein, viel einfacher. Ich will hier weg.« Zum erstenmal schien der Arkonide überrascht. »Was meinst du damit ... weg? Willst du auf einen der Monde? Oder mußt du eine Zeitlang untertauchen? Oder ...« »Nein.« Lathir wunderte sich über die eigene Kühnheit. Wie konnte er es wagen, diesem Mann das Wort abzuschneiden? Er war seine einzige Chance. »Ich will zu den Sternen. Ich will die Wunder des Universums sehen.« Einen Augenblick lang starrte der Arkonide ihn schweigend an. Dann warf er den Kopf zurück und lachte schallend. »Du willst zu den Sternen! Ein Unither! Bei den Göttern Arkons, einen solchen Unsinn habe ich lange nicht mehr gehört! Ihr steckt doch enger zusammen als eine Rotte zalitischer Nager. Was willst du dort, ganz alleine?« »Diese Sorge könnt Ihr getrost mir überlassen«, versetzte Lathir trotzig. »Helft Ihr mir oder nicht?«
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»Hör auf mich«, ignorierte der Arkonide seine Frage. Er schien plötzlich sehr ernst. »Da draußen ist kein Ort für dich. Die Sterne sind grausam - glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Das ist nichts für einen Jungen wie dich. Bleib, wo du hingehörst.« Lathirs armdicker Rüssel knallte auf die Tischplatte. Der Aufprall ließ das Getränk des Arkoniden in die Höhe fliegen. Geistesgegenwärtig fing er das geschwungene Glas noch im Flug auf. Woher weiß er mein Alter? durchzuckte es den Unither. Und wieso kommt er mir mit denselben Sprüchen wie der Rest meiner Herde? »Ich frage dich noch einmal«, Lathir ließ, ohne es zu merken, die höfliche Anrede fallen. »Helft Ihr mir oder nicht?« »Das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Seit Tato Rupiaks verfluchter Wandlung zum größten Wohltäter des Imperiums sind die Kontrollen strenger geworden. Und seine Leute sind fast unbestechlich.« »Fast oder völlig unbestechlich?« »Fast«, räumte der Arkonide ein. »Aber die wenigen Kontakte, die wir noch haben, verlangen inzwischen ein Vermögen für ihre Dienste. Und das ist noch nicht alles. Auch ihr Unither werdet mitbekommen haben, wie angespannt die Lage ist. Reomir X. mißfällt die liberale Haltung des Tatos zusehends. Viele glauben, daß sich der Imperator nicht mehr lange von einem mickrigen Gouverneur auf der Nase herumtanzen läßt. Immer mehr Leute setzen sich ab. Der Preis für eine Passage nach Arkon hat sich in den letzten Wochen vervielfacht.« »Also ist es möglich, nicht?« Der Arkonide warf die Hände hoch. »Ja, das ist es.« »Wunderbar, wo ist also das ...« »Ich war noch nicht fertig. Es ist möglich, aber nicht für einen Unither.« Lathirs Oberkörper sackte nach vorne. Auch wenn er den Gedanken in den letzten Tagen mit aller Gewalt beiseite geschoben hatte, er hatte gewußt, daß dieser Moment kommen würde. »Ihr seid der Reichtum der Orbitalen Städte«, fuhr der Arkonide fort. »Niemand im Imperium versteht sich so gut auf die Bearbeitung der fünfdimensionalen Quarze. Würdet ihr von hier verschwinden, was bliebe dann noch? Ein paar Minen, ein Heer tumber Naats und verlassene Städte. Tato Rupiak wäre ein kompletter Narr, ließe er deinesgleichen ziehen.« Der Arkonide seufzte. »Und du wärst ebenso ein Narr. Dein Zuhause ist hier. Wie lange, glaubst du, könntest du deine Freiheit genießen, bevor dich irgend jemand an die Kette legte und für sich schuften ließe?« Lathirs Rüssel verschwand in der Tasche seiner Jacke. »Und was wäre, wenn dieser Narr dich hiermit bezahlte?« Er zog den Rüssel aus der Tasche und streckte ihn dem Arkoniden entgegen. Etwas Violettes funkelte an seiner Spitze. »Ein ... Criipa!« Der Arkonide schien seinen Augen nicht zu trauen. Er streckte die Hand aus und strich vorsichtig, fast als fürchtete er, er könnte ihn zerbrechen, über den glitzernden Quarz. Lathir entließ langsam die Luft aus den Lungen. Er hatte sich nicht getäuscht. Der fünfdimensionale Quarz zählte zu den wertvollsten Schätzen seiner Herde - nicht wegen seines finanziellen Wertes, der seinem Gegenüber offenbar den Atem verschlug, sondern aufgrund seiner harmonischen, hyperfrequenten Schwingungen. Aber davon spürten die Arkoniden nichts, genausowenig wie von so vielem anderen. »Nun, was sagst du jetzt?« erkundigte sich der Unither. »Bist du immer noch so besorgt um mich?« »Ich ... ich ...« Selbst für den Unither war offensichtlich, daß der Arkonide mit sich rang. Gier, Furcht, Sorge, Berechnung huschten über seine Züge. Schließlich kam er zu einem Entschluß. »In Ordnung, wir helfen dir.« 10
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Die Muskeln an der Spitze von Lathirs Rüssel lösten ihren Griff um den Quarz. Fast ehrfürchtig nahm der Arkonide den Kristall an sich und verstaute ihn behutsam in der Seitentasche seines Overalls. Der Arkonide stand auf und deaktivierte den Energieschirm. Der Lärm der Restaurantgäste erschien Lathir nach der geisterhaften Stille, die er eben noch genossen hatte, beinahe unerträglich. »Komm in drei Pragos an den Fährhafen von TAI MEREN NOAS und frag am Schalter 15 nach dem Ticket nach Schemmen. Man wird dir einen Umschlag geben. In ihm wird alles sein, was du brauchst.« Ohne sich zu verabschieden, machte der Mann kehrt und verließ das STERNENTAU. Lathir blieb noch beinahe eine Tonta sitzen. Erst dann war das Zittern seiner Muskeln soweit abgeflaut, daß er aufstehen konnte. Er hatte es geschafft. Das Tor zu den Sternen stand offen.
Kapitel 3 Die Wüste lebte. In der Nacht war ein Sturzregen über der Yssods-Wüste niedergegangen, ein äußert seltenes, aber nicht ungewöhnliches Ereignis in dieser Gegend, die nicht umsonst als eine der unwirtlichsten des ganzen Planeten galt. Jetzt, nur wenige Stunden später, überzog ein dünner, aber leuchtend grüner Teppich die sanften Hügel. Blumen waren aus dem sandigen Boden geschossen und wetteiferten mit ihren tausendfarbigen Blüten um die Aufmerksamkeit der Insektenschwärme. Die Tiere mußten Monate, vielleicht sogar Jahre in Höhlen und Erdlöchern geschlafen haben - immer in Erwartung dieses kurzen Augenblicks frenetischer Aktivität. Nicht lange, dann würde das Wunder verblüht sein und die Insekten würden wieder in ihre Schlafstätten zurückkehren und auf bessere Zeiten warten. So wie du! ertönte die ironische Stimme meines Gedankenbruders. Ob du deine Zeit ebensogut nutzen wirst wie diese Tiere? Ich schüttelte unwillig den Kopf. Konnte mein Extrasinn mir nicht wenigstens ein paar Augenblicke der Muße gönnen? Riaal, die neben mir im Pilotensitz des Gleiters saß, warf mir einen fragenden Blick zu. »Ach, nichts«, sagte ich. »Ich bin nur Gedanken nachgehangen. Ist schon vorbei.« Riaal nickte und konzentrierte sich schweigend auf die Steuerung des Gleiters. Drei Pragos waren vergangen, seit ich in meiner Station unter dem Boden der Yssods-Wüste zu mir gekommen war. Statt der angepeilten Jahrtausende hatte ich kaum mehr als zwei Jahrzehnte dort gelegen - ein mikroskopischer Hüpfer verglichen mit dem ursprünglich geplanten gewaltigen Satz. Dennoch hatte ich mich den üblichen Rehabilitationsmaßnahmen unterziehen müssen: Auch an dem Körper eines relativ Unsterblichen ging das künstliche Koma nicht spurlos vorbei. Atrophierte Muskeln mußten behutsam wieder angeregt, einfache Bewegungen wieder neu erlernt werden. Und - so aberwitzig das klingt - ich hatte viel schlafen, mich einem tiefen, natürlichen Schlummer hingeben müssen, während die unermüdlichen Finger der Medoroboter meine Muskeln kneteten. Aber wie gut es tat, wieder zu leben! Die anregenden Impulse meines Zellaktivatorchips fluteten wohlig durch meinen Körper. Jeder einzelne von ihnen schien mir wie ein Willkommensgruß. Ich öffnete das Fenster des Gleiters einen Spalt weit. Sofort strömte die heiße, würzige Luft der kaum 200 Meter unter uns dahingleitenden Wüste in die Kabine. Ich sog sie in tiefen Zügen ein, genoß das Hier und Jetzt. In kaum einer Stunde würde ich 11
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in Erican sein und Tamarena wiedersehen. Das allein zählte, alles andere würde sich weisen. In den Senken waren kleine Seen entstanden. Glitzernd brach sich das Sonnenlicht im Wasser. Ich beugte mich vor, um das Bild besser aufnehmen zu können. Die Oberflächen der Seen, erkannte ich, waren in unaufhörlicher Bewegung. Aber wieso? Kein Windhauch rührte sich in der Mittagshitze. »Es sind Charims«, ertönte Riaals Stimme. Sie mußte meinen verwunderten Blick bemerkt haben. »Wüstenfische. Wenn es in der Wüste regnet, schlüpfen sie aus ihren Eiern. Sie fressen alles, was sich bewegt, auch ihre kleineren Artgenossen. Am Abend sind die größten von ihnen fingerlang geworden. Dann hören sie auf zu fressen, legen ihre Eier und warten auf den Tod.« Die Traversanerin ging etwas tiefer, damit ich besser sehen konnte. »Sie müssen nicht lange warten. Länger als zwei, drei Pragos halten sich die Seen nie. Was du siehst, sind ihre um sich schlagenden Leiber.« »Erstaunlich ... und schaurig schön«, gab ich in aufrichtiger Ehrfurcht zurück. »Du scheinst dich gut auszukennen. Bist du oft hier draußen?« Mein letzte Frage war berechnend, denn meine Begleiterin schien mir so zugänglich wie nie zuvor. Riaal hatte sich seit meinem Erwachen als überaus verschlossen erwiesen. Meinen Fragen, egal, ob sie nun ihr eigenes Schicksal, das gemeinsamer Freunde oder das Tamarenas betrafen, war sie stoisch ausgewichen. Wenn ich hartnäckig geblieben war, dann hatte sie nur geantwortet: »Warte, bis wir in Erican sind.« »Ja, so oft ich kann. Viele Leute denken, die Wüste wäre leer, eine Einöde aus Sand, Steinen und Hitze. Aber das ist nicht wahr.« Ihr fleischiger Arm strich über die Pracht unter uns. »Die Wüste ist ganz anders, man muß sich nur die Mühe machen, genau hinzusehen.« Sie schwieg einige Sekunden. Dann fügte sie hinzu: »Und die Wüste ist ehrlich. Du mußt hier um dein Leben kämpfen, aber sie lügt dich nicht an. Sie tut nicht so, als wäre sie dein Freund.« Sie ist verbittert, flüsterte mein Extrasinn. Man muß ihr übel mitgespielt haben. Aber sie kann sich noch nicht ganz von den Menschen abgewandt haben. Sonst hätte sie dich nicht aufgeweckt ... Ich verzichtete darauf, meinen Gedankenbruder auf seinen Denkfehler hinzuweisen. Vielleicht war auch genau das Gegenteil der Fall. Hätte mich Riaal schlafen lassen, hätte ich nie von Tamarenas Schicksal - wie immer es auch genau aussehen mochte - erfahren, wäre ich in gnädiger Ignoranz in meiner Gegenwart aufgewacht und hätte mein Leben weitergelebt. Das hier konnte ebensogut Riaals unbewußte Rache für die Verletzungen der letzten Jahrzehnte sein. Ich nickte mitfühlend. »Du hast viel Zeit, nicht wahr?« Meine Frage war rhetorisch - ein einziger Blick auf die abgewetzten Sitze ihres uralten Gleiters zeigte, daß die alte Frau neben mir keine hochrangige Stellung mehr bekleiden konnte. Sie verzog die Lippen zu einem gequälten Grinsen. »Das kann man wohl sagen. Früher war das anders ...« Riaal überlegte kurz, dann gab sie sich einen Ruck. »Irakhem nahm mich in seine Regierung auf, als Wirtschaftsministerin, kurz nachdem du in den Tiefschlaf gegangen warst. Es war eine schwierige Zeit, der Angriff hatte Zehntausende das Leben gekostet. Die Infrastruktur, unsere Industrie war zum großen Teil zerstört. Sieh nur.« Sie deutete auf die Landschaft unter uns. Die Wüste hatte der immergrünen Hügellandschaft Platz gemacht, die den größten Teil Yscans, des großen Nordkontinents Traversans bedeckte. Es war eine dünnbesiedelte Region, weitläufige Plantagen und Felder bestimmten das Bild. Nur hin und wieder ragten die Trichterbauten größerer Höfe aus der dichten Vegetation - oder das, was von ihnen übrig war. Immer wieder überflogen wir rauchverschmierte, ausgebrannte Ruinen. »21 Jahre ist das jetzt her«, fuhr Riaal fort. »Aber die Trümmer sind nicht das schlimmste.« Die Traversanerin zog den Steuerknüppel zur Seite. Wenige Augenblicke 12
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später kreisten wir über einem unversehrten Hof. »Hier, sieh dir das an, vom Krieg völlig unversehrt, aber verlassen. Die Leute fliehen vom Land, weil sie für ihre Produkte kein Geld mehr bekommen.« Die Gebäude unter uns waren menschenleer. Auf manchen der Trichter hatten sich Teiche von Regenwasser gebildet, ein sicheres Zeichen der Verwahrlosung. Und auch das Grün um den Hof herum war anders - üppiger und unkultiviert. Riaal nahm wieder Kurs auf Erican. »Ich wollte wieder aufbauen, damals. Die Wirtschaft in Schwung bringen. Aber Irakhem sah das anders. Natürlich wollte auch er das Beste für unser Volk, aber für ihn hieß das nur eins ...« Die alte Frau drehte den Kopf und sah mich fragend an. Ich erwiderte ihren vor Zorn sprühenden Blick und fragte: »Und das war?« »Waffen!« Riaal warf in einer Geste hilfloser Wut kurz beide Arme in die Höhe. »Waffen und immer wieder Waffen! Er ist besessen von ihnen. Wenn wir vor zwanzig Jahren eine stärkere Flotte gehabt hätten, glaubt er, dann wäre das alles nie passiert. Wir hätten Leuhar da Merrits Schiffe gestoppt, bevor sie auch nur in die Nähe Traversans gekommen wären. Und jetzt hat er nur eines im Kopf: Unter seiner Regierung darf sich so etwas nicht wiederholen - koste es, was es wolle! « Ich enthielt mich eines Kommentars und starrte nach draußen. Unter uns zogen die ersten Ausläufer Ericans, der Hauptstadt Traversans, dahin. In einem hatte Riaal recht, die Narben des Angriffs waren nicht zu übersehen. Selbst in den vornehmen Villenvierteln klafften häßliche Krater zwischen den einzelnen Trichterbauten. Der Gleiterverkehr war, gemessen daran, daß wir uns über der Hauptstadt des Planeten befanden, gering. Noch deutlicher wurden die Folgen des Krieges, als wir die ärmeren Viertel der Stadt überflogen. Die vier- und fünfstöckigen Häuser, die das Bild des alten Ericans bestimmt hatten, wurden nun von riesigen neuen Zweckbauten überragt. 15, ja 20 Stockwerke hoch reckten sich graue, gesichtslose Wohnblöcke in den Himmel. Sie standen so dicht, daß sich kaum ein Sonnenstrahl in die unteren Stockwerke verirrte. Hinter ihnen klaffte ein riesiger, dunkler Krater - die Absturzstelle eines Schlachtschiffs, das ein ganzes Stadtviertel ausgelöscht hatte. Ein Frösteln erfaßte mich, als ich auf die durch die extreme Hitzeentwicklung glasierte Fläche hinunterstarrte. Es fiel mir schwer zu glauben, daß sich an dieser Stelle zu meiner eigenen Zeit die von prachtvollen Gärten umgebenen Villen der Reichen Ericans befinden würden. »Oh, beinahe hätte ich ihm Unrecht getan.« Riaals sarkastischer Tonfall ließ mich aufblicken. Unmittelbar hinter den Wohnblöcken funkelte die Kuppel eines transparenten Schutzschirms. Darunter breitete sich ein Gewirr bunter, verspielter Trichterbauten aller Größen in einer atemberaubenden Parklandschaft aus. »Er hat nicht nur Waffen im Kopf. Da ist ja auch noch sein Palast.« Ich nutzte die Tatsache, daß Riaal übergangslos Kontakt mit der Palastwache aufnahm, um uns eine Einfluggenehmigung zu verschaffen, mich in diplomatisches Schweigen zu hüllen. Die Wirtschaftsexpertin glaubte in mir einen Verbündeten zu haben, jemanden, der ihre kritische Haltung teilte. Sie ahnte nicht, wie falsch sie lag. Irakhem hatte recht, es war Waffengewalt gewesen, die Traversan vor der Vernichtung gerettet hatte. Im Tai Ark’Tussan galt das Gesetz des Stärkeren, Hunderte von Planeten waren bereits im Feuer der arkonidischen Flotte verglüht - manche von ihnen als Strafe für eine Rebellion, andere für Nichtigkeiten und wieder andere aus der bloßen Laune eines Imperators heraus. Traversan würde dieses Schicksal nicht ereilen, soviel wußte ich, denn schließlich existierte der Planet noch in meiner Gegenwart, aber es konnte durchaus sein, daß dies Irakhems Politik der Stärke zu verdanken war. Mein Gedankenbruder meldete sich zu Wort: Natürlich muß der Nert einen prachtvollen Palast unterhalten! Er wäre ein Schwachkopf, verteilte er seinen Reichtum
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und zöge zu seinen Untertanen. Nicht lange und er wäre einer der ihren. Adel braucht Prunk! Vor uns öffnete sich eine Strukturlücke. Jetzt, da der Palast zum Greifen nahe vor uns lag, kehrte meine Aufregung mit einem Schlag zurück. Tränen schossen mir in die Augen. Irgendwo dort unten war meine geliebte Tamarena! Nur noch ein paar Minuten, dann würde ich sie in meine Arme schließen ... Riaal bedachte mich mit einem skeptischen Seitenblick und landete auf dem Dach eines der kleineren Trichter. Keuchend wuchtete sie ihren massigen Körper aus dem Fahrzeug. »Warte hier, ich bin gleich zurück.« Ich tat, wie mir geheißen, auch wenn alles in mir danach brannte, einfach in den Palast zu rennen und Tamarena zu suchen. So schlecht kann ihr Verhältnis zu Irakhem nicht sein, versuchte mein Logiksektor mich abzulenken, wenn sie derart mühelos Zutritt zum Palast erhält. Vielleicht verbindet die beiden eine Art Haßliebe oder etwas Ähnliches? Noch bevor ich meinem Alter Ego antworten konnte, kehrte Riaal zurück. »Komm mit.« Sie winkte mir zu. Jemand hatte sich ihrer erbarmt und einen violett glänzenden Pelzmantel über ihren einfachen Kunstfaserumhang geworfen. Für mehr als das hatte aber offenbar die Zeit nicht gereicht, denn ihr ungewaschenes Haar war immer noch so unordentlich wie zuvor. Am Eingang des Trichters erwarteten uns ein Dutzend in dezente Uniformen gehüllte Palastdiener - oder besser gesagt Wachen, denn meinem geübten Blick entgingen die fast unmerklichen Abdrücke unter ihren Kleidern nicht. Sie trugen Luccots, kleine Handstrahler. Gemessenen Schrittes eskortierten sie uns durch den Palast. Der erste Eindruck hatte nicht getrogen. Auch die Inneneinrichtung der Anlage stand im frappierendem Gegensatz zu der Armut des übrigen Planeten. Und offenbar hatte der Nert in den vergangen Jahren einen Sinn für Kunst entwickelt: Ich entdeckte gleich mehrere Werke Tassinas, einer Arkonidin, die als einfache Soldatin an den Methankriegen teilgenommen hatte. Wie keine andere Holo-Fotografin hatte sie es verstanden, die Schrecken und Heldentaten dieser Jahre in einer für die patriotische arkonidische Seele verdaulichen Form festzuhalten. Endlich - die zeremonielle Langsamkeit unserer Begleiter hatte bereits begonnen, an meinen Nerven zu zehren - gelangten wir in eine mit mehreren Polstermöbeln ausgestattete Vorhalle. »Nehmt Platz«, forderte uns einer der Männer auf. »Der Nert wird euch in Kürze empfangen.« Dann verschwanden die Diener. Und damit begann das Warten. Nach einer Tonta konnte mich Riaal nur mit größter Mühe davon abhalten, die großen Flügeltüren aufzureißen und Tamarena aufzustöbern. Nach zwei Tontas war ich am Boden zerstört. Was war hier los? Irgend etwas stimmte nicht. Aber was? Nach drei Tontas, als schließlich ein Palastdiener erschien und uns beschied, der Nert erweise uns nun die Ehre einer Audienz, hatte mich kalte Entschlossenheit erfaßt. Ich würde herausfinden, was hier gespielt wurde. Die Flügeltüren öffneten sich. Riaal und ich traten in einen Audienzsaal mit einer geradezu irrwitzig hohen Decke - sie mußte sich gut und gern 20 Meter über uns befinden. In der Mitte des Saals stand ein hochgewachsener Mann in der traditionellen Robe der Nerts von Traversan, Tamarenas Bruder. Ich eilte auf ihn zu. Noch aus der Entfernung erkannte ich den Mann. Sein athletischer Körperbau, das weißblonde, rückenlange Haar, das er zu einem Zopf verknotet trug, waren untrüglich: Vor mir stand mein alter Kampfgefährte Irakhem. Freude wischte meine angestaute Wut hinweg. Ihn hatten sicher wichtige Angelegenheiten aufgehalten. Ich wußte ja selbst am besten, welche Zwänge einen Herrscher in ihrem unerbittlichen Griff hielten. »Irakhem, mein alter Freund!« rief ich. »Wie gut es tut, dich wiederzusehen!«
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Irakhem sagte nichts. Inzwischen hatte ich die letzten trennenden Meter überwunden und stand direkt vor ihm. Jetzt sah ich, daß die Jahre doch ihre Spuren hinterlassen hatten. Ein feines Gespinst winziger Fältchen umringte seine Augen - Augen, die vor Zorn sprühten. Ich streckte die Hand zum Gruß aus. Er ignorierte sie. »Deine Dreistigkeit kennt keine Grenzen! Wie kannst du es wagen, mir je wieder unter die Augen zu treten!« Seine Stimme war schneidend. »Was ... was soll das heißen?« Einen Augenblick lang konnte ich nur stammeln. Was geschah hier? »Tu nicht so unschuldig, Unsterblicher!« Er zischte die Anrede als wäre sie ein Schimpfwort. »Du hast uns das doch alles eingebrockt!« Was habe ich getan? Jetzt, da ich den Rat meines Extrasinns hätte gebrauchen können, schwieg er. Ich drehte mich zur Seite und warf Riaal einen hilfesuchenden Blick zu. Aber die alte Frau, die beim Anflug noch lauthals über den Nert geschimpft hatte, schien in der gewaltigen Halle wie eingeschrumpft. Sie starrte nur angestrengt auf den Boden. »Was meinst du mit alles?« wandte ich mich wieder an Irakhem. »Ich verstehe nicht, von was du redest!« Der Nert hatte den Mund bereits für die nächste Tirade geöffnet, aber dann nahm er sich plötzlich zurück. Vielleicht spürte er, daß meine Ratlosigkeit nicht gespielt war. »Wenn du nicht wärst, Atlan, dann wäre sie nie ins Koma gefallen! Dann wäre sie heute glücklich!« Daher weht der Wind! meldete sich mein Extrasinn zurück. Er ist eifersüchtig - und da er offenbar immer noch ganz der alte Heißsporn ist, hat er dich kurzerhand zum Sündenbock erklärt. Eifersucht ... konnte die Erklärung wirklich so banal sein? Auch wenn es mir nicht gefiel, sprach doch einiges dafür: Zwischen Irakhem und Tamarena hatte schon immer ein besonderes Band bestanden. Als mich die Zeitstation der Meister der Insel in dieser Epoche ausspuckte, hatte zwischen den beiden schon länger eine Liebesbeziehung in der Luft gelegen. Dann war ich gekommen und hatte - so mußte es zumindest Irakhem erscheinen - Tamarena im Sturm erobert. Aber der Traversaner hatte seine Niederlage mit Fassung getragen - ebenso wie kurze Zeit danach die Eröffnung Nert Kuriols, daß er und Tamarena Geschwister waren. Doch das Koma Tamarenas mußte seine Leidenskraft überfordert haben: Erst hatte ich ihm die Geliebte, dann die Schwester genommen. »Mein Freund«, entgegnete ich, »glaub mir doch, es tut mir unendlich leid, was mit Tamarena geschehen ist. Aber du weißt doch, daß es ein Unfall war.« »Ach ja, weiß ich das?« Der kurze Moment von Nachgiebigkeit schien verflogen. »Ihr wart alleine, du, dieser Dagormeister Trokk und Rena. Wer sagt mir, daß du nicht gelogen hast, daß es kein Unfall war? Als man euch fand, war Trokk tot und Tamarena lag im Koma. Nur du warst seltsamerweise unverletzt. Vielleicht war es dein Schwert, das sie getroffen hat?« Sein Züge verhärteten sich noch weiter. »Oder vielleicht war Trokk dir ja überlegen, und du hast sie ihm entgegengeschleudert, um dein eigenes, ach so wertvolles unsterbliches Leben zu retten?« Wieder stiegen Bilder aus meinem photographischen Gedächtnis auf. Wieder sah ich, wie Tamarena trotz meines Aufschreis Trokks Dagor-Schwert entgegensprang, sie getroffen zu Boden sank. Ich wollte gegen Irakhems ungeheuerlichen Vorwurf protestieren, aber ich war wie gelähmt; meine Zunge wollte mir nicht gehorchen. »Ja, so muß es gewesen sein«, redete sich Irakhem weiter in Rage. »Du hattest Angst, Todesangst. Da war dir jedes Mittel recht. Weißt du was? Ich werde dir den Prozeß machen! In die Konverterkammer sollst du ...« »Irakhem!« Die Stimme hallte durch den Saal wie das Donnern einer vorzeitlichen Göttin. Der Nert und ich wirbelten gleichzeitig herum - und sahen Riaal. Die Traversanerin hatte den Pelzmantel abgestreift wie eine ihr aufgezwungene, unnatürliche Haut. Sie 15
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mochte gealtert, nur noch ein Schatten ihrer selbst sein, aber jetzt strahlte sie Stolz aus, wie die Riaal, die ich vor zwei Jahrzehnten kennengelernt hatte; unbeugsamen Stolz. »Was fällt dir ein? Ohne Atlan wäre unsere Heimat nur noch ein Haufen ausgeglühter Asche! Er hat uns gerettet. Und Tamarena - sie hat Atlan geliebt, das weißt du so gut wie ich. Sie hätte alles für ihn getan - auch sich geopfert, ob er das gewollt hätte oder nicht.« Riaal trat bis auf einen Schritt an Irakhem heran. »Atlan hat alles für sie getan, was er konnte. Er ist keinen Schritt von ihrer Seite gewichen, bis die Ärzte sich ausnahmslos einig waren, daß Tamarena nie wieder aus dem Koma erwachen würde. Erst dann ist er in den Tiefschlaf gegangen! Was hätte er sonst tun sollen?« Irakhem schluckte, dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Ist ja gut, ist ja gut.« Er wirkte plötzlich wie ein von seiner Mutter zur Rede gestellter Sohn. Mein Extrasinn meldete sich: Ein treffendes Bild, Arkonide. Denk doch nach, Irakhem war damals 23, halb so alt wie Riaal. Sie muß für ihn wie eine Mutter gewesen sein - und das könnte auch der Grund sein, wieso er sie aus der Regierung geworfen hat. Der Junge mußte sich als Herrscher freischwimmen. Irakhem nickte mir zu. »Ich habe deine Dienste um Traversan nicht vergessen, Atlan.« »Ich tat nur, was getan werden mußte«, entgegnete ich bescheiden. Einige Minuten lang tauschten wir Reminiszenzen aus. Irakhem schien seinen Groll zunehmend zu vergessen. Schließlich konnte ich meine Ungeduld nicht mehr zügeln. »Aber was ist mit Tamarena? Kann ich sie sehen?« Irakhem versteifte sich. »Nein.« »Und wieso das?« »Es geht nicht.« Diesmal loderte der Zorn in mir auf. »Gib es zu, du willst nicht, daß ich sie sehe!« Irakhem zuckte die Achseln. »Kann sein, aber das ist egal.« Seine Züge verzogen sich zu einer schmerzhaften Grimasse. »Sie ist verschwunden, und ich weiß nicht, wo sie ist.« »Aber ...« »Kein Aber, Atlan. Danke lieber den Göttern, daß Riaal hier war, um mich an deine Verdienste um Traversan zu erinnern. Und jetzt geht, alle beide, bevor ich es mir anders überlege.« Irakhem wandte sich ab und marschierte zügig zum entgegengesetzten Ende der Halle. Im selben Moment erschienen wie aus dem Nichts Palastdiener und umringten uns, die Hände drohend auf den Umrissen der Energiestrahler, die sich unter ihren Uniformen abzeichneten. Meine Audienz mit Nert Irakhem, dem einzigen Mann, der mir vielleicht sagen konnte, wo Tamarena sich aufhielt, war beendet - und es sah nicht danach aus, als ob ich je eine weitere erhalten sollte.
Kapitel 4 Das Schlimmste war das Packen. Seit er mit klopfendem Herzen den schlichten grauen Umschlag am Fährterminal abgeholt hatte, verging kaum ein Augenblick, an dem Lathir sich nicht mit dieser Frage befaßte. Was sollte er nur mitnehmen, hinaus ins Universum? Die Probleme fingen bei den praktischen Fragen an. Was trug man auf einem Planeten? Er hatte noch nie einen betreten. In den Orbitalen Städten herrschte eine Standardtemperatur von ungefähr 30 Grad Celsius - das Optimum für Arkoniden und ihre Abkömmlinge, aber auch das Lathirs und seiner Artgenossen, die keine anderen 16
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Umweltbedingungen kannten. Doch auf Planeten war alles anders, dort gab es Wetter. Temperaturen sanken innerhalb von Minuten unter den Gefrierpunkt oder verdoppelten sich. Unkundige konnten jederzeit in Regenfällen ertrinken, von Schneewehen begraben oder von Windböen davongetragen werden. Zumindest vor einigen dieser Gefahren schützte Kleidung, fand Lathir durch Recherchen im Intranet der Städte heraus - eine verblüffende Erkenntnis für ein Wesen, das Kleidung bisher nur als modisches Accessoire oder Abzeichen von Rang kannte. Den ersten Prago nach Empfangnahme des Umschlags verbrachte Lathir in fast völliger Verzweiflung. Er wollte ja nicht nur einen Planeten sehen, sondern alle! Und jeder von ihnen war völlig verschieden, ein Universum für sich. Nie würde es ihm gelingen, sich für alle auszustatten! Schließlich, nachdem er aus purer Verzweiflung jeden einzelnen Korridor von YARUZAS LETZTER HOFFNUNG mindestens dreimal abgegangen war, kehrte sein vernünftiges Denken zurück. Er zog sich in sein Versteck zurück, ein ihm allein bekanntes Kämmerchen in einiger Entfernung des Nests der Herde, nahm den Umschlag aus der Tasche und zog ehrfürchtig seinen Inhalt hervor. Es waren zwei Holo-Folien. Eine zeigte das Siegel des Tatos und war seine Ausreisegenehmigung. Die zweite war sein Ticket. Die grünblaue Kugel eines Planeten schwebte vor dem Hintergrund des von Sternen gesäumten Alls. Und darunter stand ein Name: Traversan. An einem öffentlichen Terminal in einem der abgelegeneren Teile der Stadt holte Lathir Informationen ein - und war gegen seinen Willen enttäuscht. Traversan war ein unbedeutender Kolonialplanet des Imperiums im benachbartem Brysch-Sektor, keine 300 Lichtjahre entfernt. Das einzige herausragende Ereignis seiner 2000 Arkonjahre zurückreichenden Geschichte lag gerade zwei Jahrzehnte zurück und wurde in den Quellen höchst unterschiedlich dargestellt. Manche berichteten von einer Rebellion der Traversaner gegen den Imperator, andere von einem persönlichen Rachefeldzug des damaligen Sonnenkurs des Sektors gegen den Planeten. Fest stand jedenfalls, daß mehrere Raumschlachten um Traversan ausgefochten worden waren, und sich der Kolonialplanet letztendlich, wenn auch stark mitgenommen, hatte behaupten können. Immerhin waren sich die verschiedenen Quellen einig, daß in Erican, der Hauptstadt Traversans, ein gemäßigtes Klima herrschte. Erleichtert beschloß Lathir, bei seiner leichten Kombination zu bleiben. Der Rest ergab sich fast von alleine. Das Säckchen mit dem Dutzend - zugegeben minderen roten Khalumvatt, die er seinen persönlichen Besitz nannte, war ein Muß, das hatte ihm seine Unterredung mit dem Schlepper im STERNENTAU noch einmal vor Augen geführt. Die Arkoniden waren anders. Den Mitgliedern einer unithischen Herde war es selbstverständlich, einander zu helfen. Die Arkoniden erwarteten fast immer Bezahlung, selbst für die Deckung so grundlegender Bedürfnisse wie Ernährung und Unterkunft. Absolut unabdingbar war natürlich auch sein Köfferchen mit den Pflegeutensilien für seinen Rüssel. Dieser war Lathir trotz seiner Verkrüppelung wie jedem Unither heilig, die morgendliche Reinigungsprozedur des muskulösen Greifwerkzeugs glich einer religiösen Zeremonie. Blieben noch die persönlichen Stücke. Lathir besaß eine große Sammlung von Andenken - kleine Geschenke, die ihm Reisende gegeben hatten, die er in den Empfangs und Abflugshallen verschiedener Städte angesprochen hatte. Manches davon - wie etwa die Verpackung eines Snacks von Therbor, die immer noch leicht nach Fisch roch, oder das Holowerbebild für eine schnittige Raumjacht - war für seine Vorbesitzer nur lästiger Abfall gewesen. Doch für Lathir waren sie Schätze, kleine Schnipsel des lockenden Universums, die er stundenlang betrachtete und beschnüffelte, ganz gleich, wie sehr ihn die Gleichaltrigen seines Nests dafür hänselten.
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Schweren Herzens nahm Lathir Abschied von seinen Stücken. Er konnte schließlich nicht mit einem Container zu seiner großen Reise aufbrechen. Und außerdem, tröstete sich der Unither, würde er ja eine Unzahl neuer Andenken finden und irgendwann seinen staunenden Rassegenossen präsentieren. Doch ein Glied zu seinen Wurzeln würde er auf keinen Fall aufgeben: Das Buch der Herde. Ehrfürchtig blätterte er durch die ledernen Seiten, fühlte mit der empfindlichen Spitze seines Rüssels über die glatten Buchstaben. Er selbst hatte es unter der geduldigen Anleitung Khalankas vom Ur-Exemplar abgeschrieben. Das Buch der Herde schilderte die Geschichte seines Stammes. Angefangen von seiner Verschleppung von Unith, der paradiesischen Urheimat, über die vielen Stationen seiner Odyssee bis zur Ankunft auf den Orbitalen Städten, wo die Unither nun dank ihrer geheimnisvollen Meisterschaft in der Bearbeitung der Schwingquarze in, wenn auch komfortabler, Knechtschaft lebten. Im hinteren Teil des Buchs warteten mehrere leere Seiten auf die Tinte des Schreibers - und insgeheim hoffte Lathir, daß er sie eines Tages mit den Berichten seiner Abenteuer zwischen den Sternen füllen würde, auch wenn er es nicht wagte, irgend jemandem davon zu erzählen. Dann kam der Tag des Aufbruchs. Lathir schlich sich wie ein Verbrecher aus dem Kreis der Herde - zumindest kam er sich so vor, als er sich aus dem Nest stahl. Aber niemand, auch nicht die alte Khalanka, der selten irgend etwas entging, hielt ihn auf oder stellte ihn zur Rede. Inzwischen hatte man sich daran gewöhnt, daß der schräge Lathir öfters allein verschwand und erst viele Tontas später wieder auftauchte. Kurze Zeit darauf trat Lathir zitternd in die Abflughalle, das Bündel seiner Habseligkeiten in der linken Hand, das Ticket in der rechten - und bezweifelte auf der Stelle die Weisheit seiner Genügsamkeit. Ein Grund für seine Beschränkung war die Angst gewesen, aus der Masse herauszustechen. Sein minimales Gepäck sollte den Rupiaki, welche die Ausreise überwachten, signalisieren, daß er mitnichten danach trachtete, dem Schemmenstern-System für immer den Rücken zuzukehren. Er war Bote, hatte der Unither sich eine Geschichte zurückgelegt, und sollte dringend benötigte Quarze nach Traversan bringen. Sein Aufenthalt auf dem Planeten würde nur Stunden dauern, deshalb das leichte Gepäck. Die Abflughalle war ein Chaos aus Arkoniden, Arkonidenabkömmlingen und Fremdwesen, die sich dicht an dicht aneinander drängten, einander lauthals beschimpften und versuchten, zur Seite zu stoßen. Allen gemeinsam waren die Berge von Gepäck, die sie mit sich schleppten. Fast schien es, als ob die meisten der Wesen ihren gesamten Besitz mit sich führten. Die von dem Ansturm überforderte Klimaanlage mußte ihren Dienst eingestellt haben, denn die Luft war stickig und heiß. Und da war noch etwas. Lathirs Rüssel richtete sich schnüffelnd auf. In der Luft lag Schweiß, aber er roch nicht wie sonst, wenn Lathir Stunden um Stunden in Empfangshallen herumgehangen und von den Sternen geträumt hatte, nach freudiger Erwartung, sondern nach Angst. »Was ist hier los?« wandte sich Lathir an einen dicken Arkoniden, der unmittelbar vor ihm stand. Der Mann hatte eine ebenso dicke Frau und zwei Kinder bei sich. Eine Familie, dachte der Unither, so nennen sie doch diese Kleingruppen. Wie können sie nur so leben, ohne Herde? »Das siehst du doch!« rief der Mann und warf die Arme in die Höhe. Sein Gesicht war krebsrot. »Die Leute wollen hier weg! Wozu sollten sie sich sonst in einer Abflughalle drängeln, Rüsselkopf?« Lathir ignorierte die Beleidigung. »Aber wieso sind es so viele, Erhabener? Das ist doch nur der Linienflug nach Traversan?« »Und selbst wenn er auf den Zentralplaneten der Methans ginge, würden sich die Leute darum prügeln.« Schon der Ehrentitel untersten Ranges genügte, um den Mann etwas versöhnlicher zu stimmen. Er schien nicht oft in das Vergnügen zu kommen, überhaupt mit Titel angesprochen zu werden. »Steckt ihr eure Rüssel nie in das Intranet?« 18
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»Ja, schon, Erhabener, aber ...« »Dann hast du doch auch die Gerüchte gehört, oder?« »Nein.« Lathir sagte die Wahrheit, er hatte in den letzten Monaten nur noch seine eigenen Pläne im Kopf gehabt. »Glaubt man so was, Zaphira!« Er stieß seine dicke Frau mit dem Ellbogen an. »Der Rüsselkopf weiß von nichts!« Der Mann beugte sich vor und bedeutete Lathir mit einer Geste näherzukommen. »Es heißt, Reomir X. hatte einen Wutausbruch. Er hat genug davon, daß unser feiner Tato die Orbitalen Städte zum Fluchtpunkt für das Gesindel des Imperiums macht, egal, ob sie sich Tsuaristen, Republikaner oder Pazifisten nennen. Diese Leute wollen doch nur unsere bewährte Ordnung stürzen.« Der Mann klatschte sich nachdrücklich auf den Schenkel. »Und das heißt, Erhabener?« »Das heißt, der Spuk ist vorüber. In drei Pragos wird die Flotte die Orbitalen Städte aus dem Universum fegen! Du kannst mir glauben, das habe ich aus einer zuverlässigen Quelle. Aber wenn die Flotte kommt, sind wir längst ein paar Hundert Lichtjahre von hier weg.« Der Mann drehte sich um, winkte seiner Familie zu und bahnte sich laut schreiend einen Weg durch die Masse. Lathir blieb verwirrt zurück. Konnte er dem Mann glauben? Der Arkonide schien es ernst gemeint zu haben, sonst stände er ja nicht mit Familie und Besitz in der Halle. Dasselbe galt für die übrigen Wesen, die sich um ihn herum drängten: Sie alle mußten ihre Existenz bedroht sehen. Aber taten sie es zu Recht? Kein Zweifel, dem Imperator war eine solche Irrsinnstat zuzutrauen. Wirtschaftliche Vernunft oder Humanität bedeuteten ihm wenig, wenn er seine Herrschaft bedroht sah. Aber Lathir spürte, daß sie sich irrten. Es konnte nicht das Hradith von 50 Millionen Intelligenzen sein, im Feuer von Strahlenkanonen zu vergehen. Vielleicht würde der Tato Rupiak stürzen, aber das mußte weder ihn noch seine Artgenossen kümmern. Sie hatten in den Jahrhunderten seit ihrer Verschleppung von Unith die verschiedensten Herrscher erduldet, und keiner. von ihnen hatte sich der Herde gegenüber als besonders gewogen erwiesen. Tatos kamen und gingen, die Gemeinschaft der Unither überdauerte. Nach und nach wurde Lathir in die wartende Masse eingesogen. Immer neue Intelligenzen, in erster Linie Arkoniden und Arkonidenabkömmlinge, drängten in die Abflughalle und drückten gegen ihre Vordermänner. Bald fand sich Lathir eingekeilt in der Mitte der Halle wieder. An mehreren Stellen spürte er schwitzende Arkonidenhaut gegen die seine drücken - kein Vergnügen für den Unither, der selbst eine gelblichbraune Lederhaut besaß, die allenfalls im geringem Maße Flüssigkeit ausschied. Die glitschige, bleiche Haut der Arkoniden ekelte ihn an. Keiner der Wartenden ließ sich dazu herab, Lathir anzusprechen, aber das störte den Unither nicht. Er erfuhr ohnehin alles, was er wollte, aus den Gesprächen, die pausenlos um ihn herum geführt wurden. Die Gerüchte überschlugen sich: Das Fluchtschiff des Tato sei bereits startklar, hieß es. Es konnte sich nur noch um Pragos handeln, bis Rupiak aus dem Otreilian-Sektor verschwindet. Nein, widersprachen andere, der Tato würde niemals die Orbitalen Städte verlassen. Er würde bis zum letzten Atemzug kämpfen. Wieder andere wollten von einer Verschwörung einiger Tatonks, der obersten Beamten einzelner Städte, wissen. Einig war man sich nur darin, daß sich großes Unheil über dem SchemmensternSystem zusammenbraute und man selbst nicht im Traum daran dachte, die eigene Haut zu riskieren. Hatte man sich geirrt oder blieb den Städten das Schlimmste erspart, konnte man immer noch zurückkehren. Doch der Luxus einer vorsorglichen Flucht war nicht jedem vergönnt. Immer wieder kam es an der Sperre, die zwei Dutzend Rupiaki vor dem Durchgang zum wartenden 19
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Passagierraumer errichtet hatten, zu Tumulten. Einzelnen Passagieren wurde die Ausreise verweigert; ob das geschah, weil ihre Papiere nicht in Ordnung waren oder weil ihre Tickets ungültig waren, konnte Lathir in dem Geschrei nicht ausmachen. Sicher war, daß die Abgewiesenen auf keine Gnade hoffen konnten. Die Rupiaki warteten jeweils, bis sie ein halbes Dutzend von ihnen zusammen hatten, um sie dann von einem Kampfroboter abführen zu lassen. Und was ist, wenn meine Papiere nicht in Ordnung sind? Lathir rieb sich beruhigend über die Hörstreifen. Natürlich waren seine Papiere das. Er hatte einen guten Preis dafür bezahlt - und auch die Sentenza mußte einwandfreie Ware liefern, um im Geschäft zu bleiben, oder nicht? Und außerdem, redete er sich in Gedanken zu, macht ein Betrug keinen Sinn. Wenn sie ihren Teil des Handels nicht hätten einhalten wollen, hätten sie mir einfach keinen Umschlag gegeben. Der Umschlag! Lathirs daumenlose Hand krampfte sich noch fester um die Hülle aus unzerreißbarem Plastik. Er durfte ihn nicht verlieren. Er war sein Hradith, dessen war er sich immer sicherer. Er spürte es, genauso wie er das aufgeregte Pulsieren der Quarze in seiner Brusttasche spürte. Dann war er an der Reihe. »Ah, wen haben wir denn da?« Der Rupiaki trug die olivgrüne Standarduniform der persönlichen Garde des Tato. Ein leichtes Flimmern an mehreren Stellen seines Körpers verriet, daß der Mann seinen Prallschirm aktiviert hatte, um sich vor plötzlichen Angriffen abgewiesener Reisender zu schützen. Lathir verbeugte sich hastig. »Seid gegrüßt, Zhdopan. Entschuldigt bitte die Belästigung. Aber vielleicht ...« »Krieg dich wieder ein«, schnitt ihm der Gardist das Wort ab und deutete auf die dichtgedrängte Menge hinter dem Unither, »wir haben nicht den ganzen Prago Zeit. Deine Papiere?« Lathir reichte ihm den Umschlag zusammen mit seiner persönlichen Ausweiskarte. Der Gardist steckte sie ohne einen Blick darauf zu werfen in den Schlitz eines positronischen Lesegeräts. »Du willst also nach Traversan?« »Ja, genau.« Lathir konnte gerade noch verhindern, daß ein aufgeregtes Trompeten aus seinem Rüssel drang. »So, so. Und was will ein Unither dort? Der Tato sieht es nicht gern, daß deinesgleichen das System verläßt.« »Eine dringende Anforderung des traversanischen Flottenkommandos«, log Lathir. Er zog den Beutel mit den Quarzen aus der Brusttasche. »Einige der wichtigsten Schiffe der Flotte sind nur begrenzt einsatzfähig, weil ihre Steuereinheiten beschädigt sind. Ich soll diese Quarze an Ort und Stelle bearbeiten und einsetzen.« Der Mann sagte nichts und starrte nur auf den Ausgabeschlitz des Lesegeräts. Lathirs Papiere waren immer noch nicht wieder erschienen. »Ich ... ich werde nicht lange bleiben, Zhdopan. Wie ihr seht, nehme ich bereits das nächste Schiff zurück.« Die Papiere fielen in den Ausgabeschlitz. Der Rupiaki wollte mit einer routinierten Handbewegung nach ihnen greifen, aber sein Arm hielt mitten in der Bewegung an. Er starrte auf das für Lathir unsichtbare Display des Geräts. »Ist etwas nicht in Ordnung, Zhdopan?« erkundigte sich der Unither nervös. »Ich meine, wenn Ihr noch Fragen habt, kann ich gerne behilflich sein. Wißt Ihr, ich ...« Der Rupiaki kratzte sich bedächtig an seinem fast kahlen Kopf, nahm die Papiere und drehte sich zur Seite. Dem nervös plappernden Lathir schenkte er keine Beachtung. »Ribar, komm und sieh dir das hier an!«
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Der Angesprochene, die Abzeichen der Uniform wiesen ihn als den Vorgesetzten des Rupiaki aus, eilte herbei. Der einfache Gardist reichte ihm Lathirs Papiere. Die beiden berieten sich flüsternd. »Meine ehrenwerten Herren«, stammelte der Unither, »ich kann alles erklären. Wenn Sie mir einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit schenken würden? Sie werden sehen, alles findet seine Erklärung, wenn Sie mich nur ...« Die Konferenz der beiden Gardisten war zu Ende. Der kahlköpfige Rupiaki drehte sich wieder zu Lathir. »Keine Sorge«, winkte er beschwichtigend mit den Papieren in der Hand, »nur eine kleine Störung des Lesegeräts. Du kannst weitergehen. Die Schleuse für NichtArkoniden ist dort drüben. Gute Reise!« Der Rupiaki drückte ihm die Papiere in den Rüssel und deutete auf ein Schott zur Linken. Lathir bedankte sich überschwenglich, raffte seine Habseligkeiten zusammen und marschierte los. Nur mit größter Mühe konnte er sich davon abhalten, nicht einfach loszurennen. Er war durch! Vor ihm lag das Tor zu den Sternen! Das Schott glitt bei seinem Herannahen zur Seite. Ohne zu zögern trat er hindurch - und fand sich in einem kleinen drei auf drei Meter großen Raum wieder. Eine Pritsche und eine Toilette waren die einzigen Einrichtungsgegenstände. Lathir drehte sich um und wollte wieder hinausgehen. Er hatte sich offenbar in der Tür geirrt. Aber das Schott hatte sich bereits wieder geschlossen. Lathirs Verstand brauchte quälend lange Sekunden, bis er verstand. Als er es schließlich tat, begann der junge Unither haltlos zu schluchzen und mit Fäusten und Rüssel gegen die stählernen Wände zu hämmern. Er wimmerte immer noch, als zwei Tontas später das Schott erneut zur Seite glitt. Eine alte Unitherin betrat auf einen Stock gestützt den Raum - es war die Herdenälteste Khalanka. Lathir sprang von der Pritsche hoch, auf der er erschöpft zusammengesunken war. »Khalanka«, krächzte er, »wie ... wie kommst du hierher?« Die alte Frau sah ihren Schützling mitleidig an und streckte ihm eine Holo-Folie entgegen. Lathir nahm sie an sich. Es war sein Ticket. Doch statt des Globus von Traversan prangte ein Schriftzug auf der Folie: »Rupiaki! Übergebt diesen Jungen der Herdenältesten Khalanka von TAI MEREN NOAS. Auch wenn er es nicht weiß, es ist das Beste für ihn.«
Kapitel 5 Ich war allein - allein mit meinen Gedanken und der peinigenden, bestechenden Logik meines Extrasinns. Worauf wartest du noch, Arkonide? erkundigte sich die Stimme in meinem Kopf immer wieder. Auf ein Wunder? Du bist doch alt genug, um zu wissen, daß es so etwas nicht gibt. Sie ist weg, und das ist das Beste für dich. Leg dich wieder schlafen. Deine eigene Zeit braucht dich. »Nein!« Gegen meinen Willen schrie ich die Antwort heraus. »Ich ... ich kann nicht.« Mit einem Satz sprang ich auf und stapfte los, zu einer weiteren, rastlosen Runde durch Riaals enges Apartment. Seit fünf Pragos, seit der mißglückten Audienz bei Irakhem, war es meine Welt, mein Gefängnis. Zwei Zimmer, eine Naßzelle, alles vollgestopft mit konservierten Pflanzen, Tieren und Gesteinsproben aus der Yssods-Wüste, mehr nicht. Nicht einmal eine Kochnische gab es, das Essen wurde durch einen Schacht in der Wand dreimal am Tag angeliefert. 21
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Offiziell existierte ich nicht. Auf eigenen Wunsch hatte man meinen Namen und mein Bild aus der Geschichtsschreibung Traversans getilgt. Ich, der ich vor kaum mehr als zwei Jahrzehnten maßgeblich an der Rettung des Planeten beteiligt gewesen war, war zu einem Gespenst verblaßt - nicht, weil ich den Ruhm nicht zu schätzen gewußt hätte, sondern aus bitterer Notwendigkeit: Jede Sekunde, die ich hier in der Vergangenheit verbrachte, jede noch so winzige Handlung barg das Risiko, die Zukunft und damit meine Gegenwart bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Das galt auch für die Aufzeichnungen meiner Taten: Wie würden Historiker des terranischen Jahres 2400 reagieren, die durch Zufall auf mein Bild in den Datenbanken Traversans stießen? Und, noch wichtiger, wie würde ich selbst auf den Beweis meiner doppelten Existenz - denn eigentlich schlief ich ja jetzt, über 5000 Jahre vor Beginn der alten terranischen Zeitrechnung, in meiner Tiefseekuppel auf der Erde und wartete darauf, daß seine barbarischen Bewohner irgendwann die überlichtschnelle Raumfahrt entwickelten reagieren? Würde ich mich weigern, den Planeten Traversan jemals zu betreten, aus Angst, in die Vergangenheit geschleudert zu werden? Das käme einem Todesurteil für die über eine Milliarde Traversaner gleich, denn ohne mein Eingreifen wäre ihr Planet der Strafexpedition des Sonnenkurs Pyrius Bit zum Opfer gefallen und im Atombrand einer Arkon-Bombe verglüht. Nein, ich mußte unerkannt bleiben. Und deshalb war ich dazu verurteilt, in Riaals winzigem Apartment in einer hastig hochgezogenen Neubausiedlung Ericans zu warten. Denn auch wenn die Datenbanken Traversans mich vergessen hatten, manche seiner Bewohner hatten es mit Sicherheit nicht. Ich war vor zwei Jahrzehnten einfach mit zu vielen Traversanern in Kontakt gekommen, angefangen von einfachen Raumfahrern über Offiziere bis zu hohen Ministerialbeamten. Erkannte mich einer von ihnen wieder, konnten die Konsequenzen katastrophal sein. Eben, hakte mein Gedankenbruder ein. Wo bleibt dein Verantwortungsgefühl, Arkonide? Du spielst mit dem Schicksal von Milliarden - in dieser wie in deiner Zeit. Ich blieb vor einer der vielen Vitrinen, welche die Wände von Riaals Apartment säumten, stehen. Ein ausgestopfter Charim starrte mich anklagend an. Der Wüstenfisch hatte nur ein einziges Auge, das aber durch eine Laune der Evolution dem eines Arkoniden verblüffend ähnlich sah. Und was ist mit Tamarena? hielt ich dagegen. In einem hatte Irakhem recht: Ich bin verantwortlich für sie. Sie hat sich für mich geopfert, ich kann sie nicht einfach im Stich lassen. Ich liebe sie. Liebe ist ein schlechter Ratgeber, mein Freund. Einen Moment lang schwieg der Extrasinn, als wollte er seinen Worten Gelegenheit geben, einzusinken. Du hast nicht die geringste Ahnung, wo sie steckt. Wieviel Zeit willst du dir geben, sie aufstöbern: Einen Monat? Ein Jahr? Ein Jahrzehnt? Ein Jahrhundert? Ist es irgendwann genug? Ich wandte mich von dem Fisch ab und trat ans Fenster. Das einzige, was man aus ihm sehen konnte, war die graue Wand des Nebenhauses und ein schmaler Spalt blauen Himmels. Das hatten wir doch schon. Acht Pragos, habe ich dir gesagt, wenn wir dann keinen Hinweis auf sie gefunden habe, gehe ich zurück zur Station. Also habe ich noch drei Pragos. Gut, Arkonide, flüsterte die Stimme in meinen Gedanken, nehmen wir einmal an, du findest sie. Was dann? Willst du sie etwa heiraten? Die spöttische Bemerkung saß. Trotzig entgegnete ich: Wieso nicht? Wir lagen beide im Schlaf, wenn auch auf verschiedene Art. Für mich sind nur ein paar Pragos vergangen, für sie vielleicht ein paar Wochen. Wir können dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Ich untermauerte meine Gedanken überflüssigerweise - mit einem entschlossenen Aufstampfen. 22
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Wo ist nur dein Verstand geblieben? Subjektiv sind für euch beide vielleicht nur Tage vergangen, aber du vergißt eines: Du bist unsterblich, sie nicht. Sie ist im Schlaf gealtert. Sie kann nicht mehr dieselbe sein. Ich setzte zu einer weiteren trotzigen Bemerkung an, als das leise Zischen der Tür anzeigte, daß Riaal nach Hause gekommen war. Endlich! Ich wirbelte herum und schritt ihr entgegen. Die erzwungene Untätigkeit zehrte an meinen Nerven; ich war es nicht gewohnt, die Hände in den Schoß zu legen und mich auf andere zu verlassen. Und schon gar nicht auf jemanden wie Riaal. Die einstige Schönheit hatte sich in eine Eigenbrötlerin verwandelt. Riaal war es nicht mehr gewohnt, Menschen um sich herum zu haben. Die Tatsache, daß sie ihr enges Zweizimmerapartment mit mir teilen mußte, bereitete ihr sichtliches Unbehagen. Jeden Morgen verließ sie in aller Frühe das Haus; auf meine Nachfragen, was sie denn an diesem Tag vorhabe, reagierte sie nicht oder nur mit ein paar genuschelten Satzfetzen, die ich nicht verstand. Blieb ich hartnäckig, antwortete sie nur mit den immergleichen Worten: »Du wirst schon sehen. Heute abend ...«. An den bisherigen Abenden hatte es aber nur eine deprimierte Riaal zu sehen gegeben, die sich keuchend - der Antigravlift des Wohnblocks war bereits seit Monaten defekt - an mir vorbeidrückte und im Bad verschwand, eine deutlich wahrnehmbare Alkoholfahne hinterlassend. Meine Proteste ignorierte sie. Der heutige Tag mußte besser verlaufen sein. Riaals Backen glänzten rot - aber vor Aufregung, nicht wie sonst wegen der Flaschen, die sie geleert hatte. »Atlan!« rief sie und wäre mir fast in die Arme gefallen. »Sieh nur, was ich habe!« Sie hängte ihren Mantel weg und zog ein Bündel Folien aus ihrer Handtasche. Stolz wedelte sie mit ihm durch die Luft. »Was ist das?« erkundigte ich mich vorsichtig. Die letzten Tage hatten mein Vertrauen in die ehemalige Wirtschaftsexpertin nicht gerade gestärkt. »Das hier könnte der Schlüssel zu Tamarena sein. Komm!« Sie nahm meine Hand und zog mich in den Wohnraum. Sie ließ sich auf die mit Naturleder bezogene Couch fallen offenbar ein Überbleibsel aus besseren Tagen - und räumte die kleinen Glasbehälter mit konservierten Wüstenpflanzen vom Beistelltisch. Anschließend breitete sie die Folien darauf aus und bedeutete mir, sich neben sie zu setzen. »Hier, darauf habe ich schon seit Tagen gewartet.« Riaal drückte mir die oberste der Folien in die Hand. Es war eine Liste. Die aller Schiffe, die den Raumhafen Ericans in den letzten beiden Wochen verlassen hatten. Traversan war ein kleiner unbedeutender Kolonialplanet, eine von vielen tausend Welten, auf denen sich arkonidische Siedler niedergelassen hatten, fernab von den Haupthandelsrouten der Mehandor. Die Schäden, die Leuhar da Merrits Angriff hinterlassen hatte, hatten ihr übriges getan, Traversan wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten zu lassen. Nicht viele Schiffe flogen den Planeten an, aber dennoch kam der Raumhafen Ericans auf im Schnitt 15 Starts und Landungen pro Tag. In den letzten beiden Wochen, dem Zeitraum, der für eine Flucht Tamarenas von Traversan in Frage kam, hatten also ungefähr 200 Schiffe den Planeten verlassen. Zu viele, als daß wir allen hätten nachforschen können. »Ich freue mich, daß du dich auf den Raumhafen konzentrierst«, sagte ich höflich. In einem ihrer wenigen zugänglichen Momente waren Riaal und ich übereingekommen, daß Tamarena Traversan verlassen haben mußte. Irakhem, mit den Mitteln des Nert ausgestattet, hätte sie sonst längst wieder aufgespürt. »Aber ich verstehe nicht, wie uns diese Liste weiterbringen soll. Wenn du vielleicht eine der Passagiere hättest ...« »Tut mir leid, da war nichts zu machen.« Riaal schien meine Skepsis nichts auszumachen. »Die Passagierlisten sind vertraulich. Und im Raumhafen gibt es niemanden, der mir noch aus alten Zeiten verbunden ist - ganz im Gegensatz zum Palast. Ich habe dort noch ... nun ... Freunde.« 23
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Das ergibt Sinn, meldete sich mein Logiksektor. Irakhem hat sie zwar aus der Regierung geworfen, aber sie muß noch Anhänger im Palast haben. Denk nur daran, wie einfach wir die Audienz bekommen haben. Und selbst Irakhem scheint sich nicht ganz von ihr lossagen zu Können. »Hier, sieh dir die an.« Riaal drückte mir den zweiten Stapel Folien in die Hand. Es war ebenfalls eine Liste. Aber was für eine? Ich fand keine Überschrift, die mir auf die Sprünge geholfen hätte. Die Aufstellung war in vier Spalten unterteilt. Rechts - wie es der arkonidischen Konvention entsprach - stand jeweils das Datum, links davon die Bezeichnung, gefolgt von dem Betrag. In der letzten, der breitesten Spalte, stand jeweils eine kurze Beschreibung. »Eine Einkaufsliste?« riet ich. »Cleveres Bürschchen!« rief Riaal und stupste mich übermütig mit dem Ellbogen an. »Sieh sie dir genauer an. Was fällt dir auf?« Ich beugte mich wieder über die Folien. Die Höhe der Beträge war höchst unterschiedlich. Die niedrigste Summe belief sich auf ganze vier Merkons und 34 Skalitos - der Preis für einen Sack Mikrandor-Futter, ein hundeähnliches Haustier, das sich auf Traversan großer Beliebtheit erfreute. Die höchste betrug schwindelerregende fünf Milliarden Chronners und war für die Einrichtung eines zalitischen Flußgartens entrichtet worden. Die übrige Liste setzte dieses Muster fort: Banale Alltagsgegenstände standen neben extravaganten Luxusgütern. »Von wem ist diese Liste, Riaal?« fragte ich. »Muß ich dir das wirklich noch sagen? Das hast du doch schon längst erraten.« »Irakhem.« »Genau!« Riaals Stimme überschlug sich fast vor Stolz. »Das sind die persönlichen Ausgaben des Nerts von Traversan - und des Bruders von Tamarena! Und was ist dir aufgefallen?« Ich widmete mich wieder der Aufstellung. Die über 300 Posten verzeichneten akribisch jeden Gegenstand und jede Dienstleistung, die Irakhem im Verlauf der letzten Wochen aus seinem persönlichen Budget heraus bestritten hatte. Der Junge ist ein echter arkonidischer Herrscher geworden, kommentierte mein Extrasinn trocken die zahllosen Luxusgüter auf der Liste. Er weiß es sich gutgehen zu lassen. Ich ignorierte seinen Einwurf ebenso wie Riaals ungeduldiges Hinundherrutschen und ging die Liste noch einmal langsam durch. Bei jedem Posten fragte ich mich, ob er in irgendeiner Weise mit Tamarena zusammenhängen könnte. Schließlich, auf der letzten Seite, wurde ich fündig. »Hier, vor zwölf Pragos startete Irakhems Privatjacht zu einem Flug nach Arkon I und ist bisher nicht zurückgekehrt. Der Zweck ist laut Liste vertraulich.« Ich las weiter. »Und hier, drei Pragos später: eine Erste-Klasse-Passage nach Goortavor für einen hohen Angehörigen des Hofes in diplomatischer Mission.« Mit einer fahrigen Bewegung sprang ich auf. »Natürlich, das ist es! Wie konnten wir nur so blind sein? Irakhem hat uns belogen! Er hat Tamarena weggeschafft, damit ich sie nicht wiedersehe. Bei allen Sternengöttern, ich hätte nie geglaubt, daß seine Eifersucht ihn zu solchen Taten befähigen könnte!« »Das hat sie auch nicht.« »Was meinst du damit?« »Tamarena ist weder nach Arkon I noch nach Goortavor geflogen«, erklärte Riaal bestimmt. »Zumindest nicht auf Irakhems Privatjacht oder mit einem von ihm gekauften Ticket.« »Und was macht dich da so sicher?« entgegnete ich gereizt. Endlich hatten wir Hinweise, wieso mußte Riaal sie nun zerreden? 24
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»Weil meine Kontakte im Palast mir versichert haben, daß es bei beiden Flügen mit rechten Dingen zuging. Irakhem hofft auf einen günstigen Handelsvertrag mit Goortavor. Er will dringend benötige Schaltkomponenten von dort beziehen am Monopol der Mehandor vorbei, deshalb die Geheimhaltung.« »Und was ist mit dem Flug der Privatjacht?« »Oh, das«, Riaal lächelte süffisant, »das war nur ein Einkaufstrip seiner derzeitigen Lieblingsmätresse. Irakhem weiß seine Gespielinnen bei Laune zu halten.« »Und was beweist das schon?« entgegnete ich. »Doch nur, daß es ihm gelingt, selbst vor seinen engsten Vertrauten Geheimnisse zu haben.« Ich wußte aus eigener Erfahrung, daß das möglich war, auch wenn es nicht einfach war. Aber Irakhem würde es schaffen, er war zwar ein Hitzkopf, aber hochintelligent. »Er hat uns nicht belogen. Tamarena ist verschwunden.« Riaal schüttelte den Kopf. »Und wer sagt dir das? Vielleicht deine weibliche Intuition?« Ich bereute meinen sarkastischen Kommentar noch im selben Moment, in dem ich ihn aussprach. Riaal zuckte hoch, als hätte sie eine der tellergroßen Spinnen der Yssods-Wüste gestochen. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Nein, Irakhem hat es mir gesagt.« »Was soll das heißen? Du meinst bei der Audienz? An deiner Stelle würde ich kein Wort von dem, was ...« »Nein, Atlan, nicht bei der Audienz. Er hat mich angerufen.« Riaal flüsterte den letzten Satz beinahe. »Er hat was?« Ich ging zum Sofa zurück und setzte mich neben Riaal. Mein Instinkt sagte mir, daß ich auf etwas Wichtiges gestoßen war. Die alte Traversanerin starrte unentwegt auf die Tischplatte, als sie berichtete: »Es war vor 13 Pragos, noch vor Sonnenaufgang. Das Visiphon summte. Ich schreckte hoch - es geschieht nicht oft dieser Tage, daß mich jemand anruft - und ging ran. Es war Irakhem.« Sie drehte den Kopf und sah mich kurz an. »Ich war nicht wirklich überrascht, daß er es war. Weißt du, er ruft mich alle paar Monate an, wenn ihm die Dinge über den Kopf wachsen, der Druck zu groß wird. Er hat ein schweres Amt.« Ihr Blick heftete sich wieder auf den Tisch. »Als Ministerin konnte er mich nicht mehr ertragen, aber manchmal braucht der Junge etwas, was ihm seine feinen Berater nicht geben können: Trost.« »Aber dieser Anruf war anders als alle bisherigen. Irakhem war völlig aufgelöst, er schluchzte und heulte krampfhaft und brachte kaum einen zusammenhängenden Satz hervor. Nach und nach fand ich heraus, was geschehen war: Tamarena war aus dem Koma erwacht - und verschwunden! Er wußte nicht wieso, fühlte sich unendlich gekränkt. Schließlich hatte er sie jahrzehntelang gepflegt. Irgend etwas war mit ihr geschehen, etwas Schreckliches, aber er wollte selbst mir nicht verraten, was.« »Riaal, es tut mir leid. Ich war voreilig.« Meine Entschuldigung war ehrlich gemeint, ich wollte diese Frau, der das Leben hart mitgespielt hatte, nicht auch noch verletzen. »Aber ich sehe nicht, wie uns diese Listen sonst weiterbringen sollen. Ich habe keine anderen möglichen Hinweise auf Tamarena gefunden.« »Ich schon.« Die Traversanerin wischte sich die Tränen aus den Augen - ob es welche der Erregung, des Schmerzes oder beides waren, wußte ich nicht. »Du kannst es nicht wissen, aber Irakhem muß Tamarena die letzten zwanzig Jahre in einem Nebenraum seiner Privatgemächer untergebracht haben, alle meine Kontakte sind sich darin einig. Er hat sich nie mit ihrem Koma abgefunden. Und jetzt sieh dir das hier an.« Ihr schrumpeliger Zeigefinger pochte auf mehrere Posten auf den letzten beiden Seiten der Liste, Anschaffungen der letzten drei Wochen. »Nicht näher bezeichnetes medizinisches Gerät ... und nicht gerade billig.«
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»Tamarena wacht plötzlich auf«, dachte ich laut. »Sie ist in keinem guten Zustand. Ihr besorgter Bruder ist verzweifelt, läßt medizinische High-Tech-Ausstattung anrollen. Das macht Sinn. Aber wie soll uns das weiterhelfen?« »Als Irakhem anrief, schluchzte er immer wieder einen Satz: Aber wir waren doch noch nicht fertig. Tamarena muß verschwunden sein, noch bevor ihre medizinische Behandlung abgeschlossen war. Das bedeutet, sie muß die Behandlung fortsetzen und das schnell.« »Sie kann also nicht sehr weit gekommen sein«, sagte ich. Einen Augenblick war mir der Name Aralon auf der Zunge gelegen, aber mein Gedankenbruder korrigierte mich: Nicht so schnell, Arkonide. Es werden noch beinahe zwei Jahrtausende vergehen, bis die Entwicklung der Aras zum Volk der Galaktischen Mediziner ihren Ausgang nimmt! »Genau«, fuhr Riaal fort. »Die medizinische Ausstattung kam aus dem SchemmensternSystem, keine dreihundert Lichtjahre von hier. Ein einziger Transitionssprung genügt, um ein Raumschiff dorthin zu bringen.« Die Traversanerin nahm die Liste der gestarteten Schiffe und winkte damit. »Und rate mal, in welches System in den Tagen vor Irakhems Anruf gleich ein Dutzend Schiffe flogen?« Ich antwortete nicht. Erinnerungen stiegen aus der Tiefe meines photographischen Gedächtnisses auf. 21 Jahre waren seit meinem pompösen Auftritt als Altao Ta-Camlo in den Orbitalen Städten, die den Gasriesen Schemmen umkreisten, vergangen. Meinen traversanischen Kameraden und mir war es damals gelungen, die Aufnahme in eine Delegation an den Hof Reomirs IX. zu erreichen, ein wichtiger Etappensieg unseres verzweifelten Unternehmens zur Rettung Traversans. Und es war dort, in den Orbitalen Städten gewesen, wo Tamarenas und meine Liebe langsam herangereift war. »Du glaubst, Tamarena ist ins Schemmenstern-System geflogen?« »Zumindest ist es möglich«, sagte Riaal. »Wenn sie tatsächlich noch weitere medizinische Hilfe benötigte, dann wäre Schemmenstern für sie die logische Wahl gewesen. Die Orbitalen Städte sind nah - und ein bedeutendes Handelszentrum. Es gibt wenig, was man dort nicht kaufen könnte.« Und es spricht noch mehr dafür, meldete sich mein Extrasinn. Sie hätte sich dem Zugriff ihres Bruders entwunden, denn das Schemmenstern-System gehört einem anderen Verwaltungssektor an. Und außerdem ... vielleicht hat sie noch ähnliche emotionale Anhänglichkeiten wie du. Ich verzichtete auf eine Entgegnung auf die letzte Bemerkung. Gefühle waren meinem Gedankenbruder suspekt, und ganz besonders diese Liebe, für die ich offenbar bereit war, jedes Risiko einzugehen, selbst das eines Zeitparadoxons mit unabsehbaren Folgen. Aber war ich das wirklich? »Atlan, was denkst du?« erkundigte sich Riaal flüsternd. Sollte ich ins Schemmenstern-System aufbrechen? Die Indizien waren dürftig, und selbst wenn Tamarena dorthin geflogen sein sollte, gab es keinen Grund, warum sie inzwischen nicht einen weiteren Flug zu irgendeiner anderen der abertausenden Imperiumswelten genommen hatte, um ihre Spur zu verwischen. Dann wäre sie verloren für mich. Für immer. Ich würde nie erfahren, was mit ihr geschehen war, ob ich ihr hätte helfen können - ihr, der Frau, die beinahe ihr Leben gegeben hatte, um das meine zu retten. Mein Gedankenbruder blieb stumm, als ich den Mund öffnete. Er spürte, daß jeder Einwand fruchtlos bleiben würde. Ich blickte Riaal in die vor Erregung feucht glänzenden Augen. »Kannst du mir eine Passage in das Schemmenstern-System besorgen?« Sie nickte nur.
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Kapitel 6 Mit einem leisen Zischen glitt die Tür hinter Tato Rupiak ins Schloß. Es war keine ungewöhnliche Tür, noch war das Zischen der Hydraulik in irgendeiner Weise auffällig, aber Rupiak hätte das Geräusch jederzeit aus dem tausend anderer sich schließender Türen herausgehört: Für ihn war es ein Symbol von Freiheit. Der kurzen Freiheit von einem Amt. das ihm mehr als alles andere in der Welt bedeutete, aber dessen Zwänge ihn oft den Verstand zu kosten drohten. Mit einer geübten Handbewegung riß der mittelgroße Mann sich die schwere Amtsrobe von den Schultern und warf sie achtlos über einen Stuhl. Rupiak, der seit über 30 Jahren das Amt des Tatos des Otreilian-Sektors innehatte, war kein reinrassiger Arkonide, das verriet bereits sein rötlich-blondes Haar. Und er war kein junger Mann mehr: Auch wenn man es seiner straffen, beherrschten Gestalt nicht ansah, blickte er bereits auf bald 91 Lebensjahre zurück. Rupiak ging zu der kleinen Bar seines Büros und schenkte sich einen Arriehro ein, ein beruhigendes, nichtalkoholisches Getränk, das sich in den Orbitalen Städten großer Beliebtheit erfreute. Er nahm einen großen Schluck der dampfenden Flüssigkeit und spürte, wie wenigstens ein Teil der Anspannung von ihm abfiel. Sechs Tontas. Geschlagene sechs Tontas hatte er bei einem Empfang für eine Reihe von imperialen Würdenträgern verbracht, hatte schlechte, von Positroniken verfaßte Reden über sich ergehen lassen, hatte selbst die übrigen Anwesenden mit einer schlechten, von einer Positronik verfaßten Rede gelangweilt. Und das alles nur, weil sich in der Delegation ein entfernter Verwandter eines früheren Imperators befunden hatte, eines der vielen hundert unehelichen Kinder, die der nutzlose Reomir IX. in die Welt zu setzen beliebt hatte. Sechs Tontas hatte er verloren, die er gerade jetzt, da sein Lebenswerk in Gefahr war, weniger entbehren konnte als je zuvor. Rupiak ließ sich, das Glas in der Hand, auf den breiten Ledersessel hinter seinem Schreibtisch sinken. Die Wand vor ihm erwachte automatisch zu geisterhaftem Leben. Genau 268 Holoprojektionen bildeten ein wimmelndes, nie zur Ruhe kommendes Mosaik. Rupiak ließ das Panorama einige Sekunden auf sich wirken, dann flüsterte er »Los!«. Einer der Bausteine des Mosaiks machte einen Satz nach vorne, schien den Gouverneur des Schemmenstern-Systems beinahe verschlingen zu wollen. Einen Meter vor Rupiak machte die Projektion halt und wuchs solange, bis sie das übrige Mosaik komplett verdeckte. Das Bild zeigte einen Markt. Riesige, über drei Meter große Wesen mit überlangen Armen drängten sich zwischen den Ständen umher. An mehreren Stellen wurden aufgeregte Verhandlungen geführt, aber nicht, wie man hätte erwarten können, über den Preis der Waren, sondern über ihre Qualität. Die Naats waren Perfektionisten, die nach Qualität suchten. Waren sie mit dieser zufrieden, war der Preis für sie nur Nebensache. Rupiak mußte nicht auf die unten links eingeblendete Ortsangabe sehen, um zu wissen, von welcher Orbitalstadt diese Szene kam. Es war die Orbitalstadt 63, eines seiner gegen zahllose Widerstände durchgesetzten Lieblingsprojekte. Die Naats waren ursprünglich als Bergarbeiter in das Schemmenstern-System geholt worden. Die stämmigen Intelligenzen waren stark, ausdauernd, intelligent und - das war der entscheidende Punkt - billiger als Spezialroboter. Die Minengesellschaften hielten sie in einem System der QuasiLeibeigenschaft, das rechtlich nicht anfechtbar war: Die Naats wurden für ihre Arbeit bezahlt und konnten die Monde Schemmens jederzeit verlassen - theoretisch. In der Praxis waren die Naats vollkommen von den Minengesellschaften abhängig. Diese stellten ihnen die Quartiere, versorgten sie mit Lebensmitteln und anderen notwendigen Gütern. Allerdings zu exorbitanten Preisen, welche die Naats immer tiefer in eine Schuldenfalle geraten ließ, die in ihren Auswirkungen kaum von Sklaverei zu unterscheiden war.
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Die Orbitalstadt 63 war Rupiaks Versuch, den Teufelskreis zu durchbrechen. Dort konnten Naats zu niedrigen, aus Rupiaks privatem Budget subventionierten Preisen leben. Eine Szene, wie er sie gerade beobachtet hatte, wäre auf einem der Monde des Systems unmöglich gewesen. Die Naats dort konnten es sich, gegen ihre natürliche Art, nicht leisten, auf den Preis einer Ware zu pfeifen. Rupiak hoffte, daß Orbitalstadt 63 Schule machen würde und eines Tages alle Naats des Schemmenstern-Systems in würdigen Verhältnissen leben konnten. Insgeheim hoffte er sogar darauf, daß es den Naats gelingen würde, die ihnen über Jahrhunderte anerzogene Sklavenmentalität abzuschütteln, aber diesen Gedanken wagte er nicht einmal seinen engsten Vertrauten mitzuteilen. Ein derart radikaler Gleichheitsgedanke hätte sie nur bis ins Mark erschreckt. Aber vielleicht ist es ja gerade das, was sie brauchen, dachte sich Rupiak, während in schneller Folge Bilder aus anderen Orbitalen Städten einander abwechselten. Ein nur durch einen transparenten Energieschirm vom Vakuum getrenntes Amphitheater erschien, das Anlegemanöver eines Passagierraumers von Traversan an Orbitalstadt 179, der einen neuen Schub hoffnungsvoller Einwanderer brachte, schließlich die Aula einer der von Rupiak gegründeten Universitäten. Denk nur an dich selbst. Du hast noch viel mehr als das gebraucht. Wie so oft kehrten seine Gedanken wieder zurück zu den Ereignissen vor 21 Jahren, die er als seine Erweckung bezeichnete - mit seinem religiösen Unterton ein passender Begriff, wußte Rupiak doch bis heute nicht, welcher Macht er das Wunder seiner Verwandlung in einen neuen Menschen zu verdanken hatte. Sicher wußte er nur, was er vorher gewesen war: ein von krankhaftem Ehrgeiz getriebener Mann, eitel, korrupt und gewissenlos, der alles daran setzte, sich zu bereichern und seine Erfüllung darin sah, sich einen Platz am Hof des Imperators zu sichern. Und damals hatte sein Lebensziel zum Greifen nahe geschienen: Eine Delegation nach Arkon I hatte sich zum Aufbruch bereitgemacht. Er, als Tato des Schemmenstern-Systems, hatte die Fäden in der Hand gehabt, hatte gewußt, welche Bestechungssumme genügen würde, um sich die Teilnahme an dem Flug zu sichern. Doch dann war alles anders gekommen. Nur wenige Pragos vor dem Abflug war eine Kolonie der geheimnisvollen Raumnomaden im Schemmenstern-System materialisiert. Und fast zeitgleich - war ein neuer Bewerber um den Flug nach Arkon auf den Plan getreten. Der hochgewachsene Fremde nannte sich Altao Ta-Camlo und gab sich als der märchenhaft reiche Besitzer einer neuerschlossenen Kolonialwelt an der Außengrenze des Imperiums aus. Seine Angaben waren nicht nachzuprüfen, aber daß Ta-Camlo über natürlichen Adel verfügte, war unübersehbar - genausowenig wie sein Reichtum, den er mit der spielerischen Leichtigkeit dessen zur Schau stellte, der von Geburt an nichts anderes gewohnt war. Und er hatte Geschmack: Selbst jetzt, nach über zwei Jahrzehnten, machte Rupiaks Herz bei dem Gedanken an seine üppig gebaute, köstlich überhebliche Mätresse einen Satz. Ta-Camlo war die Art von Mann gewesen, die Rupiak mit jeder Faser seines Sehnens hatte sein wollen. Und Ta-Camlo war der Mann, dem er seine Erweckung zu verdanken hatte. Dessen war sich Rupiak sicher, auch wenn der eigentliche Akt auf das Konto der Raumnomaden und eines Dagor-Hochmeisters gegangen war. Der letztere, ein Gijahthrako, hatte für die Zeremonie mit dem eigenen Leben bezahlt. Ta-Camlo stand in irgendeiner Verbindung zu den Nomaden und dem Hochmeister, das spürte Rupiak - und er hatte in den letzten Jahren gelernt, seinen Gefühlen zu vertrauen. Nur in welcher Verbindung? Rupiak hatte erhebliche Mittel darauf verwandt, Ta-Camlo nachzuspüren. Mit mageren Ergebnissen: Es gab tatsächlich einen Altao Ta-Camlo, einen siebzigjährigen, fetten Lokalfürsten, der mit dem Ta-Camlo, dem Rupiak begegnet war, nicht das geringste zu tun hatte. Die Spur des Mannes, der sich gegenüber Rupiak als Altao Ta-Camlo ausgegeben hatte, verwischte sich bereits mit dem Abflug der Delegation nach Arkon. 28
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Wäre nicht die bleibende Wandlung gewesen, die er in Rupiak ausgelöst hatte, Rupiak hätte ihn für ein Phantom, ein Hirngespinst gehalten. Aber man wußte nie. Vielleicht würde er eines Tages ... Das Visiphon summte. »Ja?« Rupiak gelang es nicht, den Ärger über die Störung aus seinem Tonfall herauszuhalten. »Was ist?« »Es ist Semerion«, sagte die Stimme der Positronik gleichmütig. »Er sagt, er hat einen Termin. Zur Lagebesprechung.« Rupiak warf einen Blick auf das über der Tischplatte schwebende Hologramm des Chronometers. »Ah ... richtig. Herein mit ihm.« Der Tato ging zur Tür, um seinen Ersten Assistenten zu begrüßen. Er machte sich weder die Mühe, den Arriehro wegzuräumen, noch die schwere Amtsrobe anzulegen. Er hatte keine Geheimnisse vor Semerion. Die Tür glitt zur Seite und Semerion trat ein. Er war ein kleiner, rundlicher Mann unbestimmten Alters mit schütterem Haar und einer kleinen Stupsnase. Wie üblich trug er einen einteiligen, blauen Anzug aus Naturfaser. Man hätte ihn ohne weiteres Nachdenken für einen einfachen Angestellten gehalten, wie sie die Verwaltungen des Imperiums zu Milliarden bevölkerten, wenn da nicht seine Augen gewesen wären. Es waren Augen, die zugleich hellwach und unendlich müde wirkten. Augen, die bereits Hunderte von Welten erblickt hatten. Der Tato winkte seinen Assistenten leutselig herein. »Kommen Sie, Semerion, setzen Sie sich.« Rupiak zeigte auf das Sofa in einer Ecke des weitläufigen Büros. »Wollen Sie etwas trinken? Vielleicht einen Arriehro?« »Danke, nur Wasser.« Der Anflug eines Lächelns huschte über Semerions Züge. Es war ein altes Spielchen zwischen den beiden. Der Tato war der Überzeugung, daß seinem Ersten Assistenten etwas weniger Askese gut bekommen würde, während der Erste Assistent natürlich demonstrativ bei seiner Enthaltsamkeit blieb. Rupiak reichte ihm kommentarlos ein Glas Wasser, er schätzte seinen Assistenten viel zu sehr, als daß er ihn wegen einer persönlichen Eigenart ernsthaft bedrängt hätte. Semerion hatte zwar seinen eigenen Kopf, aber seine Treue stand außer Zweifel. Der Kolonialarkonide, der vor beinahe sechs Jahren als vom Geheimdienst des Imperiums gesuchter Oppositioneller im Schemmenstern-System Zuflucht gesucht hatte, war dem Tato treu ergeben, und Rupiak wußte, daß er ohne den agilen, unermüdlichen Organisator seinen Posten vielleicht schon längst verloren hätte. Aber das, dachte er, kann ja noch kommen. »Also, was gibt es Neues?« erkundigte sich der Tato mit gespielter Fröhlichkeit. Er ahnte, daß ihm die Mitteilungen seines Assistenten nicht gefallen würden. Semerion öffnete die Schutzklappe seines Lesegeräts, und das Display erwachte lautlos zum Leben. »Fangen wir mit dem Kleinkram an?« Rupiak nickte. »In Ordnung. In den letzten 20 Tontas gab es insgesamt elf Unfälle mit Todesfolgen, 17 Personen starben. Neun der Unfälle sind auf menschliches Versagen zurückzuführen. In einem Fall - einem Brand - versagte die Steuerpositronik der Löschanlage, im anderen - ein Dockarbeiter wurde von einem Container zerquetscht - lag Materialermüdung vor. In beiden Fällen ermitteln wir bereits nach möglichen Verantwortlichen.« Rupiak sagte nichts. Er vertraute der von ihm aufgebauten Verwaltung. Sie würde die Hintergründe der Todesfälle aufklären und die Schuldigen vor Gericht bringen. »Weiter, Morde.« Semerion sog schlürfend einen Schluck Wasser ein. »Hier gibt es gute Nachrichten. Bis auf einen Naat, der in einer Grubenkolonie bei einer Schlägerei zwischen berauschten Artgenossen auf der Strecke blieb, haben wir keine Opfer zu beklagen. Der Schuldige wurde bereits ermittelt und wird in diesen Minuten verurteilt.« Rupiak nickte zufrieden. Zog man in Rechnung, daß über 50 Millionen Intelligenzen der verschiedensten Rassen das Schemmenstern-System bevölkerten, war das ein niedriger 29
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Wert. Es gab sogar hin und wieder Tage, an denen kein einziger Mord in den Orbitalen Städten geschah - für Rupiak ein Erfolg seiner auf Ausgleich bedachten Politik. »Weniger dürfte Ihnen gefallen, daß wieder zwei Unither Selbstmord begangen haben«, fuhr Semerion fort. »Das Übliche?« erkundigte sich Rupiak knapp. Gegen seinen Willen versteifte er sich. »Das Übliche. Beide Selbstmorde geschahen unabhängig voneinander. Der erste der beiden, Kralink, einer unserer besten Bearbeiter von Mahrir-Quarzen, stieg ohne Schutzanzug aus einer Schleuse. Der zweite, Nuktar, ein jüngerer Unither noch ohne besondere Fertigkeiten, besorgte sich von irgendwo einen Strahler und schoß sich in den Kopf.« »Was ist mit den Artgenossen der beiden? Griffen sie nicht ein?« Der Assistent schüttelte den Kopf. »Nein. Das heißt schon, aber nicht so, wie wir es uns wünschten. Im Falle von Kralink rottete sich ein halbes Dutzend von ihnen zusammen und hinderte die Garde daran, den Selbstmörder aus der Schleuse zu holen, bevor er den Sicherheitsmechanismus manipulieren konnte. Als wir die Unither fragten, wieso sie das taten, sagten sie nur, es wäre Kralinks Hradith gewesen zu sterben. Der Tod im Vakuum sei ein schmerzloser. Hätte er ihn nicht gewählt, hätte bestimmt ein viel schlimmerer auf ihn gewartet.« Rupiak antwortete nichts und musterte nur angestrengt das Muster des Sofas. »Tato?« flüsterte Semerion. »Tato, vielleicht sollten Sie Ihre Position noch einmal überdenken. Sie wissen so gut wie ich, wie wichtig die Unither für uns sind. Nur durch ihre Veredlung sind die Minengesellschaften in der Lage, überdurchschnittliche Profite zu erzielen. Ohne die zusätzlichen Steuereinnahmen wären wir wieder dem direkten Druck Arkons ausgeliefert.« Rupiak blickte auf. »Nein, Semerion. Wir werden nichts dergleichen tun. Ich habe geschworen, daß jedes Individuum im Schemmenstern-System seinem persönlichen Glauben anhängen kann - und sollte er in unseren Augen auch so verrückt sein wie diese Schicksalsbesessenheit der Unither. Wir lassen sie gewähren.« Der Tato schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Und außerdem würde mit Sicherheit ihre Produktivität nachlassen, griffen wir zu Zwangsmitteln. Wir hätten nichts gewonnen.« Semerion wußte, wenn es keinen Sinn mehr hatte, den Tato zu bedrängen. »Gut, lassen wir das. Sie werden sehen, Tato, daß diese Dinge sowieso nur noch von minderer Wichtigkeit sind.« Der Sekretär legte eine dramatische Pause ein, dann sagte er: »Die Städte stehen kurz vor dem Ausbruch offener Panik. Die Gerüchte überschlagen einander. Einig ist man sich nur darin, daß die Geduld Reomir X. zu Ende ist. Er wird mit seiner ganzen Macht zuschlagen, heißt es. Vielleicht schon morgen oder übermorgen, aber ganz bestimmt nächste Woche. Viele tun die Gerüchte ab - es ist schließlich nicht das erstemal, daß sie kursieren -, aber die ersten Ratten verlassen bereits das sinkende Schiff. Alle Flüge, die das Schemmenstern-System verlassen, sind überbucht.« »Und glauben Sie, an den Gerüchten ist diesmal etwas dran?« erkundigte sich der Tato. Niemand kannte die Orbitalen Städte so gut wie Semerion, nicht zuletzt deshalb hatte Rupiak ihn zu seinem Ersten Assistenten gemacht. Semerion zuckte die Achseln. »Möglicherweise. Sollte Reomir X. wirklich einen Schlag gegen uns planen, wäre das eine einfache Möglichkeit, imperiumstreue Bürger aus der Gefahrenzone zu entfernen.« »Aber Gerüchte hatten wir schon oft und nie ist etwas geschehen«, wandte Rupiak ein. »Haben sie noch andere Hinweise?« »Ich fürchte ja.« Die kurzen, dicken Finger des Assistenten huschten über den Touchscreen des Lesegeräts. »Hier.« Er hielt dem Tato das Gerät entgegen. Rupiak würdigte es keinen Blicks. »Erklären Sie mir, was das zu bedeuten hat. Wozu sind Sie mein Assistent?« 30
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Semerion überging den Rüffel. »Es sind die Zahlen der ins Schemmenstern-System Eingereisten des letzten Monates. Um es kurz zu machen: Unter ihnen befindet sich ein ungewöhnlich hoher Anteil von Männern und Frauen Anfang 20 - er hat sich gegenüber dem langjährigen Mittel mehr als verdoppelt. Aber das eigentlich Alarmierende ist folgendes. »Der Assistent beugte sich vor, bis sein Mund fast das Ohr des Tatos berührte. »Sie sind bis auf wenige Ausnahmen geblieben und haben sich in den strategisch wichtigsten Städten gesammelt.« Rupiak ruckte hoch. »Sie glauben, Reomir läßt Truppen einsickern, um uns von innen heraus zu stürzen? Es ist etwas weit hergeholt, nur aufgrund von ...« »Ich bin noch nicht fertig«, unterbrach der Assistent den Tato. »In Orbitalstadt 253 machten wir vor einigen Stunden eine Entdeckung - durch puren Zufall. Beim Entladen eines Springerfrachters kam es zu einem Unfall - übrigens spreche ich von demselben, bei dem der Dockarbeiter ums Leben kam -, und die Außenwand eines Containers wurde beschädigt. Angeblich enthielt der Container landwirtschaftliche Produkte von einer Agrarwelt, wir fanden aber Kampfanzüge, schwere Handfeuerwaffen, tragbare Schutzschirmprojektoren, Kommunikationsgerät. Kurzum: Alles, was man für eine Invasion der Orbitalen Städte benötigt.« Eine Träne der Erregung lief über die linke Wange des Tatos. »Die Ausrüstung für die Truppen. Sie müssen bereits Dutzende von Waffenlieferungen eingeschmuggelt haben.« Rupiak schluckte schwer. Er hatte immer gewußt, daß dieser Augenblick eines Tages kommen mußte. Der Imperator konnte nicht endlos zusehen, wie das SchemmensternSystem zum Tummelplatz der Opposition wurde. Aber Rupiak hatte auf mehr Zeit gehofft. »Tato, was werden wir jetzt tun?« »Was wohl? Wir werden kämpfen. Wozu habe ich meine Garde aufgebaut?« »Aber die Rupiaki sind zu schwach. In ein paar Jahren vielleicht ...« protestierte Semerion. »Wir müssen mit dem auskommen, was wir haben.« Semerion starrte Rupiak einige Sekunden wortlos an, dann schluckte er. »Tato, ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören, aber die Städte wimmeln vor Männern und Frauen, die nur auf eine Gelegenheit warten, Reomir heimzuzahlen, was er ihnen angetan hat.« Der Ton des Assistenten war beschwörend. »Und unsere Waffenlager sind voll. Wir müssen sie nur öffnen, um unsere Streitmacht zu vervielfachen!« Rupiak strafte seinen Assistenten mit einem wütenden Blick. Sie hatten diese Diskussion schon oft geführt, während sie die Pläne für den Tag entwarfen, von dem sie gehofft hatten, daß er nie kommen würde. »Und was für eine Streitmacht wäre das? Zivilisten, die noch nie eine Waffe in der Hand gehalten haben! Sie wären bestenfalls Kanonenfutter, schlechtestenfalls ein Hindernis für meine Garde. Nein, wir müssen realistisch bleiben.« Der Assistent sagte nichts. »Semerion, Sie verstehen mich doch?« Der Assistent atmete mehrmals tief durch, dann sagte er: »Ja, das tue ich. Verzeihen Sie meinen Ausbruch. Wir bleiben also beim vereinbarten Plan. Ich werde alles Nötige in die Wege leiten.« Mit einen knappen Gruß verließ Semerion das Büro des Tatos. Rupiak ging an die Bar und schenkte sich einen weiteren Arriehro ein. Er schwitzte am ganzen Körper, das weitläufige Büro erschien ihm plötzlich wie eine Falle. Er leerte das Glas in einem Zug, schenkte sich einen dritten Arriehro ein und sank in den Ledersessel vor seinem Schreibtisch. Langsam trocknete der Schweiß. Es war soweit. Der lange Arm des Tai Ark’Tussan griff mit ganzer Macht nach ihm. Sein Lebenswerk stand auf dem Spiel, in wenigen Tagen bereits konnten die Orbitalen Städte nur noch ein Sammelsurium ausgebrannter Trümmer und glühender Gaswolken sein. 31
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Er starrte auf das Mosaik der Holo-Projektionen. Immer noch wechselten die Kameraeinstellungen im Zehnsekundenrhythmus. Sein Blick schweifte über die Korridore und Hallen, die Wohnquartiere und Gärten, die Krankenhäuser und Werkstätten seines Reichs. Durch einen Zufall blendete die Positronik wieder den Raumhafen von Orbitalstadt 179 ein. Der Raumer von Traversan, den er vorhin hatte anlegen sehen, hatte inzwischen das Andockmanöver beendet. Die Passagiere strömten aus dem Schiff. Die Gesichter strahlten erwartungsvoll. Es waren Einwanderer auf der Suche nach einem neuen Leben, einer besseren Zukunft. »Halt!« Rupiaks Schrei kam übergangslos. Die Holo-Projektion fror ein. »Zurück! Aber langsam!« Wieder reagierte die Positronik prompt. Das Bild lief rückwärts. In Zeitlupe strömten die aufgeregten Gesichter zurück auf das Schiff. Drei, vier, fünf Traversaner passierten die Kamera, dann ertönte wieder Rupiaks Stimme: »Halt!« Rupiak musterte den Mann auf dem Bild nur wenige Augenblicke, länger brauchte er nicht, um jeden Zweifel auszuschließen. Er würde dieses Gesicht niemals vergessen. Vor sich hatte er den Mann, der sich vor 21 Jahren als Altao Ta-Camlo ausgegeben hatte. Der Zeigefinger des Tato wanderte zum Visiphon. Das in die Schreibtischplatte eingelassene Display leuchtete auf und zeigte das Gesicht seines Assistenten. »Semerion, gut, daß ich Sie noch erwische«, sagte Rupiak heiser. »Da ist noch etwas ...«
Kapitel 7 Der Flug nach Schemmenstern verlief ereignislos - zumindest äußerlich. Doch in meinem Innern tobte ein Sturm der Gefühle. Mit jedem Atemzug glaubte ich, den süßen Duft von Lagora-Blüten wahrzunehmen, das Parfum Riaals, obwohl ich mich in den vergangenen Stunden mindestens ein halbes Dutzend Mal in der kleinen Naßzelle der Kabine, die ich mit drei anderen Passagieren teilte, abgeduscht hatte. Riaal hatte mich in ihrem verbeulten Gleiter zum Raumhafen Ericans gebracht. Und dann, kurz bevor ich mich anschickte, den Passagierraumer zu besteigen, hatte sie mich geküßt. Die alte, aufgedunsene, verbrauchte Frau hatte mich geküßt - und mir, dem Unsterblichen, der auf jahrtausendlange Lebenserfahrung zurückblickte, der zahllose Galaxien und Welten erblickt hatte, Wesen von bizarrer Fremdheit getroffen hatte, zitterten noch Stunden danach die Knie. Nach unserem Gespräch war Riaal einen Tag lang aus dem Apartment verschwunden, um schließlich mit einem Ticket nach Schemmenstern und einem gefälschten Ausweis für mich wiederaufzutauchen. Ihre Hochstimmung war verflogen und hatte einem stoischen Schweigen Platz gemacht. Auf meine Frage, ob sie nicht mitfliegen wolle, schüttelte sie nur den Kopf und streichelte zärtlich einen ihrer ausgestopften Wüstenfische. Die Geste war eindeutig, sie gehörte jetzt in die menschenleere Weite der Yssods-Wüste. Auf andere Versuche, mit ihr zu sprechen, reagierte sie nicht einmal mit einer Geste. Dann, auf dem kurzen Flug zum Raumhafen Ericans, unternahm ich einen letzten Anlauf. »Riaal«, sagte ich. Sie reagierte nicht. »Riaal, wieso tust du das? Wieso hilfst du mir?« Langsam drehte sie den Kopf. Zum erstenmal seit langem blickte sie mir ins Gesicht. Hoffnung schöpfend fuhr ich fort: »Du hast dich doch von den Menschen abgewandt. Was kümmert dich schon, was aus mir oder Tamarena wird?« 32
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Riaal aktivierte den Autopiloten des Gleiters, nahm die Hände vom Steuerknüppel und drehte ihren massigen Oberkörper in meine Richtung. Ihre Unterlippe zitterte. »Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als wir auf TAI MEREN NOAS landeten, Atlan?« Ich nickte. Mein fotografisches Gedächtnis machte es mir unmöglich zu vergessen eine Gabe, die mir schon oft eher als Fluch denn als Segen erschienen war. »Ich fungierte nach außen hin als deine Mätresse, das exquisite Luxusweibchen eines unermeßlich reichen Adligen.« Sie schien jetzt nicht mehr mich anzublicken, sondern einen weit entfernten Punkt, den nur sie allein sehen konnte. »Und ich war gut darin, sehr gut. Damals war ich noch jung, meine Haut war straff, mein Körper fest. Alle Männer begehrten mich, ihre sehnsüchtigen Blicke waren wie streichelnde Hände auf meiner Haut. Doch ich ignorierte sie, auch die des Tatos.« Ihr Blick kehrte wieder zurück in die Gegenwart. Ihre vor Erregung geröteten Augen fixierten mich. »Auf deine Blicke wartete ich vergeblich, so sehr ich mich auch nach ihnen verzehrte. Du hattest nur Augen für Tamarena.« »Riaal ... ich ...« Ich verstummte. Was sollte ich ihr entgegnen? Jedes ihrer Worte war wahr. »Du liebst Tamarena«, sagte Riaal, »und sie liebt dich. Vielleicht habt wenigstens ihr beiden noch eine Chance.« Und dann beugte sich die alte Frau vor und küßte mich. Das Dröhnen des mannshohen Gebläses, das mich mit seinem Warmluftstrahl trocknete, verscheuchte das Bild des von tiefen Falten zerfurchten Gesichts aus meinen Gedanken. Riaal hatte recht, ich liebte Tamarena. Ich mußte alles daran setzen, sie zu finden. Vielleicht - nur vielleicht - war es noch nicht zu spät für sie und mich. Ich trat aus der Duschkabine. Meine drei Kabinengenossen - junge Burschen um die achtzehn oder zwanzig - verstummten abrupt und starrten angestrengt in verschiedene Richtungen. Was sie irritierte, war nicht meine Nacktheit die drei hatten das Glück, was diesen Punkt anging, in einer Epoche relativer Unbefangenheit zu leben -, sondern meine fast zwanghaften Duschgänge der letzten Stunden. Meine Kabinengenossen hatten mich als komischen Kauz abgestempelt. Womit sie ziemlich nahe an der Wahrheit liegen dürften, meldete sich mein Gedankenbruder zu Wort. Seit meinem Wiedererwachen in diesem Zeitalter schwieg er oft für Stunden, nur um sich dann in bissigen Kommentaren zu ergehen. Es war offensichtlich, daß er mein gesamtes Unterfangen für völligen Irrsinn hielt. Angesichts meiner Entschlossenheit blieb ihm aber nur der Rückzug auf mürrische Bemerkungen. »Ah, nichts ist erfrischender als eine kalte Dusche!« rief ich demonstrativ aus und lächelte meine Kabinengenossen an. Sollten sie mich nur für einen Sonderling halten, es gab wenige Rollen, die unverfänglicher waren. Ich zog mich an und verkündete: »Und jetzt ein Spaziergang!« Auf den Gängen der NERT KURIOL, einem zum Passagierraumer umgebauten alten Imperiumskreuzer, herrschte dichtes Gedränge. Die Flüge ins Schemmenstern-System erfreuten sich großer Beliebtheit. Traversaner jeden Alters und jeder Gesellschaftsschicht hofften auf einen neuen Anfang in den boomenden Orbitalen Städten. Traversan, das vor dem Angriff da Merrits selbst Einwanderer in großer Zahl angezogen hatte, war zu einem Exporteur von Menschen geworden. Die nächsten Stunden verbrachte ich in einigen der zahllosen Cafes und Bars der NERT KURIOL. Das Schiff benötigte fast zwei Pragos für die 230 Lichtjahre lange Strecke - eine Distanz, die man auch in einem Fünftel der Zeit hätte zurücklegen können. Doch der Kapitän der NERT KURIOL zog es vor, sie in insgesamt acht Transitionen zu überbrücken. Eine Konzession einerseits an die Konstitution der fast durchgängig raumunerfahrenen Passagiere und andererseits eine lukrative Gelegenheit für den Besitzer des Raumers, durch allerlei Dienstleistungen und Verkaufsangebote zusätzlichen Gewinn 33
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zu ziehen. So mancher der hoffnungsvollen Auswanderer brachte sich in einem unvorsichtigen Moment in einem der Spielkasinos um sein hart erspartes Startkapital. Obwohl alles in mir danach brannte, endlich auf den Orbitalen Städten mit der Suche nach Tamarena zu beginnen, begrüßte zumindest mein Verstand den langsamen Verlauf der Reise. Über zwei Jahrzehnte waren seit meinem letzten Aufenthalt im SchemmensternSystem vergangen, ein Zeitraum, in dem sich viel verändert haben konnte. Und das hatte es auch, wie ich im Gespräch mit meinen Mitpassagieren herausfand: Durch die Bank war man sich einig, daß Irakhem zwar ein gerechter, aber harter Herrscher war. Der Tato der Orbitalen Städte dagegen war nicht nur gerecht, sondern auch überaus tolerant. Unter seiner Ägide, so die allgemeine Auffassung, konnte jeder nach seiner Fasson leben - und zu Wohlstand kommen, was für die meisten Traversaner, mit denen ich sprach, der wichtigste Beweggrund für die Auswanderung war. Die größte Überraschung wartete aber auf mich, als ich den Namen des Tatos erfuhr: Rupiak! Konnte dies wirklich derselbe Mann sein, dem ich vor zwei Jahrzehnten begegnet war? Diese Ausgeburt der Korruption, dieser von maßlosem Ehrgeiz getriebene Egoist? Natürlich ist er es, flüsterte mein Extrasinn. Traust du so wenig deinen eigenen Taten? Du selbst hast die Raumnomaden und den Gijahthrako Zerbeloruan dazu veranlaßt, sich seiner anzunehmen - und offenbar mit Erfolg! Wie erfolgreich Rupiaks Wandlung war, stellte ich einige Tontas später bei meiner Ankunft auf Orbitalstadt 179 fest. Die Kontrollen bei der Einreise in die verschiedenen Territorien, Planeten und Raumstationen des Großen Imperiums waren ein leidiges Kapitel. Eigentlich galt innerhalb des Tai Ark’Tussan das Prinzip der Freizügigkeit. Jedem Bürger des Imperiums stand es offen, nach Belieben zu reisen. Doch der Arkonide, der aufbrach, die grenzenlose Freiheit zu schnuppern, wurde schnell wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt. Selbst der rangniederste lokale Gouverneur, der lächerlichste mit dem Imperium assoziierte Potentat schien versessen darauf, seinen Herrschaftsanspruch in Form überbordender Bürokratie und schikanöser Bestimmungen zu unterstreichen. Doch selbst wenn man das Glück hatte, in das Gebiet eines erleuchteteren Herrschers einzureisen, geriet man aller Wahrscheinlichkeit immer noch an einen unterbezahlten, korrupten Beamten, dessen einziges Vergnügen im Leben darin zu bestehen schien, den Wesen, die von ihm abhingen, das Leben so schwer wie möglich zu machen. Dementsprechend nervös sah ich der Ankunft im Schemmenstern-System entgegen. Einige Minuten nach Beendigung des Anlegemanövers öffneten sich die Schleusentore, und der Strom der aufgeregten Einwanderer drängte laut schwatzend auf die Station. Ich achtete darauf, mich ungefähr in der Mitte einzufädeln, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Nach etwa fünfzig Metern mündete der Korridor in eine weiträumige Halle, in der ein Dutzend Schalter die Ankömmlinge erwartete. An jedem Schalter standen jeweils Mitglieder der persönlichen Garde des Tatos. Man nannte sie Rupiaki, wie ich auf dem Schiff erfahren hatte. Sie tragen Kampfanzüge und schwere Strahler, bemerkte mein Logiksektor. Wieso? Das kann nicht das übliche Verfahren sein. Ich zuckte unwillkürlich die Achseln. Und wennschon? Sollten ihnen meine Papiere nicht genügen, habe ich sowieso keine Chance. Und ich bin sicher, wir werden später eine Erklärung für den martialischen Auftritt finden. Die Schlangen schmolzen zügig dahin. Schließlich war ich an der Reihe. »Ihre Papiere?« Die Gardistin streckte mir die geöffnete Rechte entgegen. Ungerührt drückte ich ihr meinen Ausweis in die Hand - ich vertraute darauf, daß Riaal Wertarbeit für mich erstanden hatte. Vielleicht hatte einer ihrer alten Palastkontakte ihr sogar einen echten traversanischen Ausweis besorgt. Die einzige Gefahr für mich bestand darin, daß mich jemand nach 21 Jahren wiedererkannte - ein wie ich hoffte, äußerst unwahrscheinliches Ereignis auf den durch hohe Bevölkerungsfluktuation 34
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gekennzeichneten Orbitalen Städten. Mein Ausweis fiel aus dem Ausgabeschlitz des Lesegeräts. »Lamur Derkrat?« »Derselbe«, antwortete ich und lächelte gewinnend. »Ich bin Geschäftsmann und ...« Die Frau winkte ab. »Was Sie im Schemmenstern-System wollen, ist Ihre Privatsache.« Sie gab mir den Ausweis zusammen mit einer Holofolie zurück. »Hier, das wird Ihnen weiterhelfen.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich die Frau dem Mann hinter mir zu. Meine Einreise war geglückt. Verblüfft über die Reibungslosigkeit des Vorgangs ging ich einige Schritte weiter und blieb im Ausgangsbereich der Halle stehen. Ich sah mir die Holofolie an, die die Gardistin mir gegeben hatte. Es war ein praktischer Ratgeber für Reisende und Einwanderer. In einer Ecke prangte das Konterfei eines älteren Mannes mit rötlichblonden Haaren. Als mein Daumen das Bild berührte, verdunkelte sich für einen Augenblick die Folie, dann erschien das Porträt des Mannes im Großformat und begrüßte mich mit volltönender, offener Stimme im Schemmenstern-System. Kein Zweifel, bei dem Mann handelte es sich um Rupiak - oder besser gesagt um den Menschen, in den er sich in den letzten zwei Jahrzehnten verwandelt hatte. So erfreulich diese Tatsache auch sein mochte, meine Aufgabe wurde dadurch zusätzlich erschwert: Anfragen nach Tamarena bei den Behörden der Orbitalen Städte, selbst unter falschem Namen, schieden damit aus. »Wie schön, daß Ihr hier seid, Zhdopanda!« ertönte unvermittelt eine quietschige Stimme hinter mir. »Willkommen auf HRAMIRS FINGERZEIG!« Zhdopanda! Der Titel schrillte wie eine Alarmglocke in meinen Gedanken. Es war die Anrede, wie sie Adligen erster Klasse zustand, die Anrede, mit der man mich in meiner Rolle als Altao Ta-Camlo adressiert hatte. Jemand mußte mich erkannt haben! Aber wer ...? Ich wirbelte auf dem Absatz herum - und erstarrte. Vor mir stand ein etwa 1,60 hohes, stämmiges Wesen. In gewisser Weise war es humanoid, zumindest besaß es zwei kurze, säulenartige Beine und zwei Stummelarme, die allerdings in vierfingrigen, daumenlosen Händen endeten. Im Schädelbereich endeten aber die Ähnlichkeiten mit den Arkoniden. Der Kopf selbst glich einer Halbkugel, die halslos direkt auf dem Rumpf aufsetzte. Statt Ohren hatte das Wesen Streifen organischen Gewebes, die an beiden Seiten des Kopfes herunterhingen. Das dominierende Element des Kopfes war aber der Rüssel, ein ungefähr einen halben Meter langes, biegsames Sehnenund Muskelbündel, das an das terranischer Elefanten erinnerte. »Zhdopanda, bitte verzeiht mir!« Die Zwitscherstimme drang aus einem breiten, von Knochenkämmen gesäumten Mund. »Ich wollte Euch nicht erschrecken, bitte glaubt mir!« Das Wesen vor mir war ein Unither. Erleichtert entspannte ich meine kampfbereit angespannten Muskeln. Er kann dich nicht erkannt haben, Arkonide, flüsterte mein Extrasinn beruhigend. Du bist während des Ringens um Traversan nie einem Angehörigen seiner Rasse begegnet. »Zhdopanda, was ist mit Euch? Ihr sagt gar nichts!« Der Unither wedelte aufgeregt mit dem Rüssel. Argwöhnisch musterte ich das Wesen vor mir. Ich kannte die Unither gut. Sie zählten seit Jahrtausenden zur Familie der raumfahrenden Völker der Galaxis. Arkon hatte sie lange Zeit brutal unterdrückt, ich selbst hatte sie aber als überaus agile und hilfsbereite Wesen schätzen gelernt. Aber was tat dieser Unither hier? Ich konnte mich nicht erinnern, daß seine Rasse zu dieser Zeit, fast 6000 Jahre vor Beginn der alten terranischen Zeitrechnung, bereits die überlichtschnelle Raumfahrt entwickelt hatte. Und außerdem war sein Rüssel nur ungefähr halb so lang, wie die seiner Artgenossen, denen ich in meiner Zeit begegnet war. Entweder würden sich die Rüssel seiner Rasse in den nächsten Jahrtausenden weiterentwickeln, oder der Unither vor mir war ein Krüppel. »Was willst du von mir?« fragte ich kurz angebunden. 35
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Der Unither versuchte sich an einer Verbeugung arkonidischen Stils, bei der er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. »Ich will Euch nicht belästigen, Zhdopanda, wirklich nicht, aber wenn Ihr nur ein winziges Quentchen Eurer wertvollen Zeit erübrigen könntet ...« Ich musterte den Unither wortlos. Er war offensichtlich alleine - ein Unding für einen Angehörigen seiner mit einem übermächtigen Herdentrieb ausgestatteten Rasse. War er vielleicht ein Ausgestoßener? »Und wozu das?« erkundigte ich mich. »Nun, Ihr seid offenbar ein weitgereister Mann, Zhdopanda, das spüre ich.« Die Stimme des Rüsselträgers war jetzt ruhiger, tiefer. »Würde es Euch ausmachen, mir etwas von Euren Abenteuern zwischen den Sternen zu erzählen?« Bleib ruhig, Arkonide, schaltete sich mein Gedankenbruder ein. Er weiß nicht, wer du bist. Er kann es nicht wissen. Er ist nur ein armer Irrer, der zufällig dich angesprochen hat. Den Titel benutzt er, um sich bei dir einzuschmeicheln. Wimmle ihn ab. »Du irrst dich, mein Freund«, entgegnete ich versöhnlicher. Irgend etwas in der Haltung meines Gegenübers sagte mir, daß ich es lediglich mit unschuldiger Neugierde zu tun hatte, mehr nicht. »Ich bin kein Hochedler, und ich habe nicht viel zu erzählen. Wieso fragst du nicht jemand anderen. Du hast Auswahl genug.« Ich deutete in die vor Arkoniden und anderen Intelligenzen wimmelnde Halle. »Aber ... aber das glaube ich nicht. Ihr könnt mir bestimmt ...« »Kein Aber«, unterbrach ich den Unither in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. »Ich habe keine Zeit für dich, tut mir leid.« Demonstrativ machte ich kehrt und ging zum Ostausgang der Halle; dem Ausgang, der mich laut der Holofolie ins Hotelviertel der Orbitalstadt führen würde. Aber noch lange, nachdem die Halle hinter mir zurückgeblieben war, glaubte ich den sehnsüchtigen Blick des Unithers in meinem Rücken zu spüren.
Kapitel 8 Lathir brauchte über eine Woche, um zu entscheiden, ob er den Fremden ein zweites Mal ansprechen sollte. Schon der bloße Gedanke, sich über die eindeutige Zurückweisung des Mannes hinwegzusetzen, war für ihn ungeheuerlich. Der Unither gehörte einer Rasse an, die in der Nähe zueinander aufging. Er war im Nest seiner Herde großgeworden, einem einzigen, mit geflochtenen Matten ausgelegten Raum, kaum 25 Quadratmeter groß, den sich mehrere Dutzend Unither als Lebens- und Schlafraum teilten. Die Nächte hatte Lathir mit seinen Artgenossen in einem dichten Knäuel verbracht, geborgen in der Wärme, die ihm die Gemeinschaft sowohl körperlich wie seelisch spendete. Die Tage hatten er und die anderen Kinder mit Gruppenspielen gefüllt, oder damit, einander in endlosen Stunden ihre in diesem Alter noch überaus empfindlichen Rüssel zu reinigen. Rücksichtnahme und Respekt vor den Bedürfnissen anderer war in dieser Gemeinschaft überlebensnotwendig. Ein Nein war ein Nein, daran gab es nichts zu rütteln, so oft Lathir sich auch danach gesehnt hatte, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Aber mit den Jahren hatte Lathir gelernt, daß diese strikte Regel ihn nicht nur einschränkte, sondern auch vor der Willkür anderer schützte-und seit diesem Moment hatte er nicht mehr im Traum daran gedacht, sie zu verletzen. Schließlich, so sagte er sich, war er erwachsen. Und jetzt sollte er sich wieder wie ein dummes Kind aufführen? Der Unither zog das Buch der Herde hervor, wie er es oft tat, wenn er nicht mehr weiterwußte. Langsam blätterte er durch die Seiten, ertastete mit der sensiblen Spitze seines Rüssels das weiche, 36
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bereits abgegriffene Leder. Er kannte das Buch in- und auswendig - schließlich hatte er es unter Khalankas geduldiger Anleitung selbst abgeschrieben - und konnte jedes seiner 147 Kapitel rezitieren, aber er liebte es, es zu berühren. Das Leder flößte ihm Sicherheit ein, das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, die seit Jahrhunderten bestand und lange nach seinem Tod weiterbestehen würde. Inzwischen war sein Rüssel bei Kapitel 99 des Buchs angekommen. Die Überschrift funkelte in großen, vielfarbigen Lettern: Wie Sinkarda um den schönen Cephur warb, er sie abwies, sie aber dennoch die zärtliche Berührung seines Rüssels für sich gewann. Die Geschichte hatte sich vor elf Generationen zugetragen, als die Herde bereits in der Knechtschaft der Orbitalen Städte geraten war. Sinkarda war ein Nachling, die letzte eines bereits übergroßen Wurfs. Klein und schwächlich wurde sie von ihren Artgenossen geschnitten. Eines Tages verliebte sie sich - ausgerechnet in den schönen Cephur, den Erstling eines Wurfs, den viele für den möglichen Stammvater einer neuen Herde hielten. Sinkarda warb um ihn. Er lachte nur. Sinkarda ließ sich nicht beirren. Sosehr ihr auch der Spott der übrigen Herde zusetzte, sie wußte, Cephur war ihr Hradith. Unermüdlich versuchte sie, Cephur für sich einzunehmen, mit Geschenken, Gesten, schmeichelnden Worten. Doch dieser blieb hartnäckig bei seiner Ablehnung. Da unternahm sie einen letzten Versuch: Eines Abends schob sie heimlich einen karmesinroten Quarz unter Cephurs Matte und legte sich auf die Matte daneben - eine Geste höflicher Kameradschaft, die Cephur nicht ablehnen konnte. In jener Nacht ließ der Stein der Wahrheit den jungen Mann einen Blick auf ihre wahre, ihre innere Schönheit werfen. Am Morgen danach stimmte Cephur der Vereinigung zu und schließlich begründete er tatsächlich einen neuen Zweig der Herde zusammen mit Sinkarda, von deren Seite er zeitlebens niemals wieder wich. Lathir ließ das Buch vorsichtig auf den Schoß sinken. Ein Nein war also nicht immer ein absolutes Gebot, das bewies Sinkardas Geschichte. Zumindest dann nicht, wenn der andere es in Unwissenheit äußerte und die Angelegenheit, um die es ging, wichtig genug war. Trifft das auch auf mich zu? fragte der junge Unither sich. Der Fremde, der von Traversan gekommen war, hatte ihn nicht einmal ausreden lassen, der Mann konnte also gar nicht wissen, was er von ihm gewollt hatte. In Gedanken hakte Lathir den ersten Punkt ab. Aber was war mit dem zweiten? Es war sein Hradith, zu den Sternen zu fahren, das spürte er. Nur, konnte ihm der Fremde dabei helfen? Lathir überdachte noch einmal die letzten Tage. Anfangs hatte er nur mit dem Fremden sprechen wollen. Es war sein liebster Zeitvertreib, Reisende abzufangen und ihren Geschichten von fernen Welten zu lauschen. Lathir wußte nicht einmal genau zu sagen, warum er gerade diesen bestimmten Arkoniden angesprochen hatte; auf irgendeine, nicht näher zu erklärende Weise war er aus der Masse herausgestochen. Er strahlte eine Erfahrung und Weltläufigkeit aus, wie sie dem jungen Unither noch nie zuvor begegnet war. Doch seine brüske Reaktion hatte ihren Zweck verfehlt: Statt Lathir abzuschrecken hatte sie seine Neugierde noch mehr entfacht. Einer spontanen Eingebung gehorchend war Lathir dem Fremden, er nannte sich Lamur Derkrat, gefolgt - und was er in den darauffolgenden Tagen beobachtete, bestätigte seinen ersten Eindruck: Dieser Mann war kein gewöhnlicher Reisender. Derkrat hatte gleich am Tag nach seiner Ankunft ein Ladenlokal in einem der belebteren Viertel von HRAMIRS FINGERZEIG angemietet und damit begonnen, seine Dienste als Dagor-Lehrer zu offerieren. Wer aber Derkrats Laden betrat, den erwartete mehr als nur eine Lektion in der Kunst des Dagors, fand Lathir schnell heraus. Zumindest bestätigten dem Unither das alle diejenigen, die er unter dem Vorwand, möglicherweise selbst Derkrats Dienste in Anspruch nehmen zu wollen, nach Verlassen des Ladens über ihre Erfahrungen befragt hatte. Derkrat gab seinen Schülern zwar eine tadellose Einführung in die Philosophie der waffenlosen arkonidischen Kampfkunst, aber 37
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gleichzeitig erwies sich der vorgebliche Dagor-Lehrer als äußerst neugierig: Er befragte seine Schüler nach der politischen Situation in den Orbitalen Städten, nach besonderen Vorkommnissen der letzten Wochen und nach den besten Ärzten und Chirurgen. Zweien von ihnen, die sich als besonders auskunftsfreudig erwiesen, hatte er sogar das Bild einer Arkonidin gezeigt. Derkrat, wenn der Mann wirklich so hieß, suchte etwas in den Orbitalen Städten, das stand für Lathir fest. Und das wiederum, darin war sich der Unither ebenso sicher, konnte zu seinem Vorteil sein ... Schließlich, nach neun Pragos, gab sich der junge Unither einen Ruck. Die Herde war es gewohnt, daß er ab und an alleine verschwand, aber seine regelmäßige Abwesenheit erregte zunehmend Mißtrauen. Selbst die nachsichtige Khalanka, deren schützender Hand Lathir seine Freizügigkeit verdankte, verzog bereits tadelnd den Rüssel, wenn er sich zu seinen einsamen Missionen aufmachte. Wollte er den Arkoniden jemals zur Rede stellen, mußte er es jetzt tun. Die leuchtend orange gestrichene Tür des Ladens glitt zur Seite und Lathir trat mit klopfendem Herzen ein. Der empfindliche Rüssel des Unithers nahm sofort den leichten Duft abgestandenen Schweißes im Innern des Ladens wahr. Die Klimaanlage mußte defekt sein - ein weiteres Indiz für Lathirs Vermutung, daß der Fremde nur geringen finanziellen Spielraum besaß. Derkrat saß hinter einem einfachen metallenen Tisch, in den Händen eine Miniaturpositronik, mit der er sich in das Intranet der Orbitalen Städte eingeloggt hatte. Bis auf einen weiteren Stuhl war der Raum leer. Durch eine halb geöffnete Tür in der rückwärtigen Wand konnte Lathir die kleine Halle erkennen, in der Derkrat seine Stunden erteilte. Der Unither hob grüßend die Hand und sagte: »Es sieht nicht so aus, als ob du dich hier für länger eingerichtet hättest.« Noch während Lathir den Satz zu Ende brachte, erschrak er über seine eigene Unverfrorenheit. Er hatte in den vergangenen Tagen immer wieder überlegt, wie er den Fremden ansprechen sollte, hatte sich dafür entschieden, auf Titel und höfliche Anrede zu verzichten ... aber war es klug, sein Gegenüber gleich im ersten Satz zu provozieren? Derkrat legte die Positronik vor sich auf den Tisch. »Die Kunst des Dagors ist die Kunst, das Innere zu beherrschen, zu dir selbst vorzustoßen. Äußerlichkeiten sind dabei belanglos.« Der Arkonide strich sich mit der Linken über das schulterlange, weiße Haar und straffte sich, »Was führt dich zu mir, mein Freund? Ich hätte nicht geglaubt, dich je wiederzusehen.« »Ich will von dir lernen«, sagte Lathir. »Da muß ich dich enttäuschen.« Derkrat schüttelte langsam den Kopf. »Das ist unmöglich für einen Unither. Ihr seid zu verschieden von uns, in jeder Hinsicht. Euer Verstand widersetzt sich der Einsamkeit, ohne die es unmöglich ist, die nötige innere Ruhe aufzubringen, um zu sich selbst zu finden. Und selbst wenn du es könntest - eure Physiologie ist völlig anders, die Dagor-Griffe sind auf Arkoniden zugeschnitten.« »Nein, du verstehst mich nicht«, sagte Lathir. Der Unither war entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen. Sein Gegenüber mußte wissen, daß ihn nicht die Neugierde auf die Kunst des Dagors hierher getrieben hatte. »Dein Dagor interessiert mich nicht. Ich will, daß du mich lehrst, wie man zu den Sternen fährt.« Derkrat schwieg einige Sekunden lang, offenbar von Lathirs Eröffnung verblüfft. Dann zuckte er die Achseln. »Dazu brauchst du mich nicht. Geh einfach zu einem Raumhafen du weißt ja, wo du einen findest - und kauf dir ein Ticket, wohin du willst. In ein paar Stunden bist du bei den Sternen.« Lathir ließ traurig den Rüssel hängen. »So einfach ist das vielleicht für dich, aber nicht für mich. Weißt du nicht über unsere Herde Bescheid?« Derkrat schüttelte den Kopf. 38
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»Unsere Herde hier ist klein, wir sind nur ein paar Hundert, verteilt über die Orbitalen Städte in vielen kleinen Nestern. Aber hier ist nicht unsere wahre Heimat, deinesgleichen hat uns hergeholt. 16 Generationen ist das her, so sagt es das Buch der Herde. Man zwang uns in den Minen zu arbeiten, zusammen mit den grobschlächtigen, brutalen Naats. Es war eine schlimme Zeit, unsere Herde zählte damals Tausende, aber es dauerte nicht lange, da war nur noch eine Handvoll von uns übrig, den Rest hatten Kälte, Hunger und Krankheiten dahingerafft. Doch dann geschah ein Wunder.« Lathir verstummte und sah den Arkoniden an. Derkrat zeigte keine Reaktion. Er wußte wirklich nichts von der Herde. »Kavantia, eine der unseren, die wir seit diesem Tag unsere Erlöserin nennen, machte eine Entdeckung: Sie spürte die Schwingungen der Quarze. Mal war es ein ängstliches Zittern, mal ein wohliges Brummen, mal lediglich ein indifferentes Summen. Von ihrem Gespür geleitet bearbeitete sie einige der Quarze, schliff sie zurecht. Die Arkoniden verlachten Kavantia. Niemand kann fünfdimensionale Schwingungen spüren, behaupteten sie. Aber als sie die Quarze, die Kavantia bearbeitet hatte, untersuchten, stellten sie fest, daß diese leistungsfähiger waren als herkömmliche. Positronische Schaltungen arbeiteten mit ihnen einige wenige Zehntausendstel Sekunden schneller- ein entscheidender Vorteil für die Kriegsflotte der Arkoniden im Kampf gegen die Methans.« Lathir bemühte sich nicht, seine Abscheu über den Gebrauch der Quarze zu verbergen. Sollte der Mann vor ihm vom selben Schlag sein, wie die Arkoniden, die seine Herde versklavt hatten, war sein Bemühen ohnehin umsonst. »Man brachte die wenigen Überlebenden der Herde sofort in die Orbitalen Städte. Seit dieser Zeit war es unser Hradith hier in komfortabler Knechtschaft zu leben. Die Arkoniden lassen uns in Ruhe, solange wir die Quarze für sie bearbeiten. Zwischen den Städten dürfen wir nach Belieben reisen, doch um dem Schemmenstern den Rücken zu kehren, brauchen wir eine Genehmigung des Tatos.« »Und du glaubst, ich könnte sie dir besorgen? Bildest du dir etwa ein, ich hätte einen besonderen Draht zu ihm?« Derkrat, den das Schicksal der Sternenherde offenbar nicht ungerührt gelassen hatte, versteifte sich wieder. »O nein, darum geht es mir nicht«, sagte Lathir. Und fügte hinzu: »Um die Genehmigung werde ich mich kümmern, ich werde schon eine bekommen.« Die Lüge kam glatt über die Lippen des Unithers, vielleicht, weil er sich so sehr wünschte, daß sie der Wahrheit entsprach. »Was willst du dann von mir?« »Vor einiger Zeit traf ich einen weisen Mann deiner Rasse«, antwortete Lathir. »Er sagte mir, daß die Sterne grausam wären, daß ich dort draußen verloren wäre. Ich wollte ihm nicht glauben. Doch dann widerfuhr mir ... eine ... eine Erfahrung.« Lathirs Rüsselmuskeln versteiften sich. Die Erinnerung an die quälenden Stunden in der Zelle drohte ihm die Luft abzuschnüren. »Seitdem habe ich viel nachgedacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß dein Artgenosse recht hatte: Ich wäre wirklich zwischen den Sternen verloren. Sie sind vielleicht nicht grausam, aber das Universum dort draußen ist anders. Ohne einen erfahrenen Freund würde ich dort nicht lange überleben.« »Und du willst, daß ich diesen Freund spiele, der dich bei der Hand nimmt?« Derkrat lehnte sich zurück und strich sich nachdenklich über das Kinn. Lathir spürte, wie ein Teil der Anspannung von ihm abfiel. Der Arkonide hatte sein Ansinnen nicht rundheraus abgelehnt, er schien sogar ernsthaft darüber nachzudenken. Mutig geworden, ließ sich der Unither auf dem Besucherstuhl nieder. Das Plastikmaterial knackte unter seinen fast vier Zentnern, brach aber nicht. Derkrat schien zu einem Entschluß gekommen zu sein. »Nun, gesetzt den Fall, ich willige in deine Bitte ein und nehme dich mit zu den Sternen: Was gibst du mir dafür?«
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Lathir war auf diesen Moment vorbereitet. Arkoniden halfen nie, um zu helfen, sie mußten immer das Gefühl haben, etwas für ihre Hilfe zu bekommen - als wäre nicht das Wissen, daß einem der andere seinerseits in jeder Lage unterstützen würde, die denkbar größte Belohnung überhaupt. Ohne zu zögern antwortete er: »Ich nehme dich bei der Hand, hier in den Orbitalen Städten.« »Du nimmst mich bei der ...?« Der Gedanke war dem Arkoniden offenbar zu absurd, um ihn vollständig zu wiederholen. Er winkte ab. »Vielen Dank, mein Freund. Wie du siehst, habe ich mein Auskommen. Wenn ich einmal nicht mehr genug zu Essen und zu Trinken habe, melde ich mich bei dir.« »Die Frau«, sagte Lathir unbeirrt. »Die Frau, die du suchst. Ich helfe dir, sie zu finden.« In einer fließenden, raubtierartigen Bewegung schnellte der Arkonide hoch. Den Bruchteil einer Sekunde später baute er sich drohend über dem immer noch sitzenden Lathir auf. »Woher weißt du das?« zischte er. Winzige Speicheltropfen regneten auf den Unither herab. »Was willst du von mir? Gehörst du zur Garde Rupiaks?« »Nein, nein! Bitte beruhige dich!« Der Unither hob schützend den Rüssel vor den Kopf. »Ich bin alleine, wirklich! Ich will dir nichts tun. Es ist nur so: Als du mich am Raumhafen abgewiesen hast, hat mich das neugierig gemacht. Ich bin dir gefolgt und habe mit den Leuten gesprochen, die bei dir waren. Aus dem, was sie mir gesagt haben, habe ich mir zusammengereimt, daß du jemanden suchst. Das ist alles, glaub mir!« Einige Herzschläge lang beäugte Lathir aus halb zusammengekniffenen Augen die dunkle Silhouette Derkrats. Dann, als der Unither bereits alles verloren gegeben hatte, senkten sich die geballten Fäuste des Arkoniden, und er trat einen Schritt zurück. »Ich werde dich nicht verraten, bestimmt nicht. Ich will doch nur zu den Sternen«, plapperte Lathir weiter. »Und ich kann dir bestimmt helfen. Ich bin hier geboren, ich kenne die Orbitalen Städte fast ebensogut wie das Nest meiner Herde. Und ich bin nicht alleine. Unsere Herde hat fast überall Nester, denk doch nur, was das für dich bedeuten könnte. Statt zweier Augen und Ohren hättest du Hunderte! Und dazu unauffällige - niemand kümmert sich um uns Unither, solange wir brav die Quarze bearbeiten.« Derkrat hatte sich inzwischen gegen die Tischkante gelehnt und die Arme verschränkt. Er sagte nichts. Lathir ließ vorsichtig den Rüssel sinken. »Du sagst gar nichts. Was ist?« Der Arkonide schwieg immer noch, entblößte aber zwei Reihen strahlend weißer Zähne. Lathir kannte diese Geste. Die Arkoniden nannten sie Lächeln. Sie bezeugte angeblich Heiterkeit. Was ging hier vor? »Heißt das ... das«, stotterte er. »Das heißt, ich glaube dir«, sagte Derkrat. Sein Lächeln wurde noch breiter. »Auf unseren Handel!« Der Arkonide streckte ihm die Hand entgegen. Lathir zögerte kurz, dann legte er seine empfindliche Rüsselspitze in die geöffnete Handfläche - und zum erstenmal in seinem Leben widerte ihn die Berührung arkonidischer Haut nicht an.
Kapitel 9 »Nein, das kommt nicht in Frage!« Ich warf Lathir, dem Unither, der mir gestern einen bizarren Handel angeboten hatte, einen trotzigen Blick zu. »Das mache ich nicht mit. Niemals.« Der Unither hob beschwichtigend die beiden Stummelarme und den zu kurz geratenen Rüssel. »Ich weiß, daß die Vorstellung für dich nicht angenehm ist«, flüsterte er 40
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beschwörend, »aber du kannst so nicht ins Nest.« Sein Rüssel maß fast meine gesamte Körperlänge ab. »Und wenn du nicht ins Nest kommst, kann meine Herde dich nicht kennenlernen. Und jemandem, den die Herde nicht kennt, dem hilft sie nicht.« Wovor hast du Angst, Arkonide? fragte mein Extrasinn. wollte er dir ans Leder, hätte er auf dem Weg hierher mehr als genug Gelegenheiten gehabt. Aber das will er ja gar nicht, er will dir nur an die Wäsche ... Mein Gedankenbruder genoß den Augenblick sichtlich. Seit meinem Wiedererwachen in dieser Epoche hatte ich ihn gegen seinen Protest laufend in Situationen gebracht, die ihm zutiefst zuwider waren. Jetzt war es endlich einmal ich, dem die Nackenhaare zu Berge standen. Ich verdrehte den Kopf und sah mich um. Lathir und ich standen in einer engen Kammer, vielleicht zwei auf zwei Meter groß, in Lathirs Heimat, TAI MEREN NOAS oder YARUZAS LETZTER HOFFNUNG, wie er sie nannte. Mehr als eine halbe Stunde hatte er mich durch ein Labyrinth von Gängen, Antigravschächten und Treppen geführt, bis wir endlich an das Nest seiner Herde gelangt waren. Es lag in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fusionsreaktor der Stadt, einem altertümlichen Ungetüm, das ich als das Kraftwerk eines Schlachtkreuzers der FusufKlasse erkannte - allerdings in der längst überholten Ausführung, die ich aus meiner Zeit kannte, bevor ich auf der abgelegenen Barbarenwelt Larsaf 3 meinen ersten Tiefschlaf angetreten hatte. Hinter dem Unither, nur schwer zu erkennen im Licht der einzelnen, schwachbrüstigen Lampe, befand sich ein Haufen offenbar achtlos abgestreifter gelber Overalls. Lathir wurde mein fortgesetztes Schweigen zu viel. »Sieh nur«, sagte er aufmunternd, »es ist ganz einfach.« Die Finger des Unithers wanderten zum Magnetsaum seines Overalls, und einen Augenblick später war er auf dem Stapel in der Ecke gelandet. Lathir stand nackt vor mir. Was schämst du dich wie ein kleiner Junge? meldete sich mein Gedankenbruder von neuem. Du willst doch Tamarena finden, oder? Das hier ist vielleicht deine einzige Chance. Los, tu es. Mit einem ergebenen Seufzen begann ich mich auszuziehen - ein Vorgang, der aufgrund meiner mehrteiligen Garderobe etwas länger dauerte. Mein Zögern hatte nichts mit Scham zu tun. Ich konnte selbst nach Jahrtausenden nicht behaupten, völlig frei davon zu sein, aber Scham war eine Kategorie, die nur zwischen Wesen einer gleichen oder verwandten Rasse Sinn machte. Der Unither, der nackt vor mir stand, hatte mit Sicherheit seine Geschlechtsteile entblößt. Aber was sollten sie mir schon bedeuten? Nein, meine anfängliche Weigerung hatte einen anderen, zugegebenermaßen ebenso irrationalen Grund gehabt: Angst. Mit meiner Kleidung streifte ich den letzten Hauch meiner eigenen Welt ab, lieferte mich vollständig diesem Wesen, das ich kaum kannte, und seinen Artgenossen aus. Irgendwie konnte ich das hartnäckige Gefühl nicht verscheuchen, daß ich nackt vor diesen Wesen nichts verbergen konnte - und genau das mußte ich doch, konnte ich ihnen doch niemals die ganze Wahrheit erzählen. Als ich mit dem Slip das letzte Kleidungsstück auszog, grunzte Lathir zufrieden. »So ist es besser. Viel besser.« Der Unither drehte sich zur zweiten Tür der Kammer, der Tür hinter der sich das Nest seiner Herde befand, was immer das bedeuten mochte. »Bist du bereit?« Ich schöpfte noch einmal tief Luft und nickte. Lathir betätigte den Öffnungsschalter. Die Tür glitt zur Seite und ein Schwall feuchtwarmer Luft strömte in die Kammer. Der leicht modrige Geruch fremdartigen Schweißes, der in dem winzigen Raum gehangen hatte, steigerte sich schlagartig zu einem stechenden Gestank. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. Lathir hob fragend den Rüssel: Wollte ich umkehren? 41
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Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht soweit gekommen, um jetzt meiner Angst nachzugeben. Der Unither trat in den Raum, der das Nest seiner Herde sein mußte. Ich folgte ihm. Ein halbes Dutzend über die Decke verteilter Lampen spendete rötliches, wärmendes Licht. Die Ausmaße des Raumes waren in der Beleuchtung, die in erster Linie als Wärmequelle diente, nur schwer abzuschätzen, er konnte bestenfalls 30 Quadratmeter groß sein. Unter den Füßen spürte ich rauhe, lose gewobene Matten, die mich an die aus Kokosfasern gewebten Teppiche erinnerten, denen ich während meiner kurzen Wachphasen auf der Erde mehrfach begegnet war. Froh darüber, an diesem Ort überhaupt eine vertraute Assoziation zu spüren, zwang ich meinen Geist dazu, sich auf das Prickeln meiner Fußsohlen zu konzentrieren. Lathir schritt langsamen, würdevollen Schrittes in die Mitte des Nests. Meine Augen gewöhnten sich jetzt zusehends an die dürftige Beleuchtung. Überall um mich herum waren Unither. Es mußten mindestens drei oder vier Dutzend sein, die sich in dem kleinen Raum drängten. Genauer konnte ich es nicht sagen, denn die rüsselbewehrten Wesen schienen zu einem einzigen Knäuel verwoben. Eng aneinandergedrängt lagen, standen, saßen sie aufeinander, sogen die Warme des anderen, das Verbundenheitsgefühl ihrer Gemeinschaft ein. Ihr unaufhörliches Gezwitscher verwob sich zu einem regelmäßig anund abschwellenden Geräusch, ähnlich wie die Brandung der See. Verblüfft blieb ich einen Augenblick stehen. Das hatte ich nicht erwartet. Auch die Unither meiner Zeit zeichneten sich durch einen starker Herdentrieb aus und lebten - aus arkonidischer Sicht - in qualvoller Enge zusammen. Aber das hier? Vergiß nicht, daß bis dahin zehn Jahrtausende vergangen sind, erinnerte mich mein Logiksektor. Viel Zeit, in der sich der Herdentrieb der Unither abschwächen konnte. Aber abgesehen davon sollte das hier keine echte Überraschung für dich sein: Diese Wesen sind eine winzige Gemeinschaft in einer fremden und feindseligen Umwelt. Sie können nur überleben, indem sie so eng wie möglich zusammenrücken. Lathir hatte inzwischen das Ende der schmalen Gasse, welche die übrigen Unither für uns frei gemacht hatten, erreicht. Er drehte sich um und forderte mich mit einem Schwenk seines Rüssels auf, zu ihm aufzuschließen. Ich tat wie verlangt, und wenige Augenblicke später standen der Unither und ich in einer kleinen, etwas mehr als einen Meter durchmessenden Insel im Meer der Körper. Hinter mir schloß sich die Gasse in einer einzigen, fließenden Bewegung der Leibermasse. Es schien, als hätte der Durchgang nie existiert. Lathir bedeutete mir, mich hinzusetzen. Dann beugte er sich über mich und flüsterte: »Hab keine Angst. Das Wahzkhira wird nicht lange dauern.« Ich wollte ihn fragen, was, bei allen Sternengöttern, das Wahzkhira war, aber noch bevor ich den Mund öffnen konnte, machte er einen Schritt zurück und verschwand in der Wand der Leiber. Das Gewirr der Stimmen erstarb. Die rauhen Fasern der Bodenmatten stachen in mein Gesäß. Ich schwitzte. Die heiße, feuchte Luft erschien mir mit jedem Atemzug stickiger. Die vier Dutzend Augenpaare, die mich neugierig musterten, wirkten wie das Sinnesorgan eines einzigen, großen Wesens. Dann erlosch das Licht. Ich kämpfte den Impuls nieder, aufzuspringen und wegzurennen. Selbst wenn ich in der absoluten Schwärze den Ausgang hätte finden können, wären mir immer noch Dutzende von Intelligenzen entgegengestanden, deren Körperkraft die eines Arkoniden weit übertraf. Nein, ich hatte mich in die Gewalt dieser Wesen begeben, jetzt blieb mir nur, ihr Spiel mitzuspielen. Eine unbestimmte Zeit kauerte ich in der Dunkelheit, allein und doch von Leben umringt, wie mich die schweren Atemzüge der Unither nie vergessen ließen. Ich wartete darauf, eine Stimme zu hören, darauf, daß irgendeines dieser Wesen, vielleicht ihr 42
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Häuptling oder Fürst oder wie immer sie ihren Anführer nannten, zu mir sprechen würde. Hatte Lathir nicht gesagt, seine Herde wollte mich kennenlernen? Plötzlich spürte ich eine Berührung auf dem Rücken. Erschrocken rutschte ich eine Handbreit nach vorne. Nein! protestierte mein Gedankenbruder. Halt still! Du kannst ihnen sowieso nicht entkommen. Laß dich auf sie ein. Wenige Sekunden später strich wieder etwas über meinen Rücken. Ich hielt die Luft an - und regte mich nicht. Die Berührung wurde forscher, blieb aber trotzdem sanft und streichelnd. Es war die Rüsselspitze eines Unithers; ich erkannte die weiche, lederne Haut wieder. Sie fühlte sich wie die von Lathirs Rüssel an, als ich ihm am Tag zuvor die Hand gereicht hatte. Dann spürte ich einen zweiten Rüssel an meinem Knie, ein dritter betastete meine Hüfte. Wenige Herzschläge später kam ich schon nicht mehr mit dem Zählen nach. Es gab keine Stelle meines Körpers, an der sich nicht die Extremität eines Unithers, tastend, streichelnd und schnuppernd zu schaffen machte. Im selben Moment verstand ich. Das war ihre Art, mich kennenzulernen! Sie wollten zu meinem Kern vordringen, meinem wahren Selbst, ungehindert von Kleidern und gestelzten Höflichkeitsformeln. Sie erfühlten mich. Ich lachte auf. Die warmen Rüssel auf meiner Haut schienen plötzlich nicht mehr bedrohlich, sondern zärtlich und einladend. Meine Arme, die ich schützend über meinem Oberkörper verschränkt hatte, öffneten sich. Ich setzte mich auf, streckte die Beine aus. Einen Moment lang verharrte ich in dieser Stellung, genoß die tausend Berührungen, dann sank ich zurück, ließ mich in das warme Meer der Leiber sinken. Ein vielstimmiges, zufriedenes Trompeten begrüßte mich. Die Herde erkannte, daß ich ihr vertraute. Und wieso hätte ich es auch nicht tun sollen? Was war ich nur für ein Narr gewesen, daß ich diesen Wesen mißtraut hatte! Die Zahl der tastenden Rüssel schien sich jetzt, da ich meinen ganzen Körper hingab, noch zu vervielfachen. Der klebrige Schweiß, der meine Haut bedeckt hatte, war verschwunden, weggewischt von der fürsorglichen Berührung der Herde. Nie in meinem langen Leben hatte ich mich so geborgen gefühlt. Dann ringelten sich eine Handvoll Rüssel um meinen linken Arm und mein linkes Beinund rissen mich mit einem Zug in die Höhe. Ich schrie. Es war ein gellender Schrei des Schmerzes meine Schulter brannte, als hätte der brutale Griff sie ausgekugelt - und der Enttäuschung. Ich hatte mich geöffnet, mich in einer Vollständigkeit anderen hingegeben, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Und nun verriet man mich, schleuderte mich beiseite wie ein gebrauchtes Spielzeug. Mein Aufschrei war noch nicht verhallt, als sich die Rüssel um meine Glieder bereits lösten. Einen kurzen Moment lang stieg ich weiter - ich glaubte fast, die Decke zu berühren dann fiel ich und wurde von anderen Rüsseln energisch, aber sanft aufgefangen. Wieder spürte ich, wie die biegsamen Greifwerkzeuge sich um mich schlossen, aber diesmal rissen sie mich nicht nach oben, sondern nach unten, hinein in den Leib der Herde. Lederne Haut rieb über die meine, aber sie fühlte sich anders an als die der Rüssel, härter, unnachgiebiger. Eine neue Angst flackerte in mir auf. Ich war gefangen zwischen den Körpern dieser Wesen, die mit ihren Säulenbeinen und stämmigen Rümpfen spielend ein Gewicht von vier Zentnern erreichten. Sie würden mich zerquetschen, ohne es zu bemerken. Ich wurde weitergezogen, manchmal nach vorne, manchmal zur Seite. Es schien, als ob man mich immer weiterreichte, als ob jeder einzelne der Unither mich betasten, mich erfühlen wollte. Vergeblich schnappte ich nach Luft, die Körper bildeten eine massive Decke über mir. Die wenigen Hohlräume waren mit den stinkenden Ausdünstungen der Unither gefüllt. Ich sog sie ein, ohne das Brennen in meinen Lungen löschen zu können. Meine Gedanken verschwammen. Ich wartete darauf, daß mein Extrasinn sich meldete, mir irgendeinen wundersamen Ausweg aufzeigte, den ich Narr 43
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übersehen hatte, aber er schwieg. Bilder stiegen in mir auf: Die aufgedunsene Riaal, das zornige Funkeln in den Augen Irakhems. Und dann sah ich sie, ihre mandelförmigen Augen. Sie lächelte, winkte mir lockend zu. Ich schrie »Tamarena!«, aber das Bild zerfloß, Schwärze senkte sich über mich, überdeckte selbst die Schwärze des lichtlosen Nests-und dann war es vorbei. Die Masse der Leiber entließ mich; ich spritzte aus ihr hervor wie ein Korken, den man unter das Wasser gedrückt hatte, und pumpte in kurzen, krampfartigen Zügen die stickige Luft in meine Lungen. Die Rotlichtlampen glühten auf. Und nicht nur sie, sondern auch zwei oder drei einfache Leuchtstoffkörper erwachten flackernd zum Leben. In ihrem Licht erkannte ich, daß die Herde erneut einen Kreis gebildet hatte. Doch die Mitte dieses Kreises war leer. Ich saß mit der Herde, warme Körper drückten gegen den meinen, Rüssel streichelten mich beruhigend. Meine Panik verflog, verdrängt von dem überwältigen den Gefühl dazuzugehören. Ich hatte das Wahzkhira der Unither bestanden. »Freund«, sagte eine hohe Stimme. Das Gemurmel der Herde erstarb. »Freund, Lathir hat dich zu uns geführt mit den Worten, du bräuchtest unsere Hilfe. Sag uns, was dich bewegt.« Ich verdrehte suchend den Kopf. Es war nicht einfach, die Sprecherin in dem Gewirr der Leiber und Extremitäten zu identifizieren. Schließlich fand ich sie, beinahe in der Mitte des Kreises: Eine alte, knorrige Unitherin, abgemagert bis auf die Knochen. Das mußte Khalanka sein, die Herdenälteste. Lathir hatte mir von ihr erzählt. Daß sie eine Frau war, wußte ich ebenfalls nur aus seinem Munde, ich konnte keine Geschlechtsmerkmale an ihr erkennen - genausowenig wie ich sie in der Kammer vor dem Nest an Lathir hatte erkennen können. »Ich suche jemanden, eine Frau«, sagte ich und bemühte mich bewußt darum, nicht in Richtung Khalankas zu sehen. Ich spürte, daß ich mit der ganzen Herde sprach. »Und wieso suchst du sie?« erkundigte sich Khalanka. »Weil ich sie ... liebe.« Erst jetzt wurde mir bewußt, daß die Unither Arkonidisch mit mir sprachen. Aber würden sie mich überhaupt verstehen? Ich wußte nicht, ob ihre Sprache das Konzept Liebe kannte. »Ihr wißt, was Liebe ist?« erkundigte ich mich vorsichtig. »Du glaubst, daß dein Hradith und ihres miteinander verwoben sind«, stellte die alte Unitherin fest. »Ja.« Ich nickte eifrig, froh darüber, nicht verlacht zu werden. »Tamarena und ich, wir gehören zusammen.« »Wenn das so ist, wie kommt es dann, daß du nicht weißt, wo sie ist?« »Das ist eine lange Geschichte.« Ich legte eine Kunstpause ein. Khalanka sagte nichts, lediglich einige Rüsselspitzen stupsten mich auffordernd in die Seite. »Tamarena und ich waren zusammen, auf Traversan. Aber dann kam der Angriff da Merrits, vor 21 Jahren. Zehntausende starben im Feuer seiner Schiffe. Tamarena hatte mehr Glück-zumindest schien es so. Sie wurde nur verletzt. Doch ihre Kopfwunde stürzte sie in ein tiefes Koma. Und als die Tage und Wochen vergingen, wurde immer klarer, daß sie nie wieder daraus erwachen würde. Ich war verzweifelt.« Tränen liefen meine Wangen herab. Nur mühsam unterdrückte ich ein Schluchzen. Ich belog die Herde nicht. Nein, ich konnte ihr vielleicht nicht jede Einzelheit erzählen, aber der Kern meines Berichts entsprach der Wahrheit. »Schließlich faßte ich einen Entschluß. Ich konnte Tamarenas langsames Sterben nicht mehr länger mit ansehen. Ich ging fort.« Ein mitfühlendes Raunen ging durch die Herde. Von überall strichen tröstend Rüssel über meinen Körper. »Dann, vor einigen Wochen, suchte mich eine alte Freundin an dem Ort auf, an den ich mich zurückgezogen hatte. Sie brachte eine Nachricht, die mein Herz beinahe zerspringen ließ: Tamarena war erwacht! Zusammen eilten wir zu Tamarenas Bruder, der sie die vielen Jahre ihres Beinahe-Todes
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gepflegt hatte. Er war ... wütend. Tamarena war verschwunden, aber er wußte nicht, wohin.« Beim Gedanken an den Haß, den mein ehemaliger Kampfgefährte Irakhem auf mich empfunden hatte, fröstelte ich trotz der Warme des Nests. »Und woher weißt du, daß sie hier ist?« »Ich weiß es nicht, es ist nur eine Vermutung«, gab ich zu. »Sie muß verwirrt sein. Wäre sie sonst davongerannt? Und sie braucht medizinische Hilfe, da bin ich mir sicher. Von Travs Stern aus ist der Schemmenstern ein idealer Fluchtpunkt. Täglich fliegen Schiffe mit Auswanderern hierher, es ist nicht schwer, in ihrem Strom unterzutauchen. Und außerdem gibt es in den Städten die besten Ärzte und Kliniken im Umkreis von vielen Hundert Lichtjahren.« »Und das ist alles, was dich vermuten läßt, sie könnte hier sein?« Zum erstenmal glaubte ich so etwas wie Skepsis in der Stimme Khalankas zu hören. Aber vielleicht waren es auch nur meine eigenen Zweifel, die ich in ihre Frage hineininterpretierte. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, da ist noch etwas. Hier, in diesem System, nahm unsere Liebe ihren Anfang. Hier war ein besonderer Ort für uns - und ich hoffe, er ist es immer noch für sie.« Ich schwieg. Ich hatte meine Bitte formuliert, jetzt lag es an der Herde zu entscheiden, ob sie mir helfen wollte. Ein Raunen ging durch das Knäuel der Unither. Bald hatte es sich zu einem ohrenbetäubenden Gezwitscher gesteigert. Die Herde beratschlagte. Ich lehnte mich gegen die warmen Leiber meiner Sitznachbarn und sah mich um. Zum erstenmal bemerkte ich die Kinder der Herde. Sie bildeten ein eigenes, noch engeres Knäuel in dem Kreis der zusammengedrängten Leiber, die kleinsten von ihnen maßen nicht mehr als mein ausgestreckter Arm. Und dann erkannte ich Lathir, keiner der ausgewachsenen Unither hatte einen so kurz geratenen Rüssel wie er. Er saß jetzt neben der Herdenältesten und beteiligte sich mit leidenschaftlichen Gesten an der Diskussion. Seine glatte, samtene Haut bildete einen markanten Kontrast zu der Khalankas, die mich immer mehr an die eines terranischen Krokodils erinnerte. Das ist kein Wunder, Dummkopf! meldete sich mein Extrasinn zurück, dem das Kennenlernritual der Herde offenbar die Sprache verschlagen hatte. Lathir ist selbst fast noch ein Kind. Merkst du das jetzt erst? Ich wollte meinem Gedankenbruder mit einer bissigen Bemerkung antworten, aber im selben Moment verstummte das Gezwitscher der Herde. »Wir werden dir helfen«, verkündete Khalanka. »Es ist das Gebot der Herde, jedem bei der Erfüllung seines Hradith beizustehen, ganz gleich, wie aussichtslos es erscheinen mag.« »Ich danke euch!« rief ich. Ich wollte vor Freude aufspringen, aber einige kräftige Rüssel hielten mich fest. »Aber da ist eine Frage, die du uns noch nicht beantwortet hast«, fuhr die Herdenälteste fort. »Wieso bittest du uns um Hilfe? Wieso hast du dich nicht an dein eigenes Volk gewandt?« Mit einem Schlag versteiften sich meine Muskeln. Die Anspannung, die ich im warmen Kreis der Herde für immer hinter mir gelassen zu haben glaubte, kehrte zurück. Was konnte ich antworten? Daß ich ein Unsterblicher war, den eine Laune des Schicksals in diese Epoche zurückgeschleudert hatte? Daß jede Sekunde, die ich in dieser Zeit verweilte, Milliarden Leben auslöschen konnte? Daß ich bereit war, dieses Risiko nur um des Gespenstes einer möglicherweise längst verflogenen Liebe willen einzugehen? Ich zwang die Gedanken beiseite. »Ich war lange fort. Ich habe keine Freunde mehr in meinem Volk.« Riaals Gesicht stieg aus der Tiefe meines photographischen Gedächtnisses
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auf. »Zumindest keine, die über Einfluß verfügten. Und dem Imperium, den Behörden bin ich verhaßt. Ich darf keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen.« »Das ist eine gute Antwort, eine ehrliche«, sagte Khalanka. »Geh jetzt. Lathir wird dich in dein Quartier bringen.« Die tastenden Rüssel, die Warme lederner Haut, die ich in der vergangenen Stunde gespürt hatte, verschwanden. Unvermittelt fühlte ich mich allein, verlassen. Lathir erhob sich und ging durch den Gang, der sich wieder im Kreis der Leiber gebildet hatte, zum Ausgang. Fast zögernd folgte ich ihm, ließ ich das Nest zurück. Schweigend zogen wir uns in der Kammer wieder an. Lathirs Rüssel lag schon auf dem Öffnungsschalter der Außentür, als er sich noch einmal umdrehte. »Bist du zufrieden, Derkrat?« Ich nickte und sagte nur: »Atlan. Meine Freunde nennen mich Atlan.« Die wütenden Proteste meines Extrasinns begleiteten mich noch den gesamten Weg zu meinem neuen Hotel.
Kapitel 10 Das äußere Schott der kleinen Einmannschleuse schloß sich lautlos hinter Semerion. Der Erste Assistent Tato Rupiaks hangelte sich an den in hellen Signalfarben markierten Griffen einige Meter zur Seite, dann stieß er sich mit beiden Beinen kraftvoll ab. Mit einem geübtem Handgriff ließ er die Steuerdüsen seines leichten Raumanzugs zweimal im Abstand von wenigen Sekunden aufflammen. Den Rücken in Flugrichtung gewandt, genoß Semerion das Schauspiel, das sich vor seinen Augen wie in Zeitlupe entfaltete. Schon nach einigen Augenblicken schrumpften die gelben Haltegriffe zu winzigen Punkten zusammen, um schließlich ganz zu verschwinden, verschluckt von einer konturlosen Fläche aus bläulichem Arkonstahl - der Außenwand von TAI MEREN NOAS, der Großraumstation Eins. Dann, übergangslos, erschienen die Lichter der Stadt. Aus Abertausenden von Bullaugen - ihres Zeichens Relikte eines in die Struktur der gewaltigen Raumstation integrierten Schlachtschiffs der Methans - und Panzertroplonkuppeln strahlte das Zeugnis wimmelnden Lebens ins All. Überall reckten sich die Trichterbauten der reichen Händler den Sternen entgegen. Zwischen den Häusern zogen sich die Röhren der Bahnen; winzige Adern, in den die Ströme der Fracht und der Bewohner der Stadt zirkulierten. Semerion hatte den Anblick kaum verarbeitet, als der Schatten eines metallenen Fingers bereits den Moment ankündigte, den der Erste Assistent bei seinen einsamen Ausflügen in das Vakuum am meisten schätzte: Aus der ewigen Nacht schälte sich ein von zahllosen Scheinwerfern effektvoll erleuchteter, mehrere Hundert Meter messender Sporn - der Balkon des Tatos. Eine Seite des 150 Meter breiten, rechteckigen Ausläufers wurde von einer einzigen Kuppel aus Panzertroplon überzogen. Unter deren Schutz gedieh ein üppiger Park, mit dessen Schönheit sich im gesamten Schemmenstern-System allenfalls die Gärten der von Zalitern bewohnten Orbitalstadt 96 messen konnten. Aus der Kuppel heraus ragte der mächtigste Trichterbau des Schemmenstern-Systems, die Residenz des Tatos. Wieder betätigte Semerion die Steuerdüsen, sein Flug verlangsamte sich. Die Masse der über 5000 Meter durchmessenden Raumstation, die TAI MEREN NOAS darstellte, war groß genug, um eine, wenn auch schwache, Anziehungskraft zu entwickeln. Zufrieden mit seinen bisherigen Bemühungen aktivierte der Erste Assistent die in den Raumanzug integrierte Positronik. Von jetzt an würde sie die Anziehungskraft anderer Himmelskörper wie etwa des Gasriesen Schemmens oder eines seiner über zwei Dutzend Monde 46
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automatisch ausgleichen und dafür sorgen, daß er nicht mit einer der zahlreichen Fähren kollidierte, die TAI MEREN NOAS verließen oder anflogen. Semerion liebte diese Ausflüge in die Einsamkeit des Alls. Nirgends sonst fühlte er sich derart eins mit sich selbst wie hier draußen, wo die einzigen Geräusche das Summen des Lebenserhaltungssystems und das leise Zischen seines gleichmäßigen Atems waren. Nirgends sonst, so schien es ihm, flossen seine Gedanken klarer als hier. Ein längeres Zischen der Steuerdüsen zeigte Semerion an, daß die Positronik ihn in die Umlaufbahn um die Orbitalstadt gelenkt hatte. Er blickte auf. Hinter dem mit Lichtern übersäten Rumpf erschien eine gewaltige Scheibe. Sie war bräunlich, aber überall zogen sich lange, hellere Schlieren über die Oberfläche des Planeten. Es war Schemmen, der Gasriese, um den alle 268 Orbitalen Städte kreisten. Ein gelber Punkt stach aus dem Braun heraus, dem Anschein nach nicht größer als die Daumenspitze eines Arkoniden. Der Erste Assistent wußte aber, daß der Schein trog: Der Punkt, den er sah, war fünfmal so groß wie Arkon I und markierte ein Sturmtief von gewaltigen Proportionen. Es hatte lange vor der Zeit bestanden, als Arkoniden und Methans hier eine der größten Materialschlachten ihres Krieges ausgefochten hatten - und würde es auch noch, sinnierte Semerion düster, lange nachdem die Orbitalen Städte sich wieder in leblose Ansammlungen von Metall verwandelt haben würden. Denn Reomir X. würde losschlagen, das stand fest. Einige Tage nach Semerions letzter Lagebesprechung mit dem Tato war ein Mitglied der heimlich eingeschleusten Eingreiftruppen übergelaufen. Der Mann, ein Tsuarist wie der Assistent selbst, hatte ihnen bestätigt, daß ein Angriff unmittelbar bevorstand. Wann genau und an welchen Punkten hatte ihnen der Soldat allerdings nicht verraten können, diese Informationen würden die Truppen selbst erst unmittelbar vor dem Losschlagen erhalten. Die Frage, auf die sich Semerion nun in der Einsamkeit des Alls eine Antwort erhoffte, schien trügerisch einfach: Was sollte er tun? Es war nicht das erstemal, daß ihm das Imperium auf den Fersen war. Sein Leben als Erwachsener war, im Rückblick, nichts anderes als eine einzige lange Flucht gewesen. Seit dem Moment als er, gerade fünfzehn Jahre alt, durch Zufall die Trivideo-Übertragung der Rede der Bürgerrechtlerin Tsuara gehört hatte, war kein Jahr vergangen, in dem er nicht mit dem in Konflikt geraten wäre, das die Besitzenden des Imperiums Recht und Ordnung nannten. Dabei hatte er es nur gewagt, Fragen zu stellen. Zum Beispiel, wie es möglich war, daß sich auf seiner Heimatwelt, dem Agrarplaneten Akraune, fast der gesamte fruchtbare Boden in der Hand einiger weniger adliger Familien befand, während die restliche Bevölkerung, darunter seine eigenen Eltern und sechs Geschwister, dazu verurteilt war, ihren Lebensunterhalt aus dem nackten Fels zu kratzen. Seine naiven Fragen brachten ihm drei Jahre Zwangsarbeit ein - Jahre, die sich als die wichtigsten seines Lebens erweisen sollten, denn wie sich herausstellte, war er mit seinem Schicksal nicht alleine. Tsuaras Aufruf für mehr Gerechtigkeit war überall im Imperium gehört worden. Millionen hatten es zum erstenmal gewagt, die Ordnung des Tai Ark’Tussan öffentlich in Frage zu stellen. Die Reaktion des Imperiums war prompt: Eine Welle von Massenverhaftungen erstickte die Rebellion im Keim. Doch der Erfolg war nur ein scheinbarer. In den hastig eingerichteten Lagern erwuchs aus einem Heer von Idealisten, die unabhängig voneinander, nur ihrem Gewissen folgend, gehandelt hatten, eine Gemeinschaft entschlossener Revolutionäre. Als Semerion aus dem Lager entlassen wurde, existierte ein Untergrundnetzwerk, das ihn bereitwillig aufnahm, ihn schulte, ihm falsche Papiere und Geld besorgte und auf die Randwelten des Imperiums schickte, um dort Tsuaras Botschaft der Gerechtigkeit zu verbreiten. Zwölf Jahre lang hatte Semerion agitiert, aufgeklärt und aufgedeckt, den Behörden des Imperiums immer die entscheidende Nasenlänge voraus. Doch dann, vor fünf Jahren, war er in das System des Schemmensterns gekommen. Und zum erstenmal in 47
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seinem Leben hatte er das Gefühl gehabt an einem Ort zu sein, der seinem Ideal von Gerechtigkeit nahe kam. Er hatte sich in den Dienst des Tato gestellt und war dank seiner unermüdlichen Energie und Unbestechlichkeit schnell aufgestiegen. Als Erster Assistent des Tatos bekleidete er zwar formell nicht das höchste Amt in der Hierarchie der Orbitalen Städte, aber in der Praxis das einflußreichste. Semerion wandte inzwischen der Scheibe Schemmens den Rücken zu. Unter ihm zeichnete sich im ungefilterten Licht der Sonne des Systems jede winzige Erhebung und Unregelmäßigkeit auf der Außenhaut der Stadt scharf hervor. Auf der sechseckigen, etwa einen Kilometer durchmessenden Oberfläche der zentralen Plattform entluden zwei kugelförmige, arkonidische Frachter und einige Walzen der Mehandor ihre Ladung. Oft genug bestand diese in Menschen oder anderen Intelligenzen, die wie er mit dem Imperium in Konflikt geraten waren. Sollte er all dem hier den Rücken kehren? Als Erster Assistent wäre es ihm ein Leichtes, sich eine Passage aus dem Schemmenstern-System zu verschaffen, ganz gleich, wie überbucht die Flüge sein mochten. Er konnte weiterziehen, untertauchen, einen neuen Namen annehmen, woanders neu anfangen. Das Netzwerk der Tsuaristen würde nach ihm sehen, es hatte ihn Zeit seines Lebens nie im Stich gelassen. Einige Minuten lang schwebte der Erste Assistent des Tatos im Nichts, sog das Panorama von TAI MEREN NOAS, der Monde Schemmens, der vielen leuchtenden Nadelspitzen, die die übrigen Orbitalen Städte markierten, ein. Dann schüttelte er entschlossen den Kopf. Nein. Er würde nicht fliehen. Er war sein ganzes Leben davongerannt, jetzt war es Zeit auszuhalten und für das zu kämpfen, das er mitaufgebaut hatte. Rupiak hatte recht. »Schön hier draußen, nicht?« Nach der langen Stille wirkte das Flüstern, das aus seinem Helmlautsprecher drang, ohrenbetäubend. Semerion zuckte zusammen, drehte den Kopf ruckartig nach links und rechts, nach oben und nach unten. Niemand wußte, daß er hier war. Wer also ...? »Hinter dir, Semerion. Hinter dir.« Er kannte diese Stimme. Aber woher? Der Erste Assistent deaktivierte hastig die Positronik und drehte sich mit einigen kurzen Stößen der Steuerdüsen um 180 Grad. Nur wenige Meter von ihm entfernt schwebten drei Arkoniden in Schutzanzügen, die seinem eigenen glichen, der Standardausführung der Orbitalen Städte. Die vorderste Gestalt hob grüßend die Hand. »Jetzt verstehe ich, wieso du so oft hier herauskommst, Bruder«, ertönte erneut die Frauenstimme. »Es ist wunderschön. Und so ruhig - ein guter Ort, um sich Gedanken zu machen.« Die Frau betätigte die Steuerung ihres Anzugs und schwebte bis auf einen Meter an Semerion heran, ihre Begleiter blieben zurück. Sie schaltete die Innenbeleuchtung ihres Helms an. Die harten Züge, die tiefen Falten ihres Gesichts waren unverkennbar. Es war Trinkal. Semerion stöhnte innerlich auf. Er hätte es wissen müssen. Sie war vor einigen Monaten im Schemmenstern-System aufgetaucht, war unvermittelt in seinem Büro gestanden und hatte sich aufgeführt, als wären seit ihrer letzten Begegnung keine 20 Jahre vergangen, als wären sie noch immer die beiden Halbwüchsigen, die sich zusammengerauft und miteinander das Straflager überstanden hatten. Semerion ignorierte ihre Bemerkung. »Woher weißt du, daß ich hier bin?« »Unsere Bruderschaft ist groß - und aufmerksam.« Die Arkonidin bedachte ihn mit einem Blick aufrichtiger Verwunderung. »Das solltest doch gerade du wissen, sonst hättest du nicht die vielen Jahre überlebt.« »Was willst du von mir?« »Mit dir in Ruhe sprechen, mehr nicht. Du bist ein vielbeschäftigter Mann geworden, Semerion. Es ist nicht einfach, sich ungestört mir dir zu unterhalten.« Trinkal machte keine 48
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Anstalten, ihre Begleiter vorzustellen. Die beiden schwebten regungslos hinter ihr, ohne in das Gespräch einzugreifen. Dem Ersten Assistenten entgingen aber nicht die Luccots, die leichten Strahler, die an ihren Magnetgürteln hingen. Semerion schwieg. Es war Trinkal, die mit ihm sprechen wollte. Sollte sie den Anfang machen. »Weißt du noch, im Lager?« fragte sie. »Im Winter wollte die Nacht gar nicht mehr enden. Es war kalt, so unendlich kalt. Unsere Baracken hatten keine Heizungen. Viele von uns starben. Die Alten. Die Schwachen. Und die Dummen. Die, die glaubten, sie könnten es alleine schaffen.« Ihre Stimme senkte sich zu einem leisen, verschwörerischen Flüstern. »Aber wir waren klüger. Wir hielten uns aneinander fest, klammerten uns aneinander und überlebten.« »Wie viele andere auch.« Semerion zuckte abschätzig mit den Achseln, aber die Geste war nur aufgesetzt. Ihn verband immer noch unendlich viel mit dieser Frau. »Wieso fängst du mit den alten Geschichten an? Bist du nur hier, um Erinnerungen an alte Zeiten aufzuwärmen?« Sie schüttelte den Kopf. »Hast du es noch einmal zur Sprache gebracht?« Semerion nickte. »Und, was hat er geantwortet?« »Dasselbe wie immer. Nein.« Trinkals linke Augenbraue zuckte kurz nach oben, ansonsten zeigte sie keine Regung. »Das ist bedauerlich. Und unverständlich. Rupiak steht doch auf unserer Seite. Er mag unserer Gemeinschaft noch nicht offiziell beigetreten sein, aber im Geiste ist er ein echter Tsuarist. Gerechtigkeit, Gleichheit, Rechte für den Einzelnen - was er in den Orbitalen Städten verwirklicht, sind die Werte, für die Tsuara gekämpft hat.« »Und die Werte, die du gefährdest!« platzte es aus Semerion heraus. »Wieso hörst du mir nicht zu, Trinkal? Rupiak ist ein kluger Mann. Er weiß, daß er gegen die Übermacht des Imperiums nicht bestehen kann. Deshalb schwört er ihm nach außen bei jeder Gelegenheit die Treue. Im Innern aber setzt er seine Reformen um. Er hat die Orbitalen Städte zur Zuflucht der Opposition gemacht. Ich, du und viele andere wären längst tot, hätten wir hier nicht Schutz gefunden.« »Und dafür danke ich ihm«, warf Trinkal ein. Sie öffnete den Mund, um das Gespräch wieder an sich zu reißen, aber der Erste Assistent ließ sich nicht bremsen. »Doch diese Zuflucht kann nur bestehen, wenn sie genau das bleibt, eine Zuflucht, ein Ort, an dem die Opposition neue Kräfte schöpfen kann. Was sie nicht werden darf, ist eine Plattform für Akte gegen das Imperium.« Semerion riß den Arm hoch und zeigte auf die Arkonidin und ihre stummen Begleiter. »Und genau dazu versucht ihr die Orbitalen Städte seit eurem Eintreffen zu machen. Aber dieser Weg führt in die Katastrophe. Euch haben wir es zu verdanken, daß das Imperium jetzt zum Sturm auf die Städte ansetzt!« Die Arkonidin schüttelte energisch den Kopf. »Unsinn, Semerion, der Schlag war seit langem geplant. Glaubst du wirklich, Reomir wäre so dumm, die Spielchen Rupiaks nicht zu durchschauen? Es ist reiner Zufall, daß er mit unserem Aufenthalt zusammenfällt allerdings ein glücklicher.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, flüsterte der Erste Assistent fast unhörbar. »Du weißt, daß sie euch überwältigen werden«, fuhr Trinkal fort. »Semerion, der Tato kann stolz sein auf seine Garde. Die Rupiaki sind hervorragend ausgebildet und ausgestattet, aber sie sind viel zu wenige, um den Elitetruppen des Imperiums standhalten zu können. Ihr braucht Kämpfer, ihr braucht uns.« »Tun wir das?« entgegnete Semerion trotzig. Er wußte, daß sie, was die Rupiaki anging, recht hatte. »Brauchen wir wirklich Kämpfer? Du solltest dich hören, Trinkal. Damals, im Lager, hast du ganz anders geredet. Du wolltest die Welt mit der Kraft des Wortes zu einem besseren Ort machen, so wie Tsuara es getan hatte. Es war ihre Rede, die uns dazu 49
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anstachelte, die Ordnung des Imperiums in Frage zu stellen. Hast du das schon vergessen?« »Nein«, antwortete Trinkal leise. »Und manchmal wünschte ich mir, ich könnte wieder dieses naive Mädchen von damals sein. Aber was hat uns das Reden eingebracht? Ein Leben auf der Flucht, in ewiger Angst und Ungewißheit, mit der einzigen Sicherheit, daß wir eines Tages zu langsam sein werden und der lange Arm des Imperiums uns zerschmettern wird. Und was haben wir bewegt? Reomir setzt sich wie die meisten seiner Vorgänger über das Gesetz hinweg, die Rechte des Einzelnen werden nach wie vor mit Füßen getreten, und deine Brüder und Schwestern auf Akraune schlagen sich nach wie vor als entrechtete Tagelöhner durch!« Semerion sagte nichts. Er wirkte wie erstarrt. »Du hast recht, Tsuara glaubte an die Macht des Wortes, an die Gewaltlosigkeit.« Trinkal sah Semerion direkt in die Augen. »Aber sie war keine Heilige, die sich blind an ihren Glauben klammerte, ganz gleich, was geschah. Es gibt einen Punkt, an dem es Zeit ist, zu überdenken, was man tut, an was man glaubt. Und in den letzten Stunden ihres Lebens erkannte Tsuara, daß der Zeitpunkt gekommen war, um zur Waffe zu greifen.« Die Arkonidin griff nach Semerions Hand. Selbst durch den klobigen, isolierten Handschuh glaubte er ihre Wärme zu spüren. »Ich kenne dich, Semerion. Du bist keiner von diesen Dummköpfen, die stur an längst widerlegten Glaubenssätzen festhalten. Du bist hierhergekommen, um nachzudenken. Hierher, zu den Sternen, von denen wir immer geträumt haben.« Mit dem linken Arm machte sie eine allumfassende Geste. »Ich weiß nicht, wie du dich entschieden hast, Semerion, und ich will auch nicht, daß du es mir sagst. Aber wenn ich in deine Augen blicke, dann sehe ich, wie müde du es bist, von Welt zu Welt zu fliehen. Du willst nicht mehr weiterrennen, Semerion-genausowenig wie ich und so viele unserer Brüder und Schwestern.« Trinkal drückte seine Hand noch fester. »Und ich sehe auch, daß du dich nicht einfach aufgeben, dich wehrlos deinem Schicksal ergeben wirst. Und deshalb bitte ich dich nur um eines: Gestehe uns das zu, was du dir selbst zugestehst. Öffne uns die Arsenale. Wenn wir sterben, dann wenigstens wie Tsuara mit der Waffe in der Hand.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich die Arkonidin ab und verschwand mit ihren beiden Begleitern in der Schwärze des Alls.
Kapitel 11 »Wieso nennt ihr diese Stadt YARUZAS LETZTE HOFFNUNG?« fragte ich. Lathir und ich saßen in einer der vielen Röhrenbahnen, die die Stadt durchschnitten und sich an ihrer Außenhaut entlang schlängelten, und waren auf dem Weg zum Medo-Quartier der mächtigen Raumstation, wo wir hofften, Hinweise auf Tamarenas Verbleib zu finden. »Oh, wegen eines Vorfahren der Herde«, antwortete der Unither und strich mit dem Rüssel über seine Hörstreifen. Er schien mindestens so aufgeregt wie ich. Ein uralter Jagdtrieb mußte ihn ihm erwacht sein. Oder vielleicht war es auch nur die Aussicht darauf, bald seinen Teil unseres Handels eingelöst zu haben und endlich zu den Sternen zu fliegen. »Das dachte ich mir schon. Ich möchte genau wissen, was es mit dem Namen auf sich hat.« Mein Interesse war aufrichtig. Das Wahzkhira, dem ich mich vor zwei Tagen unterzogen hatte, war nicht spurlos an mir vorübergegangen. Meine ursprünglich skeptische, ja ablehnende Haltung hatte sich in eine Mischung aus Hochachtung und 50
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Sympathie gegenüber dem jungen Unither und seinen Artgenossen verwandelt. Und das hartnäckige Gefühl von Einsamkeit, das mich immer dann befiel, wenn ich auch nur für Minuten nicht von anderen Wesen umgeben war, verblaßte nur langsam. »Es geschah vor acht Generationen. Yaruza war damals ein junger Mann. Seine Haut glänzte golden, sein Rüssel war stark und geschmeidig.« Der Tonfall Lathirs hatte sich in einen gleichmäßigen Sprechgesang verwandelt. Er schien weniger zu erzählen als vielmehr zu rezitieren. »Seine Eltern betrachteten ihn mit Stolz. Sie wußten, daß er ein guter Sohn der Herde war und ihr viele Nachkommen bringen würde. Doch eines Morgens erwachte Yaruza und stellte fest, daß sein Rüssel gelähmt war. Sosehr er sich auch mühte, die Muskeln wollten ihm nicht gehorchen. Bestürzt suchte er den Heiler der Herde auf. Dieser, ein alter Mann mit müden, erloschenen Augen, sagte ihm, daß er sterben müsse. Die Lähmung seines Rüssels wäre nur der Anfang. Bald würde sie seinen ganzen Körper erfassen. Und der Heiler schien recht zu behalten: Jeden Morgen fiel es Yaruza schwerer aufzustehen. Sein Körper schien sich ihm zu entwinden. Seine Freunde bedrängten ihn, sich nicht unnötig zu quälen. Sie überboten sich mit ihren Angeboten, ihm dabei zu helfen, ein Ende z u machen. Yaruza lehnte ab. Er wollte nicht aufgeben. Er . spürte, daß es nicht sein Hradith war, an dieser Krankheit zu sterben.« »Einen Augenblick«, unterbrach ich den Unither. »Ich dachte, Hradith wäre euer Wort für Liebe.« »Wie kommst du darauf?« Lathir schien verärgert, daß ich ihn aus seiner Trance gerissen hatte. »Hradith ist ... nun, Hradith.« Mein Gedankenbruder schaltete sich ein: Er findet im Arkonidischen kein passendes Wort dafür. Laß die Sache auf sich beruhen, du bist nicht hier, um Völkerkunde zu betreiben. »Eines Nachts«, verfiel der Unither wieder in seinen Singsang, »schlich sich Yaruza aus dem Nest. Die Krankheit war schon weit fortgeschritten, er mußte einen Teil der Strecke auf allen Vieren kriechen. Doch Yaruza gab nicht auf. Er bestieg eine Fähre, die ihn hierher brachte, zu der Stadt, die die Arkoniden in ihrer Phantasielosigkeit TAI MEREN NOAS nennen. Dort, so hatte er gehört, gab es viele Ärzte.« »Und er wurde für seinen unbeugsamen Willen belohnt und geheilt«, erriet ich das Ende der Geschichte. Fast war ich über ihre Vorhersehbarkeit enttäuscht. »Wieso hat man ihn nicht gleich dorthin gebracht?« Lathir hob beide Stummelarme-eine Geste des Staunens, wie ich inzwischen gelernt hatte. »Das war völlig unmöglich. Damals glaubte die Herde, die Berührung eines Fremden brächte unweigerlich den Tod. Hätte die Herde von Yaruzas Absicht erfahren, hätte sie ihn auf der Stelle erschlagen, um ihm dieses Ende zu ersparen. Aber Yaruza bewies, daß dies ein Aberglaube war. Er hat viele Leben gerettet, nicht nur das eigene.« Das geschah vor acht Generationen, flüsterte mein Gedankenbruder. Denk nur daran, was vorgestern mit dir geschehen ist. Sie sind einen weiten Weg gegangen. Was wird in weiteren acht Generationen aus ihnen geworden sein? Ein schrilles Klingeln zeigte an, daß die Röhrenbahn ihr Ziel erreicht hatte. Lathir und ich standen mit ungefähr einem weiteren Dutzend Passagieren auf und verließen die Kabine. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihre Mienen zu lesen versuchte. Ob sich wohl ein weiterer Yaruza unter ihnen befand, ein Todkranker, der sich mit letzter Kraft an diesen Ort der Hoffnung schleppte? In der Station empfing uns das übliche Spalier schwerbewaffneter Rupiaki. Meine Dagor-Schüler hatten mir die sich überschlagenden Gerüchte über einen bevorstehenden Schlag des Imperiums gegen den allzu liberalen Tato Rupiak berichtet. Ich hatte von Anfang an nicht viel auf sie gegeben und tat es auch jetzt noch nicht. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, Gerüchten jeder Art zu mißtrauen. Ich bezweifelte nicht, daß Rupiak dem Imperator ein Dorn im Auge war, aber ein einfacher Mordanschlag hätte genügt, um dieses 51
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Problem für den Hof aus der Welt zu schaffen - die bis an die Zähne bewaffneten Rupiaki waren also mithin nur ein Indiz dafür, daß der Tato selbst über die Gerüchte im Bilde war und nach außen hin Entschlossenheit zu demonstrieren suchte. Lathir, der sich offenbar bestens auskannte, führte mich zügig aus der Station heraus. Immer wieder bestürmten uns Schlepper: »Erhabener, kommt, ich führe Euch zum besten Chirurgen der Stadt!« - »Erhabener, Ihr seht bedrückt aus. Ich weiß ein Mittel, das Euch helfen wird!« - »Erhabener, folgt mir. Glaubt mir, in einer Stunde wird Eure Manneskraft die Frauen in Entzücken versetzen!« Ich ignorierte sie, so gut es möglich war. Einige der Hartnäckigeren mußte ich allerdings mit Gewalt zur Seite schieben. Schließlich gelangten wir an die Öffnung eines Antigravschachts. Er mußte mindestens sechs Meter durchmessen, aber dennoch war das Gedränge von Arkoniden und anderen Intelligenzwesen so groß, daß wir beinahe eine Minute warten mußten, bis wir eine Lücke fanden, die groß genug für uns beide war. Wir schwebten langsam nach unten. Drei, vier, fünf Minuten vergingen - ich spürte, wie meine Unruhe zunahm. Auch wenn ich mich in den letzten Tagen unter dem Eindruck des Rituals der Herde über Gebühr nach Gesellschaft gesehnt hatte, behagte es mir nicht, in eine Masse von Fremden eingekeilt zu sein. Es erinnerte mich zu sehr an meine persönliche Lage. Seit ich aus dem Tiefschlaf erwacht war, hatte ich mich unentwegt äußeren Zwängen beugen, mich auf Wohl und Wehe anderen anvertrauen müssen. Ich verzehrte mich danach, endlich selbst das Heft in die Hand zu nehmen, die Dinge voranzutreiben anstatt Getriebener zu sein. Dann endete der Antigravschacht übergangslos. Ich erblickte Yaruzas letzte Hoffnung und fragte mich augenblicklich, wieso der todkranke Unither beim Anblick des MedoQuartiers nicht alle Hoffnung hatte fahren lassen und auf dem Absatz kehrtgemacht hatte, um wenigstens unter den seinen zu sterben. Ein Bestandteil von TAI MEREN NOAS bildete ein ehemaliges Schlachtschiff der Imperiumsklasse, das eine Salve der Methans in zwei Hälften gespalten hatte. Die eine Hälfte mußte im konzentrierten Feuer verglüht sein, während die andere wie durch ein Wunder fast unversehrt geblieben war. Die Erbauer von TAI MEREN NOAS hatten sie in ihre Konstruktion inkorporiert, und in den folgenden Jahrhunderten war die Schlachtschiffshälfte komplett von Erweiterungen eingeschlossen worden. Das MedoQuartier hatte sich im Haupthangar des Schlachtschiffs angesiedelt, einer mächtigen, einhundert Meter hohen Halle, die einst bis zu einem Dutzend 60-Meter-Beibooten Platz geboten hatte. Von der einstigen Weitläufigkeit war aber nur noch wenig zu spüren. Was mutmaßlich einmal als eine Ansammlung einstöckiger Provisorien begonnen hatte, war über die Jahre zu einem unübersehbarem Gewirr angewachsen, das an vielen Stellen bereits bis an die Hangardecke hinaufreichte. Beholfen hatte man sich mit dem Baumaterial, an dem im Schemmenstern-System kein Mangel herrschte: Den Überresten der zahllosen Schlachten zwischen Arkoniden und Methans. Überall erblickte ich, der ich Jahrzehnte meines Lebens auf arkonidischen Kriegsschiffen verbracht hatte, Vertrautes. Hier diente der Abstrahlkegel eines Impulstriebwerks als Fundament einer halsbrecherischen, mehrstöckigen Konstruktion, dort hatte man das ausgeglühte Wrack einer Leka-Disk mit einem neuen Anstrich versehen und die Löcher im Rumpf notdürftig mit Glassit-Scheiben gestopft. Am Boden des Hangars angekommen, erhärtete sich mein erster Eindruck. Lathir stupste mich gegen den Ellbogen und zog mich in eine der engeren Seitengassen. Man schien im Medo-Quartier stolz darauf zu sein, nur Trümmerteile und andere Überreste der Schlachten zu verwenden. Einer der offenen Stände - wie es schien, handelte es sich um einen Zahnarzt - war aus den Schaltpulten einer Feuerleitzentrale arrangiert worden, als Behandlungsstuhl diente die Konturliege des Ersten Schützen. Eine anderer Stand leistete sich den Luxus einer durchsichtigen Ladenfront, geformt aus einer Pyramide mehrerer 52
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Dutzend antiquierter Raumhelme. Vieles anderes kam mir bekannt vor, ohne daß ich es hätte benennen können, aber die allgegenwärtigen Schwärzungen und wulstigen Verformungen zeigten an, daß die Materialien höchsten Temperaturen ausgesetzt gewesen waren. Das Gedränge in der Gasse wurde immer dichter. Mehrfach hätte ich den Unither verloren, wäre nicht der feste Griff seines Rüssels um meine Hand gewesen. Die Masse der stoßenden und drängelnden Arkoniden und Fremdwesen schien perfekt an die Umgebung angepaßt, ihre Kleidung war ebenso wie das Viertel selbst zusammengewürfelt und schmutzig. Es war ein Ort, der die Ränder der Gesellschaft anzog: Die Armen, die selbst das geringe Entgelt für den von Rupiak eingeführten Gesundheitsdienst nicht aufbringen konnten, diejenigen, welche die herkömmliche Medizin bereits abgeschrieben hatte, und jetzt auf ein Wunder hofften und jene bemitleidenswerten Kreaturen, die wie vor Generationen der Unither Yaruza nicht auf die Hilfe eines qualifizierten Arztes ihrer eigenen Rasse zurückgreifen konnten. Und natürlich jene, die absolute Diskretion suchen, ergänzte mein Extrasinn. Die unter falschem Namen eingereist sind und nur über begrenzte finanzielle Mittel verfügen. Sollte Tamarena wirklich medizinische Hilfe gebraucht haben, wäre das MedoQuartier für sie die logische Wahl gewesen. Lathir hielt an. »Das hier. Das ist es.« Sein Rüssel löste sich von meiner Hand und deutete auf das Gebäude vor uns. »Das ist die Klinik Gandofios.« Was Lathir eine Klinik nannte, zählte zweifellos zu den imposanteren Gebilden des Quartiers. Um eine massive Achse - offenbar die ausgefahrene Landestütze eines Schweren Kreuzers - gruppierte sich eine lose Ansammlung von Anbauten, die wie Vogelnester an dem Arkonstahl hingen. Verbunden waren sie mit langen, geländerlosen Leitern. Eine unmögliche Konstruktion für einen Ort, an dem Kranke behandelt wurden aber eine, die zu ihrem Besitzer paßte, wie sich schnell herausstellte. Gandofio entpuppte sich als ein fetter Arkonide fortgeschrittenen Alters, den ich beim ersten Hinsehen eher für einen Hofnarren gehalten hätte als für den Rehabilitationsspezialisten, den Lathir mir angekündigt hatte. Er trug einen papageienbunten, verspielten Strampelanzug, auf seinem Kopf saß, keck verrutscht, die Ausgehmütze eines arkonidischen Kapitäns. Aller Wahrscheinlichkeit die desselben Mannes, dessen Kabine für die exquisite Ausstattung des Empfangszimmers Gandofios hergehalten hatte. »Willkommen, Erhabene!« Gandofio winkte uns mit seinen fleischigen Armen herein. »Ich bitte Euch, setzt Euch doch!« Zögernd nahm ich Platz und musterte den fetten Arkoniden. Konnte Tamarena sich wirklich in die Hände eines Gecken wie Gandofio begeben haben? Wenn ja, dann mußte ihre Lage verzweifelt gewesen sein. Ich mußte sie endlich finden, egal wie. »Was wünscht Ihr zu trinken, edle Herren?« »Ich danke Euch für Euer Angebot«, lehnte ich ungeduldig ab. Ich war nicht gewillt, meine Zeit mit Höflichkeitsfloskeln zu verschwenden. »Aber wir sind nicht durstig. Wir wollen nur ...« »... zwei Glas Wasser«, unterbrach mich Lathir. »Wir wollen Eure Gastfreundschaft nicht über Gebühr in Anspruch nehmen.« »Aber nein, nein. Es ist mir eine Freude, Euch zu dienen.« Der fette Arkonide betätigte einen unter seinem Schreibtisch verborgenen Kontakt und ein Diener erschien mit den Getränken. »Ich hoffe, man hat Euch auf dem Weg hierher nicht zu sehr belästigt.« Gandofio lächelte Lathir freundlich zu. Mich schien er nur als unwichtiges Beiwerk zu betrachten, eine ungewohnte Erfahrung für einen reinrassigen Arkoniden wie mich. Mein Unmut stieg.
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Nimm es nicht persönlich. Er wittert ein Geschäft, versuchte mich mein Gedankenbruder zu besänftigen. Er glaubt, daß Lathir hier ist, um sich zu behandeln zu lassen. Und er weiß, daß die Unither mit wertvollen Quarzen bezahlen. »Nein, nicht wirklich«, säuselte Lathir. »Und außerdem sind diese Belästigungen ein geringer Preis für die Ehre eines Besuchs bei Eurer angesehenen Institution.« »Oh, Ihr schmeichelt mir, Erhabener«, antwortete Gandofio im selben Tonfall. Eine Pause setzte ein. Der fette Arkonide lächelte weiter unverwandt Lathir an. Mach schon! drängte ich in Gedanken. Bring es endlich zur Sprache! »Mir scheint bei jedem meiner Besuche, daß das Quartier weiter gewachsen ist«, fuhr Lathir fort, ohne den Zweck unseres Besuches auch nur anzudeuten. »Man könnte meinen ...« »Das genügt.« Mein zorniger, entschlossener Tonfall schnitt wie ein Messer durch Lathirs Floskeln. Der Unither wirbelte erschreckt auf seinem Stuhl herum. Um ein Haar ließ ihn sein eigener Schwung zu Boden gehen. Das Lächeln des fetten Arkoniden gefror. Nein! schrie mein Gedankenbruder. Tu es nicht! Du mußt Geduld haben, sonst machst du alles kaputt! »Wir haben keine Zeit für diese Spielchen«, platzte es aus mir heraus. »Wir sind nicht wegen einer Behandlung hier, Gandofio. Wir suchen jemanden, eine Frau.« Ich wartete auf eine Reaktion. Der fette Arkonide starrte mich nur mit versteinerter Miene an. »Sie ist fünfzig Jahre alt und hat lange im Koma gelegen. Sie ist von Traversan.« Gandofio schwieg immer noch. Ein Funken Vernunft kehrte zurück und machte sich daran, meine Wut zu verdrängen. Aber es war zu spät. Ich mußte den eingeschlagenen Weg weitergehen. »Sie muß in den letzten vier oder fünf Wochen im Schemmenstern-System eingetroffen sein. Man sagt, du bist der beste Rehabilitationsspezialist der Orbitalen Städte. Ich bin sicher, daß sie dich aufgesucht hat.« »Du hast recht, es gibt hier keinen zweiten Spezialisten wie mich.« Brennender Zorn funkelte in den Augen Gandofios. »Und als solcher ist mir Diskretion heilig-ganz besonders, wenn Rüpel wie ihr sich in mein Haus schleichen. Verschwindet.« Der fette Arkonide stand auf. »Halt! Du kannst doch nicht einfach ...« Gandofio verschwand in einer Tür am hinteren Ende des Raumes. Ich sprang auf, um ihm hinterherzulaufen, aber im selben Moment trat der Diener, der uns das Wasser gebracht hatte, aus dem Türrahmen - und hinter ihm zwei über drei Meter hohe Naats, in den Händen schwere Desintegratoren. Unser Gespräch mit dem Rehabilitationsspezialisten war unwiderruflich vorüber. Versteinert folgte ich Lathir in die Gasse. Das Gedränge hatte noch zugenommen, der Strom der Körper drohte mich bald in diese, bald in jene Richtung zu ziehen, aber ich nahm die Berührungen kaum wahr. Ebensowenig wie den jungen Unither, der mir beschwichtigend mit dem Rüssel über die Wangen strich und die Tränen der Erregung aufsog. Er plapperte unentwegt tröstende Sätze. Daß ich mir keine Gedanken machen sollte, daß Gandofio nur einer der Spezialisten im Quartier war, daß wir erst ganz am Anfang stünden. In meinem Kopf war nur Platz für einen Gedanken: Ich hatte es verdorben. In meiner Ungeduld, endlich Tamarena zu finden, hatte ich meine jahrtausendlange Erfahrung in den Wind geschlagen, den klugen Rat meines Gedankenbruders und meines unithischen Freundes verworfen. Gandofio hatte nicht anders reagieren können, mein Bruch der ausgefeilten arkonidischen Etikette war unverzeihlich gewesen. Ich war nahe daran gewesen, endlich wenigstens einen kleinen Schritt weiterzukommen, aber statt dessen hatte 54
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mein blinder Eifer mich zurückgeworfen. Und das nicht nur auf den Anfangspunkt, sondern viel weiter: Ich war sicher, daß sich der Vorfall in der engen Gemeinschaft des Quartiers schnell herumsprechen würde. Lathir und ich würden von nun an auf viele verschlossene Türen treffen. Mitleidig sah ich den jungen Unither an. Lathir würde niemals zu den Sternen reisen, zumindest nicht mit meiner Hilfe. Mein Logiksektor hatte von Anfang an recht gehabt. Ich war ein Narr gewesen, mich überhaupt auf diese hirnverbrannte Jagd einzulassen. Ich sollte zurück nach Traversan fliegen, mich wieder schlafen legen. Und wenn ich in meiner Zeit aufwachte, würde mir das alles hier nur noch wie ein gespenstischer Alptraum erscheinen. Entschlossen verdrehte ich den Kopf auf der Suche nach dem schnellsten Weg aus dem Quartier - und blickte direkt in Tamarenas Gesicht. Sie schien keinen Tag gealtert. Ihr Haar war nicht mehr platinblond und halblang, sondern schwarz und kurz, aber ihre Züge, die hohen Wangenknochen, die großen, ausdrucksvollen Mandelaugen waren unverkennbar. »Tamarena!« Ohne mein Zutun öffneten sich meine Lippen und flüsterten ihren Namen. »Atlan, was ist los?« Lathirs Rüssel zog an meiner Hand. »Was hast du?« »Tamarena!« Diesmal schrie ich ihren Namen. Ihr Kopf ruckte herum. Einen Augenblick lang strich ihr Blick suchend über die drängelnde Menge, dann sah sie mich. Ihre Augen weiteten sich. Einen Herzschlag lang starrten wir einander an, dann wirbelte sie herum und bahnte sich einen Weg durch die Masse der Leiber. »Nein, warte!« schrie ich und rannte ihr hinterher. Lathirs Rüssel wollte mich zurückhalten, aber ich schüttelte ihn ab, als wäre er der schwächliche Arm eines Kindes. Den stechenden Schmerz, der in mein Schultergelenk stach, bemerkte ich kaum. Vielleicht zehn Meter hatten Tamarena und mich getrennt, als ich sie bemerkt hatte. Durch ihre schnelle Reaktion hatte sie ungefähr noch einmal die Hälfte dieses Abstands dazu gewonnen. Aber ich war entschlossen, sie einzuholen. Den Gedanken, daß ich mir ihren Anblick nur eingebildet hatte und einer Fremden nachjagte, schob ich davon, ebenso wie die Frage, warum sie vor mir davonlaufen sollte. Laut rufend und stoßend arbeitete ich mich vor. Anfangs schien es, als ob ich gerade einmal den ursprünglichen Abstand halten könnte, aber dann, nach ungefähr einer Minute, schloß ich immer mehr auf. Nach einigen Augenblicken verstand ich: Tamarena selbst half mir unfreiwillig durch die Gasse, die sie sich durch die Menge bahnte. Immer näher rückte ich an den hüpfenden Kopf vor mir heran. Die Anstrengung ließ mich keuchen, Schweiß perlte auf meiner Stirn. Mehrmals mußte ich Passanten, die nicht gewillt waren, sich zweimal innerhalb weniger Sekunden umherstoßen zu lassen, mit gezielten Dagor-Hieben niederstrecken. Dann trennten uns nur noch wenige Meter. Wären wir auf offenem Feld gewesen, hätte mir ein kraftvoller Sprung genügt, um endgültig zu ihr aufzuschließen. Sie bog um eine Ecke auf die zentrale Achse des Quartiers. Nur noch Sekunden trennten mich von der Erlösung von meiner quälenden Suche. Ich raste ebenfalls um die Ecke. Zwei Männer in den olivgrünen Uniformen der Rupiaki versperrten mir den Weg. Mit voller Wucht rannte ich in den Prallschirm des Rechten der beiden, wurde zurückgeschleudert und ging zu Boden. Halbbetäubt versuchte ich aufzustehen, mich an den Rupiaki vorbeizuquetschen, aber der eine der Männer zog nur schweigend seinen Paralysator und drückte ab. Das letzte, was ich zu sehen glaubte, war Tamarenas kurzgeschorener Hinterkopf, der sich durch die Menge entfernte. Dann war nur noch Nacht.
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Kapitel 12 Das Visiphon summte. Tato Rupiak wandte sich nur widerwillig von dem HoloMosaik der Orbitalen Städte ab, in dessen Welten versunken er die letzte Stunde verbracht hatte. Er hatte angeordnet, an diesem Abend, der vielleicht sein letzter war, nicht gestört zu werden. Trotzdem summte das Visiphon. Es gab nur einen Mann im System, dem er einen Vorrangkode eingeräumt hatte, und dessen Anrufe hatten in den letzten Wochen nur eines bedeutet: neue schlechte Nachrichten. Rupiak aktivierte das Gerät. »Was gibt es, Semerion?« Der Tato musterte das handflächengroße Porträt des Mannes auf dem Display vor ihm. Der Erste Assistent wirkte müde und angespannt zugleich, aber Rupiak verzichtete auf eine Bemerkung. Er war sicher, daß er selbst nicht besser aussah. »Wir haben ihn«, verkündete der Erste Assistent knapp. »Lamur Derkrat?« »Eben den.« Semerions Tonfall verbarg nicht, für wie überflüssig er diese Aktion in einem Augenblick hielt, in dem das Schicksal der Orbitalen Städte am seidenen Faden hing. »Wir wissen jetzt, wen er gesucht hat. Ich habe ihn sofort festnehmen lassen. Er ist in einem Transport zu Ihnen und dürfte spätestens in einer Tonta eintreffen.« Rupiak konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, aufzuspringen und loszujubeln. Sie hatten ihn! Den Mann, dem er seine Erweckung zu verdanken hatte. Den geheimnisvollen Fremden, dessen Erscheinen im Schemmenstern-System schon einmal umwälzende Ereignisse angekündigt hatte. »Tato? Ist alles in Ordnung«, erkundigte sich der Erste Assistent. »Wieso sagen Sie nichts?« Rupiak starrte einige Sekunden lang in die sorgenvolle Miene seines wichtigsten Helfers, dann kam er zu einem Entschluß. »Semerion, wo sind Sie gerade?« »Auf Deck 14, in der Nähe des Palastgartens. Wieso?« Der Tato ignorierte die Frage. »Kommen Sie so schnell wie möglich in mein Büro. Und sagen Sie den Wachen, sie sollen den Gefangenen zu uns bringen, sobald er eintrifft.« Wenige Minuten später traf der rundliche Mann mit gerötetem Gesicht ein. Semerion wußte, wenn er sich zu beeilen hatte. In der Hand hielt er ein Holo-Foto. »Das hier haben die Rupiaki bei seiner Festnahme gemacht.« Er gab es dem Tato. Der besah es sich kurz, nickte zufrieden und steckte in eine der vielen Schubladen seines Schreibtisches. »Tato, was soll das bedeuten?« drängte der Erste Assistent. »Wieso haben Sie mich hergerufen?« »Semerion, glauben Sie an Wunder?« Rupiak war entschlossen, die Initiative zu behalten. Es würde schwer genug sein, den Ersten Assistenten zu überzeugen. »Was ... was meinen Sie damit?« »Sehen Sie mich nicht so an, Mann! Ich bin nicht durchgedreht.« Mit einer knappen Geste bedeutete er seinem Assistenten sich zu setzen. Er selbst sprang auf und lief nervös auf und ab. »Was ich meine, ist das: Ist Ihnen schon einmal etwas widerfahren, was völlig unwahrscheinlich war, was nach jeder Logik niemals hätte geschehen dürfen, etwas, von dem sie nie auch nur im Traum gedacht hätten, es könnte Ihnen widerfahren?« Semerion dachte an die vielen Male, die er dem Geheimdienst des Imperiums im letzten Moment entkommen war, obwohl er sich selbst bereits aufgegeben hatte, und nickte. »Das dachte ich mir«, sagte Rupiak sichtlich zufrieden. »Sehen Sie, mir auch. Ich war einmal ein anderer Mann als der, der ich heute bin. Das ist ein offenes Geheimnis. Aber wissen Sie auch, wie es zu meiner Wandlung kam?« 56
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»Nun«, Semerion dachte einen Augenblick nach. Die Geschichten über die wundersame Verwandlung des Tatos in einen weisen Herrscher waren nicht mehr zu zählen. Aber die meisten von ihnen waren sich wenigstens in einem Punkt einig. »Es waren die Raumnomaden, richtig?« Rupiak stoppte sein ruheloses Auf und Ab. »Richtig. Sie und ein Dagor-Hochmeister schenkten mir eine Vision. Er zeigte mir, was wirklich im Leben zählt. Und dafür werde ich ihm ewig dankbar sein - egal, was uns das Schicksal bescheren wird.« Der Tato nahm sein Umherstreunen wieder auf. »Aber an meiner Wandlung war noch eine weitere Person beteiligt. Derselbe Mann, der jetzt als Lamur Derkrat wieder aufgetaucht ist. Er stand damals in Verbindung mit den Raumnomaden. Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er sie und den Gijahthrako dazu brachte, mir die Vision zu schicken. Ich spüre es.« »Das mag sein«, entgegnete Semerion diplomatisch. »Aber was nützt uns das in unserer Lage? Morgen schon ...« »Sehen Sie nicht, was das bedeutet? Dieser Mann ist in Kontakt mit unbekannten Mächten. Vor 21 Jahren ist er schon einmal in dieses System gekommen, genau in dem Moment, als mein Leben vor einer entscheidenden Wendung stand, jetzt steht mein, nein, unser Schicksal wieder auf des Messers Schneide - und er erscheint von neuem. Das kann kein Zufall sein.« »Wieso erzählen Sie mir das?« In der Stimme des Assistenten lag unverhohlene Skepsis. Was ging hier vor? »Weil Sie mein Vertrauen verdienen, Semerion.« Der Tato trat bis auf einen Schritt an seinen Assistenten heran und sah ihm direkt in die Augen. »Ohne Sie wären die Orbitalen Städte nicht die Zuflucht für die Verfolgten des Imperiums. Sie sollen wissen, was in mir vorgeht. Und außerdem will ich, daß Sie verstehen, was ich gleich tun werde.« Rupiak stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und betätigte das Visiphon. »Ist der Gefangene schon eingetroffen? Gut, dann bringen Sie ihn herein.« Einige Augenblicke später glitt die Tür des Büros zur Seite. Zwei uniformierte Rupiaki traten ein, in ihrer Mitte den Gefangenen. Die beiden Gardisten salutierten, machten auf dem Absatz kehrt und verließen den Raum. Rupiak musterte den Gefangenen, der schweigend in der Mitte seines Büros stand. Der Mann schien frisch und ausgeruht, eigentlich ein Unding für jemanden, den man durch eine Injektion vorzeitig aus der Paralyse geholt hatte. Er war hochgewachsen und schlank, der Tato schätzte ihn auf ungefähr 190 Zentimeter. Seine Kleidung bestand aus einem weißen Hemd, einer dunklen Hose und einfachen, dünnsohligen Schuhen - mehr war in den Orbitalen Städten mit ihren konstanten Temperaturen nicht nötig. Das lange weiße Haar hatte er zu einem Zopf gebunden, der ihm bis zwischen die Schulterblätter fiel. In seinem kantigen Gesicht leuchtete ein Paar neugieriger Augen. Rupiak erkannte auf der Stelle den Mann wieder, der ihm zum erstenmal vor 21 Jahren als Altao Ta-Camlo begegnet war. Seine aufrechte Haltung, das unerschütterliche Selbstbewußtsein, das er ausstrahlte, ließen daran keinen Zweifel. Doch irgend etwas störte Rupiak an seinem Anblick. War es vielleicht die Kleidung, die ihn irritierte? Damals war Ta-Camlo ihm als Hochedler gegenübergetreten, gekleidet in die prachtvollsten Gewänder, die Geld kaufen konnte, jetzt trug er billige Synth-Kleidungsstücke, wie sie überall in den Orbitalen Städte für eine Handvoll Chronners angeboten wurden. Oder war es die Art, wie er sein Haar trug? Er ist keinen Tag gealtert! Die Erkenntnis traf den Tato mit einer Wucht, die ihn taumeln ließ. Noch einmal strich sein Blick prüfend über sein Gegenüber, wanderte den muskulösen Körper auf und ab, auf der Suche nach dem geringsten Anzeichen von Erschlaffung, einem Bauchansatz, irgend einem Zeichen der Alterung, ohne Erfolg. Heftete sich an seinem Gesicht fest, schließlich an den Augenwinkeln, dem Ort, an dem 57
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die Jahre unerbittlich ihre Spuren in der Form winziger Fältchen hinterließen, aber vergeblich. Rupiak holte tief Luft. Seine letzten Zweifel waren verflogen. Der Mann, der vor ihm stand, war kein gewöhnlicher Sterblicher. »Wie schön, Sie wiederzusehen, Altao Ta-Camlo.« Der hochgewachsene Arkonide zeigte keine Regung. Hinter Rupiaks Rücken ertönte ein überraschtes Keuchen, das in einen Hustenanfall überging. Der Tato drehte den Kopf und warf Semerion einen fragenden Blick zu. Was hatte sein Erster Assistent? Rupiaks Kopf flog wieder herum, als der langhaarige Arkonide sich räusperte. »Das muß ein Irrtum sein, Tato. Mein Name ist Lamur Derkrat.« Rupiak winkte ab. »Das glaube ich nicht. Genausowenig wie ich glaube, daß Sie Altao Ta-Camlo heißen. Aber das ist egal. Was für mich zählt, ist, weshalb Sie hier sind.« »Ich bin in einer privaten Angelegenheit ins Schemmenstern-System gekommen. Nichts, was Sie beunruhigen müßte.« Dem Tato entging nicht, daß sein Gegenüber auf einen Protest gegen seine Behauptung verzichtet hatte. Sein Gefühl trog ihn also nicht. »Das ist gut möglich, Ta-Camlo - ich bleibe der Einfachheit halber bei dem Namen -, aber ich fürchte, daß dies kein guter Zeitpunkt ist, um Privatangelegenheiten zu regeln.« »Und wieso nicht?« »Weil die Orbitalen Städte, die Monde Schemmens, ja das ganze System sich in wenigen Stunden in ein Schlachtfeld verwandeln werden.« Ta-Camlo schien nicht überrascht. »Dann sind die Gerüchte also wahr. Reomir X. greift ein.« Rupiak nickte. »Daran besteht kein Zweifel mehr - leider. Seit Monaten haben mein Erster Assistent«, er deutete auf Semerion, dessen Gesichtsfarbe die Hustenattacke von Knallrot in Aschfahl verwandelt hatte, »und ich die Lage genau beobachtet. Zuerst waren es tatsächlich nur Gerüchte. Ich war nicht beunruhigt, ich habe lange aufgegeben zu zählen, wie oft man in den Städten munkelte, Reomir würde seinen aufsässigen Gouverneur stürzen. Aber nach und nach häuften sich die Indizien, bis sie sich zur Gewißheit verdichteten: Der Imperator hat über den gewöhnlichen Passagierverkehr Truppen einsickern lassen. Wir schätzen, daß beinahe 300.000 Männer und Frauen auf den Befehl zum Losschlagen warten.« »Und der wird wann erfolgen?« fragte Ta-Camlo mit verschränkten Armen. Rupiak zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Einige Überläufer, Tsuaristen, haben uns bestätigt, daß die Vorbereitungen für den Angriff abgeschlossen sind. Es kann buchstäblich jeden Augenblick losgehen.« Ta-Camlo kratzte sich nachdenklich über das von ersten Bartstoppeln übersäte Kinn. »Was werden Sie tun, Tato?« »Kämpfen natürlich. Was sonst? Glauben Sie, ich werde das, was ich in den letzten 20 Jahren erreicht habe, einfach im Stich lassen?« Der langhaarige Arkonide schwieg einige Sekunden, dann sagte er: »Und wieso erzählen Sie mir das alles? Mir, einem Fremden, über den Sie nichts wissen.« Rupiak sog tief den Atem ein. Die Luft in seinem Büro schien ihm plötzlich stickig und verbraucht. »Weil ich eine Bitte an Sie habe: Kämpfen Sie mit uns, Altao Ta-Camlo!« »Ich soll was ...?« »Hören Sie mir zu, Ta-Camlo«, sagte Rupiak hastig. »Ich weiß, die Übermacht des Imperiums scheint erdrückend, aber ich glaube, daß wir eine Chance haben. Reomir weiß um den Wert des Schemmenstern-Systems, das zeigt uns sein bisheriges Vorgehen. Waren wir nur ein wirtschaftlich unbedeutender Kolonialplanet, wären wir längst im Geschützfeuer einer Strafexpedition verglüht. Aber statt dessen läßt er seine Truppen einsickern, um die Orbitalen Städte von innen heraus mit möglichst geringen Schäden zu
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erobern. Er weiß, daß ein Attentat auf mich schon längst nicht mehr genügen würde. Es gibt bereits zu viele Männer und Frauen, die mein Werk fortsetzen würden.« Berauscht von seinen eigenen Worten ließ Rupiak die Faust auf die Platte seines Schreibtischs krachen. »Und genau das ist unsere Chance! Wir werden nicht einfach wie ein Haufen verschreckter Chrekrar-Würmer darauf warten, bis der Imperator die Initiative ergreift. Nein, wir werden zuerst losschlagen, die Überraschung wird auf unserer Seite sein. In wenigen Stunden werden die Rupiaki aller 268 Städte gleichzeitig zum Angriff übergehen. Wir werden die Truppen des Imperiums überrumpeln - mit etwas Glück werden große Teile von ihnen keine Gelegenheit bekommen, rechtzeitig zu ihren Waffenlagern vorzustoßen.« »Und dann?« Ta-Camlo schüttelte ungläubig den Kopf. »Haben Sie sich nicht überlegt, was dann passieren wird? Reomir wird den Tod von 300.000 seiner besten Raumsoldaten nicht auf sich sitzen lassen. Er wird der Flotte den Befehl geben, die Orbitalen Städte zu vernichten.« »Das wird er nicht«, hielt Rupiak dagegen. »Wir werden seine Soldaten nämlich nicht töten, sondern wo immer möglich gefangen nehmen. Mit einigen zehntausend Geiseln in der Hand sollte es möglich sein, selbst mit einem vor Wut schäumenden Imperator in Verhandlungen zu treten. Und wer weiß? Vielleicht gelingt es uns sogar, einen Autonomiestatus herauszuhandeln.« »Sie reden von Zehn- und Hunderttausenden und bitten mich, einen einzelnen, auf Ihrer Seite zu kämpfen?« sagte Ta-Camlo. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, ich könnte irgend etwas Entscheidendes ausrichten. Sie überschätzen mich, Tato.« »Das werden wir sehen«, sagte Rupiak nun. Er wußte, daß sie nur ein Wunder retten konnte. Aber Ta-Camlo hatte schon einmal eines vollbracht. Vielleicht würde er ein zweites vollbringen, wenn sein Leben in Gefahr war ... »Und was ist, wenn ich Ihre Bitte ablehne?« In den Augen des langhaarigen Arkoniden glitzerte nicht die geringste Spur von Angst. »Nichts. Sie haben sich in den Orbitalen Städten nichts zuschulden gekommen lassen, und über ihre - zugegebenermaßen sehr geschickt - gefälschten Papiere werde ich hinwegsehen.« Rupiak legte eine Kunstpause ein. »Aber im Falle einer Niederlage wird mein vom Imperator persönlich eingesetzter Nachfolger sich weniger kulant zeigen - das Schemmenstern-System wimmelt geradezu von allen Arten von Abweichlern, seien es Anarchisten, Tsuaristen oder religiöse Freidenker. Die ersten Monate wird ihn die Säuberung der Orbitalen Städte vollauf beschäftigen. Ob Sie eine Chance haben, diese zu überstehen, müssen Sie selbst entscheiden.« Ta-Camlo schwieg. Er wirkte versteinert. Aber Rupiak entging nicht das kaum wahrnehmbare, unregelmäßige Zucken seines rechten Augenlids. Der Arkonide rang mit sich selbst. Der Tato machte keinen Versuch, ihn weiter zu beeinflussen. Schließlich, nach einer langen Minute, die Rupiak wie eine kleine Ewigkeit vorkam, nickte er langsam. »Gut, Sie haben mich überzeugt. Ich werde mit Ihnen kämpfen.« »Ich hatte gehofft, daß Sie meine Argumente überzeugen würden«, sagte Rupiak aufrichtig. Dann wandte er sich an seinen Assistenten: »Semerion, sehen Sie zu, daß unser Freund ein Quartier für die Nacht und einen passenden Kampfanzug bekommt.« Semerion erhob sich von seinem Stuhl, von dem aus er während der letzten Minuten schweigend das Gespräch zwischen den beiden Arkoniden verfolgt hatte, und ging zur Tür. Atlan nickte dem Tato kurz zu und wandte sich zum Gehen. »Oh, übrigens, Ta-Camlo«, hielt ihn Rupiaks Stimme auf. »Beinahe hätte ich noch etwas vergessen.« Der Tato ging zu seinem Schreibtisch, öffnete eine der vielen Schubladen und zog eine Holo-Folie hervor.
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Er reichte sie Atlan. Es war ein Foto, das seine Agenten im Medo-Quartier aufgenommen hatten. Es zeigte eine Frau, mit kurzen, schwarzen Haaren und großen, ausdrucksvollen Mandelaugen. »Was ... was ... woher haben Sie das?« Ta-Camlos Hand zitterte so stark, daß ihm das Bild um ein Haar entglitten wäre. Seine Stimme bebte. Rupiak ging nicht auf die Frage ein. »Sie sehen, ich weiß, worum es sich bei Ihrer Privatangelegenheit handelt. Ich zeige Ihnen das Bild erst jetzt, weil ich wollte, daß Sie aus freien Stücken für unsere Sache kämpfen.« Er blickte seinem Gegenüber fest in die vor Erregung tränenden Augen. »Aber ich verspreche Ihnen eines, Altao Ta-Camlo. Wenn wir gewinnen, werde ich Ihnen helfen, diese Frau zu finden - und Sie wissen ja jetzt, daß nichts in den Orbitalen Städten geschieht, ohne daß ich davon erfahre.«
Kapitel 13 »Lathir?« Der junge Unither nahm die fragende Stimme über sein eigenes Schluchzen nur undeutlich wahr. Einen kurzen Augenblick überlegte er, ob er die Tür der kleinen Kammer öffnen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Niemand wußte von seinem Versteck, er mußte sich die Stimme nur eingebildet haben. »Lathir? Mach auf, bitte!« Diesmal war die Stimme nicht zu überhören. Lathir starrte aus tränengeröteten Augen auf die Tür seines kleinen Nests, einer winzigen Kammer, die einst als Abstellraum für Reinigungsroboter gedient hatte. Doch das war vor Jahrhunderten gewesen, als der Gang samt Kammer noch Teil eines arkonidischen Schlachtschiffs gewesen war und nicht ein nur winziger Sektor in dem Konglomerat von Raumschiffstrümmern, das sich TAI MEREN NOAS nannte. Wer konnte das sein? Ein weiterer Weinkrampf ließ seinen Körper erbeben. Trauer und Wut drohten ihn erneut zu übermannen, aber dann siegte die Neugierde. Mit der Hand seines rechten Arms betätigte er den Türöffner. Er hatte ihn selbst aus einigen Drähten und Plastikstücken gebastelt, die Reinigungsroboter hatten die Tür über ein Funksignal geöffnet. Grelles Licht fiel in die Kammer. Lathir konnte nur den dunklen Umriß seines unvermuteten Besuchers sehen, aber das genügte: Es war die Herdenälteste. »Khalanka!?« Die Stimme des jungen Unithers war rauh und brüchig. »Was machst du hier?« »Du bist nicht in das Nest zurückgekommen«, antwortete die Unitherin. »Also dachte ich mir, daß etwas schiefgelaufen sein muß. Ich wollte nach dir sehen.« »Aber woher wußtest du, wo ich bin?« fragte Lathir verwundert. »Glaubst du, nur weil ich alt bin, bin ich dumm?« entgegnete Khalanka, aber in ihrem Tonfall lag keine Schärfe, eher Belustigung. »Du bist anders als die anderen. Und damit meine ich nicht nur deinen Rüssel. Denk an die vielen Stunden, die du aus dem Nest verschwunden warst. Ich weiß, daß du einen Teil der Zeit in verschiedenen Städten verbracht hast, um Fremde, die von den Sternen kamen, zu löchern. Aber wir alle brauchen eine Heimat. Und ich war mir sicher, daß du dir deine geschaffen hast.« Khalanka deutete mit ihrem dürren Rüssel in die im Halbdunkel liegende Kammer. »Darf ich hereinkommen?« »Ja ... ja doch.« Lathir rutschte zögernd gegen die Wand zurück. Er hatte immer geglaubt, daß er es niemals irgend jemanden gestatten würde, sein Nest zu betreten. Aber 60
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jetzt, wo der Moment gekommen war, fühlte es sich irgendwie richtig an, als ende damit ein Abschnitt seines Lebens, damit er einen neuen beginnen konnte. Die Herdenälteste trat durch den Türrahmen und zog sich ächzend die leichten Stoffschuhe von den Füßen, welche die Angehörigen der Herde trugen, wenn sie das Nest verließen. Hinter ihr schloß sich die Tür. Einige Sekunden herrschte völlige Dunkelheit, dann hatte der nervöse Lathir den ebenfalls selbstgebastelten - Lichtschalter gefunden. Sanftes, indirektes Licht erfüllte die Kammer. Die Herdenälteste ließ sich dankbar auf die Matratze sinken, die fast den gesamten Boden des Nests bedeckte, und betrachtete Lathirs Reich. Vom blauen Schimmern des Arkonstahls waren nur einige winzige Flecken zu sehen. Die Wände des Nests waren über und über mit Holo-Folien bedeckt, an manchen Stellen sogar in mehreren Schichten. Planetenlandschaften drängten sich neben Panoramen der großen Metropolen des Imperiums und den 3D-Ansichten verschiedenster Raumschiffstypen. An die Decke des Nests hatte Lathir Sternenkarten geklebt. »Sie leuchten, wenn es dunkler ist«, sagte der junge Unither stolz, als die Herdenälteste sich mit dem ganzen Oberkörper nach hinten lehnte, um die Decke zu betrachten. »Du mußt nur etwas warten, bis die Augen sich eingewöhnt haben.« Lathir knipste das Licht aus und bald darauf strahlten die Sterne täuschend echt auf die alte Frau und den Jungen herab. Khalanka gab sich dem Zauber einige Augenblicke lang hin, dann räusperte sie sich. »Lathir, was ist passiert? Habt ihr die Frau, die dein arkonidischer Freund sucht, nicht gefunden?« Der junge Unither knipste das Licht an. Der kurze Moment der Zeitlosigkeit war vorüber. Nur mit Mühe unterdrückte er einen neuen Weinkrampf. »Doch, das haben wir. Ich bin ihr sogar bis in ihr Hotel gefolgt.« »Aber das ist doch großartig!« rief Khalanka verblüfft. »Wieso bist du dann so niedergeschlagen? Hat dich dein Freund im Stich gelassen?« »Nein.« Lathir winkte mit beiden Armen ab. »Die Rupiaki, sie haben ihn mitgenommen.« Khalanka sagte nichts. Statt dessen rückte sie näher an Lathir heran, nahm ihn in ihre Arme und streichelte ihn tröstend mit ihrem Rüssel. Als der Junge sich schließlich ausgeweint hatte, fragte sie: »Was willst du jetzt tun?« Lathir warf beide Arme in die Höhe, das unithische Äquivalent eines Achselzuckens. »Was kann ich schon tun? Die Rupiaki haben Atlan bestimmt zum Tato gebracht. Ich weiß nicht, wieso, aber es war seine größte Angst, daß er dem Tato begegnen könnte. Atlan kennt ihn und glaubt, daß es furchtbare Folgen haben könnte, wenn er ihn trifft.« Ein neuer Schub von Tränen lief Lathirs Wangen herunter. »Es ist vorbei. Ich werde niemals die Sterne sehen.« Khalanka tätschelte schweigend den jungen Unither und sah sich erneut in seinem Nest um. In einer Ecke der Kammer hatte Lathir eine rechteckige Plastikkiste aufrecht gegen die Wand gelehnt, um sie als eine Art Schrank für die kleinen Geschenke zu nutzen, die er sich von Reisenden erbettelt hatte. Auf der Kiste, fast ganz von einem schützenden Tuch bedeckt, lag Lathirs Buch der Herde. Die Herdenälteste deutete auf das Buch und fragte: »Darf ich?« Lathir brummte zustimmend. Khalanka zog das Tuch beiseite und nahm das Buch vorsichtig von der Kiste. »Ich habe es lange nicht mehr gesehen«, sagte sie. Sie hatte Lathir das Lesen und Schreiben beigebracht. Anschließend hatte er fast ein ganzes Jahr damit verbracht, nach ihren Erzählungen sein eigenes Buch der Herde zu schreiben. Khalanka blätterte mit ihren daumenlosen Händen durch die ledernen Seiten. »Du hast dir noch viel Mühe gemacht«, flüsterte sie und zeigte auf die bunten Überschriften und die
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vielen Zeichnungen, mit denen Lathir die Geschichten verziert hatte. »Es ist wunderschön.« Die ehrliche Bewunderung der Herdenältesten ließ Lathir etwas ruhiger werden. »Ich habe es nur gemacht, wie du es gesagt hast«, flüsterte er. »Ich wollte, daß es schön ist. Die gesamte Weisheit unserer Herde ist darin zu finden.« Khalanka klappte den ledernen Band zu und legte ihn zurück an seinen Platz. »Ich glaube, du irrst dich. Das Buch der Herde ist voller Weisheit, aber es ist ein Trugschluß zu glauben, nur das, was in dem Buch steht, wäre weise.« »Was meinst du damit?« erkundigte sich Lathir verwirrt. »Kennst du die Geschichte von Triman, der auszog, um die Schneeberge zu überqueren?« »Nein.« »Das dachte ich mir. Sie ist nicht im Buch der Herde, und noch heute wünschten sich viele, sie würde endlich ganz vergessen.« Khalanka rückte etwas zurück und lehnte sich gegen die Wand, achtete aber sorgfältig darauf, daß sie keines von Lathirs Bildern beschädigte. »Es war vor langer Zeit. Manche sagen, vor 38 Generationen, andere vor 41. Sicher ist aber, daß die Geschichte sich nach dem Absturz des Sklavenschiffs, das uns von unserer Heimat verschleppt hatte, zutrug. Viele Mitglieder der Herde hatten die Katastrophe überlebt. Sie sprengten ihre Ketten, töteten die verbliebenen Sklavenjäger und machten sich daran, sich ein neues Leben aufzubauen. Nach der hoffnungslosen Hölle des Sklavenschiffs erschien ihnen die Welt, auf der sie gestrandet waren, wie ein Paradies. Sie nannten sie NeuUnith und machten sie zu ihrer Heimat. Der Boden war fruchtbar, das Klima mild und schon nach zwei Generationen hatte sich die Zahl der Herde beinahe verdreifacht.« »Die Herde wurde satt und zufrieden und lebte sorglos in den Tag hinein. Es war eine kleine Welt, in der sie lebte. Der Fluß, dem sie das lebensspendende Wasser verdankte, mündete nach wenigen Kilometern in eine stürmische, unbezwingbare See. Den Weg ins Landesinnere versperrten ein mächtiger, rauchender Vulkan und eine mächtige Gebirgskette, deren Gipfel von strahlendem Weiß gekrönt waren. Die Herde nannte sie die Schneeberge.« Lathir hatte sich auf der Matratze zusammengerollt und sah die Herdenälteste aus großen, erwartungsvollen Augen an. Die Erinnerung an seine Kindheit und die vielen Stunden, die er Khalankas Geschichten gelauscht hatte, war übermächtig. »Doch eines Tages rüttelte ein junger Mann die Herde aus ihrer Selbstzufriedenheit. Er hieß Triman und war Zeit seines Lebens ein Außenseiter gewesen, viele nannten ihn sogar einen Unruhestifter. Triman verkündete, er wolle die Schneeberge überqueren. Die Herde war entsetzt; jedermann konnte sehen, daß ein solches Unternehmen einem Selbstmord gleichkommen mußte, ein Blick auf die von ewigem Eis bedeckten Berge genügte. Die Fassungslosigkeit der Herde steigerte sich noch, als man Triman fragte, warum er sein Leben aufs Spiel setzen wolle. Er antwortete nur, er wolle sehen, was hinter den Schneebergen liegt.« Lathir räkelte sich wohlig auf der Matratze. Über den Abgrund der Generationen hinweg fühlte er sich mit Triman verbunden. »Triman ließ sich selbst vom Flehen seiner Eltern nicht erweichen und brach schließlich schwer bepackt zu seiner Expedition auf. Er war alleine. Er hatte niemanden darum gebeten, ihn zu begleiten, und keiner seiner wenigen Freunde hatte es ihm angeboten. Viele Tage lang verfolgte die Herde mit Hilfe des einzigen Teleskops, das den Absturz des Sklavenschiffs unbeschadet überstanden hatte, bangend sein langsames Fortkommen. Doch dann, als Triman nur mehr ein kleiner schwarzer Punkt im blendenden Weiß der Schneeberge war, zog ein Sturm herauf und verschluckte ihn.« 62
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Erschrocken über die Wendung der Ereignisse stupste Lathir die Herdenälteste mit dem Rüssel an. »Aber ... aber er hat es doch geschafft, oder?« »Viele Tage vergingen«, fuhr Khalanka fort. »Der Sturm flaute ab. Verzweifelt versuchte die Herde, Triman mit dem Teleskop in den Flanken der Schneeberge wiederzufinden, aber vergeblich.« Sie schwieg einige Sekunden lang. »Dann, inzwischen waren drei Wochen vergangen, stolperte ein gebeugtes, in Lumpen gekleidetes Wesen in das Nest der Herde. Es war Triman. Die Berge hatten ihn wieder freigegeben, aber sie hatten einen furchtbaren Preis dafür verlangt: Seine Extremitäten waren erfroren. Noch am selben Abend mußte man ihm die Beine amputieren, um sein Leben zu retten.« »Doch er hatte sein Ziel erreicht. Vom Kamm der Schneeberge hatte er eine grüne, von kleinen Flüssen durchzogene Ebene erblickt, die sich bis an den Horizont erstreckte.« »Ist das die ganze Geschichte?« erkundigte sich Lathir kleinlaut. Das Schicksal Trimans setzte ihm sichtbar zu. »Nein«, sagte Khalanka und fuhr fort. Monate vergingen. Der Vulkan, an dessen Fuß die Herde ihr Nest errichtet hatte, stieß immer dichtere Rauchwolken aus. Die Erde zitterte, schließlich begann sie zu beben. Widerwillig mußte die Herde sich eingestehen, daß ein Ausbruch unmittelbar bevorstand. Doch was sollte sie tun? Viele sprachen sich dafür aus abzuwarten. Schließlich wüßte man nicht, ob der Vulkan tatsächlich ausbrechen würde. Und selbst wenn er es täte, hieße es nicht unbedingt, daß das Nest der Herde in Gefahr war. Andere waren überzeugt, daß das Heil der Herde nur in einer schnellen Flucht lag. Da meldete sich Triman zu Wort: Er kenne einen Weg über die Schneeberge, sagte er, und sei bereit die Herde anzuführen. Tage- und nächtelang stritt die Herde. Schließlich teilte sie sich: Eine Hälfte beschloß mit Triman über die Schneeberge zu ziehen, die andere zu bleiben. Die alte Unitherin beugte sich vor. »Trimans Herde hatte Glück. Sie brauchte zwar über eine Woche, ihren Anführer auf einer Bahre vorantragend, um den Paß zu erreichen, aber kein Sturm kam auf. Schließlich hatten sie den Kamm des Gebirges erreicht und zu ihren Füßen erblickten sie das Grün der Ebene, von der Triman berichtet hatte. Aber als sie sich umwandten,« Khalankas Stimme verwandelte sich in ein tonloses Flüstern, »sahen sie, wie die Lava des Vulkans das Tal zu ihren Füßen unter sich begrub.« Lathir löste sich aus der zusammengerollten Haltung und setzte sich auf. Er zitterte trotz der Wärme, die die Lampe seines kleinen Nests spendete. »Willst du mir mit dieser Geschichte sagen, daß ich aufgeben soll?« »Nein.« Khalankas Rüssel strich beruhigend über das Gesicht des jungen Unithers. »Ich will dir damit sagen, daß der Preis dafür, neue Wege zu gehen, sehr hoch sein kann. Unerträglich hoch. Dessen solltest du dir bewußt sein.« Sie zog ihren Rüssel zurück. »Und ich will dir noch etwas sagen: Manchmal tun wir etwas nur für uns selbst, ohne daran zu denken, was es für die Unseren bedeutet. Triman folgte nur seiner angeborenen Neugier, aber sein Drang, Neues zu sehen, rettete wenigstens einen Teil der Herde.« »Willst du ...«, ein ungeheurer Gedanke ließ Lathirs Stimme versagen. »Willst du damit sagen, ich bin zum Retter der Herde bestimmt?« »Ich weiß es nicht. Niemand ahnte damals, daß der Tunichtgut Triman eines Tages die Rettung für die Unseren sein würde. Jetzt, viele Generationen später, wissen wir, daß es sein Hradith war, aber damals kannten unsere Vorfahren noch nicht einmal das Wort.« Sie blickte Lathir direkt in die Augen. »Dein Hradith liegt bei diesem Arkoniden, der sich Lamur Derkrat nennt, aber Atlan heißt. Er ist kein gewöhnlicher Mann, das habe ich beim Wahzkhira gespürt. Wir können unendlich viel von ihm lernen.« »Das mag sein«, entgegnete Lathir stockend. »Aber was nützt uns dieses Wissen schon? Er glaubt, daß sein Hradith bei dieser Frau liegt. Mit mir gibt er sich nur ab, weil er in mir seine einzige Chance sieht, sie zu finden. Und außerdem ist er jetzt sowieso in der Hand des Tatos.« 63
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»Der Berg, der sich vor dir auftürmt, ist vielleicht nicht so unüberwindlich, wie du denkst«, sagte die Herdenälteste und zog ein Säckchen von ihrem Gürtel. »Hier, das könnte dir helfen.« Khalanka schüttete den Inhalt des Säckchens auf die Matratze. Es waren Quarze. Manche so groß wie der Daumen eines Menschen, andere nur erbsengroß, aber sie alle schillerten in grellen Farben - Rot, Grün, Gelb und Violett. »Der Schatz der Herde!« Lathir ruckte hoch. »Nein, das ist unmöglich, das kann ich nicht annehmen!« »Natürlich kannst du es«, entgegnete Khalanka gleichmütig. »Du hast schon einmal einen der Quarze genommen, um den SENTENZA-Mann zu bezahlen, schon vergessen?« »Ja, aber das war nur einer, nicht ...« »Aber für denselben Zweck«, unterbrach ihn die Unitherin. »Um dein Hradith zu erfüllen. Nimm sie, Junge. Sie werden dir alles kaufen, was du brauchst, um Atlan zu befreien. Als Herdenälteste steht es mir zu, über die Verwendung des Herdenschatzes zu entscheiden, und ich will, daß er dir gehört.« »Aber ...« »Kein Aber«, herrschte sie ihn an. »Sind wir etwa schon so weit gekommen wie die Arkoniden, daß wir Dinge um ihrer selbst willen horten?« Lathir streckte Rüssel und Hände aus und steckte die Quarze langsam, fast ehrfürchtig, zurück in das Säckchen. »So ist es gut, mein Junge.« Die alte Unitherin verfolgte zufrieden, wie Lathir die Steine an sich nahm. Dann zog sie einen weiteren, karmesinrot funkelnden Stein aus der Tasche. Er war größer als die übrigen. »Aber diesen hier gibst du Atlan, versprichst du mir das?« Lathir schwang zustimmend den Rüssel. Khalanka stand auf und zog ihre Schuhe an. »Und jetzt beeil dich. Ich habe der übrigen Herde schon Bescheid gesagt, sie warten auf dich. Die Arkoniden werden bald kämpfen, ich rieche ihre Aufregung und Angst. Sie hängt überall in den Gängen.« Die Unitherin betätigte den Türschalter. Das Licht des Korridors flutete herein. Die Herdenälteste drehte sich im Türrahmen noch einmal um und winkte ihm zu. »Viel Glück, mein Junge. Ich hoffe, daß dein Hradith gnädiger ist als das Trimans.« Das grelle Licht des Gangs blendete Lathir fast völlig, aber trotzdem glaubte er, Tränen in den Augen Khalankas zu sehen.
Kapitel 14 Ich erwachte nach einigen Stunden unruhigen Schlafs zu bitteren Vorwürfen. Was glaubst du eigentlich, was du hier tust? Die Stimme meines Gedankenbruders war ein wütendes Donnern. Du kannst nicht für Rupiak kämpfen! Und wieso nicht? entgegnete ich so beherrscht wie möglich. Weil es sinnlos ist. Sinnlos und gefährlich! entgegnete mein Extrasinn. Denk doch nach, Arkonide! Es gab keine erfolgreichen Rebellionen gegen das Imperium, nicht in der Zeit, bevor die allgemeine Degeneration einsetzte. Wenn du jetzt Rupiak zum Sieg verhilfst, veränderst du die Vergangenheit. Die Konsequenzen wären unabsehbar. Rupiaks Beispiel könnte Schule machen und das Imperium in einen blutigen Bürgerkrieg stürzen! Ich mußte unwillkürlich lächeln. Du fängst schon an wie der Tato. Was kann ich als einzelner schon ausrichten? Mein Gedankenbruder ließ sich nicht beirren. Wenn das so ist, wieso kämpfst du überhaupt? Rupiak muß verlieren. Selbst wenn du seine Niederlage überleben solltest, 64
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wird es dir kaum gelingen, der Rache des Imperators an den gefangenen Rebellen zu entgehen. Wieso läßt du dich auf diesen Irrsinn ein? Mein Lächeln verschwand. Weil ich es Rupiak schulde, entgegnete ich ernst. Mein Eingreifen vor 21 Jahren hat ihn zu dem Mann gemacht, der er heute ist, hat dazu geführt, daß er in dieser Klemme steckt. Ich kann ihn nicht im Stich lassen. Und außerdem werde ich ohne seine Hilfe Tamarena niemals finden. Ich ignorierte die weiteren Proteste meines Logiksektors und kroch aus dem Bett. Semerion, der Erste Assistent des Tatos, hatte mich vor nicht einmal acht Tontas in dieses Gästezimmer des Palastes gebracht, damit ich mich vor dem Angriff ausruhen konnte. Seine luxuriöse Ausstattung, das großzügige Bad, waren an mich verschwendet gewesen. Ich hatte mich ohne eine Dusche zu nehmen schlafen gelegt. Ich verzichtete auch jetzt darauf, mich zu waschen. Über einem Stuhl hing ein Kampfanzug, im Holster ein schwerer Kombistrahler. Ich schlüpfte in den Anzug. Der Duft von Plastik stieg aus dem Halsausschnitt in meine Nase. Der Anzug war fabrikneu. Der Boom der letzten Jahre hatte Rupiak unverhoffte Steuereinnahmen beschert. Es schien, als hätte er mit dem Geld das Beste gekauft, was die Waffenschmieden Arkons hergaben. Im Magen spürte ich einen Knoten. Ich hatte mich schon oft gefragt, wieso mich, den relativ Unsterblichen, vor einem Kampf dieses Ziehen immer noch plagte. War es der Widerwille davor zu töten? Oder war es nur das ansonsten sorgsam unterdrückte Wissen, daß auch ich der Wahrscheinlichkeit nicht auf ewig trotzen konnte? Irgendwann mußte auch mich ein verirrter Energiestrahl treffen oder ein unentdeckter Defekt meinen Schutzschirmprojektor detonieren lassen. Ein leises Summen riß mich aus meinen Gedanken. Semerion war an der Tür. Er trug einen Kampfanzug vom selben Typ wie ich, aber er schien ihm um mindestens zwei Nummern zu groß. »Es ist soweit, Altao Ta-Camlo.« Ich musterte den kleinen, rundlichen Mann mit kaum verhohlener Skepsis. Der Erste Assistent hatte mich gestern, als er mich zum Gästezimmer geführt hatte, mit auffälliger Ehrerbietung, ja sogar Ehrfurcht behandelt. Auch jetzt ließ er keine Gelegenheit aus, mich mit dem vollen Namen anzureden. Er mußte eine besondere Bedeutung für ihn haben. Aber welche? Was wußte er über mich? »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Altao Ta-Camlo.« Ich brummte zustimmend und sagte nur: »Gehen wir.« Semerion nickte hastig und wandte sich um. Schon nach wenigen Sekunden erreichten wir den Palastgarten und folgten dem Lauf eines kleinen Bachs in Richtung des Treffpunkts mit Rupiak. Nachdenklich starrte ich auf Semerions breiten Rücken. Eigentlich hätte ich seine unterwürfige Haltung mir gegenüber begrüßen sollen, aber statt dessen jagte sie mir kalte Schauer über den Rücken. Dieser rundliche Mann in dem schlecht sitzenden Kampfanzug erwartete wie sein Herr Wunder von mir - und ich wollte mir nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn ich keine lieferte. Einige Minuten später gelangten wir zu dem Streifen dichten Urwalds, der das dem Palast gegenüberliegende Ende des Parks markierte. Im schwülen Dämmerlicht saßen oder standen etwa einhundert Rupiaki in Kampfanzügen. Sie wirkten konzentriert und ruhig, überprüften ihre Ausrüstung. Viele von ihnen waren gleich mit mehreren, meist schweren Handfeuerwaffen behangen. Zwischen den Büschen erkannte ich die Umrisse von ungefähr einem Dutzend Desintegratorgeschützen. Sollte der Tato den Kampf gegen das Tai Ark’Tussan verlieren, lag es nicht an unterlegener Ausrüstung. Woran es Rupiak mangelte, waren loyale, gut ausgebildete Soldaten. Ein Waffenarsenal anzuhäufen war, vorausgesetzt, man verfügte über die nötigen Mittel, eine Angelegenheit von Monaten. Das Imperium war groß und irgendwo war immer irgendein Waffenhändler bereit, das Gewünschte zu liefern. Aber ein diszipliniertes, hochmotiviertes Korps heranzuziehen wie
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es diese Männer und Frauen darstellten, war eine Angelegenheit von vielen Jahren Jahren, von denen Rupiak nicht genug gehabt hatte. Rupiak begrüßte mich mit aufrichtiger Herzlichkeit. Äußerlich wirkte der Arkonide gelassen und ruhig, aber meinem über die Jahrtausende geschulten Blick entgingen nicht die Zeichen seiner Anspannung, das verräterische Zucken der Augenlider, der etwas zu forsche Tonfall. Niemand geht gleichmütig in ein Gefecht. »Da sind Sie ja, Ta-Camlo.« Der Tato winkte mich in seinen provisorischen Befehlsstand. Ein weniger kluger Mann als er hätte es vorgezogen, die Schlacht aus seinem geschützten Hauptquartier heraus zu lenken, aber Rupiak wußte, daß seine einzige Chance die überlegene Moral seiner Truppen war. Die Rupiaki waren bereit für ihn zu sterben, also zeigte er ihnen, daß ihr Treueverhältnis auf Gegenseitigkeit beruhte. »Ich zeige Ihnen unseren Schlachtplan.« Auf seinen Knopfdruck erwachte der Kartentisch vor ihm zum Leben. Eine Holo-Projektion eines vielstöckigen Gebäudes entstand, das unter dem Schutz einer eigenen Panzertroplonkuppel stand. »Das hier ist das Hotel ARKONS GLORIE. Es grenzt unmittelbar an den Palastgarten an und wimmelt normalerweise von Touristen und Bürgern, die dem Tato ihre Anliegen vortragen wollen.« Er blickte auf und sah mich kurz an. In seinen Augen flammte drängende Erwartung. Als ich schwieg, fuhr er fort. »In gewisser Weise trifft das letztere immer noch zu nur daß die ungefähr dreihundert Soldaten des Imperators, die sich als gewöhnliche Gäste getarnt dort einquartiert haben, ihre Beschwerde mit der Waffe in der Hand vortragen wollen.« Der Tato betätigte einen weiteren Knopf. Von zwei Seiten erschienen rote Pfeile, die jeweils in verschiedenen Stockwerken endeten. »Zeitgleich mit uns werden nicht nur meine Gardisten in den übrigen Orbitalen Städten losschlagen, sondern auch eine zweite Einheit, die auf der gegenüberliegenden Seite des Hotels in Stellung gegangen ist. Gelingt die Überraschung, ist die Aktion in einer Viertelstunde vorüber. Gelingt sie nicht ...« Rupiak ließ den Satz offen. »Haben Sie noch Fragen?« Ich schüttelte den Kopf. Einige Sekunden lang sagte der Tato nichts. Er wirkte enttäuscht, als hätte er gehofft, ich würde ihm im letzten Moment einen unschlagbaren Plan vorlegen oder verkünden, eine Kolonie Raumnomaden wäre zu unserer Unterstützung eingetroffen. »Gut, dann los«, Rupiak gab sich einen Ruck. »Sie, Ta-Camlo, kommen mit mir und Semerion. Unsere Abteilung wird die Lobby sichern und dann nach oben vorstoßen.« Die Rupiaki hatten sich inzwischen in ein Dutzend acht Mann starke Gruppen verteilt. Wir schlossen uns einer von ihnen unter dem zustimmenden Gemurmel der Gardisten an. Laß dich von seiner Forschheit nicht täuschen! meldete sich mein Gedankenbruder in einem letzten Versuch, mich umzustimmen. Oder hast du schon das Zählen verlernt? Auf dem Plan waren 19 Stockwerke eingezeichnet. Dein Tato hat nicht einmal genug Truppen, um alle Etagen gleichzeitig anzugreifen! Und dann war es soweit. Auf das Signal des Tatos aktivierten wir die Flugaggregate und rasten mit Vollschub auf das Hotel vor uns zu. Auf halbem Weg schien unsere Umgebung plötzlich in grünliches Wabern getaucht, eine unsichtbare Faust versuchte uns vom Kurs zu reißen. Es waren die Strahlenbahnen der Desintegratorgeschütze. Nur den automatisch eingreifenden Steuerpositroniken unserer Anzüge hatten wir es zu verdanken, daß wir nicht in ihren Sog gerieten. Dann waren wir am Hotel. Die Außenwand hatte sich auf einer Fläche von mehreren Quadratmetern unter dem Beschuß der Desintegratoren in wabernde Molekülwolken aufgelöst. Ich aktivierte den Schutzschirm, schoß durch die Öffnung - und blickte in ein Panorama entsetzter Gesichter. Wortlos eröffnete ich das Feuer. Rupiak, Semerion und die übrigen waren mir inzwischen gefolgt und verloren ebenfalls keine Zeit. Überall, hinter der 66
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großzügigen Rezeption, in der weitläufigen Eingangshalle ebenso wie im angeschlossenen Cafe, fielen Hotelangestellte und -gäste unter den Treffern unserer Paralysatorstrahlen und blieben in seltsam verkrümmten Stellungen liegen. Der Tato hatte strikten Befehl gegeben, die Kombiwaffen auf Betäubung zu stellen. Ein eindeutiger Vorteil in dieser Situation: Statt mühsam zu versuchen, Soldaten des Imperiums an ihrer beherrschten Reaktion zu identifizieren, betäubten wir der Einfachheit halber alles, was uns begegnete. Doch unser Ansturm war nicht ohne Opfer geblieben. Wir hatten die Lobby gesichert und machten uns daran, die erste Etage zu erstürmen, als ich merkte, daß der Erste Assistent an dem Loch in der Außenwand zurückgeblieben war. Ich rief: »Semerion, wo bleiben Sie denn?« Der Erste Assistent reagierte nicht und starrte nur versteinert auf dem Boden vor ihm. Ich rannte zu ihm herüber. »Semerion, was ...« Ich verstummte. Neben dem Loch lag ein Mann in der Uniform eines Hoteldieners. Der Desintegratorstrahl hatte die Hälfte seines Oberkörpers aufgelöst. »Er ... er ist tot«, stammelte der rundliche Arkonide. Er war kreidebleich. Er hat noch nie einen Erschossenen gesehen! rief mein Extrasinn. »Kommen Sie, wir müssen weiter!« Ich riß den Ersten Assistenten mit einem brutalen Ruck weg von der Leiche. Ich durfte nicht zulassen, daß er in eine Schockstarre verfiel, sonst würde er das nächste Opfer sein, sobald wir auf Widerstand trafen. Wir ignorierten die Antigravschächte - die glatten Röhren stellten mangels Deckung potentielle Todesfallen dar - und stürmten die Nottreppen hinauf in den ersten Stock. Der Korridor war leer, der Tato hatte den Angriff nicht umsonst auf drei Uhr Morgens Schemmenzeit gelegt. In Zweierteams arbeiteten wir uns von Zimmer zu Zimmer. Einer von uns zerschmolz jeweils mit einem kurzen Strahlerstoß das Schloß der Tür, der andere stürmte mit gezückter Waffe in das Zimmer und lähmte seine Bewohner. Der Plan des Tato schien aufzugehen. In etwa der Hälfte der Zimmer trafen wir auf verschreckte Zivilisten, die versuchten, sich hinter Möbeln zu verstecken oder nur wimmernd den Kopf schützend unter die Arme steckten. In der anderen Hälfte erwarteten uns Soldaten des Imperators und versuchten verzweifelt, sich mit Dagorgriffen zur Wehr zur setzen. Einer von ihnen besaß sogar einen kleinen Handstrahler, aber die Energiebahn wurde mühelos vom Schutzschirm meines Anzugs absorbiert. Wir hetzten weiter, hinauf in den zweiten Stock. Die Anspannung war von Rupiak und seinen Gardisten abgefallen. Endlich kämpften sie - und siegten. Der zweite Stock war ebenfalls das Ziel einer Abteilung gewesen und mußte sich bereits in der Hand der Rupiaki befinden. Ohne auf ihre Deckung zu achten, rannte die vorderste Gardistin in den Korridor. Den Bruchteil einer Sekunde lang sahen wir den Umriß ihres Körpers als schwarzen Schatten inmitten eines Feuerballs, dann verglühte sie in der Gewalt entfesselter Atome. Der Geruch von verbranntem Plastik und Fleisch stieg mir einige Augenblicke lang in die Nase, dann schloß sich automatisch der Helm meines Kampfanzugs. Rupiak und die verbliebenen Gardisten stießen laute Flüche aus. »Aber das ist unmöglich«, rief einer der Männer. »Die Soldaten im ersten Stock hatten keine Waffen!« »Und wennschon?« Ich zuckte die Achseln. »Wir wissen nicht, wie die Imperiumstruppen ihre Waffen eingeschmuggelt haben. Wahrscheinlich haben sie auf verschiedenen Methoden gesetzt: Einen Teil als herkömmliche Fracht ausgewiesen, wie in dem Container, den ihr entdeckt habt. Aber ein Teil der Soldaten muß seine Ausrüstung getarnt im persönlichen Gepäck mitgebracht haben.« Die ersten Lagemeldungen kamen herein. Die Rupiaki hatten die obersten fünf Stockwerke des Hotels gesichert, ohne auf nennenswerte Gegenwehr zu stoßen. Widerstandsnester existierten neben dem zweiten Stock noch in den Stockwerken 14 und fünf. Die Abteilungen, die in die Etagen neun bis elf eingedrungen waren, meldeten sich nicht mehr. Zu unserer Erleichterung existierte die Abteilung noch, die den zweiten Stock 67
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hatte erobern sollen. Die Rupiaki hatten sich unter dem Feuer des Gegners in einer Suite verschanzt. »Wir müssen ihnen helfen«, keuchte Rupiak. »Sie werden dem Druck höchstens noch ein paar Minuten standhalten können.« Der Tato schwieg einige Augenblicke, dann befahl er: »Stellt die Kombistrahler um. Wir gehen vor wie besprochen, begrenzt tödlicher Einsatz.« Ein vielstimmiges Klicken antwortete ihm, als ich und die Gardisten die Sicherungsschalter unserer Waffen lösten. Keiner der Männer und Frauen kommentierte den Befehl, sie hatten nichts anderes erwartet, nur Semerion murmelte ein paar unverständliche Worte und verdrehte die Augen. Wir sammelten uns auf den letzten Treppenstufen vor dem Korridor. Rupiak zog eine Blendgranate aus dem Gürtel, drückte den Auslöser und warf sie ohne den Kopf aus der Deckung zu nehmen in die Richtung des Korridors, aus welcher der Strahlerschuß gekommen war. »Eins, zwei, drei«, Rupiak zählte laut mit. Die Positronik verschlüsselte die Worte und strahlte sie an die Empfänger unserer Kampfanzüge ab. »Vier.« Rupiaks Stimme war jetzt fest und ruhig. Aus dem Korridor drang ein Warnschrei. Unsere Gegner hatten die Granate bemerkt, aber es war zu spät. »Fünf.« Gleißendes Licht erfüllte den Gang, es schien, als wäre dort eine Nova explodiert. Die positronisch gesteuerten Lichtfilter unserer Helme schafften es gerade noch, die Flut von blendendem Weiß soweit abzumildern, daß sie mit geschlossenen Augen erträglich war. »Los!« Ich riß die Lider auseinander und sprang auf den Gang. Einige Augenblicke vergingen, bis sich meine Augen wieder an die relative Dunkelheit der herkömmlichen Beleuchtung gewöhnt hatten, dann sah ich sie, etwa 20 Meter zu unserer Linken: Ein Dutzend Soldaten in Kampfanzügen der Imperiumsflotte. Vier von ihnen stolperten blind durch den Gang, prallten hilflos von den Wänden ab. Ich ignorierte sie ebenso wie die beiden anderen, die sich zu Knäueln zusammengerollt hatten und sich nicht mehr rührten. Der Schock der Blendgranate hatte seine Wirkung auf sie nicht verfehlt. Für uns zählten nur die übrigen sechs Gegner, Soldaten, die ihrer Gefechtsausbildung gehorcht, sich von der Granate abgewandt hatten und jetzt mit schweren Strahlern in den Händen herumwirbelten. Doch selbst ihre schnelle Reaktion kam zu langsam. Die glühenden Energiebahnen unserer Strahler schlugen in ihre Schirme ein, ließen sie flackern und Blasen werfen. Aber noch brachen sie nicht zusammen. Dazu brauchte es die kombinierte Energie zweier Strahler. Mit einer knappen Handbewegung bedeutete ich dem Rupiaki neben mir, sein Feuer mit dem meinen zu bündeln. Wenige Herzschläge später brach der Schirm des vordersten Gegners mit einem in allen Regenbogenfarben schillernden Blitz zusammen. Mein Daumen zuckte zum Sicherungsschalter, und der Soldat brach von meinen Paralysestrahl gelähmt zusammen, den Mund zu einem stummen Schrei weit aufgerissen. Sekundenbruchteile später teilten seine beiden Hintermänner sein Schicksal. Sie waren die letzten, die überlebten. Einen in einen Schutzschirm gehüllten Gegner gefangenzunehmen erforderte absolute Beherrschung der eigenen Waffe und eine große Portion Glück. Es galt, den Finger einen Moment vor dem Zusammenbruch des Schirms vom Abzug zu nehmen - ein fast unmögliches Unterfangen, insbesondere, wenn zwei Schützen ihr Feuer koordinieren mußten. Die drei verbliebenen Raumsoldaten vergingen in blendenden Explosionen, als die Miniaturgeneratoren ihrer Kampfanzüge unter der Einwirkung unserer Strahlersalven detonierten. Die in der Suite verschanzte Abteilung Rupiaki strömte auf den Gang und begrüßte ihre Kameraden freudig. Der Tato ließ sie kurz gewähren, dann trieb er die Männer und Frauen weiter an, hinauf zu den mittleren Stockwerken des Hotels. Im achten Stock erwartete uns Redukal, einer der höchsten Offiziere Rupiaks. Er war ein Arkonide mittleren Alters, 68
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dessen exakte Bewegungen und sparsame Gesten verrieten, daß er seine Laufbahn in der für ihre harte Disziplin berüchtigten Flotte Arkons begonnen hatte. »Das Hotel ist sauber, aber sie halten noch die Stockwerke neun bis elf«, eröffnete er dem Tato. »Wir haben versucht, von verschiedenen Seiten Späher hereinzuschicken, ohne Erfolg. Ihr Feuer war zu stark.« Rupiak sah mich hilfesuchend an. Ich schüttelte nur den Kopf. Ich hatte kein Wunder für ihn, sosehr ich es mir auch wünschte. Bereits jetzt, nach weniger als einer Viertelstunde des Kampfes, zeigte sich seine Schwäche. Hätte er eine größere Garde besessen, wäre es ihm möglich gewesen, die Imperiumssoldaten in aller Ruhe auszuhungern und sich anderen Widerstandsnestern zu widmen. Die hatte er aber nicht, deshalb mußte er den Gegner auf der Stelle ausschalten, was nur über einen Frontalangriff zu bewerkstelligen war - mit entsprechend hohen Verlusten. Der Tato mußte zu ähnlichen Schlüssen gekommen sein. Mit einer ruckartigen Bewegung wischte er sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich an den Offizier: »Redukal, bringen Sie die verbliebenen Abteilungen in Position. Wir greifen von allen Seiten an.« Minuten später kauerten wir erneut auf einer Treppe und warteten auf den Angriffsbefehl. Auf der Stufe vor mir hockte der Tato, neben mir sein Erster Assistent. Semerions Miene wirkte wächsern, seine Lippen waren bleiche, blutleere Striche, ob aus Angst davor, getötet zu werden, oder davor, selbst zu töten, konnte ich nicht sagen. Rupiak hob den Arm und zählte mit den Fingern fünf Sekunden ab. Dann schrie er »Los!« und reckte den Arm nach vorne. Um mich herum aktivierten die Gardisten ihre Flugaggregate. Der Plan war, sich mit derartiger Geschwindigkeit über die Stockwerke zu verteilen, daß dem Gegner keine Möglichkeit blieb, sein Feuer auf einen Punkt zu konzentrieren. Meine Hand ruckte zum Gürtel, um mein eigenes Aggregat zu aktivieren, wurde aber einen Fingerbreit vor der Kontaktfläche aufgehalten. Es war, als hätte sich eine stählerne Zange um meinen Arm gelegt. Eher verstört als verängstigt warf ich den Körper herumund blickte in großpupillige Unitheraugen. »Lathir!« stieß ich verblüfft hervor. »Bei allen Göttern Arkons, was machst du hier?« Der Unither trug den üblichen gelben Overall. Im Hüftbereich preßte ein voluminöser Instrumentengürtel das Synth-Gewebe zusammen. An dem Gürtel, dessen Hauptfunktion die eines Schirmgenerators war, steckten gleich drei Handfeuerwaffen: Ein schwerer Desintegrator und zwei kleinere, mir unbekannte Typen. Hinter dem Unither drängte sich ein halbes Dutzend ähnlich ausgestatteter Artgenossen. Lathir öffnete den Mund und schrie eine Antwort, aber sie ging im Fauchen von Strahlenbahnen und dem Donnern von Explosionen, die aus dem Gang über uns drangen, unter. Ich verstand auch so, der unnachgiebige Zug seines Rüssels war unmißverständlich: Komm mit mir, Atlan! »Nein, das geht nicht!« schrie ich. »Du verstehst nicht, ich habe es ihm versprochen!« Ich deutete in den Korridor, in dem meine Kameraden verschwunden waren. Mit einer Ausnahme: Semerion, der sein Aggregat als letzter aktiviert hatte, erhob sich gerade in die Luft. Mein Aufschrei ließ seinen Kopf herumfliegen. Seine Augen weiteten sich beim Anblick der Unither. Seine ungeübten Finger versuchten verzweifelt, den Beschleunigungsvorgang abzubrechen. Aber es war zu spät, der Schub hatte ihn bereits in den rauchenden Korridor getragen. Lathir hatte inzwischen erkannt, daß ich meinen Widerstand nicht aufgeben würde. Auf eine Geste seines Stummelarms packten mich drei seiner Kameraden an Armen und Beinen und zerrten mich in die Höhe. Dann rannten sie los. Vorbei an den Gelähmten, Verwundeten und Getöteten der Kämpfe in die Lobby des Hotels und hinaus auf die menschenleeren Korridore von TAI MEREN NOAS. Das Geräusch dumpfer Explosionen schien jetzt von überall zu kommen. Es mußte weiteren Gruppen von Imperiumssoldaten gelungen sein, zu ihren Waffenlagern vorzudringen und den Kampf aufzunehmen. Ich 69
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hörte auf zu schreien und mich zu winden. Es war sinnlos, sich gegen die überlegenen Körperkräfte meiner Entführer zu wehren. Nach ungefähr fünf Minuten machten die Unither abrupt halt. Wir befanden uns auf einem breiten Einkaufsboulevard. Das vorderste der Rüsselwesen zog den Desintegrator und zerstrahlte die Tür eines Geschäfts für exotische Pelze. Die Unither stürmten in die verlassenen Verkaufsräume und setzten mich ab. Lathir zog einen Pelz von der Wand und breitete ihn auf dem Boden vor mir aus. »Der Boden ist kalt, Freund Atlan«, sagte der Unither und deutete auf das grüngescheckte Fell. Ich entschloß mich, seine versöhnliche Geste anzunehmen, und ließ mich auf den Pelz sinken. Immerhin hatten der Junge und seine Begleiter ihr Leben für mich riskiert. »Lathir, was soll das?« brach es aus mir heraus. »Wieso hast du das getan?« Der Unither setzte sich auf den nackten Boden vor mir. »Es tut mir leid, Freund Atlan, aber ich mußte es tun.« »Was soll das heißen, Ich mußte es tun? Ich habe dich nicht darum gebeten, mich da herauszuholen!« Lathir und ich waren jetzt alleine. Seine Begleiter hatten sich mit gezogenen Waffen an die Fenster und die Ausgänge des Ladens begeben. »Das hast du nicht.« Der Unither schwenkte den Rüssel zustimmend. »Aber es war das Beste für dich. Es ist nicht dein Hradith, an der Seite des Tato getötet zu werden.« »Und woher willst du das wissen?« entgegnete ich trotzig. Die Wut schlug hohe Wellen in mir. Einige wenige Stunden lang hatte ich das Gefühl gehabt, das Heft der Handlung wenigstens teilweise in der Hand zu haben - und jetzt hatte man mich unversehens wieder zum Spielball anderer degradiert. »Ich spüre es«, sagte Lathir ernst. »Ich hatte in den letzten Stunden Gelegenheit nachzudenken. Ich bin mir jetzt ganz sicher. Dein und mein Hradith sind miteinander verwoben. Du bist mein Tor zu den Sternen.« Ich sagte nichts. Worte waren gegen die verschrobenen Vorstellungen des Unithers sinnlos. Er glaubte an dieses Hradith, dieses unithische Konzept von Schicksal oder was immer es sein mochte - ganz gleich, was ich tat oder sagte. Lathir schien mein Schweigen als Zustimmung zu werten. Er entblößte die Knochenkämme seines Mundes in der Imitation eines menschlichen Lächelns. »Ich wußte, daß du es auch spüren würdest. Aber bevor wir zu den Sternen fliegen können, mußt du noch etwas abschließen.« Sein Rüssel öffnete eines der vielen Fächer seines Kombigürtels und zog einen Gegenstand heraus. Er streckte ihn mir entgegen. Es war ein taubeneigroßer, karmesinrot funkelnder Quarz. Zögernd griff ich nach dem Stein. Er war angenehm warm. Unwillkürlich strichen meine Finger über seine rundlichen Kanten. »Was soll ich damit?« verlangte ich zu wissen, aber die Schärfe war aus meinem Tonfall verschwunden. »Du mußt gut auf ihn aufpassen. Du wirst ihn bald brauchen«, sagte Lathir. »Er ...« Einer seiner Begleiter kam zu uns gerannt und rief etwas auf unithisch. Er schien aufgeregt, gestikulierte mit beiden Stummelarmen und dem Rüssel. »Was ist los?« fragte ich. »Soldaten des Imperators, eine größere Gruppe«, antwortete Lathir und sprang auf. »Sie kommen die Straße hinauf. Sie werden uns finden, die zerstrahlte Tür ist unübersehbar.« Die übrigen Unither stürmten herbei und umringten uns. Eine kurze, in zwitscherndem Unithisch gehaltene Diskussion schloß sich an. Schließlich schien man sich einig. Lathirs Begleiter steckten ihre Waffen weg - und Lathir zog die seinen und wandte sich zum Gehen. »Was soll das bedeuten, Lathir? Was hast du vor?« Der Unither hielt kurz inne. »Ich halte sie auf, mein Freund.« »Das ist glatter Selbstmord«, rief ich. Der Wahnwitz, sich alleine gegen einen Trupp von Imperiumssoldaten zu stellen, raubte mir beinahe den Atem. 70
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»Sehe ich aus wie ein Selbstmörder?« fragte Lathir. »Ich habe dir doch gerade alles erklärt - mein Hradith ist es, zu den Sternen zu fahren. Mach dir keine Sorgen, mir wird nichts passieren. Und paß gut auf den Stein der Wahrheit auf!« Der Unither winkte mir mit dem schweren Desintegrator, den er im Rüssel hielt, zu und verschwand zwischen den Reihen aufgespannter Pelze. Ich wollte ihm hinterherrennen, ihn irgendwie aufhalten, aber die übrigen Unither stellten sich mir wie eine unüberwindliche Felswand entgegen. Meine verzweifelten Dagorhiebe prallten von ihrer dicken ledernen Haut ab. Ich war mit ihrer Physiologie nicht vertraut, kannte nicht die Stellen, an denen empfindliche Nervenbahnen verliefen. Rüssel, die mich erst vor wenigen Tagen zärtlich gestreichelt hatten, rissen mich brutal von den Beinen und zerrten mich in Richtung Hinterausgang. Hinter mir zerriß eine Serie von blendenden Explosionen die Glassitschaufenster des Geschäfts in Milliarden winziger Kristalle.
Kapitel 15 Wir haben gewonnen. Semerion hielt sich mit der Verzweiflung dessen an dem Gedanken fest, der spürt, daß sein Verstand nur noch an einem seidenen Faden hängt. Wir haben gewonnen. Wir haben gewonnen. Wir haben gewonnen. In kleinen, immer wieder stockenden Schritten stolperte der Erste Assistent des Tatos durch das zehnte Stockwerk des Hotels ARKONS GLORIE-einer Pracht, die einer fernen Vergangenheit anzugehören schien, obwohl sie vor nicht einmal einer Stunde verblaßt war. An Stelle von Gemälden zierten die verkohlten Einschußlöcher von Strahlenbahnen die Wände, Tropfen von in kürzester Zeit geschmolzenen und wieder erstarrten Materialien klebten an Decken und Wanden, hatten sich tief in das Gewebe der Teppiche gebrannt. Das Wasser der Sprinkleranlage stand in großen Pfützen oder regnete durch Löcher in der Decke aus oberen Stockwerken herab. Die Zimmer, einst luftige, lichtdurchflutete Gebilde, die für ihren Blick über den Palastgarten und in das Schemmenstern-System begehrt waren, hatten sich in schwarze, rußstarrende Höhlen verwandelt. Gewonnen. Gewonnen. Gewonnen. Der kleine, rundliche Mann war alleine. Seine zitternden Finger umklammerten den Kombistrahler, wie sie es seit einer Stunde getan hatten. Semerion schaffte es nicht, sie wieder zu lösen. Die Muskeln wollten ihm nicht mehr gehorchen oder vielleicht wollte er die Waffe auch nicht mehr loslassen, er wußte es nicht. Zwischen den Trümmern, oft kaum von ihnen zu unterscheiden, lagen die menschlichen Überreste der Schlacht. Die Toten setzten Semerion jetzt, nach der Schlacht, am wenigsten zu. Nicht, daß er sich an den Tod gewöhnt hätte, aber die Opfer dieses Gefechts hatten Kampfanzüge getragen. Anders als der armselige Hoteldiener hatten sie sich hinter dem Panzer fünfdimensionaler Schilde verkrochen - und waren zusammen mit diesem verpufft, ohne für das menschliche Auge sichtbare Spuren zu hinterlassen. Die Gelähmten, auch wenn ihre verrenkten Glieder und ihre starren, anklagenden Blicke einen anderen Schluß nahelegten, waren die Glücklichen. Sie würden sich in einigen Stunden ächzend und mit schmerzenden Muskeln, aber gesund vom Schlachtfeld erheben. Jedesmal, wenn Semerion auf einen von ihnen stieß, kroch sein Verstand einen Fingerbreit vom Abgrund des Wahnsinns zurück. Gewonnen. Gewonnen. Gewonnen.
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Was Semerion erschütterte, waren die Verwundeten. Die erbarmungswürdigen Männer und Frauen, denen die Hitze der Strahler die Haut und das Material ihrer Kampfanzüge zu einer homogenen Masse verschmolzen hatte. Diejenigen, denen Desintegratoren wie unsichtbare Klingen Glieder abgetrennt hatten. Diejenigen, die mit letzter Kraft aus dem Feuer der Schlacht in Zimmer und hinter Vorsprünge gekrochen waren, wo sie oft ein langsamer, qualvoller Tod erwartete. Sie schienen überall zu sein. Rupiaki, Soldaten des Imperators oder einfache Gäste - Semerion war das egal, er sah nur die leidende Kreatur. Wenn er auf einen Verletzten traf, lähmte er ihn wortlos mit einem Schuß seines Paralysators. Anfangs hatte er noch versucht, die Rettungsdienste zu alarmieren, aber sie hatten nicht reagiert. Es schien, als ob TAI MEREN NOAS den Atem angehalten hätte, als ob die Stadt wüßte, daß das Ringen erst begonnen hatte, und nun seinen Ausgang abwartete, um sich dem endgültigen Sieger zu unterwerfen. Aber wer würde das sein? Semerion wagte keine Prognose. Sein Draht nach oben war durchtrennt. Der Tato war fort und reagierte nicht auf seine Funksprüche. Rupiak war aufgebrochen, um zusammen mit den Gardisten, die den Kampf um ARKONS GLORIE überlebt hatten, irgendwo in der riesigen Orbitalstadt Jagd auf die Soldaten des Imperiums zu machen. Semerion hoffte inbrünstig, daß in der Zwischenzeit nicht der Tato zum Gejagten geworden war. Falls er überhaupt noch lebte. Rupiak hatte Semerion mit den Worten zurückgelassen, er solle sich um die Verwundeten kümmern. Und das tat der Erste Assistent. Er klammerte sich an seine Aufgabe, an die Aussicht, wenigstens einen winzigen Teil des Leids zu lindern, das sie ausgelöst hatten. Sein Unterbewußtsein wußte natürlich, daß Rupiak ihn aus einem anderen Grund zurückgelassen hatte. Dem Tato war klar gewesen, daß Semerion kein weiteres Gefecht überlebt hätte, aber diesen Gedanken schob der rundliche Arkonide weit von sich. Der Erste Assistent tastete sich die mit Trümmern übersäte Treppe in den neunten Stock hinunter. Auf halbem Weg streckte sich ihm hilfesuchend ein geschwärzter Arm entgegen. Ein Hilfeschrei erstickte in einem Röcheln. Semerion lähmte das Bündel Mensch ohne hinzusehen. Er konnte nie hinsehen, die Angst, in anklagende Augen zu blicken, war zu groß. Semerion erreichte den neunten Stock, drehte sich um die eigene Achse und setzte seinen Weg fort. Die neunte Etage war nur noch eine rußgeschwärzte, ausgeglühte Höhle. Die Sprinkleranlage hatte versagt, und unter der sonnenheißen Glut der Strahler waren selbst angeblich unbrennbare Materialien in Flammen aufgegangen. Niemand konnte hier überlebt haben. Semerion betrat die Treppe - und erstarrte. Die Erinnerung traf ihn mit der Wucht einer Woge. Altao Ta-Camlo! Hier, an dieser Stelle hatte er mit dem geheimnisvollen Mann Schulter an Schulter gekauert und auf das Angriffssignal gewartet. Mit demselben Mann, der vor 21 Jahren der Bürgerrechtlerin Tsuara die Redeberechtigung beim Imperialen Disput verschafft hatte, mit dem Mann, der durch sein Eingreifen aus einer unbeachteten, als überspannt eingestuften Aktivistin eine Märtyrerin gemacht hatte, wie sie das stolze Tai Ark’Tussan noch nie zuvor gekannt hatte. Mit dem Mann, der damit eine imperiumsweite Widerstandsbewegung losgetreten hatte - und der in letzter Konsequenz dafür gesorgt hatte, daß aus dem fünften Kind eines Tagelöhners von Akraune ein Dissident geworden war, ein politischer Agitator und schließlich der Erste Assistent Tato Rupiaks, der Mitarchitekt einer neuen, gerechteren Gesellschaft. Und dieser Altao Ta-Camlo hatte sie betrogen. Hatte sich mitten in der Schlacht, in dem Moment, als es ans Sterben ging, davongemacht. Semerion hatte es mit eigenen Augen gesehen. Ein undeutlicher Schrei hatte den Ersten Assistenten den Kopf herumreißen lassen. Und da war er gestanden: Altao Ta-Camlo, umringt von seinen schwer bewaffneten unithischen Kumpanen. Semerion hatte versucht kehrtzumachen, aber der Schub seines Flugaggregats hatte bereits eingesetzt und ihn in die Flammenhölle getragen, in die sich Stockwerk Neun zu verwandeln anschickte. Er hatte zu spät gehandelt, viel zu spät. Er 72
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hätte Ta-Camlo gleich nach seiner Ankunft im Schemmenstern-System verhaften sollen, anstatt ihn zu observieren, um herauszufinden, wen und was genau er suchte. Er hätte die Unither nicht als irrelevante, zu keiner klaren Aktion fähige Wirrköpfe betrachten dürfen. Als er in Ta-Camlo den Mann erkannte, der Tsuara zu ihrer großen Rede verholfen hatte, hätte er ihn nicht mit Ehrerbietung überschütten, sondern ihn verhören lassen sollen. Er hätte ... Aus dem Trümmerfeld, das die Stufen unter ihm darstellten, erhob sich ein weiterer flehender Arm. Geistesabwesend lief der Erste Assistent die Treppe herunter und hob den Kombistrahler. »Se ... Semerion.« Der Klang seines Namens stoppte den Finger, der sich um den Abzug der Waffe krümmte. Zögernd drehte der kleine Arkonide den Kopf. Wer konnte das sein? Vielleicht einer der Gardisten seiner Abteilung. Oder irgendein anderer Gardist, der Erste Assistent war den Rupiaki kein Unbekannter. »Semerion ... erkennst du mich nicht?« hauchte die brüchige Stimme. Sie gehörte einer Frau. Der Erste Assistent drehte den Kombistrahler zur Seite seine Finger wollten sich immer noch nicht von ihm lösen und beugte sich über die Verletzte. Sie war keine Rupiaki. Und auch keine Soldatin des Imperiums, das bewies ihre Kleidung, eine dicke, aus reißfester Spezialfaser gewebte Hose und ein Anorak mit Kapuze aus demselben Material. Ihre Füße steckten in schweren, mit Arkonstahlplatten verstärkten Stiefeln. Es war die Art von Kleidung wie man sie auf Extremwelten trug oder bei körperlich schweren, gefährlichen Arbeiten. Das Gesicht und die Arme der Frau waren rußgeschwärzt, aber das beunruhigte Semerion nicht, er selbst sah nicht besser aus. Vorsichtig schlossen sich seine Finger um die Schutzbrille, die die gesamte Augenpartie der Frau bedeckte. Graue, stechende Augen kamen zum Vorschein. »Trinkal!« Sein Schrei war der erste zusammenhängende Laut, den er seit einer Stunde von sich gab. »Bei allen Sternengöttern, was tust du hier?« Die Arkonidin versuchte zu lächeln. Zwischen ihren Zähnen stand Blut. »Was wohl, Semerion? Dasselbe wie du.« Verwirrt wanderte der Blick des Ersten Assistenten über den unnatürlich verrenkten Körper der Arkonidin. Er schien unversehrt. In ihrem Ledergürtel steckte ein Vibratormesser. Neben ihrem schlaff auf dem Stahl liegenden, ausgestreckten linken Arm lag eine Waffe - ein Luccot, ein kleiner Handstrahler - und eine Atemmaske. Und unvermittelt verstand Semerion. Trinkal hatte versucht, sich in den Kampf einzuschalten. Da er ihr den Zugriff auf die Waffenkammern des Tatos verwehrt hatte, war ihr nur die Wahl geblieben, die Hände in den Schoß zu legen oder sich mit dem zu behelfen, für das sie auf dem Schwarzmarkt der Orbitalen Städte hatte bezahlen können. Sie hatte sich für letzteres entschieden und damit für den sicheren Tod. Der Luccot wirkte verheerend auf einen ungeschützten Gegner, aber die Soldaten des Imperiums hätte sie, was seine Wirkung anging, genausogut mit einem Besen angehen können. Schlimmer noch war aber ihre fehlende Defensivbewaffnung. Die Spezialkleidung konnte Trinkal zwar vor gewöhnlichem Feuer bewahren, aber selbst der Streifschuß eines Strahlers hätte den Stoff glatt durchschlagen. Das war aber nicht geschehen. Das Gewebe war unversehrt, wie Semerion bei einer hastigen Inspektion erleichtert feststellte. »Aber das war glatter Selbstmord, Trinkal!« krächzte Semerion. Tränen liefen ihm über die Wangen und tropften auf den Boden. »Wie konntest du nur so naiv sein?« »Naiv?« Der Vorwurf schien einen Ruck durch die Arkonidin gehen zu lassen. »Wie kommst du darauf? Ich wußte genau, was ich tue. Du warst nicht der einzige, der nachgedacht hat. Ich bin es leid davonzurennen, Semerion. 20 Jahre habe ich darauf 73
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gewartet, daß die Revolution ausbricht. Aber irgendwo auf einem der vielen Kolonialplaneten, auf denen ich versucht habe sie herbeizureden, muß mein Glaube verlorengegangen sein.« Die Arkonidin verstummte für einen Augenblick. Ihre Pupillen weiteten sich, als eine Schmerzwelle durch ihren Körper raste. Semerion streckte den Arm aus und nahm ihre gesunde Hand in die seine. »Ich habe es dir nie gesagt, aber ich bewundere, was du und dein Tato hier aufgebaut habt. So vieles davon schreit nach Verbesserung, aber immerhin habt ihr einen Teil dessen verwirklicht, von dem wir geträumt haben.« »Du redest, als ob bereits alles verloren wäre«, sagte Semerion. »Dabei können wir noch gewinnen.« Nach den unzähligen Malen, die er das Wort in Gedanken vor sich hingesagt hatte, klang das Wort unnatürlich, wie eine schlechte Lüge. »Komm, ich bringe dich hier raus.« Er zog an ihrem Arm. Sie schüttelte langsam den Kopf. »In meinem Rücken steckt etwas. Ich glaube, ein Splitter. Er muß die Wirbelsäule oder irgendeine Nervenbahn getroffen haben. Mein Arm reagiert nicht mehr. Du ... du darfst mich nicht bewegen.« Semerion beugte sich ein zweites Mal über die Frau. Jetzt erkannte er die dunkle Blutlache, die sich zu beiden Seiten ihres Oberkörpers ausgebreitet hatte. Er hatte das Blut auf dem rußgeschwärzten Boden übersehen. »Trinkal, nein!« Die Tränen steigerten sich zu einem stetigen Fluß. Die Arkonidin sah ihn an. »Dann ist es also so schlimm wie ich dachte. Ich konnte den Kopf nicht herumdrehen, um es zu sehen.« Semerion nickte nur und drückte ihre Hand. Dann beugte er sich vor und küßte sie auf die blutverschmierten Lippen. Gleichzeitig hob er, für sie unsichtbar, den Kombistrahler und drückte ab. Die Frau erschlaffte. »Leb wohl, Trinkal!« flüsterte er und drückte sanft ihre Lider herunter. Dann stand er auf und ging die Treppe herunter, stieg Stockwerk um Stockwerk hinunter in die Lobby des Hotels. Seine Augen sahen die Zerstörung, sahen die Toten und die Verletzten, aber sein Geist nahm sie nicht mehr wahr. Das war auch nicht nötig. Er hatte verstanden. Seine Gedanken waren so klar wie seit vielen Jahren nicht mehr. An dem Loch, welches das Desintegratorgeschütz in die Außenwand des Hotels gerissen hatte, hielt er an. Einige Meter vor ihm waberte ein halbdurchsichtiger Energieschirm. Er war automatisch aktiviert worden, als ein verirrter Schuß die Panzertroplonkuppel des Palastgartens durchschlagen hatte. Semerion machte kehrt und stieg in den Keller des Hotels. Er war entschlossen, sich nicht von Kleinigkeiten wie dem Energieschirm aufhalten zu lassen. Nach einigen Minuten hatte er einen Korridor gefunden, der ihn unter den Palastgarten brachte. Schließlich stieg er, begleitet vom Heulen einer Alarmsirene, zum Palastgarten auf. Der Helm seines Kampfanzugs schloß automatisch. Eigentlich hätten Reparaturroboter im Fall eines Leckes einschreiten sollen, aber die Maschinen waren ausgeblieben. Die Positronik, der sie unterstanden, mußte bei den fortgesetzten Kämpfen in der Stadt zerstört worden sein. Der Luftdruck lag weit unter den für menschliche Atmung nötigen Werten und fiel weiter. Semerion warf einen Blick auf die Temperaturanzeige seines Anzugs. Sie zeigte minus 60 Grad. Das Grün des Gartens hatte sich in strahlendes Weiß verwandelt. Das Wasser in den Pflanzen und in der Luft war zu Eiskristallen gefroren. Semerion setzte seinen Weg unbeirrt von der bizarren Pracht fort. Er fand das provisorische Hauptquartier verlassen vor. Semerion mutmaßte, daß der Tato in seiner verzweifelten Knappheit an Kämpfern den Stabsoffizieren befohlen hatte, direkt in das Geschehen einzugreifen. Der Arkonide ging an den Kartentisch und legte den Kombistrahler ab. Seine Finger waren so geschmeidig, als hätten sie sich niemals um den
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Kolben der Waffe verkrampft. Semerion aktivierte den Kartentisch und gab den persönlichen Kode des Tatos ein. Dann räusperte er sich. Er wußte, daß seine Stimme auf allen Orbitalen Städten gehört wurde. Sie mußte natürlich klingen. »Rupiaki. Hier spricht der Erste Assistent des Tatos. In Anbetracht der ernsten militärischen Lage hat Tato Rupiak beschlossen, die Waffenarsenale allen Bürgern des Schemmenstern-Systems zu öffnen. Er wünscht, daß der Gegner unerbittlich ausgemerzt wird. Sein Befehl ist unverzüglich auszuführen. Auf unseren Sieg! Semerion, Ende.« Ein Schwächeanfall überkam den Ersten Assistenten. Er stützte sich mit beiden Armen auf und wartete, bis das Schwarz vor seinen Augen wieder verschwunden war. Mit zitternden Fingern änderte er den persönlichen Kode des Tato. Dann nahm er den Kombistrahler, trat einige Schritte zurück und entriegelte den Sicherheitsschalter. Er krümmte den Zeigefinger, und der Kartentisch zerschmolz. Semerion drehte sich um und machte sich auf dem Weg in das Stationsinnere, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er war noch nicht fertig.
Kapitel 16 Mein Gedankenbruder schwieg. Er wußte, daß es keine schlimmere Verurteilung geben konnte als mich mir selbst zu überlassen - mit dem Wissen, daß ich die Erfahrung von Jahrtausenden in den Wind geschlagen hatte, daß ich in eine Falle getappt war, vor der jeder angehende Raumfahrer in der ersten Woche seiner Ausbildung gewarnt wurde. Lege nie deine eigenen Maßstäbe an Angehörige einer fremden Rasse an! Meine Lungen brannten, mein Atem ging stoßweise, meine Beinmuskulatur war ein einziger pochender Schmerz, aber dennoch blieb in meinen Verstand nur Platz für den Lehrsatz, den Fartuloon der Bauchaufschneider mir eingetrichtert hatte, in einer Zeit, die noch viele Jahrtausende vor dieser fernen Vergangenheit lag, in die mich die Zeitstation der Meister der Insel geschleudert hatte. Wie hatte ich Lathir nur vertrauen können? Statt bei meiner gesunden Skepsis zu bleiben, hatte ich mich dem Unither förmlich um den Hals geworfen. Innerhalb weniger Stunden und Tage hatte ich seine Fremdheit verdrängt, bis ich in ihm nur einen Halbwüchsigen gesehen hatte, der von den Sternen träumte, nicht anders als es junge Arkoniden und Terraner seit jeher taten. Sein verkürzter Rüssel hatte mein Mitleid erregt, und der halbkugelförmige Kopf, die Hörstreifen, der wuchtige, von lederner Haut umschlossene Körper waren mir als oberflächliche Unterschiede erschienen, nicht weiter der Erwähnung wert. Was zählt, ist nicht die Hülle eines Wesens, sondern der Verstand, der in ihm steckt, hatte ich mir eingeredet. Unwillkürlich ließ mich meine unfaßbare Naivität den Kopf schütteln. Es waren die Hüllen von Lathirs Kameraden, vier Zentner schwere, stoisch schweigende Wesen von sah man von ihren ein Meter langen, muskulösen Rüsseln ab humanoider Form, die mein Flugaggregat außer Betrieb gesetzt hatten und mich nun durch TAI MEREN NOAS Eins hetzten. Wohin, wußte ich nicht, ebensowenig zu welchem Zweck. Ich wußte nicht einmal, in welchem Teil der riesigen Raumstation ich mich befand. Mit ihrem Durchmesser von fünf Kilometern stellte sie einen für den einzelnen kaum zu überschauenden Mikrokosmos dar - und schon gar nicht, wenn dieser seine jahrtausendlange Erfahrung in den Wind schlug, und sein Gedankenbruder indigniert beschlossen hatte, sich aus seinem Schicksal herauszuhalten. 75
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Was hatte mein Urteilsvermögen verschwinden lassen? Hatte ich mich selbst in Lathir wiedererkannt, den jungen Arkoniden, der einst von den Sternen geträumt hatte? Wenn ja, hatte ich mich haltlosen Illusionen hingegeben. Die Sehnsucht nach den Sternen war mir vertraut, aber die selbstmörderische Tapferkeit, mit der der junge Unither in das Feuer der imperialen Soldaten gestürmt war, blieb mir fremd. Hradith. Er hatte das Wort immer wieder benutzt. Ich Narr hatte es überhört, zur Seite geschoben, es als unwichtig abgetan. Dabei hatte mich die Erfahrung gelehrt, daß es in der Sprache jedes Volkes Konzepte und Begriffe gab, die das Undenkbare denkbar machten, die den einzelnen dazu brachten, das eigene Leben wegzuwerfen. Oder - die Wahrheit des Gedankens, der in mir aufstieg, verursachte mir beinahe körperliche Schmerzen - oder vielleicht hatte ich die Zeichen auch nicht sehen wollen. Vielleicht hatte ich in meinem Wahn, meine alte Liebe wiederzufinden, bewußt alle Warnzeichen ignoriert. Die bittere Wahrheit war, daß ich alles getan hätte, um Tamarena zu finden. Das, mußte ich mir eingestehen, war auch das eigentliche Motiv gewesen, Rupiak im Kampf gegen die infiltrierten Kommandos des Imperators zu helfen. Ich hatte gewußt, daß ich nur mit einem mir wohlgesinnten Tato Rupiak eine Chance hatte, Tamarena in der über 50 Millionen Köpfe zählenden Bevölkerung des SchemmensternSystems ausfindig zu machen. Die Eskorte der Unither, die mich in ihrer Mitte hielt, machte abrupt halt. Überrascht von dem plötzlichen Stopp nach einer über viertelstündigen Hetzjagd durch das Gewirr von Gängen und Korridoren bremste ich nicht schnell genug ab. Mein Schirmfeld berührte das meines Vordermanns. Grelle Überschlagsblitze entluden sich. Ich taumelte zurück, einen Augenblick lang gefangen in meinem eigenen Kosmos unerträglicher Helligkeit und beißenden Ozongestanks, dann griff die Positronik des Kampfanzugs ein und modulierte den Schirm zurück auf Normalwerte. Wir befanden uns an einer Kreuzung in einem der einfacheren Wohndistrikte im Innern der Orbitalstadt; die Wohlhabenderen zogen es vor, sich mit Sicht auf den Sternenhimmel niederzulassen. Normalerweise herrschte hier reges Gedränge, im künstlichen Klima der Weltraumstation spielte sich das öffentliche Leben draußen ab. Jetzt schien der Bezirk verlassen. Die Türen der Apartmentblocks waren verschlossen, Fenster und Balkone nur dunkle, rechteckige Flächen. Die starker Scheinwerfer an der Decke der riesigen Halle, die das Licht einer Sonne simulierten, strahlten auf eine Geistersiedlung herab. »Was ist los?« wandte ich mich an meine Entführer. »Wieso halten wir?« Die Frage, was das Ganze sollte und wohin sie mich brachten, sparte ich mir. Ich hatte sie schon ein dutzendmal gestellt, ohne eine Antwort zu erhalten. Auch diesmal reagierten die Unither nicht. Die Wesen blickten sich argwöhnisch in alle Richtungen um - ein mangels Hälsen unfreiwilliges Ballett, bei dem sie fast den ganzen Körper drehen mußten - und sahen einander an. Einer der Unither desaktivierte den Schutzschirm. Schnüffelnd erhob sich sein Rüssel und verdrehte sich. Er prüft, ob die Luft rein ist, meldete sich mein Gedankenbruder zurück. Seine Wut über meine Dummheit mußte so weit abgeflaut sein, daß er wieder einsah, daß sein Überleben untrennbar mit dem meinen verknüpft war. Das sollte dir zu denken geben. Diese Wesen sind dir fremd. Sie sehen, erfühlen die Welt anders als wir. Sie sind unberechenbar. Der Unither ließ den Rüssel sinken und aktivierte den Schirm. Er gab ein knappes Zeichen mit dem linken Stummelarm, und der Trupp meiner Entführer verfiel erneut in den verschärften Laufschritt, der mich in Kürze an die Grenze meiner Belastbarkeit bringen würde. Das kann sein, antwortete ich meinem Extrasinn. Aber was schlägst du vor? Lauf davon! rief er. Du hast hier nichts mehr verloren.
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Nein, das ... das geht nicht. Meine Gedanken stockten. Die Logik meines Gedankenbruders war makellos, das wußte ich. Die Unither verschleppten mich mit unbekanntem Zweck und Ziel. Daß sie mich töten wollten, war unwahrscheinlich. Lathir schien mir alles andere als feindlich gesonnen - meine Faust ballte sich unwillkürlich um den Quarz, den er mir kurz vor seinem Opfergang gegeben hatte - und seine Artgenossen hätten mich längst umbringen können, wenn das ihre Absicht gewesen wäre. Irgend etwas in mir wollte immer noch an den jungen Unither glauben. Und außerdem hätte ich mit einer Flucht die letzte Chance darauf, Tamarena wiederzusehen fahren lassen. Sie war hier auf TAI MEREN NOAS, das Foto, das mir Rupiak gezeigt hatte, hatte es mir bewiesen. Und wenn der Tato siegte, dann ... »Rupiaki.« Die Stimme, die unvermittelt aus dem Helmlautsprecher drang, war ruhig. Zu ruhig. »Hier spricht der Erste Assistent des Tatos. In Anbetracht der ernsten militärischen Lage hat Tato Rupiak beschlossen, die Waffenarsenale allen Bürgern des Schemmenstern-Systems zu öffnen. Er wünscht, daß der Gegner unerbittlich ausgemerzt wird. Sein Befehl ist unverzüglich auszuführen. Auf unseren Sieg! Semerion, Ende.« Ich kannte diese vorgebliche Ruhe. Was ich hörte, war die Stimme eines Mannes, den die Belastung des Kampfes den Verstand gekostet hatte - und der sich in diesem Moment anschickte, dem Blutbad, das er durchlitten hatte, ein weiteres, unvergleichlich größeres folgen zu lassen. Im selben Augenblick wußte ich mit unverrückbarer Sicherheit, daß mein einziges Heil nur noch in einer schnellen Flucht lag. Das Schemmenstern-System, in diesen Sekunden Schauplatz eines Ringens zwischen zwei disziplinierten, professionellen Armeen, die genau darauf achteten, keine irreparablen Zerstörungen anzurichten, würde sich binnen kürzester Zeit in ein ungezügeltes Schlachtfeld verwandeln. Ich mußte weg hier. Inzwischen waren wir bei einer weiteren Kreuzung des Wohngebiets angelangt. Meine Eskorte machte halt und blickte sich um. Dann desaktivierte der vorderste meiner Entführer den Schutzschirm, um die Luft zu erschnüffeln und gab mir damit die Chance, auf die ich gewartet hatte. »Da drüben, Imperiumssoldaten!« Ich warf den Arm hoch und zeigte in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Wie ein Mann wirbelten die Unither herum und rissen die Waffen hoch. Es war die Reaktion, die ich mir von den militärisch unerfahrenen Rüsselwesen erhofft hatte. Mit einem mächtigen Satz sprang ich den Unither vor mir an. Im letzten Moment schnellte sein Rüssel in Richtung seines Kombigürtels, aber er kam nicht mehr dazu, die Bewegung zu vollenden. Mit einem dumpfen Klatschen prallte mein Schirmfeld gegen den massigen Körper. Es war, als hätte man einen Betonblock gegen den Unither geschleudert. Mit einem jähen Trompeten sackte das Rüsselwesen unter mir weg. Der Weg war frei. Ich spurtete los. In Gedanken redete ich mir fieberhaft gut zu. Nein, sie würden mich nicht unter konzentrierten Beschuß nehmen, sie wollten mich nicht töten - hoffte ich zumindest. Ja, die muskulösen Unither konnten schneller rennen als ich, aber mein Antritt war schneller als der ihre, er mußte es sein, ich wog nicht einmal die Hälfte. Hinter mir hörte ich sich überschlagendes Zwitschern, dann schwere Schritte. Anfangs schienen die Unither hinter mir zurückzubleiben, aber schon wenige Augenblicke später begannen sie aufzuholen. Ohne mich umzudrehen schlug ich einen Haken und übersprang die niedrige Umzäunung eines Apartmentblocks. Dann beschleunigte ich wieder und rannte direkt in die Glassitfront des zu dem Garten gehörenden Apartments. Die Wucht des Aufpralls ließ das Material in zahllose Stücke zerspringen. Ein Aufschrei begrüßte mich, als meine Stiefel auf dem dicken Teppich des Apartments landeten. Ein älterer Arkonide stand in der Tür, die die Küche mit dem Wohnzimmer verband. Der kahlköpfige Mann sah mich aus weit aufgerissenen Augen an. Dann, als er die dunklen Schatten der Unither erblickte, die den Zaun zerstrahlten, ging sein Schrei in 77
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ein Röcheln über und er brach zusammen. Ich beachtete ihn nicht und hetzte zur Eingangstür des Apartments. Mit der Faust betätigte ich die Entriegelung und wartete quälend lange Sekunden, bis die zahlreichen Schlösser, mit denen der alte Mann sein kleines Reich gesichert hatte, zurückglitten und die Tür freigaben. Hinter mir donnerte die wuchtige Gestalt eines Verfolgers in das Apartment. Ich rannte weiter. Den Antigravschacht ignorierte ich und stürzte die Nottreppe hinauf. Meine ganze Hoffnung gründete sich auf die unüberschaubare Komplexität der Orbitalstadt. Die Raumstationen des Schemmenstern-Systems waren nicht auf dem Reißbrett der Planer entstanden. Sie waren organisch gewachsene Gebilde, zusammengefügt aus den Trümmern, die zum jeweiligen Zeitpunkt zur Hand waren. So auch der Apartmentblock: Der Grünstich des Metalls und die hohen Decken verrieten die maahksche Herkunft der Struktur. Hier mußte es Gänge, Verzweigungen und Windungen geben, die den strikten Regeln arkonidischer Gebrauchsarchitektur widersprachen, Produkte fremder Logik, die mir ein Entkommen ermöglichten. Ich behielt recht. Bereits im dritten Stock erwarteten mich statt rechteckig angeordneter in verschiedensten Winkeln gekrümmte Gänge, deren Verlauf nur wenige Meter einsehbar war. Nach Luft schnappend blieb ich kurz stehen, dann trieben mich die schweren Sehritte, die das Treppenhaus heraufhallten, weiter. Der Gang, den ich willkürlich ausgewählt hatte, folgte einem Schlingerkurs. In unregelmäßigen Abständen reihten sich fest verriegelte Türen und weitere Abzweigungen. Ich zählte bis sechs und bog ab. Meine Schritte verlangsamten sich. Der Kampf um ARKONS GLORIE, die mehrmalige Flucht mit den Unithern forderten ihren Tribut. Selbst die belebenden Impulse des Zellaktivatorchips konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß ich nicht mehr lange durchhalten würde. Ich verfluchte in Gedanken die Unither: Wieso hatten sie unbedingt mein Flugaggregat außer Gefecht setzen müssen? Doch meine Flucht schien erfolgreich. Wieder und wieder wechselte ich die Richtung, die schweren Schritte meiner vier Zentner schweren Verfolger waren bereits vor Minuten verklungen. Allerdings hatte ich selbst die Orientierung verloren. Das ist egal, meldete sich mein Extrasinn erleichtert. Hauptsache, du bist ihnen entkommen. Alles weitere wird sich finden, glaube mir. Es war das einzige Lob, das ich an diesem Tag von meinem Gedankenbruder erhalten sollte. Ich bog in einen Seitengang - es mußte bereits der zwanzigste oder dreißigste Abzweig sein, den ich nahm -, und meine Wahrnehmung tauchte in gleißendes Weiß. Nur die Helmfilter bewahrten mich davor zu erblinden. In meinen Ohren klingelte das laute Knallen von Überschlagsblitzen. Ich spürte, wie mich etwas zurückschob. Es war, als ob die stählerne Wand selbst in Bewegung geraten war und sich nun daran machte, mich gegen ihr Gegenstück zu drängen und zu zerquetschen. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Der Druck auf mich verstärkte sich noch. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und das Gleißen verschwand. Meine Augen machten den wuchtigen Umriß eines Unithers aus. Das Rüsselwesen hatte seinen eigenen Schirm solange gegen den meinen gedrückt, bis die Positroniken unserer Aggregate die Synchronisationsleistung nicht mehr hatten vollbringen können und die Energiebarrieren zusammengebrochen waren. »Wieso tust du das?« Die Zwitscherstimme des Unithers klang vorwurfsvoll und herablassend zugleich. Es war der Tonfall, in dem man ein ungezogenes Kind zurechtwies. »Wir bringen dich zu deinem Hradith. Hat Lathir dir das nicht gesagt?« Der Rüssel des stämmigen Wesens schnellte mit der Geschwindigkeit einer zupackenden Schlange vor. Einen Sekundenbruchteil später wirbelte mein Kombistrahler durch die Luft und landete scheppernd einige Meter entfernt. Sofort ringelte sich die Rüsselspitze um den Gürtel, der den Schirmgenerator beherbergte. Selbst durch das dicke 78
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Material des Kampfanzugs spürte ich, wie sich mächtige Muskeln anspannten, dann riß der Unither seine Extremität zurück. Ich wurde einen halben Meter in die Höhe geschleudert; das Synth-Material des Gürtels gab nach und zerriß. Ich fiel auf den Stahlboden zurück. Mein Atem stockte - nicht aber wegen meines harten Aufpralls, sondern weil mich die Erkenntnis traf, daß ich diesen Wesen nun unwiderruflich ausgeliefert war. Ohne Flugaggregat, ohne Schutzschirm und unbewaffnet würde jeder Versuch, auf mich allein gestellt aus dem System zu fliehen, den sicheren Tod bedeuten. Nur, was erwartete mich jetzt? Während die übrigen Unither sich um mich herum versammelten und erneut einen Konvoi bildeten, rasten meine Gedanken. Der Unither hatte von meinem Hradith gesprochen, zu dem sie mich bringen würden. Was konnte er damit meinen? Lathir war der Überzeugung gewesen, daß sein und mein Hradith miteinander verwoben waren. Aber Lathir war tot - er mußte es sein, kein einzelner konnte hoffen, dem Feuer einer Kompanie arkonidischer Elitesoldaten zu entkommen. Bedeutete das, daß mich auch der Tod erwartete? Verstohlen musterte ich meine Entführer, die mit mir in ihrer Mitte, wenn auch jetzt in gemäßigterem Tempo, erneut ihren Marsch aufgenommen hatten. Nein, entschied ich, ihre schnellen, präzisen Bewegungen waren die von Wesen, die genau wußten, was sie vorhatten, mehr nicht. In ihnen lag keine Drohung, mein Fluchtversuch schien sie nicht gegen mich aufgebracht zu haben. Aber was hatten sie vor? Vielleicht, keimte die aberwitzige Hoffnung in mir auf, brachten sie mich zu einem Raumschiff, damit nach Lathirs Tod wenigstens ich die Sterne wiedersah. Aber die Hoffnung verflog so schnell wie sie gekommen war, als ich das Vibrieren unter meinen Fußsohlen wahrnahm. Der Hinweis war eindeutig: Wir näherten uns den Reaktoren; Aggregaten, die selbst in der aberwitzigen Konstruktionen der Orbitalen Städte im Kern der Stationen lagen, von Hunderten Metern von Stahl vor feindlichen Treffern geschützt. Und gleichzeitig war es die Region, in der das Nest der Herde lag. Eine eigenartige Zuversicht erfaßte mich, als wir in die unmittelbare Nähe des Nests gelangten. Der würzige Duft unithischer Ausscheidungen war jetzt unverkennbar. Mit ihm stieg die Erinnerung an das Wahzkhira der Herde wieder in mir auf, beinahe glaubte ich, das Streicheln der Rüssel auf der Haut zu spüren. Ich hatte mich diesen Wesen einmal rückhaltlos geöffnet und war für würdig befunden worden. Was immer sie jetzt mir planten, ich würde mich auch diesem Ritual als würdig erweisen, davon war ich fest überzeugt. Wir gelangten an die Tür, die zur Vorkammer des Nests führte - und passierten sie. »Was soll das heißen?« rief ich, aus meinem kurzen Moment der Zuversicht gerissen. »Was habt ihr mit mir vor?« Drei Türen weiter hielt meine Eskorte an. Einer der Unither wandte sich an mich. Sein Rüssel schnellte herum und zeigte auf das schmucklose Schott vor mir. Die übrigen Unither formten einen Halbkreis, der mir nur einen Ausweg ließ. Ihre Gesten waren unmißverständlich. Wortlos drehte ich mich um und betätigte den Öffnungsmechanismus des Schotts. Angenehme Warme drang mir entgegen. Ein süßlicher, aber nicht unangenehmer Duft verdrängte die unithischen Ausscheidungen. Ich trat ein, gegen meinen Willen glitzerten Tränen der Aufregung in meinen Augen. Der Raum lag im Halbdunkel. Die einzige Lichtquelle war eine Trivideoübertragung in einer Ecke. Sie zeigte Männer in Kampfanzügen und brennende Gebäude, möglicherweise Aufnahmen von den Kämpfen im Schemmenstern-System. Der Ton war abgedreht. Vor der Trivideoprojektion lag eine Frau auf einem Sofa - eine Frau mit kurzem, schwarzem Haar. Sie hatte mich nicht bemerkt. Ein unsichtbare Hand schnürte mir die Kehle zu. Jetzt, endlich, verstand ich mein Hradith. Und ich Narr wäre ihm beinahe davongelaufen! Mit
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unendlicher Vorsicht machte ich zwei weitere Schritte in den Raum, die Tür hinter mir schloß sich lautlos. Ich zwang ein Flüstern hervor. »Tamarena?« Die Frau überhörte es nicht. Mit einer fließenden Bewegung schnellte sie von dem Sofa empor und wirbelte herum. »Tamarena, bist du das?« Ich starrte die Frau aus großen Augen an. Der Schlag meines Herzens dröhnte in meinen Ohren. Meine Augen sogen jedes Detail ein. Sie war immer noch so schlank wie an dem Tag, an dem ich sie kennengelernt hatte, auch wenn ihre weite Bluse und die locker sitzende Hose ihre hinreißende Figur verbargen. Einen kurzen Augenblick stockte mein streifender Blick, als ich die Handschuhe bemerkte, die ihre Hände bedeckten, dann aber wanderte er weiter, magisch angezogen von ihrem Gesicht. Ihr Haar war jetzt kurz und schwarz, nicht mehr platinblond und halblang wie früher, aber es umrahmte immer noch die schmalen, aristokratischen Züge der Frau, die ich zu lieben gelernt hatte. Die Narbe, die Trokks Hieb geschlagen hatte, war verschwunden. Und da waren ihre Augen: mandelförmig und hellrot - und sprühend vor Wut. »Du steckst also dahinter!« Ihre Stimme war schneidend und lieblos. »Was ... was meinst du damit?« Ich schalt mich selbst einen stotternden Narren, aber es half nichts. Wie oft hatte ich mir in den vergangenen Wochen unser Wiedersehen ausgemalt. Natürlich hatte etwas in mir darauf gehofft, daß sie schluchzend in meine Arme fallen würde und ich endlich das wiedergutmachen konnte, was ich ihr angetan hatte. Und natürlich war meinem nüchternen Selbst - und insbesondere meinem Gedankenbruder klar gewesen, daß mein Wunschtraum nicht in Erfüllung gehen konnte. Simple Logik sprach dagegen: Hätte sie sich in meine Obhut flüchten wollen, hätte sie einfach meine Schlafstätte aufsuchen müssen. Riaal hätte ihr den Zugangskode gegeben. Aber in all meinen Gedankenspielen war ich zumindest immer derjenige gewesen, der die Situation in der Hand hatte. Der Überlegene, der das Zusammentreffen arrangierte und ausgeruht und wohlvorbereitet dem anderen gegenübertrat. Nichts davon war Wirklichkeit geworden. »Du bist ein schlechter Schauspieler, Atlan«, zischte Tamarena. »Erst schickst du mir diese Horde stinkender Unither auf den Hals und läßt mich aus meinem Zuhause hierher zerren, und jetzt stolperst du herein und verlangst von mir allen Ernstes, daß ich dir glaube, daß du damit nichts zu tun hast! Denkst du, das Koma hätte mich den Verstand gekostet? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Menschen durch Zufall denselben Raum von TAI MEREN NOAS betreten?« Ich hob abwehrend die Hände. »Tamarena, du verstehst mich nicht. Ich wußte von nichts, ich bin so überrascht wie du. Sieh mich doch an!« Mit weit ausgebreiteten Armen deutete ich auf das, was von meinem Kampfanzug geblieben war. Ich machte einen Schritt nach vorn und sah ihr in die Augen. Sie sagte nichts. »Ich will dir doch nur helfen!« krächzte ich. Meine Mund war so ausgetrocknet, daß ich nur noch mit Mühe sprechen konnte. Ich hatte den Wasservorrat meines Anzugs schon während des Angriffs auf ARKONS GLORIE erschöpft. »Du willst mir helfen!« Tamarenas gesamter Körper schien zu erbeben. »Jetzt, wo es längst zu spät ist!« Sie schüttelte sich. »Wo warst du, als ich dich brauchte? Ich habe mein Leben für dich gegeben, hast du das schon vergessen? Trokks Streich hätte dich getroffen, hätte ich mich nicht dazwischengeworfen. 21 Jahre lang lag ich im Koma. Deinetwegen! Und als ich endlich erwachte, aus der Schattenwelt zurückkehrte, wo warst du da?« Sie machte einen Schritt auf mich zu. Unwillkürlich wich ich zurück. »Du lagst im Tiefschlaf«, fuhr sie in ihrer Anklage fort, »warst auf der Reise in deine Gegenwart, zu den Menschen, die wirklich für dich zählen - und weg von uns Gespenstern, die für dich ohnehin seit zehntausend Jahren zu Staub zerfallen sind.« »Das ist nicht wahr!« rief ich verletzt.
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»Ah ja? Wieso hast du dann nicht an meiner Seite gewacht? Für dich Unsterblichen sind hundert Jahre doch nur ein Tag. Hättest du nicht wenigstens einen Tag an meiner Seite wachen können?« »Ich hätte auch ein paar tausend gewacht. Aber alle Ärzte versicherten mir, es wäre sinnlos, du würdest nie wieder aus dem Koma erwachen. Bitte, du mußt mir glauben!« Ich sah ihr direkt in die vor Wut sprühenden Augen. »Und wenn du es nicht tust, dann lies meine Gedanken. Mein Monoschirm ist offen.« Ihre Augen weiteten sich. Die Wut verschwand, machte Platz für eine neue Emotion: alles beherrschenden Haß. Sie kam auf mich zu, die Hände drohend erhoben. Ich wich weiter zurück. »Was ist los? Was liest du in meinen Gedanken?« Sie sagte nichts. »Tamarena, antworte doch!« rief ich verwirrt. Was ging hier vor? Tamarena war Telepathin, sie mußte in meinen Gedanken lesen, daß ich sie nicht wissentlich im Stich gelassen hatte. Sie schwieg immer noch. Sie war bis auf drei Schritte heran. »Tamarena, was ist?« Die kalte Stahlwand drängte sich gegen meinen Rücken. Ich hob abwehrend die Arme. Die Finger meiner Linken krampften sich noch immer um den Quarz, den Lathir mir geschenkt hatte. Dann spürte ich ihre behandschuhten Finger um meinen Hals. »Was tust du da?« krächzte ich. »Lies doch meine Gedanken!« Einen Herzschlag lang hielt sie inne. »Das kann ich nicht«, flüsterte sie. Tränen standen in ihren haßerfüllten Augen. »Nicht seit dem Tag, als Trokks Schwert mich traf.« Ihre Finger schlossen sich um meine Kehle wie eiserne Klammern. Mein Aufschrei erstarb. Verzweifelt versuchte ich sie wegzudrücken, aber sie war stärker. Ihre Funken des Hasses sprühenden Augen wuchsen an, bis sie mein ganzes Sichtfeld beherrschten. Kleine, rote Punkte erschienen, dehnten sich aus und verdunkelten sich, wurden zu undurchdringlichem Schwarz.
Kapitel 17 Tato Rupiak kauerte die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und verfolgte das Ende der Welt. Seiner Welt. Das flackernde Licht der Holo-Projektion fiel auf die reglose Gestalt eines alten, gebrochenen Mannes. Der Kampfanzug Rupiaks war verschmiert und rußgeschwärzt, an der rechten Hüfte klebte ein großflächiger Verband über dem Loch und der tiefen Fleischwunde, die der Streifschuß eines Desintegrators gerissen hatte. Die Züge des Tatos, seine Schultern wirkten eingefallen. Es schien, als wäre die unerschöpfliche Energiequelle, die den Neunzigjährigen angetrieben hatte, für immer versiegt. Seit einer Viertelstunde kauerte er bereits reglos und starrte auf die Holo-Bilder, die sich wenige Schritte vor ihm abwechselten und den kleinen Lagerraum, in den er sich zurückgezogen hatte, in ihr unregelmäßiges Licht tauchten. Die Projektion war klein und unscharf, das Produkt einer provisorischen Schaltung überforderter Ausrüstung. Doch Rupiak kümmerte das nicht, er sah genug. Genug jedenfalls, um einem Winkel seines Bewußtseins klarzumachen, daß er sich einer erschreckenden Parodie seiner liebsten Beschäftigung hingab. Er spürte auch, daß er das Gerät besser abschalten oder den Blick abwenden sollte, aber er konnte es nicht.
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Wie viele Tontas hatte er in den Jahrzehnten seit seiner Erweckung damit verbracht, in den Bildern zu schwelgen, die von überallher aus dem Schemmenstern-System in sein Büro übertragen wurden? Er wußte es nicht. Er erinnerte sich nur noch an den Genuß, die sie ihm bereitet hatten, das überwältigende Gefühl, Dinge zu erschaffen, Bewegung in ungerechte Strukturen zu bringen, die seit dem Anbeginn des Tai Ark’Tussan als unverrückbar gegolten hatten. Er hatte sich aufgemacht, eine neue Welt ins Leben zu rufen. Jetzt wurde er Zeuge ihres Untergangs. Die Bilder, die ihn von den 265 Orbitalen Städten - drei von ihnen hatten sich im Verlauf der Kämpfe bereits in Glutbälle verwandelt - erreichten, waren unmißverständlich. Alle dreißig Sekunden wählte die positronische Steuerung zufällig eine andere Kamera aus - und alle dreißig Sekunden fröstelte er, als neue Bilder der Zerstörung ihn erreichten. Oft sah er nur beißenden Rauch, eine Tatsache, die ihm anfangs die Kehle zuschnürte. Bald war er aber dankbar für den gnädigen Schleier, den die Qualmwolken über die Verheerung legten, über die ausgeglühten Gebäude und leeren Fensterhöhlen, die verkrümmt daliegenden Opfer der Kämpfe. Auf anderen Orbitalen Städten waren die Kämpfe bereits vorüber, hatten sich die zahlenmäßig unterlegenen Garnisonen der Rupiaki dem Feind ergeben müssen. Von diesen erreichte Rupiak nur die aufgezeichnete Siegesrede Reomir X. Der Imperator feierte die »Wiederherstellung von Recht und Ordnung«, die Entfernung »des Usurpators, der das Schemmenstern-System zum Hort von Terroristen, religiösen Spinnern und unarkonidischen Abweichlern gemacht hat«, und forderte alle Bürger auf, »zum Wohle des Imperiums den Wiederaufbau zu unterstützen und die Verräter auszuliefern«. Rupiak nahm die Worte kaum wahr, ebensowenig wie das Beben und Donnern der Explosionen, die TAI MEREN NOAS in unregelmäßigen Abständen erschütterte. Das Porträt des Imperators hatte ihn in seinen Bann geschlagen. In dem aufgedunsenen, selbstgefälligen Gesicht erkannte er sich selbst wieder, den von Machtgier und Genußsucht zerfressenen Mann, der er selbst gewesen war, vor zwei Jahrzehnten, vor seiner wundersamen Verwandlung. Reomir X und ich, dachte Rupiak, wir hätten gute Freunde, ja Brüder werden können, hätte ich damals den Flug an den Hof Arkons mit angetreten. Aber das Schicksal wollte es anders. Die Pupillen des Tatos verengten sich. Forschend musterte er das Antlitz des Herrschers über Billionen intelligenter Lebewesen, versuchte sich vorzustellen, an der Seite dieses Mannes zu stehen, immer in der Angst, durch eine der zahllosen Intrigen des Kristallpalasts in Ungnade zu fallen. Er schüttelte langsam, aber bestimmt den Kopf. Nein, er bereute sein Schicksal nicht, die Raumnomaden hatten ihm die Augen dafür geöffnet, was wirklich im Leben zählte. Sie und Altao Ta-Camlo. Ta-Camlo ... der Name riß Rupiak aus der unnatürlichen Ruhe, die ihn beim Anblick Reomirs erfaßt hatte. Verräter hatte sein Erster Assistent den geheimnisvollen Arkoniden nach dem Kampf um ARKONS GLORIE genannt, aber der Tato gab nicht viel auf seine Worte. Nicht mehr. Semerion hatte der Anblick des Sterbens und Tötens an den Rand des Wahnsinns gebracht - kein Makel in den Augen des Tatos, sondern einer eine Tugend -, und Rupiak hatte ihn unter einem Vorwand zurückgelassen. Er würde Männer wie Semerion brauchen. Nach dem Krieg, falls sie ihn für sich entscheiden konnten, woran er immer mehr zweifelte. Ta-Camlo jedenfalls war nach dem Kampf verschwunden gewesen, und der Erste Assistent hatte behauptet, er hätte sich noch vor dem letzten, verlustreichen Angriff aus dem Staub gemacht, zusammen mit seinen Komplizen, einem Dutzend schwerbewaffneter Unither. Rupiak hatte nur schweigend genickt und die Sache auf sich beruhen lassen. Semerions Behauptung war einfach zu irrsinnig, um wahr zu sein. Bewaffnete Unither! In den Jahrzehnten seiner Regierung hatte der Tato ein Gefühl für die Mentalität der 82
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Rüsselwesen entwickelt. Er kannte sie als sanfte und friedfertige Wesen. Lediglich ihre merkwürdige Schicksalsbesessenheit trieb einzelne von ihnen ab und an zu aberwitzigen Taten. Doch die Waffen gegen andere zu richten? Das war unmöglich. Damit blieb Ta-Camlos Verschwinden ein ungelöstes Rätsel. Was hatte den Arkoniden dazu bewogen, so unverhofft ein zweites Mal in sein Leben zu platzen, nur um ebenso schnell wieder daraus zu verschwinden? Die Holo-Projektion vor ihm zeigte jetzt Orbitalstadt 96. Die berühmten hydroponischen Gärten der Zaliter, die Arbeit von Generationen, verbrannten zu rauchender Asche. Vielleicht mache ich mich nur etwas vor, dachte der Tato resigniert, vielleicht war sein Erscheinen, ja selbst meine Erweckung nur Zufall, aber weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, habe ich mir eingeredet, es wären Zeichen. Rupiak ruckte hoch. Es war genug. Den stechenden Schmerz, der durch seine müden, über die Gebühr strapazierten Muskeln raste, ignorierte er. Seine Hände ballten sich zu Fausten. Ohne auf die Holo-Projektion einen weiteren Blick zu verschwenden, stand er auf und verließ den Raum. Die gespannten Mienen von 18 Rupiaki erwarteten ihn, als er aus dem Nebenraum in die Lagerhalle im Händler-Quartier der Orbitalstadt betrat, in der sie ihr provisorisches Lager aufgeschlagen hatten. Die 18 Männer und Frauen waren alles, was nach wiederholten Zusammenstößen mit den Truppen des Imperators von seiner ursprünglich hundertköpfigen Abteilung übriggeblieben war. Die Restlichen waren tot, verletzt oder über die riesige Raumstation versprengt. Beim Anblick seiner Soldaten straffte sich Rupiaks Gestalt unwillkürlich. Nach jahrzehntelanger Regierung war ihm die Pose des charismatischen Anführers zur zweiten Haut geworden. Es war eine Rolle, die ihre beruhigende Wirkung noch nie verfehlt hatte. Doch diesmal wollte die Anspannung, ja Verzweiflung nicht aus den Mienen der Männer und Frauen weichen. Etwas mußte geschehen sein. Mit einigen schnellen Schritten war Rupiak bei dem ranghöchsten Offizier, der die Kämpfe überlebt hatte. »Redukal, wie steht die Lage?« Der Arkonide mittleren Alters zog wortlos eine tragbare Positronik hervor. Auf einen militärischen Gruß verzichtete er, der Tato hatte nie viel auf Formalien gegeben und nach dem, was sie in den letzten Stunden durchgemacht, lag den beiden Männern beinahe ein Du! auf den Lippen - eine fast unerhörte Vertrautheit nach den strengen Maßstäben der arkonidischen Etikette. »Ich wünschte, ich wüßte darauf eine einfache Antwort«, sagte der Offizier und aktivierte die Positronik. Auf dem handgroßen Flachdisplay erschienen lange Zahlenkolonnen. »Dann geben Sie mir eine komplizierte.« »Wie Sie wollen.« Redukals Finger huschten über das Display. »Fangen wir mit der Lage im Schemmenstern-System an. Die Imperiumsflotte hat einen Sperrgürtel um die Orbitalen Städte und die Monde Schemmens gelegt. Die Nahortung hat bislang über 5000 Einheiten erfaßt, die meisten davon schwere Kreuzer, aber auch einige hundert Schlachtkreuzer. Wie viele noch im Ortungsschatten Schemmensterns und in der weiteren Umgebung in Stellung gegangen sind, können wir nicht sagen. Unsere eigene Wachflotte hat sich, wie befohlen, ohne einzugreifen zurückgezogen.« Rupiak nickte zustimmend. Seine Wachflotte zählte weniger als 150, zumeist kleinere und ältere Einheiten. Es wäre ein Verbrechen gewesen, ihre Besatzungen in einem aussichtslosen Gefecht gegen die Imperiumsflotte zu opfern. »Wir hatten nichts anderes erwartet. Hat die Flotte bereits eingegriffen?« »Nein. Der Respekt vor den Abwehrgeschützen unserer Städte hält sie auf Abstand.«
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Oder sie sind sich ihres Sieges sicher und sehen keinen Grund, einen Teil ihrer Beute zu zerstören, dachte Rupiak, sprach den Gedanken aber nicht aus. »Und wie sieht es auf den Städten aus?« Mit ernster Stimme antwortete der Offizier: »Vier von ihnen sind zerstört, die Orbitalen Städte 23, 97 ...« »Vier? Sie irren sich«, entfuhr es Rupiak. »Es waren nur drei, als ich ...« Das traurige Kopfschütteln Redukals ließ ihn abbrechen. »Vor wenigen Minuten ist Orbitalstadt 231 detoniert«, sagte der Offizier tonlos. »Wir gehen davon aus, daß bei den Kämpfen der Hauptreaktor getroffen wurde.« Einige Sekunden lang schwiegen die beiden Männer. Über einhunderttausend Wesen hatten auf der explodierten Raumstation gelebt. »Was ist mit den übrigen Städten?« »Sind zum großen Teil noch umkämpft.« Redukal deutete auf das Display der Positronik. »34 sind bereits in der Hand der Imperiumstruppen, aber das ist kein Grund zu übermäßiger Beunruhigung - es sind fast ausschließlich kleinere Städte, die wir von vornherein abgeschrieben hatten; Auf 168 Städten - unter anderem auch hier, auf TAI MEREN NOAS - sind die Gefechte noch in vollem Gange, auf den übrigen 62 konnten wir die Imperiumstruppen ausschalten.« »Dann gewinnen wir?« erkundigte sich Rupiak hoffnungsvoll. Redukal zuckte die Achseln. Er schien den Enthusiasmus des Tato nicht zu teilen. »Zumindest scheint unsere Strategie Früchte zu tragen«, antwortete er vorsichtig. »Es spricht sich bei den Imperiumstruppen herum, daß wir, wo immer möglich, Gefangene machen. Nur die wenigsten ihrer Soldaten sind heldenhaft oder verblendet genug, bis zum letzten zu kämpfen, solange sie wissen, daß ihnen eine Kapitulation das Leben rettet. Immer mehr von ihnen geben auf - aber ich fürchte, das wird nicht mehr lange so bleiben.« »Wie kommen Sie darauf?«, fragte Rupiak. »Halten Sie die Elitesoldaten des Imperators für so dumm, daß sie auf ein direktes Eingreifen der Flotte hoffen? Sie müssen doch wissen, daß, selbst wenn sie das täte, sie in jedem Fall zu spät käme, um sie zu retten.« Redukal schüttelte den Kopf. »Es ist wegen Semerion.« »Semerion?« entgegnete der Tato verwirrt. Was konnte sein unter Schock stehender Erster Assistent mit der Bereitschaft ihres Gegners, sich zu ergeben, zu tun haben? »Was meinen Sie damit?« »Das hier kam herein, während sie nebenan waren«, antwortete der Offizier tonlos. Seine huschenden Finger wechselten das Menü. Eine blecherne Stimme drang aus dem einfachen Lautsprecher der tragbaren Positronik, aber Rupiak erkannte sie dennoch. Es war die Stimme Semerions und Semerion befahl in seinem Namen die Öffnung der Waffenkammern. Nein, das darf nicht sein! schrie Rupiak in Gedanken auf. Die Tsuaristen werden sich auf die Waffen stürzen. Sie werden keine Gnade kennen. Und sobald die Soldaten des Imperators bemerken, daß für sie keine Kapitulation mehr in Frage kommt, werden sie bis zum äußersten kämpfen. »Bei allen Sternengöttern!« stieß Rupiak hervor. »Semerion muß durchgedreht sein, er hätte sonst nie meinen Willen mißachtet! Widerrufen Sie sofort seinen Befehl, Redukal, vielleicht ist es noch nicht zu spät.« »Das habe ich bereits versucht«, antwortete der Offizier. »Versucht? Was soll das heißen?« »Semerion hatte ihren persönlichen Kode, nur deshalb war er in der Lage, einen autorisierten Befehl zu senden.« Redukal schwieg vielsagend. »Ja natürlich«, bestätigte der Tato ungeduldig, »er braucht ihn, um in meinem Namen Amtsgeschäfte führen zu können. Und?« 84
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»Er hat den Kode unmittelbar nach Sendung des Befehls geändert. Er allein kann jetzt autorisierte Befehle geben.« Diesmal verstand Rupiak auf der Stelle. Die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines elektrischen Schlags: Wir haben verloren! Meine Garde ist zu schwach, um einen zu allem entschlossenen Gegner zu überwältigen. Und die Tsuaristen treibt nur der Haß, sie werden ohne Rücksicht auf Verluste gegen die Soldaten des Imperators anrennen, aber sie werden nicht bestehen können. Sie werden uns alle mit in den Untergang reißen, Orbitalstadt 231 war nur der Anfang! Rupiak taumelte. Lediglich Redukals schnellem Griff unter seine Achseln war es zu verdanken, daß der Tato nicht das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Jetzt verstand er die niedergeschlagenen Mienen der Männer und Frauen. Sie alle hatten Semerions Befehl gehört, während er mit desaktiviertem Funkgerät im Nebenraum gesessen und sich dem Panorama der Zerstörungen hingegeben hatte. Und jetzt blickten sie zu ihm in der Hoffnung auf Rettung. Er durfte sie nicht im Stich lassen. Der Tato straffte sich und bedeutete Redukal, daß er seine Stütze nicht mehr benötigte. »Redukal, haben Sie das Gerät für eine herkömmliche Holo-Übertragung?« Der Offizier nickte. »Ja, schon. Aber ...« »Dann kommen Sie mit.« Rupiaks Ton ließ keinen Widerspruch zu. Redukal folgte dem Tato in den Nebenraum der Lagerhalle. »Wie lange brauchen Sie, bis wir sendebereit sind?« »Etwa fünf Minuten«, antwortete der Offizier sichtlich verwirrt. »Gut, tun Sie alles Nötige.« Rupiak sank auf den Boden, verschränkte die Beine zum Schneidersitz und schloß die Augen. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Jedes seiner Worte würde auf allen Städten und Monden des Schemmenstern-Systems empfangen werden, würde für Freund und Feind gleichermaßen unverschlüsselt sein. Seine Befehle würden aber nicht durch den persönlichen Kode des Tato legitimiert sein und alles, was ihm blieb, war die inbrünstige Hoffnung, daß die Autorität seines überall bekannten Gesichts die Gardisten und Bürger davon überzeugte, eine authentische Botschaft zu hören. Es war seine einzige Chance, den Tod von Millionen zu verhindern. »Tato?« Die Stimme Redukals schien aus weiter Ferne zu kommen. »Wir sind soweit.« Rupiak zwang sich aufzustehen. Unvermittelt spürte er die Last seiner Jahre. Mit 90 hatte er noch nicht das Ende der biologischen Lebensspanne von Arkoniden erreicht, aber er war zu alt dafür, selbst an der Seite seiner Garde ins Feld zu ziehen. Bloße Willenskraft hatte ihn bis jetzt durchhalten lassen - und bloße Willenskraft würde es ihm jetzt erlauben, seine letzte Ansprache als Tato zu halten. Er strich sich über den Kampfanzug, kämmte mit den Fingern der linken Hand durch sein wirres Haar und räusperte sich. Dann gab er Redukal das Zeichen, das Funkgerät zu aktivieren. »Meine treue Garde, Bürger der Orbitalen Städte, hier spricht Tato Rupiak. Die Stunde der Entscheidung ist gekommen. Der korrupte Imperator ist angetreten, uns unseren hart erarbeiteten Wohlstand und unsere Freiheit zu entreißen. In dieser Stunde haben seine Truppen überall in den Städten zu den Waffen gegriffen, um mit brutaler Gewalt zu erreichen, was ihm durch Drohungen und Einschüchterungen nicht vergönnt war.« Rupiak schwieg einige Augenblicke. Das bisher Gesagte war nur die Einleitung gewesen, nur eine Feststellung dessen, was keinem Bewohner der Orbitalen Städte entgangen sein konnte. Die eigentliche rhetorische Klippe lag noch vor ihm. »Furchtbare Verbrechen sind bereits begangen worden. Verbrechen, die in vielen von uns den Durst nach Rache geweckt haben. Verbrechen, die über das hinausgingen, was die Psyche verarbeiten kann. Verbrechen, die einen Menschen den Verstand kosten können.« Rupiak sog die abgestandene Luft des Lagerraums tief in seine Lungen. Es roch nach Schmieröl. »Mein Erster Assistent Semerion ist ein solcher Mensch. Sein in meinem 85
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Namen verkündeter Aufruf an alle Bürger, sich zu bewaffnen und die Soldaten des Imperators auszumerzen, ist ein Produkt seines Wahns. Niemals würde ich es zulassen, daß wir uns auf dieselbe Stufe wie der Feind stellten.« Rupiak hob beschwörend die Arme. »Deshalb appelliere ich an alle Bürger, die sich Waffen angeeignet haben, diese niederzulegen, oder zumindest wie meine Gardisten die Feinde nicht zu töten, sondern gefangenzunehmen. Und meinen Gardisten rufe ich zu: Laßt den Mut nicht sinken, für euch alle wird ein neuer Morgen anbrechen!« Mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung wies Rupiak dem Offizier an, die Übertragung abzubrechen. Als der Tato seinen Blick von der winzigen Kamera vor ihm abwandte und in das anerkennend lächelnde Gesicht Redukals blickte, wußte er, daß sein Unterfangen gelungen war: Er hatte die Bereitschaft der feindlichen Soldaten, sich zu ergeben, gestärkt - und unbemerkt den Rückzugsbefehl für seine eigenen Truppen gegeben.
Kapitel 18 Große, tränenerfüllte Augen - meine erste Wahrnehmung glich meiner letzten, bevor die Nacht über mich hereingebrochen war, nur daß in den Augen nicht Haß glitzerte, sondern Sorge. Mein Hals schien eine einzige Insel pulsierenden Schmerzes. In meinem Rücken spürte ich den warmer, weichen Stoff der Liege. Tamarena saß neben mir, ohne mich zu berühren, und beugte sich über mich. Ihr Duft stieg mir in die Nase, war zugleich vertraut und doch fremd. Er schien mir schwerer, herber. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. In der Erinnerung ist der Duft einer Geliebten immer süß. »Es tut mir leid, Atlan«, sagte Tamarena. »Ich habe dir Unrecht getan.« »Wieso ...« Aus meinem ausgedörrten Mund kam nur ein klägliches Krächzen. Tamarena bedeutete mir mit einer Geste ihrer behandschuhten Hand, mich nicht weiter zu mühen. Sie stand auf und kehrte einige Augenblicke später mit einer Wasserflasche zurück. »Wieso lebe ich noch? Das willst du doch fragen, oder?« Sie reichte mir die Flasche. Das Wasser schmeckte schal und abgestanden, aber trotzdem leerte ich die Flasche in wenigen Zügen. »Ja«, sagte ich und nickte gleichzeitig. Meine Stimme glich immer noch einem besseren Flüstern. Tamarena lächelte. »Deshalb.« Sie öffnete ihre zur Faust geballte Rechte. In der Handfläche lag ein karmesinrot glänzender Edelstein oder Kristall. Verwirrt starrte ich den Stein einige Augenblicke lang, dann verstand ich. Der Schliff war unverkennbar. »Lathirs Quarz!« rief ich und wollte hochschnellen, aber Tamarena drückte mich mit dem linken Arm zurück. »Ich weiß nicht, wer dieser Lathir ist«, sagte sie achselzuckend, »aber du solltest dich bei ihm bedanken. Du schuldest ihm dein Leben.« Ich sagte nichts. Was hätte ich darauf auch antworten können? »Ich wollte dich töten, Atlan«, fuhr Tamarena fort, »Dafür, daß du mein Leben verpfuscht und dich dann aus dem Staub gemacht hast. Und ich hätte es getan, wenn nicht dieser Stein gewesen wäre.« Tränen der Erregung liefen über ihre Wangen und tropften auf meinen mitgenommenen Kampfanzug. »Du hattest ihn in der Hand, als du versucht hast, mich wegzustoßen. Ich wußte nicht, was es war, ich spürte nur etwas Hartes gegen mein
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Schulterblatt drücken. Aber ich beachtete es nicht, deine Muskeln erlahmten bereits. Und dann geschah es plötzlich.« Tamarenas Stimme geriet ins Stocken. »Du kannst nicht ermessen, was es für mich bedeutet hat, meine telepathischen Fähigkeiten verloren zu haben. Als ich aus dem Koma erwachte, war ich unendlich allein, das vertraute Flüstern in meinem Kopf war verschwunden. Ich fühlte mich hilflos, verkrüppelt. Aber dieser Stein«, ihr Daumen strich zärtlich über seine polierte Oberfläche, »gab mir meine Gabe zurück. Nur für wenige Sekunden - aber das genügte, um zu erkennen, daß du nach bestem Gewissen gehandelt hast. Du gingst erst in den Tiefschlaf, als du alle Hoffnung für mich aufgegeben hattest. Du hast mich nicht verraten.« Ich starrte sie mit offenem Mund an. Lathirs Worte hallten durch meine Gedanken. Du mußt noch etwas abschließen, hatte er gesagt und mir den Quarz geschenkt. Jetzt verstand ich. Er und seine Artgenossen waren Meister in der Bearbeitung der fünfdimensionalen Quarze, die auf den Monden Schemmens geschürft wurden. Die arkonidische Technik war auf sie angewiesen, ohne daß sie ihre Wirkungsweise zur Gänze verstanden hätte. Ob durch Zufall oder durch eine Mutation war ungewiß, aber die Unither in den Orbitalen Städten spürten die Schwingungen der Quarze. Lathir konnte die Wirkung des Steins nicht verborgen geblieben sein. Er hatte meine Begegnung mit Tamarena in dem Wissen eingefädelt, daß ich niemals freiwillig das System verlassen würde, ohne sie gefunden zu haben. Ich hatte den jungen Unither unterschätzt. Er hatte mich viel besser durchschaut, als ich je hatte ahnen können. Aber wieso ... Tamarenas Stimme riß mich wieder zurück in die Gegenwart. »Atlan, was ist mit dir?« »Lathir«, sagte ich knapp. »Ich habe ihm gedankt - wie du es gesagt hast.« Ich sah in ihre mandelförmigen Augen. Der Tränenfluß war versiegt. Verblüfft stellte ich fest, daß Tamarena kaum gealtert erschien. Ihre Züge waren so makellos, so perfekt, wie ich sie in Erinnerung hatte. Selbst um ihre Augenwinkel zeigte sich nicht der geringste Anflug von Fältchen. Es war immer noch das Gesicht einer neunundzwanzigjährigen Prinzessin, nicht das einer Frau Anfang Fünfzig, die in den letzten Wochen Qualen erduldet haben mußte, die ich nicht einmal erahnen konnte. »Tamarena«, ich richtete den Oberkörper auf, diesmal stoppte mich ihre Hand nicht, »sag mir, was geschehen ist. Was machst du hier im Schemmenstern-System? Wieso bist du von Traversan geflohen?« Tamarena versteifte sich. Für einen kurzen Moment glaubte ich, daß sie aufspringen und wieder fliehen würde, dann schöpfte sie Atem und sagte tonlos: »Ich mußte es tun.« »Das verstehe ich nicht«, entgegnete ich. »Traversan ist dein Zuhause, du bist die Schwester des regierenden Nerts, du hättest nirgendwo bessere Bedingungen gehabt, dein Leben wiederaufzunehmen. Du hättest mich aus dem Tiefschlaf wecken können, ich hätte mit Freuden ...« »Dich aus dem Tiefschlaf wecken?« Ein Splitter der Wut kehrte in Tamarenas Blick zurück. »Hast du mir nicht zugehört, Atlan? Ich habe dich gehaßt, weil ich glaubte, daß du mich im Stich gelassen hast. Du warst der letzte, den ich um Hilfe gebeten hätte!« Sei vorsichtig, Arkonide, mahnte mein Gedankenbruder. Du weißt nicht, was sie mitgemacht hat. Ein falsches Wort könnte ihre Ausgeglichenheit davonwischen ... »Schon gut, schon gut«, lenkte ich ein. »Aber was ist mit den anderen, mit deinen Freunden, deiner Familie? Ich bin nicht der einzige, dem du viel bedeutet hast. Dein Bruder Irakhem liebt dich noch immer, die Sorge um dich raubt ihm beinahe den Verstand.« »Irakhem«, zischte Tamarena und strich sich angewidert über die Oberschenkel, »du ahnst nicht, wie wahr deine Worte sind. Er ist es, vor dem ich geflohen bin.«
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»Aber ich habe selbst mit ihm gesprochen.« In meinem photographischen Gedächtnis stieg das Bild seiner vor Zorn auf mich verzerrten Züge auf. »Er würde dir niemals etwas antun.« Tamarena schüttelte den Kopf. »Niemand kann grausamer zu dir sein als der, der dich liebt. Ich dachte, ein Unsterblicher wüßte das.« Sie wandte sich ab und starrte gegen die nackte Metallwand. »Irakhem hat es nie verwunden, daß ich im Koma lag. Es ist einsam auf dem Thron, er wollte mich zurück, seine perfekte, atemberaubend schöne Schwester. Mein Koma war für ihn ein fortgesetzter Affront: Da war er, noch keine 25 und bereits Herrscher über einen gesamten Planeten. Jede seiner Entscheidungen betraf das Leben von Millionen Menschen, Hunderttausende von Soldaten gehorchten seinen Befehlen, doch gegen mein Koma war er machtlos. Er ließ eine Kammer seiner Privatgemächer zu einer leistungsfähigen Medo-Station umbauen und mich dorthin bringen. Jahrelang wachte er über mich, ließ nichts unversucht, scheute keine Mühe und Ausgabe, um mich zurück ins Leben zu holen.« Ich schwieg. Irakhem hatte genauso gehandelt, wie Tamarena es von mir erwartet hatte. Er hatte über sie gewacht. Hatte vielleicht ihr Verstand gelitten? »Doch seine Anstrengungen blieben vergeblich. Über die Jahre verwandelte sich seine Hingabe in Besessenheit. Nachdem er die Mittel der herkömmlichen Medizin ausgeschöpft hatte, griff er nach jedem Strohhalm, der sich ihm bot. Medizinmänner, selbsternannte Wunderheiler, die Mediziner exotischster Fremdrassen drängten sich an meinem Bett. Aber mein Koma ließ sich immer noch nicht brechen. Schließlich verstieg er sich in seiner Verzweiflung dazu, selbst Hand anzulegen.« Tamarena erschauerte. »Mit Erfolg?« fragte ich. Tamarena zuckte die Achseln. »Wer kann das wissen? Irakhem glaubte natürlich, daß mein Erwachen nur seinen Bemühungen zuzuschreiben war. Und in gewisser Weise könnte er sogar recht haben: Vielleicht hatte mein Körper einfach genug von den fortgesetzten Mißhandlungen. Vielleicht stieß Irakhem durch Zufall irgendwelche biochemischen Prozesse in mir an, die er nicht verstand. Oder vielleicht hatten sich auch einfach die Sternengötter meiner erinnert und mir ihre Gnade geschenkt - zumindest war es das, an was ich in meiner ersten Euphorie felsenfest glaubte.« Sie wandte den Kopf. Die Härte, die in ihre Augen getreten war, ließ mich frösteln. »Aber das hielt nicht lange an. Ich erfuhr, daß du dich in den Tiefschlaf begeben hattest, um auf diese Weise in deine Gegenwart zurückzukehren. Meine telepathische Gabe war verschwunden, hatte sich irgendwann in den zwei Jahrzehnten meines Komas verflüchtigt. Ich fühlte mich verlassen, eine Fremde in meiner eigenen Welt. Trotzdem hätte ich durchgehalten, ich weiß es. Doch dann kam Irakhem.« Meine Hände ballten sich zu Fäusten. »Was hat er dir angetan? Was?« Das letzte Wort brüllte ich beinahe. Der Gedanke an die Leiden, die sie für den Versuch, mir das Leben zu retten, zu erdulden hatte, war mir unerträglich. Irgendein Teil von mir dürstete danach, einen anderen Schuldigen als mich selbst zu finden. »Seine Freude über mein Erwachen war ebenfalls nur von kurzer Dauer«, berichtete Tamarena. »Er hatte sich die junge, intelligente, energische Frau zurückgewünscht, die ich vor dem Koma gewesen war. Die Prinzessin, die auf der Kommandobrücke eines Schlachtschiffs ebenso zu Hause war wie beim Ball der Tausend Fünfflügler des traversanischen Hochadels. Und mehr noch: Über die Jahre hatte er das Bild seiner geliebten Schwester idealisiert, sie zu einer Heiligen ohne Makel stilisiert. Es war ein Bild, dem ich niemals hätte genügen können.« Ich starrte Tamarena an. Jetzt erst ging mir auf, was mich an ihrer Erscheinung befremdete. Es waren nicht die oberflächlichen Veränderungen der Haarfarbe oder das Fehlen der Narbe an ihrem Kopf. Es war auch nicht die Tatsache, daß sie keinen Tag 88
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gealtert schien; das hatte ich bereits bei unserer ersten, zufälligen Begegnung im MedoQuartier festgestellt. Nein, jetzt, wo ich ihr direkt gegenübersaß, registrierte ich, daß sie verjüngt schien. Ihre Züge waren bar jeder Falten, ihre Haut war zart und straff wie die eines Kindes. »Aber ... aber Rena«, unbewußt benutzte ich ihren Kosenamen, »sieh doch in den Spiegel. Du irrst dich. Du bist noch schöner, als du in meiner Erinnerung warst.« Sie versteifte sich. »Glaubst du das?« Mit einer merkwürdig ungelenken Bewegung erhob sie sich von dem Sofa und baute sich vor mir auf. Ihr Körper bebte. »Glaubst du das wirklich? Dann sieh dir das hier an.« Ihre Rechte zog langsam den Handschuh von der linken Hand. Schlaff herabhängende, von Altersflecken übersäte Haut kam zum Vorschein. Sie zog weiter und entblößte dürre Finger. Metallisch glänzende Streifen liefen von den Fingernägeln bis zum Handrücken, wo sie sich zu einem breiteren Band vereinigten, das unter dem Stoff ihres Ärmels verschwand. Ein erstickter Schrei drang aus meiner Kehle. Ein Teil von mir wußte, was dieses metallische Schimmern bedeutete, es war die einzige Rettung von zu vielen im Einsatz schwer verwundeten USO-Agenten gewesen. Ein anderer Teil von mir schob die Erkenntnis weg, wollte nicht akzeptieren, was meine eigenen Sinne wahrnahmen. Der letztere gewann. »Tamarena, bitte tu das nicht!« flehte ich. Sie beachtete mich nicht. Inzwischen hatte der zweite Handschuh eine weitere, grotesk gealterte Hand freigegeben. Ihre Spinnenfinger legten sich auf den Magnetsaum ihrer hochgeschlossenen Bluse. Einen kurzen Moment hielt sie inne, als ob die Wucht, mit der mich die Erkenntnis traf, sie noch einmal ihre Handlung überdenken ließ, dann rissen ihre Finger den Saum auseinander. Ich blickte in das Antlitz der Entbehrung und des Mißbrauchs. Die Jahrzehnte des Komas und die Vielzahl der medizinischen Experimente, die ihr Bruder Irakhem in seiner fanatischen Hingabe hatte durchführen lassen, hatten nur die Ruine eines Körpers hinterlassen - eine Ruine, die ohne die Hilfe eines Exo-Skeletts nicht mehr lebensfähig schien. Kaltes Metall bedeckte große Teile ihres Körpers, übernahm die stützende Funktion ihrer degenerierten Wirbelsäule, schaltete an Stelle der atrophierten Muskeln. Zugegeben, das Exo-Skelett war ein Wunderwerk der arkonidischen Technik. Sein Geflecht aus verschiedensten Legierungen, Schirmfeldern und über die ganzen Struktur verteilten, redundanten Steuerpositroniken schränkte seinen Träger in körperlicher Hinsicht nicht ein - im Gegenteil, der pochende Schmerz an meinem Hals ließ mich unmöglich vergessen, wie stark das Exo-Skelett Tamarena gemacht hatte. Doch die seelischen Konsequenzen standen auf einem anderen Blatt ... »Verstehst du nun, wieso ich fliehen mußte?« Ihre Stimme war sanft. Meine sichtliche Erschütterung hatte ihren Zorn verrauchen lassen. Ich nickte nur, unfähig zu sprechen. »Irakhem hat mir diese Krücke herstellen lassen. Sie allein hat ein Vermögen gekostet. Aber damit war er noch lange nicht zufrieden. O nein.« Sie kniete vor mir nieder und nahm meine Hand. Die Berührung war anders als erwartet, nicht kalt und metallisch, sondern warm und menschlich. Mit geschlossenen Augen hätte ich das Metall des Exo-Skeletts nicht registriert. Dann berührten meine Finger Tamarenas Wange - und wären zurückgezuckt, hätte mich nicht ihr Griff zurückgehalten. Ich spürte Kälte. Kälte und die gummiartige Oberfläche von Synth-Material. Meine Augen weiteten sich. »Du verstehst, nicht?« Tamarena entließ meine Hand. »Irakhem konnte den Anblick meines verbrauchten Körpers nicht ertragen. Also machte er sich daran, die Realität seiner Wunschvorstellung anzupassen. Er fing mit meinem Gesicht an. Was du siehst, ist nur provisorisch, eine Maske, die ich ohne fremde Hilfe nicht entfernen kann.« Tamarena hatte recht. Ich verstand. Ich verstand Irakhems verzweifelte Beteuerungen gegenüber Riaal. Aber wir waren doch noch nicht fertig, hatte er ihr schluchzend 89
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vorgejammert. Ich verstand seine aggressive Reaktion auf mein Erscheinen. Sie war nichts anderes gewesen, als das Wissen um die Schuld, die er auf sich geladen hatte, ein verzweifeltes Umsichschlagen. Und ich verstand Tamarena. Ihr war keine andere Möglichkeit als die Flucht geblieben, um nicht von ihrem eigenen Bruder in eine lebende Puppe transformiert zu werden. Ich nickte. »Wie ist dir die Flucht gelungen?« »Das war leichter als gedacht«, sagte sie und schloß den Saum ihrer Bluse. »Irakhem rechnete nicht im Traum damit, daß ich ihm weglaufen könnte. Tat er nicht alles für seine geliebte Schwester? Ich brauchte einige Tage, um das ganze Ausmaß seiner Besessenheit zu erkennen, und einige weitere Tage, um das Exo-Skelett ausreichend zu beherrschen. Dann schlich ich mich davon - ein Kinderspiel mit einer positronisch gesteuerten Krücke, die dir erlaubt, senkrechte Wände herunterzuklettern und mehrere Meter breite Gräben zu überspringen.« Tamarena hielt kurz inne und beschäftigte sich einige Sekunden lang damit, die Handschuhe überzuziehen. Dann fuhr sie fort: »Der schwierige Teil kam, nachdem ich den Palast hinter mir gelassen hatte. Mir war klar, daß ich Traversan schnellstens verlassen mußte. Irakhem ist ein starker Herrscher; ein Mann, der bis in den letzten Winkels seines Planeten hineinregiert. Ich hätte mich auf Traversan nicht lange vor ihm verbergen können. Mit Hilfe einiger Juwelen, die ich dem Palastschatz entwendet hatte, verschaffte ich mir eine neue Identität und ein Ticket.« »Ins Schemmenstern-System und damit in das Herrschaftsgebiet Tato Rupiaks«, ergänzte ich. »Genau«, bestätigte Tamarena. »Es gab keinen besseren Fluchtpunkt für mich als die Orbitalen Städte. Hier finden sich die besten medizinischen Spezialisten im Umkreis von vielen hundert Lichtjahren - nicht umsonst ließ Irakhem mein Exo-Skelett für den Tag, an dem ich wieder aus dem Koma erwachte, hier im Medo-Quartier von TAI MEREN NOAS anfertigen - und dazu hatte ich beste Chancen unterzutauchen: Millionen strömen zu den Orbitalen Städten Rupiaks, um die Freiheit zu finden. Niemand fragt dich hier, woher du kommst oder was du bist.« Ich erhob mich und ging mit fahrigen, kurzen Schritten auf und ab. Ich hatte mir zusammengereimt, daß Tamarena Schlimmes widerfahren sein mußte, sonst wäre sie nicht von Traversan geflohen. Die Tamarena, die ich kannte, war eine Kämpferin, die nur dann aufgab, wenn sie alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hatte. Doch das wahre Ausmaß ihrer Leiden hatte außerhalb meines Vorstellungsvermögens gelegen. Und ich hatte sie im Stich gelassen. Das Gefühl der Schuld brannte immer noch in mir, obwohl Tamarena meine Gedanken gelesen und mir verziehen hatte. Ich hatte nicht anders handeln können, als ich es getan hatte. Das sagte mir mein Verstand, verkörpert durch das Flüstern meines Gedankenbruders. Doch mein Gefühl sagte mir etwas anderes: Ich war es, der Tamarena zu dem Wesen gemacht hatte, das vor mir stand, dieser vorzeitig gealterten Frau, die nur noch die Krücken arkonidischer Technik aufrecht hielten. Ich war für sie verantwortlich und würde es immer sein. »Tamarena?« Ich hielt zwei Schritte vor ihr an. »Ich will, daß du mit mir kommst.« Sie bedachte mich mit einem skeptischen Blick. »Mit dir? Wohin ist das?« »In meine Zeit, meine Gegenwart.« Ich wollte auf sie zutreten, die Distanz zwischen uns verkürzen und ihre Hände in die meinen nehmen, aber irgend etwas in ihrer Haltung hielt mich zurück. »Ich hätte es von Anfang an tun sollen«, fuhr ich hastig fort. »Die Medizin meiner Zeit ist weit fortgeschritten, kann Dinge bewirken, die dir wie pure Magie erscheinen würden. Komm mit mir, und die besten Spezialisten werden sich deiner annehmen. Innerhalb kürzester Zeit wirst du die Fesseln dieses Exo-Skeletts abschütteln können. Unsere Mediziner werden dich wieder zu der machen, die du einmal warst, das verspreche ich dir.«
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Tamarena sah mich nur an. Was war mit ihr? Ich bot ihr die Rettung an. Eigentlich sollte sie vor Freude jauchzend auf mein Angebot eingehen. »Es stimmt, ich hätte dich gleich, nachdem du ins Koma gefallen warst, mit in meine Tiefschlafkammer nehmen können«, sagte ich beschwichtigend. Ihr Schweigen mußte ein letztes Aufflackern ihrer Wut sein. »Aber ich befürchtete, daß ich dir damit einen schlechten Dienst erweisen würde. Du wärst eine Fremde in einer fremden Welt gewesen, unwiederbringlich gestrandet in einer Zeit, unendlich weit weg von deiner eigenen. Deine Freunde und deine Familie wären seit Jahrtausenden zu Asche zerfallen gewesen. Ich wollte dir das nicht antun. Aber jetzt ... Jetzt ist alles anders. Komm mit mir, Tamarena.« Sie schwieg immer noch. Ihre Augen weiteten sich fast unmerklich. Sollte dort noch Wut geflackert haben, erlosch sie jetzt und machte einer neuen Empfindung Platz: Mitleid. »Atlan, fast könnte ich glauben, daß du nicht besser bist als Irakhem«, sagte sie. »Du solltest dich hören. Unsere Mediziner werden dich wieder zu der machen, die du einmal warst. Willst du es nicht verstehen? Eben deshalb mußte ich ja fliehen. Ich bin nicht mehr die Tamarena, die du liebst. Wir können nicht einfach so tun, als wenn nichts geschehen wäre. Weder in meiner Zeit, noch in deiner, noch in irgendeiner anderen. Es gibt kein Zurück.« »Das ... das ist nicht wahr«, keuchte ich. »Wir ...« »Doch, das ist es«, unterbrach mich Tamarena in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Und du weißt es so gut wie ich. Ich bin in die Orbitalen Städte gekommen, um ein neues Leben anzufangen, um zu vergessen, was hinter mir liegt. Das ist meine einzige Chance.« Tamarena machte einen Schritt zurück. »Es tut mir leid, Atlan. Ich kann nicht bei dir bleiben, ich wäre immer nur ein Schatten meiner Selbst. Leb wohl.« Sie drehte sich um und lief zur Tür. Ich stolperte hinterher, mir wohlbewußt, daß ich ihrem vom Exo-Skelett beschleunigten Schritten nichts entgegenzusetzen hatte. »Nein, lauf nicht weg. Bitte!« rief ich. An der Tür angekommen, wandte sie sich noch einmal um. »Ich laufe nicht weg, Atlan. Ich tue nur, was ich tun muß.« Sie zögerte kurz und flüsterte kaum hörbar: »Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.« Dann verschwand sie durch die Tür. Gegen alle Vernunft rannte ich ihr hinterher. Ich wußte, daß ich sie nicht einholen konnte, daß, selbst wenn es mir gegen alle Wahrscheinlichkeit gelingen sollte, ich sie nicht festhalten konnte, daß sie mit jedem ihrer Worte recht gehabt hatte. Doch ich konnte nicht anders. Mit drei schnellen Schritten war ich an der Tür. Sie hatte sich bereits wieder geschlossen. Ich knallte die Faust auf den Öffnungsschalter, wartete einen unendlich langen Moment, bis der Mechanismus reagierte, und stürzte durch die halb in die Wand geglittene Tür. Aus dem Augenwinkel sah ich Tamarena um die Ecke des Gangs verschwinden. Ich warf mich herum, meine Beinmuskulatur angespannt, um ihr mit großen Sprüngen hinterherzujagen - und prallte gegen einen Körper. Einen Körper mit lederner Haut, zwei stämmigen Beinen, einem Paar Stummelarme und einem unverkennbar zu kurz geratenen Rüssel.
Kapitel 19 Lathir hatte den Augenblick erwartet. Aber als er schließlich kam, überrumpelte ihn um ein Haar die Schnelligkeit, mit der die Ereignisse abliefen. Er hatte bereits mehrere Minuten ungeduldig vor der Tür des kleinen Raumes neben dem Nest der Herde gewartet, 91
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nachdem er seine davor postierten Artgenossen mit neuen Aufträgen weggeschickt hatte. Ungeduldig war er auf und ab gestampft. Die Zeit drängte. Sie mußten sich beeilen, sollte sein Plan gelingen. Sie - und die beiden Arkoniden, die sich hinter der dünnen Wand aus einfachem Stahl befanden. Die Frau zu entführen, die sein Freund Atlan suchte, war Lathir nicht schwergefallen. Er war ihr nach Atlans Festnahme im Medo-Quartier gefolgt und schon nach wenigen Minuten hatte sich herausgestellt, wo sie untergeschlüpft war: In einem der zahllosen billigen Hotels, die sich in unmittelbarer Nähe des Medo-Quartiers angesiedelt hatten und sich den weniger betuchten Kranken andienten, die von überall im Imperium in der Hoffnung auf Heilung ins Schemmenstern-System strömten. Es waren einfache Unterkünfte, am Laufen gehalten von unterbezahltem und desinteressiertem Personal, mit winzigen Zimmern, deren Türen aus Recyclingplastik dem Aufprall eines vier Zentner schweren Unither-Körpers nur für Augenblicke standhielten. Die Arkonidin selbst hatte erstaunliche Körperkräfte an den Tag gelegt, sich schließlich aber der Übermacht Lathirs und seiner Gefährten beugen müssen. Der Einsatz von Gewalt widerstrebte Lathir immer noch zutiefst, aber das Wissen, daß sein Handeln im besten Interesse Atlans, dem seiner Herde und sogar der entführten Arkonidin lag, hatte sein Gewissen besänftigt. Und außerdem verblaßte, was er tat, im Vergleich zu dem, was in den Gängen und Korridoren TAI MEREN NOAS vorging. Immer wieder hatten er und seine Artgenossen langwierige Umwege einschlagen müssen, weil sich bewaffnete Arkoniden an Kreuzungen und zentralen Punkten der mächtigen Raumstation festgesetzt hatten. Es waren keine Rupiaki, deren olivgrüne Uniformen unverkennbar waren, sondern Bürger, die sich in den geöffneten Depots mit Waffen eingedeckt hatten und sich nun daran machten, es den verhaßten Soldaten des Imperators zu zeigen. Sie nannten sich Tsuaristen. Lathir hatte von ihnen gehört. Sie waren schon seit Jahren in das SchemmensternSystem eingesickert. Sie behaupteten von sich, für die Gerechtigkeit zu kämpfen, dem Aufruf ihrer Märtyrerin Tsuara zu folgen. Lathir wußte nicht, ob sie ihrem Anspruch gerecht wurden, denn das Wort Gerechtigkeit war für ihn nur das Konstrukt einer fremden Mentalität ohne praktische Bedeutung. Keines der Kapitel im Buch der Herde berichtete davon, daß seinesgleichen von arkonidischer Hand jemals so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren war. Und ob die Tsuaristen, sollten sie sich die Macht tatsächlich sichern können, besser abschneiden würden, konnte der junge Unither nicht beurteilen. Was er sah, waren nur der Tod und die Zerstörung, die die angeblichen Kämpfer der Gerechtigkeit säten. Die Tsuaristen schossen zuerst und verzichteten darauf, Fragen zu stellen. Die Zerstörungen, die sie dabei anrichteten, ja selbst die Gefahr, lebenswichtige Anlagen der Orbitalstadt zu treffen, schien sie nicht zu interessieren. Dank Lathirs Ortskenntnis war es dem kleinen Trupp dennoch gelungen, den kämpfenden Parteien unbeschadet auszuweichen und die Frau, wie von Lathir geplant, an den Treffpunkt mit Atlan zu bringen. Dem jungen Unither waren dabei die respektvollen Blicke, die ihm seine Artgenossen verstohlen zugeworfen hatte, nicht entgangen: Für sie, die das Nest nur dann verließen, wenn ihnen keine andere Wahl blieb, war die Selbstsicherheit, mit der sich Lathir durch die Orbitalstadt bewegte, verblüffend. Doch Lathir war keine Zeit geblieben, sich in der ungewohnten Anerkennung seiner Herdengenossen zu sonnen, er war weitergehastet, um sich mit Khalanka zu besprechen und sein Exemplar des Buches der Herde an sich zu nehmen. Und nun das. Die Frau war wie ein Schemen aus der Tür und an ihm vorbeigestürzt. Lathir, der gerade an einem Ende seines ruhelosen Aufundabgehens angekommen war, hatte nicht versucht, sie aufzuhalten. Wieso auch? Er wünschte ihr kein Unheil, und außerdem war sie nicht wichtig, weder für sein eigenes Hradith noch für das Atlans, noch für das der Herde. Dann folgte Atlan. Mit einem verzweifeltem Sprung gelang es Lathir, ihm den Weg zu verstellen. Der Aufprall des Arkoniden raubte Lathir für einige 92
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Augenblicke den Atem, ein stechender Schmerz breitete sich von seiner Körpermitte aus. Atlan hatte bereits beschleunigt und war mit dem Kopf voraus gegen die vergleichsweise empfindliche Bauchpartie des Unithers gerannt. Durch die Sterne, die vor seinen Augen tanzten, nahm Lathir wahr, wie Atlan seitlich wegkippte und hart auf den Stahlboden prallte. Ihm selbst gelang es, mit beiden Armen und dem verkrüppelten Rüssel wedelnd das Gleichgewicht zu bewahren. Atlan gab ein Stöhnen von sich, versuchte sich wieder aufzurichten und erstarrte mitten in der Bewegung. »Lathir, bei allen Göttern Arkons, du lebst!« »Natürlich tue ich das, Freund Atlan«, entgegnete der Unither verwirrt. Der Mann vor ihm wirkte erschöpft, verbraucht. Die Aggregate seines Kampfanzugs waren zerstört, der geborstene Kombigürtel stellte nur nutzloses Gewicht dar, das er um die halbe Stadt geschleppt hatte. »Wieso sollte ich das nicht?« »Aber vorhin«, stieß der Arkonide hervor und mühte sich langsam wieder auf die Beine. »Vorhin, in dem Laden. Du bist herausgestürmt, den Soldaten des Imperators entgegen. Sie feuerten ...« »... und verfehlten mich«, ergänzte Lathir. Einige Sekunden lang musterte der Unither den Arkoniden. Hatte sein Freund so wenig verstanden? Er hatte geglaubt, das Wahzkhira hätte ihm das Vertrauen in die Weisheit der Herde geschenkt. »Sie versuchten mich zu verfolgen, aber sie kennen YAZURAS LETZTE HOFFNUNG nicht so gut wie ich, der ich hier geboren und aufgewachsen bin. Nach ein paar Minuten hatte ich sie abgeschüttelt.« »Aber wozu hast du das getan? Nur um Tamarena ...« Atlan brach mitten im Satz ab und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Tamarena! Ich muß ihr folgen, sie braucht mich!« Der Arkonide streckte beide Arme aus und versuchte, Lathir zur Seite zu schieben. Der vier Zentner schwere Unither widerstand dem Druck spielend. »Nein, Atlan, das tut sie nicht.« Lathir war versucht, ein Ich brauche dich, du bist mein Hradith anzufügen, aber ein Instinkt hielt ihn zurück. Sein Freund würde das nicht hören wollen, nicht gerade jetzt. Lathir ergriff mit den Händen seiner beiden Stummelarme Atlans Arme. »Denk doch nach«, sagte er beschwörend, »sie ist vor dir weggerannt und in den Orbitalen Städten untergetaucht. Als du sie zufällig im Medo-Quartier getroffen hast, hat sie auf der Stelle kehrtgemacht. Und jetzt hast du mit ihr gesprochen - und trotzdem ist sie wieder weggerannt.« Lathir spürte, wie der Druck, den die Hände des Arkoniden auf seinen Brustkorb ausübten, nachließ. »Wenn du sie jemals wiedersehen willst, gibt es nur eine Möglichkeit, Atlan. Du mußt Geduld haben, warten. Wenn es an der Zeit ist, wird sie dich finden.« Die Arme Atlans erschlafften. Als Lathir die Finger öffnete, fielen sie herab und stießen mit einem dumpfen Klatschen gegen das Material seines Kampfanzugs. Das besessene Funkeln in den Augen des Arkoniden erlosch und machte Resignation Platz. »Du hast recht«, flüsterte er. »Und was jetzt? Reomir wird das Schemmenstern-System bald eingenommen haben. Ich darf seinen Soldaten nicht in die Hände fallen. Wird die Herde mich verstecken?« »Nein«, entgegnete Lathir. »Das wird nicht nötig sein. Wir werden fliehen.« Der Arkonide schüttelte den Kopf. Lathir hatte inzwischen gelernt, diese Geste seines Freundes richtig zu lesen. Sie bedeutete kein Nein, sondern bloßes Unglauben. »Wie stellst du dir das vor? Die Generäle des Imperators sind keine Dummköpfe. Sie sind angetreten, diese Keimzelle der Rebellion ein für allemal auszulöschen. Die Flotte hat das System mit Sicherheit abgeriegelt.« »Das ist gut möglich«, entgegnete Lathir kurz angebunden. Sie mußten endlich weiter, sonst würde sein Plan mißlingen. In der Luft lag der beißende Gestank von Rauch, noch unmerklich für die tumben Geruchsorgane der Arkoniden, aber für den Unither ein untrügliches Zeichen dafür, daß die Lebenserhaltungssysteme der mächtigen 93
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Raumstationen bis über ihre Belastungsgrenze beansprucht wurden. »Aber einige Keime entkommen immer. Und wir werden unter ihnen sein. Komm mit.« Lathir verdrehte auffordernd den Rüssel. Der Arkonide strich sich nachdenklich über das Kinn, auf dem bereits der Ansatz eines Barts gewachsen war. Lathir betete zu den Geistern seiner Vorfahren, daß er sich dafür entschied, mit ihm zu kommen. Ansonsten mußte er den Arkoniden gegen seinen Willen mit sich schleppen - eine selbst für einen kräftig gebauten Unither nicht zu unterschätzende Aufgabe, besonders jetzt, da Schnelligkeit und Beweglichkeit ihre einzige Chance darstellten, den überall auf der Orbitalstadt tobenden Kämpfen auszuweichen. Schließlich nickte Atlan langsam. »In Ordnung. Du hast mich bisher noch nicht enttäuscht. Ich vertraue dir. Wo entlang?« Lathir zeigte mit dem Rüssel in eine Richtung, die sie weg vom Nest der Herde zur Peripherie der Stadt führen würde. Wortlos drehte sich der Arkonide um und verfiel in einen zügigen Laufschritt. Der Unither warf einen letzten, wehmütigen Blick in die Richtung seines Nests und folgte Atlan. Schon nach wenigen Sekunden hatte er den weißhaarigen Arkoniden eingeholt und die Führung übernommen. In den nächsten Minuten stieg Lathirs Respekt für seinen arkonidischen Freund beinahe ins Unendliche. Es war nicht die verblüffende Kondition, die Atlan an den Tag legte schließlich war der aus Sicht eines Unithers mit dem für Arkoniden üblichen schwächlichen Körperbau geplagte Freund seit Stunden nicht mehr zur Ruhe gekommen -, und auch nicht die geistige Beweglichkeit, mit der er das Kapitel Tamarena zumindest für den Augenblick hinter sich gelassen hatte. Nein, es war die absolute Professionalität, die Atlan zeigte. Lathir schien es, als ob der Arkonide in eine andere Haut geschlüpft wäre. Aus dem hochgewachsenen Mann mit den aristokratischen Zügen und dem lupenreinen Hocharkonidisch war unversehens ein Krieger geworden. Es war eine Haut, die ihm perfekt paßte. Atlans Bewegungen waren sparsam und exakt, darauf ausgerichtet, mit minimalem Krafteinsatz einen maximalen Effekt zu erzielen. Schon bald war Lathir davon überzeugt, daß sein Freund Sinne besaß, über die ein gewöhnlicher Arkonide nicht verfügte. Es schien, als ob Atlan Gefahren witterte, lange bevor sie zu einer Bedrohung für ihn werden konnten. Lathir hielt viel auf seine Ortskenntnis von TAI MEREN NOAS und mindestens ebensoviel auf seine Riechorgane, die trotz seines verkümmerten Rüssels denen anderer Unither in nichts nachstanden, doch Atlans Gespür mußte er sich geschlagen geben. Gleich mehrmals bewahrte der Arkonide ihn davor, nichtsahnend in Hinterhalte zu laufen, die Soldaten des Imperators oder Tsuaristen einander gestellt hatten. Und sie waren schnell. Lathirs genaue Kenntnis der Stadt erlaubte ihnen, Sperren und bewaffnete Posten zu umgehen, wenig bekannte oder vergessene Gänge aufzuspüren, dort hindurchzuschlüpfen, wo andere Wesen hoffnungslos gescheitert wären. Unaufhaltsam näherten sie sich ihrem Ziel, ließen sie die im Kern der Stadt angesiedelten lebenserhaltenden Systeme und Industrieanlagen hinter sich, dann die darum gruppierten Wohn- und Gewerbebezirke. Eine nie gekannte Hochstimmung erfaßte Lathir. Die körperliche Anstrengung setzte Botenstoffe in seinem Körper frei, die ihm ein euphorisches Glücksgefühl bescherten. Dazu gesellte sich ein weiteres, noch stimulierenderes Gefühl: Er spürte, daß er recht gehabt hatte. Dies war ohne Zweifel sein Hradith. Dieser Mann an seiner Seite, der sich mit der Sicherheit eines Traumwandlers durch die immer wieder unter Explosionen erzitternden Stadt bewegte, war sein Schicksal. Zusammen würden sie zu den Sternen fliegen. Schließlich waren sie am Ziel. Lathir und sein arkonidischer Freund traten aus einem schlecht beleuchteten Seitengang auf einen menschenleeren Hauptkorridor. Direkt vor ihnen befand sich ein großes, vier auf vier Meter großes Hangarschott. Sich nach allen Seiten absichernd, rannten die beiden Wesen darauf zu. 94
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»Wir sind da!«, trompetete Lathir und drückte den Öffnungsschalter des Schotts. Lautlos öffnete sich ein Spalt in dem bläulich schimmernden Arkonstahl. »Die anderen we ...« Der Unither verstummte abrupt. Er blickte in das daumengroße Mündungsloch eines Kombistrahlers. Ein Flimmern ließ keinen Zweifel daran, daß die Waffe auf tödliche Strahlenwirkung gestellt war. Lathir hob langsam Rüssel und Arme. Mit einem Seitenblick stellte er fest, daß Atlan es ihm gleichtat. »Semerion!«, rief der hochgewachsene Arkonide. »Bei allen Sternengöttern, was tun Sie hier?« Lathir musterte den Mann mit der Waffe. Semerion, so hieß der Erste Assistent des Tatos, das hatte er aus Nachrichtenbulletins aufgeschnappt, aber der Arkonide vor ihm wirkte nicht gerade wie ein Mitglied der höchsten Regierungskreise. Der Mann war klein und rundlich und trug einen viel zu großen Kampfanzug. Die ursprüngliche Farbe des Anzugs war nur schwer auszumachen, eine dicke Rußschicht bedeckte ihn in weiten Teilen. An manchen Stellen klebten dunkelrote Flecken einer getrockneten Flüssigkeit. Lathirs Verstand brauchte einige Sekunden, bis er erriet, daß es sich dabei um das Blut von Arkoniden handelte. Seine Hochstimmung verflog, verscheucht von einer dem Unither bislang unbekannten Regung: Todesangst. »Oh, nichts weiter«, antwortete Semerion, »nur einen Verräter zur Strecke bringen.« »Kommen Sie wieder zu sich, Mann«, entgegnete Atlan forsch. »Ich bin kein Verräter. Der Kampf um die Orbitalen Städte ist verloren, das wissen Sie so gut wie ich. Nur ein Narr würde sein Leben für eine aussichtslose Sache opfern.« Lathir sog den Geruch des Arkoniden vor ihnen ein. Er roch Vertrautes - den Gestank von Schweiß und den von Rauch, der dem Kampfanzug anhaftete - und etwas Neues, Fremdes. Einen beinahe unerträglich süßlichen Duft ordnete er den Blutflecken zu, aber da war noch eine weitere Note, herb und bitter zugleich. Es war der Duft des Wahnsinns. »Darüber ließe sich streiten«, sagte Semerion unnatürlich ruhig. »Wie können wir je den Sieg erringen, wenn wir nicht bereit sind, unser Leben dafür zu opfern? Aber das ist jetzt unwichtig«, der rundliche Arkonide machte eine wegwerfende Handbewegung, »Ihre Flucht ist nur die letzte Verfehlung in einer langen Reihe. Unermeßliches Leid ist über die Orbitalen Städte gekommen, in den Korridoren und Gängen regiert der Tod. Und Sie, Altao Ta-Camlo, sind dafür verantwortlich.« Lathirs Gedanken rasten. An seinem Kombigürtel hing ein schwerer Strahler. Vielleicht konnte er ihn schnell genug ziehen. Der Erste Assistent schien seine gesamte Aufmerksamkeit auf Atlan zu richten. Wenn es ihm gelang, gleichzeitig mit dem Ziehen des Strahlers den eigenen Schutzschirm zu aktivieren, konnte ihm selbst eine schnelle Reaktion Semerions nichts anhaben. Doch Atlan - Lathir schielte auf das zerstörte Schirmaggregat seines Freundes und begrub seinen Plan. Es hätte Atlans sicheren Tod bedeutet. »Sie, Ta-Camlo«, Semerion zeigte anklagend auf Atlan, »waren es, der Tato Rupiak zum Widerstand gegen den Imperator aufstachelte - und anschließend spurlos verschwand. Sie waren es, der Tsuara zu ihrer Rede beim Imperialen Disput verhalf - und anschließend spurlos verschwand. Und Sie waren es, der uns zu diesem aussichtslosen Kampf verführte - um daraufhin wieder spurlos zu verschwinden. Doch dieses Mal wird es Ihnen nicht gelingen, sich der Verantwortung für Ihre Taten zu entziehen. Dafür werde ich sorgen.« Atlan schwieg. Die Vorwürfe des Ersten Assistenten schienen ihn förmlich zu lähmen. Der Krieger, die Kampfmaschine, die ruhig und vorausschauend auf jede Bedrohung reagierte, war verschwunden. Was ist los mit ihm? fragte sich Lathir. Hat Semerion etwa recht? Er muß antworten, mit Semerion reden. Das ist unsere einzige Chance!
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»Doch bevor ich das tue, will ich, daß Sie mir noch eine Frage beantworten: Wer oder was sind Sie?« Der Erste Assistent strich sich den Schweiß aus der Stirn und richtete die Waffe direkt auf Atlan. Lathirs Gedanken überschlugen sich. Er mußte eingreifen, die Entschlossenheit Semerions zu töten stand außer Frage. Jetzt, da der Erste Assistent direkt auf Atlan zielte, würde es ihm wahrscheinlich gelingen, den eigenen Strahler schnell genug zu ziehen schnell genug, um Semerion zu töten, aber nicht, um Atlan zu retten. Sein Puls pochte. Der Impuls, sich beruhigend über die Hörstreifen zu streichen, wurde beinahe übermächtig. Atlan schwieg weiter. »Sie wollen also nicht antworten?« sagte Semerion. »Ich verstehe, Sie fürchten nicht um Ihr eigenes Leben. Ein edler Zug.« Der Erste Assistent dachte einige Augenblicke nach, dann schwenkte er den Lauf der Waffe herum. »Ich bin gespannt, wie weit Ihr Edelmut reicht.« Lathir starrte fassungslos in das flimmernde Abstrahlfeld des Strahlers. Nein, das kann nicht sein! schrie es in ihm auf. Ich kann nicht sterben! Nicht, bevor ich die Sterne gesehen habe! Doch gleichzeitig spürte er, daß der Arkonide nicht zögern würde, auf ihn zu feuern. Der Wahnsinn hatte ihn zu fest im Griff, als daß er hätte zurückweichen können. »Wer sind Sie, Ta-Camlo?«, wiederholte Semerion. Er flüsterte nur noch. »Sagen Sie mir die Wahrheit oder Ihr unithischer Freund muß sterben.« Die Belastung war zu groß für Lathir. Ohne abzuwarten, ob Atlan auf die Frage Semerions antworten würde, schnellten sein Rüssel und sein linker Stummelarm in Richtung Kombigürtel. Noch bevor seine Glieder den Kolben der Waffe und die Kontaktfläche des Individualschirms erreicht hatten, wußte Lathir bereits, daß er sterben würde. Semerions Pupillen sagten es ihm. Sie weiteten sich schlagartig, als den Ersten Assistenten die Erkenntnis traf, daß der verkrüppelte Unither vor ihm sich nicht einschüchtern ließ, sich zur Wehr setzte. Semerions Finger krümmte sich um den Abzug des Strahlers - und stoppte abrupt, als ein helles Singen ertönte und der Körper des Ersten Assistenten sich verkrümmte. Als wäre er im Bruchteil einer Sekunde gefroren, erstarrte Semerion. Die Pupillen unnatürlich geweitet, den Finger um den Abzug auf halbem Weg gestoppt, kippte der rundliche Arkonide zur Seite. Ein dumpfer Schlag hallte durch den Hangar, als sein Körper ungebremst auf den Stahlboden aufschlug, gefolgt von einem Klappern, als sich der Strahler aus seiner kraftlosen Hand löste. Augenblicke später ertönte ein zweiter Schlag, als Lathir wimmernd und trompetend die Beine wegsackten.
Kapitel 20 Das ist völliger Irrsinn! Der Aufschrei meines Gedankenbruders war so intensiv, daß ein stechender Schmerz durch meinen Schädel raste. Es war das Aufbegehren einer hilflosen Kreatur, eines Teils meiner Persönlichkeit, der als ohnmächtiger Zuschauer dazu verurteilt war, die Konsequenzen meines Handelns mitzutragen, egal, ob er diese guthieß oder nicht. In den Wochen, die seit meinem Erwachen aus dem Tiefschlaf vergangen waren, hatte er sich ebenso unentwegt wie erfolglos als Mahner betätigt. Jetzt hatte er genug. Es war eine Regung, die ich nachfühlen konnte. Ohne Lathir zu beachten, der neben mir wimmernd zu Boden gegangen war, hechtete ich nach vorne, dem Strahler Semerions hinterher, der dessen erschlafften Fingern entglitten war und jetzt etwa drei Meter von mir in Richtung des Hangarinneren lag. Ich erwartete nicht wirklich, die Waffe in die Hand zu 96
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schließen. Wer auch immer den Ersten Assistenten niedergestreckt hatte, würde mich im deckungslosen Innern des leeren Hangars ebenso mühelos treffen. Jeden Augenblick rechnete ich damit, das stechende Brennen eines Paralysatorschusses zu spüren, dem sich mehrere Stunden vollkommener Lähmung anschlossen. Den Treffer eines Strahlers oder Desintegrators würde ich dagegen nicht spüren, er würde mich töten, noch bevor die Schmerzmeldungen meiner Nerven das Gehirn erreichten. Meine Finger fanden den Kolben des Kombistrahlers und umklammerten ihn. Den Schwung meines Sprungs ausnutzend, rollte ich ausgestreckt über den Hangarboden. Mein Zeigefinger fand noch in der Bewegung den Umschalter der Waffe und stellte sie auf Streuung. Damit verringerte sich zwar die Intensität des Strahls, aber die Einstellung ermöglichte es mir, gleichzeitig eine ganze Gruppe von Gegnern unter Feuer zu nehmen. Ich kam auf dem Bauch zu liegen und riß den Kopf hoch. Undeutlich nahm ich eine Gruppe von Arkoniden in bis zur Unkenntlichkeit verschmierten und geschwärzten Kampfanzügen wahr. Sie waren keine 30 Meter von mir entfernt und kamen auf mich zu. Ohne zu zögern drückte ich ab. Ein gleißend heller Lichtstrahl löste sich wie ein Fächer aus dem Abstrahlfeld meiner Waffe, erfaßte meine Gegner - und verpuffte wirkungslos in ihren bis dahin unsichtbar gebliebenen Schirmfeldern. Eine eisige, unnatürliche Ruhe überkam mich. Ich hatte ausgespielt. Gegen das knappe Dutzend Männer in funktionstüchtigen Kampfanzügen war ich - ohne Flugaggregat, ohne Individualschirm - chancenlos. Mir blieb nur noch, meine Würde zu wahren. Betont gelassen richtete ich mich auf und warf den Kombistrahler weg. Dann erwartete ich schweigend, das Kinn trotzig nach vorne gestreckt, mein Schicksal. Die Gestalten in Kampfanzügen rückten mit erhobenen Waffen näher. Als sie bis auf drei Schritte an mich herangerückt waren, glitt der verschmierte Helm des vordersten zurück und entblößte ein vertrautes Gesicht. »Rupiak!« entfuhr es mir. »Eigentlich hatte ich mir etwas mehr Dankbarkeit vorgestellt dafür, daß ich Ihnen und Ihrem unithischen Freund das Leben gerettet habe«, entgegnete der Tato, dessen linke Hüfte ein blutverschmierter Verband bedeckte. Seine Lippen verzogen sich zum Anflug eines Grinsens. »Aber wie kommen Sie hierher? Wieso kämpfen Sie nicht mehr?« Ich starrte den alten Mann im Kampfanzug verwirrt an. Das Grinsen verschwand. »Ganz einfach, Ta-Camlo: Mein ehemaliger Erster Assistent«, Rupiak deutete mit dem Lauf der Waffe auf den paralysiert am Boden liegenden Semerion, »ist nicht der einzige, der den Umgang mit den Überwachungskameras der Orbitalen Städte beherrscht. Es war nicht schwer ihn aufzuspüren und seinem Weg zu folgen. Vom Wahn Befallene neigen dazu, ihre Ziele frontal anzugehen.« Der Tato steckte den Kombistrahler in den Gürtel. »Und was Ihre zweite Frage angeht ... der Kampf ist längst verloren. Er war es, seit Semerion in meinem Namen die Waffenlager für die Tsuaristen öffnete. Mein - nein, unser - Plan beruhte darauf, Gefangene zu machen, aber die Tsuaristen sind zu sehr in ihrem Haß auf das Imperium gefangen, um auf solche Feinheiten Rücksicht zu nehmen. Seit die Truppen des Imperators wissen, daß sie keine Gnade zu erwarten haben, kämpfen sie verbissener denn je. Ich glaube nicht, daß die Tsuaristen die Oberhand gewinnen können. Und selbst wenn sie es täten - nichts würde dann die wartende Flotte davon abhalten, ihre gefallenen Kameraden zu rächen und die Orbitalen Städte zu vernichten.« Ich setzte zu einer Entgegnung an, aber der Tato hatte sich bereits abgewandt und gab den Rupiaki, die sich in einem Kreis um uns verteilt hatten, neue Befehle. »Redukal! Kümmern Sie sich um den Unither. Die übrigen verteilen sich.« Der Angesprochene, ein Arkonide mittleren Alters, der mir vom Angriff auf ARKONS GLORIE bekannt war, ging 97
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zu dem immer noch leise wimmernden Lathir. Die übrigen Rupiaki schwärmten aus und bildeten einen weiten Kreis. Mit gezogenen Strahlern sicherten sie unsere Position. Einen Augenblick lang sah ich Redukal nach und fragte mich, ob Lathir jemals die Sterne sehen würde. Ich bezweifelte es. Unsere Chancen, TAI MEREN NOAS lebend zu verlassen, schienen mir geringer denn je. Ich drehte den Kopf zurück - und blickte auf einen verwandelten Menschen. Verschwunden war der mittelgroße, muskulöse Mann undefinierbaren Alters. Rupiak war zusammengesackt, wirkte eine Handbreit kleiner. Die markanten Furchen seines Gesichts, vormals Linien der Erfahrung und der Weisheit, waren nur noch die tiefen Falten eines neunzigjährigen Greises. Das durchdringende Brennen seiner Augen war beinahe vollständig erloschen, nur ein kaum wahrnehmbares Flackern deutete noch auf den Mann hin, der mit seiner unbändigen Willenskraft zwei Jahrzehnte lang die Geschicke des Schemmenstern-Systems in neue, gerechtere Bahnen gelenkt hatte. Er ist ein gebrochener Mann, flüsterte mein Extrasinn. Sein Lebenswerk ist verloren, sein engster Vertrauter hat ihn verraten. Sei vorsichtig, er hat nichts mehr zu verlieren. Die Analyse meines Gedankenbruders war überflüssig; er wußte, daß ich längst zum selben Schluß gekommen war. Aber ich verzichtete auf einen bissigen Kommentar. Logische Schlüsse zu ziehen war seine Art, mit den Ereignissen fertigzuwerden. »Der arme Semerion«, flüsterte der alte Mann. »Er war mir ein treuer und kompetenter Helfer. Ohne ihn hätte ich nicht halb so viel erreicht. Ich frage mich, was ihn den Verstand gekostet hat. Es muß etwas sehr Schlimmes gewesen sein.« Rupiak musterte den wenige Schritte von uns verkrümmt am Boden liegenden Körper nachdenklich, dann wandte er sich wieder mir zu. »Aber manchmal erkennen gerade Wahnsinnige, was wirklich zählt. Und deshalb frage ich Sie, Altao Ta-Camlo: Wer sind Sie? Was sind Sie? War unsere Begegnung nur Zufall? Sagen Sie mir die Wahrheit, ich muß es wissen.« Die Stimme Rupiaks war flehend, nicht drohend. Es war die Stimme eines Mannes, der wußte, daß seine Tage gezählt waren. Eines Mannes, der die Gewißheit suchte, daß sein Leben etwas bedeutet hatte, nicht vergebens gewesen war. Nur, ich konnte ihm diese Gewißheit nicht geben ... oder doch? Nein, das darfst du nicht! protestierte mein Logiksektor, der meine Gedanken erahnte. Denk an die Konsequenzen! Du könntest den Lauf der Geschichte verändern! Du ... Ich reagierte nicht auf die Proteste meines Gedankenbruders. Was setzte ich schon noch aufs Spiel? Rupiak, Lathir, Semerion, ich selbst - wir alle waren verloren. Nicht lange, und wir würden Gefangene des Imperators sein oder nur noch glühende Staubpartikel in der Umlaufbahn Schemmens. Was konnte es schon ausmachen, einem alten Mann die Seelenruhe zu schenken, nach der er sich verzehrte? Ich räusperte mich und blickte dem alten Mann fest in die Augen. »Ihre Fragen sind berechtigt, Rupiak, ich bin kein gewöhnlicher Sterblicher, nicht in dieser Ära. Ich bin ein Verschollener der Zeit.« Ich hielt einen Augenblick inne, um Rupiak die Gelegenheit zu geben, meine Eröffnung zu verdauen. »Ein Unfall schleuderte mich zurück in Ihre Zeit, die für mich die ferne Vergangenheit ist, viele Jahrtausende entfernt von meiner Gegenwart.« »Ein ... ein Unfall?« stotterte Rupiak. Die Tatsache, daß ich mich als Zeitreisender offenbart hatte, schien ihn wenig zu beeindrucken. »Dann war Ihr Erscheinen im Schemmenstern-System vor 21 Jahren, meine Erweckung nur ein Zufall?« Ich nickte. Diese Wahrheit konnte ich ihm nicht ersparen. »Ja, das war es. Ich kam damals mit dem Ziel hierher, mir Zugang zum Hof des Imperators zu verschaffen. Die Zeitstation, die mich in die Vergangenheit geschleudert hatte, bedurfte der Reparatur. Ich hoffte, im Arkon-System die benötigten Komponenten zu finden. Aber meine Hoffnung war vergeblich. Die letzten Jahre verbrachte ich im Tiefschlaf, in dem Versuch, auf diese Weise in meine eigene Zeit zurückzukehren. Doch ein Hilferuf weckte mich, und ich
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machte mich auf, einer alten Liebe hinterherzujagen - ein törichtes Unterfangen, wie mir inzwischen klar wurde.« Rupiak schien mich kaum noch zu hören. Sein Gesicht war noch weiter eingefallen, die Augen waren so tief in den Höhlen verschwunden, daß sie kaum noch zu sehen waren. Ich machte einen Schritt vor, packte Rupiak mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte ihn. Unendlich langsam hob der alte Mann den Kopf und sah mich an. »Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte«, fuhr ich fort. »Mein Hiersein mag ein Zufall sein, doch andere Dinge sind es nicht. Ihre Verwandlung durch die Raumnomaden und den ehrenwerten Zerbeloraan war kein Zufall. Ich erkannte damals, daß in dem korrupten, selbstsüchtigen Tato Rupiak ein anderer Mensch verborgen war, jemand, der sich - nach Gerechtigkeit sehnte.« Die Lüge kam glatt über meine Lippen. In Wirklichkeit war Rupiak für mich damals ein Nichts gewesen, eine der vielen selbstverliebten, eitlen Kreaturen, die eines Tages Arkons Untergang einläuten würden. Ich hatte ihn wie eine Schachfigur benutzt, um meine Aufnahme in die Delegation an den kaiserlichen Hof zu erreichen. An dem, was die Raumnomaden mit ihm angestellt hatten, hatte ich keinen Anteil gehabt. »Und das ist der Grund, warum ich mich bereit erklärte, an Ihrer Seite zu kämpfen. Weil Sie in den Orbitalen Städten eine neue, gerechtere Gesellschaft begründet haben. Eine Gesellschaft, die es wert ist, das eigene Leben für sie zu geben.« Mein Lob zeigte erste Wirkung. Ich spürte, wie unter meinen Fingern die Spannung in den Körper Rupiaks zurückkehrte. Sein Augen schienen wieder ein Stück aus den Höhlen hervorzutreten. »Und noch etwas«, log ich weiter. »Wissen Sie, aus was für einer Welt ich komme? Es ist eine Welt, in der Sie das Tai Ark’Tussan nicht wiedererkennen würden. Es gibt noch einen Imperator, aber er ist ein gewählter Monarch, ausgewählt aus den Besten und Fähigsten des Imperiums. Ein Herrscher, der wie jeder einfache Bürger an die Gesetze gebunden ist. Die Welten, die dem Imperium angehören, tun dies aus freien Stücken. Sie können jederzeit ohne Nachteile den Verbund verlassen, aber das kommt nur selten vor. Wieso auch? Das Imperium blüht, seine Verwaltung ist effizient und unbestechlich und alle Völker - ganz gleich, ob arkonidischstämmig oder nicht - genießen dieselben Rechte. Die gesamte Galaxis sieht mit Neid auf die glückliche Insel des Imperiums und würde sich ihr, gäbe es die Gelegenheit, einer heute als morgen anschließen.« Tränen schossen mir in die Augen. Meine Vision, die von der Realität meiner Zeit mindestens ebenso weit entfernt war wie von der Rupiaks, begann mich selbst zu berauschen. »Zu verdanken ist diese Welt einem Mann, dessen Namen auch noch nach Jahrtausenden mit Ehrfurcht ausgesprochen wird.« Meine Hände entließen die Schultern des Tatos, er brauchte keine physische Stütze mehr. »Es ist der Ihre, Rupiak. Sie waren der erste, der es gewagt hat, gegen ein von Grund auf verrottetes System aufzubegehren. Ihrem Beispiel werden unzählige andere folgen.« »Ist das wahr, Ta-Camlo?« flüsterte Rupiak ungläubig. »Ist das wirklich wahr?« »Ja.« Ich nickte. »Jedes einzelne Wort.« Das Ausmaß meiner Lüge ließ meine Augenlider zucken. Ich konnte nur hoffen, daß Rupiak es übersah oder es als Zeichen meiner Erregung deutete. Wortlos wandte sich der Tato ab und ging zu Semerion. Er beugte sich über den betäubten Mann und flüsterte etwas in sein Ohr. Ich konnte nicht hören, was er sagte, aber Semerion mußte Rupiaks Worte verstehen. Paralysatoren lähmten nur die dem bewußten Willen unterstehende Muskulatur. Schließlich schloß Rupiak dem Betäubten mit einer beinahe zärtlich anmutenden Handbewegung die Lider und erhob sich wieder. »Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit, Altao Ta-Camlo. Oder wie immer Sie in Wirklichkeit heißen mögen«, wandte er sich an mich. Die Müdigkeit, die Last der Jahre und der Verantwortung waren aus der Miene Rupiaks verschwunden. Er wirkte gelöst, ja
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befreit. Wie ein Mann, der zu einem Entschluß gekommen ist. »Aber Sie müssen sich jetzt beeilen.« »Beeilen ... womit?« entgegnete ich verwirrt. »Mit Ihrer Flucht natürlich. Sie dürfen den Soldaten des Imperators nicht in die Hände fallen. Ihnen bleiben nur noch wenige Minuten, Ihr Raumschiff zu erreichen.« »Mein Raumschiff? Was meinen Sie damit?« »Hat Ihnen Ihr unithischer Freund nicht verraten, was vor sich geht? Mir scheint, er ist Ihnen in einigen Dingen voraus, sonst hätte er Sie nicht so zielstrebig zu den Hangars geführt.« Rupiak bedachte Lathir, der jetzt wieder auf den Beinen stand, mit einem anerkennenden Seitenblick. »Ich habe längst den Befehl zum Rückzug gegeben. Ich will nicht die Menschen, die mir vertrauen, in sinnlosen Kämpfen verheizen. Meine Gardisten haben die Wahl: Sie können sich den Soldaten des Imperators ergeben oder ihr Heil in der Flucht suchen.« »Aber das ist wahnwitzig!« stieß ich hervor. »Die Flotte wird das gesamte System abgeriegelt haben. Jeder Fluchtversuch wäre glatter Selbstmord!« »Der eines einzelnen Schiffes mit Sicherheit«, antwortete Rupiak, »aber nicht, wenn alle Schiffe, die derzeit an den Orbitalen Städten angedockt haben, gleichzeitig in beliebige Richtungen starten. Sicher, die Flotte wird einen Teil von ihnen abschießen, aber die Mehrzahl wird durchkommen.« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Hör auf ihn, mahnte mein Gedankenbruder. Die Flucht ist deine beste Chance. Der Imperator wird die Orbitalen Städte bis in die letzten Winkel - durchkämmen lassen. »Entscheiden Sie sich, Ta-Camlo. Es ist nicht mehr viel Zeit«, drängte Rupiak, dann wandte er sich um, rief die Gardisten herbei - und verabschiedete sich von ihnen mit Handschlag. »Was machen Sie da?« fragte ich. Es war eine leere Geste. Ich kannte bereits die Antwort auf meine Frage. Sie war dem Tato bereits seit Minuten ins Gesicht geschrieben gewesen. »Ich habe meine Entscheidung getroffen«, antwortete Rupiak mit fester Stimme. »Ich bin zu alt, um noch einmal neu anzufangen. Und außerdem - manchmal verlangt die Geschichte nach Märtyrern.« Rupiak hob grüßend die Hand und ging zum Hangarschott. Niemand machte Anstalten ihn aufzuhalten. Am Schott angekommen, drehte er sich noch einmal um. »Und ich bitte Sie, nehmen Sie Semerion mit. Er ist ein guter Mann, es ist nicht seine Schuld, daß er Dinge ertragen mußte, die über seine Leidensfähigkeit gingen. Er hat es nicht verdient, Reomir in die Hände zu fallen.« Rupiak zog den Strahler aus dem Gürtel und verschwand in den Hauptkorridor. Einige Augenblicke herrschte ehrfürchtige Stille, dann bellte Redukal, der höchste Offizier der Gruppe, seine Befehle: »Ihr habt ihn gehört. Surtir, Mendorin, ihr schnappt euch Semerion, die übrigen sichern nach allen Seiten.« Die disziplinierten Gardisten schwärmten aus, aktivierten ihre Schirmaggregate und bildeten einen Kreis um Redukal und mich. Der Offizier warf mir einen fragenden Blick zu. Ich nickte ihm zu. Zwei der Gardisten hatten inzwischen Semerion gepackt und brachten ihn ebenfalls in die Mitte des schützenden Kreises. Lathir, denn die plötzliche Aktivität aus seiner Starre gerissen hatte, folgte ihnen mit einem aufgeregten Trompeten. Dann rannten wir los, quer über die gewaltige leere Fläche des Vorhangars. Bis zu der gewaltigen Stahlwand, hinter der - hoffentlich! - ein rettendes Schiff auf uns wartete, galt es mehrere hundert Meter zu überwinden. Für die Flugaggregate der Kampfanzüge stellte die Distanz nur einen Hüpfer dar. Für mich, dessen Anzug nur noch eine funktionslose Hülse war, bedeutete dies einen langen, herausfordernden Sprint. Es war ein Beweis für die
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herausragende Gesinnung der Garde Rupiaks, daß sie keine Anstalten machten, mich und Semerion zurückzulassen, um ihre eigene Haut zu retten. Wir hatten etwa zwei Drittel der Strecke zurückgelegt, als wir unter Feuer kamen. Mehrere aus großer Entfernung abgegebene Strahlersalven schlugen in die Schirme der Rupiaki, blieben aber ohne Wirkung. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein und blickte mich suchend um. Nach einigen Sekunden hatte ich die Schützen gefunden, ein paar winzige Spielzeugmännchen, bessere Punkte, hatten den Vorhangar durch ein Schott einige hundert Meter zu unserer Linken betreten. Keuchend beschleunigte ich meine Schritte. Die Angreifer konnten den Gardisten aus dieser Entfernung nichts anhaben, aber ein Zufallstreffer oder ein von einem der Schirme abgelenkter Strahl konnte bereits meinen Tod bedeuten. Dann hatten wir die Wand erreicht. Sie war eigentlich ein gewaltiges, mehrere hundert Meter hohes Schott, das den Hangar in zwei Hälften unterteilte. In diejenige, die gerade hinter uns lag, in der Raumschiffe längere Zeit untergebracht wurden, die längere Zeit auf TAI MEREN NOAS blieben, und die vor uns, in der sich gewöhnlich Schiffe fanden, die nur wenige Stunden anlegten. Redukal gab hastig den Öffnungskode ein. Er wußte, daß wir jetzt, stehend, perfekte Ziele abgaben. Wieder überschüttete uns Strahlerfeuer, prallte aber von den Schirmen ab. Die erhitzte Luft brannte in meinen Lungen. Ich drängte mich gegen den bläulich schimmernden Arkonstahl, wartete darauf, daß sich in der scheinbar fugenlosen Wand der rettende Schlitz öffnete. Lange Sekunden vergingen, dann zeigte ein Schwall kühler Luft an, daß die stählernen Wände in Bewegung gekommen waren. Ich quetschte mich durch die Öffnung. Lathir und die Rupiaki folgten mir. Vor unseren Augen reihten sich die Raumschiffe. Es mußten über zwei Dutzend sein ein Leichter Kreuzer der Wachflotte Rupiaks, mehrere intraorbitale Fähren, die elegant geschwungene Ellipse eines Passagierraumers, sowie eine Handvoll Frachter verschiedener Rassen -, aber sie alle hatten die Landungsbrücken bereits eingefahren, aus den Brennkammern ihrer Impulstriebwerke drang gleißendes Wabern. Verzweifelt verdrehte ich den Kopf - und wurde fündig. »Dort drüben!« schrie ich und riß den Arm hoch. »Die Walze der Mehandor!« Wir spurteten los. Das Raumschiff der galaktischen Händler, die die Terraner in einigen Jahrtausenden Springer nennen sollten, wurde fast vollständig von einem riesigen Erzfrachter verdeckt. Mindestens ein halber Kilometer trennte uns von dem rettenden Raumer. Mein Puls raste, meine Lungen drohten zu explodieren, dennoch zwang ich mich weiterzulaufen. Ich durfte jetzt nicht aufgeben, jede Sekunde zählte. Redukals Blick fiel immer wieder auf den Chronometer seines Kampfanzugs. Die tiefen Sorgenfalten, in die sich seine Miene gelegt hatte, konnten nur bedeuten, daß der Startzeitpunkt unmittelbar bevorstand. Erreichten wir die Springerwalze nicht rechtzeitig, würden uns die Impulstriebwerke der startenden Schiffe in Atome zerstrahlen. Eine kreischende Strahlenbahn, die an uns vorbeizischte, zeigte an, daß unsere Verfolger das inzwischen weit geöffnete Schott erreicht hatten. Wir ignorierten sie. Weitere Schüsse folgten, kamen näher, drohten sich zu Bündeln zu fokussieren, die in der Lage waren, Schutzschirme zu durchschlagen. Dann wurde der Hangar für den Bruchteil einer Sekunde in gleißende Helligkeit getaucht, eine Reihe von Explosionen rollte durch die riesige Halle. Ohne mich umzudrehen wußte ich, was geschehen war: Ein Geschütz des Kreuzers mußte die Imperiumssoldaten ins Visier genommen haben. Der Umriß der Springerwalze nahm allmählich Kontur an. Ein Teil meines Bewußtseins nahm die von unzähligen Partikeln verkratzte Außenhaut des Schiffes wahr. Es war alt. Alt und klein, ich schätzte seine Gesamtlänge auf maximal 100 Meter. Unter normalen Umständen hätte ich mich geweigert, einen solchen Seelenverkäufer überhaupt zu betreten, jetzt rannte ich mit aller Kraft, die noch in meinem ausgelaugten Körper steckte, auf ihn zu. Nie hatte ich mehr danach gesehnt, ein Schiff zu erreichen, wie in diesem Augenblick. 101
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Schließlich spürte ich unter meinen Füßen die Gangway. Mit letzter Kraft rannte ich die abgenutzten Stufen zu dem leuchtenden Rechteck der Rettung hinauf. Einige Rupiaki in verschmierten Kampfanzügen erwarteten mich, zogen mich die letzten Stufen hinauf. Die Luft in dem Raumer war abgestanden und heiß. Ich stolperte einige Schritte den Gang entlang, um Platz für die Nachfolgenden zu machen. Mich beherrschte nur noch der Gedanke, mich endlich fallenzulassen und Atem zu schöpfen. Ledrige Finger schlossen sich unnachgiebig um meinen Arm. Ich wirbelte herum. »Lathir, was soll das?« »Nicht hinsetzen, Freund Atlan«, zwitscherte der Unither und hob schnüffelnd den Rüssel. »Noch nicht.« »Nein, laß mich!« rief ich, aber ich war zu erschöpft, um mich den überlegenen Körperkräften des stämmigen Rüsselwesens widersetzen zu können. Ich konnte gerade noch sehen, wie sich die Schleuse des Raumers schloß, dann zerrte Lathir mich weiter, um die Biegung des Ganges. Wir passierten weitere Flüchtlinge. Rupiaki und einfache Bürger, die sich der Hand des Imperators zu entziehen suchten, säumten die Gänge. Aber keiner von ihnen griff ein, sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit der Angst vor dem, was kommen würde. Schließlich stellte ich meinen sinnlosen Widerstand ein und stolperte Lathir hinterher. Der Unither schien einer Duftnote zu folgen, wurde immer aufgeregter. Bald verfiel er in einen Laufschritt, trompetete freudig. Wenige Augenblicke später erfuhr ich den Grund seiner Freude. Wir bogen um eine weitere Ecke und stießen auf eine neue Gruppe Flüchtlinge, die dichtgedrängt die Wände des Korridors säumte. Es mußten drei oder vier Dutzend von ihnen sein, und jeder einzelne von ihnen hatte einen Rüssel. »Die Herde!« brach es aus mir hervor. »Du hast die Herde an Bord ...« Rüssel schnellten vor und rissen mich in den Pulk der Leiber. Warme, lederne Haut umfing mich, nahm mich schützend auf. Als mein Kopf wieder aus der Masse der Körper auftauchte, blickte ich direkt in das Gesicht Lathirs. »Hab keine Angst, Freund Atlan«, sagte er. Seine Rüsselspitze strich mir tröstend über das Gesicht. »Ich bin ja bei dir. Und es ist nicht mein Hradith zu sterben, bevor ich die Sterne gesehen habe. Das weißt du doch, oder?« Das Dröhnen der auf Vollschub hochfahrenden Impulstriebwerke verschluckte meine Antwort. ENDE
Kleines Arkon-Glossar In diesem Roman taucht eine Vielzahl von Fachausdrücken auf, von denen sich der Großteil im Laufe der Romanhandlung selbst erklärt. Um den Einstieg in die Handlung zu erleichtern, sind in diesem Glossar einige wesentliche Begriffe aufgeführt. Es ist allerdings unmöglich, mit einer solchen Liste alle offenen Fragen zu beantworten - ein Glossar kann ein umfangreiches Lexikon nie ersetzen. Arkon Die große weiße Sonne liegt fast genau im Zentrum des Kugelsternhaufens M 13. Sie wird von 27 Planeten begleitet. Bis zum Jahr 2329 wurde die Sonne von den drei ArkonPlaneten umkreist, die sich mit gleicher Geschwindigkeit und auf derselben Umlaufbahn 102
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bewegten, als Eckpunkte eines gleichschenkligen Dreiecks. Die Sonnenentfernung der drei Planeten betrug 620 Millionen Kilometer. Eine der drei Welten, der Kriegsplanet Arkon III, wurde im Jahr 2329 durch einen Überfall der Blues komplett zerstört. Seither bilden seine Trümmerstücke einen kosmischen Trümmerring auf der ehemaligen Bahn. Arkoniden Im 19. Jahrtausend vor Beginn der christlich-terranischen Zeitrechnung entwickelte sich auf dem dritten Planeten der Sonne Arkon (im Kugelsternhaufen M 13) das Volk der Arkoniden. Es stammte von akonischen Auswanderern ab; diese wiederum sind direkte Nachfolger der Lemurer, der sogenannten Ersten Menschheit. Nimmt man es streng, sind die Arkoniden also Nachfahren der ursprünglichen terranischen Menschheit. Sie sind von der äußeren Gestalt her auch absolut menschenähnlich; meist sind Arkoniden hochgewachsen und weisen einen vergleichsweise langen Schädel auf. »Reine« Arkoniden zeichnen sich durch weiße Haare, eine sehr helle Haut und rötliche Augäpfel aus. Der Hauptunterschied zu den Terranern liegt in der Anatomie: Arkoniden verfügen über eine Knochenbrustplatte anstelle von Rippen. Über Jahrtausende hinweg war das Große Imperium der Arkoniden die stärkste Macht der Milchstraße. Im Jahr 1971 strandete ein Arkon-Raumschiff auf dem irdischen Mond; durch den Kontakt zu den Arkoniden kam Perry Rhodan in Besitz ihrer Technik und konnte in der Folge die Menschheit einigen. Zur aktuellen Handlungszeit erleben die Arkoniden nach Jahrtausenden der Degeneration einen enormen Aufschwung: Das Kristallimperium beginnt damit, wieder die vorherrschende galaktische Macht zu werden. Damit steht es in direkter Gegnerschaft zur Liga Freier Terraner der Menschen. Arkonjahr Ein Arkonjahr entspricht 1,182 Erdjahren. Es unterteilt sich in zehn Perioden (also »Monate«) zu je 36 Arkontagen, hinzu kommen die fünf Pragos der »Katanen des Capits«. Dabei handelt es sich um Feiertage, die auf uralte Riten zurückgingen; früher wurden damit die Fruchtbarkeitsgötter geehrt. Chronner(s) Die Währungseinheit auf imperial-arkonidischer Ebene. Ein Chronner entspricht zehn Merkons oder 100 Skalitos. da Ark So wird die Arkonzeitrechnung bezeichnet; es bedeutet »von Arkon« und gibt an, wie viele Jahre seit Beginn der Zeitrechnung verstrichen sind. Dagor Der arkonidische »All-Kampf« ist im engeren Sinne die waffenlose Kampfkunst der Arkoniden, die angeblich vom legendären Heroen Tran-Atlan geschaffen wurde. Im weiteren Sinne ist damit auch eine Lebenseinstellung verbunden, die sich im ArkonRittertum - bei den Dagoristas - vervollkommnen soll. Hyperraum Laut der im PERRY RHODAN-Universum üblichen Kosmologie ist der Hyperraum jenes fünfdimensionale Kontinuum, das dem Einsteinraum überlagert ist, aber zu diesem in keiner direkten Verbindung steht. Innerhalb des Hyperraums sind Hyperfunk (überlichtschnelle Nachrichtenübermittlung) und überlichtschnelle Raumfahrt möglich. Kur 103
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Ein arkonidischer Sektorenbeauftragter, der über mehr als nur ein Sonnensystem regiert. Larsaf Arkonidischer Name für die terranische Sonne. Die Erde gilt als Larsaf III. Naats Die schwerfällig wirkenden Wesen leben vor allem auf Naat, Naator und den anderen Monden des fünften Arkon-Planeten. Sie sind drei Meter hoch, weisen kurze, stämmige Säulenbeine, überlange Arme und Kugelköpfe mit drei Augen, einem sehr schmalen Mund und einer kleinen Nase auf. Häufig gehen sie auf allen Vieren. Die sauerstoffatmenden Naats sind schwarzbraun, sie verfügen über keinen Haarwuchs. Seit Jahrtausenden sind die Naats ein Hilfsvolk der Arkoniden, häufig nicht mehr wert als Sklaven. Trotz ihrer hohen Intelligenz wurden sie aufgrund ihres erschreckenden Äußeren häufig nur als dumme Wesen betrachtet. Positronik In der PERRY RHODAN-Serie sind Positroniken das »Grundmodell« der ComputerTechnologie. Positroniken sind maschinelle Intelligenzen, die ohne Fünf-D-Effekte auskommen müssen, den Computern aber auch ein hohes Maß an Eigenleben geben. Sie werden in ihrer Ursprungsform in allen Bereichen eingesetzt: in erster Linie als Steuergehirne von Robotern und Raumschiffen. Zur Haupthandlungszeit innerhalb der TRAVERSAN-Romane gelten die KSOL-88/1 als die besten auf dem Markt und werden vor allem an Bord von Militärraumern verwendet; naturgemäß sind sie in verschiedenen Größenordnungen und Leistungsgruppen vorhanden. Satron Abgeleitet vom Begriff »Same Arkon trona«, also »Hört Arkon sprechen«, ist dies der Ausdruck für die »lingua franca«-im Großen Imperium. Schemmen Umkreist wird der Planet von 23 Monden, von denen 17 der Hyperkristall-Förderung dienen, sowie den Orbitalen Städten. Die legendären Orbitalen Städte des 183.200 Kilometer durchmessenden Planeten sind der Treffpunkt für die wichtigsten Regierungsvertreter und Industriekapitäne eines von Leben berstenden Sektors. Die 268 Städte, die den Planeten auf verschiedenen Umlaufbahnen umkreisen, erweisen sich als eine Art kunterbunter Basar im Orbit des Methanriesen, bestehend aus Hunderten von teils riesengroßen Raumstationen. Zahllose kleinere Elemente wurden angehängt, angeschweißt oder mit Leitungen und Gestängen verbunden. Schemmenstern Schemmenstern ist eine weiße Sonne, die 11.821 Lichtjahre von Arkon entfernt ist. Ihr einziger Planet ist der Methanriese Schemmen; dieser wird von 23 Monden und mehreren hundert Orbitalen Städten umkreist. Letztere sind seit Jahrtausenden ein kunterbunter Basar riesiger Raumstationen, die längst legendären Ruf erlangt haben. Grund dafür sind die immensen Vorkommen von Hyperkristallen, die hier ausgebeutet werden. SENTENZA Die uralte Organisation existierte schon in der Frühzeit des Imperiums, sie ist vergleichbar mit der terranischen Mafia. Ursprünglich entstand die SENTENZA als Zusammenschluß der Familien, um ein Gegengewicht vor allem wirtschaftlicher Art gegenüber den Kolonisten zu bilden; doch dann glitten die Clans irgendwann in die Illegalität ab und 104
Frank Borsch
wurden von Imperator Gonozal VII. verboten. Die Clans der SENTENZA decken zur Handlungszeit vom Schutzgeld über verschiedenste Drogen, Erpressung, Glücksspiel bis zu gekauftem Mord praktisch alles ab. Ihr Zeichen ist eine auf die Brust tätowierte Schlange; angeblich den längst ausgestorbenen arkonidischen Yillds nachempfunden. SENTENZA-Leute besitzen Verbindungen bis zur höchsten Ebene und haben so das Imperium großmaßstäblich unterwandert. Springer Seit die Springer (Eigenname: Mehandor) das von Imperator Reomir I. nach langem Drängen an sie verliehene Handelsmonopol als Dauerlehen besitzen, strotzen sie vor Selbstbewußtsein. Die Gesamtflotte der Springer dürfte zur Handlungszeit mehr als 100.000 Großeinheiten erreicht haben, ihr wirtschaftlicher Einfluß ist ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor im Großen Imperium. Die charakteristische Walzenbauweise der Springer beruhte ursprünglich auf der Weiterverwendung und dem Recycling eroberter maahkscher Raumschiffe, weil die Werften in den heißen Phasen der Methankriege ausschließlich der Rüstungsproduktion dienten und für den Bau von Handelsschiffen weder Geld noch Ressourcen zur Verfügung standen. Nach außen hin scheinen die Springer eine geschlossene Einheit zu sein; wenn es hart auf hart kommt, greifen sie auch auf die Söldnerdienste der Überschweren zurück. Bei genauerer Betrachtung der inneren Struktur zerfällt der monolithische Eindruck jedoch: Untereinander sind die Springer scharfe Konkurrenten! Auch ist der Einfluß der einzelnen Springersippen voneinander zu unterscheiden. Große Sippen unterhalten durchaus Handelsflotten von tausend und mehr Großwalzen, während »arme« Patriarchen sich mal eben eine Handvoll oder gar nur ein einziges Schiff leisten können. Tai Ark’Tussan Das Große Arkon-Imperium umfaßte zu seiner Blütezeit also bis zum 21. Jahrhundert terranischer Zeitrechnung mehr als 50.000 Kolonial- sowie in das Imperium integrierte Fremdvölkerwelten. Zu diesen Welten kamen rund 100.000 Planeten und Monde, die ausschließlich industriellen Zwecken dienten; von Planetoiden und Asteroiden, die ebenfalls genutzt werden, ganz zu schweigen. Das Zentrum des Tai Ark’Tussan bildete der Kugelsternhaufen Thantur-Lok, der in terranischen Sternbüchern unter M 13 oder NGC 6205 verzeichnet ist. Transitionstriebwerk Der Überlichtflug der Arkoniden basiert auf dem Transitionstriebwerk. Eine Transition erfolgt im hochrelativistischen Bereich nahe der Lichtgeschwindigkeit, verbunden mit Strukturerschütterungen und Entzerrungsschmerzen (je weiter der Sprung, desto gravierender); in Notfallsituationen können Transitionen durchaus schon bei geringerer Geschwindigkeit eingeleitet werden, doch verstärken sich hierbei die Nebenwirkungen. Als Standardweite je Einzelsprung gelten Distanzen zwischen 1000 und 5000 Lichtjahren; Großraumer ab 500 Metern Durchmesser können auch mit einem Gewaltmanöver bis maximal 35.000 Lichtjahre springen. Trotz positronischer Berechnung sind die Sprungdatenermittlungen kompliziert und langwierig. Traversan Der vierte Planet von Travs Stern durchmißt 14.010 Kilometer und umkreist die Sonne in einem Abstand von 124 Millionen Kilometern. Seine Schwerkraft beträgt 1,15 Gravos, seine Rotation dauert 25 Stunden und 34 Minuten. Der Planet besitzt mit Travs Nachtauge einen rötlichen Mond. Der Planet empfängt eine der Erde vergleichbare Sonnenstrahlung; die klimatischen Bedingungen sind weitgehend der Erde vergleichbar; die etwas größere 105
Fluchtpunkt Schemmenstern
Achsneigung hat allerdings ausgeprägtere Jahreszeiten zur Folge. Es gibt insgesamt drei Kontinente, die etwa die Hälfte der Oberfläche ausmachen: den großen Nordkontinent Yscan mit einem fast bis zum Äquator hinabreichenden, dreieckigen Subkontinent sowie Tsool und Masskyr, die beiden grob ovalen Landmassen der Südhalbkugel. Traversan wurde im Zuge der Hauptexpansionsphase der Arkoniden im neunten vorchristlichen Jahrtausend besiedelt. Die Nachkommen der Erstsiedler kamen rasch in der Ruf, sympathisch und gastfreundlich, aber auch widerspenstig und stolz zu sein. Zur Handlungszeit leben rund 1,4 Milliarden Traversaner auf dem Planeten. Travs Stern Die gelbe Sonne liegt 12.002 Lichtjahre von Arkon entfernt am Rand des Brysch-Sektors. Zum System gehören elf Planeten mit 155 Monden. Yssods-Wüste Rund 1300 Kilometer von der Traversan-Hauptstadt Erican entfernt erstreckt sich die Yssods-Wüste, ein vollständig unbewohnter Landstrich, der über Jahrtausende hinweg so gut wie niemanden interessierte. Dort befindet sich die Zeitstation der Meister der Insel, über die Atlan in die Vergangenheit geschleudert wird. Zhdopanthi Die offizielle Bezeichnung für den Imperator bedeutet so viel wie »Höchstedler«.
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