Atlan - König von Atlantis Nr. 479 Das Ende der Neffen
Geburt der Bestien von H. G. Francis
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Atlan - König von Atlantis Nr. 479 Das Ende der Neffen
Geburt der Bestien von H. G. Francis
In den Höhlen von Sub‐Pthor
In das Geschehen in der Schwarzen Galaxis ist Bewegung gekommen – und schwerwiegende Dinge vollziehen sich. Da ist vor allem Duuhl Larx, der verrückte Neffe, der für gebührende Aufregung sorgt. Mit Koratzo und Copasallior, den beiden Magiern von Oth, die er in seine Gewalt bekommen hat, rast er mit dem Organschiff HERGIEN durch die Schwarze Galaxis, immer auf der Suche nach weiteren »Kollegen«, die er ihrer Lebensenergie berauben kann. Der HERGIEN folgt die GOLʹDHOR, das magische Raumschiff, mit Koy, Kolphyr und vier Magiern an Bord. Die Pthorer sind Duuhl Larx auf der Spur, um ihm seine beiden Gefangenen abzujagen, und nähern sich dabei dem Zentrum der Schwarzen Galaxis. Auch Atlan und Razamon gelangen auf Etappen immer mehr in die Nähe des Ortes, an dem die Geschicke der Schwarzen Galaxis gelenkt werden. Später mehr darüber! Jetzt blenden wir um nach Pthor und beschäftigen uns mit Sator Synk, dem Orxeyaner, Bördo, dem Sohn Sigurds, und Axton‐ Kennon. Zuletzt befanden sie sich in der Barriere von Oth, dem Land der Magier. Jetzt erwachen sie in den Höhlen von Sub‐Pthor und werden Zeugen bei der GEBURT DER BESTIEN …
Die Hauptpersonen des Romans: S. M. Kennon ‐ Der Terraner lebt wieder in seinem eigenen Körper. Sator Synk ‐ Der Orxeyaner in der Unterwelt von Pthor. Bördo ‐ Der Sohn Sigurds benimmt sich leichtsinnig. Ortuga ‐ Ein Wesen mit zwei Bewußtseinen.
1. Sator Synk erwachte, als er einen Schrei hörte. Erschrocken richtete er sich auf. Im ersten Moment wußte er nicht mehr, was geschehen war. Er glaubte geschlafen zu haben. Dann aber erinnerte er sich daran, daß er und Bördo überwältigt worden waren. Die Rotgekleideten! Unwillkürlich griff er zu den Hüften, um sich mit der Waffe verteidigen zu können. Dann sah er, daß das gar nicht notwendig war. Niemand griff ihn an. Bördo stand einige Schritte von ihm entfernt mitten in einer Gruppe von regungslosen Gestalten, die wie schlafend auf dem Boden lagen. Sator Synk schnaubte ärgerlich, als er daran dachte, wie leicht es für die Rotgekleideten gewesen war, sie zu überwältigen und auszuschalten. Er sah sich um. Bördo und er befanden sich in einem riesigen Felsdom, dessen Wände rauh und unbearbeitet waren. Direkt über ihm klaffte ein Riß in der Decke. Darin hingen einige Steine, die so wenig Halt zu haben schienen, daß der Orxeyaner meinte, sie müßten bei der geringsten Erschütterung herausfallen. Synk zog den Kopf ein und trat rasch einige Schritte zur Seite. Ihm fiel ein, daß Pthor bis in die Grundfesten hinein erschüttert
worden war. Das war ein unübersehbares Zeichen dafür gewesen, daß Pthor seine Reise fortsetzen wollte. Synk wußte nicht, ob der Dimensionsfahrstuhl schon gestartet war. Zur Zeit war alles ruhig. Keine Erschütterungen kamen durch, doch das konnte sowohl als Zeichen dafür gewertet werden, daß der Start abgebrochen worden war, oder dafür, daß Pthor durch die Dimensionen jagte. »Wo sind wir?« fragte Bördo. »Das würde ich dir gern beantworten, wenn ich es wüßte.« Synk fuhr sich durch seinen Bart. Seine Augen blitzten auf. »Jedenfalls sind wir etwas besser dran als die Magier.« Er deutete auf die Gestalten am Boden. »Was ist mit ihnen? Sind sie tot oder nur bewußtlos?« Er drehte sich einmal um sich selbst, um die Zahl der Magier abschätzen zu können. »Es müssen mehr als zweihundert sein. Wollen wir sie zählen?« Bördo blickte ihn verwundert an. »Wozu? Was haben wir schon davon, wenn wir wissen, wie viele es sind?« Er blickte zur Decke der Halle hoch und rümpfte die Nase. Ihn erfüllten die gleichen Befürchtungen wie Synk. »Wir sollten lieber versuchen, so schnell wie möglich hier herauszukommen. Wer weiß, wie lange die Halle noch hält.« »Und die Magier? Was ist mit ihnen, wenn hier alles zusammenbricht?« Bördo zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht unser Problem. Wir haben sie nicht hergeschafft. Es waren die Rotgekleideten. Sie tragen die Verantwortung.« Er merkte, daß der Freund ihn falsch verstand. »Das soll nicht bedeuten, daß mir das Schicksal der Magier gleichgültig ist. Ich sehe jedoch keine Möglichkeit, ihnen zu helfen. Oder willst du zweihundert Magier oder mehr auf deinen Schultern hinaustragen, obwohl du gar nicht weißt, ob diese Halle einen Ausgang hat?« Sator Synk lachte. »Keinen Ausgang. Du machst Witze. Wir sind hier drinnen, also
muß es auch einen Ausgang geben.« »Wer weiß, welche Fähigkeiten die Rotröcke haben? Möglicherweise können sie Entfernungen allein mit ihrem Willen überwinden.« Synk spuckte auf den Boden. »Das wollen wir nicht hoffen, denn dann säßen wir wirklich in der Falle.« Dämmeriges Licht erfüllte den Felsdom. Dabei war jedoch nicht zu erkennen, woher das Licht kam. Es schien aus allen Felsspalten an der Decke zu strahlen, aber Synk und Bördo, die sich kurz darüber unterhielten, waren sich dessen nicht sicher. Sie schritten durch die Reihen der Magier. Hin und wieder knieten sie sich neben dem einen oder anderen nieder und versuchten, ihn aufzuwecken. Sator Synk packte einen Magier bei den Haaren und versetzte ihm einige leichte Ohrfeigen. »Er reagiert überhaupt nicht«, sagte er dann staunend und ließ den Kopf auf den Boden zurücksinken. »Er ist völlig weggetreten, aber er ist nicht tot.« Um sich davon zu überzeugen, daß er sich nicht irrte, fühlte er den Puls des Magiers. Das hatte Bördo längst bei einigen anderen getan. Das Ergebnis war bei allein gleich gewesen. Der Pulsschlag war äußerst schwach aber regelmäßig. Die Magier lagen in tiefer Bewußtlosigkeit, und nichts schien sie daraus lösen zu können. »Mir ist, als wäre ich mit lauter Leichen eingesperrt«, sagte Bördo voller Unbehagen. »Mir geht es nicht anders.« Sator Synk erhob sich. Er war nur etwas mehr als anderthalb Meter groß, dabei aber ungemein breit und muskulös. Jede seiner Bewegungen ließ seine ungewöhnliche Kraft ahnen. Ein roter Vollbart reichte ihm bis auf die Brust herab und ließ seinen Kopf größer erscheinen, als er war. Der Bart bedeckte fast das ganze Gesicht. Nur die Nasenspitze ragte daraus hervor, und die hellblauen Augen bildeten einen seltsamen Kontrast
zu dem Rot der Barthaare. Sator Synk fürchtete sich vor kaum etwas. Doch die Situation, in der er sich nun befand, war ihm unheimlich. Warum waren sie erwacht, die Magier aber nicht? »Was ist los mit ihnen?« Bördo blickte den Freund an, doch dieser schien seine Frage gar nicht gehört zu haben. Der Orxeyaner stürzte neben einem blonden Magier auf die Knie, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Wach doch auf, du«, brüllte er. Der Magier hörte die Worte nicht. Schlaff sank er auf den Boden zurück, und enttäuscht gab Synk auf. Er sprang hoch und wandte sich ab. »Wir müssen es ohne sie versuchen«, sagte er. »Vielleicht gibt es doch irgendwo einen Ausgang.« »Es muß einen geben.« Bördo stieg über einige der bewußtlosen Gestalten hinweg und näherte sich einem Felsvorsprung, hinter dem er eine Nische vermutete. »Ich glaube einfach nicht, daß die Rotgekleideten magische Fähigkeiten haben.« Er blieb wie erstarrt stehen. »Was ist los?« fragte Synk, der einige Schritte von ihm entfernt war. »Komm mal her. Hier liegt ein ganz seltsamer Knabe.« Als Sator Synk zu Bördo aufschloß, sah er, was dieser gemeint hatte. »Er kommt gerade zu sich«, flüsterte der Sohn Sigurds. »Wie sieht der denn aus?« Synk lachte unsicher. »Bei dem paßt nichts zusammen. Sieh dir die Arme an. Und die Beine! Das ist doch alles …« Der Orxeyaner schüttelte den Kopf. Er schien seinen Augen nicht zu trauen. Die menschliche Gestalt, die da vor den beiden Freunden auf dem Felsboden lag, hatte natürlich ausgebildete Hände und Füße, wie sie zu einem erwachsenen Mann paßten. Auch die Arme sahen bis zu
den Ellenbogen, und die Beine bis zu den Knien völlig normal aus. Die Oberarme und die Oberschenkel aber waren armselig und dünn, als seien sie von einer unbekannten Krankheit ausgelaugt worden. Der tonnenförmige Leib wiederum schien mehr zu den Händen und Füßen zu passen, wenngleich nicht ganz. Es schien, als befinde er sich in einem Übergangsstadium, in dem noch nicht entschieden war, ob er total mißlingen, oder ob er sich normalisieren wolle. Das ist der seltsamste Magier, den ich je gesehen habe, dachte Sator Synk. Sie empfanden eine seltsame Scheu vor dem Fremden, ohne sich allerdings vor ihm zu fürchten. Einerseits hatten sie das Gefühl, ihn beschützen zu müssen, weil sie meinten, daß er Hilfe benötigte, andererseits fühlten sie sich abgestoßen. »Er wird wach«, flüsterte Bördo, als wolle er den Fremden nicht stören. »Ja. Eigenartig. Wieso wird er wach, während mit den anderen Magiern gar nichts passiert?« »Keine Ahnung.« Bördo kniete sich neben dem Fremden nieder. Er betrachtete das Gesicht, das einerseits jung und frisch aussah. Es hatte ein rundes, energisch wirkendes Kinn, eine gut ausgebildete Nase und blaue Augen, die ihn anblickten, aber nicht wahrnahmen. Dichter, blonder Flaum bedeckte den Schädel. Bördo hatte den Eindruck, daß der Fremde noch vor kurzem kahlköpfig gewesen war, und daß nun die Haare nachwuchsen. »He, was ist mit dir?« fragte er laut und schüttelte den Fremden an der Schulter. »Willst du nicht endlich aufwachen?« Der Blonde seufzte. Er schloß die Augen und massierte sie sich mit den Fingerspitzen. »Wo bin ich?« fragte er. »Eine gute Frage«, erwiderte Synk spöttelnd. »Wir würden sie dir gern beantworten, wenn wir könnten.«
»Wir wissen es selbst nicht«, erklärte Bördo. »Wir sind überwältigt und hierhergebracht worden.« Der Fremde atmete einige Male tief durch und richtete sich auf. Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu überwinden. Dann stellte er sich mit Bördos Hilfe aufrecht hin. Er rollte mit den Schultern und hüpfte auf der Stelle, um den Blutkreislauf anzuregen. Danach schien es ihm besser zu gehen. »Wer bist du?« fragte Synk, der die gymnastischen Übungen ungeduldig und mit Unverständnis verfolgt hatte. Der Fremde kreuzte die Arme vor der Brust und blickte nachdenklich auf seine Füße. Es schien, als suche er nach einer Antwort auf diese Frage. »Oder weißt du es etwa selber nicht?« »Doch, doch«, erwiderte er. Ein flüchtiges Lächeln glitt über seine Lippen. Er streckte die Arme aus und spreizte die Finger ab, um sie zu betrachten. Es schien, als sehe er sie zum erstenmal. Was ist mit ihm? fragte sich Sator Synk. Er benimmt sich, als sei ihm das Leben gerade neu geschenkt worden. »Mein Name ist Kennon. Sinclair Marout Kennon«, sagte der Fremde. * Lebo Axton‐Kennon wußte, daß sein Körper nach dem Zusammenstoß mit dem Grizzard‐Bewußtsein den Magiern einigen Kummer bereitet hatte. Das hatte vor allem daran gelegen, daß sein eigenes Bewußtsein zunächst nicht in die angestammte Hülle zurückgekehrt war. Die Magier hatten geglaubt, daß das Bewußtsein vor seinem damals halbverwesten, kaum noch lebensfähigen Körper zurückgeschreckt war. Doch das war nicht richtig gewesen.
Sinclair Marout Kennon erinnerte sich recht gut daran, daß sein Bewußtsein, als es innerhalb der Barriere von Oth aus dem magischen Tunnel gekommen war, sich plötzlich einem Sog ausgesetzt gesehen hatte, der es von Pthor wegziehen wollte. »Sinclair Marout Kennon. Ein seltsamer Name«, sagte Bördo und blickte ihn forschend an. »Ich habe ihn noch nie gehört.« »Ich auch nicht«, bemerkte Sator Synk. »Wer bist du?« Kennon lächelte. »Habe ich so undeutlich gesprochen? Sinclair Marout Kennon ist der Name, unter dem ich geboren bin. Was sollte ich sonst sagen? Ich glaube nicht, daß wir uns schon einmal begegnet sind. Du kannst den Namen also auch noch nicht gehört haben.« Kennon‐Axton nahm es mit der Wahrheit nicht so genau! Er wußte, wem er gegenüberstand. Er war Sator Synk schon begegnet. Dieser hatte ihn jedoch nur im Grizzard‐Körper erlebt. Daher war es nicht überraschend, daß der Orxeyaner ihn nicht wiedererkannte. Der Terraner war sicher, daß der Begleiter des Orxeyaners Bördo, der Sohn Sigurds war. Von ihm hatte er schon viel gehört. Warum gibst du dich ihnen nicht zu erkennen? fragte sich der Verwachsene. Lag es nicht nahe, daß er ihnen offenbarte, wer er war? Sie wußten offenbar nur wenig mit ihm anzufangen. Er glaubte sogar, daß sie ihn für einen Magier hielten. Hatte er nicht unter zweihundert oder noch mehr Magiern gelegen? Der einzige Unterschied zwischen ihm und ihnen war, daß sie bewußtlos waren, er jedoch nicht. Vom Äußeren her gesehen, war er eher den Magiern als anderen Wesen zuzuordnen. Mit einem gewissen Vergnügen betrachtete Kennon seine Glieder. Er war noch nicht zufrieden mit dem Ergebnis, glaubte jedoch fest daran, daß der Umformungsprozeß noch nicht zu Ende war. Seine Hände, die Unterarme, die Füße und die Unterschenkel bis hoch zu den Knien sahen fast normal aus. Und er war deutlich
größer geworden. Das stellte er daran fest, daß er nun auf Sator Synk herabblicken konnte. Der Größenunterschied war nicht groß, aber einwandfrei vorhanden. Kennon schätzte, daß er auf über 1,60 Meter angewachsen war. Als besonders angenehm fand er, daß sein Kinn sich gerundet hatte, und daß ihn das nervöse Zucken seines linken Lides nicht mehr belästigte. »Bist du sicher, daß du Sinclair Marout Kennon heißt?« fragte Sator Synk. Der Terraner lachte laut auf. »Natürlich bin ich das«, antwortete er. Vielleicht habe ich ihnen noch nichts gesagt, um den vielen Erklärungen aus dem Wege zu gehen, die dann notwendig wären. Ich müßte ihnen Aufschluß über das Schicksal Grizzards geben, von dem ich selbst nicht viel weiß. Vielleicht würden sie mich über Atlan befragen, und ich könnte kaum etwas antworten. Wie sollte ich erklären, was mit mir geschehen ist? Ich begreife es ja selbst kaum. »Und wer seid ihr?« Kennon rieb sich die Arme. Sie schmerzten ihn ein wenig, aber die Schmerzen beunruhigten ihn nicht. Er redete sich ein, daß es Wachstumsschmerzen waren, wie er sie als Kind gekannt hatte. »Ich bin Bördo.« »Und ich Sator Synk.« Die beiden reichten ihm die Hände. »Bist du ein Magier?« Bördo blickte ihn unsicher an. »Natürlich nicht. Ihr seht doch, die Magier sind bewußtlos. Ich weiß nicht, wer dafür gesorgt hat, daß sie es sind. Aber wer auch immer es getan hat, er hat konsequent gehandelt.« Kennon ging zu einigen Magiern hin und untersuchte sie. Dabei dachte er an die Magier Pyghor und Resethe, die seinen Körper mit ihren magischen Impulsen verändert hatten. Sie wußten wahrscheinlich gar nicht, daß er über ihre Bemühungen informiert
war. Kennon suchte sie, aber er fand sie nicht, da Bördo und Synk ihm keine Zeit ließen, sich in der Höhle umzusehen. »Pthor ist in Bewegung geraten«, erklärte der Orxeyaner. »Dabei sind die Felsen kräftig erschüttert worden. Mich wundert eigentlich nur, daß hier nicht alles zusammengebrochen ist und uns erschlagen hat.« Der Terraner blickte nach oben und zuckte unwillkürlich zusammen. Er hatte das Gefühl, daß ein winziger Anstoß genügte, den Felsdom in sich zusammenstürzen zu lassen. »Wir sollten versuchen, diese Höhle so schnell wie möglich zu verlassen. Allerdings möchte ich den Magiern helfen«, sagte er. Dabei verschwieg er, daß es ihm weniger um die Magier als vielmehr um die Umwandlung seines Körpers ging. Er war glücklich, nun wieder in seinem Originalkörper zu sein, aber er wollte nicht auf halbem Weg stehenbleiben, und er wußte, daß ihm nur die Magier helfen konnten, das Werk zu vollenden. Eine gewisse Zeitlang mochte sich der Prozeß von selbst am Leben erhalten, aber dann würde die Kraft der magischen Impulse erlöschen. »Wir müssen einen Weg nach draußen finden, und dann versuchen, die Magier aus ihrem Bann zu befreien.« »Das ist genau das, was wir suchen – einen Ausgang«, erwiderte Sator Synk mit bellender Stimme. »Bis jetzt haben wir noch keinen gefunden. Vielleicht gibt es überhaupt keinen.« Kennon lächelte. »Es muß einen geben. Wie wären wir sonst hierhergekommen?« »Daß wir hier sind, ist kein Beweis für einen Zugang.« Synk stützte seine Hände in die Hüften. »Hast du schon einmal von dem Magier Copasallior gehört? Er kann den Raum kraft seines Willens überwinden. Er kann durch Felswände gehen. Warum sollten die Rotgekleideten, die uns hier eingesperrt haben, so etwas nicht auch können?« Das wäre wirklich fatal, wenn wir es mit Teleportern zu tun hätten,
dachte Kennon. Dann wären wir allerdings geliefert. »Möglich ist alles«, sagte er laut. »Aber ich glaube nicht daran, daß es so ist. Kommt. Wir gehen die Höhle ab. Immer an der Wand entlang, bis wir wieder an dieser Stelle sind. Wenn irgendwo eine Tür oder etwas Ähnliches ist, dann werden wir sie finden.« »Und hoffentlich öffnen können«, fügte Bördo skeptisch hinzu. »Darüber mache ich mir jetzt noch keine Gedanken.« Kennon fühlte sich von neuen Energien durchflutet. Er spürte die Last seines verkrüppelten Körpers kaum noch. Früher hatte er sich bei jedem Schritt mit diesem auseinandersetzen müssen. Jede Bewegung war zur Qual geworden, und er hatte ständig darüber nachgedacht, wie er unter möglichst geringem körperlichen Aufwand weiterkommen konnte. Auch jetzt funktionierte sein Körper noch nicht so wie der eines durchtrainierten, normalen Mannes. Die Proportionen stimmten noch nicht. Die Muskulatur der Oberschenkel war noch nicht gut genug ausgebildet. Dennoch konnte er gehen, ohne vor Schwäche die Füße über den Boden schleifen zu müssen, und sein nunmehr gestrecktes Rückgrat schmerzte nicht bei jeder Bewegung. Aber nicht nur sein Körper hatte sich verändert. Auch seine Sinne funktionierten besser. Kennon dachte voller Optimismus an die Zukunft, und für ihn war selbstverständlich, daß er die Führungsrolle übernahm. Er fühlte sich Bördo und Synk überlegen, ließ sie das jedoch nicht spüren. Die beiden konnten nicht so viel Erfahrung haben wie er, und sie schienen froh darüber zu sein, daß er das Heft in die Hand nahm. Die Situation, in der sie sich befanden, war ihnen fremd. Sie hatten die Orientierung in gewissem Maß verloren, zumal sie durch die Tatsache verunsichert wurden, daß die Magier nach wie vor in tiefer Bewußtlosigkeit lagen und daß niemand kam, der sich um sie kümmerte. »Ich möchte wissen, was geschieht«, sagte Bördo. Er blieb an einer Felsspalte stehen. »Die Rotgekleideten können die Magier nicht
tagelang so herumliegen lassen. Irgendwann müssen sie sie versorgen, oder einige werden sterben.« »Die Magier sind unsterblich«, erklärte Sator Synk. »Auch Unsterbliche können verhungern und verdursten«, widersprach Bördo. »Das ist doch wohl klar.« »Machen wir uns keine Gedanken über die Roten«, schlug Kennon vor. »Sorgen wir lieber dafür, daß wir hier herauskommen und dann den Magiern helfen können. Ich fürchte, die Rotgekleideten werden nichts für sie tun.« »Pthor hat sich in Bewegung gesetzt«, sagte Synk. »Wenn wir am Ziel sind, werden die Magier erwachen.« »Das hat viel für sich«, gab Kennon zu. »Mir wäre es jedoch lieber, wir könnten wenigstens einige von ihnen aufwecken, bevor es soweit ist, sonst sind wir den Rotröcken auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.« »Daran möchte ich lieber gar nicht denken«, entgegnete Bördo. Er ließ seine Hände über die Felsen gleiten, die an dieser Stelle brüchig und alt aussahen. Kennon wurde aufmerksam. Ihm fiel auf, daß das Gestein sich farblich deutlich von dem in der Umgebung unterschied. Es war grau und hatte teilweise sogar weiße Fugen, während es sonst bräunlich aussah. »Hier scheint etwas zu sein«, sagte Synk. Er klopfte mit den Knöcheln gegen den Felsen und erzeugte damit seltsam hohl klingende Geräusche. »Hör auf damit«, sagte Kennon rasch. »Nicht weiter!« 2. Irgendwann in ferner Vergangenheit hatte er auf den Namen Ortuga gehört. Er wußte nicht mehr, wie lange das schon her war, denn das Zeitempfinden war ihm im Verlauf der Jahrhunderte verloren gegangen. Oder waren es Jahrmillionen gewesen?
In gewissen Abständen hatte Ortuga versucht, aus seinem Gefängnis auszubrechen. Es war ihm nicht gelungen. Doch plötzlich hatte sich ihm eine unglaubliche Chance geboten, in die Freiheit zu entkommen. Das Bewußtsein eines anderen Wesens hatte ihn fast berührt. Ortuga glaubte, ein körperliches Glücksgefühl zu empfinden, als er daran dachte. Er wußte jedoch, daß es solche Gefühle für ihn nicht gab, da er keinen Körper besaß. Ein labiles Bewußtsein hatte sich im dunklen Bereich der Sonne befunden. Es war auf dem Weg zu jenem seltsamen Körper gewesen, der durch die Dimensionen bis in die Nähe der Sonne gekommen war und hier für einige Zeit verweilt hatte. Mit Bedauern erinnerte sich Ortuga an den schweren Kampf, der hinter ihm lag und den er vorläufig verloren hatte. Das andere Bewußtsein hatte mit unwiderstehlicher Kraft nach einem Körper gedrängt, obwohl dieser schon in Zerfall übergegangen war. Ortuga hatte es verstehen können, denn er selbst wünschte sich nichts mehr, als endlich wieder für einige Zeit in einem Körper zu leben und nicht mehr Teil eines Sammelkörpers zu sein. Die anderen belästigten ihn nicht. Sie waren da und schienen auf irgend etwas zu warten. Sie hatten sich alle im schwarzen Kern der Sonne vereinigt. Dieser hatte sie angesogen, und sie hatten sich nicht dagegen gesträubt, daß er ihre Persönlichkeit ausgelöscht hatte. Ortuga hatte nie ein Bewußtsein erlebt, das sich dagegen gewehrt hatte. Bis vor kurzem. Ein Bewußtsein war in der Nähe der Sonne erschienen, das mit aller Kraft und Wildheit gegen den Sog angekämpft hatte, der von dem schwarzen Kern der Sonne ausging. Es hatte erkannt, daß die schwarzen Kerne der Sonnen in dieser Galaxis alle miteinander in
Verbindung standen, und daß es sich dabei um psionische Gebilde handelte. Ortuga fragte sich noch immer, warum diese Entdeckung – die ihm ganz selbstverständlich erschien – den Fremden so erregt hatte, daß sich dieser für einige Zeit nicht zu konzentrieren vermochte. Ortuga hatte seine Gedanken erfaßt, so flüchtig sie auch gewesen waren. Sie hatten sich nur mit dem Wesen der Sonnen in der Schwarzen Galaxis und mit den schwarzen Kernen der Sterne befaßt. Was war denn so besonderes daran, daß die schwarzen Kerne psionische Gebilde waren, die nicht materiell waren und darum auch den Energiehaushalt der Sonnen nicht beeinträchtigten? Für das fremde Bewußtsein war dies offenbar eine geradezu ungeheuerliche Entdeckung. Als erschreckend hatte der Fremde die Tatsache empfunden, daß die schwarzen Kerne einen ständigen Sog bildeten, mit dem sie freie Bewußtseine einfingen, um sie in sich aufzunehmen. Verzweifelt hatte er dagegen angekämpft, seine Persönlichkeit im schwarzen Kern zu verlieren. Ortuga, das Geisteswesen, bedauerte, daß er das getan hätte, denn endlich war ein Körper in seiner Nähe gewesen, den er hätte übernehmen können. Er war bereits auf dem Weg zu diesem Körper gewesen, als der Fremde wie aus dem Nichts heraus erschienen war und Anspruch darauf erhoben hatte. Ortuga hatte alles unternommen, was in seiner Macht stand, ihn daran zu hindern, in diesen Körper zu gleiten. Er hatte den Sog der Sonne auf das fremde Bewußtsein verstärkt, und alle freien Energien auf sich selbst gelenkt. Doch alles war vergeblich gewesen. Dieser Fremde, der sich Kennon nannte, war stärker gewesen. Ortuga hatte ihn nicht daran hindern können, in seinen Körper zurückzugleiten. Wieder kreiste Ortuga an der Peripherie des schwarzen Kerns und
lauschte mit allen Sinnen, bis ihn ein Ereignis aufs Unerträglichste belastete. Er hatte die Hoffnungen nicht aufgegeben, den Körper Kennons doch noch an sich reißen zu können. Selbst dann nicht, als er verfolgt hatte, wie Körper und Geist Kennons durch die Hilfe magischer Impulse immer stärker geworden waren. Aber dann hatte sich Pthor, das seltsame Gebilde, das durch die Dimensionen gekommen war, wieder in Bewegung gesetzt. Es drohte, durch die Dimensionen zu enteilen. Ortuga war einer Panik nahe. Er fürchtete, abermals allein zu bleiben. Er hatte Angst davor, daß erneut Jahrmillionen verstrichen, bevor sich vielleicht eine neue Chance ergab. Er hatte verfolgt, wie im fernen Bereich der Galaxis Sonnen entstanden waren, und wie sie in gewaltigen Explosionen nach Millionen von Jahren wieder vergingen. Sollte er das Martyrium ewigen Wartens noch einmal durchmachen? Sollte er das Dimensionsfahrzeug enteilen lassen und damit jede Hoffnung aufgeben? Nein. Er wollte kämpfen. Notfalls wollte er Kennon vernichten und ihn mit explosiver Gewalt aus seinem Körper vertreiben. Während er sich noch mit diesem Plan befaßte, trat eine Veränderung auf dem Dimensionsfahrstuhl ein. Ortuga spürte, daß Kennon plötzlich mit einem parapsychischen Pol zusammengetroffen war, der ihm eine unfaßbar gute Chance bot. Nur ein winziger Anstoß genügte noch, um ihn auf den Dimensionsfahrstuhl herabfahren zu lassen. * »Was ist los mit dir?« fragte Bördo. Er blickte Kennon überrascht an.
»Ist etwas mit dieser Mauer?« Kennon schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er stammelnd. Sator Synk lachte. Er schlug die Faust gegen den Felsen. »Es hört sich an, als ob dahinter ein Hohlraum ist.« »Nein. Bitte, nicht.« Kennon sprang auf ihn zu und riß ihn zurück. Schweiß bedeckte sein Gesicht. »Das darfst du nicht.« Wie auf ein geheimes Kommando packten Bördo und Synk den Terraner und hielten ihn fest. »Moment mal«, sagte der Orxeyaner. »Irgend etwas stimmt doch nicht mit dir. Du kennst dich hier in der Höhle aus. Du weißt, was hinter dem Gestein ist. Du hast es womöglich selbst gemauert, wie?« Sinclair Marout Kennon schüttelte verzweifelt den Kopf. Wie hätte er den beiden erklären sollen, daß sich hinter dem Fels nur ein Gefühl verbarg? Er dachte an die Kraft, die ihn in den schwarzen Kern der Sonne hatte reißen wollen, als er auf dem Weg vom Grizzard‐Körper zu seinem eigenen Körper gewesen war. Plötzlich war die Erinnerung an den verzweifelten Kampf mit jenem schier übermächtigen Wesen wieder da, das ihn hatte auslöschen und in die Ewigkeit schleudern wollen. Die Magier hatten ihm geholfen, aber das konnten sie nun nicht mehr. Voller Grauen dachte er daran, daß nicht viel gefehlt hätte, und er wäre zu einer Existenz auf rein geistiger Basis im schwarzen Kern der Sonne verdammt worden. Das wäre ein Dasein gewesen, das seinem ganzen Wesen widerstrebt hätte, zumal er nicht in einer positiven Bewußtseinsballung aufgegangen wäre, sondern in einem Konzentrat des Bösen. »Nein – ich weiß nicht, was hinter dem Gestein ist«, verteidigte er sich. »Ich habe nichts damit zu tun. Ich spüre nur, daß es gefährlich ist, sich damit zu befassen. Laßt uns weggehen. Schnell. Bevor es zu
spät ist.« Sator Synk lachte abfällig. Er schüttelte den Kopf. »Nicht doch, mein Lieber. Jetzt sind wir neugierig geworden.« »Neugier kann tödlich sein«, warnte Kennon. »Ich hätte gern gewußt, wie du in diese Höhle gekommen bist«, sagte der Sohn Sigurds plötzlich. »Haben dich auch die Rotröcke geschnappt?« »Nein. Jedenfalls habe ich keine gesehen. Ich bin hier aufgewacht. Ebenso wie ihr.« »Und wo warst du vorher?« »Ich war krank. Die Magier Pyghor und Resethe haben mich behandelt. Wahrscheinlich hat man mich bei ihnen erwischt, während ich bewußtlos war. Es tut mir leid. Ich kann es wirklich nicht erklären.« Hätte er ihnen sagen sollen, daß er zuvor viele Lichtjahre von Pthor entfernt auf einem anderen Dimensionsfahrstuhl gewesen war – allerdings nur geistig, während sein absterbender Körper auf Pthor geblieben war? Sie würden dir kein Wort glauben. Sie nehmen es dir ja noch nicht einmal ab, daß du nicht weißt, wie du in die Höhle gekommen bist. Sie selbst wurden von einem greifbaren Gegner überwältigt. Du nicht. Das ist der Unterschied. Er schob diese Gedanken zur Seite und bemühte sich, kühl und ruhig zu bleiben. Doch ganz gelang ihm das nicht, denn er spürte, wie das Unheimliche hinter der Felswand drängte und pulsierte, wie es von Sekunde zu Sekunde lebendiger wurde, wie es eine energetische Brücke zum schwarzen Kern der Sonne aufbaute, die allmählich hinter Pthor zurückblieb, und wie der Sog stärker und stärker wurde. Er begriff, daß jenes Geisteswesen nicht von Pthor getrennt werden wollte, daß es sich endlich aus seiner Einsamkeit lösen wollte und daß ihm dazu jedes Mittel recht war. Ließ sich überhaupt verhindern, daß es sich irgendwo auf Pthor
manifestierte? Kennon blickte sich resignierend um. Wenn die Magier doch nur aufwachen würden. Sie alle zusammen hätten sicherlich Mittel und Wege gefunden, das Fremde abzuwehren. Doch sie regten sich nicht. Kennon wurde das bedrückende Gefühl nicht los, daß sie alle im Sterben lagen. »Du warst krank. Was fehlte dir denn?« fragte Bördo. »Ihr fragt und fragt und fragt«, schrie Kennon erregt. »Warum geht ihr nicht ein paar Schritte weiter?« »Weil wir wissen wollen, was hier faul ist«, antwortete Synk. Er schlug mit der Faust gegen die Felsen. Kennon zuckte zusammen. Er erwartete, daß der Orxeyaner sich die Hand blutig schlagen würde. Doch die Faust fuhr in den Felsen hinein, als bestehe dieser nicht aus gewachsenem Gestein. Ein Blitz zuckte von der Decke der Halle herab, und ein ohrenbetäubender Knall ließ die Felsen erzittern. Kopfgroße Steinbrocken stürzten herab, ohne einen der Magier zu verletzen. Der Terraner fuhr erschrocken zurück, und auch Bördo und Synk flüchteten tiefer in die Höhle. Der Felsen platzte an der Stelle auseinander, an der der rotbärtige Orxeyaner zugeschlagen hatte. Graue Brocken fielen polternd auf den Boden der Halle, und eine von gleißend hellem Licht erfüllte Nische öffnete sich. Mit geweiteten Augen blickten die drei Männer in die Nische, ohne den geringsten Versuch zu machen, sich vor dem hellen Licht zu schützen. In der Öffnung stand eine humanoide Gestalt. Sie war etwa zwei Meter groß und bis auf einen Lendenschutz unbekleidet. Auf den mächtigen Schultern saß ein Büffelkopf mit zwei ausladenden Hörnern. Ein zottiger Bart hing ihm bis auf die Brust herab. Die weit hervorquellenden Augen blickten starr an Kennon, Bördo und Synk vorbei.
Arme und Beine waren mit dicken Metallketten an den Fels geschmiedet. Der Gefangene rüttelte heftig daran und versuchte, sich zu befreien. Dabei stöhnte er dumpf und gequält. »Hast du ihn da eingemauert?« fragte Synk und packte Kennon an der Schulter. »Natürlich nicht. Ich wußte nicht einmal, daß dieses Wesen hinter dem Fels ist. Ich habe nur gespürt, daß eine Gefahr von ihm ausgeht.« »Eine Gefahr?« Der Orxeyaner lachte laut auf. »Das meinst du doch wohl nicht im Ernst?« »Er ist gefesselt«, bemerkte Bördo. »Wie sollte er sich befreien, wenn wir ihm nicht helfen?« Der Mann mit dem Büffelkopf warf sich brüllend nach vorn, wobei er mit aller Kraft an den Ketten zerrte. Laut knirschend zerbarst das Metall. Der Büffelköpfige schrie triumphierend auf. Er sprang geschmeidig aus der Nische heraus und rannte auf Kennon zu. Dieser warf sich erschrocken zur Seite. Er glaubte, daß der andere ihn angreifen wollte, doch er irrte sich. Das büffelköpfige Wesen stürmte schnaubend und keuchend an ihm vorbei, raste quer durch die Halle und stürzte sich in einen Felsspalt, wo er im Dunkel verschwand. Das Licht in seinem ehemaligen Gefängnis erlosch, und ein wildes Gelächter hallte von den Felsen wider. Es durchlief den Felsdom mit zahllosen Echos und schien nicht enden zu wollen. Sinclair Marout Kennon preßte sich die Hände gegen die Ohren, und erst jetzt merkte er, daß das Gelächter von innen heraus kam. Er hatte das Gefühl, daß es vom schwarzen Kern der Sonne auf ihn herabrollte, um ihn zu peinigen. Ortuga hat es doch noch geschafft! durchfuhr es ihn, und er wunderte sich, daß er sogar den Namen des Wesens wußte, mit dem er bei seiner Rückkehr nach Pthor um seinen schon fast toten Körper
gekämpft hatte. Ortuga, das Wesen aus der schwarzen Sonne, das eine halbe Ewigkeit gelebt hatte, ohne sich mit den anderen Bewußtseinen im schwarzen Kern zu vereinen und sich in ihnen aufzulösen. Es war ein Wesen, das aus seinem Innersten heraus rebellisch war und sich niemandem beugte. Wie ein Blitz war es auf Pthor herabgefahren und hatte einen Körper in Besitz genommen, der in den Felsen gefangen gewesen war. »Wie lange mag der arme Kerl darin gesteckt haben?« fragte Bördo. Er blickte Kennon fragend an. »Woher soll ich das wissen?« Der Terraner hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu behalten. Das Mißtrauen Bördos verletzte ihn. Es war unberechtigt, aber er konnte nichts dagegen tun. Kennons Leben war ein einziger Leidensweg gewesen. Sollte es so bleiben? Sollten die Quälereien auch in dem neuen Körper weitergehen? Bewahrte ihn der neue Körper nicht vor Verdächtigungen und Herabsetzungen? Hatten diese vielleicht mit seinem Körper gar nichts zu tun, sondern allein mit seinem Verhalten? War es ein Fehler gewesen, den beiden nicht seine wahre Identität zu verraten? »Könnte es nicht sein, daß du doch etwas weißt?« forschte Synk. Kennon schüttelte verzweifelt den Kopf. »Quält mich nicht, sondern versucht, mir zu vertrauen. Ich schwöre euch, daß ich euch nicht enttäuschen werde. Noch kann ich euch nicht die ganze Wahrheit sagen, aber ich weiß, daß es bald soweit sein wird. Habt Geduld mit mir, und nehmt mir vor allem ab, daß ich von diesem Büffelköpfigen nichts gewußt habe.« Er wies auf den Felsspalt, in dem der Fremde verschwunden war. »Wir haben nach einem Ausgang gesucht. Der andere wußte offenbar, wo einer zu finden ist. Laßt uns dort nachsehen.«
Bördo und Sator Synk waren einverstanden. Hoffentlich ist da tatsächlich ein Tor, dachte Kennon, ein Tor, das sich leicht öffnen läßt. Er näherte sich der Felsnische, als plötzlich Steine mit ohrenbetäubendem Krachen in ihr herabbrachen. Unwillkürlich blieb Kennon stehen. »Was ist das?« fragte Bördo. »Was hat der Kerl angerichtet?« Er schob sich an dem Terraner vorbei und versuchte durch die Staubwolke, die aus dem Felsspalt quoll, etwas zu erkennen. »Der Gang ist verschüttet«, stellte Sator Synk so ruhig fest, als habe diese Tatsache nicht den geringsten Einfluß auf ihre Lage. »Glaubst du, daß wir ihn freigraben können?« Bördo ging einige Schritte in den Gang hinein und vertrieb den Staub, indem er mit den Händen wedelte. Dann blieb er stehen, zuckte resignierend mit den Schultern und kehrte zu Synk und Kennon zurück. »Aussichtslos«, stellte der Terraner fest. »Der ganze Gang ist verschüttet«, bestätigte Bördo. »Ich glaube, wir könnten wochenlang graben, und kämen doch nicht durch.« »Bestimmt ist noch ein weiterer Ausgang da.« Kennon war hungrig, und er hatte Durst. Sein umgeformter Körper brauchte Energie, und es wurde Zeit, daß er sie ihm zuführte. Der Orxeyaner wandte sich wortlos ab und ging weiter, während Bördo versuchte, noch einmal auf den Fremden zu sprechen zu kommen. Der Terraner wich ihm jedoch aus, weil er über ihn auch nichts zu sagen wußte, was der Sohn Sigurds verstanden hätte. »Hier ist eine Tür«, rief Synk, der sich fast hundert Meter weit von ihnen entfernt hatte. »Sie ist verschlossen.« Bördo und Kennon eilten zu ihm. Neue Hoffnung keimte in ihnen auf. Der Sohn Sigurds glaubte, daß sie nun bald ins Freie kommen würden. Um so enttäuschter war er, als er sah, daß Synk vor einem vier Meter hohen und drei Meter breiten Portal stand, das mit Panzerplatten versehen war und keinen Griff hatte. »Wie sollen wir das öffnen?« fragte er. »Es ist kein Griff dran, kein
Hebel, kein Riegel. Nichts.« Er preßte seine Finger gegen eine Kante des Portals, um es auf diese Weise aufzustemmen, erzielte jedoch keinerlei Wirkung. Enttäuscht ließ er die Schultern sinken. Synk setzte sich auf den Boden. »So etwas habe ich befürchtet«, sagte er. »Die Rotröcke haben uns hier nicht eingesperrt, ohne die Ausgänge entsprechend abzusichern. Aber mir ist so eine Tür immer noch lieber, an der wir von vornherein scheitern, als ein Gang, in dem wir verschüttet werden, wenn wir glauben, in die Freiheit entkommen zu können.« Bördo blickte ihn düster an. »Du meinst, der andere Gang war nur eine Falle? Er ist zusammengebrochen, weil die Rotröcke ihn so vorbereitet haben, daß er einstürzen mußte, wenn jemand fliehen will?« »Natürlich. Was dachtest du?« »Das wäre teuflisch.« »Der Dunkle Oheim will, daß ihm die Pthorer nicht mehr schaden können, also schaltet er sie konsequent aus. Die stärkste Macht liegt hier in der Halle auf dem Rücken und ist erledigt. Glaubst du, daß ein einziger von ihnen noch etwas gegen den Dunklen Oheim ausrichten kann? Bestimmt nicht.« Bördo dachte kurz nach. »Dennoch müssen wir versuchen, die Halle zu verlassen«, sagte er dann. »Mit uns ist es auf jeden Fall vorbei, wenn wir hier bleiben und nur abwarten. Da ist es immer noch besser, wenn wir wenigstens kämpfen. Und wenn wir in eine Falle rennen, dann ist es wenigstens schnell vorbei. Der langsame Hungertod ist schlimmer.« Sator Synk grinste in seinen Bart hinein. »Starke Worte für einen jungen Mann wie dich«, entgegnete er. »Aber ich muß dir recht geben.« Er beobachtete Kennon, der sich nicht am Gespräch beteiligt hatte, sondern die Tür eingehend untersuchte. »Glaubst du, daß es einen versteckten Mechanismus daran gibt?«
»Möglich«, antwortete der Terraner knapp. Seine Hände glitten über die Panzerplatten. Kennon suchte nach winzigen Unebenheiten. Er war nicht nur ausgebildeter USO‐Spezialist, der zu den besten seiner Gruppe gehört hatte, er hatte auch zahllose Einsätze hinter sich, bei denen es immer wieder darauf angekommen war, raffiniert versteckte Schlösser zu finden und zu öffnen. Unwillkürlich dachte er an die Zeit, als er – über mehr als zehntausend Jahre – in die Vergangenheit versetzt worden war und am Hof des arkonidischen Imperiums gegen Orbanaschol III. gekämpft hatte. Damals hatte er alles Wissen aufwenden müssen, um sich in dem mit Technik gespickten Palast des Imperators behaupten zu können. Und keine Tür war stärker gewesen als er. Auch die technisch aufwendigsten Schlösser hatten seinem Geschick nicht standgehalten. Die Verriegelungen dieses Portals waren relativ einfach. »Ich benötige eine Waggu«, sagte er und streckte die Hand aus. Bördo und Synk zögerten. Keiner von ihnen wollte seine Waffe hergeben. »Es geht nicht ohne Waggu«, beteuerte Kennon. »Ich muß ein kleines Teil ausbauen, weil ich nur damit an eine Stahllippe des Schlosses herankomme.« Bördo und Synk, denen die Rotgekleideten die Waffen nicht abgenommen hatten, zogen ihre Waggus. Der Orxeyaner richtete sie auf Kennon, während Sigurds Sohn seine Waffe abgab. »Damit du nicht auf dumme Gedanken kommst«, sagte Sator Synk mißtrauisch. »Wir haben nämlich keine Lust, hier allein in der Höhle zu bleiben.« Sinclair Marout Kennon fühlte sich herausgefordert und beleidigt. Nervös begann sein linkes Lid zu zucken, doch er bekam sich rasch wieder in die Gewalt, und das Lid beruhigte sich. Bestürzt horchte er in sich hinein. Er hatte gedacht, daß dieses Nervenleiden von den magischen
Impulsen beseitigt worden sei. Das war jedoch offensichtlich nicht der Fall. Oder handelte es sich nur um einen kleinen Rückschlag? Früher konnte ich das Zucken nicht beeinflussen, dachte er. Jetzt geht es. »Macht euch nicht lächerlich«, sagte er ärgerlich. »Ich habe nicht vor, euch hereinzulegen. Überlegt es euch jedoch gut. Ich habe es nicht gern, beleidigt zu werden. Wenn das so weitergeht, werde ich mir überlegen, ob ich noch länger mit euch zusammenbleiben soll.« Sator Synk lachte. »Was bildest du dir ein?« fragte er höhnisch. »Wer hat denn die Waffen? Bördo und ich. Du hast nichts in den Händen.« »Das dürfte vorläufig auch nicht sonderlich wichtig sein«, erwiderte der Terraner gelassen. »Gegen wen sollte ich sie denn schon einsetzen?« »Vielleicht weißt du mehr als wir«, sagte Synk. »Vorläufig haben wir keinen Grund, dir zu vertrauen. Ich gebe zu, daß mir irgend etwas an dir bekannt vorkommt, aber was soll das schon heißen?« Kennon senkte den Kopf und wandte sich ab. Er konnte es Synk und Bördo nicht verdenken. Die beiden wußten nicht, wer er war. Woher sollten sie also wissen, daß er sie nicht vielleicht doch verraten würde, wenn es darauf ankam? Er baute die Waggu mit wenigen Handgriffen auseinander, nahm ein spiralförmiges Teil heraus und schob es in einen winzigen Spalt in der Tür. Dann drehte und wendete er es vorsichtig hin und her, bis es plötzlich in der Tür knackte, und das Portal sich öffnete. Kennon blieb an der Tür stehen, so daß diese nicht ganz aufschwingen konnte. Er setzte den Lähmstrahler wieder zusammen und reichte ihn Sigurds Sohn. »Da hast du ihn wieder. Hoffentlich willst du nicht gerade an mir ausprobieren, ob er noch geht.« Bördo lachte und steckte die Waffe in den Gürtel. »Das wäre wohl nicht besonders klug. Ich denke, wir brauchen
dich noch. Ich jedenfalls hätte die Tür nicht öffnen können.« »Das wäre mir ebenfalls nicht gelungen«, gab Synk zu. »Laßt uns weitergehen. Ich will endlich aus dieser Höhle ʹraus.« 3. Kennon trat zur Seite, und die Tür schwang auf. Er blickte in einen etwa drei Meter hohen Gang, der in den Fels geschlagen worden war. An der Decke zog sich ein Streifen hell schimmernder Kristalle hin, der genügend Licht verbreitete, so daß der Gang auf eine Strecke von etwa zehn Metern zu übersehen war. Dann bog er nach links ab. »Das sieht nicht danach aus, als ob irgendwo eine Falle wäre«, sagte Synk. Er fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. »Wer geht denn nun zuerst von uns?« »Keiner soll das Risiko allein tragen«, schlug Bördo vor. »Wir gehen alle drei gleichzeitig.« Kennon lachte leise. »Das wäre der größte Fehler. Wenn es uns dann erwischt, sind wir alle drei gleich weg.« Bördos Wangen röteten sich. Er blickte verlegen zur Seite, da er einsah, daß seine Idee unakzeptabel war. Da der Terraner sich nicht lange streiten wollte und sich darüber hinaus zutraute, auch geschickt versteckte Fallen rechtzeitig entdecken zu können, ging er voraus. Seine beiden Begleiter waren sichtlich froh, daß er ihnen die Entscheidung abgenommen hatte. Sie folgten ihm schweigend. Kennon dachte an Ortuga. Er war überzeugt davon, daß dieser unter den herabstürzenden Steinen nicht begraben worden war, ohne begründen zu können, warum das so war. Bei jedem Schritt befürchtete er, das büffelköpfige Wesen werde aus irgendeiner Felsspalte hervortreten und ihn angreifen.
Doch nichts geschah. Er erreichte die Gangbiegung und blickte wenig später in eine Felshalle, die jener so sehr glich, aus der er gekommen war, daß er sich in sie zurückversetzt fühlte. Lediglich die Magier fehlten. »Das sieht nicht gerade so aus, als hätten wir uns verbessert«, sagte Sator Synk. Er schob sich an Kennon vorbei und ging weiter in die Halle hinein. »Wir waren bisher vorsichtig, und du solltest es jetzt auch bleiben«, warnte Bördo. »Wir sind allein«, erwiderte der Orxeyaner. »Da drüben ist eine Tür. Ich schlage vor, wir gehen gleich weiter.« Er wartete die Zustimmung Bördos und Kennons gar nicht erst ab, sondern marschierte los. Als er etwa fünf Meter weit gekommen war, stürzte plötzlich ein monströses Wesen aus einer Felsspalte hervor. Kennon und Bördo fuhren unwillkürlich zurück, als sie die Bestie sahen. Diese glich einem gewaltigen Nashorn. Aus ihrem Rücken wuchsen scherenartige Gebilde hervor, die nach vorn schnellten und Sator Synk zu packen versuchten. Er ließ sich jedoch gedankenschnell auf den Boden sinken, so daß die Scheren über seinem Kopf zusammenprallten. Nur ganz knapp entging er diesem Scherengriff, der so heftig war, daß der Orxeyaner sicherlich zerquetscht worden wäre, wenn er nicht so geistesgegenwärtig reagiert hätte. Bördo riß sein Schwert aus dem Gürtel und griff das Monster an. Er wirbelte die Waffe um den Kopf und hieb sie dann mit unglaublicher Wucht gegen die Schere. Die bestand aus einem so harten Material, daß die Klinge wirkungslos davon abprallte. Der Sohn Sigurds stürzte, von seinem eigenen Schwung mitgerissen, zu Boden. Die Bestie richtete sich brüllend auf den Hinterbeinen auf und ließ sich wieder fallen, wobei sie versuchte, Bördo mit den Vorderfüßen zu treffen und zu zermalmen. Der Sohn Sigurds wälzte sich jedoch
im letzten Moment zur Seite. Sator Synk war inzwischen aufgesprungen. Er richtete seine Waggu gegen das monströse Wesen und löste sie aus, doch das Tier reagierte überhaupt nicht. Ärgerlich schleuderte der Orxeyaner die Waffe gegen den Kopf der Bestie, erreichte jedoch nur damit, daß diese auf ihn aufmerksam wurde und ihn angriff. Kennon stand hilflos daneben. Er konnte nichts tun. Synk zückte das Schwert und hieb auf die Beine ein, mit denen das Tier ihn zu treten versuchte. Er fügte ihm tiefe und offenbar recht schmerzhafte Wunden zu, denn das monströse Wesen wich brüllend und schnaufend zurück. Bördo attackierte es von der anderen Seite, erhielt jedoch unversehens einen Hieb mit dem Vorderfuß, der ihn quer durch die Halle schleuderte. Kennon sah, daß der Sohn Sigurds gegen eine Felswand prallte und betäubt zu Boden sank. Gleichzeitig stellte er fest, daß Synk in Bedrängnis geriet. Deshalb rannte er auf die Bestie zu, fuchtelte mit den Armen und versuchte, sie abzulenken. In seiner Erregung achtete er nicht auf die richtigen Bewegungsabläufe seiner Gliedmaßen. Seine Füße schleiften über den Boden, als habe er nicht die Kraft, sie anzuheben. Sein linkes Lid zuckte unkontrolliert, und der Atem ging schnell und pfeifend. Erst als er unmittelbar vor dem Tier stand, wurde er sich dessen bewußt, daß er sich verhielt wie früher, obwohl er es gar nicht nötig hatte. Eine kleine Anstrengung genügte schon, sich unter Kontrolle zu bringen. Er schämte sich seiner körperlichen und nervlichen Schwäche und versuchte, sie abzustellen. Gerade in diesem Moment aber wandte sich ihm die Bestie zu. Sie hatte Synk ebenfalls mit der Schere getroffen. Bewußtlos lag der Orxeyaner auf dem Boden. Das Tier hätte ihn mühelos töten können, aber es schien ihm wichtiger, den dritten Gegner auch noch
auszuschalten. Sinclair Marout Kennon riß entsetzt die Augen auf, als der Koloß plötzlich vor ihm aufwuchs. Es hatte eine Rückenhöhe von etwa drei Metern, und der klobige Kopf erreichte fast die Decke der Halle, als sie ihn angriffslustig in den Nacken warf. Jetzt sah der Terraner, daß gewaltige Reißzähne in dem Maul der Bestie drohten, und vergeblich suchte er nach einem Ausweg. Er war allein und waffenlos. Er konnte nichts tun. Instinktiv wandte er sich zur Flucht. Doch er war zu langsam. Während er drei oder vier Schritte tat, brauchte das monströse Wesen sich nur ein wenig zu recken. Die Spitzen der Scheren schoben sich über seine Schultern, und in seiner Verzweiflung ließ Kennon sich fallen. Er versuchte, sich über den Boden zu rollen und in einen Felsspalt zu kommen, in dem er hoffte, dem Raubtier genügend weit ausweichen zu können. Doch es war zu spät. Eine der Scheren packte ihn und wirbelte ihn herum. Er konnte nichts dagegen tun. Er überschlug sich mehrmals, und als sein Körper endlich zur Ruhe kam, sah er, daß er mitten in der Halle lag. Seine Chance, dem nächsten Angriff zu entgehen, war gleich Null. Da tauchte der Mann mit dem Büffelkopf plötzlich in der Halle auf. Schweigend stürzte er sich auf die Bestie, wobei er die Kettenenden, die noch immer mit seinen Händen verbunden waren, um den Kopf wirbelte. Sinclair Marout Kennon richtete sich auf. Staunend beobachtete er, wie der Büffelmensch dem Tier die Ketten um den Kopf schlug, und wie sonnenhelle Funken aus dem Metall sprühten. Er brachte der Bestie tiefe Wunden bei und trieb sie weiter und weiter zurück. Bördo und Synk waren mittlerweile wieder zu sich gekommen. Sie sahen, was geschah, und sie wollten dem Fremden den Kampf nicht allein überlassen.
Da grub sich die Kette plötzlich tief in den Schädel des riesigen Tieres und tötete es. Kennon hatte den Eindruck, daß die Funken nicht von den Gliedern der Kette, sondern aus dem Schädel des Hordenwesens kamen. Kaum war das monströse Wesen tot zusammengebrochen, als der Büffelköpfige herumwirbelte und Bördo und Synk angriff. Schreckensbleich wichen die beiden vor ihm zurück. Mit allem hatten sie gerechnet, nur nicht damit, daß er sich gegen sie wenden könnte. Doch als es schon schien, daß jede Abwehr vergeblich sein werde, schleuderte Bördo sein Schwert in letzter Verzweiflung gegen das Wesen, das auf so unbegreifliche Weise aus seinem Gefängnis entkommen war. Die Waffe flog blitzend durch die Luft und verfing sich in den Ketten, als der Büffelköpfige mit ihnen zuschlagen wollte. Eine Serie von Blitzen zuckte zwischen den beiden Kettenenden hin und her, und das Schwert glühte auf. Der Mann mit dem Büffelkopf schrie gellend auf. Kennon hatte das Gefühl, von diesen Schreien wie von Dolchen getroffen zu werden. Er fühlte die namenlose Angst. »Geh zurück, Ortuga«, rief er. »So geh doch. Hier will dich niemand.« Der Büffelköpfige richtete seine Blicke auf den Terraner. Sein Mund öffnete sich zu einem weiteren Schrei. Alle Energien einer fernen Sonne schienen durch die Dimensionen auf ihn herabzuschlagen, von den Ketten und dem Schwert wie von Antennen angezogen. Sie hüllten Ortuga in Flammen und ließen ihn plötzlich verschwinden. Klirrend fiel das Schwert auf den Boden herab. Es glühte, kühlte jedoch rasch ab. »Hoffentlich ist es nicht hinüber«, sagte Sator Synk, als sei die Waffe seine einzige Sorge. »Wahrscheinlich ist die Klinge sogar noch härter geworden«, erwiderte Bördo. »Etwas Besseres konnte gar nicht passieren.«
Sinclair Marout Kennon raffte sich auf. Er stand auf und ging auf das Schwert zu. Er beugte sich darüber, um zu prüfen, ob eine äußerliche Veränderung zu erkennen war. Es sah so aus wie vorher. »Warum hast du uns deinen wirklichen Namen nicht gesagt?« fragte Bördo. Der Terraner richtete sich erstaunt auf. »Meinen wirklichen Namen? Aber den kennst du. Ich bin Kennon.« »Mag sein, daß das tatsächlich dein Name ist«, entgegnete Synk. »Aber wenn es so ist, hast du bisher unter einem falschen Namen unter uns gelebt.« Kennon schüttelte lächelnd den Kopf. »Wie kommst du darauf?« fragte er. »Irgend etwas an dir kommt mir bekannt vor. Die Art, wie du dich vorhin bewegt hast.« Der Terraner wußte sofort, was Synk meinte. Er selbst hatte sich ja dabei überrascht, wie er die Füße hatte nachschleifen lassen, und wie sein Lid gezuckt hatte. Das waren deutliche Anzeichen gewesen, die der Orxeyaner jedoch nicht richtig einzuordnen wußte. »Du hattest Zeit, mich während des Kampfes zu beobachten?« Der Terraner hakte die Daumen in seinen Gürtel. »Das kannst du einreden, wem du willst, mir nicht. Ich habe jedenfalls nicht gesehen, was du gemacht hast, während mich diese Bestie angriff.« »Ich komme noch darauf«, sagte Synk. Bördo tippte ihn lachend an. »Du machst Witze. Kennon hat keinen Grund, uns etwas vorzuschwindeln. Dafür daß er keine Waffe hatte, hat er sich prachtvoll geschlagen. Ich weiß nicht, ob ich den Mut gehabt hätte, ohne Waffe in der Hand auf so ein Monstrum loszurennen, nur um euch ein wenig Luft zu verschaffen. Wir sollten das anerkennen und nicht ständig an ihm herummäkeln.« »Natürlich. Du hast recht.« Der Orxeyaner streckte Kennon die
Rechte entgegen. »Ich danke dir, Kennon.« Der Terraner ergriff die Hand. Er war froh, daß alles so glimpflich abgelaufen war. »Endlich ist der Büffelkopf tot«, sagte Bördo. »Ich hätte nicht gedacht, daß er den Zusammensturz der Felsen überlebt hat.« »Vielleicht lebt er immer noch«, bemerkte Kennon. Bördo und Synk lachten. Beide waren fest davon überzeugt, daß so etwas ausgeschlossen war. »Er ist tot«, erklärte der Orxeyaner. »Wir haben gesehen, wie die Blitze ihn verbrannt haben.« »Er ist spurlos verschwunden«, gab Kennon zu bedenken. »Wenn er verbrannt wäre, hätte wenigstens ein bißchen Asche zurückbleiben müssen.« »Das Feuer war so heiß, daß es keine Rückstände gegeben hat«, sagte Bördo und hielt das Thema damit für erledigt. * Während Bördo und Sator Synk nach einigen Kleinigkeiten suchten, die sie während des Kampfes verloren hatten, befaßte sich Kennon mit der Bestie. Er stellte fest, daß die vermeintlich beobachtete Ähnlichkeit mit einem terranischen Nashorn nur sehr gering war. Tatsächlich gab es sehr viele Abweichungen von diesem Erscheinungsbild. »Ich frage mich, woher das Biest gekommen ist«, sagte Bördo, der zu Kennon zurückkehrte. »Warum?« rief Synk spöttisch. Auch er gesellte sich zu dem Terraner. »Hast du Angst davor, daß noch mehr hier antanzen?« Bördo verzog verärgert die Lippen. »Sollen sie nur. Wir werden auch mit ihnen fertig«, erwiderte er, als habe er das monströse Wesen ganz allein besiegt. »Von mir aus können sie gleich im Dutzend anrücken. Dann ist alles schneller
erledigt.« Sator Synk lachte. »Ich sehe, du hast den Kampf gut überstanden«, bemerkte er und stieß dem Sohn Sigurds die Faust freundschaftlich in die Rippen. »Deine Frage aber war berechtigt. Wo ist das Biest hergekommen?« »Ich denke, von dort«, sagte Bördo und Wies auf eine Felsspalte. »An der Stelle muß es also einen Ausgang geben.« »Das ist es, was ich meine.« Synk nickte ihm anerkennend zu. »Wir wissen alle, daß die Ungeheuer der Horden der Nacht nicht unterpthorisch leben. Wenn so eine Bestie also hier in den Höhlen war, dann muß sie den Weg von außen hierher gefunden haben. Sie hat sich in den Höhlen verirrt, denn was sollte sie sonst hier suchen? Freunde – endlich glaube ich daran, daß wir aus eigener Kraft ins Freie kommen können.« Er räusperte sich und blickte erst Bördo und dann Kennon an. »Habt ihr eigentlich auch Hunger?« fragte er. »Und wie«, entgegnete Sigurds Sohn. »Ich habe da hinten schwarze Stellen im Fels bemerkt. Das könnte Kohle sein. Wie wärʹs, wenn wir ein Feuer anzündeten und uns ein Steak grillen?« Kennon legte sich die Hand gegen den Magen. Er hatte das Gefühl, daß sich ihm das Innerste nach außen kehrte. Er blickte auf das monströse Wesen und konnte sich nicht vorstellen, daß er irgend etwas davon verzehren würde. Bördo und Synk hatten solche Bedenken nicht. Sie brachen etwas Kohle aus dem Berg und überlegten dann, wie sie sie entzünden konnten. »Laßt mich das machen«, sagte Kennon. Er nahm Bördo die Waggu ab und baute den Zünder aus der Waffe aus. Mit diesem ließ sich mühelos ein Feuer entfachen. Bördo schleppte noch mehr Kohle heran, während Synk sich ein großes Stück Fleisch aus dem Nacken der Bestie schnitt. Er hielt es über das Feuer, bis es gar war. Dann verzehrten Bördo und er es.
Kennon beobachtete sie. Er sah, daß es ihnen schmeckte, und sein Magen verkrampfte sich. Schließlich reichte ihm Synk das Schwert, und der Terraner schnitt sich nach einigem Zögern ebenfalls ein Stück aus dem Nacken des monströsen Wesens. Als er es lange genug über dem Feuer gegart hatte, konnte er feststellen, daß die beiden Freunde nicht übertrieben hatten. Das Fleisch schmeckte tatsächlich sehr gut, so daß er bald vergaß, wie abstoßend das Tier aussah. »Es wurde Zeit, daß wir den Magen beschäftigen«, sagte Synk. »Wer weiß, was noch auf uns zukommt, und hungrige Männer waren noch nie besonders gute Kämpfer.« »Wir werden durch den Spalt gehen, in dem dieses Monstrum versteckt war.« Bördo zeigte mit seinem Schwert die Richtung an, die er einschlagen wollte. »Einverstanden«, sagte Synk. »Ich bin es nicht.« Erstaunt blickten der Orxeyaner und der Sohn Sigurds Kennon an. »Und was hast du dagegen einzuwenden?« fragte Bördo angriffslustig. Ihm gefiel nicht, daß sein Vorschlag von dem Terraner abgelehnt wurde, weil er selbst ihn für so gut hielt, daß es keine Einwände dagegen geben konnte. »Nicht das geringste«, antwortete der Terraner zur Verblüffung der beiden anderen. »Nur dem Rauch scheint dieser Weg nicht zu gefallen.« »Der Rauch?« Sator Synk schien am Verstand Kennons zu zweifeln. Er begriff zunächst nicht, was dieser gemeint hatte. Dann aber blickte er auf das Feuer, sah den von diesem aufsteigenden Rauch und verfolgte ihn. Er zog quer durch die Höhle und verschwand durch einen etwa hundert Meter entfernten Spalt. Die Spur war so deutlich, daß der Orxeyaner sich verwundert fragte, wie er sie hatte übersehen können. »Jetzt verstehe ich.« Er nickte dem Terraner anerkennend zu. »Nicht schlecht. Dort hinten geht es nach draußen. Zumindest muß
da eine Öffnung sein. Vielleicht ist die Bestie dort hereingekommen, hat sich aber in dem Felsspalt versteckt, aus dem heraus sie uns angegriffen hat. Du hast recht. Wir sollten es zunächst dort hinten versuchen.« Sie ließen das Feuer brennen und machten sich auf den Weg. »Hoffentlich sind wir draußen, wenn die Bestie zu verfaulen beginnt«, sagte Bördo. Die beiden Männer antworteten nicht. Keiner von ihnen stellte es sich besonders angenehm vor, mit mehreren Tonnen verwesenden Fleisches in einem Raum zu sein. Als sie den Spalt erreichten, durch den der Rauch abzog, fiel Kennon ein hauchdünner grüner Faden auf, der in den Durchgang hing. »Vorsicht«, warnte er. »Das sieht so aus, als könnte es gefährlich sein.« »Man kann alles übertreiben«, erwiderte Bördo. Ohne sich aufhalten zu lassen oder eine erneute Warnung des Terraners zu beachten, betrat er den Gang. Synk blickte Kennon fragend an. »Jeder ist für sich selbst verantwortlich«, stellte der Verwachsene fest. Diese Worte waren kaum über seine Lippen gekommen, als Bördo gellend aufschrie. Dutzende von handtellergroßen Gebilden zuckten auf ihn herab und schlugen klatschend gegen seinen Körper. Sie klebten an seinem Kopf, seinen Armen und Beinen und bewegten sich zuckend über seinen Rumpf, wo sie nicht den rechten Halt zu finden schienen. »Es ist eine Pflanze«, rief Kennon überrascht. Er sah, daß die grünen Gebilde mit Fäden verbunden waren, die zu den Felswänden führten und dort in zahllosen Spalten verschwanden. »Eine fleischfressende Pflanze.« Der Sohn Sigurds schlug mit wirbelnden Armen um sich. Er riß sein Schwert aus dem Gürtel und versuchte damit, die Fäden
durchzutrennen, doch sie boten ihm zu wenig Widerstand. Synk schoß mit seiner Waggu auf die Felsspalten, weil er hoffte, die Aktivitäten der Pflanze damit lähmen zu können, aber auch er erzielte nicht den geringsten Effekt. Sinclair Marout Kennon näherte sich Bördo vorsichtig. Er hob die Hände, um auf ihn herabfallende Pflanzenteile sofort abwehren zu können. Der Sohn Sigurds brach zusammen. Er wälzte sich schreiend über den Boden, wohl in der Hoffnung, die handtellergroßen Enden der Pflanze unter sich zerquetschen zu können. Es gelang ihm nicht. Eine Ranke wickelte sich um den linken Arm Kennons und riß ihn mit scharfem Zug in den Felsspalt. Er gab ihr nach und kam auf diese Weise nahe genug an Bördo heran. Geschickt wich er einer zweiten Ranke aus, die sich um seinen Hals schlingen wollte, griff nach den Füßen des jungen Mannes und warf sich mit ganzer Körperkraft zurück. Damit überrumpelte er die Pflanze. Die Ranke, mit der sie ihn gepackt hielt, war straff gespannt. Unter dem Gewicht des zurückfallenden Körpers zerriß sie, und Kennon gelang es, Bördo bis an den Ausgang des Spalts zu ziehen. Der Sohn Sigurds bewegte sich kaum noch. Er war über und über mit Pflanzentellern bedeckt, die eine ätzende Flüssigkeit auf ihn verspritzten, Sie preßten sich ihm auch über Mund und Nase, so daß er nicht atmen konnte. Seine Finger krallten sich in diese Teller, konnten sie jedoch nicht ablösen. Synk kam Kennon zu Hilfe. Er war klug genug, sich nicht in den Felsspalt hineinzuwagen, sondern Kennon an den Schultern zu fassen. Er zog ihn aus dem Spalt heraus, und da der Terraner Bördo nicht losließ, gelang es ihm, diesen so weit mitzuzerren, daß die Pflanzenfäden bis aufs äußerste gestreckt wurden. Synk hieb mit seinem Schwert auf die Ranken ein, und da sie nicht mehr ausweichen konnten, zerrissen sie, bis Bördo endlich frei war. Nun gelang es auch, die ätzenden Teller von ihm abzulösen.
Der Sohn Sigurds war bewußtlos, kam aber bald wieder zu sich. Arme, Beine und das Gesicht waren mit Brandblasen bedeckt, die offenbar heftig schmerzten. Doch Bördo tat, als sei überhaupt nichts. Er richtete sich auf und lachte leise. »Das nenne ich eine Überraschung«, sagte er. »So ein Pflänzlein kann einem doch gehörig zusetzen.« »Das war die gerechte Strafe für deinen Leichtsinn«, bemerkte Synk. »Du hättest auf Kennon hören sollen. Er hat ziemlich viel Erfahrung in solchen Dingen.« »Übertreibe nicht«, bat der Terraner. »Wahrscheinlich hättest du die Falle auch rechtzeitig bemerkt.« »Was wollt ihr?« Bördo lachte erneut. Er strich sich mit den Fingerspitzen über die Brandblasen auf seinen Wangen und den Lippen. »Das ätzende Zeug schmeckt wie Honig, ist aber nicht ganz so bekömmlich. Und außerdem geben so kleine Zwischenfälle dem Leben doch die Würze, oder? Mir sind sie jedenfalls lieber als Ereignislosigkeit. Ich habe keine Lust, an Langeweile zu sterben.« Sinclair Marout Kennon beobachtete Bördo von der Seite. Er sah dem Jungen an, daß die Brandwunden schmerzten, aber er wußte auch, daß Bördo es ehrlich meinte. Er war in einem Alter, in dem das Draufgängertum überwog und in dem es ihm Spaß machte, sich in einen Kampf zu werfen, auch wenn er wußte, daß er dabei Prügel beziehen würde. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Bestie sich durch diesen Felsspalt in die Höhle gedrängt hat«, sagte Synk und erinnerte die anderen damit daran, worauf es ankam. »Bestimmt gibt es noch einen anderen Ausgang.« »Du irrst«, widersprach Bördo. Er zeigte auf den Spalt. »Als ich da drinnen war, habe ich Fußspuren gesehen. Da ist eine sumpfige Stelle im Durchgang, und die Fußspuren können nur von dem Biest dort stammen.« »Also müssen wir durch«, stellte Kennon fest. »Das dürfte so gut wie unmöglich sein«, sagte Synk. »So ein
riesiges Monstrum wie das Ungeheuer schafft es vielleicht, schon weil es mit seiner Kraft die Pflanzenfäden zerreißt. Das bringen wir nicht.« »Aber wir könnten die Pflanze füttern«, schlug Kennon vor. »Wir könnten ihr Fleischbrocken hinwerfen. Wenn sie etwas zu fressen hat, wird sie uns passieren lassen.« »Das ist eine gute Idee.« Synk schlug Kennon anerkennend auf die Schulter, gab Bördo einen Wink und eilte mit ihm zu dem toten Tier. Mit ihren Schwertern trennten sie große Stücke Fleisch heraus und schleppten sie heran. Sie warfen die Fleischbrocken in den Felsspalt und beobachteten, wie die Fangarme der Pflanze heranschossen und sich um das Fleisch legten. Bördo rieb sich voller Unbehagen die Verätzungen an seinen Wangen. Kennon, der neben ihm stand, konnte sich denken, was er empfand. Der Sohn Sigurds dachte daran, daß er der Gefahr, von den Säften der Pflanze aufgelöst zu werden, nur knapp entgangen war. Schaudernd wandte Bördo sich ab, als er sah, wie die Fleischbrocken zerfielen. Jetzt lachte er nicht mehr, und er fand die Abenteuer, die er überstanden hatte, auch gar nicht mehr so aufregend. Doch er sagte nichts, und Kennon und Synk schwiegen ebenfalls. Der Terraner hatte das Gefühl, daß die Pflanze noch nicht ausreichend versorgt war. Deshalb ließ er sich von Synk das Schwert geben und holte ein weiteres Stück Fleisch. Als er dieses in den Felsspalt warf, zuckten fünf weitere Ranken heran, an deren Enden die tellerartigen Freßwerkzeuge saßen. Sie legten sich um das Fleisch. »Ich dachte, wir hätten die Pflanze voll beschäftigt«, sagte der Orxeyaner überrascht. »Wie viele Freßteller hat das Biest denn noch in Reserve?« Er eilte zu dem erlegten Tier und holte weitere Fleischbrocken. Als
er diese in den Felsspalt warf, zuckten abermals bisher freie Ranken heran. Synk fluchte ungehalten. Er rannte zu der Bestie und schaffte noch mehr Fleisch heran. Auch Bördo half ihm. Doch auch das genügte noch nicht. Soviel Fleisch sie auch heranschleppten, es erschienen immer neue Pflanzenarme, die sich ihrer bemächtigten, bis nahezu der ganze Durchgang damit ausgefüllt war. Nun schritt Kennon ein. »Das ist sinnlos«, sagte er, als Synk abermals zu dem schon fast zur Hälfte zerlegten Tier gehen wollte. »Wer weiß, wie viele von diesen Pflanzen in dem Durchgang leben? Vielleicht kriechen aus anderen Gängen immer mehr heran, weil es hier etwas für sie zu fressen gibt. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.« »Und das wäre?« fragte Bördo hitzig. »Klug reden können wir auch. Du solltest lieber etwas tun.« »Die Lösung der Probleme steckt meistens nicht in den Muskeln«, erwiderte Kennon gelassen. »Willst du damit sagen, daß ich dumm bin?« fuhr Bördo auf. Der Terraner schüttelt lächelnd den Kopf. »Natürlich nicht, du Draufgänger«, sagte er beruhigend. »Ich meine nur, daß wir intelligent genug sein sollten, eine oder auch mehrere Pflanzen auszuschalten.« Bördo, der bereits die Fäuste gehoben hatte, beruhigte sich. Er blickte Kennon forschend an. Dann ging ihm auf, daß er sich nicht gerade klug verhalten hatte. Er nickte. »Natürlich«, sagte er. »Mag ja sein, daß wir keine Geistesgrößen sind, aber einer Pflanze sind wir allemal überlegen.« »Gut gebrüllt, Löwe«, bemerkte Synk spöttisch. »Nun sollte aber auch ein brauchbarer Vorschlag kommen.« »Wie wäre es mit Hitze?« fragte Kennon. »Kohle gibt es hier genug. Wir könnten sie entzünden und ein Feuer anlegen. Damit könnten wir die Pflanze in Schwierigkeiten bringen.« Der Orxeyaner nickte anerkennend. »Das hört sich gut an. Wir wollen gleich damit anfangen. Wir
verlieren zwar eine Menge Zeit, aber darauf kommt es wohl nicht an.« Mit den Schwertern brachen Synk und Bördo Kohlen aus dem Gestein, die Kennon neben dem Fleisch aufschichtete und entzündete. Bald verbreitete sich eine große Hitze in dem Durchgang, die auf die fleischfressende Pflanze nicht ohne Wirkung blieb. Die dünnen Ranken verdorrten in der Hitze. Einige freie Ranken zogen sich in die Risse im Gestein zurück. Nach etwa einer Stunde war der Durchgang frei. 4. Bördo unternahm einen Vorstoß. Er schritt vorsichtig in den Spalt hinein und entfernte sich so weit, daß Kennon und Synk ihn nicht mehr sehen konnten. Er pfiff jedoch leise vor sich hin, so daß sie ständig wußten, wo er war. Nach einigen Minuten kehrte er zurück. »Ihr könnt kommen«, sagte er und führte sie in eine kreisförmige Halle, deren Decke nur etwa zehn Meter hoch war. Seltsam geformte Steine hingen von ihr herab. An ihnen klebten rote Schwämme, aus denen dünne Fäden herausragten. Diese wedelten auf der Jagd nach Insekten ständig durch die Luft. Von den fleischfressenden Pflanzen war nichts mehr zu sehen. Die drei Männer blieben stehen, als sie plötzlich Stimmen vernahmen. Kennon sah sich nach einem geeigneten Versteck um. Die Wände in dieser Halle waren jedoch glatt und eben. »Wir müssen uns zurückziehen«, sagte er. »Nein. Ich denke nicht daran«, erwiderte Bördo hitzig. »Ich verkrieche mich nicht.« Herablassend blickte er Kennon an. Dann durchquerte er die Halle und blickte in einen Gang hinein.
»Laß ihn nur.« Kennon hielt Synk zurück, als dieser ihm nacheilen und ihn zurückholen wollte. »Das ist nicht nötig.« Tatsächlich war Bördo gleich darauf wieder bei ihnen. »Da kommen wenigstens dreißig Rotgekleidete«, berichtete er. »Sie sind alle mit Metallstäben bewaffnet. Wir haben keine Chance gegen sie.« Kennon verzichtete darauf, ihm zu sagen, daß er es nicht anders erwartet hatte. »Wir haben nur eine Möglichkeit«, erklärte er, als sie in die nächste Höhle eilten, in der noch das Feuer brannte. »Wir müssen uns zwischen die Magier legen. Dort werden wir nicht auffallen.« Bördo und der Orxeyaner waren mit seinem Vorschlag einverstanden. Als sie die Halle erreichten, in der die Magier lagen, legten sie sich unmittelbar neben dem Ausgang auf den Boden und warteten. Die Rotgekleideten kamen schnell. Sie schleppten das büffelköpfige Wesen heran. Es war offenbar bewußtlos, denn es wehrte sich nicht. Schlaff hing es in ihren Armen. Kennon beobachtete die Rotgekleideten, wie sie mit ihm zu der Nische gingen, aus der es ausgebrochen war. Bördo hatte sich nicht verschätzt. Es waren tatsächlich etwa dreißig Rotgekleidete. Der Terraner hoffte immer wieder, etwas von ihren Gesichtern sehen zu können, doch ihre Kapuzen hingen zu weit über. Sie waren etwa zwei Meter groß und schienen nicht besonders muskulös zu sein. Die Roben, die ihre Körper vom Kopf bis zu den Füßen verhüllten, ließen so gut wie nichts von ihnen erkennen. Dennoch schloß Kennon aus der Art, wie die Falten fielen, daß diese seltsamen Wesen humanoid waren. Sie sprachen Pthora, und ihre Stimmen klangen rauh und bellend. Keiner der drei Männer verstand jedoch mehr als nur hin und wieder ein paar Worte, da sie leise, fast flüsternd sprachen. Nur zehn Männer kümmerten sich um den büffelköpfigen Gefangenen, den sie zu der Nische schleiften, in der er gefangen
gewesen war. Die anderen verteilten sich in der Halle. Sie gingen zu den Magiern und untersuchten sie. »Vorsicht. Sie kommen zu uns«, sagte Bördo mit gepreßter Stimme. Kennon, der neben ihm auf dem Boden lag, spürte daß seine Armmuskeln zuckten. Der Sohn Sigurds bebte vor Kampfeslust. »Sei still«, warnte er ihn. »Wir werden nicht mit ihnen kämpfen.« Aus halb geschlossenen Augen beobachtete er die Roten. Als einer von ihnen direkt auf ihn zukam, schloß er die Augen. Er atmete ganz flach, um keinen Verdacht zu erregen. Er hörte das leise Klatschen der Sohlen auf dem Fels. Es kam näher und näher. Dann raschelte die Robe direkt neben ihm. Er fühlte eine Hand an seiner Schulter. Die Berührung war ihm unangenehm. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Es schien, als sei der Rotgekleidete mißtrauisch geworden. Er kniete neben Kennon auf dem Boden und verharrte hier, als warte er darauf, daß der Verwachsene sich verriet. Er hat etwas gemerkt, schoß es dem Terraner durch den Kopf. Er beobachtet dich. Er wurde unruhig und überlegte bereits, ob er die Augen öffnen und den Roten angreifen sollte, als dieser sich plötzlich erhob und davonging. Durch die fast geschlossenen Lider blickte Kennon ihm nach. Er sah, daß nun alle Rotgekleideten vor der Nische standen. Kennon stieß Synk und Bördo an. »Los«, wisperte er. »Das ist unsere Chance.« Die Rotgekleideten schmiedeten den Büffelköpfigen mit Ketten an die Wand und veranstalten dabei einen Lärm, der die Geräusche übertönte, die Kennon, Bördo und Synk verursachten, als sie sich aufrichteten und aus der Höhle flüchteten. Der Terraner blieb im Durchgang stehen und blickte zurück. Keiner der Rotgekleideten hatte ihre Flucht bemerkt. »Du hast ganz gute Ideen«, sagte der Sohn Sigurds anerkennend
zu Kennon. »Das gefällt mir. Dadurch sind wir stärker geworden. Wir werden es schon irgendwie schaffen, hier heraus und ins Freie zu kommen.« Der Terraner grinste. »Dein Lob richtet mich auf«, spöttelte er. Sie durchquerten die Halle und kamen ungehindert am Feuer vorbei und durch den sich anschließenden Felsspalt. Die fleischfressende Pflanze griff sie nicht an. Von dem verätzten Fleisch ging ein unangenehmer Geruch aus. »Bestimmt untersuchen sie die Magier«, sagte Synk. »Dabei wird ihnen auffallen, daß wir nicht mehr da sind.« »Davon bin ich noch nicht überzeugt«, widersprach Kennon. »Auch der Büffelköpfige kann das Feuer gelegt haben. Sie haben ihn gefangen. Es könnte sein, daß damit die Angelegenheit für sie erledigt ist.« »Hoffentlich.« Bördo verzog das Gesicht. »Ich stelle es mir nicht gerade angenehm vor, von ihnen gejagt zu werden. Wenn es weniger wären, würde ich es sofort mit ihnen aufnehmen.« »Es sieht so aus, als ob sie den Büffelköpfigen einmauern«, sagte Kennon. »Das können wir nicht zulassen.« »Willst du ihn da herausholen?« fragte Bördo. »Das wäre Wahnsinn. Oder hast du schon vergessen, daß er dich beinahe umgebracht hätte?« »Er lebt also doch noch«, bemerkte Sator Synk nachdenklich. »Ich hätte schwören können, daß er verbrannt ist. Das habe ich schließlich mit eigenen Augen gesehen. Ich verstehe das nicht.« »Ich auch nicht.« Kennon zuckte mit den Schultern. »Wir werden das vermutlich nie erklären können.« »Wenn sie ihn anketten und einmauern, dann haben sie ihre Gründe dafür.« Der Orxeyaner blickte Kennon durchdringend an. »Du kennst ihn, nicht wahr? Jetzt fällt mir wieder ein, daß du ihn Ortuga oder so ähnlich genannt hast.« »Habe ich das?«
»Tu nicht so, als wüßtest du es nicht«, entgegnete Bördo drohend. »Ich habe es auch gehört. Es wird Zeit, daß du uns die Wahrheit sagst, sonst könnten wir es uns überlegen. Wir kommen ganz gut auch ohne dich aus, während du darauf angewiesen bist, daß wir dir helfen.« »Du vergißt schnell, Bördo«, erwiderte Kennon. »Es ist noch nicht lange her, daß du mir gesagt hast, wie sehr du mit mir einverstanden bist.« »Das muß in einem Anfall geistiger Umnachtung gewesen sein.« Der Kosmokriminalist lachte. »Ich habe nicht gewußt, daß du solche Anfälle hast. Aber jetzt ist mir natürlich alles klar.« Der Sohn Sigurds stürzte sich wütend auf ihn, packte ihn am Hals und würgte ihn. Doch nun griff Synk ein. Er riß Bördo zurück. »Wenn ihr euch gegenseitig umbringen wollt, dann wartet gefälligst, bis wir draußen sind.« Bördo wich keuchend zurück. »Er soll nicht noch einmal so etwas sagen«, rief er Synk zu, wobei er Kennon nicht aus den Augen ließ, um von einem Angriff nicht überrascht zu werden. »Du hast es selbst herausgefordert«, stellte Synk ruhig fest. »Weil er nicht verraten wollte, woher er den Büffelkopf kennt. Das ist schließlich nicht unwichtig.« »Er hat recht«, stellte der Orxeyaner fest. »Du solltest endlich mit der Wahrheit herausrücken.« »Wenn ich damit gezögert habe, dann nur deshalb, weil ich fürchte, daß ihr mir nicht glaubt. Die Wahrheit ist so phantastisch, daß ihr zumindest zweifeln werdet.« »Du könntest es versuchen.« »Na schön. Kurz bevor der Büffelköpfige von den Blitzen getroffen wurde, konnte ich plötzlich seine Gedanken erfassen. Aus ihnen erfuhr ich seinen Namen.« »Du willst behaupten, daß er in seiner größten Not unter anderem
auch an seinen Namen dachte?« Bördo verzog verächtlich die Lippen. »Das kannst du jemand anderem erzählen. Nicht mir.« »Ich habe nicht einzelne Gedanken erfaßt, die wie gesprochene Sätze formuliert waren. Ein Gedankenschwall kam über mich, aus dem ich Informationen schöpfte. Das war alles.« »Nun gut«, erwiderte Synk, der offensichtlich ebenso unzufrieden mit dem war, was er erfahren hatte, wie Bördo. »Wer ist Ortuga? Und wo kommt er her?« »Auch das werdet ihr mir nicht glauben. Ich kann es mir ja selbst kaum vorstellen. Aus dem schwarzen Kern der Sonne, in dessen Nähe sich Pthor bis vor kurzem befand.« Bördo lachte geringschätzig und wandte sich ab. Sator Synk schüttelte den Kopf. »Du hast recht«, sagte er. »Das glaube ich dir nicht.« Er gab Kennon mit einem Handzeichen zu verstehen, daß er weitergehen wollte. »Die Schnüffler könnten kommen. Wir sollten also nach einem geeigneten Versteck suchen. Über den Büffelköpfigen können wir uns später noch unterhalten.« »Einverstanden. Aber vergiß nicht: Ich habe euch vorher gesagt, daß ihr mir nicht glauben werdet.« Sator Synk antwortete nicht. Er schloß schnell zu Bördo auf und wechselte leise einige Worte mit ihm. Sinclair Marout Kennon ging gelassen hinter den beiden her. Er hatte nicht gelogen. Für einige Sekunden hatte es tatsächlich eine telepathische Verbindung zwischen ihm und Ortuga gegeben. Sicherlich war sie nicht freiwillig zustande gekommen. Sie war eine Folge der Blitze gewesen, die auf Ortuga herabgeschlagen waren. In diesen Sekunden hatte Kennon jedoch viel über den anderen erfahren. Ortuga war keineswegs zufrieden mit dem Ergebnis seiner Bewußtseinsübertragung aus dem Kern der Sonne in den Körper
des Büffelwesens. Dieses entsprach in keiner Weise seinen Vorstellungen und belastete ihn offenbar mit großen Problemen. Kennon hatte noch nicht erfaßt, welcher Art diese waren. Er haßt mich, weil er glaubt, daß ich die Schuld an dieser Situation trage, dachte der Terraner. Ob er sich wirklich einbildet, er habe ein größeres Anrecht auf meinen Körper als ich? Er spürte die Nähe Ortugas. Er glaubte, seine Gedanken auch jetzt hören zu können. Das Wesen, das aus dem schwarzen Kern der Sonne in den Körper des Büffelköpfigen übergesprungen war, wehrte sich mit ganzer Kraft gegen die Rotgekleideten. Diese hatten ihn nicht nur an den Fels geschmiedet, sie mauerten ihn auch noch ein. Kennon fragte sich, wie es möglich war, daß der Körper des anderen die Foltern der Gefangenschaft überlebt hatte. War der Büffelköpfige noch nicht lange in seinem Verlies gewesen, als die Faustschläge Sator Synks ihn daraus befreit hatten? Es konnte nicht anders gewesen sein, denn sonst wäre er längst erstickt gewesen. Wie lange würde Ortuga überleben? Einige Stunden? Tage? Kennon war sich klar darüber, daß er das noch nicht einmal annähernd abschätzen konnte. Er fragte sich, was er tun sollte. Du kannst nicht zulassen, daß sie ihn auf diese Weise umbringen, fuhr es ihm durch den Kopf. Ortuga ist ein bösartiges Wesen, das aus dem schwarzen Kern, einem Konglomerat des Bösen, kommt. Dennoch hat er einen solchen Tod nicht verdient. Wie aber sollte er Synk und Bördo dazu bringen, in die Höhle der Magier zurückzukehren? Konnte er sie überhaupt für den Plan gewinnen, Ortuga zu befreien? Und was würde dieser tun? Bördo hatte recht. Ortuga hätte ihn fast umgebracht, und sie mußten damit rechnen, daß er sie erneut angreifen würde. Dann würde das Schwert die Ketten vielleicht nicht mehr treffen, keine
Macht würde von außen eingreifen und helfen. Kennon konzentrierte sich auf die telepathischen Impulse, die von Ortuga kamen. Sie erschütterten ihn. Ortuga war ganz anders geworden. Er strotzte nicht mehr vor Selbstbewußtsein, und er glaubte offenbar nicht mehr daran, daß er nur unter den körperlich Lebenden zu erscheinen brauchte, um auf ganzer Linie zu siegen. Er war verzweifelt, und er hatte Angst. Seltsamerweise dachte er nicht an den Tod, obwohl dieser ihm so nahe zu sein schien. Er dachte nur daran, daß sich seine Lage noch bedeutend verschlimmert hatte, seitdem er aus dem schwarzen Kern der Sonne geflohen war. Dort war er wie in einem Gefängnis gewesen, wenngleich er sich ständig an der Peripherie des schwarzen Kerns aufgehalten hatte, um nicht in der Masse der angesammelten Bewußtseine aufzugehen. Dieses Gefängnis, in dem er sich nun befand, aber war nicht zu ertragen. Er hatte keine Verbindung mehr zu anderen lebenden Wesen. Er war allein und isoliert. Er war angekettet und befand sich in einem kleinen, dunklen Raum, und es schien, daß er keine Chance auf Rettung hatte. Es wäre besser gewesen, du wärst im schwarzen Kern geblieben, dachte der Terraner. Er lauschte, weil er hoffte, daß Ortuga seine Gedanken auffangen würde, aber er vernahm kein Echo. Der Gefangene hörte ihn nicht. Er sendete parapsychische Impulse aus, konnte aber offenbar keine Gedanken auffangen. Ich müßte mit ihm reden, bevor ich ihn befreie. Ich müßte ihn zur Vernunft bringen können. »Was ist mit dir?« fragte Bördo. »Träumst du?« Seine Stimme klang versöhnlicher. Offenbar tat es ihm leid, daß er so heftig zu Kennon gewesen war.
»Ich habe an den Büffelkopf gedacht«, erwiderte dieser. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß euch völlig gleichgültig ist, was mit ihm passiert.« »Natürlich ist es das nicht«, antwortete Synk. »Aber was sollen wir denn tun?« »Wir stehen selbst unter Druck«, fügte Bördo hinzu. »Wenn wir Herr der Lage wären, hätten wir eine vernünftige Chance. Aber so nicht.« Sie erreichten eine Höhle, die etwa fünfzig Meter lang und zwanzig Meter breit war. Aus dem Felsboden wuchsen organische Klumpen hervor, aus denen lange Tentakel ragten. Diese bewegten sich ständig durch die Luft oder schoben sich suchend über den Boden. Die Organklumpen waren so weit voneinander entfernt, daß sich die Spitzen der Tentakel gerade noch berühren, sich aber nicht ineinander verhaken konnten. »Das sieht nicht gut aus«, sagte Synk. »Wir sollten den Tentakeln nicht zu nahe kommen«, warnte Kennon. »Sie scheinen nach Nahrung zu suchen.« Bördo hob die rechte Hand und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Moment«, sagte er flüsternd. »Die rotgekleideten Schnüffler kommen.« Synk ging zu einem Felsspalt und blickte hinein. »Hier ist ein Gang«, meldete er. Kennon und Bördo liefen zu ihm und schoben sich hinein, ohne lange danach zu fragen, ob eine Gefahr darin lauerte oder nicht. Sie waren kaum in dem Versteck, als die Rotgekleideten in der Höhle auftauchten. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt gingen sie vorbei, so daß Kennon, Bördo und Synk sich noch weiter in den Spalt zurückziehen mußten. Sie konnten nun nicht mehr sehen, was draußen geschah, waren aber gleichzeitig auch vor einer Entdeckung sicher. Das Scharren der Füße auf dem Felsen verklang allmählich.
»Sie sind weg«, sagte Bördo. Er wollte den Spalt bereits verlassen, doch Kennon hielt ihn fest. »Wir wollen vorsichtig sein. Wenn auch nur einer von den Roten in der Höhle geblieben ist, erwischen sie uns.« »Er hat recht. Wir warten noch.« Synk nickte Kennon zu. Als einige Minuten verstrichen waren, schob sich Kennon bis an den Ausgang des Spaltes. Er blickte in die Halle. Bördo war ihm gefolgt, und er wollte schon an ihm vorbeigehen, als er sah, wie die letzten der Rotgekleideten die Höhle verließen. »Bei Odin«, sagte er leise. »Du hast schon wieder recht gehabt. Wenn ich noch unvorsichtiger gewesen wäre, hätten sie uns bemerkt. Von jetzt an kannst du dich auf mich verlassen. Ich werde nicht lange fragen, sondern gleich tun, was du willst.« Kennon lächelte. Er glaubte dem Sohn Sigurds nicht, daß er Wort halten würde. So wie er ihn kennengelernt hatte, würde er bald vergessen haben, was er versprochen hatte. Doch darüber ärgerte Kennon sich nicht. Er wußte, daß er aufpassen mußte, daß die draufgängerische Art Bördos nicht verhängnisvoll für sie alle wurde. Synk näherte sich einem der Tentakel. Der mit Saugnäpfen versehene Greifarm lag langausgestreckt auf dem Felsboden und schien leblos zu sein. Vorsichtig berührte der Orxeyaner das Ende mit der Schwertspitze. Blitzartig schoß der Tentakel hoch und schlang sich um die Klinge des Schwertes. Synk riß die Waffe zurück, war dabei jedoch nicht energisch genug. Der Tentakel gab das Schwert nicht her, sondern hielt es mit zwei Saugnäpfen fest. Dieser Widerstand war so groß, daß Synk die Waffe fast aus der Hand geglitten wäre. Jetzt zog er abermals daran, setzte aber wesentlich mehr Kraft ein. Der Tentakel streckte sich. Synk warf sich mit dem ganzen Körper zurück, und endlich gelang es ihm, die Waffe freizubekommen.
5. Respektvoll blickte er auf den Tentakel, der sich hin und her bog, als suche er nach neuer Beute, sich dann langsam streckte und ruhig liegenblieb. »Ihr habt gesehen, was für eine Kraft dieses Biest hat«, sagte er. »Ich kann euch nur raten, paßt auf, daß ihr den Tentakeln nicht zu nahe kommt. Wenn sie euch erst einmal gefaßt haben, lassen sie euch nicht mehr los, und keiner von uns kann dem anderen helfen.« Kennon und Bördo hatten gesehen, wo die Rotgekleideten die Höhle verlassen hatten. »Sie sind mitten hindurchgegangen«, stellte der Sohn Sigurds fest. »Es muß ein Trick dabei sein, oder warum sind sie sonst nicht angegriffen worden?« »Das kann ich dir leider nicht beantworten«, erwiderte Kennon. Er sah nicht die geringste Spur von Gewalt. »Ich versuche, sie mit der Waggu zu lähmen«, sagte Synk. Er richtete die Waffe auf einen Organklumpen und löste sie aus. Dann berührte er einen Tentakel mit dem Schwert. Augenblicklich erwachte der Fangarm aus seiner Lethargie und griff an. Dieses Mal aber war der Orxeyaner vorbereitet. Er zog das Schwert schnell genug zurück, so daß es dem Zugriff des Tentakels entging. »Seltsam«, sagte er. »Die Waggus wirken nicht. Es ist wie mit den Ungeheuern aus den Horden der Nacht. Auch sie sind gegen die Strahlen dieser Waffen so gut wie immun.« »Die Organklumpen haben mit den Ungeheuern nichts zu tun«, bemerkte Bördo. »Das ist doch wohl klar?« »Natürlich. Ich habe auch nichts dergleichen behauptet.« Bördo wandte sich an Kennon. »Du hast schon einige gute Ideen gehabt. Wie siehtʹs denn jetzt
damit aus? Weißt du, wie wir hier durchkommen können?« »Ich sehe nur eine Möglichkeit. Ihr müßt die Tentakel mit euren Schwertern abschlagen.« »Das wäre immerhin einen Versuch wert.« Der Sohn Sigurds zog seine Waffe aus dem Gürtel und näherte sich vorsichtig einem Organklumpen, wobei er einen Bogen schlug, um seitlich an den Tentakel heranzukommen. Er schob die Füße über den Boden, um jede Erschütterung zu vermeiden. Als er nahe genug zu sein glaubte, hob er das Schwert über den Kopf und schlug kräftig zu. Die Klinge fuhr in den Tentakel und durchtrennte ihn. Das abgeschnittene Stück schnellte sich immer wieder hoch und warf sich hin und her, als versuche es, sich wieder an seinen Organklumpen anzuschließen. Dabei kam es einem anderen Tentakel zu nahe. Dieser packte das Stück, zog es heran und hob es über den Organklumpen, der sich sofort gierig öffnete. Der Tentakel ließ das abgeschnittene Stück fallen, und streckte sich wieder auf dem Boden aus. Die drei Männer beobachteten, daß sich der Organklumpen ausbeulte. Das abgetrennte Stück kämpfte mit zuckenden Nerven einen aussichtslosen Kampf. »Das war der Anfang«, sagte Kennon. »Und er zeigt uns, wie es weitergehen muß.« »An die Arbeit«, schlug Synk vor. Er spähte zum Ausgang hinüber. Zwischen ihm und ihnen befanden sich etwa vierzig Organklumpen, deren Tentakel ein dichtes Netz bildeten. Ein schwieriger und gefahrvoller Weg lag vor den drei Männern. Bördo zögerte jedoch nicht lange. Er pirschte sich an den nächsten Organklumpen heran und schlug auch hier einen Tentakel ab. Danach beförderte er ihn mit seinem Schwert so nahe an einen anderen heran, daß dieser Beute machen und den Organklumpen damit füttern konnte. Bördo und Synk arbeiteten sich schnell voran. Kennon schätzte, daß sie etwa zwanzig Minuten benötigen würden, bis sie die Gasse
geöffnet hatten. »Ihr müßt euch beeilen«, rief er ihnen zu. »Es bilden sich schon wieder neue Tentakel.« »Wir schaffen es«, antwortete der Orxeyaner. »Ich würde euch gern helfen.« »Das ist nicht nötig«, erwiderte Bördo, dem es Spaß zu machen schien, mit dem Schwert gegen die Organklumpen vorzugehen. »Wir schaffen es allein.« Sie blickten kaum über die Schultern zurück, als sie mit ihm sprachen, sondern achteten darauf, daß sie keinem Tentakel zu nahe kamen. Mittlerweile hatten alle Organklumpen registriert, daß etwas geschah. Die Tentakel bewegten sich heftig suchend hin und her, so daß es für Bördo und Synk immer schwerer wurde, ihnen auszuweichen. Kennon kam sich überflüssig vor. Er konnte nur warten. Damit aber war er nicht zufrieden. Unbemerkt von den anderen zog er sich zurück. Er eilte in die Halle, in der die Magier lagen. Hier hatte sich nichts verändert. Die Gruft des Gefangenen aber war wieder geschlossen worden. Die Wand war voller grauer Flecke, die darauf hinwiesen, daß die Mauer erst vor kurzem errichtet worden war. Kennon legte seine Hände an die Wand. Sie fühlte sich kalt und feucht an. »Hörst du mich, Ortuga?« fragte er leise. Ein verzweifeltes Brüllen antwortete ihm. Es wurde durch die Mauer stark gedämpft. »Ich bin es – Kennon.« »Hole mich heraus«, schrie der Gefangene. »Laß mich nicht hier drinnen. Ich ertrage es nicht.« Sinclair Marout Kennon wurde die Kehle eng. Er hatte Mitleid mit dem eingeschlossenen Wesen, das ohne seine Hilfe keine Hoffnung auf Befreiung hatte.
»Du wolltest mich umbringen.« »Das ist nicht wahr«, antwortete Ortuga. »Befreie mich. Laß mich erklären, wie es wirklich gewesen ist.« Kennon blickte sich nach einem Werkzeug um. Nur ein paar Steine lagen herum. Er nahm sie auf und hämmerte damit gegen die frisch gemauerte Wand, bis sie aufbrach. »Weiter! Weiter«, bat der Eingeschlossene drängend, als Kennon erschöpft eine Pause einlegte. Die Stimme Ortugas war jetzt deutlich und klar. »Gib nicht auf. Hole mich heraus.« »Was wirst du tun, wenn du frei bist?« »Ich werde weitersuchen«, antwortete Ortuga. »Und ich werde die Tafel finden. Ich muß sie finden, und wenn dabei alles andere zur Hölle fährt. Nur so kann ich meine Qualen beenden.« Erschreckt hielt der Terraner inne. Er bringt dich um, schoß es ihm durch den Kopf. Er kennt keine Dankbarkeit, und er nimmt keine Rücksicht. Wahrscheinlich hat er bereits den Verstand verloren. Was kein Wunder wäre. »Du darfst mich nicht hier drinnen lassen«, rief Ortuga. »Das wäre unmenschlich. Du weißt genau, daß du nicht mit dem Gedanken leben kannst, mir nicht geholfen zu haben.« Er lachte nervös. »Siehst du? Du erschrickst. Du weißt, daß ich deine Gedanken erfaßt habe. Vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest nicht gesehen, was passiert ist. Aber du hast es nun einmal verfolgt. Du weißt, daß ich hier eingeschlossen bin und daß ich leide. Willst du wirklich zulassen, daß ich hier drinnen qualvoll sterbe?« Da stimmt doch etwas nicht, dachte Kennon. Er wich vor der Mauer zurück. Die letzten Worte, paßten nicht zu Ortuga. Sie waren allzu sehr auf Wirkung ausgerichtet. Für ihn, den Terraner, war sicher, daß Ortuga qualvoll in dem Verlies sterben mußte. Das wäre das unvermeidliche Los eines jeden Menschen gewesen.
War Ortuga aber mit den gleichen Maßstäben zu messen? »Worauf wartest du?« rief der Büffelköpfige. »Beeile dich.« Kennon war sich darüber klar, daß er viele Fragen nicht beantworten konnte. Er wußte vor allem aber, daß Ortuga in einer Hinsicht recht hatte. Er schaffte es nicht, ihn in seinem Gefängnis sterben zu lassen. Er bückte sich, nahm einen größeren Stein auf und hieb ihn gegen die Wand. Die Mauer brach völlig auf. Polternd fielen die Steine auf den Boden. Da legte sich Kennon eine Hand auf die Schulter. Er fuhr herum. Bördo blickte ihn vorwurfsvoll an. »Willst du uns verraten?« fragte der Sohn Sigurds. »Verraten? Wie kommst du darauf?« »Synk und ich sind nicht damit einverstanden, daß du ihn herausholst«, erklärte Bördo. »Ich kann nicht zusehen, wie ein intelligentes Wesen auf diese Weise umgebracht wird.« »Das ist nicht unsere Sache. Du weißt nicht, was er getan hat und wofür er bestraft wird.« »Das ist richtig«, bestätigte Kennon. »Allein die Tatsache jedoch, daß er bestraft wird, sollte uns schon genügen. Wenn er etwas getan hat, wofür man ihn verurteilt hat, dann kann es nur gegen den Dunklen Oheim gewesen sein. Also muß es in unserem Sinne gewesen sein.« »Vielleicht ist das richtig, vielleicht auch nicht. Es ist nicht unsere Sache, das zu klären. Mir gefällt der Büffelköpfige nicht. Er hat sich nicht unter Kontrolle, und es sind Mächte im Spiel, die uns überlegen sind. Wer könnte schon Blitze auf jemanden schleudern? Wir jedenfalls nicht.« »Was willst du damit sagen?« »Nichts weiter, als daß Pthor in Bewegung geraten ist. Bald wird es sein Ziel erreichen. Darauf warten die Rotgekleideten. Sie haben die Magier betäubt und werden sie wahrscheinlich aufwecken,
sobald wir am Ziel sind. Dann wird auch irgend etwas mit Büffelkopf geschehen.« »Das ist nicht wahr«, brüllte Ortuga. »Man wird mich hier drinnen lassen, und niemand wird sich um mich kümmern. Ich werde sterben.« Bördo ging nicht auf ihn ein. Ruhig und selbstsicher blickte er Kennon an. »Wir wollen erst einmal unser Problem lösen, bevor wir uns mit dem eines anderen befassen. Komm mit.« Kennon strich mit der Hand über die Mauer, hinter der Ortuga gefangen war. Er nickte. »Ich muß dir recht geben. Wahrscheinlich genügt, was ich getan habe. Der Büffelköpfige hat Luft zum Atmen. Alles weitere soll sich ergeben, wenn wir wissen, wo wir eigentlich sind, was hier gespielt wird, und wie wir ins Freie kommen.« »Ich sehe, du wirst vernünftig«, sagte Bördo anerkennend. »Es wird Zeit.« Kennon folgte ihm. Ortuga bemerkte, daß eine Chance vertan war. Er brüllte wütend und voller Enttäuschung. Er schrie Kennon eine Serie von Flüchen hinterher, und er erhob die schlimmsten Beschuldigungen gegen ihn. Er nannte Kennon einen Körperdieb und einen Frevler gegen die Natur der Schwarzen Galaxis. Er kündigte ihm die grausamsten Strafen an und schwor, ihn einzumauern, sobald er sich befreit hatte. Der Terraner gab nur wenig auf diese Drohungen. Er wußte, daß Ortuga sich in einer extremen Situation befand, und daß sein Sturz in die erneute Hoffnungslosigkeit ihn über die Maßen belastete, so daß er nicht mehr Herr seiner selbst war. Plötzlich endete die Haßtirade Ortugas in einem unverständlichen Gestammel, das hin und wieder durch grelle Schreie unterbrochen wurde.
»Er ist wahnsinnig«, bemerkte Bördo. »Hörst du es? Er hat den Verstand verloren. Hoffentlich siehst du ein, daß er viel zu gefährlich für uns ist. Wir dürfen uns nicht mit ihm einlassen, oder er bringt uns alle um.« Kennon antwortete nicht. Er konnte seine Gedanken nicht von Ortuga lösen. Immer wieder hatte er das Gefühl, daß in dem Körper des büffelköpfigen Wesens nicht eine Persönlichkeit steckte, sondern zwei. Was hatte Ortuga damit gemeint, daß er die Tafel finden müßte? Was für eine Tafel? Und wieso glaubte er, seine Qualen dadurch beenden zu können, daß er diese Tafel fand? Welche Bedeutung hatte sie für ihn, und gab es eine Verbindung zwischen ihr und seinen Qualen? Das waren Fragen, auf die Kennon trotz angestrengten Nachdenkens keine Antwort fand. Hatte er nur die Worte eines Verrückten gehört? Oder verbarg sich noch viel mehr hinter ihnen, als er vermutete? War es wirklich Ortuga gewesen, der gesprochen hatte, oder war es der andere gewesen, der den büffelförmigen Körper ursprünglich mit Leben und Geist erfüllt hatte, und der jetzt darin wahrscheinlich noch existierte? War Ortuga dem Wahnsinn verfallen, oder war es der andere? Sie erreichten die Halle der Organklumpen, und Bördo schreckte Kennon aus seinen Gedanken auf. »Du kannst froh sein, daß ich nach dir gesehen habe«, sagte der Sohn Sigurds. »Viel hätte nicht gefehlt, und wir wären allein weitergegangen.« »Danke«, erwiderte Kennon schlicht. Bördo und Synk hatten eine breite Bahn in das Netz der Tentakel geschlagen. Alle abgetrennten Arme hatten sie in die Organklumpen geworfen, wo diese wieder verwertet wurden. Kennon sah, daß viele Organklumpen bereits neue Tentakel ausbildeten, und daß diese in erschreckend schnellem Tempo wuchsen.
Der Orxeyaner wartete auf der anderen Seite der Halle auf sie. Aufgebracht fuhr er Kennon an, als dieser ihn erreichte. »Wir riskieren unser Leben, um hier durchzukommen, und du geisterst in den Höhlen herum, als ob wir es uns leisten könnten, hier spazierenzugehen.« »Ich habe mir so meine Gedanken gemacht«, erwiderte der Terraner ruhig. »Irgendeinen Sinn müssen diese Höhlen ja wohl haben. Ich glaube nicht daran, daß sie einfach nur so da sind. Woher kam das monströse Wesen, das uns angegriffen hat? Wieso kann hier eine fleischfressende Pflanze existieren, obwohl es überhaupt keine Nahrung für sie gibt? Oder wird sie hin und wieder gefüttert? Was haben diese Organklumpen mit den Tentakeln zu bedeuten? Woher beziehen sie ihre Nahrung? Die Klumpen sind fest mit dem Boden verbunden. Ich wüßte gern, ob von unten Kanülen oder etwas Ähnliches hochkommen und sie versorgen.« Synk ging wortlos zum nächsten Organklumpen hin, schwang das Schwert weit ausholend zur Seite und trennte die organische Masse mit einem Streich vom Boden ab. Er warf die zuckenden Reste zu einem Tentakel hin, der sie sogleich ergriff und dem Verzehr zuführte. »Da ist nichts«, erklärte er und stocherte in der weißlichen Masse herum, die auf dem Boden klebte. Sie ließ sich teilen wie ein amorpher Brei. »Wenn diese Bestien gefüttert werden, dann jedenfalls nicht aus dem Boden heraus. Doch davon abgesehen, muß ich dir recht geben. Wir sollten uns wirklich Gedanken darüber machen, wozu das alles da ist.« »Was glaubst du denn?« fragte Bördo. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete der Orxeyaner freimütig. »Bisher habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.« Der Tonfall seiner Worte verriet Kennon, daß er nur geringes Interesse daran hatte, die offenen Fragen beantwortet zu bekommen. Er sah die Zusammenhänge noch nicht, die sich dem
kosmokriminalistischen Genie Kennon bereits aufzeigten. Der Terraner war jedoch nicht enttäuscht. Er hatte im Grunde genommen nichts anderes erwartet. * Ein schmaler Gang führte zur nächsten Höhle. Er war lang und gewunden, und mehrere Male glaubten die drei Männer flüsternde Stimmen zu vernehmen. Vorsichtig drangen sie weiter vor, bis sie einen Baum sahen, der am Ende des Ganges wuchs. Zwei seiner Äste ragten ihnen weit entgegen. Sie trugen weiße, fast farblose Blätter. »Der Baum sieht harmlos aus«, stellte Bördo fest. »Hoffentlich ist er es auch«, sagte Synk. »Wir haben keine Kohlen, um ihm einzuheizen, und mit dem Schwert richten wir wohl nichts aus.« Kennon blieb nachdenklich stehen. Er glaubte, einem Baum wie diesem schon irgendwo einmal begegnet zu sein, doch ihm fiel nicht ein, wo das gewesen war. Er vermutete, daß er ihn im Blutdschungel gesehen hatte, war sich jedoch nicht sicher. »Wir sollten vorsichtig sein«, sagte er. Bördo lachte. »Ich wußte, daß so etwas kommen würde.« Kopfschüttelnd blickte er Kennon an. »Bist du ein Feigling oder ein Schwarzseher?« Der Terraner lächelte. »Bisher hat er immer nur dann gewarnt, wenn es wirklich gefährlich wurde«, versetzte Sator Synk. »Hast du das schon vergessen, Bördo?« Der Sohn Sigurds wies auf den Baum. »Das ist ein harmloser Baum, wie es Millionen auf Pthor gibt. Davor brauchen wir keine Angst zu haben.« Er ging weiter, nachdem er vorsichtshalber das Schwert gezogen
hatte. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist«, sagte der Orxeyaner. »Er ist sonst nicht so.« »Vielleicht ist sein Leichtsinn eine Nachwirkung der Paralyse, die die Rotgekleideten ihm beigebracht haben«, entgegnete Kennon gelassen. Die Vorwürfe, die Bördo gegen ihn erhoben hatte, berührten ihn nicht. Er war es gewohnt, beschimpft zu werden. »Seht ihr«, rief Bördo, der den Baum erreicht hatte und an einem Ast rüttelte. »Hier ist wirklich nicht alles gefährlich für uns.« Er schob lachend das Schwert in den Gürtel zurück. Herausfordernd stemmte er die Fäuste in die Hüften. »Geh weg dort«, warnte Kennon. Zusammen mit Synk eilte er auf Bördo zu. »Wozu denn?« Der Sohn Sigurds legte den Kopf in den Nacken und lachte. Sein Gesicht verfärbte sich, und die Augen traten weit aus den Höhlen. Er hustete. »Wie der Baum duftet! Unglaublich!« Plötzlich wußte Kennon wieder, woher er den Baum kannte. Er war einem solchen Baum noch nicht begegnet, aber er hatte von diesen Bäumen gehört. »Man nennt sie Wahnsinnsbäume«, rief er. »Sie verströmen ein Gas. Wer es einatmet, verliert den Verstand. Geh weg, Bördo. Schnell.« Der Sohn Sigurds verdrehte die Augen und stürzte zu Boden. »Luft anhalten«, befahl der Terraner. Sator Synk nickte ihm nur zu. Die beiden Männer rannten zu Bördo, packten ihn an den Handgelenken und schleiften ihn über den Boden. Sie liefen am Baum vorbei in die nächste Halle hinein und entfernten sich etwa dreißig Meter weit von dem Baum. Bördo erbrach sich. Sator Synk kniete bei ihm nieder und hielt ihn, damit er nicht erstickte. Kennon sah sich in der Halle um. Er wollte ihn und Bördo absichern.
Ihm bot sich ein erschreckender Anblick. Auch hier klebten zahlreiche Organklumpen am Boden. Sie waren jedoch wesentlich größer. Einige erreichten einen Durchmesser von fast anderthalb Metern. Sie waren rötlich, und Kennon glaubte, unter der dünnen Haut ihrer Oberfläche ständige Bewegungen einer amorphen Masse erkennen zu können. Doch das allein war es nicht, was ihn abstieß. Aus den Organklumpen ragten Gliedmaßen hervor. Er sah Hände, die Technos gehören konnten und ganze Arme, die ebenfalls von menschlichen Wesen zu stammen schienen. Ebenso Beine, deren Formen ihn an die Beine von Tieren verschiedener Art erinnerten. Aus einem Organklumpen schien der Kopf eines antilopenähnlichen Tieres zu kommen, während Kennon glaubte, bei einem anderen den Rücken eines geschuppten Echsenwesens zu sehen. Viele Organklumpen hatten Tentakel, aber diese schienen verkümmert und schwach zu sein. Oder irrte er sich? Bildeten sich die Tentakel nicht zurück, sondern wuchsen sie erst heran? Hatten die Organklumpen die Wesen verzehrt, deren Körperteile noch aus der rötlichen Masse herauslugten? »Ich glaube, er wird es überstehen«, sagte Sator Synk, der Bördo aufrichtete. »Ihm ist noch ein bißchen schlecht, aber er wird sich erholen.« »Hoffen wir es«, entgegnete Kennon. »Gib mir sein Schwert. Er ist zur Zeit doch nicht kampffähig.« Der Orxeyaner zog Bördo das Schwert aus dem Gürtel und reichte es Kennon. Dieser erschrak, als er es in den Händen hielt. Er hatte sich in seinem Gewicht verschätzt. Es war viel zu schwer für ihn, und er wußte sofort, daß seine Kräfte schnell erlahmen würden, wenn er damit gezwungen war zu kämpfen. Es sah aber danach aus, daß er es tun mußte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle befand sich eine etwa zehn Meter hohe Grotte, von der aus ein Gang in den Berg führte.
Ein siebenbeiniges Wesen erschien darin. Der spiralförmige Körper erhob sich etwa drei Meter hoch über den säulenartigen Beinen, die so dicht nebeneinander standen, daß sie sich bei jeder Bewegung gegenseitig behinderten. Am oberen Ende der blauen Spirale befand sich ein dreieckiger Kopf mit acht weit vorspringenden Stoßzähnen, mit denen das monströse Wesen jeden Gegner durchbohren konnte. Aus den oberen Enden der Beine schoben sich trichterartige Gebilde hervor, mit denen das Wesen bedrohlich klingende Laute von sich gab. Das Brüllen und Knurren der Bestie erfüllte die Halle und ließ Bördo auffahren. »Beruhige dich«, sagte Synk. »Das Biest kann uns nicht erreichen. Durch die Halle wird es nicht laufen.« Er irrte sich. Das Ungeheuer aus den Horden der Nacht griff an. Es stürzte sich brüllend und tobend in die Menge der Organklumpen, die augenblicklich reagierten. 6. Unwillkürlich wichen Kennon, Synk und Bördo zurück. Der Sohn Sigurds konnte sich nicht auf den Beinen halten. Als Synk versäumte, ihn zu stützen, sackte er zu Boden. Kennon und Synk wollten ihm helfen, doch er wehrte sie ab, als er sah, welche Wirkung der Angriff des monströsen Wesens hatte. Die Organklumpen, in deren Nähe es kam, warfen sich ihm entgegen. Sie schlangen die Tentakel um seine Beine und krallten sich an sie, sofern sie Hände oder andere Greifwerkzeuge hatten. Kennon beobachtete, daß ein Organklumpen eine Art Geierschnabel hatte, mit dem er wütend auf das Wesen einhackte und große Brocken Fleisch aus seinen Beinen riß. Brüllend und mit allen Beinen um sich schlagend, stürmte das Ungeheuer weiter.
Doch jeder Schritt wurde zur Qual. Jeder Zentimeter erkämpften Raumes mußte teuer bezahlt werden. Schon nach wenigen Sekunden bluteten alle sieben Beine aus klaffenden Wunden. Ein Organklumpen, aus dem eine Art Raubtierkopf hervorragte, verbiß sich in einem Bein und ließ nicht locker, so wütend die Bestie auch zerrte. Jetzt beugte sich der spiralförmige Körper nach unten, und die Stoßzähne, die wie spitze Dornenbündel nach vorn standen, bohrten sich in die Organklumpen. »Wie entsetzlich«, sagte Sator Synk keuchend. Kennon blickte zu Bördo hinüber, der sich abgewendet hatte, weil er das Gemetzel nicht sehen konnte, ohne sich erneut zu übergeben. Organklumpen und das Ungeheuer aus den Horden der Nacht bissen, schlugen und stachen wild und unkontrolliert aufeinander ein. Immer mehr Organklumpen fielen den unerbittlichen Attacken der Bestie zum Opfer, diese aber konnte sich schließlich nicht mehr auf den Beinen halten. Mit einem ohrenbetäubenden Geschrei kippte es um und fiel zwischen die Organklumpen. Für diese gab es nun kein Halten mehr. Sie packten ihre Beute und gaben sie nicht mehr frei. Alle anderen Organklumpen in der Halle versuchten, sich von ihren Plätzen zu lösen. Von nagendem Hunger gequält, wollten sie ebenfalls zu dem gefällten Riesen, der sich verzweifelt gegen das unabwendbare Ende wehrte. Es gelang ihnen nicht, so sehr sie sich auch abmühten. »Das Monster schafft es nicht«, sagte der Orxeyaner mit heiserer Stimme. »Ich möchte wissen, wie wir hier durchkommen sollen.« »Die Rotgekleideten haben dabei keine Probleme gehabt«, entgegnete Bördo. »Vielleicht können sie diese Bestien mit ihren Metallstäben betäuben«, sagte Kennon. »Wie wärʹs mit einer guten Idee?« fragte Bördo. Er grinste schief, weil ihm offensichtlich peinlich war, daß er die berechtigte
Warnung Kennons abermals nicht beachtet und dafür seine Strafe erhalten hatte. Dabei war er nach dem Vorfall mit der fleischfressenden Pflanze fest entschlossen gewesen, jede Warnung Kennons ernst zu nehmen. Doch ein gewisses Überlegenheitsgefühl ließ ihn die guten Vorsätze immer wieder vergessen. Er wunderte sich selbst darüber, weil er sonst nicht so leichtsinnig war. Aber der Anblick dieses blonden Mannes, der in einem körperlichen Umwandlungsprozeß zu stehen schien, der mitten in der Entwicklung aufgehalten worden war, ließ ihn alle guten Vorsätze vergessen. Er wußte, daß Kennon ein überaus kluger Mann war, und er hatte längst erfaßt, daß er über einen großen Erfahrungsschatz verfügte. Dennoch blieb die Tatsache, daß er ihn mühelos mit einer Hand in einem Zweikampf hätte besiegen können. Dieses Wissen machte es ihm schwer, Kennon den nötigen Respekt zu zollen. Wahrscheinlich muß ich noch eine Menge Lehrgeld bezahlen, bis ich endlich begriffen habe, dachte er und war zugleich erstaunt darüber, daß es ihm schwerfiel, klar und folgerichtig zu denken. Er erinnerte sich an den Baum und an die Übelkeit, die ihn darunter befallen hatte. Ihm wurde klar, daß er Gift im Körper hatte, und daß er aus diesem Grund mehr noch als zuvor auf die Hilfe Synks und Kennons angewiesen war. Dennoch mochte er nicht so ganz als derjenige dastehen, der alles falsch gemacht hatte. Er mochte seine Position innerhalb der Gruppe noch nicht abgeben, obwohl er längst wußte, daß Kennon die Persönlichkeit war, die in zunehmendem Maß über ihn und den Orxeyaner hinauswuchs. »Er hat mich gewarnt«, stellte er fest, wobei er nur Synk ansprach. »Glücklicherweise. Du solltest ihm dankbar dafür sein.« »Das bin ich auch.« »Aber irgend etwas stört ihn«, bemerkte Kennon. »Was ist es dieses Mal?« »Wieso hat er gewußt, daß der Baum gefährlich ist?« Bördo blickte
geflissentlich an dem Terraner vorbei. »Er konnte es einfach nicht wissen. Verstehst du, was ich damit sagen will?« »Das weiß ich längst, Bördo«, erwiderte Synk ernst. »Und allmählich reicht es mir. Wenn er dich nicht gewarnt hätte, dann wärst du vielleicht schon tot. Du hast dich wie ein Narr benommen. Du solltest ihm danken.« »Er war schon mal hier unten. Er kennt sich aus. Wieso denn eigentlich?« »Schluß jetzt«, befahl Synk ärgerlich. »Kennon hat sich als treuer Freund erwiesen. Deine Verdächtigungen werden allmählich beleidigend.« »Ich achte auf Kleinigkeiten«, erläuterte Kennon. »Ich sehe Spuren, die euch nicht auffallen. Und mir ist vor allem eines klar: Hier in diesen Höhlen gibt es nichts, was ungefährlich ist. Wer nachlässig ist, bekommt das schnell zu spüren.« Bördo senkte den Kopf. Er schwieg einige Minuten lang, und auch die beiden anderen Männer sagten nichts. Das Schmatzen und Knurren einiger Organklumpen, die den gefällten Riesen verzehrten, hallte durch das Gewölbe. Endlich streckte der Sohn Sigurds dem Terraner die Hand entgegen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Dich zu verdächtigen, war wirklich dumm von mir. Es wird nicht mehr vorkommen. Wäre es dir recht, wenn wir alles vergessen?« »Einverstanden«, erwiderte Kennon und ergriff die Hand. »Hast du eine Idee, wie wir hier durchkommen?« fragte Bördo dann. »Nur mit dem Schwert. Ich glaube nicht, daß es eine andere Möglichkeit gibt. Wenn wir Atemschutzmasken hätten, könnten wir uns mit den Zweigen des Baumes bewaffnen, aber wir haben keine. Also hilft nur Gewalt.« »Gib mir das Schwert. Ich fühle mich kräftig genug.« Kennon überreichte es ihm, und Bördo begann zusammen mit
Synk das blutige Werk. Sie schlugen eine Gasse durch die Reihen der Organklumpen. Dabei kamen sie überraschend schnell voran. Die seltsamen Wesen befanden sich in einer Art Blutrausch und richteten ihre ganze Aufmerksamkeit nur auf die Stelle, an der die anderen das monströse Wesen verzehrten. Nahezu wehrlos fielen sie den Schwertern Synks und Bördos zum Opfer. Kennon folgte den beiden Männern auf den Fersen. Er wollte nicht von ihnen getrennt werden. Als die drei Männer nur noch etwa zehn Meter von der Grotte entfernt waren, tauchten seitlich von ihnen mehrere rotgekleidete Gestalten auf, die aus einem Felsspalt gekommen waren, den Kennon und seine beiden Begleiter bisher nicht beachtet hatten. Die Roten schrien heiser auf und machten dadurch auf sich aufmerksam. »Schnell. Wir müssen durch«, rief der Terraner. Synk und Bördo sahen die roten Gestalten und erschraken ebenfalls. Keiner von ihnen schien damit gerechnet zu haben, von dieser Seite aus angegriffen zu werden. Die Rotgekleideten eilten auf sie zu. Sie hielten Metallstäbe in den Händen. Sobald sie die Organklumpen damit berührten, fielen diese betäubt zurück. Die ausgestreckten Gliedmaßen erschlafften und sanken auf den Boden. Sinclair Marout Kennon erfaßte als erster, daß die Schnüffler, wie Bördo die Rotgekleideten genannt hatte, bei ihnen sein würden, bevor Synk und Bördo sich durchgeschlagen hatten. »Wir müssen es riskieren«, rief er ihnen zu, bückte sich und nahm das mit dichtem Pelz besetzte Bein auf, das Bördo kurz zuvor abgeschlagen hatte. Er schleuderte es den Roten mit aller Kraft entgegen und traf eine der Gestalten. Die Kapuze rutschte nach hinten weg und enthüllte einen greisenhaften Kopf. Das senil wirkende Gesicht des Rotgekleideten hatte hochstehende Jochbeine und eine stark fliehende Stirn. Die schwarzen Augen
lagen tief in den Höhlen. Rasch schob der Rotgekleidete die Kapuze wieder über den kahlen Schädel. Obwohl er zu Boden gefallen war, die anderen behinderte und zudem noch von einem Organklumpen, aus dem scharf gebogene Krallen hervorragten, angegriffen wurde, schien er an nichts anderes zu denken als daran, das Gesicht zu verbergen. »Lauft los. Wir müssen es versuchen«, rief Kennon Bördo und Synk zu. Vier Organklumpen lagen noch vor ihnen. Aus einem von ihnen kamen menschliche Beine hervor, die bis über die Knie hinaus ausgebildet waren. Die nackten Füße standen fest auf dem Boden, und es sah so aus, als wolle der Organklumpen sich mit ihrer Hilfe erheben und fortbewegen. Der Orxeyaner und Bördo begriffen, daß sie keine Chancen hatten, wenn es den Rotgekleideten gelang, sie zu erreichen und mit den Metallstäben zu berühren. Sie stürmten los, schnellten sich über die Organklumpen hinweg, wichen wild zugreifenden Händen aus und retteten sich in die Grotte hinein. Sinclair Marout Kennon hielt aufgrund seiner gegenüber früher besser ausgebildeten Muskeln mit. Kopfüber sprang er an einem Organklumpen vorbei. Die Rotgekleideten ließen sich nur kurz aufhalten. Als sie ihre erste Überraschung über den unerwartet heftigen Widerstand überwunden hatten, betäubten sie die Organklumpen in ihrer Nähe, rafften sich auf und setzten die Verfolgung fort. Zu dieser Zeit hatten Bördo, Synk und Kennon den Gang bereits erreicht, der in die nächste Höhle führte. Sie stürmten ihn entlang und hofften, an seinem Ende eine Gelegenheit zu haben, durch andere Gänge entkommen zu können. »Wenn wir wieder auf solche Organklumpen treffen, haben wir verloren«, rief Bördo. Sator Synk und Kennon antworteten nicht. Sie machten sich ihre eigenen Gedanken über das, was sie vorfinden würden, und das kosmokriminalistische Genie kam mit seinen Vermutungen der
Wahrheit am nächsten. Als die drei Männer das Ende des etwa hundert Meter langen Ganges erreichten, trafen sie auf drei abzweigende Gänge, von denen zwei seitlich in die Tiefe führten, während der andere sich leicht in die Höhe schwang. Sie wählten diesen, weil sie hofften, daß er sie näher an einen Ausgang heranbringen würde. Doch schon nach etwa zehn weiteren Metern erreichten sie sein Ende und kamen in die größte Höhle, die sie bis dahin gesehen hatten. Das Gewölbe hatte einen Durchmesser von fast dreihundert Metern und war an einigen Stellen fast hundert Meter hoch. In diesem gewaltigen Raum drängten sich die Leiber von etwa zweihundert Ungeheuern der Nacht. Die Bestien verhielten sich überraschend ruhig. Die meisten von ihnen standen lethargisch herum, als warteten sie darauf, daß irgend etwas geschah. Einige von ihnen trotteten in der Höhle umher, als suchten sie etwas. Nur wenige waren wild und kampfwütig. »Umkehren. Schnell«, rief Kennon. »Wir müssen einen der anderen Gänge wählen. Hier haben wir keine Chance.« »Zu spät«, antwortete der Orxeyaner. Er legte gleichzeitig mahnend die Finger an die Lippen, um Bördo und dem Terraner zu bedeuten, daß sie leise sein sollten. »Sie kommen.« Jetzt vernahmen auch Bördo und Kennon die flüsternden Stimmen der Rotgekleideten, die aus dem Gang heraufklangen. Erschaudernd erkannten die beiden Männer und der Junge, daß sie nur eine Chance hatten, wenn sie mitten in die Herde der Ungeheuer der Horden der Nacht gingen und sich in ihr versteckten. »Die Bestien sind narkotisiert«, sagte Kennon eindringlich. »Sie sind nicht so gefährlich wie sonst. Kommt.« Bördo und Synk erbleichten. Der Orxeyaner raufte sich den Bart. Nervös blickte er über die Schulter zurück in den Gang. Er erkannte,
daß sie tatsächlich keine andere Wahl hatten, als sich mitten unter die Ungeheuer zu begeben. »Unter diesen Umständen ist es weniger verrückt, sich von den Schnüfflern erwischen zu lassen«, erklärte der Sohn Sigurds mit belegter Stimme. Kennon packte ihn mit der Linken und Synk mit der Rechten. Dann schob er sie vor sich her zu den Bestien hin. Noch immer zögerten Bördo und Synk. Aber er gab ihnen nicht die Gelegenheit, sich ihm zu entziehen. Eine etwa vier Meter hohe Bestie, die einem gewaltigen Kraken glich, glotzte sie mit tellergroßen Augen an. Die Tentakel, die etwa acht Meter lang waren, schoben sich wellenförmig über den Boden. Aus dem Kugelleib ragten vier säulenförmige Beine hervor, auf denen das monströse Wesen stand. Die Tentakel schienen nur für den Kampf gedacht zu sein. Kennon führte seine beiden widerstrebenden Begleiter an dem Tier vorbei hinter ein pilzförmiges Wesen, das auf zahllosen Stummelbeinen nervös herumtänzelte. Er blickte nach oben und sah, daß sich unter dem etwa fünf Meter weit ausladenden Pilzdach mehrere Chitinzangen befanden, die nun zusammengeklappt waren, die aber äußerst gefährliche Kampfinstrumente darstellten. »Ruhig«, flüsterte er Bördo zu, der heftig protestieren wollte. Der Sohn Sigurds blickte sich um. Er zog den Kopf ein. »Ich muß verrückt gewesen sein, daß ich mich darauf eingelassen habe«, sagte er. Links von ihnen kauerte ein spinnenartiges Ungeheuer auf dem Boden, das groß genug war, sie alle drei mit seinen Zangen zu packen und auf einmal zu verschlingen. Rechts von ihnen stand ein grauer Vierbeiner, dessen Rumpf dem eines Elefanten glich, während der Kopf von einer ins Riesenhafte vergrößerten Fliege zu stammen schien. Daneben lag ein blauer Würfel auf dem Boden, hinter dessen Körperoberfläche es bedrohlich pulsierte. Er schien keinerlei
Extremitäten und Waffen zu haben. Kennon zweifelte jedoch nicht daran, daß er sich sehr wohl zu wehren wußte, wenn er angegriffen wurde. Und er ging auch davon aus, daß jenes Wesen dahinter, das wie eine gigantische Gottesanbeterin aussah, ein schrecklicher Kämpfer war. Beruhigend war allein, daß sich alle Monster friedlich verhielten, als stünden sie unter dem lähmenden Einfluß von Drogen, die man ihnen verabreicht hatte. »Wahnsinn«, bemerkte Synk stöhnend. »Purer Wahnsinn.« Kennon spähte an dem Säulenbein des Krakenwesens vorbei zu den Rotgekleideten hinüber. Diese standen am Ausgang des Tunnels und berieten. »Sie suchen uns«, erklärte er und lehnte sich mit dem Rücken an das Bein der Bestie. »Leise«, befahl Synk. Kennon grinste. »Nur nicht die Nerven verlieren.« Bördo blickte ihn staunend an. »Und ich habe dich für einen Feigling gehalten«, sagte er. »Sei still«, flüsterte Synk erregt. Sie hörten die Stimmen der Rotgekleideten, ohne allerdings etwas verstehen zu können. Kennon fühlte sich sicher. Er war überzeugt davon, daß die Schnüffler sie nicht dort suchen würden, wo sie sich versteckt hielten. »Was ist, wenn die Bestien plötzlich verrückt werden?« fragte Bördo. »Ich habe sie noch nie so ruhig erlebt.« »Dann wird es ungemütlich«, antwortete Kennon. »Warum verschwinden die Schnüffler nicht endlich?« Der Sohn Sigurds wurde immer unruhiger. Synk legte ihm die Hand auf den Mund. »Beherrsche dich.« Der Orxeyaner blickte nach oben. Er sah, daß die Chitinzangen unter dem pilzförmigen Dach des Ungeheuers der
Nacht in Bewegung geraten waren. Aus dem oberen Teil des Rumpfes hob sich ein Stielauge hervor. Es näherte sich Bördo. An der Vorderseite des Stiels klappten zwei Lider auseinander, und ein faustgroßes Auge starrte den Sohn Sigurds neugierig an. »Verschwinde«, flüsterte dieser, nachdem Synk seinen Mund wieder freigegeben hatte. Er stand wie zur Salzsäule erstarrt. Das Auge wich nicht von ihm. Es verharrte etwa einen halben Meter vor ihm in der Luft und blickte ihn unverwandt an. Die Stirn Bördos bedeckte sich mit Schweiß. »Schlagt das verdammte Auge mit dem Schwert ab«, forderte er. »Los doch.« Synk griff nach seiner Waffe, doch Kennon legte ihm warnend die Hand auf den Arm. »Das wäre ein Fehler«, sagte er. »Du hast recht«, antwortete Synk mühsam beherrscht. »Der Schmerz könnte die Bestie aufscheuchen, und dann haben wir hier innerhalb von Sekunden die Hölle.« Kennon blickte abermals zu den Rotgekleideten hinüber. Jetzt endlich zogen sie sich in den Gang zurück. Nur einer blieb noch. Er schüttelte den Kopf, als könne er sich nicht vorstellen, daß die Verfolgten nicht in diese Höhle geflüchtet waren. Etwa eine Minute verstrich, bis auch er sich endlich abwandte und im Gang verschwand. »Wir warten noch«, entschied Kennon. »Es kann nicht schaden, wenn wir vorsichtig sind.« Bördo stöhnte gequält. Wutentbrannt blickte er auf das Stielauge, das nicht von der Stelle wich. Er harrte etwa zwei Minuten lang aus, dann schüttelte er trotzig den Kopf, drehte sich um und flüchtete dorthin, wo eben noch die Rotgekleideten gestanden hatten. »Wenn es so ist, können wir auch gehen«, sagte Synk.
Er folgte dem Sohn Sigurds, nachdem er das Stielauge achtlos zur Seite gedrückt hatte. Kennon wollte Bördo zunächst Vorwürfe machen, verzichtete jedoch darauf, als er das bleiche, schweißüberströmte Gesicht des jungen Mannes sah. Er erkannte, daß Bördo noch mit den Nachwirkungen des eingeatmeten Gases zu kämpfen hatte. »Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte das Auge abgeschlagen«, bekannte Bördo. »Ich dachte, es hypnotisiert mich. Mir wurde übel.« »Schon gut.« Synk nickte ihm beruhigend zu. »Ich verstehe das alles nicht«, eröffnete Bördo Kennon und dem Orxeyaner. »Ich dachte, ich wüßte, was hier gespielt wird, aber jetzt stehen hier Hunderte von Bestien herum und warten auf irgend etwas. Worauf warten sie? Und wer hat sie hierhergebracht? Das muß doch alles einen Sinn haben.« »Das hat es auch«, antwortete Kennon. »Ich glaube, ich sehe klar. Die Ungeheuer der Horden der Nacht entstehen in diesen Höhlen. Sie erwachsen aus den Organklumpen. Wir haben die Anfangsstufen gesehen. Diese Bestien hier stellen die Endstufe dar.« »Dann muß es in der Nähe noch eine andere Höhle geben, in der die Organklumpen ein weiteres Zwischenstadium bilden«, bemerkte Sator Synk. »Vermutlich.« »Vor allem aber muß ebenfalls in der Nähe ein Ausgang sein, durch den die Bestien nach draußen gebracht werden«, sagte Bördo. Er zeigte auf die monströsen Wesen, die die Halle füllten. »Sie bleiben schließlich nicht hier, wie wir alle wissen, sondern treiben ihr Unwesen draußen.« »Mich interessiert vor allem, wer die Organklumpen anlegt. Woher die organische Masse kommt, und wer ihre Entwicklung steuerte«, erklärte der Terraner. »Vielleicht finden wir das noch heraus. Nahe dran sind wir jedenfalls.« »Mir ist das alles ziemlich egal«, erwiderte Bördo. »Ich möchte an die frische Luft.«
Kennon blickte in den Tunnel, durch den sie hereingekommen waren. »Wohin gehen wir?« fragte er. »Zurück jedenfalls nicht«, antwortete Sator Synk. »Dann haben wir nur eine Möglichkeit. Wir müssen die Halle durchqueren und sie auf der anderen Seite verlassen.« Bördo schüttelte den Kopf. Er machte Anstalten, sich an die Stirn zu tippen, ließ die Hand jedoch rechtzeitig wieder fallen, als er sich daran erinnerte, wie falsch er Kennon bisher beurteilt hatte. Er wollte den Vorschlag des Verwachsenen nicht schon wieder als indiskutabel abtun. »Geht denn das überhaupt?« fragte er statt dessen vorsichtig. Auch Kennon war nicht entgangen, daß die Bestien unruhiger geworden waren. Es schien, als lasse die Wirkung des Narkotikums, das man ihnen wahrscheinlich verabreicht hatte, nach. »Es könnte sein, daß der Austrieb der Bestien bevorsteht«, sagte der Terraner. »Wenn es so ist, werden die Rotgekleideten bald hier erscheinen. Darauf können wir nicht warten. Zurückgehen können wir auch nicht. Also haben wir gar keine andere Wahl.« »Dieses Mal tue ich, was du verlangst«, versprach Bördo. »Wir gehen an der Wand entlang um die Herde der Bestien herum, bis wir an einen Ausgang kommen. Die Monster haben uns bisher nicht angegriffen, sie werden es jetzt auch nicht tun.« »Hoffen wir es«, erwiderte Bördo seufzend. Er zog sein Schwert aus dem Gürtel und umklammerte es, entschlossen, sich sofort zu verteidigen, wenn ihm Gefahr drohte. Auch Synk nahm sein Schwert in die Hand. »Ich könnte dir eine Waggu geben«, sagte er zu Kennon. »Aber das wäre wenig sinnvoll.« »Ich weiß. Die Waggus wirken nicht. Aber lassen wir es. Wenn die Bestien munter werden, kämpft ihr eben für mich mit.« Sinclair Marout Kennon lächelte, als habe er keinerlei Befürchtungen für den Marsch durch die Halle. Er gab das Zeichen
zum Aufbruch. Zögernd näherten sie sich den ersten Bestien, die großen, roten Krabben glichen. Die schwarzen, pupillenlosen Augen verrieten nicht, was diese monströsen Wesen wahrnahmen, ob sie sie überhaupt bemerkten, oder ob sie sie fixierten und nur darauf warteten, daß sie ihnen nahe genug kamen, um sie angreifen zu können. Bördo und die beiden Männer schoben sich an der Felswand entlang. »Schneller«, sagte Kennon, der plötzlich wieder die Stimmen der Rotgekleideten hörte. »Wenn wir dir zu langsam sind, kannst du ja vorangehen«, erwiderte Bördo ärgerlich. »Warum nicht?« Kennon überholte ihn und drängte auch Synk zur Seite, der nur schwach dagegen protestierte, daß er die Spitze übernahm. Der Terraner ging schnell und entschlossen an den krabbenähnlichen Bestien vorbei. Da sie sich einmal entschieden hatten, diesen Weg zu wählen, war es egal, ob sie sich zügig oder langsam und tastend voranbewegten. Das Risiko war auf jeden Fall gleich, da niemand sagen konnte, ob die Bestien sich ruhig verhalten oder angreifen würden. »Wenn diese Monster nur nicht so stinken würden«, bemerkte Bördo stöhnend. Er hielt sich die Nase zu. Er und die beiden Männer waren sich darüber klar, daß sie im Ernstfall nur geringe Aussichten hatten, den Kampf zu überleben. Die monströsen Geschöpfe waren alle wesentlich größer als sie und konnten sie allein schon durch ihr Körpergewicht erdrücken. Viele schienen kaum mehr als Muskelbündel zu sein, die durch gefährlich aussehende Freßwerkzeuge ergänzt wurden. Immer wieder richteten sich die Augen der Bestien auf die drei Männer, und Kennon war mehr als einmal so erschrocken, daß er stehenbleiben wollte. Er wurde sich jedoch jedesmal wieder
rechtzeitig dessen bewußt, daß er gerade dadurch eine Attacke auslösen konnte. Er hielt es für am besten, so rasch an den Tieren vorbeizugehen, daß diese geistig gar nicht erfaßten, was geschah. Boten sie ihnen die Möglichkeit, Beute zu machen, dann bestand auch die Gefahr, daß die Bestien angriffen. Doch sicher war sich Kennon dessen nicht. Er beobachtete die Tiere, die direkt aus der Hölle gekommen zu sein schienen. Derart viele monströse Gestalten hatte er noch niemals auf so engem Raum zusammen gesehen. Teilweise hatte er das Gefühl, einen Alptraum zu erleben. Sämtliche Schreckensgestalten, die die Phantasie ins Unterbewußtsein abgedrängt hatte, schienen an die Oberfläche gekommen zu sein. Als sie etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, wurde es unruhig in der Halle. Aus der Mitte der Herde ertönte wütendes Gebrüll. Dann schlugen laut krachend die Kampfzangen einiger Bestien aneinander. Für einen kurzen Moment konnte Kennon sehen, daß sich zwei insektoide Wesen aufeinanderstürzten und sich heftig bekämpften. Beide bluteten aus Wunden, die sie sich gegenseitig beigebracht hatten. Die anderen Bestien nahmen den Blutgeruch auf. Sie wurden von Sekunde zu Sekunde unruhiger. »Es geht los«, sagte Synk keuchend. »Jetzt dürfen wir nicht mehr warten. Lauft – wenn euch euer Leben lieb ist.« Kennon rannte los. Bördo und der Orxeyaner stürmten hinter ihm her. Der Kampflärm stieg an. Den drei Männern war die Sicht versperrt, da die Leiber der Giganten sich vor ihnen erhoben, so daß sie nicht erkennen konnten, wie weit sich der Streit ausgedehnt hatte. Das Gebrüll, das Keuchen und Stöhnen der Tiere und der Lärm der aufeinandertreffenden Waffen ließ sie jedoch ahnen, daß es nicht mehr nur zwei Bestien waren, die einander bedrängten.
7. »Schneller«, schrie Bördo. Er wirbelte das Schwert um den Kopf, weil er glaubte, damit die Bestien beeindrucken und abschrecken zu können. »So lauft doch, bevor sie über uns herfallen.« Kennon blieb an einem Felsvorsprung stehen. Die Bestien ließen einen runden Fleck frei, der einen Durchmesser von mehr als zwanzig Metern hatte. Sie waren vor einem Wesen zurückgewichen, das der Terraner nicht in seiner ganzen Größe sehen konnte. Es steckte am Grund eines etwa zwei Meter tiefen Trichters, der an der oberen Kante einen Durchmesser von ungefähr zwanzig Metern hatte. Nur eine halb kugelförmige Erhebung war zu erkennen, aus der büschelweise rote Haare emporragten. An einigen Stellen der sanft abfallenden Trichterwand wiesen blutige Spuren darauf hin, daß sich hier Tragödien abgespielt hatten. Kennon schüttelte den Kopf. »Hier geht es nicht weiter«, sagte er. Bördo blickte sich gehetzt um, und auch Sator Synk hatte viel von seiner überlegenen Ruhe verloren. Immer mehr Ungeheuer der Horden der Nacht schienen miteinander zu kämpfen. »Wir dürfen nicht hier bleiben«, sagte der Orxeyaner, »sonst können wir gleich einpacken.« Kennon zeigte auf einen schmalen Sims, der zwischen der steil aufsteigenden Höhlenwand und dem Trichterrand entlangführte. »Der kürzeste Weg geht dort entlang«, erwiderte er. »Es ist wohl der einzige, der uns bleibt.« Zwei Bestien, die Raubkatzencharakter hatten, kämpften in der Nähe des Trichters miteinander. An ihnen vorbeilaufen zu wollen, schien allzu gefährlich zu sein. »Der Sims«, stellte Bördo keuchend fest. »Nirgendwo sind wir angreifbarer als dort, aber wir haben keine Wahl.«
Er blickte Kennon mit flammenden Augen an. »Wäre ich doch nicht so leichtsinnig gewesen, dir zu folgen«, schrie er. Der Schweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht. In seinen Augenwinkeln zuckte es. »Sei vorsichtig«, sagte der Terraner leise zu Synk. »Er steht noch immer unter dem Einfluß des Giftgases. Paß auf, daß er nicht in den Trichter fällt.« »Paß du nur auf, daß ich dich nicht hineinwerfe«, antwortete Bördo erregt. »Das scheint mir überhaupt eine gute Idee zu sein. Wenn die Bestie da unten mit dir beschäftigt ist, wird sie uns nicht behelligen.« »Nimm dich zusammen, Bördo.« Sator Synk legte ihm die Schwertspitze an die Brust. »Wenn du Kennon in den Trichter wirfst, fliegst du augenblicklich hinterher.« »Das wirst du nicht wagen.« Der Orxeyaner lächelte drohend. »Wir bleiben zusammen. Alle drei. Einer ist für den anderen da. Nur so schaffen wir es. Ich weiß, daß du das Gift noch im Blut hast. Deshalb verzeihe ich dir, was du gesagt hast. Nimm dich gefälligst zusammen und wehre dich gegen das Gift. Das ist alles, was wir von dir erwarten.« Bördo senkte betroffen den Kopf. »Entschuldigt«, erwiderte er und fuhr sich mit dem Ärmel über das schweißnasse Gesicht. »Ich war wohl nicht bei Sinnen.« Kennon betrat den Sims. Er fragte sich, was für ein Tier am Grund des Trichters lauerte. Daß es gefährlich war, stand für ihn fest. Die anderen Bestien hätten sich nicht so deutlich erkennbar vor ihm zurückgezogen, wenn es nicht so gewesen wäre. Er hoffte jedoch, daß diese Bestie ebenso narkotisiert war wie die anderen Wesen in der Höhle. Wenn das der Fall war, brauchte er keinen Angriff zu fürchten.
Sator Synk und der Sohn Sigurds folgten dem Terraner. Sie hielten ihre Schwerter so, daß sie bei einem Überfall sofort zuschlagen konnten. »Wenn das Biest etwas gegen uns unternimmt, dann sicherlich mit einem Fangarm«, sagte der Orxeyaner. »Paß auf, Bördo. Wir müssen ihn sofort abschlagen, falls er uns packen will.« »Du kannst dich auf mich verlassen«, beteuerte der Angesprochene. Langsam und tastend schob sich Kennon voran, ohne auf das zu achten, was mitten unter den Ungeheuern der Horde der Nacht geschah. Er wollte das Hindernis möglichst schnell überwinden, denn er rechnete damit, daß bald Rotgekleidete in die Höhle kommen würden, um für Ruhe zu sorgen. Ein Teil des Fells klappte auseinander, und ein faustgroßes, schwarzes Auge wurde sichtbar. Darin schien es eigenartig zu leuchten, so als ob ein Feuer darin brenne. Kennon ging noch etwas schneller. Doch schon beim nächsten Schritt bereute er seine Hast. Er rutschte aus und wäre gefallen, hätte Synk ihn nicht gepackt und gehalten. »Nur nicht übertreiben«, warnte der Orxeyaner. Kennon wollte sich bedanken, doch er brachte keinen Laut über die plötzlich trockenen Lippen. Er sah, daß ein gekrümmter Dorn neben dem Auge aus dem Fell der Bestie kam. Sie zielt auf dich! dachte er erschreckt. Gleich wird der Dorn auf dich zuschießen und dich treffen. Er erreichte einen kleinen Felsvorsprung und schob sich um ihn herum. Da sah er, daß dahinter die Öffnung eines Ganges lag. Rasch trat er vor, um sich von dem Trichter zu entfernen. »Schnell«, sagte er. »Es genügt, wenn wir bis hierher gehen.« Sator Synk folgte ihm eilig. Als Bördo sich ebenfalls in Sicherheit bringen wollte, schoß der Dorn, der an der Spitze eines zusammengefalteten Beines saß, auf ihn zu. Der Sohn Sigurds glitt aus und stürzte zu Boden. Das war
sein Glück. Der Dorn zuckte hautnah an ihm vorbei und prallte krachend gegen den Fels. Kennon beugte sich über Bördo, packte ihn an den Handgelenken und zog ihn mit aller Kraft in den Tunnel hinein. Dabei beobachtete er das Tier am Grund des Trichters. Es klappte das Bein wieder zusammen, bis es in seinem Körper verschwand, dann schleuderte das Tier es erneut heraus. Es war jedoch nicht lang genug. Der Dorn erreichte Bördo nicht mehr, zumal dieser sich nun über den Boden wälzte und sich dabei weiter vom Trichter entfernte. »Das war knapp«, sagte er erschrocken. Er blieb auf dem Boden sitzen und blickte zu den Ungeheuern hinüber. Weit hinten in der Höhle flogen immer wieder die Kampfarme einiger Bestien über die Leiber der anderen hinaus. Wütendes Gebrüll zeigte an, daß die Kämpfe andauerten. »Ich habe nichts davon gehört«, erklärte Bördo. Er schüttelte den Kopf, weil er nicht fassen konnte, daß ihm der Lärm entgangen war. »Ich habe mich so auf den Sims und das Biest da unten im Trichter konzentriert, daß ich von allem anderen nichts bemerkt habe.« Kennon und dem Orxeyaner war es nicht anders ergangen. »Laßt uns weitergehen«, sagte der Terraner. »Wenn wir hier bleiben, kommt vielleicht noch eine von diesen Bestien auf den Gedanken, durch den Trichter zu laufen und uns anzugreifen.« »Daran glaube ich zwar nicht«, erwiderte Synk, »aber ich halte es auch für gut, wenn wir verschwinden. Diese Höhle ist mir ein wenig zu ungastlich.« Während Kennon und der Orxeyaner sich abwandten und in den Tunnel gingen, bückte sich Bördo. Er nahm einen kopfgroßen Stein auf, stemmte ihn sich gegen die Schulter und schleuderte ihn dann kraftvoll in den Trichter hinein. Brüllend und kreischend schoß ein spinnenähnliches Wesen daraus hervor. Es schleuderte das Bein mit dem Dorn gegen den Sohn Sigurds, doch dieser zog sich eilig in den Gang zurück.
Kennon, der durch den Lärm aufmerksam geworden war, sah, wie Bördo erbleichte, da er mit einer derart heftigen Reaktion nicht gerechnet hatte. Der Terraner wollte bereits weitergehen, als er einige Bestien beobachtete, die schlagartig zu Boden stürzten. Er zog Bördo tiefer in den Gang hinein, so daß man ihn von der Höhle her nicht mehr sehen konnte. »Was ist los?« fragte Synk. »Die Schnüffler«, antwortete der Verwachsene. »Sie betäuben die Bestien.« »Zu spät. Wir sind weg.« Sator Synk schob sein Schwert unter den Gürtel. »Was kann jetzt eigentlich noch kommen?« fragte Bördo, der es vorzog, die Waffe in der Hand zu behalten. »Wir wissen, welche Bedeutung die Organklumpen haben. Aus ihnen werden die Ungeheuer der Horden der Nacht. Nun gut. Das genügt doch, oder?« »Ich habe immer geglaubt, daß diese Ungeheuer von den verschiedenen Welten stammen, auf denen Pthor bei seinen Reisen landet«, sagte der Terraner. »Das war offensichtlich falsch. Die Wahrheit sieht anders aus.« »Die Roten scheinen die Bestien nicht so recht in der Gewalt zu haben«, stellte Bördo fest. »Schließlich ist es nicht in ihrem Sinn, wenn einige von ihnen ausreißen und in den anderen Höhlen Unheil anrichten.« »Glücklicherweise ist noch keine bis zu den Magiern vorgedrungen«, entgegnete Kennon. »Schlimmeres Unheil als dort könnten sie kaum anrichten.« Aus der Höhle der Bestien hallte wildes Gebrüll hinüber. Unwillkürlich blieben die drei Männer stehen. »Das hört sich nach dem Büffelköpfigen an«, sagte Bördo. »Das dachte ich auch«, erwiderte der Terraner. »Aber das ist nicht möglich. Er kann sich nicht aus eigener Kraft von den Fesseln befreit
haben.« »Vielleicht hat ihm jemand geholfen.« Synk ging weiter. »Das geht uns nichts an.« »Möglicherweise doch«, widersprach Kennon. »Ich frage mich schon lange, was er wohl anrichten wird, wenn es ihm gelingen sollte, nach draußen zu kommen.« »Mich interessiert nur, wie es mir ergeht, wenn er mich erwischt«, sagte Bördo. * Der Gang wurde abschüssig, und die beiden Männer und der Junge begannen daran zu zweifeln, daß sie auf diesem Wege in die Freiheit kommen würden. Alle drei waren davon überzeugt, daß sie tief unter der Oberfläche von Pthor waren. Daher konnten ihrer Ansicht nach nur die nach oben führenden Wege für sie geeignet sein. Noch aber konnten sie sich nicht dazu entschließen, wieder umzukehren. »Da vorn ist eine Höhle«, sagte Kennon, der die Gruppe anführte. »Hört doch.« Die Rufe wilder Tiere klangen ihnen entgegen. »Das hört sich an, als ob wir uns dem Blutdschungel näherten«, bemerkte Bördo. Verschiedene Vogelstimmen mischten sich mit den Rufen anderer Tiere. Kennon mußte dem Sohn Sigurds recht geben. Auch er hatte das Gefühl, daß sie den Gang im Fels schon im nächsten Moment verlassen und in die freie Natur hinaustreten würden. »Auf jeden Fall klingt es nicht so bedrohlich wie dort hinten in der Höhle der Bestien«, stellte Synk gelassen fest. Er beschleunigte seine Schritte und schloß zu dem Terraner auf. Der Gang, der von schimmernden Kristallen matt erhellt wurde,
bog nach rechts ab. Dann folgten einige Stufen. Als Bördo und die beiden Männer diese hinaufgestiegen waren, stellten sie enttäuscht fest, daß sie eine weitere Höhle erreicht hatten. Hier wimmelte es von Tieren aller auf Pthor vertretenen Arten. Antilopenähnliche Geschöpfe standen neben Flußechsen, mit Hauern bewehrte Wildschweine aus dem Blutdschungel lagen neben elegant wirkenden Wölfen aus den Wüstengebieten. Daneben sah Kennon aber auch gefährliche Raubkatzen, Schlangen und Insekten. Allen war eines gemeinsam: Sie konnten sich nicht von der Stelle bewegen, weil ihre Füße fest mit dem Boden verbunden waren. Der Terraner beobachtete einige Tiere in der Nähe, die erschreckt aufgesprungen waren und sich nun vergeblich bemühten, sich von ihm und seinen Begleitern zu entfernen. Ihre Füße hafteten so fest am Boden, als seien sie damit verschweißt. »Versteht ihr das?« fragte Synk. Bördo machte es sich einfach. »Was soll schon mit ihnen sein? Sie sind aus den Organklumpen gewachsen. Ebenso wie die Ungeheuer.« Kennon schüttelte den Kopf. Er mochte sich mit dieser Erklärung nicht zufriedengeben. »Das glaube ich nicht«, erwiderte er und ging einige Schritte weiter. Er blieb in der Nähe einer Gazelle stehen, wie sie ihm in der Wüste Fylln begegnet war. Erschüttert zeigte er auf sie. »Seht sie euch an. Ihr rechtes Bein hat sich zu einem Tentakel umgeformt.« »Ja – und?« Bördo schien auch das nicht erwähnenswert zu finden. Er empfand den Anblick des Tieres als abstoßend, machte sich jedoch keine Gedanken darüber, wieso es so war. Anders Synk. »Du hast recht«, sagte er nachdenklich. »Wir haben uns geirrt.« »Wozu halten wir uns hier auf?« Der Sohn Sigurds blickte ungeduldig zu einem etwa hundert Meter von ihnen entfernten Tunneleingang hinüber. »Habt ihr vergessen, daß die Roten uns auf den Fersen sind?«
»Keineswegs«, erwiderte Kennon ruhig. »Dennoch sollten wir nicht so ohne weiteres darüber hinweggehen, was hier passiert. Für mich ist offensichtlich, daß die auf Pthor lebenden Tiere von irgend jemandem eingefangen und hier in diesen Höhlen einer Metamorphose unterzogen werden. Es muß hier jemanden geben, der sich nicht scheut, aus diesen Wesen die Ungeheuer der Horden der Nacht zu produzieren.« Jetzt stutzte Bördo. Entsetzt blickte er Kennon an. »Du meinst, es geht genau anders herum?« »Allerdings. Wir haben geglaubt, daß wir dem ganzen Prozeß von Anfang an in seinen einzelnen Phasen gefolgt sind. Aber das stimmt nicht. Die Organklumpen mit den Tentakeln, denen wir zu Anfang begegnet sind, stellen nicht die Urzellen dar, sondern sind ein Zwischenstadium. Aus diesen Tieren hier werden solche Organklumpen. Sieh dir den Tentakel an. Solche Fangarme haben die Organklumpen auch gehabt.« Bördo erschauerte. »Allmählich begreife ich. Nach den Organklumpen haben wir jene anderen Klumpen gesehen, aus denen Gliedmaßen hervorkamen. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht, als ich sie zerschlagen habe, um eine Gasse für uns zu schaffen.« »Aber jetzt ist dir klar geworden, daß diese Klumpen die zweite Entwicklungsstufe waren«, ergänzte Kennon. »An ihnen bildeten sich die ersten Teile der späteren Bestien heraus. Alle waren anders. Keine zwei waren gleich.« »Als ob ein verwirrter Geist sich ständig neue Monster ausgedacht und erzeugt hätte«, sagte Sator Synk. »Welch ein Verbrechen an den Geschöpfen von Pthor!« »Ich wollte, ich könnte hier alles zerschlagen.« Bördo stürzte sich auf die Gazelle, die vergeblich versuchte, vor ihm zu fliehen. Er packte sie und wollte sie vom Boden ablösen. Doch er hätte ihre Beine schon abschlagen müssen, um das zu schaffen. Keuchend ließ er von dem gequälten Wesen ab, das kläglich blökte.
»Wie werden diese Tiere ernährt?« fragte Synk. Er blickte Kennon ratlos an. »Man kann sie schließlich nicht durch die Füße hindurch versorgen.« »Wahrscheinlich kommt in regelmäßigen Abständen jemand zu ihnen«, entgegnete der Terraner. »Es würde mich nicht überraschen, wenn er ihnen dabei gleichzeitig auch einen Genmanipulator reicht, der die Metamorphose nicht nur auslöst, sondern auch steuert.« »Wenn ich ihn erwischen würde, ich würde ihn erschlagen«, erklärte Bördo grimmig. »Kennon, gibt es denn keine Möglichkeit, diese Tiere zu befreien?« »Ich weiß es nicht, Bördo. Vielleicht. Dazu müßten wir jedoch noch andere Teile dieser Anlage kennenlernen. Ich schlage vor, daß wir weitergehen.« * Sinclair Marout Kennon blieb stehen, als er die Stimme eines Mannes hörte, der leise und monoton vor sich hin sang. Der Gesang klang traurig und war voller Hoffnungslosigkeit. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Bördo leise. Sie befanden sich auf einem leicht abschüssigen Gang, der grob in den Fels geschlagen war. In zahllosen Spalten saßen Insekten, die ein gelbliches Licht verströmten. »Da vorn ist eine Höhle«, entgegnete Sator Synk. »Das gefällt mir nicht«, sagte Bördo. »Wieso singt da jemand?« »Zu seinem Vergnügen bestimmt nicht.« Der Orxeyaner zückte sein Schwert und ging weiter. Kennon blieb noch stehen. Er massierte sich seine Oberschenkel, die schmerzten. Er wußte nicht, woher diese Schmerzen kamen. Er hoffte jedoch, daß es Wachstumsschmerzen waren, denn nichts war ihm wichtiger, als daß sich sein Körper auch weiterhin streckte und normalisierte. Andere Stimmen fielen in den Gesang ein. Sie summten leise mit.
Und plötzlich ertönte ein Schrei, der alles andere übertönte. Kennon eilte an Sator Synk vorbei bis an den Eingang einer Höhle. Hier blieb er wie vom Schlag getroffen stehen. Der Anblick, der sich ihm bot, war so schrecklich, daß er vor Entsetzen wie gelähmt war. Der Orxeyaner und Bördo schlossen zu ihm auf. Sie ließen die Schwerter sinken. »Das darf nicht wahr sein«, sagte Synk erschüttert. »Ich habe mir darüber Gedanken gemacht, ob es noch andere Höhlen gibt, und wie es darin wohl aussehen mag«, bemerkte Bördo mit leiser, gepreßt klingender Stimme, »aber dies habe ich nicht für möglich gehalten.« »Wenn ich nur wüßte, wer dafür verantwortlich ist«, sagte Synk. »Ich würde ihn mit allen Mitteln bekämpfen.« »Der Dunkle Oheim«, erwiderte Kennon. In der Höhle standen etwa tausend Pthorer aus allen auf dem Dimensionsfahrstuhl vertretenen Völkerschaften. Kennon sah Dalazaaren, Technos, Paarlen, eine Gruppe wild aussehender Männer und Frauen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Razamon hatten, Kuroden, Bewohner von Moondrag, Dadaren, Dellos, Pfister, Kelotten, Yaghts, Bropen, Orxeyaner und ein paar hundert schwer einzuordnende Humanoide, die aus den verschiedensten Bereichen von Pthor stammten. Sie alle standen oder kauerten in der Höhle, blickten starr vor sich hin und bewegten sich nicht von der Stelle. Sie waren in gleicher Weise angeordnet wie die Tiere in den anderen Höhlen, so daß jeder jeweils etwa anderthalb Meter von dem anderen entfernt war und keiner andere erreichen oder auch nur berühren konnte. Ihre Körperhaltung ließ klar erkennen, daß sie alle an den Boden gefesselt waren. »Sie behandeln sie wie die Tiere«, sagte der Orxeyaner. Seine Stimme bebte vor Zorn, und seine Hände krampften sich so fest um den Griff seines Schwertes, daß die Knöchel weiß wurden. »Wir müssen etwas für sie tun«, forderte Bördo.
»Was denn?« fragte Kennon. »Wir konnten den Tieren nicht helfen, und wir werden hier auch nichts ausrichten.« »Wir müssen es wenigstens versuchen«, rief der Junge. »Solange wir nicht wissen, wo wir sind, wie wir hier herauskommen, und wie wir die Rotgekleideten überwinden können, haben wir keine Aussichten auf Erfolg«, erklärte Sator Synk, der unverwandt zu den Orxeyanern hinüberblickte. »Du kannst mir glauben, daß ich nichts lieber tun würde, als ihnen zu helfen, aber ich weiß nicht, wie ich das tun soll.« Ein Schrei schreckte sie auf. Etwa dreißig Meter von ihnen entfernt mündete ein anderer Tunnel in die Höhle. Dort standen fünf rotgekleidete Gestalten. Sie hielten schimmernde Metallstäbe und Peitschen in den Händen. Von ihren Gesichtern war nichts zu erkennen, weil sie die Kapuzen zu tief herabgezogen hatten, doch zweifelten Kennon und seine beiden Begleiter nicht daran, daß die Wesen in den roten Umhängen zu ihnen herüberblickten. »Ihr kommt mir gerade recht«, rief Bördo ihnen erregt zu. Er hob das Schwert. »Wagt es nur, mich anzugreifen. Ihr werdet es mit eurem Leben bezahlen.« Eine Peitsche knallte. Kennon drehte sich um. Er sah, daß aus dem Gang hinter ihnen etwa zwanzig Rotgekleidete heraneilten. Sie waren eingeschlossen. »Wir kämpfen nicht«, sagte Synk. »Das wäre sinnlos.« »Ich bleibe und kämpfe«, schrie Bördo und stieß das Schwert herausfordernd in die Luft. »Wenn du so enden willst wie die anderen hier in der Halle, dann benutze dein Schwert«, erwiderte Kennon. Bördo blickte ihn entsetzt an, da er an diese Möglichkeit noch nicht gedacht hatte. »Kommt«, rief Sator Synk. »Da drüben ist ein Ausgang. Vielleicht können wir ihn erreichen.«
Er gab Bördo einen Stoß und trieb ihn damit an. Die beiden Männer und der Junge liefen los. Sie befürchteten zunächst, daß die an den Boden gefesselten Humanoiden versuchen würden, sie aufzuhalten, aber das Gegenteil war der Fall. Die Gefesselten wichen ihnen zur Seite aus. Die Rotgekleideten drangen wild um sich schlagend in die Menge der gequälten Pthorer ein, die sich ihnen gegenüber feindselig verhielten. Sie streckten ihren Peinigern die Arme entgegen und versuchten, sie festzuhalten. Die Schnüffler stießen mit den Metallstäben nach den Gefangenen, und alle, die sie damit berührten, brachen betäubt zusammen. Dennoch kamen sie nicht schnell voran. Der Widerstand war zu groß. Sie mußten sich durch eine lebende Mauer kämpfen, die ihnen immer heftigeren Widerstand entgegensetzte. Einige Pthorer warfen mit Gegenständen nach ihnen, die sie aus ihren Taschen holten. Damit erreichten sie immerhin, daß die Rotgekleideten abgelenkt wurden und den drei Gejagten nicht schnell genug folgen konnten. Als Kennon, Sator Synk und der Sohn Sigurds bereits glaubten, einen ausreichenden Vorsprung zu haben, tauchte vor ihnen eine Gestalt auf, mit der sie überhaupt nicht gerechnet hatten. »Ortuga«, sagte Kennon erschreckt. Er blieb neben einem Dalazaaren stehen. Der Büffelköpfige stand am Eingang des Tunnels, durch den sie fliehen wollten. Er schwang eine Kette um den Kopf, deren Ende an sein Handgelenk geschmiedet war. Am anderen Handgelenk und an den Fußgelenken trug er die stählernen Schellen, an denen die Ketten befestigt gewesen waren. 8. Auch Bördo und Synk waren stehengeblieben. Sie wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten, und sie waren
davon überzeugt, daß Ortuga ebenso ein Feind für sie war, wie es die Rotgekleideten waren. Der Büffelköpfige stürmte auf sie zu, wobei er die etwa anderthalb Meter lange Kette drohend um den Kopf schwang. Synk hob die Waggu und löste sie aus, erzielte jedoch überhaupt keine Wirkung. Daher griff er zum Schwert, obwohl er nicht daran glaubte, daß er sich wirklich ausreichend damit verteidigen konnte. »Ortuga – besinne dich«, schrie Kennon. »Du weißt, wer deine Feinde sind.« Schnaubend und brüllend rannte der Büffelköpfige an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Er warf sich den Rotgekleideten entgegen. Diese wichen ängstlich vor ihm zurück. Sie schlugen mit ihren Peitschen nach ihm und streckten ihm die lähmenden Metallstäbe entgegen, beeindruckten ihn jedoch nur wenig damit. Er traf einen von ihnen mit der Kette und schleuderte ihn damit zu Boden. Augenblicklich fielen die gefangenen Pthorer über den Rotgekleideten her und schlugen mit Fäusten auf ihn ein. »Weg hier«, rief Kennon. »Schnell.« Bördo und der Orxeyaner zögerten nicht. Sie rannten auf den Gang zu, aus dem Ortuga gekommen war. Die Pthorer hielten sie nicht auf. »Hilf uns«, flüsterte ein Kelotte Kennon zu. Er schien Mühe zu haben, diese Wörter zu formulieren. »Ich werde es versuchen«, erwiderte der Terraner. »Hab noch ein wenig Geduld.« »Keine Zeit mehr«, antwortete der Kelotte mit ersterbender Stimme. Sie traf den Terraner bis ins Innerste. Synk, Bördo und Kennon flüchteten in den Gang hinein, aus dem Ortuga gekommen war. Nach nur etwa zwanzig Metern kamen sie in eine andere Höhle, in der ebenfalls fast tausend Pthorer standen. Bei ihnen aber hatte die Metamorphose schon eingesetzt. Bei den meisten von ihnen hatten
sich die Extremitäten verändert. Die Tentakelform war klar zu erkennen. Voller Abscheu blickte Bördo auf eine Gruppe von Bropen, deren Köpfe sich fast verdoppelt und dabei erheblich verändert hatten. Ihnen wuchsen kräftige Schnäbel. Aus einem etwa zehn Meter entfernten Gang stürmten vier Schnüffler hervor. Sie griffen Kennon, Synk und Bördo augenblicklich an und schlugen mit den Metallstäben nach ihnen. Da die beiden Männer und der Junge wußten, daß diese Waffen sie sofort kampfunfähig machen würden, sobald sie sie berührten, wichen sie ihnen vorsichtig aus. Den schwersten Stand hatte Kennon, da er über keinerlei Waffen verfügte. »Gebt mir doch wenigstens eine Waggu«, brüllte er Synk und Bördo zu. Der Orxeyaner blickte flüchtig zu ihm herüber, während er einen der Rotgekleideten mit dem Schwert vor sich her trieb. Er griff in den Gürtel und warf Kennon den Lähmstrahler zu. Die Waffe fiel zwei Meter vor diesem auf den Boden und rutschte noch ein Stück weiter. Kennon eilte zu ihr hin und wollte sie aufnehmen, doch ein Schnüffler griff ihn wütend an. Der lähmende Metallstab strich an seinem Kopf vorbei, und der Terraner mußte zur Seite springen, um der nächsten Attacke zu entgehen. Er hatte nie gelernt, körperlich zu kämpfen. Seine Waffen waren immer geistiger Art gewesen. Nur im Grizzard‐Körper war er so stark gewesen, daß er körperliche Gewalt hatte nutzen können. Seinen verbesserten und gestreckten Körper beherrschte er zudem noch nicht so gut, daß er seine Ideen augenblicklich in die Tat umsetzen konnte. Seine Angriffe waren daher ebenso schwerfällig und verhalten wie seine Verteidigung. So gelang es ihm nicht, den Schnüffler zu überwinden. Er kam nicht an die Waggu heran, doch konnte er den Rotgekleideten immerhin so weit zurückdrängen, daß
es diesem nicht möglich war, ihn zu lähmen. Er merkte, daß seine Kräfte erlahmten. Seine Muskeln waren zu schlecht ausgebildet. Während der viel jüngere Bördo geradezu mühelos gegen die Schnüffler kämpfte und auch noch Spaß daran zu haben schien, kam Angst in Kennon auf. Er wußte, daß seine Chancen immer geringer wurden, je länger er durchhalten mußte. Schließlich aber streckte Sator Synk zwei Rotgekleidete nieder, indem er sie an den Beinen verletzte, und er stürzte sich auf den dritten, um Kennon zu entlasten. Dieser nahm die Waggu auf und schoß sofort. Betäubt brach der Schnüffler zusammen, während Bördos Gegner flüchtete. »Das wäre geschafft«, sagte Sigurds Sohn stolz. »Irrtum«, erwiderte Synk, der sah, daß durch den Tunnel weitere Schnüffler nahten. Wieder blieb ihnen keine Wahl, als mitten durch die Höhle zu laufen und dabei die Menge der gefesselten Pthorer zu durchqueren. Dieses Mal aber hatten sie es nicht so leicht. Die teilweise umgeformten Gefangenen halfen ihnen nicht. Einige von ihnen griffen sogar nach ihnen und versuchten, sie festzuhalten. Kennon sah, daß ihre Augen starr und leer waren. Es schien, als hätten diese Wesen ihre Intelligenz bereits völlig verloren. Dennoch redete Kennon immer wieder mit ihnen. Er sprach auf sie ein und rief ihnen zu, sie sollten sie durchlassen. Er glaubte zu sehen, daß bei einigen von ihnen die Augen aufleuchteten und sich mit Leben füllten. Noch ist Hoffnung, redete er sich ein. Er überlegte verzweifelt, wie er helfen konnte, und er sagte sich, daß irgendwo in diesen unterpthorischen Anlagen ein Steuerzentrum sein mußte. Dieses mußte so programmiert sein, daß die Gefangenen umgewandelt wurden. Wohin die Entwicklung ging, wurde ganz klar, als der Orxeyaner, Kennon und Bördo die nächste Höhle erreichten.
Sie hatten keine Zeit, sich in Ruhe umzusehen. Ihnen blieb keine andere Wahl, als abermals mitten durch die Menge der Gefangenen zu rennen, um den gegenüberliegenden Ausgang zu erreichen, denn die Rotgekleideten holten auf. Sie rückten immer näher. Kennon hörte das wilde Gebrüll Ortugas, der kettenschwingend gegen die Schnüffler kämpfte, sie jedoch auch nicht zurückschlagen konnte. Schließlich gab der Büffelköpfige es auf. Er lief hinter den beiden Männern und dem Jungen her. Kennon glaubte, daß er sich nun dafür rächen wollte, daß sie ihn nicht aus seinem Verlies befreit hatten, doch das war nicht der Fall. »Keine Angst«, brüllte Ortuga. »Vorläufig helfe ich euch.« Bei diesen Worten schmetterte er einen der Rotgekleideten mit der Kette nieder. Dann stürmte er an Kennon vorbei an die Spitze der kleinen Gruppe. Er ließ die Kette kreisen und beeindruckte die Gefangenen von vornherein so sehr damit, daß diese gar nicht erst versuchten, sie aufzuhalten. Kennon, der am Schluß lief, blickte zurück. Er sah, daß die Gefangenen sich den Rotgekleideten gegenüber weniger ängstlich verhielten. Lautlos, aber ungemein erbittert, warfen sie sich ihnen entgegen. Mit dem letzten Funken Intelligenz, den sie noch besaßen, bekämpften sie ihre Peiniger, ohne allerdings viel gegen die Metallstäbe ausrichten zu können. Einer nach dem anderen brach zusammen. Kennon fühlte maßlosen Haß in sich aufkommen. Die Gestalten um ihn herum waren irgendwann alle einmal freie Pthorer gewesen. Sie alle hatten mit Problemen zu kämpfen gehabt, aber sie alle hatten an ihrem Leben gehangen und ihr Schicksal selbst bestimmt. Jetzt aber war alles anders geworden. Sie unterlagen einem grausigen Umformungsprozeß, der nach und nach Bestien aus ihnen machte. Bei vielen von ihnen war schon klar zu erkennen, wie das Ende des Vorhangs aussehen würde. Ihre Köpfe, Arme und Beine hatten
sich so verändert, daß kaum noch zu erkennen war, wie sie ursprünglich ausgesehen hatten. Eine fremde Macht formte Ungeheuer der Horden der Nacht aus ihnen, und sie machte dabei keinen Unterschied zwischen den Tieren und den intelligenten Bewohnern von Pthor. Sie nahm das organische Ausgangsmaterial und setzte es für ihre Zwecke ein. Das Schändliche dieser Haltung empörte offenbar auch Ortuga, so daß dieser sich entschlossen hatte, sich zunächst den beiden Männern und Bördo anzuschließen und ihnen zu helfen. Er wartete an der Öffnung eines schräg in die Tiefe führenden Ganges, bis sie an ihm vorbei waren, dann warf er sich den nachdrängenden Schnüfflern entgegen. Seine Kette wirbelte ihnen um die Köpfe und stoppte ihren Vormarsch. Das genügte den Gefangenen. Sie krallten ihre Hände in die roten Gewänder und rissen die Schnüffler an sich. Die anderen, die ihnen folgten, stolperten über sie, so daß ein Durcheinander entstand, das Kennon und seinen Begleitern einen kleinen Vorsprung gab. Der Gang führte in weitem Bogen nach unten bis in eine Höhle, in der sich etwa dreihundert Gefangene aufhielten. Kennon, Synk, Ortuga und Bördo blieben bestürzt am Ende des Ganges stehen, als sie sie sahen. Sie zögerten, die Halle zu betreten, denn die Gefangenen hatten den gesamten Umformungsprozeß durchlaufen. Sie waren Bestien geworden. Aus ihnen waren die Ungeheuer der Horden der Nacht entstanden, grausig anzusehende Gestalten, die an der Oberfläche von Pthor Angst und Schrecken verbreiten würden. Die meisten Monstren klebten noch mit den Beinen am Boden, einige aber hatten sich losgerissen. Blindwütig stürzten sie sich auf andere und kämpften mit ihnen. Sie gruben ihre Zähne in die Leiber der Gefesselten oder versuchten, sie mit den Pranken zu zerreißen. »Schnell. Dort hinüber«, sagte Kennon, der sich als erster von diesem grauenhaften Anblick losriß. Er zeigte auf einen breiten
Felsspalt, in dem er hoffte, sich verstecken zu können. Bördo und Synk zögerten nicht lange. Sie rannten gleich los, während Ortuga in die entgegengesetzte Richtung lief. »Hierher. Zu uns«, schrie der Sohn Sigurds ihm zu, doch der Büffelköpfige reagierte nicht. »Er ist wahnsinnig«, stellte Synk fest. »Seid froh, daß er nicht bei uns bleibt. Er ist unberechenbar.« Kennon blieb am Eingang der Felsspalte stehen, während der Orxeyaner und Bördo in sie hineineilten. Immer mehr Bestien befreiten sich. Sie rissen sich los und stürzten sich augenblicklich auf andere, die noch gefesselt waren. Von einem unbändigen Hunger getrieben, warfen sie sich auf die Opfer und versuchten, sie bei lebendigem Leib zu zerreißen. Sinclair Marout Kennon sah in ihnen jedoch keine seelenlosen Geschöpfe, die nur ihren Urtrieben folgten, sondern immer noch intelligente Lebewesen, denen Unbekannte einen anderen Körper aufgezwungen und deren Geist man gelähmt hatte. Er verzweifelte fast darüber, daß er keine Möglichkeit hatte, die kämpfenden Kreaturen voneinander abzuhalten und den Umwandlungsprozeß rückgängig zu machen. Zu keinem Zeitpunkt war ihm wichtiger erschienen, daß er auf Pthor war und den Kampf gegen den Dunklen Oheim aufgenommen hatte. Oft hatte er sich gewünscht, wieder auf der Erde zu sein und dort ein normales Leben zu führen. Jetzt war er froh, daß er mit eigenen Augen gesehen hatte, welche Verbrechen gegen die Schöpfung auf Pthor verübt wurden. Nicht nur auf Pthor! rief er sich in Erinnerung. Es gibt viele Dimensionsfahrstühle. Auf allen geschehen die gleichen Verbrechen. Der Dunkle Oheim manipuliert das Leben nicht nur hier. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, wurde Kennon sich zugleich dessen bewußt, daß er es gar nicht mehr so eilig hatte, dieses Höhlensystem zu verlassen. Er wollte wissen, was hier tief unter der Oberfläche von Pthor noch alles geschah. Er
wollte nicht nach oben zurückkehren, ohne alles aufgeklärt zu haben. Er blickte zu Ortuga hinüber, der vor einer schmalen Felsspalte auf dem Boden kauerte, als bete er. Das büffelköpfige Geschöpf schien vollkommen vergessen zu haben, wo es war. Der Terraner fragte sich, wer zur Zeit den Körper und das Gehirn beherrschte. War es Ortuga, das Wesen, das mit ihm um seinen Körper gerungen hatte, weil es glaubte, nicht mehr länger am Rand des schwarzen Kerns der Sonne existieren zu können? Oder war es das andere Wesen, das ursprünglich in diesem büffelköpfigen Körper gelebt und mittlerweile den Verstand verloren hatte? Kennon hoffte, auch das Rätsel dieser beiden Persönlichkeiten klären zu können, bevor er die Anlage verließ. Er machte sich keine Gedanken darüber, daß er in Gefangenschaft geraten könnte. Da die Vorstellung, er könne ebenfalls ein Opfer der Umformung werden, gar zu grausig war, ließ er sie gar nicht erst in sich aufkommen. Plötzlich sprang Ortuga auf und flüchtete in den Felsspalt. Kennon hörte die Stimmen der Schnüffler. Lautlos zog er sich zurück. Bördo und Sator Synk warteten auf ihn. »Dieser Gang ist nach zwanzig Schritten zu Ende«, erklärte der Orxeyaner. »Wir sitzen in der Falle«, fügte Bördo flüsternd hinzu. In der Höhle schwoll der Lärm der kämpfenden Bestien an. Kennon drehte sich um und blickte zurück. Etwa dreißig dieser monströsen Wesen bildeten ein Knäuel um sich schlagender Leiber. Viele der anderen Bestien versuchten brüllend und keuchend, die Füße vom Boden zu lösen, und einigen gelang es. »Ich glaube, wir sind in der Hölle gelandet«, sagte Sator Synk. »Schlimmer hätte es kaum kommen können.«
Auch er sprach nicht aus, was alle dachten. Wenn auch nur eine der Bestien in diesen Felsspalt eindringen sollte, waren sie so gut wie verloren. Sie konnten sich noch in den Gang zurückziehen, doch auch dorthin konnten ihnen einige kleinere Wesen folgen. Peitschen knallten. Die Rotgekleideten drangen in die Menge der Ungeheuer ein. Kennon kehrte bis an den äußersten Rand der Felsspalte zurück. Er ertrug es nicht, untätig in der Falle abzuwarten. Er wollte jede sich bietende Fluchtmöglichkeit nutzen. »Sie treiben die Bestien hinaus«, berichtete er, als Synk zu ihm aufschloß. »Sieh. Dort drüben hat sich ein Tor geöffnet.« Etwa hundertfünfzig Meter von ihnen entfernt hatte sich der Fels gespalten, und eine etwa zwanzig Meter hohe Öffnung war entstanden. Durch diese trotteten einige der Bestien hinaus. Furchtlos begaben sich die Rotgekleideten unter die anderen, die noch gefesselt waren. Versuchte eines dieser Wesen, sie anzugreifen, betäubten sie es sofort mit den Metallstäben. Dann hantierten sie an den Griffen der Stäbe und veränderten etwas an der Einstellung. Danach strichen sie mit dem vorderen Ende ihres Stabes an den Füßen der Monstren entlang, und plötzlich lösten sich diese vom Boden. »Dies ist das Endstadium«, stellte Bördo fest. »Aus Menschen und Tieren werden Organklumpen und danach Ungeheuer der Horden der Nacht. Das hätte ich nie für möglich gehalten.« »Ob die Schnüffler uns vergessen haben?« fragte der Orxeyaner. »Bestimmt nicht«, erwiderte der Junge. »Sie glauben, daß wir ihnen sicher sind«, erklärte Kennon. »Sie wissen, daß diese Höhle nur zwei Ausgänge hat. Beide kontrollieren sie. Wie also sollten wir entkommen? Wenn sie ihre Arbeit mit den Bestien erledigt haben, kommen sie und holen uns.« »Und dann?« forschte Bördo. »Keine Ahnung«, schwindelte der Terraner, der zu wissen glaubte,
was geschehen würde. Er blickte zu der Spalte hinüber, in der Ortuga steckte. Plötzlich streckte sich eine Hand daraus hervor und winkte ihm zu. Kennon schaltete sofort. Die Rotgekleideten waren mit den Ungeheuern der Horde beschäftigt. Sie befanden sich alle mitten unter ihnen. Keiner achtete auf sie. »Los«, sagte er. »Wir laufen zu Ortuga hinüber. Vielleicht gibt es da einen Ausgang.« Bördo und Synk waren sofort einverstanden. Sie rannten los. Ungesehen erreichten sie ihr Ziel. Der Büffelköpfige wich in den Spalt zurück. »Das war eine kluge Entscheidung«, lobte er, wobei er heftig an seiner Kette zerrte. »Da drüben wäre es aus mit euch gewesen. Sie hätten euch in die andere Höhle geschleppt, an den Boden geklebt und Bestien aus euch gemacht.« »Wo geht es hier weiter?« fragte Sator Synk, der dem Büffelköpfigen äußerst skeptisch gegenüberstand. »Wir müssen kriechen. Es ist wenig Platz da, aber wir können es schaffen.« Er drehte sich um und drang tiefer in den Spalt ein. Dann schob er sich kopfüber in ein Loch hinein, daß so klein war, daß er kaum hindurchpaßte. Die weit ausladenden Hörner scharrten am Gestein entlang. »Du bist der nächste«, sagte Synk und zeigte auf Kennon. »Dann kommt Bördo. Ich bilde den Abschluß.« Kennon hatte nichts gegen diese Einteilung einzuwenden. Er folgte Ortuga. In der engen Röhre, in der dieser einem unbekannten Ziel entgegenkroch, war es so dunkel, daß er sich nur vorantasten konnte. Wenn er dich in eine Falle führt, bist du verloren, schoß es ihm durch den Kopf, und er fragte sich, warum er Ortuga so schnell und vorbehaltlos vertraut hatte.
Hätten sie nicht noch etwas warten können? Vielleicht kehrten die Schnüffler gar nicht in die Höhle zurück, um sie zu suchen? Er schalt sich einen Narren wegen seiner Unsicherheit und seiner Zweifel. Natürlich würden sie zurückkommen. Sie hatten bemerkt, daß ihre Gefangenen nicht mehr bewußtlos unter den Magiern lagen, also würden sie alles tun, um sie wieder zu betäuben und zu den anderen zurückzubringen. Die Magier! Kennon lief es kalt über den Rücken bei dem Gedanken an sie. Was mochten die Rotgekleideten mit ihnen vorhaben? Wollten sie auch Bestien aus ihnen machen? Das war kaum denkbar, da sie sie alle in einer Höhle zusammengetragen und hier abgelegt hatten wie tote Objekte, die noch nicht zur Behandlung reif waren. Kennon glaubte nicht daran, daß die Magier sich in Ungeheuer der Horden der Nacht verwandeln sollten. Er fürchtete, daß ihnen ein noch weit schlimmeres Schicksal bevorstand. Plötzlich wurde es heller. Kennon blinzelte, als Ortuga zur Seite auswich, und grelles Licht in seine Augen fiel. Zögernd schob er sich weiter voran, bis er an eine Art Brüstung kam, von der aus er in eine Halle sehen konnte. Diese hatte einen Durchmesser von etwa hundert Metern. Aus drei Eingängen strömten Bestien der Horden der Nacht herein. Sie wurden von den Rotgekleideten getrieben, die sich nicht vor ihnen zu fürchten schienen. Mit ihren Metallstäben beherrschten sie die Ungeheuer. Sie führten sie in die Mitte der Halle. Peitschenknallend jagten sie sie auf einen hellen Fleck. An diesem erfaßte ein unsichtbares Antigravfeld die monströsen Gestalten und trug sie nach oben. Die Bestien brüllten vor Angst und schlugen wild um sich. Doch das half ihnen nichts. Sie konnten nichts gegen das nach oben gepolte Antigravfeld tun. Nach und nach verschwanden die umgeformten Wesen in einer
Öffnung in der Decke, bis sich die Halle entleert hatte. Einige Rotgekleidete verharrten noch einige Minuten lang diskutierend neben dem hellen Fleck, zogen sich aber dann durch die Eingänge zurück. Kennon, Bördo und Sator Synk kletterten über die Felsen herab und gingen vorsichtig bis zu dem hellen Fleck, an dem das Antigravfeld ansetzte. Sie blickten nach oben. Weit über ihnen befand sich eine Öffnung, in der es in allen Farben des Regenbogens schillerte. »Jetzt weiß ich, wo wir sind«, sagte der Orxeyaner. »Diese Öffnung da oben befindet sich in dem Krater, den ich im Zentrum der Ebene Kalmlech gesehen habe.« »Der Schlund der Hölle.« Sinclair Marout Kennon preßte die Lippen zusammen. Er drehte sich um und blickte zu den Felsen hoch. Ortuga war verschwunden. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 480 von König von Atlantis mit: Die Vollstrecker von H. G. Francis