Hanns Wienold, geb. 1944, Professor für Soziologie und Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Müns...
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Hanns Wienold, geb. 1944, Professor für Soziologie und Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Münster, langjährige empirische Forschungsarbeiten in Deutschland (u.a. Industriesoziologie, Gewerkschaften, Erwachsenenbildung) und in Entwicklungsländern (u.a. Kleinbauern, Wanderarbeit, ökologische Entwicklung); Reinhart Kößler, geb. 1949, studierte Soziologie, Osteuropäische Geschichte, Mittlere und Neuere Geschichte und Ethnologie in Heidelberg, Leeds und Münster, langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie in Münster, dort seit 1993 apl. Professor, Mitbegründer und Redaktionsmitglied der Peripherie, zahlreiche Veröffentlichungen; arbeitet am Zentrum für Entwicklungsforschung Universität Bonn.
Reinhart Kößler/ Hanns Wienold
Gesellschaft bei Marx
WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kößler, Reinhart : Gesellschaft bei Marx / Reinhart Kößler/Hanns Wienold. Münster : Westfälisches Dampfboot, 2001 ISBN 3-89691-510-X
1. Auflage Münster 2001 © 2001 Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Lütke • Fahle • Seifert, Münster Druck: Rosch-Buch Druckerei GmbH, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. ISBN 3-89691-510-X
Inhalt Vorwort 1
Das Marxsche Werk oder: War Marx ein Soziologe? 1.1
2
9 13
Über Gründe, sich mit einem Klassiker der Gesellschaftstheorie auseinanderzusetzen
13
1.2
Zum Marxschen Erkenntnisinteresse
18
1.3
Zur Struktur des Marxschen Werkes
21
1.4
Zur Marxschen Methode 1.4.1 Das Projekt der Kritik der politischen Ökonomie 1.4.2 Das Konzept der Formbestimmtheit 1.4.3 Gesellschaftliche Gesetze und Gesetzmäßigkeiten 1.4.4. Zur Reichweite der Marxschen Theorie
29 31 42 47 52
1.5
Bewußtsein und Ideologie
53
Vergesellschaftung durch Arbeit
59
2.1
Einleitung und Überblick
59
2.2
Der Begriff der gesellschaftlichen Arbeit in den Frühschriften von Marx 2.2.1 Arbeit als Entäußerung und Vergegenständlichung des Menschen 2.2.2 Arbeitsteilung, Privateigentum und Entfremdung
66 66 72
2.3 - Gesellschaftliche Arbeitsteilung und gesellschaftliche Klassenbildung
74
2.4
Gesellschaftliche Reproduktion und Arbeitswerttheorie
82
2.5
Ware - Geld - Kapital: Warenanalyse und Werttheorie bei Marx 2.5.1 Wertgesetz: Die Krisenhaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft 2.5.2 Die Wertform: Gebrauchswert und Tauschwert 2.5.3 Der Fetischcharakter der Ware 2.5.4 Wertbildung: konkrete und abstrakte Arbeit 2.5.5 Wertgegenständlichkeit: Ware und Geld 2.5.6 Verwertungsprozeß: Geld und Kapital 2.5.7 Die Produktion des Mehrwerts und die Ware Arbeitskraft
93 93 97 101 105 110 115 116
2.5.8 Absoluter und relativer Mehrwert 2.5.9 Kapital: Der prozessierende Wert 2.5.10 Akkumulation des Kapitals: Industrielle Reservearmee und relative „Überbevölkerung"
129
Gesellschaftliche Arbeit und Kommando des Kapitals: Kooperation und Fabrikregime
135
2.7
Produktive und unproduktive Arbeit
150
2.8
Naturschranken und Schranken des Kapitalverhältnisses
154
2.6
3
124 126
„Zu viel Ehre und zu viel Schimpf zugleich": Marxsche Perspektiven auf soziale Evolution und historische Prozesse
165
3.1
„Geschichte" in der Marxschen Theorie
168
3.2
Produktionsweisen und Gesellschaftsformation 3.2.1 Gesellschaftsformationen und der Gang der Weltgeschichte 3.2.2 Produktionsweisen und die Heterogenität realer Gesellschaften 3.2.3 Reproduktion und Komplexität 3.2.4 Die Dynamik der gesellschaftlichen Verhältnisse
172
3.3
Prozesse der Trennung: Natur, Arbeit und Eigentum 3.3.1 Sogenannte ursprüngliche Akkumulation 3.3.2 Formen der Gemeinde 3.3.3 Stufen von Eigentum und Individuation 3.3.4 Lohnverhältnis und Herrschaft 3.3.5 Konsequenzen der Trennungsprozesse
185 186 188 192 195 197
3.4
Klassen als historische Subjekte 3.4.1 Zur kategorialen Bestimmung der Klassen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft 3.4.2 Das Problem mit dem Klassenbewußtsein 3.4.3 Das Paradigma: Klassenkämpfe in Frankreich nach 1848 3.4.4 Klassen und ihre Vertreter 3.4.5 Kollektive Akteure - Klassensubjekte? 3.4.6 Die Sonderstellung des Proletariats
199 200 202 205 208 211 216
Staat und Klassenherrschaft 3.5.1 Bürgerliche Herrschaft 3.5.2 Staat und Gesellschaft
221 221 223
3.5
173 178 179 182
3.5.3 3.5.4 3.5.5
Die moderne Bürokratie Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist Republik und allgemeines Wahlrecht
226 227 230
3.6
Marx als Theoretiker und Kritiker der Modernisierung
231
3.7
Marxsche Perspektiven auf die Globalisierung: Umbrüche und strukturelle Kontinuitäten
241
Prognose und Projektion: Der Fluchtpunkt der Revolution 3.8.1 Krise und Revolution
249 249
3.8.2
Die „Assoziation freier Menschen"
254
Resümee und Ausblick: Was also können wir bei Marx lernen?
259
Anmerkungen
265
Literatur I.
Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels
301 301
Andere Autorinnen und Autoren
305
3.8
II.
Vorwort Die Zeiten der Globalisierungseuphorie und der Aktienhöhenflüge scheinen vorerst einmal wieder vorbei zu sein. Auf sukzessive Finanzkrisen vor allem in den Wachstumsregionen Asiens sind im Lauf des Jahres 2000 drastische Einbrüche der zuvor so viel gepriesenen New Economy auch an den großen Börsenplätzen des Westens gefolgt. Das Platzen der Spekulationsblase und die korrigierten Wachstumsprognosen erinnern eindringlich daran, daß allen Argumenten über eine Überwindung der „Moderne" oder über die Heraufkunft einer „zweiten Moderne" zum Trotz die Geschicke der lebenden Menschen in zuvor kaum gekanntem Ausmaß durch das kapitalistische Wirtschaftssystem und seine widersprüchliche Dynamik bestimmt werden. Dies ist für viele Anlaß, nicht nur neu über das Verhältnis der „virtuellen" zur „realen Wirtschaft" nachzudenken, sondern auch wieder grundsätzliche Fragen nach der Struktur und damit auch nach der Krisenhaftigkeit der durch den Kapitalismus geprägten Wirtschaft und Gesellschaft zu stellen. Solche grundsätzlichen Fragestellungen sind Anlaß genug, sich wieder klassischen Denkansätzen der Gesellschaftstheorie zuzuwenden, die von langer Hand die Auseinandersetzung mit den Verhältnissen des modernen Kapitalismus geprägt haben. In gewisser Weise gilt dies für alle, oft divergierenden und in vieler Hinsicht kontroversen Ansätze der modernen Sozialtheorie. Doch Karl Marx kommt hier eine Sonderstellung zu. Sein Werk ist nicht allein als theoretische Ausarbeitung konzipiert, sondern bezogen auf die Perspektive eingreifender, verändernder gesellschaftlicher Praxis. Für ihn reichte es nicht, wie er 1844 in der 11. These zu Feuerbach formulierte, daß „die Philosophen ... die Welt nur verschieden interpretiert" haben: „Es kömmt drauf an, sie zu verändern". Marxsche Theorie- und Gesellschaftskritik ist daher immer „Kritik im Handgemenge" gewesen. Diese Tatsache hat auch die Schicksale der Marxschen Theorie entscheidend geprägt. Das gilt ganz wesentlich auch für das gängige Bild dieser Theorie. Wenn wir heute daran festhalten, daß die Marxsche Theorie uns etwas zu sagen hat, können wir daher an ihrer Geschichte nicht vorbeigehen. Ein Großteil dieser Geschichte erscheint uns gegenwärtig als Hypothek, die eine adäquate Rezeption erschweren kann. Zumindest bedarf es einer Verständi9
gung über diese Zusammenhänge. Der Doppelcharakter der Marxschen Theorie als wissenschaftliche Analyse und als praktischer, politischer Eingriff hat frühzeitig zu Popularisierungen und vor allem zu ihrer Umformung in die Grundlage einer parteigebundenen Orthodoxie geführt. Dies galt vor allem zunächst für die sozialdemokratischen Parteien der Zweiten Internationale und nach dem Ersten Weltkrieg für die bolschewistische Partei und die von ihr geführte Kommunistische Internationale. Dazu kamen vielerlei Nebenströmungen und Abspaltungen. Die Entwicklung des Stalinismus in der Sowjetunion brachte eine weitere Zuspitzung und Verhärtung mit sich. Als an Marx orientierter „wissenschaftlicher Sozialismus" wurde jetzt ein starres Dogma propagiert und Abweichungen konnten nicht nur Karriere und Freiheit, sondern zuzeiten das Leben kosten. Inhaltlich forcierte der Sowjetmarxismus Tendenzen, die bereits im Marxismus der Zweiten Internationale erkennbar gewesen waren: Im Zentrum stand ein szientistisch begründetes Setzen auf unumstößliche Gesetzmäßigkeiten, die unweigerlich der eigenen Sache zum Sieg verhelfen würden, zusammen mit dem Anspruch auf den Besitz der absoluten Wahrheit, den die herrschende Partei und schließlich ihr dikatorischer Führer im Namen des Proletariats erhoben. Es darf aber nicht übersehen werden, daß den stalinistischen und poststalinistischen Dogmen immer auch breite dissidente Strömungen gegenüberstanden. Das galt seit den 1920er Jahren für den weitgehend parteiunabhängigen „westlichen Marxismus", mit dem sich Namen wie Karl Korsch, Georg Lukács, Theodor Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin und Ernst Bloch verbinden. Zu denken ist aber auch an absgepaltene und unterdrückte Strömungen des russisch/ sowjetischen Marxismus, die sich in erster Linie mit Namen wie Nikolaj Bucharin und Leo Trockij verbinden. Dies gilt endlich auch für die Neue Linke während der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die - neben einem verbreiteten, situationsbedingten Hang zu neuem Dogmatismus und Enthusiasmus für die „Mao Zedong-Ideen" - doch auch in vieler Hinsicht als neuer Anlauf gesehen werden kann, verschüttete kritische Potentiale der Marxschen Theorie, aber auch der an sie anschließenden Denkschulen wie der frühen Frankfurter Schule neu zu beleben und weiterzuführen. In Westdeutschland bedeutete dies nicht zuletzt auch ein Wiederanknüpfen an Diskussions- und Reflexionszusammenhänge, die durch die Naziherrschaft abgebrochen worden oder deren Vertreterinnen und Vertreter ins Exil gejagt worden waren. Zu solchen kritischen Ansätzen ist aber auch der dissidente Marxismus in den damaligen Ostblock-Ländern zu rechnen, etwa die von Georg Lukács inspirierte Budapester Schule um Agnes Heller, Ferenc Feher und György Markus, die Anstrengungen von Rudolf Bahro in der DDR oder die jugoslawische Praxis-Gruppe. Hinzu kam in der Ära nach Stalin eine gewisse Auffächerung im offiziellen oder akademischen Marxismus in diesen Ländern. 10
Diese ganz unvollständigen, bewußt kursorisch gehaltenen und sicherlich auch subjektiv gefärbten Hinweise haben die Rezeption wichtiger Marxscher Fragestellungen in vielen Bereichen der explizit nicht-marxistischen Sozialtheorie noch gar nicht angesprochen. Erinnert sei nur an den „bürgerlichen Marx" Max Weber oder die intensive Auseinandersetzung mit der Entfremdungsproblematik seit den 1930er Jahren. All das soll hier vor allem eines verdeutlichen: Die Wirkung und Weiterentwicklung der Marxschen Theorie hat sich zu keiner Zeit auf den orthodoxen sowjetischen Marxismus beschränkt. Das besagte allenfalls der Herrschaftsanspruch der Parteiorthodoxie. Freilich wurde und wird solchen Prätentionen auch von Positionen her gern Vorschub geleistet, die die Dinge so darstellen möchten, als sei mit der intellektuell vergleichsweise einfachen Operation der Kritik des Sowjetmarxismus gleich alles mit erledigt, was mit der Marxschen Theorie zu tun haben könnte. Diese Tendenz hat sich nach der Implosion des Sowjetsystems noch verstärkt, verbunden mit gängigen, aber dennoch unbegründeten Behauptungen wie vor allem derjenigen, mit diesem System sei die Marxsche Theorie gescheitert. Wie wir noch ausführlich zeigen werden, enthält diese Theorie aber allenfalls verschwindend wenige Anweisungen zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft - die zudem deutlich von der früheren sowjetischen Realität divergieren. Umso mehr steht im Zentrum der Marxschen Theorie die begriffliche Durchdringung und Rekonstruktion der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft. Deshalb konnte sie mit dem Sowjetsystem gar nicht scheitern, hat aber für ein Verständnis der Gegenwart und der kapitalistischen Krise desto mehr zu bieten. Aus diesen Gründen haben wir Anfang 1998 die Anfrage des Lehrgebiets Soziologie III im Fachbereich Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften der FernUniversität Hagen dankbar aufgegriffen, eine Dreifachkurseinheit mit dem Thema „Gesellschaft bei Marx" zu schreiben. Dieser im Sommersemester 2000 durchgeführte Kurs liegt dem folgenden Text zugrunde, der für die Buchausgabe in einigen Punkte revidiert und weiter ausgearbeitet wurde. Es geht uns dabei um eine Rekonstruktion der Marxschen Theorie, die Fortführungen, aber auch wichtige aktuelle Fragestellungen mit ins Blickfeld nimmt. Der Hauptakzent liegt aber in einem einführenden, dennoch vor allem den gesellschaftstheoretischen Problemstellungen gerecht werdenden Überblick über zentrale Abschnitte des Marxschen Werkes. Dabei sind methodologische Aspekte ebenso zu berücksichtigen wie grundlegende Zusammenhänge der Marxschen Auseinandersetzung mit der klassischen politischen Ökonomie. Wir haben aber bewußt darauf verzichtet, wirtschaftswissenschaftlichen Themen einen Raum einzuräumen, der ihnen bei einer Gesamtdarstellung des Marxschen Werkes vielleicht zukäme, die ausdrück11
lich soziologische Ausrichtung unserer Auseinandersetzung mit ihm aber verdekken würde. Dementsprechend sind unsere ebenfalls bewußt sparsamen Verweise auf neuere Diskussionszusammenhänge ebenfalls schwerpunktmäßig auf soziologische Themen beschränkt. Mit den Grundfragen der gesellschaftlichen Tiefenstrukturen und der Verkehrungen, in denen sich nach Marx die Verhältnisse den Menschen in den kapitalistischen Gesellschaften darstellen, der Frage nach den gesellschaftlichen Schranken dieses Systems bis hin zur Rekonstruktion seiner Entstehungsbedingungen, seiner inneren Gliederung in Klassen ebenso wie andere kollektive Akteure, der Marxschen Auseinandersetzung mit der Rolle des Staates und schließlich seinen Hinweisen auf Tendenzen der Globalisierung, die älter sind als gegenwärtige kurzatmige Aufbereitungen des Themas ist jedoch schlaglichtartig ein Themenspektrum umrissen, von dem wir glauben, daß es ein Interesse an der Marxschen Theorie eindrucksvoll begründen oder motivieren kann. Für die Initiative zum Zustandekommen dieses Textes haben wir zuerst Werner Fuchs-Heinritz von der FernUniversität Hagen zu danken. Er gab auch wichtige Hinweise zur Konzeption und Verbesserung des ursprünglichen Lehrtextes. Die sorgfältige, mit manchen Rückfragen verbundene redaktionelle Arbeit, die Alexandra König bei der Fertigstellung der Kurseinheit geleistet hat, ist auch der vorliegenden Buchfassung wesentlich zugute gekommen. Kritische ebenso wie konstruktive Leser waren vor allem Gerhard Hauck und - weit über seine Funktion als Verleger hinaus - Hans-Günter Thien. Marko Heyse hat uns entscheidend bei der technischen Herstellung des Endtextes geholfen. Ihnen allen möchten wir herzlich danken, denn ohne sie wäre der vorliegende Text in vielerlei Hinsicht unvollkommener geblieben als in der jetzigen Form. Es erübrigt sich fast die Bemerkung, daß wir selbstverständlich allein die Verantwortung für noch verbleibende Fehler und Unzulänglichkeiten haben. Bochum/Münster, 2. Juni 2001
12
1 Das Marxsche Werk oder: War Marx ein Soziologe? 1.1 Über Gründe, sich mit einem Klassiker der Gesellschaftstheorie auseinanderzusetzen Versuche, zu bestimmen, was Wissenschaft von der Gesellschaft, insonderheit Soziologie denn eigentlich sei, fangen in aller Regel damit an, daß dies äußerst schwierig sei.1 Ferner bestehe unter denen, die diese Wissenschaft betreiben, eigentlich kaum Einigkeit über eine solche Begriffsbestimmung, sprach doch etwa Max Weber von einem „sehr vieldeutig gebrauchten Wort". 2 In einem neueren einführenden Versuch werden wir vor der Gefahr gewarnt, die zahlreichen miteinander konkurrierenden Ansätze könnten durch den Eindruck einer „chaotische(n) Vielfalt" nur Verwirrung stiften. Unstrittig dürfte gerade angesichts dieser Lage aber sein, daß Soziologie geprägt ist von einer Pluralität, aber auch der Konkurrenz der theoretischen Ansätze oder „Blickwinkel", die „einander alle ... gegenseitig" „relativieren", wobei „keiner die ganze Wahrheit ist".3 Solche unterschiedlichen Sichtweisen verbindet freilich eine Grundannahme, ohne die es eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gesellschaft streng genommen nicht zu geben bräuchte - daß nämlich der Alltagsverstand und der oberflächliche Blick nicht ausreichen, um gesellschaftliche Prozesse zu verstehen. „Der genuin soziologische 'Blick' resultiert aus einer Attitüde des methodischen Zweifels, daß die Dinge, um die es je geht, so sind, wie sie zu sein scheinen."4 Oder anders, es geht um die wenig verstandenen „Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Erscheinungen".5 Bei allen sehr gravierenden Differenzen über den einzuschlagenden Weg scheint man sich doch einig zu sein, daß es erheblicher Anstrengungen bedarf, um hinter gesellschaftliche Zusammenhänge oder um ihnen gar auf den Grund zu kommen. In diesem im strengen Sinn aufklärerischen Anliegen könnte ein kleinster gemeinsamer - dabei durchaus anspruchsvoller - Nenner von Soziologie gesehen werden. Karl Marx ordnet sich hier durch sein Bemühen um eine radikale, d.h. besonders konsequente Ideologiekritik ein. Diese Marxsche Ideologiekritik zielt nicht allein auf das Alltagsverständnis, sondern zugleich und darüber hinaus auch auf 13
das bereits wissenschaftlich ausgearbeitete, begrifflich systematisierte Bewußtsein der Gesellschaft, oder genauer auf das Bewußtsein ihrer „herrschenden" Klasse von sich selbst. Die für Marx zeitgenössisch avancierteste Wissenschaft von der Gesellschaft, die politische Ökonomie ist aus seinem Blickwinkel nicht allein aufklärerische Instanz, sondern sie ist mit ihren Kategorien zugleich selbst Teil des durch die theoretische Anstrengung aufzuklärenden Scheins. Nun verdienen Klassiker in den Sozialwissenschaften unsere Aufmerksamkeit nicht wegen ihres in der Regel verehrungswürdigen Alters, oder weil sie von irgendeiner Instanz kanonisiert worden sind. Der einzige triftige Grund, sich mit ihnen zu befassen, kann nur darin liegen, daß und wie sie mit Problemen umgegangen sind, die uns heute noch beschäftigen. Dazu gehört sicherlich der „Umstand, daß wir uns und unsere Probleme nur zu verstehen vermögen, wenn wir auch unsere bzw. die Geschichte unserer Probleme kennen".6 Doch das Studium klassischer Texte kann einen Ertrag bringen, der deutlich über eine „Ideengeschichte der Soziologie"7 hinausgeht. Mehr noch als auf das sicherlich wichtige Anliegen einer Selbst-Verortung richtet sich unser Interesse daher auf exemplarische, heute noch weiterführende Lösungen oder aber auch auf Problembestimmungen und schließlich auch auf Schwierigkeiten, mit denen sich theoretische Entwürfe konfrontiert sahen und immer noch sehen. Wissenschaftlichtheoretische Beiträge werden ähnlich wie auch ästhetische Leistungen vor allem deshalb „klassisch", mit anderen Worten über ihre Zeitgebundenheit hinaus wirksam, weil sie beispielhafte Ausdrucksformen und Lösungsansätze für übergreifende, fortdauernde Erscheinungen und Fragestellungen zu bieten in der Lage sind. Darüber sollte freilich auch die Chance nicht vernachlässigt werden, aus den Grenzen und selbst dem Scheitern von Erklärungsansätzen oder selbstgestellten Ansprüchen einer Theorie zu lernen. Beim Umgang gerade mit solchen Klassikern, die nicht erst gestern und aufgrund kurzfristiger Moden zu solchen erklärt worden sind, tritt unweigerlich ein Verfremdungseffekt ein: Uns werden Prozesse, Strukturen, Probleme nicht im Gewand der gesellschaftlichen Gegenwart vorgeführt, die wir gerade erleben und in gewissen Grenzen reflektieren können, sondern aus der Perspektive einer vergangenen Gegenwart. Das muß überhaupt nicht heißen, daß die Hypothesen, die vor dem Hintergrund einer solchen vergangenen Gegenwart aufgestellt wurden, oder die Schlußfolgerungen, die in einer bestimmten historischen Situation gezogen wurden, „heute" obsolet wären. Nicht nur ist „Gegenwart" ein winziger, verschwindender und nie festzuhaltender Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft, so daß auch die Gegenwart, von der wir sprechen, immer schon entweder Vergangenheit geworden ist oder in manchen Fällen sich projektiv auf Zukunft bezieht. Allein daraus ergibt sich die - nicht immer reflektierte oder 14
beachtete - Notwendigkeit, daß jede Aussage über Gesellschaft in einem konkreten historischen Zusammenhang steht. Eine solche Aussage kann nur in allen ihren Dimensionen verstanden werden, wenn dieser Zusammenhang berücksichtigt wird. Gerade auch die Gesellschaftstheorie kann in wesentlichen Teilen sinnvoll verstanden werden als Ausdruck des historischen und gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem sie konzipiert wurde. Karl Marx hat dies an den Möglichkeiten und Grenzen gezeigt, in denen Aristoteles den Warenverkehr im Athen seiner Zeit theoretisch verarbeitet hat.8 Uns mögen näher die Konjunkturen sein, die unterschiedliche gesellschaftstheoretische Ansätze offenbar mit Krisen- und Prosperitätsphasen der Moderne verbinden.9 Gesellschaftstheorie kann demnach aus ihrem Entstehungskontext nicht ausbrechen, und sie tut gut daran, ihn zu reflektieren. Zugleich aber ist der Moment oder historische Abschnitt nicht unerheblich, in dem ein wichtiger gesellschaftstheoretischer Ansatz seinen Anfang genommen hat. Es gibt historische Momente des „Erwachens",10 des Eintretens grundlegender gesellschaftlicher, sozialstruktureller oder technologischer Neuerungen, auf deren umwälzende Auswirkungen die Zeitgenossen sensibler reagieren als die folgenden Generationen, die bereits mit der vollzogenen Umwälzung und ihren Auswirkungen sozialisiert wurden. Die Moderne ist dadurch gekennzeichnet, daß fast jeder Generation eine oder gar mehrere solcher Umwälzungen der Lebensweise abverlangt werden. Die Einführung der Mikroelektronik ist dafür ein ebenso aktuelles wie schlagendes Beispiel. Der lehrreiche Verfremdungseffekt klassischer Texte kann nun darin liegen, daß langfristige Tendenzen und ihre Auswirkungen in spezifischer Zuspitzung erscheinen, unter dem Eindruck einer erst kurz zurückliegenden Innovation oder auch verschärfter gesellschaftlicher Problemlagen und Auseinandersetzungen - bei alledem versteht es sich von selbst, daß klassische Texte ihre Probleme auf einem vorbildlichen Reflektionsniveau behandeln. Sonst kommt ihnen dieses Prädikat nicht zu. Die Sozialwissenschaften ebenso wie die Gesellschaftstheorie haben sich herausgebildet als Ausdruck unterschiedlicher Dimensionen der Auseinandersetzung mit den beschleunigten und dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen, die gewöhnlich als industrielle Revolution, aber auch mit einem etwas anderen Verständnis als Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen verstanden werden. Das gesellschaftliche Krisenbewußtsein wurde geschärft durch das Auftreten neuer kollektiver Akteure, besonders der „Arbeiterklasse",11 die zunehmend als Gefahr für die bestehende „Ordnung" wahrgenommen wurde. Auch wenn nicht alle Strömungen der neuen Wissenschaft dieser Furcht oder dem Anliegen der Bewahrung der bestehenden Ordnung und dem ihm zugrundeliegenden Konservatismus verpflichtet waren,12 so ändert dies doch wenig daran, daß die beherrschenden 15
Themen der frühen Soziologie durch den erlebten gesellschaftlichen Umbruch vorgegeben waren. Neben den allgemeinen Entwicklungstheorien der „Gründungsväter" speziell der Soziologie, vor allem Auguste Comte und Herbert Spencer,13 standen die großen Fragen der modernen Gesellschaft im Mittelpunkt der ersten bedeutenden Theorieentwürfe: Struktur, Dynamik und Ursprung des Kapitalismus, Formen der Arbeit, gesellschaftliche Differenzierung und Rationalisierung wurden in höchst unterschiedlicher Perspektive von Autoren wie Karl Marx, Emile Durkheim oder Max Weber aufgenommen. Karl Marx kommt dabei allein schon aus dem Grund eine Sonderstellung zu, weil er sich selbst nie als Soziologe verstanden hat. Das wird in den beiden folgenden Abschnitten näher zu erläutern sein. Entscheidend scheint uns, daß das Marxsche Werk eine große Zahl von analytischen Instrumenten bereitstellt, die nicht nur auf heute noch aktuelle Problemstellungen abzielen, sondern die darüber hinaus dabei helfen können, Fragestellungen zu erarbeiten und zu analysieren, die zumal in den letzten Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen eher an den Rand der Soziologie als akademischer Disziplin gerückt sind. Für andere Sozialwissenschaften, etwa Politologie oder den mainstream der Ökonomie, dürfte das noch deutlicher zutreffen. Das gilt vor allem für die zentrale Stellung der Arbeit in älteren Sozialtheorien, am deutlichsten aber wohl in der Marxschen Theorie. Freilich sind hier nicht fertige Lösungen zu suchen, sondern in erster Linie Anstöße für weitere Reflektion und Forschung. Vor allem aber ist die Lektüre gerade auch von klassischen Gesellschaftstheorien ziemlich wertlos, wenn sie nicht kritisch sowohl den Entstehungszusammenhang als auch die Konsistenz der Argumentation und ihre empirische Fundierung immer wieder reflektiert. Gerade unter solchen Gesichtspunkten scheinen uns die folgenden Themenbereiche für eine gegenwartsbezogene soziologische Marx-Lektüre von besonderem Interesse zu sein. Ihnen wollen wir nach einleitenden näheren Erläuterungen des Marxschen Erkenntnisinteresses, einem kurzen Überblick über das hier nur teilweise in den Blick zu nehmende Gesamtwerk und schließlich einigen knappen Hinweisen zur Marxschen Methode in zwei großen Abschnitten nachgehen. Bei Marx als Theoretiker der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft läßt sich zunächst in exemplarischer Weise lernen, wie sich anthropologische Grundkonstanten gesellschaftlich spezifizieren lassen. Bei Marx ist dies in erster Linie die Kategorie der Arbeit, die sich auseinanderlegt einmal in die Auseinandersetzung mit der Natur und dann in die gesellschaftlichen Zusammenhänge des Austauschs sowie der Kooperation und der damit verbundenen Herrschaftsbeziehungen. Das damit implizierte zentrale Thema der Rückbindung gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse auf materielle Zusammenhänge erscheint uns als ein wesentliches und notwendiges Korrektiv gegenüber einer aktuellen Tendenz gerade in der 16
deutschen Soziologie, „Sozialität" in Kommunikation (über sie) aufzulösen. Dabei drohen wesentliche Aspekte des Sozialen und klassische Themen der Soziologie aus dem Blickfeld zumindest der Gesellschaftstheorie zu gleiten, neben Arbeit etwa soziale Ungleichheit.14 Erst recht gilt dies für das höchst aktuelle Problem der gesellschaftlichen Naturbeziehung, die von der Marxschen Auseinandersetzung mit dem Problem der Arbeit erschließbar ist, wenn auch keineswegs behauptet werden soll, die von ihm formulierten Positionen seien unproblematisch oder hielten schon Lösungen bereit.15 Wir werden dieser Fragestellung an verschiedenen Stellen unserer Überlegungen begegnen. Schließlich spricht Marx mit der von ihm immer wieder aufgegriffenen Frage nach den Schranken oder Grenzen, die dem Kapital und seiner Tendenz zu schrankenloser Expansion entgegenstehen, ein Problem an, das für eine kritische Betrachtung der aktuellen Globalisierungsproblematik von zentraler Bedeutung ist. In der Darstellung der Marxschen Theorie folgen wir im zweiten Teil grob seinen eigenen Vorgaben, freilich unter unvermeidlich großen Auslassungen. Hierbei geht es zunächst um die grundlegende Kategorie des Wertes, durch die Marx Arbeit und Austausch sowie Ausbeutung und Herrschaft in kapitalistischen Gesellschaften zueinander in Beziehung setzt. Von da aus werden die Grundstrukturen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft analysiert, wobei wir Schwerpunkte bei Ausbeutung und Klassenstruktur, den Implikationen industrieller Herrschaft im Betrieb und den von Marx betonten Grenzen des kapitalistischen Systems setzen. Abschließend betrachten wir dann kurz die Dynamik des Kapitalismus unter dem Gesichtspunkt seiner Veränderungen gerade auch da, wo sie Konsequenzen haben könnten für die Gültigkeit und Aktualität der Marxschen Theorie. Der dritte Hauptteil nimmt Marx als Theoretiker und Analytiker gesellschaftlicher Prozesse in den Blick, die teilweise den Rahmen der modernen kapitalistischen Gesellschaft überschreiten. Das gilt zunächst für die Umrisse einer Theorie der Weltgeschichte, vor allem aber für seine Herleitung der spezifischen Formen der Vergesellschaftung unter dem Kapitalismus aus der Auflösung gemeindeförmiger Sozialzusammenhänge. Es folgt eine kritische Würdigung der Marxschen Analyse konkreter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die über Strukturaussagen hinaus eine genauere Klärung seines Klassen-Konzeptes ermöglicht. Damit rückt zugleich der Zusammenhang von Klassenherrschaft und Staat in den Blick, den wir ebenso wie die Behandlung der Klassenkämpfe vor allem an Marxens exemplarischen Analysen über die sozialen Kämpfe in Frankreich nach der Revolution von 1848 untersuchen. Eine weitere Dimension der Marxschen Theorie mit großer Aktualität ist die Auseinandersetzung mit der geographischen Ausweitung des kapitalistischen Weltmarktes und besonders ihren gesellschaftlichen Folgen in den kolonisierten Ländern. Wir gehen daher der Frage nach, inwieweit 17
Marx sich in das sozialwissenschaftliche Modernisierungsparadigma einordnen läßt, und fragen weiter nach seinen möglichen Beiträgen für eine kritische Globalisierungsdebatte. Dies führt uns zu abschließenden Überlegungen über den Stellenwert seiner Prognosen und seiner Aussagen über die projektierte sozialistisch-kommunistische Zukunftsgesellschaft, die den überraschend wenig explizierten Fluchtpunkt des gesamten Marxschen Werkes ausmacht. Unsere Darstellung kann und soll freilich eines nicht ersetzen: die direkte Lektüre der Marxschen Texte. Wie bei allen klassischen Texten gilt auch hier, daß allein die intensive Auseinandersetzung mit den Originaltexten helfen kann, sich ein eigenes Urteil zu bilden und zu begründen. Hier können dafür letztlich nur Hinweise und Handreichungen gegeben werden. Schon deren thematische Auswahl und sicher ihre Akzentsetzung sind gerade bei einem so kontroversen Autor, wie es der Gesellschaftstheoretiker Karl Marx nach wie vor ist, durch subjektive Schwerpunktsetzungen und Prioritäten geprägt. Eines der wichtigsten Ziele unseres Unternehmens liegt daher in dem Bestreben, Anregung für eine eigene, über die hier präsentierten Ausschnitte thematisch hinausgreifende Lektüre zu geben.
1.2 Zum Marxschen Erkenntnisinteresse Das überaus weitverzweigte Marxsche Werk widersetzt sich hartnäckig der Einordnung in gegenwärtige akademische Disziplinen und Teildisziplinen. Es wird trotz seiner Vielschichtigkeit zusammengehalten durch ein ebenso anspruchsvolles wie höchst praktisch gemeintes Anliegen, den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".16 Die Einlösung dieser Maxime stößt auf das Problem der „materiellen Grundlage" der damit anvisierten Revolution: So liegt die Voraussetzung dafür, daß der genannte „kategorische Imperativ" eingelöst wird, darin, daß „in einem Volke" entsprechende „Bedürfnisse" nach „Verwirklichung" drängen: „die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen".17 Diese Überlegung begründet die Frage nach einem sozialen Subjekt, einem „Emanzipator". Marx erblickt dieses befreiende kollektive Subjekt in „einer Klasse mit radikalen Ketten". 18 Die „Ketten", also die niedergedrückte Lage dieser Klasse, bezeichnet er deshalb als „radikal", weil die Befreiung von ihnen nicht partiell sein und auf halbem Wege stehen bleiben kann, sondern ebenso „radikal", also „an die Wurzel fassen(d)"19 sein muß wie die „Ketten" selbst - mit anderen Worten wie die Negation der Menschlichkeit, die durch die Lage dieser Klasse impliziert ist. Nur diese allseitige Negation enthält dieser Überlegung zufolge die „positive 18
Möglichkeit" der „Emanzipation". Sie liegt, wie Marx ausführt, „in der Bildung ... einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann ... welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besondrer Stand ist
das Proletariat."20 Die überragende Bedeutung des „Proletariats" als des zentralen gesellschaftlichen Bezugspunktes nicht nur der theoretischen und schriftstellerischen, sondern auch der praktisch-politischen Aktivität von Marx ergibt sich demnach nicht so sehr aus der Beobachtung von Leiden und Verelendung als solchen. Es geht Marx nicht um ein „Mitleiden". Vielmehr leitet sich für ihn die historische Bedeutung des Proletariats aus dem gesellschaftlichen Potential einer spezifischen sozialen und historischen Konstellation her, die Marx in Hegeischen Kategorien als absolute Negation auszeichnet. Die Chance auf eine Einlösung des als Konsequenz aus der linkshegelianischen Religionskritik formulierten „kategorischen Imperativs" ist hier das Entscheidende, nicht in erster Linie das pure Faktum der Ausbeutung oder Unterdrückung. Dies würde vielmehr auf zahlreiche andere soziale Kategorien ebenso zutreffen, aber in anderem gesellschaftlichem Zusammenhang, und darauf kommt es Marx entscheidend an, wie wir noch weiter sehen werden. Aus diesen Gründen ist ihm die Emanzipation des Proletariats nicht Selbstzweck, sondern sie erscheint als der einzig erkennbare Weg zur universellen Aufhebung menschlicher Knechtung und Entwürdigung, zur „gesellschaftliche(n) Menschheit".21 Zugleich sind hier bereits die Motive formuliert, die Marx wenig später zu einer lebenslangen Anstrengung um kritische Gesellschaftstheorie antreiben sollten. Denn es galt, die „materielle Grundlage" für das, was in den Frühschriften zunächst noch allgemein als „Verwirklichung der Philosophie" chiffriert war, genauer zu begreifen. Es ging um die „wirklichen Voraussetzungen," um schließlich „die wirkliche bestehende Welt" zu verändern.22 Dieser Antrieb richtete sich nicht allein auf wissenschaftliche Analyse. Die gleichsam sozialontologische Bestimmung des Proletariats als der emanzipatorischen Klasse war an sich schon ein Aufruf zur praktischen Tat. Die Erwartung der Emanzipation richtete sich auf eine doppelte Perspektive: Zum einen schien das Proletariat der kollektive Akteur zu sein, der die Überwindung der sich in Deutschland eben erst herausbildenden kapitalistischen Gesellschaftsform bewirken sollte. Viel entscheidender aber war 19
die Annahme mit diesem geschichtlichen Akt werde das Ende jeglicher Form der Herrschaft von Menschen über Menschen bewirkt. Den Aufruf zur Tat hat Marx eingelöst mit seiner Beteiligung an der Revolution von 1848/49 in Deutschland und an einer ganzen Reihe meist international agierender Organisationen wie vor allem dem Bund der Kommunisten und später der Internationalen Arbeiter-Assoziation oder mit der intensiven, auch aktiv eingreifenden Begleitung der politischen Prozesse, die in Deutschland wie in anderen Ländern zur Bildung großer sozialdemokratischer Parteien führten. Sein bleibender Beitrag dürfte aber wohl unstreitig in seinem wissenschaftlichen Werk liegen, vor allem in dem Komplex der Kritik der politischen Ökonomie, wie im folgenden Überblick etwas eingehender erläutert wird. Doch wie sehr sich diese Kritik auch auf die Einzelheiten der Debatten über Geld, Zins oder Grundrente eingelassen hat, so darf doch nicht vergessen werden, daß sie ihrer Intention und auch ihrer Diktion nach immer „Kritik im Handgemenge"23 geblieben ist, d.h. in der Perspektive der revolutionären Veränderung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und der Aufhebung jeglicher Herrschaft. Dies bedeutet nun freilich Verpflichtung zu radikaler, möglichst konsequenter, den Dingen auf den Grund gehender Erkenntnis. Es bedeutet nicht das, was die spätere marxistische Orthodoxie in gerader Verkehrung dieses Grund- und Ausgangspunktes daraus gemacht hat: Marx nahm für sich kein Erkenntnisprivileg in Anspruch, wenn er auch meinte, vielen seiner intellektuellen und politischen Gegner voraus zu sein. Vielmehr handelt es sich auf analytischer Ebene um die Formulierung eines Erkenntnisinteresses, das gleichsam die Selbstverpflichtung zu rückhaltloser Prüfung aller Vorurteile, zu radikaler Ideologiekritik oder zur Aufklärung des „realen Scheins" enthielt, der den Blick auf die Verhältnisse, so wie sie wirklich sind, verstellt und verschleiert. Darin ist zweifellos die aus heutiger Sicht problematische, für Marx aber gerade nach seiner materialistischen Wende selbstverständliche Annahme enthalten, daß es möglich sei, durch alle Verzerrungen und alle Verdinglichung hindurch zu einer objektiven Wirklichkeit durchzudringen. Ideologie und Verdinglichung waren für ihn zwar Teil dieser Verhältnisse und insofern gerade nicht willkürlich und beliebig, die zu entschleiernde Wirklichkeit erschien ihm aber dennoch als objektiv gegeben und nicht etwa selbst als ein Konstrukt. Dieser Sichtweise ist vor allem die spätere dogmatische Ummünzung des Proletariatsbegriffs fremd, die meinte, aus der revolutionären „Mission" des Proletariats gleich schließen zu dürfen, diejenigen, die sich auf dessen „Standpunkt" stellten, könnten sich schon allein dadurch in den Besitz alleingültiger Erkenntnis und entsprechender, objektiv gültiger Handlungsanweisungen setzen. Diese marxistisch-leninistische Orthodoxie wurde dann gesteigert bis zum Dogma der Unfehlbarkeit der Partei, des Zentral20
komitees und schließlich des Politbüros und selbst seines jeweiligen Generalsekretärs, das bis zur offiziellen Notifizierung des Scheiterns des bolschewistischen Experiments im Umbruch der Jahre 1989/91 nicht gänzlich überwunden wurde und wesentlich zur Implosion des Sowjetsystems beigetragen haben dürfte. Doch dieser Anspruch auf das Privileg a priori richtiger Aussagen steht im diametralen Gegensatz zu der Verpflichtung auf radikal vorurteilslose Erkenntnis, wie sie in Marxens Formulierung seines Erkenntnisinteresses, aber auch in seiner wissenschaftlichen Praxis zum Ausdruck kommt. Vor diesem Hintergrund sollen nun einige Grundzüge der Struktur des Marxschen Werkes dargestellt werden. Dabei geht es einerseits darum, den Argumentationszusammenhang in einem sehr knappen Überblick darzustellen, andererseits aber auch einigen Vorurteilen und Mißverständnissen zu begegnen, die gerade von Kritikerinnen und Kritikern hartnäckig artikuliert werden, die die Schärfe ihres Urteils offensichtlich nicht durch gründliche Kenntnisnahme herausgebildet haben, sich aber dennoch zu weitreichenden Behauptungen berechtigt fühlen.
1.3 Zur Struktur des Marxschen Werkes Zu diesen Fehlurteilen gehört in erster Linie die Kennzeichnung von Marx als Theoretiker des Sozialismus oder Kommunismus. Marx war militanter Kommunist, aber seine theoretische Leistung liegt vor allem in der Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Noch in seinem letzten ökonomischen Manuskript unterstrich er, daß „ich niemals ein sozialistisches System aufgestellt habe". 24 Oder anders: wer sich bei der Lektüre des Marxschen Hauptwerkes, dem Kapital, „auf (das) Vergnügen gespitzt hat", „daß er nun hier erfahren werde, wie es denn eigentlich im kommunistischen Tausendjährigen Reich aussehen werde [...], der hat sich gründlich geirrt".25 Als strikter Kritiker jeglicher utopischer Entwürfe war Marx äußerst zurückhaltend mit Aussagen über zukünftige, projektierte gesellschaftliche Verhältnisse. Vor diesem Hintergrund kann seine Theorie auch nicht durch das Scheitern gesellschaftlicher Experimente als widerlegt gelten, die dem eigenen Anspruch nach sozialistisch waren und sich zu Recht oder Unrecht auf Marx beriefen. Als theoretischer Kern des insgesamt durchaus verästelten Marxschen Werkes muß daher das große, unabgeschlossene Unternehmen der Kritik der politischen Ökonomie mit dem Hauptwerk Das Kapital gelten. Auf die methodischen Implikationen dieses programmatischen Titels werden wir im folgenden Abschnitt näher eingehen. Hier soll festgehalten werden, daß Marx kurz nach der mit seiner 21
Hinwendung zur „Wirklichkeit" bezeichneten materialistischen Wende mit der intensiven Rezeption ökonomischer Literatur begann. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die politische Ökonomie als führende Sozialwissenschaft der Zeit weit über den Bereich eines wirtschaftswissenschaftlichen Fachdiskurses im heutigen Verständnis hinausgriff. Ein erstes Ergebnis von Marxens Auseinandersetzung mit politischer Ökonomie waren die bis 1932 unveröffentlicht gebliebenen sogenannten „Pariser Manuskripte," in denen eine noch stark philosophisch geprägte Kritik an ökonomischen Kategorien wie Arbeit, Arbeitsteilung, Geld und Kapital im Vordergrund steht.26 Die ökonomischen Studien fanden aber auch deutlichen Niederschlag in einer Reihe polemischer Arbeiten, die sich gegen Vertreter der zeitgenössischen deutschen Philosophie,27 aber auch gegen Proudhon als damals führenden Theoretiker des französischen Sozialismus richteten. Diese Auseinandersetzungen gaben vor allem Anlaß zu einer ersten Fassung der für das gesamte Unternehmen zentralen Mehrwerttheorie. Die zweite große Periode ökonomischer Studien von Marx begann mit dem Londoner Exil ab 1850, d.h. nach der Niederlage der Revolution von 1848/49. Die neuerliche Hinwendung zu stärker theoretischen, vor allem in einem breiten Verständnis „ökonomischen" Studien war vor diesem Hintergrund sicher nicht unproblematisch, auch wenn Marx die Dauer dieser Arbeiten zu Beginn bei weitem unterschätzt hat. Ein gutes halbes Jahr, nachdem er ernstlich wieder damit begonnen hatte, glaubte er, er sei „so weit, daß ich in 5 Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin" 28 Die Jahre später sich abzeichnende - gleichfalls nur vorläufige - Beendigung des Vorhabens erschien als Befreiung von einem „Alptraum".29 Demnach kann man zwar gewiß von einem opus magnum, schwerlich aber von einem planvoll angegangenen Lebenswerk sprechen. Vor allem aber ist es, auch angesichts der zahlreichen thematischen Kontinuitäten, die zwischen den beiden Phasen der Beschäftigung mit politischer Ökonomie festzustellen sind, sicher verfehlt, einen grundlegenden Bruch mit früheren, stärker humanistisch geprägten Anliegen und eine Hinwendung zu einer antihumanistisch verstandenen, strikt wissenschaftlichen Orientierung zu konstruieren, wie dies vor allem die strukturalistische Marx-Lektüre getan hat.30 Die intensive Auseinandersetzung mit allen Aspekten der damaligen politischen Ökonomie, vor allem aber mit ihren klassischen Vertretern Adam Smith und David Ricardo an der Spitze, führte31 - erschwert und unterbrochen durch andauernde existentielle Not und materielle Krisen - erst 1859 zur Veröffentlichung der ersten beiden Kapitel des geplanten Werkes.32 Dem folgten erneute Revisionen des gesamten Unternehmens. Der 1859 verfaßte, nach seiner Publikation 1939/53 viel diskutierte „Rohentwurf"33 wurde noch zweimal gründlich überarbeitet. Dies betraf vor allem die Struktur der Darstellung. Erst die 1867 22
publizierte Erstfassung des ersten Bandes des Kapital34 setzt mit der Analyse der Ware ein anstatt mit einer eingehenden Erörterung der Geldtheorie. Erst damit wurde die Grundstruktur der Theorie in der Form präsentiert, die auch wir zum Leitfaden unserer Darstellung in Teil 2 genommen haben. Die Darstellung wurde für die zweite Auflage 1873 noch einmal in wichtigen Punkten revidiert und im wesentlichen in die heute verbreitete Form gebracht. Der erste Band behandelt den „Produktionsprozeß des Kapitals" und führt damit, freilich auf sehr hohem Abstraktionsniveau, alle zentralen Kategorien der folgenden analytischen Schritte bereits ein. Er bildet daher den zentralen Bezugspunkt für die Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie. Die folgenden beiden Bände des Kapital repräsentieren dann weitere Schritte des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten,35 nämlich den „Zirkulationsprozeß des Kapitals" und den „Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion". Sie wurden von Marx nicht mehr vollendet. Friedrich Engels hat sie auf der Grundlage von Entwürfen herausgegeben, vor allem im dritten Band mit erheblichen redaktionellen Eingriffen.36 Auch in dieser Form ist die Unabgeschlossenheit des Werkes deutlich erkennbar. Der dritte Band bricht mit einem bruchstückhaft gebliebenen Kapitel über die „Klassen" ab. Wesentlich später wurden unter dem Titel Theorien über den Mehrwert weitere Manuskripte aus dem Kapital-Komplex ediert.37 Diese drei Bände enthalten die eingehenden Auseinandersetzungen von Marx mit den unterschiedlichen Autoren der politischen Ökonomie, eröffnen daher Einblicke in seine Arbeitsweise und sprechen eine Reihe von Themen an, die in den drei Kapital-Winden nicht oder weniger intensiv behandelt werden. Seit der Publikation der kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe ist ein weiterer, zeitlich zwischen dem „Rohentwurf' und der Publikation von Kapital I gelegener Entwurf zugänglich geworden.38 Das Marxsche Hauptwerk ist demnach ein riesiger Torso geblieben, und der Kern der Marxschen Theorie, wie er seit Mitte des 20. Jahrhunderts - nach der Publikation der „Pariser Manuskripte" und des „Rohentwurfs" - diskutiert wird, besteht zu erheblichen Teilen aus liegengelassenen, verworfenen oder nicht fertiggestellten Manuskripten. Der ursprüngliche Plan der Auseinandersetzung mit dem „System der bürgerlichen Ökonomie" 39 zielte ferner auf weit größere Dimensionen, als sie aus den publizierten Kapital-Schriften und den Vorarbeiten dazu erkennbar sind. Das „Buch vom Kapital" sollte das erste von sechs Büchern sein, und die folgenden sollten dialektisch aufeinander aufbauend Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, internationalen Handel und Weltmarkt behandeln.40 Dies kann verdeutlichen, daß das Kapital keineswegs schon als umfassende Theorie der kapitalistischen Gesellschaft konzipiert war, sondern nur als ihr erster Abschnitt. Insbesondere die oft kritisierte unzureichende Ausarbeitung einer Staatstheorie findet wenigstens zum Teil eine Erklärung in dem Vorhaben, diesem Thema ein eigenes Buch 23
innerhalb des Gesamtprojektes zu widmen. Wenn freilich gesagt werden kann, daß ein Großteil der weiteren Fragen - wie etwa der Arbeitslohn, die Akkumulation des Kapitals, die Grundrente oder der Weltmarkt - bereits im Durchgang durch den „Produktionsprozeß des Kapitals" in dem vom Autor selbst für die Veröffentlichung fertiggestellten ersten Band aufgegriffen werden, so gilt dies nicht in gleicher Weise von Staat und Bürokratie als zwei wesentlichen Problembereichen späterer gesellschaftlicher Entwicklung wie auch der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr. Diese Lücke wird im Marxschen Werk auch durch die meist an aktuellen Problemen orientierten politischen Analysen nicht geschlossen. Die Staatsproblematik wird zwar immer wieder angesprochen - vor allem in der Auseinandersetzung mit dem bonapartistischen Regime Napoleons III. in Frankreich, mit der britischen Parlaments- und Regierungspolitik, mit den Entwicklungen in Deutschland und zumal in Preußen oder mit dem amerikanischen Bürgerkrieg. Eine systematische Erörterung, die der Kritik der politischen Ökonomie vergleichbar wäre, ist aber in diesem Rahmen nicht zu erwarten und wird auch nicht geboten. Neben den Kapital-Schriften umfaßt das Marxsche Werk eine Vielzahl weiterer Arbeiten, die sich teils mit ökonomischen Fragen befassen, vorwiegend aber aktuellen politischen Entwicklungen gewidmet sind. Daneben stehen einige längere Polemiken, die sich auf die postrevolutionären Konflikte in der Emigration der 1850er Jahre beziehen. Alle diese Arbeiten sind häufig unverkennbar dem Augenblick verhaftet und unter sich recht heterogen, sowohl in der Zielsetzung als auch in ihrer analytischen und theoretischen Bedeutung. Wie an einigen Beispielen in Teil 3 deutlich werden wird, haben einige dieser Beiträge die Diskussion über Geschichtskonzeption und Klassentheorie nachhaltig beeinflußt. Eine grobe Einteilung wird sinnvoll grundlegende politische Analysen, unmittelbare politische Interventionen und journalistische Arbeiten unterscheiden. Die Grenzen sind aus verschiedenen Gründen nicht immer klar zu ziehen. So repräsentieren insbesondere die ersten beiden Abschnitte des Kommunistischen Manifests eine selten anzutreffende Kombination von brillanter, oft brillant polemischer Rhetorik und höchst konzisen gesellschafts- und geschichtstheoretischen Grundthesen, die im Rahmen des Marxschen Werkes vorwärtsweisen auf spätere, ausführlichere Arbeiten. Es muß aber zweifellos unterschieden werden einerseits zwischen Arbeiten, die eindeutig dem Ziel dienten, etwa nach der Niederlage der Revolution von 1848/49 systematisch den Gang der entscheidenden Ereignisse sowie die Kräfteverhältnisse und Allianzen der verschiedenen sozialen und politischen Gruppierungen für sich und andere zu rekonstruieren,41 und andererseits weitgehend polemisch gehaltenen Auseinandersetzungen in der Exilsituation. Dagegen formulieren etwa die programmatisch-politischen Positionsbestimmun24
gen für den Bund der Kommunisten und später für die Internationale ArbeiterAssoziation zugleich zentrale theoretische Grundpositionen. Gleiches gilt für die nicht für eine Publikation gedachten Interventionen in die Diskussion der deutschen Sozialdemokratie während ihres Formations- und Konsolidierungsprozesses in den 1870er Jahren. Diese notwendigen Differenzierungen unterstreichen, daß eine Würdigung des Marxschen Werkes fehlgeht, die ähnlich wie die frühere sowjetische Scholastik nicht die Heterogenität der Schriften zur Kenntnis nimmt und sich wenigstens in Ansätzen des jeweiligen Zusammenhanges und der Zielsetzung vergewissert. Wir halten daher auch die verbreitete Unsitte für irreführend, pauschal aus Werkausgaben ohne Angabe des konkreten Textes zu zitieren und so den Anschein zu erwecken, als handele es sich um ein homogenes OEuvre. Der Nachweis der einzelnen größeren und kleineren Werke mag auf den ersten Blick etwas sperrig wirken, er erleichtert aber die notwendige Kontextualisierung von Textstellen und dient dazu, die Vielschichtigkeit des Werkes präsent zu halten. Von sehr unterschiedlichem Gewicht sind auch die zahlreichen journalistischen Arbeiten, die vor allem in den 1850er Jahren weit weniger theoretischen oder sonstigen analytischen Interessen Ausdruck gaben als den schlichten Notwendigkeiten des Broterwerbs. Die Korrespondenzen, die Marx über lange Jahre hinweg aus London für die New York Daily Tribune, zeitweise auch für die Neue Oder-Zeitung in Breslau und für die Wiener Presse sowie für eine Reihe anderer Organe schrieb, mußten wohl gewissen analytischen Standards gerecht werden; sie betrafen häufig auch Fragen, die mit Marxens ökonomischen Studien in Zusammenhang standen oder von allgemeinem politischen Interesse waren. Diese Artikel lassen sich daher auch als fortlaufende Kommentare zu einer Vielzahl von Entwicklungen lesen, in deren Mittelpunkt die britische Politik und Wirtschaftsentwicklung Mitte des 19. Jahrhunderts, aber auch die Verhältnisse Frankreichs unter der „bonapartistischen" Herrschaft Napoleons III und die überseeische Expansion der europäischen Mächte stehen. Besonders die nach ihrer Neupublikation in den 1920er Jahren intensiv diskutierten Indien-Artikel aus dem Sommer 185342 enthalten weitreichende theoretische Überlegungen zur Struktur und zur mangelnden Dynamik asiatischer Gesellschaften und zu den Folgen des Kolonialismus. Zu nennen ist auch die intensive Kommentierung des amerikanischen Bürgerkrieges für deutschsprachige Presseorgane. Auch als Gelegenheitsarbeiten handelt es sich vor allem bei einigen der früheren Artikel um analytisch wichtige Beiträge. Dennoch tritt ihr Gelegenheitscharakter bei genauerer Betrachtung ihrer Entstehungsumstände, etwa anhand der begleitenden Korrespondenz, recht deutlich zutage. Ein genaueres Verständnis dieser Texte kann ohne eine solche Situierung nicht auskommen. 25
Jede Auseinandersetzung mit dem Werk von Marx stößt auf die Tatsache, daß es nicht abzutrennen ist von dem seines persönlichen und politischen Freundes sowie häufigen Ko-Autors Friedrich Engels. Engels hat mit seiner bahnbrechenden Darstellung der „Lage der arbeitenden Klasse in England"43 die empirische Grundlage für die Auszeichnung des Proletariats als der revolutionären Klasse innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft geliefert. Er diente Marx während der gesamten Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie als beständiger Diskussionspartner, der sich nicht nur zur begrifflich-theoretischen Konsistenz der Texte äußerte, sondern immer wieder auch Hinweise zur kaufmännischen und industriellen Praxis gab, in der er sich als „Kommis", später auch als Leiter des Kontors der Firma Emmen und Engels in Manchester bestens auskannte. Diese Stellung ermöglichte ihm nicht zuletzt auch die finanzielle Unterstützung von Marx und seiner Familie. Engels' Zusammenarbeit mit Marx erstreckte sich neben vielfältigen politischen Aktivitäten auf alle Bereiche der oben skizzierten Publikationstätigkeit. Stärker als bei Marx figurieren im Werk von Engels historisch-monographische Arbeiten, unter denen vor allem seine überaus einflußreiche Darstellung des deutschen Bauernkrieges von 1525 zu nennen ist;44 er war ferner ein bis heute bemerkenswerter Militärtheoretiker. Daneben übernahm Engels die Propagierung des Marxschen Werkes, etwa in der Form mehrerer Rezensionen des ersten Bandes des Kapital oder der ausführlichen Polemik gegen Eugen Dühring, der während der 1870er Jahre starken Einfluß auf die deutsche Sozialdemokratie gewonnen hatte.45 Nach Marxens Tod 1883 hat Engels nicht nur die beiden unpublizierten Kapital-Winde herausgegeben, sondern eine Reihe von Arbeiten zu wesentlichen Fragen aus dem Bereich der Gesellschaftstheorie veröffentlicht, die jenseits des Bereichs der Kritik der politischen Ökonomie liegen. Hierzu gehört in erster Linie seine Darstellung der gemeinsamen Herausbildung von Patriarchat, Klassenteilung und Staat,46 zu nennen sind aber auch mehrere Arbeiten zur politischen und Ideengeschichte des Sozialismus. Damit ist die thematische Breite gerade des Engelsschen Spätwerkes noch nicht einmal erschöpft. In der Auseinandersetzung über die weiteren Schicksale der Marxschen Theorie wurde der Stellenwert von Engels sehr kontrovers diskutiert. Gerade von dissident marxistischer Seite wurde seine Rolle als Verteidiger und Popularisator, als Moment in der Herausbildung einer feststehenden Lehre, eines Dogmas gesehen, das überleitete zu den starren Konzepten, die den Marxismus der Zweiten Interna-tionale in seinen vorherrschenden Strömungen vor 1914 und erst recht die scholastischen Exzesse des sowjetischen Marxismus-Leninismus prägten. In dieser Richtung wurden auch besonders Engels' Anstrengungen zur Erweiterung und Systematisierung der Marxschen Theorie zu einer umfassenden und 26
abgeschlos-senen Weltanschauung kritisiert, wie sie besonders deutlich in der postumen Arbeit über die Dialektik der Natur47 zum Ausdruck kamen. Diese Kritik beschreibt historisch nachvollziehbare Tendenzen in der theoretischen und ideologischen Orientierung der sozialdemokratischen Arbeiterparteien und ihrer Mitglieder ebenso wie in der Dogmatisierung des sowjetischen Marxismus-Leninismus. Doch stoßen die Versuche, die dogmatisierenden Tendenzen des späteren Marxismus in erster Linie auf Engels, zumal auf sein Alterswerk zurückzuführen und ihn damit zugleich von einem weitgehend als undogmatisch gesehenen Marx mehr oder minder scharf abzugrenzen, auf erhebliche Schwierigkeiten. Letztlich gibt es zwischen ihren Arbeiten einen derart breiten Bereich von Überschneidungen, daß eine so einfache Zuordnung von klar voneinander abweichenden, ja gegensätzlichen Thesen und methodischen Orientierungen nicht überzeugen kann. So ist etwa die Arbeit von Engels über die Entstehung von Klassenspaltungen und privatem Eigentum immer wieder wegen ihres Schematismus und ihrer dem damaligen Diskussionsstand entsprechenden, grob evolutionistischen Positionen kritisiert worden. Doch kann genauer besehen eine solche Kritik Marx nicht gut ausnehmen, auf dessen während seines letzten Lebensjahrzehnts gemachten Exzerpten Engels in wesentlichen Punkten aufgebaut hatte.48 Ähnlich steht es mit dem Antidühring, der gern als Ausgangspunkt für die Transformation der Marxschen Theorie in ein kanonisches Lehrgebäude verstanden wird. Er entstand in enger Diskussion mit Marx, der selbst das Kapitel über die Geschichte der politischen Ökonomie beisteuerte.49 Diese kurzen Verweise sollen hier nur zeigen, daß das verbreitete Bild vom schwierigen, aber undogmatischen Marx und vom populäreren, dafür aber zum Dogmatisieren neigenden Engels in wichtigen Punkten nicht der Wirklichkeit entspricht. Eine Gesamtwürdigung des Marxschen Werkes dürfte daher gut beraten sein, Marx nicht gegen Engels in der angedeuteten Weise auszuspielen und eher ihre gemeinsamen Ambivalenzen und auch Fehlurteile ebenso zur Kenntnis zu nehmen wie die Stärken des theoretischen Zugriffs, die unser anhaltendes Interesse begründen. Hier freilich geht es nicht um Marxologie, sondern um den möglichen Beitrag der Marxschen Theorie zu einer kritischen Gesellschaftstheorie an der Wende zum 21. Jahrhundert. Daher möchten wir die Problematik hier nur konstatieren. Wir werden an einigen Stellen auf die Arbeiten von Engels zurückgreifen, und dies nicht nur in dem Bewußtsein tun, daß vermutete und latente Kontroversen zwischen ihm und Marx allem Anschein nach oft weit überschätzt wurden und die Last der Dogmatisierung ebenso wie der Übersetzung einer universellen Neugier in eine Weltanschauung mit allumfassendem Erklärungsanspruch letztlich von beiden, vor allem aber von den Epigonen zu tragen ist, die sich am Ende 27
ihre Werke zu einem Zitatensteinbruch zugerichtet haben, in dem sie sich nahezu beliebig bedienten, um ebenso beliebige, parteiamtliche Thesen formal zu legitimieren. Für das hier im Vordergrund stehende Anliegen, Elemente ausfindig zu machen, die die Theoriebildung anregen und vorwärtstreiben können, kann von vornherein die Autorschaft keine allzu drängende Frage sein. Sehr wohl aber hat sich ein solches Unternehmen des argumentativen und historischen Kontextes zu vergewissern, in dem die jeweils aufgenommenen Überlegungen entwickelt worden sind. Dem vor allem sollte diese knappe Skizze wesentlicher struktureller Aspekte des Marxschen sowie auch des Engelsschen Werkes dienen. In den beiden folgenden Teilen werden wir auf ausgewählte inhaltliche Aspekte dieses Werks eingehen. Dabei steht zunächst die Kritik der politischen Ökonomie im Mittelpunkt unseres Interesses, dann die Marxsche Geschichtskonzeption. Vor allem der relativ geschlossene Theoriekomplex der Kritik der politischen Ökonomie kann dabei nur in herausragenden, für eine aktualitätsbezogene soziologische Diskussion besonders wesentlichen Ausschnitten behandelt werden. Das Theoriegebäude in seiner Gesamtheit wird daher allenfalls in Umrissen sichtbar, auch wenn wir versuchen, diesen übergreifenden Zusammenhang im Hintergrund unserer eigenen Argumentation zu reflektieren. Die Hinweise auf die Marxsche Geschichtskonzeption und seine Überlegungen zur sozialen Evolution können sich gleichfalls nur auf ausgewählte Abschnitte seines Werks beziehen. Gerade unter diesen Gesichtspunkten ist zu unterstreichen, daß diese Darstellung die Lektüre der Originaltexte nicht ersetzen kann und will. Vielmehr soll sie Anregungen zu eigenem, selbständigen Weiterfragen und Weiterlesen geben. Für ein Verständnis der Marxschen Kategorien ist jedoch ein kurzer Blick auf die Marxsche Methode unverzichtbar. Nur so können wir uns Rechenschaft ablegen über seine theoretische Intention und Herangehensweise, und nur ein Verständnis der Marxschen Untersuchungs- und Darstellungsweise kann uns Auskunft darüber geben, auf welche Fragen uns seine Theorieentwürfe Antworten und Hinweise geben können, aber auch, wo und welche Antworten nicht zu erwarten sind. Wie noch im Gang unserer Darstellung deutlich werden soll, liegt hier ein Ausgangspunkt für Mißverständnisse, die sich als ebenso hartnäckig wie nach wie vor auch als historisch folgenreich erwiesen haben. Wir schließen an diese methodischen Hinweise einen kurzen Blick auf die eng damit zusammenhängenden Überlegungen von Marx über Bewußtsein und Ideologie an. Weiter erscheint uns abschließend ein kurzer Blick auf das Verhältnis von historischer und systemisch-struktureller Analyse bei Marx nützlich, um die nachfolgenden Überlegungen besser einordnen zu können.
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1.4 Zur Marxschen Methode Wie wir bereits deutlich gemacht haben, ist das Marxsche Werk recht inhomogen. Das gilt auch für das methodische Herangehen, das jedenfalls mit dem gängigen Verweis auf „Dialektik" und „Materialismus" nur recht vage und unvollkommen charakterisiert ist. Immerhin läßt sich aus diesen allgemeinen Bestimmungen schließen, daß sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, geht man ihnen auf den Grund, nicht notwendig, ja sogar nicht regelmäßig als das erweisen, was sie auf den ersten Blick, von außen betrachtet oder eben dem Alltagsverstand entsprechend darstellen. Marx hat dafür einprägsame und einschneidende Begriffe gefunden. Er spricht vom gesellschaftlich begründeten Fetischismus der Ware, der uns die Einsicht in die wahren Verhältnisse verstellt und verschleiert, die zwischen den Menschen der modernen kapitalistischen Gesellschaft bestehen. Diese werden aufrechterhalten, weil sie durch die tagtägliche, im fetischistischen Blick auf die Verhältnisse befangene gesellschaftliche Praxis dieser Menschen beständig reproduziert werden. Marx sieht diese Verhältnisse darüber hinaus als verdinglicht, d.h. der Warenfetischismus äußert sich darin, daß die Menschen ihre Beziehungen untereinander nicht als solche zwischen Menschen begreifen, sondern versachlicht, nicht allein vermittelt durch Sachen, sondern auf Sachen bezogen. Das verleiht diesen Verhältnissen den Anschein einer objektiven, unangreifbaren, „sachlich" begründeten Wirklichkeit, wo sie doch in Wahrheit „nur" das Resultat beständiger menschlicher Praxis sind, was zugleich bedeuten müßte, sie wären durch solche Praxis auch veränderbar, wenn die Subjekte dieser Praxis, die Menschen, nur erst diese Zusammenhänge durchschauen könnten. Doch gerade dem kritischen Blick stellen sich die Verhältnisse, die die moderne kapitalistischen Gesellschaft prägen, zugleich dar als ein Zaubergarten, in dem sich zuweilen das Unterste zuoberst gekehrt hat, wie Marx an den Kategorien der politischen Ökonomie zeigt, für die unter bestimmten Umständen die Herstellung eines Tisches oder einer Hose unproduktive, ein Tanz oder das Singen eines Gassenhauers aber produktive Arbeit sein können. Die Verzauberung der Verhältnisse erkennen wir daran, daß auch uns als Angehörigen dieser Gesellschaft dies einsichtiger werden kann, wenn wir beispielsweise erfahren, daß in den betrachteten Fällen Tanz und Gesang bezahlt werden, Tisch und Hose dagegen unter Umständen nicht. Angehörige von anders aufgebauten Gesellschaften, die in Marxscher Terminologie stärker an Gebrauchswerten denn an Waren und Tauschwert orientiert sind, würden dies vermutlich nicht so leicht einsehen. Wir werden diese Zusammenhänge noch eingehend erläutern.50 Die angesprochene Marxsche Perspektive des modernen gesellschaftlichen Zaubergartens ist komplementär, steht aber nicht notwendig im Widerspruch, 29
sondern in einem reizvollen Spannungsverhältnis zu der in der Soziologie geläufigeren These, daß mit der Modernisierung und der damit untrennbar verknüpften Säkularisierung des Weltbezuges die Welt einer „Entzauberung" unterlegen sei. Der dieser Formulierung Max Webers zugrundeliegenden These, daß man sich von Erklärungsstrategien verabschiedet habe, die auf Übernatürliches rekurrierten, oder man es verlernt habe, auf Heilsinstitutionen wie die Mutter Kirche zu vertrauen, hätte Marx aller Wahrscheinlichkeit nach zustimmen können. Er machte aber hinter solchen Prozessen der Säkularisierung eine neuerliche Verschleierung der wahren Verhältnisse aus, die zu durchschauen ihm als umso schwieriger erschien, als sie im Gewand der säkularisierten, rationalisierten Wissenschaft selbst daherkommt. Gerade aus diesem Grund nimmt die Kritik dieser Wissenschaft einen so zentralen Platz im Werk von Karl Marx ein. Wir wollen nun versuchen, den methodischen Stellenwert dieser Kritik näher zu erläutern, um dann zu zentralen Herangehensweisen überzugehen, die nicht nur für ein Verständnis der Kritik der politischen Ökonomie, sondern für die Marxsche Gesamtkonzeption von grundlegender Bedeutung sind, zu seinem Konzept der Formbestimmung und seiner Vorstellung von sozialer Gesetzmäßigkeit. Dies kann zugleich dazu beitragen, eine genauere Vorstellung von seiner theoretischen und methodischen Grundorientierung - dem vielzitierten historischen Materialismus - zu geben. Bevor wir uns aber in einem ersten Schritt dem Marxschen Werk selbst nähern, ist noch ein Hinweis zum Marxschen Sprachgebrauch erforderlich. Zwar dürfte es keinen anderen sozialwissenschaftlichen Theoriekomplex geben, der sorgfältiger nach einzelnen Formulierungen durchkämmt worden ist, um feste, „orthodoxe" Sprachregelungen daraus zu basteln, als gerade das Marxsche Werk. Zugleich stellt sich aber bei der tatsächlichen Lektüre Marxscher Schriften heraus, daß er selbst sich jeglicher Sprachregelung in Wirklichkeit souverän widersetzt. Zentrale, in den Varianten des Marxismus und der Auseinandersetzung mit ihm mit großer Selbstverständlichkeit benutzte Begriffe wie „Produktionsweise", „Gesellschaftsformation" oder auch „Produktivkräfte", ja selbst „Arbeit" und „Arbeitskraft" variieren oft erheblich in ihrer sprachlichen Form, aber auch in ihrer Bedeutung.51 Das heißt nicht, daß Marx nicht jeweils gewußt hätte, wovon er sprach oder schrieb. Er dürfte dies freilich schwerlich mit dem Blick auf eine spätere Kanonisierung seiner Texte getan haben. Eher ging es ihm um Selbstverständigung und Vermittlung seiner Einsichten. Doch auch wenn uns jegliches Streben nach einem „orthodoxen Marxismus" fernliegt, bleibt die Terminologie ein doppeltes Problem. Sie ist zum einen durch verschiedene Formen und Stadien einer über ein ganzes Jahrhundert hinweg betriebenen Marx-Scholastik historisch belastet: Kategorien sind in bestimmten, gemessen am Marxschen Werk und seinen Erkenntnismöglichkeiten oft fragwürdigen Formen, propagiert und 30
popularisiert worden, so daß eine kritische Rezeption immer mit derart verkrusteten Vorverständnissen wird rechnen müssen. Zugleich aber verweist der Marxsche Sprachgebrauch auch auf die nicht hintergehbare Tatsache, daß eine jede solche Rezeption zugleich (Re-)Konstruktion der Theorie und ihrer Kategorien sein wird. Das gilt über die Auswahl von Themen und Texten hinaus auch für den Umstand, daß Theorierezeption viel eher zu Systematisierungen und sprachlichen Festlegungen gezwungen ist, als die Formulierung einer solchen Theorie selbst. Dies hängt mit dem Status der Rezeption zusammen, die sich gegenüber der Theorie selbst auf einer Meta-Ebene bewegt und in einer Meta-Sprache formulieren muß. Diese Meta-Sprache kann nicht so frei und flexibel gehandhabt werden, wie das im Original geschieht. Auch aus diesem Grund kann es dafür keinen Ersatz geben.
1.4.1 Das Projekt der Kritik der politischen Ökonomie Die Absicht des Marxschen Hauptwerkes wirft bereits wichtige methodische Fragen auf. In einem Brief an Ferdinand Lassalle, der für ihn in Deutschland einen Verleger finden wollte, hat er diese Absicht sehr knapp angegeben: Es gehe um ,Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben".52 Implizit war in dieser Formulierung eine Kritik am Vorgehen des Adressaten enthalten, „ein abstraktes, fertiges System der Logik auf Ahnungen eines eben solchen Systems anzuwenden". Marx beanspruchte nicht, dergestalt a priori konzipierte Kategorien „anzuwenden", sondern wollte „durch Kritik eine Wissenschaft" - also die politische Ökonomie - „erst auf den Punkt bringen, um sie dialektisch darstellen zu können". 53 Es geht hier demnach nicht um eine empirische Untersuchung, und auch nicht etwa um eine Verurteilung der Verhältnisse unter dem Kapitalismus, wie man sie von einem bekanntermaßen scharfen Kritiker dieser Zustände wohl am ehesten erwarten würde. Zwar wird an zahlreichen Stellen im Kapital bezug genommen auf gesellschaftliche Prozesse und Zustände, und Marx hält sich dabei auch mit Werturteilen keineswegs zurück. Die Abschnitte etwa über den „Kampf um den Normalarbeitstag" und die Fabrikgesetzgebung oder über die Lage spezifischer Abteilungen der britischen Arbeiterklasse als „Illustrationen des allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation" sind geradezu von Empirie gesättigt durch gründliche Auswertung von parlamentarischen Untersuchungsberichten u.ä., die für Großbritannien frühzeitig verfügbar gewesen sind. Aber es handelt sich eben um genau dies: um Illustrationen, d.h. Veranschaulichungen, die das theoretische Argument unterfüttern.54 Auch die Bewertung der 31
kapitalistischen Verhältnisse, die keineswegs einer völligen pauschalen Verurteilung gleichkam, stand für Marx nicht im Vordergrund, wie er im Hinblick auf die während der „Ricardoschen Periode der politischen Ökonomie," d.h. etwa in den 1820er Jahren aufkommenden kommunistischen und sozialistischen Bewegungen bemerkt. Dieser „Gegensatz", der auch die dann von Marx ausführlich kritisierten ricardianischen Sozialisten einschließt, steht für Marx außerhalb seines theoretischen Projektes: „Unsrem Plan gemäß haben wir es hier ... nur zu tun mit dem Gegensatz, der selbst von den Voraussetzungen der Ökonomen ausgeht",55 d.h. mit den immanenten Widersprüchen des von Ricardo56 begründeten Ansatzes der politischen Ökonomie. Marx verfolgt also ein wesentlich ehrgeizigeres Programm als es die Abschilderung der augenblicklichen gesellschaftlichen Wirklichkeit und ein mögliches Verdammnisurteil je hätten sein können. Es geht ihm um die „Kategorien" der bürgerlichen Ökonomie und ihre immanenten Widersprüche, den „Versuch ..., eine Wissenschaft in ihrem eignen inneren Zusammenhang zu entwickeln". In diesem methodischen Zugriff liegt die eigentliche Anknüpfung an Hegel.57 Das ist auch der Sinn des Titels, den Marx seinem ganzen Unternehmen gegeben hatte: Kritik der politischen Ökonomie. Dennoch kann gesagt werden, dieser Titel sei nicht ganz eindeutig.58 Auf den ersten Blick könnte sich die Kritik nämlich entweder auf die Kategorien als solche richten, oder auf die Versuche zur gedanklichen Konstruktion bzw. Rekonstruktion dieser Kategorien, die eigentliche Theorie. Wie sich bei etwas näherem Hinsehen zeigt, ist freilich beides nicht voneinander zu trennen. Auch wenn man annimmt, die Kategorien der politischen Ökonomie - oder einer anderen Sozialwissenschaft: - seien mehr oder weniger objektiv gegeben, so liegen sie doch jedenfalls nicht offen zutage. Die Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit und die Ebene ihrer (Re-)Konstruktion, die Aussagen über diese Wirklichkeit erst ermöglicht, sind also gar nicht voneinander zu trennen.59 Oder auch: Jegliche Beobachtung gesellschaftlicher Zusammenhänge (wie beispielsweise derjenigen, die in der politischen Ökonomie behandelt werden) kann letztlich nicht dem Problem entgehen, daß der Standpunkt des Beobachters seine Ergebnisse wesentlich mit beeinflußt, aber nur kontrolliert werden kann durch die Beobachtung des Beobachters selbst,60 die offenkundig wiederum vor demselben Problem steht, usw. usf. Es handelt sich um ein Erkenntnisdilemma, einen unvermeidlichen infiniten Regreß. Dies hat Marx wohl nicht so gesehen, doch belegen auch die neueren Formulierungen des Problems in erster Linie, daß sich bei der Analyse gesellschaftlicher Probleme schwerlich eine „absolute" Wahrheit wird finden lassen, daß wir nicht umhin können, uns mit der Konkurrenz unterschiedlicher Ansätze und Ansprüche auf überlegene Lösungen zu arrangieren und 32
vielleicht auch eine Stärke aus den darin implizierten unterschiedlichen Blickwinkeln zu gewinnen. Auch dies hat Marx vermutlich anders gesehen. Wie wir noch sehen werden, war seine Haltung zum vorherrschenden Szientismus seines Zeitalters bestenfalls ambivalent, und er glaubte daher, exakte und objektive Wahrheiten aufdecken zu können. Doch seine Lösung des Erkenntnisproblems, zur inneren Struktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft vorzudringen, ist einer solchen Sichtweise weit voraus. Mehr noch: Marx war sich des Problems der gedanklichen Konstruktion sozialwissenschaftlicher Kategorien durchaus bewußt: „Das Ganze, wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der künstlerischen, religiösen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt. Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben."61 Alle anderen Kategorien lassen sich dieser Überlegung nach überhaupt nur bilden, d.h. in der „Vorstellung" fassen, wenn nicht nur ihre Gesellschaftlichkeit mitzudenken ist, sondern diese eben nicht ein empirisches, sondern ein „Gedankenganzes" darstellt. Dennoch wendet Marx sich gegen die Hegeische Annahme, „der Denkprozeß" sei „der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet". Das hieße, eine empirische Realität bestünde nicht eigentlich außerhalb der Arbeit des Kopfes. Nach Marx aber soll dieser die Realität begreifen, doch bedeutet dies, er muß sie - in heutiger Terminologie - (rekonstruieren: „Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle."62 D.h. in der begrifflichen Arbeit, die Marx als die Methode bezeichnete, „vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen," muß zwar „das Denken", um „sich das Konkrete anzueignen," dieses „als ein geistig Konkretes reproduzieren", doch ist dies „keineswegs ... der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst".63 Die Arbeit des Kopfes schafft in dieser Weise nicht die Wirklichkeit, sondern sie eignet sie an, „reproduziert", „übersetzt" sie, d.h. nichts anderes, als daß sie die Wirklichkeit interpretiert. Jedenfalls ist dieses Vorgehen weit davon entfernt, dem Fehler zu verfallen, den Marx einmal den „Engländern" nachsagt, nämlich „die erste empirische Erscheinungsform einer Sache als ihren Grund zu betrachten".64 Dennoch wäre es verfehlt und anachronistisch, Marx nun als Konstruktivisten zu verstehen, auch wenn wir meinen, daß der gegenwärtige Konstruktivismus einiges bei ihm lernen könnte. Marx hat sich zu den heute diskutierten epistemologischen Probleme nicht äußern können. Dekonstruktion und Poststrukturalismus widersprechen deutlich seinem realistischen Habitus. Aus seiner Sicht lassen 33
sich die „Verhältnisse", in modernerer Sprache: die sozialen Strukturen, sicherlich nicht unmittelbar beobachten. Durch den ideologischen Schleier, der diese Verhältnisse umgibt, glaubte er aber vorstoßen zu können zu harten, objektiven Sachverhalten, die es aus (radikal) konstruktivistischer Sicht ja nicht gibt. Marx konnte unter diesen Voraussetzungen jedenfalls nicht den scheinbar geraden Weg einschlagen, etwa mittels statistischer Methoden die Krisenhaftigkeit und den absehbaren Zusammenbruch der kapitalistischen Ökonomie „empirisch" zu belegen,65 sondern den scheinbar beschwerlicheren der eingehenden „Kritik" der Kategorien, die für solche Analysen entwickelt worden waren. Das bedeutete die Entschlüsselung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die in diesen Kategorien konzentriert zum Ausdruck gebracht wurden. Damit läßt sich zugleich denken, daß nicht jede beliebige Schrift zu ökonomischen Problemen für ein solches Verfahren infrage kommt. Zunächst einmal wurde zur Zeit von Marx mit „politische Ökonomie" der beachtliche Theoriekomplex bezeichnet, den vorwiegend britische Autoren während der vorausgegangenen anderthalb Jahrhunderte zur Analyse wirtschaftlicher Vorgänge erarbeitet hatten. Es war im Großbritannien des 19. Jahrhunderts alltägliche Praxis, daß die für objektiv richtig, unumstößlich, als Sachzwänge nicht anfechtbar erklärten Lehren dieser politischen Ökonomie ins Feld geführt wurden, um den Nachweis zu führen, bestimmte Forderungen, etwa nach Lohnerhöhung, vor allem aber nach der Regulierung der Arbeitsbedingungen und nach einer Verkürzung des Arbeitstages seien gefährlich und unsinnig, weil sie gegen diese Lehrsätze verstießen. Unterweisung in „politischer Ökonomie" bildete auch einen wesentlichen Inhalt von mittelständischen Initiativen zur Arbeiterbildung.66 Ohne daß der inzwischen etwas aus der Mode gekommene oder semantisch verschobene Terminus „politische Ökonomie" dabei fiele, können wir uns eine Vorstellung von dieser Argumentationsweise durch einen Blick in die Wirtschaftsseiten der meisten unserer Tageszeitungen verschaffen. Hier wie im 19. Jahrhundert überschneiden sich wissenschaftliche Argumentation und gesellschaftliche Auseinandersetzung etwa im Fall der bis heute anhaltenden Kämpfe um die Länge des Arbeitstages, der Arbeitswoche oder der Lebensarbeitszeit, kurz um eine der wichtigsten Rahmenbedingungen kapitalistischer Produktion, die schon frühzeitig - in Großbritannien seit 1833 - staatlicher Regulierung unterlag. Auch in den frühen Phasen der Fabrikgesetzgebung wurden solche vorgeblich unumstößlichen Wahrheiten vorzugsweise gegen die Begrenzung der Arbeitszeit ins Feld geführt, beispielsweise die durch die Marxsche Kritik unvergeßlich gewordene „Seniors letzte Stunde." Mit dem Argument, der Reingewinn des Kapitalisten werde erst in der letzten Stunde des Arbeitstages geschaffen, wollte der Ökonom Senior den Nachweis führen, jegliche Verkürzung der Arbeits34
zeit müsse unweigerlich zum Zusammenbruch der britischen Wirtschaft führen.67 Solche Thesen mögen aus heutiger Sicht eher skurril erscheinen, doch illustrieren sie nach wie vor die Art und Weise, wie Interessenpolitik mit dem Mantel der Wissenschaftlichkeit umgeben wird. Die Suche nach aktuelleren Parallelbeispielen ist lohnend. Freilich würde es kaum verlohnt haben, derartig vordergründiger Ideologie die jahrzehntelange Anstrengung kategorialer Rekonstruktion zu widmen. In der Tat hatte Marx für „Vulgärökonomie" dieses Schlages hauptsächlich Spott und Hohn. Die Kritik der politischen Ökonomie dagegen sollte dem Anspruch gerecht werden, „daß die Ökonomie nicht nur eine nährende Kuh ist, die uns mit Butter versorgt, sondern eine Wissenschaft, die einen ernsten und eifrigen Kultus verlangt".68 Der zentrale Einwand gegen die Vulgärökonomie richtet sich eben dagegen, daß sie es an diesem „ernsten und eifrigen Kultus" habe fehlen lassen und verweist zugleich auf ihre damit in engstem Zusammenhang stehende vordergründige Bindung an Interessen: „Einen Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrtümlich sie immer sein mag), sondern von außen, ihr fremden, äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu akkommodieren sucht, nenne ich 'gemein'."69 Dies ist hier streng im Sinne der Ehrlosigkeit oder eben des „vulgären" Verstoßes gegenüber dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität und auch Distanz gemeint. Vor allem aber geht es um die Forderung nach konsistenter, logisch konsequenter Begrifflichkeit. Dabei spielen Werturteile in der Sache gerade keine Rolle. Entscheidend ist vielmehr die wissenschaftliche Ernsthaftigkeit, wie Marx präzisiert: „Es ist nicht gemein von Ricardo, wenn er die Proletarier der Maschinerie oder dem Lastvieh oder der Ware gleichsetzt, weil es die 'Produktion' (von seinem Standpunkt aus) befördert, daß sie bloß Maschinerie oder Lastvieh oder weil sie wirklich bloß Waren in der bürgerlichen Produktion seien. Es ist dies stoisch, objektiv, wissenschaftlich. Soweit es ohne Sünde gegen seine Wissenschaft geschehn kann, ist Ricardo immer Philanthrop." Dagegen ordne der Vulgärökonom, in diesem Fall Thomas Malthus, die von ihm vertretenen Thesen „dem Sonderinteresse bestehender herrschender Klassen oder Klassenfraktionen" unter, „zu diesem Zweck verfälscht er seine wissenschaftlichen Schlußfolgerungen".70 Die „Vulgärökonomie", die natürlich für sich ebenso in Anspruch nahm, politische Ökonomie zu sein, unterscheidet sich demnach von ernstzunehmender Wissenschaft in Marxens Augen vor allem durch ihre vordergründige Interessengebundenheit und die daraus entspringende, interessengeleitete Inkonsequenz im Aufbau und in der Reflexion ihrer Kategorien. Demgegenüber soll sich die Kritik der politischen Ökonomie in erster Linie auszeichnen durch „rücksichtslose Konsequenz ... aus wissenschaftlichen Vordersätzen", im Gegensatz zur „rücksichtsvollen" der Vulgärökonomen.71 Wenn es 35
gelingt, die mit derart vorbehaltloser Rigorosität konstruierten Kategorien auf ihre Bruchstellen und Widersprüche hin zu überprüfen, so kann damit ein Weg gefunden werden, um die Verhältnisse zu dechiffrieren, die der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zugrunde liegen, ihre Erscheinungsform zu bestimmen. Die gesamte Anstrengung wäre natürlich überflüssig, wenn diese Verhältnisse so wären, wie es den Anschein hat. Für Marx ist es gerade „ein Werk der Wissenschaft ..., die sichtbare, bloß erscheinende Bewegung auf die innere wirkliche Bewegung zu reduzieren".72 Das Unternehmen geht daher von der Voraussetzung aus, daß dies nicht der Fall ist, daß vielmehr auch ehrliches Bemühung und begriffliche Konsequenz nicht notwendig zum verborgenen Kern der Verhältnisse vordringen können. Es geht bei der Kritik der politischen Ökonomie daher nicht in erster Linie um den Nachweis einfacher Irrtümer oder auch Denkfehler dieser oder jener Autoren, obwohl Marx auf solche Schwächen immer wieder hinweist. Vielmehr sollen die immanenten Widersprüche der politischen Ökonomie als Wissenschaft als Wegweiser dienen, die auf die realen gesellschaftlichen Widersprüche hinführen. Die theoretischen Widersprüche werden gleichsam als deren Repräsentation der realgesellschaftlichen verstanden. Deshalb ist die Kritik der politischen Ökonomie auch in ihrem Kern nicht einfach Ideologiekritik in dem vordergründigen Sinn, in dem sie gegen die Vulgärokonomie gerichtet wird. Wer ernsthaft Wissenschaft betreibt, verschleiert nicht mutwillig, deshalb sind Widersprüche hier im Kontext der Marxschen Methode aussagekräftig. Die politische Ökonomie, um die es hier geht, ist in Marxens Augen zwar einerseits aus dem Grunde ideologisch, daß sie ein verzerrtes Bild der Verhältnisse darstellt; andererseits aber liegt die eigentliche Herausforderung für die zu leistende Ideologiekritik darin, daß es sich eben nicht etwa um bewußte Verdrehungen und Verfälschungen handelt. Das ist ja gerade gegen die Vulgärökonomie. Als ernstzunehmender Gegenstand der Kritik zeichnet sich die politische Ökonomie gerade dadurch aus, daß sie nicht anders kann, als die Verhältnisse widersprüchlich darzustellen, und daß die Aufklärung dieser Widersprüche den Schlüssel liefert zur Entschleierung der Verhältnisse. Die Verhältnisse selbst, zusätzlich aber auch deren jeweiliger Entwicklungsstand beschränken nämlich den gesellschaftlichen Horizont noch der von Marx am höchsten geschätzten Vertreter der politischen Ökonomie. Denn diese Wissenschaft selbst sieht Marx in einer dialektischen Beziehung zur Entfaltung und Reifung der kapitalistischen Verhältnisse, die sie in erster Linie zu ihrem Gegenstand hat: Adam Smith konnte demzufolge noch nicht die Kategorien entwickeln, die David Ricardo vierzig Jahre später zugänglich waren, und beiden war der Blick auf die Geschichtlichkeit und damit auch Vergänglichkeit der behandelten Verhältnisse verstellt, die wiederum eine Generation später Richard Jones erkennen konnte, der „keineswegs das Kapitalverhältnis für ein 36
ewiges Verhältnis hielt": „Wir sehn hier wie die wirkliche Wissenschaft der politischen Ökonomie damit endet, die bürgerliche Produktionsverhältnisse als bloß historische aufzufassen, die zu höhren leiten, worin der Antagonismus, auf dem sie beruhn, aufgelöst ist."73 Die Kritik richtet sich demnach nicht auf ein festes, überzeitliches Theoriegebäude, sondern sucht zusätzlich zur detaillierten Analyse der Kategorien die „wirkliche Wissenschaft der politischen Ökonomie" selbst als einen auf die gesellschaftliche Entwicklung bezogenen, offenen Erkenntnisprozeß zu begreifen. Die Bemerkungen zu Jones haben freilich angedeutet, daß Marx darin kein endloses Fortschreiten erblickte. Dieser Prozeß stößt vielmehr an dem Punkt auf eine historische Schranke, an dem er seine eigenen Voraussetzungen nicht nur argumentativ, sondern historisch-praktisch negieren müßte, gerade weil die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft selbst in einem Entwicklungsstadium angekommen ist, in dem ihre immanente Tendenz, die sie „zu höhren" Verhältnissen überleitet, auf die Tagesordnung gesetzt ist. Wie Marx bereits gemeinsam mit Engels im Kommunistischen Manifest verdeutlicht hatte,74 hielt er genau hier die historische Mission der Bourgeoisie als zunächst, während einer bestimmten historischen Periode, revolutionärer Klasse für erfüllt, und die politische Ökonomie stand konsequenterweise historisch vor der Alternative, entweder in Apologetik abzugleiten oder sich der Herausforderung zu stellen, die mit der „Kritik im Handgemenge" bezeichnet ist, d.h. sich die Vergänglichkeit der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse einzugestehen und diese Einsicht theoretisch, aber auch praktisch-politisch zu vollziehen.75 Ein „unbefangenes Studium" der „modernen ökonomischen Verhältnisse" aber ließ diese historische Situation „nicht länger zu". Die „bürgerliche Wissenschaft der Ökonomie (war)... bei ihrer unüberschreitbaren Schranke angelangt."76 Damit ist ein hoher Anspruch gestellt: Die Kritik der politischen Ökonomie soll sehr wohl in der Lage sein, diese Schranke zu überschreiten. Sie tut dies in Marxens Augen vor allem durch die Lösung der Widersprüche, die auch den bedeutendsten Vertretern der bürgerlichen politischen Ökonomie wie Adam Smith und David Ricardo undurchschaubar geblieben waren. Das gilt in erster Linie für die Entschleierung der Entstehung des Mehrwerts, die Marx nicht etwa als Betrug des Kapitalisten an den Arbeitenden, sondern als systemische Konsequenz eines formal gleichen und im Rahmen der kapitalistischen Verhältnisse „gerechten" Austausches analysierte. Die Konsequenz der Kritik der politischen Ökonomie ist daher bei allen theoretischen Ansprüchen doch eminent politisch in einem sehr praktischen Sinn: Sie legt den Ausbeutungscharakter des Kapitalismus als eines gesellschaftlichen Systems offen. Dieser Ausbeutungscharakter ist daher aus Marxscher Sicht prinzipiell nicht durch Reformen zu beseitigen, sondern allein durch die Überwindung des Systems selbst. 37
Gerade aus solchen Gründen kann denn auch die Kritik der politischen Ökonomie nicht als positive Wissenschaft verstanden werden. Sie kann gesellschaftliche Verhältnisse dechiffrieren und damit Entscheidendes zu ihrem besseren Verständnis und auch zu ihrer Erklärung beitragen. Es wäre aber verfehlt, an sie die Erwartung zu richten, sie könne unmittelbare Aussagen über Empirie und erst recht Handlungsanweisungen bereithalten. Denn in erster Linie behandelt sie die gesellschaftlichen „Tiefenstrukturen" der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die selbst nicht auf der Erscheinungsebene auftreten, sondern die beobachtbaren Erscheinungsformen an der Oberfläche erst hervorrufen,77 eben aus dem Grund nicht platt auf der Hand liegen, weil sie von den bloßen Erscheinungsformen aus fundamentalen Gründen abweichen. Was die Kritik der politischen Ökonomie daher sehr wohl leistet, ist die detaillierte Analyse eben dieser Gründe, der ökonomischen Kategorien und ihrer „Bewegung". Deshalb hat Marx in seiner Analyse der Reproduktion der kapitalistischen Wirtschaft beispielsweise nicht eine Anweisung formuliert, wie möglicherweise eine Volkswirtschaft in ein harmonisches Gleichgewicht gebracht werden könnte, sondern er hat aufgezeigt, wie sich die verschiedenen Komponenten einer Jahresproduktion zueinander verhalten und gegenseitig austauschen - also Produktionsmittel oder Kapitalgüter, Lohn oder Konsumgüter und schließlich der Mehrwert, der sich aufteilt in neue Investitionen und Luxuskonsum.78 Dabei geht es natürlich auch um die Proportionalität, die verhältnismäßigen Größen der jeweiligen .Abteilungen", entscheidend aber ist die Konkretion eines dynamischen und komplexen Systems: „Die Kreisläufe der individuellen Kapitale verschlingen sich ... ineinander, setzen sich voraus und bedingen einander, und bilden gerade in dieser Verschlingung die Bewegung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals."79 Und es wäre hinzuzufügen, daß auch hier der Zusammenhang des Gesamtkapitals und seine Bewegungen keine unmittelbar zu konstatierenden Fakten sind, sondern eben Konstrukte, die sich nur unter der Voraussetzung erschließen, daß im Kopf bereits die Vorstellung vom Gesamtkapital sowie darin impliziert auch der Gesamtgesellschaft, kurz einer übergreifenden „Totalität",80 mitgedacht und festgehalten wird.81 Es kommt hinzu, daß Marx seine Argumentation in der endgültigen Version des Kapital an einer Abfolge von Abstraktionsniveaus orientiert hat, die von der allgemeinsten Kategorie, der Ware, aufsteigt zu konkreteren Bestimmungen des Kapitalverhältnisses und der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Dies ist auch der systematische Grund dafür, daß zentrale Fragestellungen und Kategorien im Verlauf der Analyse wiederholt aufgenommen werden, jedoch jeweils auf unterschiedlichen Ebenen der Konkretion. So werden die allgemeinsten Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation, die Schrankenlosigkeit des Kapitals, seine Tendenz zur Freisetzung von Arbeitskraft und Bildung einer industriellen Reserve38
armee und schließlich als Grenze des Systems und seiner Expansion, die Tendenz zur Selbstaufhebung und zum Zusammenbruch des gesamten Systems als Moment des Akkumulationsprozesses im ersten Band des Kapital entwickelt; die Austauschbeziehungen und die Prozesse der Zirkulation, die notwendig sind, damit diese „erweiterte Reproduktion" im Prinzip stattfinden kann, werden in der Form eines formalen Modells, der berühmten Reproduktionsschemata, im zweiten Band behandelt; und die Berücksichtigung der Wirkung von Kredit und Zins auf die Reproduktion im dritten Band stellt eine weitere Konkretionsstufe dar, die insbesondere auf den damit zusammenhängenden Krisenmechanismus verweist. Gerade ein Verständnis der Kapital-Schriften geht fehl, wenn es sich nicht jeweils Rechenschaft ablegt von dem Abstraktionsniveau der jeweiligen Argumentation, wie dies hier nur in groben Zügen und nur an dem herausragenden Beispiel der Akkumulation und Reproduktion skizziert werden konnte. Dies ist freilich ein Aspekt des Marxschen Werkes, dem besondere Bedeutung zukommt aufgrund der ausgedehnten Debatten, die sich hier angeschlossen und die auch sehr handfeste Konsequenzen gezeitigt haben. Das, wie man es nennen könnte, realistische oder empiristische Mißverständnis der Marxschen Reproduktionsschemata hat nicht nur entscheidend die Debatte über die Möglichkeit einer kapitalistischen Entwicklung in Rußland und damit von Grundannahmen der sich herausbildenden bolschewistischen Theorie geprägt. Die Verwechslung eines „heuristischen Prinzips"82 und abstrakten Modells mit einer empirischen Aussage über Gleichgewichtsverhältnisse und über die reale Möglichkeit eines harmonischen kapitalistischen Wachstums läßt sich bei fast allen Beteiligten der Kontroverse, d.h. bei allen führenden marxistischen Theoretikern der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg konstatieren.83 Dieser Umstand ist nicht allein von theoriehistorischem Interesse, weil aus dieser, vom Abstraktionsniveau des Modells absehenden Fehlinterpretation nicht nur Schlüsse über die Möglichkeiten kapitalistischer Entwicklung gezogen wurden, sondern auch über die möglichen Formen und Bedingungen sozialistischer Planung. Weil die empiristische Fehlinterpretation der Reproduktionsschemata die Frage der Akkumulation von der Marxschen Krisentheorie konzeptionell abgekoppelt hatte, konnte daraus der harmonistische Schluß gezogen werden, auch die Krisen des Kapitalismus entstünden letztlich vor allem durch „Disproportionen" zwischen einzelnen Branchen und Sektoren, die durch eine zentralisierte Planung kontrolliert werden könnten. Auf diese Weise konnte das abstrakte Modell kapitalistischer Reproduktion aus dem zweiten Band des Kapital, wie es konzentriert in den Reproduktionsschemata enthalten ist, eine überraschende Karriere als Grundlage für die gesamte, dem proklamierten Anspruch nach sozialistische Planungskonzeption des Sowjetregimes antreten.84 39
Wo Marx selbst von einer „politischen Ökonomie der Arbeiterklasse" sprach, verwies er auf praktische Entwicklungen im Zusammenhang mit der gesetzlichen Verkürzung der Arbeitszeit auf zehn Stunden in Großbritannien sowie mit der Kooperativbewegung. Die Arbeitszeitverkürzung war für ihn vor allem „der Sieg eines Prinzips", das im klaren Gegensatz zur „politische(n) Ökonomie der Mittelklasse" stand, die an dieser Stelle in der „blinden Herrschaft des Gesetzes von Nachfrage und Zufuhr" resümiert wurde. Diese Unterstellung ebenso wie die Thesen von Senior und anderen über die angeblich desaströsen Folgen einer Arbeitszeitverkürzung sah Marx in den von ihm angeführten und zu zentralen Errungenschaften erklärten Entwicklungen als praktisch widerlegt an.85 Gerade in dieser Perspektive wird noch einmal deutlich, daß es in der politischen Ökonomie wie in der Kritik um die Definition der bestehenden Verhältnisse und damit auch um die Bestimmung des jeweils gesellschaftlich Möglichen ging. Heutige, meist unter neoliberalen, quasi-betriebswirtschaftlichen Prämissen geführte Debatten über das „Machbare" unterscheiden sich davon nicht grundsätzlich, sieht man von der allerdings aus Marxscher Perspektive wohl entscheidenden Tatsache ab, daß ihnen die Fragestellung einer grundlegenden gesellschaftlichen Alternative weitgehend abhanden gekommen zu sein scheint. Das kann freilich im Grunde nur unterstreichen, daß diese Debatten durchgängig um Hegemonie, d.h. um die Bestimmung des herrschenden gesellschaftlichen Diskurses geführt werden. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es wesentlich, noch einmal den Gegenstand der politischen Ökonomie in den Blick zu nehmen. Noch die dem eigenen Anspruch nach radikale Kritik ist nämlich in ihrer thematischen Spannbreite wesentlich bestimmt durch die Vorgaben der klassischen Texte. Auch als seriöse, aus der Sicht der Kritik ernstzunehmende Wissenschaft betrachtet die politische Ökonomie die Verhältnisse geradezu unwillkürlich aus der Sicht des Kapitals. Das läßt sich ganz allgemein auf die bereits oben angesprochene Tatsache zurückführen, daß es einen gleichsam archimedischen Punkt nicht gibt, von dem aus sich die Gesellschaft wenn schon nicht aus den Angeln heben, so doch von außen beobachten, analysieren oder „kritisieren" ließe. Marx glaubte vermutlich, durch sein Programm der radikalen Kritik dem so bezeichneten Dilemma entgehen zu können. Er hat sich jedenfalls nicht genauer zu diesem Problem geäußert. Indem er jedoch der Logik der Kategorien der politischen Ökonomie nachspürt, ihre Bruchstellen aufdeckt und diese überbietende, die Verhältnisse bloßlegende Lösungsvorschläge erarbeitet, bleibt er letztlich zumindest über weite Strecken in diesem Bezugsrahmen befangen. Das zeigt sich vor allem an den besonders aus heutiger Sicht zentralen Stellen, wo es um die Potentiale geht, die das Kapital als „Gratisproduktivkräfte" aneignet, Natur und nicht entlohnte Arbeit. Marx greift gerade das letztgenannte 40
Problem zwar in seiner eingehenden Auseinandersetzung mit dem Paradox der produktiven und unproduktiven Arbeit auf und verweist auf die damit implizite Verkehrung der Verhältnisse unter der Kapitalherrschaft.86 Er erkennt aber nicht die damit implizierten Herrschaftsverhältnisse vor allem auf der Ebene der Geschlechterbeziehungen, wie sie teilweise in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie vor allem in der Debatte über die Hausarbeit herausgearbeitet worden sind. Dieser „blinde Fleck" 87 der Marxschen Theorie hängt offenkundig damit zusammen, daß die gesamte, auf dem Begriff des Wertes aufbauende Konzeption 88 letztlich ausgerichtet ist auf ein Verständnis der Bewegungsformen, der Krisen und des „Verwertungsprozesses" des Kapitals. Das Kapital aber kann Natur - soweit sie nicht durch die Dazwischenkunft „außerökonomische" Gewalt monopolisiert und abgegrenzt ist - ebenso wie nicht entlohnte Arbeit „gratis" und damit für die Diskussion des Wertes im Sinne der politischen Ökonomie folgenlos aneignen.89 In der Kritik der politischen Ökonomie werden die Konsequenzen zwar für eine aufmerksame Lektüre erschließbar, vor allem in der Diskussion der „Naturschranken", auf die das Kapital beständig stößt, nämlich die Natur und die - durch nicht entlohnte Arbeit beständig reproduzierte - Arbeitskraft selbst.90 Im Gegensatz zu anderen91 glauben wir nicht, daß Marx das damit durchaus gegebene kritische Potential auch wirklich bereits identifiziert oder gar expliziert hätte. Insofern ist das ideologiekritische Programm der Kritik der politischen Ökonomie in diesen Richtungen unausgeführt geblieben. Das ist in historisch veränderten Situationen erkennbar geworden, nicht so sehr, weil sich die Verhältnisse in ihren Grundstrukturen geändert hätten, sondern weil diese „Naturschranken" durch soziale Bewegungen als gesellschaftliche Problemstellungen aufgeworfen worden sind. Es ist daher eine besondere Herausforderung für eine zeitgemäße Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie, solche Anknüpfungspunkte aufzuzeigen und weiterzuführen, die es gerade in den beiden angegebenen zentralen Themenbereichen erlauben, Kernaussagen der Marxschen Theorie für die aktuellen Anliegen furchtbar zu machen. Es wäre freilich eine Illusion zu glauben, mit der Aufhellung solcher „blinder Flecken" seien in irgendeiner Weise abschließende Erkenntnisfortschritte zu erreichen. Das hieße, die Augen vor dem epistemologischen Grundproblem zu verschließen. Auch unter diesem Aspekt ist die an Marx zu richtende Kritik selbst historisch und entstammt einer Lektüre seiner Arbeiten, die sich bewußt ist, daß sie sich der ihm zeitgenössischen Problemen vergewissern muß, die aber zugleich wesentlich an den Fragestellungen orientiert ist, die die aktuelle Entwicklung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems aufgeworfen hat.
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1.4.2 Das Konzept der Formbestimmtheit Bei der Marxschen Analyse der zentralen ökonomischen Kategorien, also der verborgenen grundlegenden Beziehungen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, kommt nun der „Form" dieser Beziehungen ein zentraler Stellenwert zu.92 Entscheidend für diese Analyse ist nicht, daß etwas der Fall ist, sondern wie es der Fall ist. Dies entspricht auch dem zuvor zitierten strikten und emphatischen Anspruch auf eine Wissenschaftlichkeit, die zumindest in ihrer eigenen Sphäre auf Distanz zu achten hat. So ist es für Marx weniger interessant, daß etwa die Arbeiterklasse im Kapitalismus Objekt der Ausbeutung und - wie oben in einer Paraphrase Ricardos erwähnt - auch der Entwürdigung durch ihre faktische Einreihung unter die sachlichen Produktionsmittel des Kapitals ist. Ihn interessiert vielmehr in erster Linie, wie dies geschieht, d.h. die Form der Ausbeutung und die Form der Versachlichung. Wenn diese Leitlinie befolgt wird, ergibt sich zunächst auf konzeptioneller Ebene die Möglichkeit und die Notwendigkeit der historischen Differenzierung und Spezifizierung. Es ist beispielsweise kaum strittig, daß Sklaven in der Antike ausgebeutet und - nach dem autoritativen Zeugnis des Aristoteles, der von einer „beseelten Sache" sprach93 - auch als Sachen behandelt, nicht zuletzt ge- und verhandelt und daher als Menschen entwürdigt wurden. Und nicht nur im 19. Jahrhundert wird ja vielfach gegen die kapitalistische Wirtschaftsweise und die Lohnarbeit vorgebracht, daß hier Arbeiterinnen und Arbeiter als Ware verkauft würden. Dem entspricht die einprägsame Metapher von der Lohnsklaverei. Marx hat einen erheblichen Teil seiner Kritik der politischen Ökonomie darauf verwandt, solche Sichtweisen zu überwinden, ohne die Kritik an den in dieser Weise angeklagten Verhältnissen deshalb aufzugeben. Dies ist vor allem möglich durch die Leitfrage nach der Formbestimmtheit des jeweiligen Verhältnisses. Sie zeigt in dem einfachen, zu Illustrationszwecken gewählten Beispiel ganz deutlich, daß die Sklaven unmittelbar der Gewalt ihrer Herren unterworfen waren, und zwar unterschiedslos, ob sie gerade arbeiteten, aßen oder schliefen. Die Verfügungsgewalt des Fabrikherrn94 - oder abstrakter, der Kapitalinstanz - dagegen endet in der Regel95 mit der aktiven Arbeitszeit. Zudem besteht für Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter im Prinzip die Möglichkeit, das Unternehmen, den Kapitalisten zu wechseln. Sie sind andererseits durch ihre Lage, daß sie keine andere Möglichkeit zum Leben haben als die möglichst kontinuierliche Lohnarbeit, an die Klasse der Kapitaleigentümer, die Bourgeoisie gekettet, nicht aber an den einzelnen Bourgeois. Und der Warentausch findet ferner im Lohnverhältnis beständig in der Form der Zahlung des Lohnes gegen die Arbeitsleistung statt,96 also als kontinuierliche Bedingung für die Erbringung dieser Leistung. Kontraktpartner sind 42
ferner die Trägerinnen und Träger der Arbeitskraft, weil sie unbestritten über die eigene Person verfügen können und insofern „Eigentümer" sind. Dagegen kommt eine solche Transaktion auf dem Markt im Fall der Sklaven nur punktuell und gelegentlich vor, und manchmal findet sie ein Leben lang nicht statt; Sklaven sind ferner in der Regel Eigentum einer bestimmten anderen Person, sehr selten einer Gruppe, und allenfalls im ganz untypischen Fall, in dem Staaten die Eigentümer von Sklaven sind, kann auch nur näherungsweise die Rede davon sein, das Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis beziehe sich auf eine „Klasse" in ihrer Gesamtheit. Demnach gibt es für Marx durchaus „die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion", aber diese „sind nichts als ... abstrakte Momente, mit denen keine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen ist".97 Diese Überlegungen sollen verdeutlichen, daß zu einem adäquaten Verständnis sowohl der Sklaven- als auch der Lohnarbeitsbeziehung allgemeine Feststellungen über Unterdrückung, Ausbeutung, Entrechtung oder Entwürdigung wenig aussagekräftig sind, so berechtigt die darin zum Ausdruck gebrachte Entrüstung auch sein mag. Es handelt sich um schlechte, irreführende Abstraktionen deswegen, weil sie uns nicht erlauben, zwischen verschiedenen Formen zu unterscheiden, die die Beziehungen annehmen, die Menschen für die Produktion der Güter eingehen - oder eingehen müssen -, die zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse oder derjenigen von anderen erforderlich sind. Die Frage nach der Form dieser Beziehungen - Marx bezeichnet sie gelegentlich als „Produktionsverhältnisse" - ermöglicht uns also zunächst eine begriffliche, kategoriale Unterscheidung unterschiedlicher historischer Zusammenhänge, d.h. von Gesellschaftsformen, die sich nach Marx vor allem interessierenden Tiefenstrukturen unterscheiden. Allgemein formuliert Marx - am Gegensatz zwischen dem Sklaven- und dem Lohnarbeitsverhältnis - den zentralen Sinn der Frage nach der Formbestimmung und gibt dabei zugleich die Geltungsreichweite unterschiedlicher Kategorien an: „Welches immer die gesellschaftlichen Formen der Produktion, Arbeiter und Produktionsmittel bleiben stets ihre Faktoren. Aber die einen und die andern sind dies nur der Möglichkeit nach im Zustand ihrer Trennung voneinander. Damit überhaupt produziert werden kann, müssen sie sich verbinden. Die besondre Art und Weise, worin diese Verbindung bewerkstelligt wird, unterscheidet die verschiednen ökonomischen Epochen der Gesellschaftsstruktur."98 Es handelt sich hier um die allgemeinsten Bestimmungen zum Verhältnis arbeitender Menschen zu den Gegenständen, mit denen sie arbeiten und die sie bearbeiten - ihren Produktionsmitteln. In dieser Allgemeinheit können diese Begriffe nur wenig aussagekräftig sein: Auf dieser Ebene läßt sich nicht viel mehr sagen, als daß die Menschen in irgendeiner Weise in die Lage versetzt werden müssen, ihr Werkzeug in die Hand zu nehmen und ihren Arbeitsgegenstand in 43
Reichweite zu haben. Das ist banal, fast nichtssagend. Marx wendet sich nun gerade dagegen, daß dieser Banalität, dieser zunächst wenig aussagekräftigen Allgemeinheit, stillschweigend Aussagen auf einer weit höheren Konkretionsebene unterschoben werden. Das wird klar an der Kritik, die Marx gegen die seinerzeit „epochemachende" Schrift von Pierre-Joseph Proudhon Qu'est<e que la propriété? 99 formulierte: Proudhon habe es versäumt zu spezifizieren, daß es ihm nicht etwa um die „antiken ,Eigentumsverhältnisse'" ging oder um die „feudalen", an denen „die Geschichte selbst" bereits ihre „Kritik ... ausgeübt" hatte. Vielmehr richtete sich Proudhons frühe Schrift gegen „das bestehende modern-bürgerliche Eigentum". Damit war aber bereits das benannt, was zum Kern des Marxschen Forschungsprogramms werden sollte: „Auf die Frage, was dies sei, konnte nur geantwortet werden durch eine kritische Analyse der 'politischen Ökonomie', die das Ganze jener Eigentumsverhältnisse, nicht in ihrem juristischen Ausdruck als Willensverhältnisse, sondern in ihrer realen Gestalt, d.h. als Produktionsverhältnisse, umfaßte."100 Über Eigentum ganz im Allgemeinen, ohne historische Spezifizierung, d.h. ohne Berücksichtigung seiner gesellschaftlichen Formbestimmung zu reden, ist demgegenüber irreführend. Wenn wir daher weiter fragen, wie die Menschen sich zu ihren Arbeitsmitteln verhalten, wie es möglich wird, daß sie ihre Arbeitsmittel in die Hand nehmen und welches die gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen dafür sind, dann sind wir - in Marxschen Kategorien - schon bei der historischen Formbestimmung der Produktionsverhältnisse. Freilich fallen nicht-kapitalistische Gesellschaften - vormoderne ebenso wie die von Marx erhoffte sozialistisch-kommunistische Zukunftsgesellschaft - aus der kategorialen Analyse der Kritik der politischen Ökonomie heraus. Sie kommen dort aber - wie soeben bereits skizziert - in zahlreichen Verweisen auf Kontrastfälle zu den systematisch erörterten Verhältnissen vor und sollen so vor allem die Bedeutung der Formanalyse verdeutlichen.101 Die Frage nach der gesellschaftlichen Form ermöglicht daher einen theoriestrategisch entscheidenden Konkretionsschritt. Marx macht dies in seiner Analyse der Ware102 zunächst damit deutlich, daß „Gebrauchswerte", d.h. alle möglichen Gegenstände der Arbeit und des Konsums, den „stofflichen Inhalt des Reichtums"103 bilden, und das tun sie unter allen erdenklichen gesellschaftlichen Verhältnissen. Die „gesellschaftliche Form"104 des Gebrauchswertes dagegen ist sehr unterschiedlich. Sie wechselt mit historischen Epochen, und sie ist auch nicht einheitlich innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Insbesondere werden Gebrauchswerte auf den Markt gebracht und sind dann „Waren", und dies ist der „allgemeine" Fall, der in dieser Gesellschaftsform insgesamt für die Verhältnisse bestimmend ist, oder aber es werden bestimmte Gegenstände auch außerhalb des 44
Marktes genutzt.105 Das Aussehen dieser Gegenstände, ihre Funktionstüchtigkeit oder ihr Gewicht können jeweils absolut identisch sein, ihre gesellschaftliche Form aber ist grundlegend verschieden: Im einen Fall handelt es sich um Waren, im anderen dagegen nicht, es sind pure Gebrauchsgegenstände. Der springende Punkt bei dieser Unterscheidung der gesellschaftlichen Formbestimmtheit besteht für Marx nun darin, daß durch ihre Berücksichtigung gesellschaftliche Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse überhaupt erst als solche sichtbar werden. Wird die gesellschaftliche Formbestimmung dagegen vernachlässigt, so bleiben diese gesellschaftlichen Verhältnisse als solche außerhalb des Blickfeldes. Sie sind dann aus dem Grunde nicht erkennbar, weil sie gleichsam in die Gegenstände selbst hineinverlagert worden sind. Die Verhältnisse erscheinen mit anderen Worten als Eigenschaften oder auch als Teil der „Natur" der Gegenstände und nicht mehr als Verhältnisse zwischen Menschen, eben als Teil eines spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhanges. Man könnte auch sagen, sie sind in den Bereich des „blinden Flecks" gerückt und so unsichtbar geworden. In der Sprache der Hegeischen Dialektik bedeutet dies die scharfe Unterscheidung zwischen „Form" und „Inhalt", 106 wobei die Form zunächst das bestimmende und vorwärtstreibende Moment ausmacht. Zugleich stellt Marx die Formbestimmung dem Inhalt einer gesellschaftlichen Beziehung - etwa der Lohnarbeit - in dem Sinne gegenüber, als der diesem Verhältnis zugrundeliegende Austausch äquivalenter Waren sich als „Schein" erweist, als „bloße Form, die dem Inhalt selbst fremd ist und ihn nur mystifiziert".107 Zurückbezogen auf unseren Ausgangspunkt geht es daher nicht allein darum, daß die Formbestimmung anzeigt, wie etwas geschieht, d.h. über die Tatsache der Ausbeutung hinaus deren konkrete gesellschaftliche Gestalt angibt. Im Fall der Lohnarbeit als des zentralen Beispiels für die Verkehrung der Verhältnisse in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verstellt die Form des Äquivalententauschs zugleich wiederum den Blick auf den Inhalt, nämlich das Faktum der Ausbeutung selbst. Mit der Einführung der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt beanspruchte Marx, einen wesentlichen Schritt über die politische Ökonomie hinaus gemacht zu haben. Denn diese habe zwar bei ihrer Wert-Analyse108 „den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat aber niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt." Das darin wurzelnde analytische Unvermögen der politischen Ökonomie erblickte Marx in ihrer Befangenheit im Bestehenden. Die politische Ökonomie erkennt aus seiner Sicht nicht, daß es diesen „Formeln ... auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert".109 Marx wirft der politischen Ökonomie also vor, daß sie nicht in der Lage sei, den gesellschaftlich 45
gesetzten, daher auch gesellschaftlich aufhebbaren Charakter ihrer Kategorien zu erkennen, mithin die Gewordenheit und Vergänglichkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, der Marx hier die - in typischer Weise ganz allgemein gehaltene - Alternative entgegensetzt, daß endlich der Mensch den Produktionsprozeß „bemeistern" möge und nicht umgekehrt. Entscheidend war, daß die Kritik der politischen Ökonomie die kapitalistische „Wirtschaft als transitorisch betrachtet". 110 Wenn aber die Gewordenheit der kapitalistischen Verhältnisse und damit ihr Charakter als gesellschaftlich erzeugte einmal erkannt und darüberhinaus auch die - freilich sehr abstrakte - Möglichkeit zugestanden ist, sie durch bewußte Kontrolle der Menschen über ihren Produktionsprozeß zu überschreiten, dann ist zugleich der Schein der „selbstverständlichen Naturnotwendigkeit" durchbrochen, den die politische Ökonomie in „ihrem bürgerlichen Bewußtsein" den eigenen Kategorien verliehen hat.111 Die Betrachtung der „Formbestimmung" erlaubt die begriffliche Spezifizierung dessen, was die Kategorien „vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion" aus und damit auch als historisch sind. Sie erscheinen damit nicht mehr als unanfechtbare, ein für allemal feststehende Gegebenheiten.112 Gerade in der Verkennung dieser Differenz erblickt Marx den „der bürgerlichen Ökonomie eigentümliche(n) Fetischismus," daß nämlich der „gesellschaftliche, ökonomische Charakter, welchen Dinge im gesellschaftlichen Produktionsprozeß aufgeprägt erhalten, in einen natürlichen, aus der stofflichen Natur der Dinge entspringenden Charakter verwandelt" wird. So seien etwa „Arbeitsmittel" eben nicht unter allen Umständen „fixes Kapital", sondern nur unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktion. Auch „Lebensmittel" können nicht unter allen Umständen als „in Arbeitslohn ausgelegtes Kapital" gelten, weil sie diese Gestalt nur unter kapitalistischen Bedingungen annehmen. Wird dies aber übersehen, so zeitigt diese Verkehrung die Folge, daß plötzlich, wie Marx an einer Formulierung Ricardos moniert, das Kapital da ist, um „die Arbeit zu erhalten", während doch umgekehrt „ihr Kapitalcharakter ihnen gerade die Eigenschaft gibt, das Kapital zu erhalten durch fremde Arbeit".113 Wir werden auf Aspekte solcher Verkehrungen noch zurückkommen, die Marx auch von einem „Zaubergarten" sprechen läßt, in den die durch das Kapital bestimmten Verhältnisse die Gesellschaft und die Welt verwandelt hätten. Die Untersuchung der Formbestimmungen der einzelnen Kategorien der politischen Ökonomie kann daher als Kern des ideologiekritischen Programms der Kritik der politischen Ökonomie gelten. Diese Untersuchung dechiffriert zum einen den verborgenen gesellschaftlichen Gehalt der Kategorien und ist eben dadurch zum anderen in der Lage, ihren historischen und vergänglichen Charakter aufzuweisen. 46
1.4.3 Gesellschaftliche Gesetze und Gesetzmäßigkeiten Die Kritik an der Unterstellung von überhistorischen, d.h. geradezu wesensmäßig in jeder denkbaren menschlichen Gesellschaft gültigen „Naturnotwendigkeiten" bedeutet nun keineswegs, daß Marx selbst nicht den Anspruch erhoben hätte, seinerseits gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten entdeckt zu haben. Ausdrücklich betonte er, daß die „gesellschaftlichen Antagonismen" der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft „aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringen". Zugleich beschrieb er „diese Gesetze" als „mit eherner Notwendigkeit wirkende und sich durchsetzende Tendenzen".114 Wie können wir das verstehen? Zunächst einmal kann es kaum einem Zweifel unterliegen, daß Marx für seine Kritik der politischen Ökonomie den Status einer auf gesellschaftliche Prozesse bezogenen strengen Wissenschaft nach dem damals gültigen Bild der Naturwissenschaft beanspruchte. Er war sich allerdings der sehr wesentlichen Unterschiede bewußt, die sich vor allem aus den Schwierigkeiten ergeben mußten, eine Methode wissenschaftlicher Beobachtung und wissenschaftlichen Experimentierens zu finden, die diesem Anspruch hätte gerecht werden können. In bildhafter Sprache verwies er darauf, „daß bei der ökonomischen Forschung ... weder das Mikroskop dienen [kann], noch chemische Reagenzien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen." Ferner betont Marx, daß bei seinem Unternehmen, auch „Experimente, welchen den reinen Fortgang des Prozesses sichern," nicht möglich seien. Daher müsse England als die „bis jetzt" „klassische Stätte" der kapitalistischen Produktion" „zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dien(en)."115 Das bedeutet aber nichts anderes, als daß zwischen „naturwissenschaftlichen" Methoden der Erschließung der Wirklichkeit durch Beobachtung und kontrolliertes Experiment und Formen und Möglichkeiten der Erkenntnis im Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie - oder generell von Gesellschaftswissenschaft - doch ein sehr grundlegender Unterschied besteht. Der von Marx erhobene quasi-naturwissenschaftliche Anspruch reduziert sich hier zunächst auf die möglichst exakte theoretische Reproduktion der ökonomischen Kategorien, unter ausdrücklicher Kenntnisnahme grundlegender methodischer Unterschiede. Genau besehen postuliert er gerade keine unterschiedslose Einheit der Wissenschaft, sondern nimmt die besonderen methodischen Probleme ausdrücklich wahr, die sich der Analyse der Gesellschaft im Gegensatz vor allem zu dem Bild stellen, das zu seiner Zeit die Naturwissenschaften von ihrem eigenen Tun hatten.116 In der Sprache des 19. Jahrhunderts bedeutet der Anspruch auf Naturwissenschaftlichkeit die Behauptung objektiver Gültigkeit oder Validität für die Ein47
sichten der Kritik der politischen Ökonomie. Marx grenzt sich damit vor allem von der philosophischen Spekulation ab, die noch seine eigene frühe Auseinandersetzung mit Hegel geprägt hatte. Noch wichtiger aber ist die Frage, welchen Status er den „Gesetzen" zuschrieb, die er beanspruchte, durch seine kritische Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie entdeckt zu haben. Diese Gesetze, von denen wir in Teil 2 einige noch genauer vorstellen und untersuchen werden, betreffen in erster Linie die Bewegungsformen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Das Wertgesetz etwa bezieht sich auf deren grundlegende Funktionsweise, das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation soll deren übergreifende Dynamik und Zielrichtung aufzeigen, während andere Gesetze, etwa das viel umstrittene vom tendenziellen Fall der Profitrate, sich auf Teilaspekte davon beziehen. An diese Gesetze schließen sich im Marxschen Text Schlußfolgerungen an, die in vielen Fällen von Interpreten als konkrete Prognosen verstanden wurden. Das gilt etwa, wenn im Zusammenhang mit dem „allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation" die mit unterschiedlichen Auf- und Abschwüngen des Akkumulationsprozesses schwankende Höhe des Lohnes und die strukturelle Überlegenheit des „Meisters" - wie Marx an dieser Stelle den Kapitalisten bezeichnet - in der Auseinandersetzung um diese entscheidende Größe diskutiert wird.117 Dabei postuliert Marx zwar eine notwendige Verschlechterung der „Lage des Arbeiters" auf der Grundlage der Akkumulation des Kapitals, jedoch ausdrücklich mit der Maßgabe, „welches auch immer seine Zahlung sei", also deutlich in Relation zum Kapital und keineswegs in absoluten Größen, etwa gar gemessen in verfügbaren Gebrauchswerten.118 Dies ist häufig als Prognose eines allgemeinen Prozesses der „Verelendung" interpretiert worden.119 Diese kontroverse These wiederum gab Anlaß zu den teilweise bizarr anmutenden Anstrengungen vor allem im sowjetischen Marxismus der 1950er Jahre, einen empirischen Beweis für die materielle Verelendung der Arbeiterklasse etwa in den USA zu erbringen. 120 Betrachtet man den Marxschen Text genauer, so zeigt sich, daß hier durchaus nicht ein unabänderliches Gesetz formuliert wird, dessen Folgen etwa unmittelbar in der Empirie nachzuweisen wären. Es geht vielmehr um einen komplexen Bedingungszusammenhang, den Marx anhand verschiedener hypothetisch formulierter Konstellationen durchspielt. Dabei stehen die Phasen des kapitalistischen Krisenzyklus und die dadurch mit bedingte Marktposition der Trägerinnen und Träger der Arbeitskraft im Zentrum der Aufmerksamkeit. Daraus ergeben sich verschiedene Möglichkeiten konkreter Entwicklungen des Lohnniveaus, wobei Marx freilich die strukturelle Unterlegenheit derer, die sich gezwungen sehen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, gegenüber denen, die diese Arbeitskraft kaufen und anwenden, nachdrücklich betont. 48
Am instruktivsten dürfte sich das Problem der Gesetzmäßigkeit in der Kritik der politischen Ökonomie am Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate erläutern lassen. Dieses Gesetz besagt zunächst, daß mit fortschreitender Akkumulation des Kapitals, fortschreitender technologischer Entwicklung und fortschreitender Produktivität der Arbeit eine immer größere Masse an Kapital eingesetzt werden muß, um die gleiche Masse an Profit, d.h. den Produktteil, der vom Kapital angeeignet werden kann, zu erzeugen.121 Der Ökonom Stephen Gillman hatte nun statistische Belege dafür angeführt, daß die Profitrate nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gefallen, sondern sogar leicht gestiegen war. Er hatte daraus die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Revision der Marxschen Position abgeleitet. 122 Die uns hier interessierenden Einwände gegen Gillmans Sichtweise123 griffen dessen statistische Berechnungen überhaupt nicht an, sondern verwiesen in erster Linie auf die Struktur der Marxschen Theorie und damit auch auf die Bedeutung, die in diesem Rahmen „Gesetzen" allein zukommen kann. Zugespitzt: Die empirisch meßbare Profitrate kann - wie von Gillman behauptet stabil bleiben oder sogar ansteigen, etwa als Ergebnis technologischer Großinnovationen wie aktuell der Mikroelektronik. Das würde aber nichts an der Tendenz der fallenden Profitrate ändern. Vielmehr könnten solche Innovationen gerade als Versuch verstanden werden, diese Tendenz zu konterkarieren. Wir haben es also nicht mit einem für sich wirkenden, labormäßig isolierbaren „Gesetz", sondern mit einem komplexen Wirkungszusammenhang zu tun, innerhalb dessen einzelne Gesetzmäßigkeiten nur im Kontext vielfältiger anderer Gesetze, aber auch individueller und kollektiver Handlungsstrategien sowie technologischer, institutioneller oder umweltbedingter Veränderungen zum Zuge kommen. Die Kritik der politischen Ökonomie unternimmt es daher nicht, in erster Linie Aussagen auf der Ebene unmittelbarer Beobachtung zu machen. Die von ihr formulierten Gesetzmäßigkeiten kommen empirisch niemals ungebrochen und unmittelbar zum Ausdruck. Die Tiefenstrukturen, deren Dechiffrierung die Kritik der politischen Ökonomie unternimmt, und die Prozesse, in denen diese Tiefenstrukturen sich artikulieren, entziehen sich gerade solchen Verfahren. Das läßt sich wenigstens im Fall des tendenziellen Falls der Profitrate freilich auch auf handfestere Art demonstrieren. Marx hat der Explikation dieses „Gesetzes als solche(m)" ein ganzes Kapital über „entgegenwirkende Ursachen" angefügt, um in einem weiteren die „innern Widersprüche des Gesetzes" zu entfalten.124 Dem können wir hier nicht im Einzelnen nachgehen. Wir können aber an diesem Beispiel sehr genau die Marxsche Argumentationsstrategie und damit auch die Vorstellung kennenlernen, die er mit der Rede von einem „Gesetz" verband. Marx selbst konstatierte, daß die Rate des Profits in seinem Beobachtungszeitraum weit langsamer gefallen war, als dies nach Maßgabe der gewaltigen Expan49
sion des fixen Kapitals, also der zur Produktion notwendigen Maschinen und Anlagen, zu erwarten gewesen wäre. Dies war für ihn aber kein Grund, das auch von der politischen Ökonomie vor ihm behauptete Gesetz nun zu verwerfen. Vielmehr fragte er nach „gegenwirkende(n) Einflüsse(n) ..., welche die Wirkung des allgemeinen Gesetzes durchkreuzen und aufheben, und ihm nur den Charakter einer Tendenz geben".125 Dieser „bloßen Tendenz" schrieb Marx durchaus erhebliche Folgen zu. Sie wirkte in seinen Augen als wesentlicher Antrieb zum unablässigen Streben des Kapitals nach Expansion. Marx sah entsprechende Gegentendenzen zum drohenden oder tatsächlichen Fall der Profitrate im wesentlichen in der Steigerung des gesellschaftlichen Produktivitätsniveaus, aber etwa auch im Außenhandel und in der Erschließung von Kolonien, d.h. in der Verbreiterung der Möglichkeiten des Kapitals zur „Realisierung" seiner Warenprodukte. All dies sind ja zunächst einmal Chancen und mögliche Strategien, die mobilisiert und eingelöst werden unter dem Druck der Tendenz zum Sinken der Profitrate. Denn „sie heben das Gesetz nicht auf, schwächen aber seine Wirkung ab. [...] So wirkt das Gesetz nur als Tendenz, dessen (sic) Wirkung nur unter bestimmten Umständen und im Verlauf langer Perioden schlagend hervortritt"126. Ohne also auf der Erscheinungsebene in seinen Auswirkungen etwa durch die Wirtschaftsstatistik empirisch notwendig nachweisbar zu sein, sieht Marx das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate doch durchaus als wirksam an. Umgekehrt dürfte aber aus denselben Gründen auch ein tatsächlicher Fall der Profitrate, wie Gillman ihn für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg konstatiert hat,127 genauso wenig als unmittelbarer „Beweis" des Gesetzes dienen wie der entgegengesetzte Befünd als seine Widerlegung. Marx selbst macht - an der zuletzt zitierten wie auch an anderen Stellen diese aus seiner Begriffsstrategie folgenden Konsequenzen des gewählten Abstraktionsniveaus nicht immer eindeutig klar.128 Wenn der tendenzielle Fall der Profitrate auch in spezifischen Situationen „schlagend hervortreten" mag, so kann dies doch nicht mehr als eine „Illustration" sein, aber kein empirischer „Beweis". Würde der Anspruch eines solchen Beweises ernsthaft erhoben, so wäre zugleich die kategoriale Ebene entscheidend verschoben, auf der die Kritik der politischen Ökonomie argumentiert. Auf die beträchtlichen historischen Folgen solcher Mißverständnisse wurde oben hingewiesen.129 Gegenüber der Marxschen Theoriekonstruktion ließe sich nun einwenden, durch einen solchen Verweis auf das Zusammenwirken einer Vielzahl einander gegenläufiger Tendenzen werde die Aussage letztlich gegen eine mögliche Widerlegung immunisiert. Ähnliches ließe sich auch gegen die zuvor betrachtete Argumentation mit abstrakten Begriffen vorbringen, die sich auf Tiefenstrukturen beziehen, die ausdrücklich nicht direkt beobachtbar und nachweisbar sind. Der 50
Vorwurf solcher mangelnder Falsifizierbarkeit ist ernstzunehmen. Er träfe freilich in ähnlicher Weise auch auf neuere Ansätze zu, die sich noch expliziter und wohl auch bewußter konstruktivistischer Strategien bedienen als Marx dies tat. Genauer trifft er die Schwierigkeiten jeglichen begrifflichen Konstruktes. Es kommt daher in erster Linie darauf an, wie ein gesellschaftstheoretischer Ansatz im Rahmen seines Geltungsanspruchs in der Lage ist, empirisch auftretende Erscheinungen zu bearbeiten, die seinen eigenen Aussagen zumindest auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Im betrachteten Fall der Entwicklung der Profitrate geschah dies durch die detaillierte - hier nicht wiederzugebende - Analyse der unterschiedlichen, zueinander gegenläufigen Faktoren und Tendenzen. Deren Nachvollzug ist Herausforderung für konkrete Forschungsarbeiten über gesellschaftliche Dynamiken und nicht zuletzt über das Zustandekommen und die Wirkungsweise von Innovationen.130 In einer ebenso zentralen wie aktuellen Hinsicht ist für Marx freilich nicht allein mit Tendenzen, sondern mit immer wieder auftretenden, unmittelbar beobachtbaren Auswirkungen der von ihm behaupteten Gesetzmäßigkeiten zu rechnen - bei der Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems. Kapitalistische Wirtschaftskrisen haben aus seiner Sicht zwar vielfältige auslösende Momente, diese Auslöser können aber ebensowenig wie Revolutionen oder Kriege, die tiefgreifende Krisen häufig begleiten, als die eigentlichen Ursachen dieser Krise gesehen werden. Diese Ursachen sieht Marx vielmehr im kapitalistischen System selbst begründet, nicht aber in „zufälligen, dem Handel und der Industrie fremden Umständen".131 Dazu kommt die Forderung, gesellschaftliche - selbstverständlich einschließlich ökonomischer - Erscheinungen in ihrem prozessualen Zusammenhang zu sehen. Nur so können sie Marx zufolge verständlich werden: Frühere Analysen von Krisen, so argumentierte Marx, litten unter dem „wesentlichen Mangel [...], daß sie jede neue Krise als eine isolierte Erscheinung behandeln, welche erstmals am sozialen Horizont erscheint". Dagegen gehe es darum, „die Gesetze aufzudecken, von denen die Krisen des Weltmarkts beherrscht werden", und zwar durch Berücksichtigung ihres „periodischen Charakters" und Erklärung der „Daten dieser periodischen Wiederkehr".132 Wir werden auf die damit angesprochene Problematik der Marxschen Prognostik noch ausführlicher eingehen133 - charakteristischerweise finden sich die hier angeführten Formulierungen nicht in den Kapital-Schriften, sondern in stärker aktualitätsbezogenen Arbeiten. Hier sollte deutlich geworden sein, daß Marx soziale ebenso wie ökonomische Gesetzmäßigkeiten als Aspekte systemischer Zusammenhänge betrachtete, die einzelne Tatsachen erst in einen Zusammenhang stellten, der ihre Bedeutung verständlich machen konnte. Zugleich ist damit der Geltungs- und Erklärungsanspruch, die Reichweite der Theorie angesprochen. Sie ist selbst wiederum ein Moment, an 51
dem nicht zuletzt auch ihr Wirklichkeitsbezug, ihre Triftigkeit oder Leistungsfähigkeit zu messen sein werden.
1.4.4. Zur Reichweite der Marxschen Theorie Wir können auf der Grundlage dessen, was wir über den Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie und über die Bedeutung der gesellschaftlichen Formbestimmung für die Marxsche Theorie gesagt haben, deren Reichweite genauer bestimmen. Es wurde bereits betont, 134 daß Gegenstand der Kapital-Schriften, also des am weitesten und gründlichsten ausgearbeiteten Teilkomplexes der Marxschen Theorie, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ist. Dabei bezieht sich diese Theorie nicht auf eine konkrete Gesellschaft, die zeitlich oder räumlich durch die mit im Begriff des Kapitalismus bereits implizierte Epochenbestimmung und seine Tendenz zur globalen Expansion hinaus irgendwie zu fixieren wäre. Es geht also nicht etwa um die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und ihre Entwicklung in England. Sie dient nur als wichtigste Illustration. Ebenso wenig handelt es sich um die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Zeit des in der Wirtschaftsgeschichte gern so bezeichneten Hochkapitalismus, also zur Zeit der Niederschrift der KapitalSchriften. Vielmehr entwickelt die Kritik der politischen Ökonomie ihre Kategorien auf der Ebene einer allgemeinen Theorie des Kapitalismus.135 Es sollte nicht übersehen werden, daß mit diesem Allgemeinheitsgrad eine entschieden höhere Konkretion erreicht ist als in allen Theoriekonzepten, die Gesellschaft oder Wirtschaft ohne jegliche historische Spezifizierung behandeln, sub specie aeternitatis. Die Ideologiekritik kann aufzeigen, daß epochenspezifische Kategorien durch ihre Behandlung als quasi-natürliche, überzeitliche anthropologische Konstanten aus ihren gesellschaftlichen Bezügen herausgelöst und dadurch auch auf konzeptioneller Ebene jeglicher gesellschaftlicher Verfügungsmöglichkeit entzogen werden. Wie wir gesehen haben, richtet sich die Marxsche Kritik mit großer Vehemenz gegen solche überhistorischen Konzepte, die freilich auch seitdem keineswegs ausgestorben sind. Es unterliegt ebenfalls wohl kaum einem Zweifel, daß die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich eingetretene Entwicklung des Kapitalismus sowohl in seinen Zentren wie auch weltweit nicht im Erwartungshorizont von Marx lag. Daß es sich hierbei um eine Fehlprognose handelt, wird kaum jemand bestreiten. Doch läßt sich trefflich streiten, ob dies den Kern der Marxschen Theorie trifft. Diese Frage wird uns im nächsten Abschnitt noch kurz beschäftigen. Doch unbeschadet davon, wie die Antwort ausfallen mag, stellt uns die Reichweite der Kritik der politischen Ökonomie klar vor die Alternative, ihre Kategorien entweder als analytische Instrumente zu betrachten, die allgemein zum Verständnis bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaf52
ten beitragen können, oder aber diesen Erklärungswert zu verneinen. In diesem letzten Fall aber müßte eine Kritik, die der Marxschen Theorie gerecht werden will, also bereit ist, ihre innere Struktur zur Kenntnis zu nehmen und zu überprüfen, von dem Nachweis ausgehen, diese Theorie sei falsifizierbar von Anfang an. Das würde bedeuten, die Marxsche Theorie wäre 1859 beim Erscheinen der ersten Version der Wertanalyse in Zur Kritik der politischen Ökonomie ebenso verfehlt gewesen wie heute. Eine solche Aussage setzt freilich eine gründliche Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie voraus. Die heute weitaus beliebtere Strategie, nämlich deren Irrelevanz angesichts der inzwischen eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen zu erklären, umgeht gerade eine solche Auseinandersetzung. Mit der Einsparung an gedanklicher Anstrengung wird freilich auch die Thematik der Kritik der politischen Ökonomie verfehlt. Wenn man freilich umgekehrt die Aktualität der Marxschen Theorie behauptet, so erspart auch das nicht die Anstrengung der jeweiligen historischen Konkretion ihrer Kategorien. Es ist dann immer noch ebenso die Reichweite der unterschiedlichen Kategorien zu reflektieren, wie die Frage nach der Vermittlung dieser Kategorien mit konkreten gesellschaftlichen Erscheinungen und ihrer Analyse zu stellen ist. Das schließt historische und erst recht immanente Kritik an der Konstruktion dieser Kategorien nicht aus, doch muß eine solche Kritik sich zuerst vergewissern, womit sie es eigentlich zu tun hat, wenn sie auch greifen will. Ähnliches gilt für neuere Thesen von fundamentalen gesellschaftlichen Umbrüchen, etwa in der Form des Endes der Moderne oder einer zweiten Moderne. Die Thesen vom Ende des Kapitalismus oder doch der Klassengesellschaft, von einer grundlegend neuartigen Form der nunmehr globalen Vergesellschaftung oder von radikalen Umbrüchen in den Kommunikationsmöglichkeiten wären in der Auseinandersetzung mit Marx gründlicher zu diskutieren als auf der Ebene der bloßen Erscheinungen. Aus der Sicht der Marxschen Theorie gilt es dabei wiederum, anhand der übergreifenden Leitfrage nach den gesellschaftlichen Tiefenstrukturen zu prüfen, ob es in der Tat zu einer Veränderung oder gar einem Wechsel in diesen fundamentalen Grundverhältnissen gekommen ist.136
1.5 Bewußtsein und Ideologie Die Erörterung der Marxschen Methode hat immer wieder auf den Begriff der Ideologiekritik verwiesen. Dabei handelt es sich auch um ein zentrales Anliegen der Gesellschaftswissenschaften, insbesondere der Soziologie. Wie wir sahen, hat Marx freilich nicht allein das Alltagsbewußtsein, sondern in seinem zentralen Werkkomplex die zu seiner Zeit führende Gesellschaftswissenschaft zum Gegen53
stand einer Ideologiekritik gemacht. Diese Kritik zielte nicht einfach auf das Verdikt des Ideologieverdachts. Sie bemühte sich vielmehr, Rechenschaft abzulegen von der historischen Bedingtheit und den damit sich ergebenden historischen, gesellschaftlichen Grenzen der jeweiligen kategorialen Ansätze. Die (Re-)Konstruktion der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kopf wird demnach von Marx, soweit sie ernsthaft und nicht vordergründig interessengebunden erfolgt, auch insofern ernstgenommen, als sie nicht nur seriöse Wissenschaft produziert, sondern zugleich Ausdruck der Verhältnisse ist, die sie zu ihrem Thema genommen hat. Damit werden eigentlich nur die Grundthesen über Sein und Bewußtsein ernstgenommen und auf der Ebene der Analyse theoretischer Texte eingelöst, die die materialistische Wende des jungen Marx bestimmt hatten. Wenn hier kurz auf die Marxschen Konzepte von Bewußtsein und Ideologie eingegangen wird, so geschieht dies nicht in der Absicht, das Thema erschöpfend zu behandeln. Es soll lediglich versucht werden, einige für ein Verständnis von Marx als Gesellschaftstheoretiker hilfreiche Hinweise zu geben. Das Verfahren der Kritik der politischen Ökonomie beruht auf der methodischen Grundannahme, daß Bewußtseinsinhalte - in diesem Fall Kategorien einer mehr oder weniger systematisierten Wissenschaft - als historischer Ausdruck einer objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit ernstzunehmen seien. Das gilt für Marx offensichtlich auch dann, wenn er die Beschränkungen auch derjenigen Positionen aufzeigen zu können meint, denen er wissenschaftliche Seriosität attestiert. Ideologie im Sinne einer verzerrten Reproduktion der Wirklichkeit ist daher nicht nur nicht beliebig, weil sie durch diese Wirklichkeit determiniert ist; eben deswegen kann sie darüber hinaus zum Schlüssel für die Erkenntnis dieser - der unmittelbaren, naiven Beobachtung nicht zugänglichen - Wirklichkeit werden, freilich nur durch die Anstrengung der Kritik, also der neuerlichen ReKonstruktion der Wirklichkeit durch die Analyse der Kategorien. Das ist zunächst einmal weit entfernt von einfachen Konzepten der Widerspiegelung, wie sie das Bild des Marxismus weithin prägen. Diese Konzeption von Bewußtsein und Ideologie findet sich bereits in der 1845/46 verfaßten Deutschen Ideologie, wo sie ausführlicher diskutiert wird als in den späteren, relativ knappen methodischen Reflexionen. Schon hier wird die Determination des Bewußtseins durch das Sein in einer Weise präzisiert, die die Möglichkeit des Unternehmens der Kritik der politischen Ökonomie bereits andeutet: „Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dieses Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der 54
Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen."137 Nicht nur sind Bewußtseinsinhalte danach unabhängig von der in ihnen enthaltenen Verkehrung als Ausdruck des „historischen Lebensprozesses" ernstzunehmen, sondern selbst noch ihre Verkehrung ist als Moment dieses Ausdrucks zu dechiffrieren. Diese Annahme wird begreiflich, wenn wenig später betont wird, daß „das Bewußtsein ... von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt" ist.138 Bewußtsein kann nicht als einzelnes existieren, es ist nicht vorstellbar ohne den gesellschaftlichen Zusammenhang, von dem es unweigerlich Kenntnis nehmen und dem es folglich auch Ausdruck geben muß. Dies bedeutet aber zugleich, daß das Bewußtsein nicht einfach objektiv ist. Wie dies am Beispiel der Kritik der politischen Ökonomie auseinandergelegt wurde, ist dieses Bewußtsein Ausdruck der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Das bedeutet weiter auch, daß dieses Bewußtsein durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, d.h. in den meisten Fällen durch unterschiedliche Formen der Herrschaft, wesentlich bestimmt ist. Das ist der Sinn der berühmten Passage zum Verhältnis von Bewußtsein und gesellschaftlicher Herrschaft: „Die Gedanken der Herrschenden sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich die herrschende geistige Macht. [...] Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse."139 Im Verhältnis zwischen der „unmittelbar aus der Produktion und aus dem Verkehr sich entwickelnde(n) gesellschaftliche(n) Organisation" und der „idealistischen Superstruktur"140 wird ein materialistisches Kausalverhältnis nicht zuletzt mit dem Ziel betont, den „Schein" zu durchbrechen, „als ob die Herrschaft einer bestimmten Klasse die Herrschaft gewisser Gedanken sei".141 Hier ging es darum, sich zunächst zu vergewissern und zu begründen, daß Herrschaft vor allem gesellschaftlich verankert ist und nicht auf beliebigen Ideen beruht. Diese Vorstellungswelt ist damit von der gesellschaftlichen Realität, von „Produktion und Verkehr" determiniert, aber schon hier handelt es sich um ein komplexes Verhältnis, das Rückkoppelungen einschließt. Vollends soll gerade der „Kommunismus", also die von den Autoren propagierte Bewegung, „alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandel(n)".142 Soweit aber daher die Menschen zu Subjekten, wenn auch unbewußten, ihrer Verhältnisse erklärt werden, wird zugleich jegliche simplifizierende mechanische Konzeption der Determination von Bewußtsein durch die „Basis"143 von „Produktion und Verkehr" dementiert. Es handelt sich vielmehr um ein komplexes Wechselverhältnis. Dieses Wechselverhältnis kommt an strategischen Stellen des Marxschen Werkes zum Ausdruck. Am Anfang seiner theoretischen Anstrengung steht die
Einsicht, daß „die Waffe der Kritik allerdings die der Waffen nicht ersetzen" könne, denn „die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt"; aber er fügt sogleich hinzu, „allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift". Dazu aber müsse Theorie „radikal" werden, weil sie „fähig sei, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert", d.h., wenn es der Theorie gelingt, einem radikalen Humanismus verpflichtet, sich auf den „wirklichen" Menschen und seine Lage zu beziehen.144 Uns brauchen die damit eventuell verknüpften erkenntnistheoretischen Probleme an dieser Stelle nicht zu beschäftigen. Hier interessiert allein, daß Marx dem theoretischen Bewußtsein unter bestimmten Bedingungen eine aktiv eingreifende und verändernde, intensiv auf die gesellschaftliche Wirklichkeit einwirkende Rolle zuweist. Dieses Bewußtsein ist keineswegs einfach purer Reflex auf die Verhältnisse oder die „Basis", wie dies Vulgarisatoren der Marxschen Theorie später interpretiert haben, und wie insbesondere auch die auf Lenin zurückgehende „Widerspiegelungstheorie" verstanden wurde, die dann zum im orthodoxen MarxismusLeninismus kanonisierten erkenntnistheoretischen Dogma erklärt wurde.145 Das Bewußtsein als aktives Moment erscheint auch an zentraler Stelle im Kapital. Denn eben der bewußte Plan, der im Kopf vorhandene Entwurf des Ergebnisses oder Produktes der Arbeit ist für Marx der entscheidende Unterschied zwischen menschlicher Arbeit und den Wunderwerken von Bienen oder Spinnen, die an Perfektion menschlichen Erzeugnissen oft überlegen erscheinen.146 Auch auf der Ebene der materiellen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur im Arbeitsprozeß spielen daher Bewußtseinsprozesse, ja selbst der „Traum von einer Sache" (Ernst Bloch) eine entscheidende Rolle. Erst dadurch unterscheidet sich nach Marx der Mensch vom Tier. Und dadurch werden übrigens auch jegliche organizistische Konstruktionen von Gesellschaft aus der Sicht der Marxschen Theorie zutiefst fragwürdig. Hier fügt sich auch die grundlegende Herangehensweise der Marxschen Ideologiekritik ein. Die Vorstellungen der Menschen mögen ebenso unzutreffend und verzerrt sein, wie der Plan des „schlechtesten Baumeisters" vermutlich wenig taugen und sich statisch als höchst labil erweisen wird. Diese Vorstellungen sind dennoch ernstzunehmen als Ausdruck und Übersetzung der Verhältnisse, auf die sie sich beziehen. Die Kritik freilich unternimmt es aufzudecken, warum es zu den Verzerrungen in der Wahrnehmung gekommen ist, und durch ihr eigenes Medium einen realistischen Blick auf die Verhältnisse zu erschließen. In diesem einleitenden Überblick über das Marxsche Werk und die Marxsche Methode sind einzelne wichtige Theoreme gestreift worden - etwa Wert, Profitrate, Staatsanalyse. In den folgenden beiden Teilen sollen ausgewählte Fragen 56
vertieft und im gegebenen Rahmen möglichst systematisch behandelt werden. Die eigene Lektüre etwa der Kapital-Schriften oder auch der historisch-politischen Schriften kann dies in keiner Weise ersetzen. Wir versuchen aber, für zentrale Abschnitte eine Handreichung zu bieten, die es einerseits ermöglicht, die Marxsche Theorie als Gesellschaftstheorie in groben Umrissen zur Kenntnis zu nehmen und theoriegeschichtlich einzuordnen, sie mit anderen Ansätzen zu konfrontieren und zu vergleichen; diese Handreichung soll es andererseits ermöglichen, eine selbständige Lektüre mit einigen grundlegenden Orientierungen zu beginnen. Wir bemühen uns ferner, immer wieder Hinweise auf Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen dem Marxschen Werk und Problemen aktueller Gesellschaftsanalyse zu geben. Wir gehen daher im zweiten Teil auf Abschnitte der Kritik der politischen Ökonomie ein, deren zentrale Bedeutung für die Nutzbarmachung der Marxschen Theorie in gesellschaftswissenschaftlicher Absicht im Verlauf der Darstellung deutlich werden sollte. Dabei geht es zum einen um die entscheidende Kategorie des Wertes, die im Kontext der Marxschen Theorie nicht zuletzt den Schlüssel liefert für das in ihr implizierte Verständnis von moderner kapitalistischer Gesellschaft und Vergesellschaftung. Wir greifen ferner Fragestellungen aus dem Bereich der Kritik der politischen Ökonomie auf, von denen wir meinen, daß sie von besonderem Interesse sowohl für soziologische Analyse und Theoriebildung, als auch für aktuelle Fragestellungen sind. Das gilt für die Analyse der gesellschaftlichen Bedeutung unterschiedlicher gesellschaftlicher Formen der Arbeit unter dem Kapitalismus, die in besonderem Maße den Anschluß an die aktuelle Geschlechterdebatte ermöglichen; das gilt in etwas anderer Weise für die Analyse betrieblicher Herrschaftszusammenhänge, die fast von Beginn an und bis auf die Gegenwart ein zentrales Thema der Soziologie dargestellt haben. Die genauere Untersuchung der von Marx ausgemachten relativen Schranken der kapitalistischen Produktion und Verwertung verweist schließlich auf Themen, die aktuell im Rahmen der Debatte über Ökologie und die „Grenzen des Wachstums" diskutiert werden. In allen diesen Themenbereichen zeigen sich zugleich in besonderer Klarheit sowohl Stärken als auch Grenzen der Marxschen Theorie. Im dritten Teil steht dann das Marxsche Geschichtskonzept im Mittelpunkt. Dabei bewegen wir uns nacheinander auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Zunächst geben wir Hinweise auf die Marxschen Überlegungen zur sozialen Evolution, also gleichsam auf der höchsten denkbaren Makro-Ebene von Gesellschaftstheorie. Über das Theorem der Trennung, der Auflösung der von Marx als naturwüchsig betrachteten Bindungen der Menschen an die Gemeinde ebenso wie an deren Boden, führen diese Überlegungen zurück auf die Entstehung des Kapitalismus, auf die historischen Konstitutionsbedingungen der modernen Ge57
sellschaftsformen. Hieran schließt sich eine genauere Betrachtung des Marxschen Klassenkonzeptes und vor allem seiner Analyse der zeitgenössischen „Klassenkämpfe" an. Diese eher der politischen Soziologie zuzurechnende Perspektive fuhrt zur Staatsanalyse, die oft als besonderes Defizit der Marxschen Theorie angesehen wird. Wir zeichnen mögliche, häufig übersehene Potentiale vor allem durch die Lektüre einiger der gründlicher analysierenden Kommentare zu aktuellen Entwicklungen seiner Zeit nach. Im Kontext des Marxschen Werkes weitgehend demselben Genre gehören die Arbeiten an, die Anlaß zu vielfältigen Debatten über Marx als Modernisierungstheoretiker gegeben haben. Die Marxsche Position wird hier - auch in einigen ihrer Entwicklungsstadien - nachgezeichnet und in den Kontext seines Werkes und seines Erkenntnisinteresses gestellt. Dies leitet zugleich über zu der Frage, was uns Marx eigentlich zu den gegenwärtig besonders akuten Themenstellungen der Globalisierung zu sagen hat. Diese Fragestellung führt uns zugleich zurück auf die bereits oben eher allgemein angesprochene Frage nach der Reichweite der Marxschen Theorie. Abschließend betrachten wir dann noch einige Ebenen der Marxschen Prognostik. Dies verweist zum einen auf den Marxschen Gesetzesbegriff und eröffnet zum anderen eine abschließende Perspektive auf die in seinem Werk sehr raren Überlegungen, wie eine bessere zukünftige Gesellschaft denn aussehen könnte.
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2 Vergesellschaftung durch Arbeit 2.1 Einleitung und Überblick Der zweite Teil unserer Darstellung der Theorie der kapitalistischen Gesellschaft bei Marx befaßt sich mit den grundlegenden kapitalistischen Formen der Vergesellschaftung der Individuen auf der Grundlage der gesellschaftlichen Arbeit. Arbeit kann als Grundbegriff der Marxschen Gesellschaftsanalyse betrachtet werden. Zugleich ist er äußerst voraussetzungsvoll, da er für Marx nicht nur die materielle Basis jeder historischen Form von Gesellschaft bezeichnet, sondern zugleich auch eine, wenn nicht die zentrale Kategorie darstellt, auf der das Selbstverständnis der modernen bürgerlichen Gesellschaft beruht, die sich mit der kapitalistischen Produktionsweise seit dem ausgehenden Mittelalter in Europa entwickelt. Der Begriff der Arbeit ist bei Marx die Schlüsselkategorie der Analyse der Organisationsformen menschlicher Gesellschaftsen, in der, als methodischer Vergleichsgesichtspunkt, die allgemeinen, notwendigen wie rationalen Momente von Vergesellschaftungen festgehalten werden. Die Analyse erfolgt gewissermaßen im Rückblick, ausgehend vom Standpunkt der entwickelten Formen der Vergesellschaftung der Arbeit in der Moderne, d.h. der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, auf die ihr vorangehenden Epochen der Vergesellschaftung. Die feudalen Herrschaftsverhältnisse, die Systeme der Leibeigenschaft und der persönlichen Gefolgschaften, die Entwicklung der mittelalterlichen Stadt, der zünftigen Arbeit und der städtischen Märkte, die Anhäufung von Reichtum bei den Fürsten wie bei den städtischen Kaufleuten, die beginnende europäische Eroberung der Welt, ihre Eingliederung in den entstehenden Weltmarkt und zugleich die Unterordnung ihres Reichtums an natürlichen und menschlichen Ressourcen unter die europäischen Interessen bilden die Vorläufer der bürgerlichen Gesellschaft, die untergehen und transformiert werden mußten, damit diese entstehen konnte. Die Zerstörung und Transformation der mittelalterlichen Verhältnisse erscheint den frühen bürgerlichen Gesellschaftstheoretikern als Befreiung der Arbeit aus den feudalen, persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Das bürgerliche Privateigentum wird als Frucht der freien, eigenen Arbeit kon59
zipiert, durch die der uneingeschränkte Gebrauch des privaten Eigentums zur Vermehrung des privaten Reichtums gerechtfertigt erscheint. Zugleich mit dem bürgerlichen Privateigentum entsteht die Klasse der freien Lohnarbeiter, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft, die sie auf der Basis von privaten Arbeitsverträgen den Eigentümern zur Nutzung überlassen.1 Herrschaft nimmt die Form formal freier Vertragsverhältnisse an, die nun die Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums regeln. In diesem Prozeß der Bildung der bürgerlichen Gesellschaft wird Arbeit von allen gemeinschaftlichen oder persönlichen Bindungen und Regelungen befreit und kann damit auch begrifflich „gereinigt" als individuelle Tätigkeit oder „produktive Arbeit" erscheinen. Zugleich erfährt der Begriff der gesellschaftlichen Arbeit gegenüber anderen Formen der Produktion des gesellschaftlichen Lebens eine Verengung auf die Verausgabung von Arbeitskraft als reiner menschlicher Potenz, die zur „Quelle des Werts" wird. Nur noch die Arbeit, die Werte schafft und über den Markt vermittelt ist, erscheint als produktive Arbeit. Marx hält mit dem Begriff der „gesellschaftlichen Arbeit" einen bestimmten Inhalt verschiedener historischer Formen von Vergesellschaftung fest. Zu allen Zeiten haben die Menschen ihr individuelles und gemeinschaftliches Leben durch Arbeit in Gesellschaft mit anderen produziert und reproduziert. Der Begriff der Arbeit bezeichnet so allgemein ihr gesellschaftliches Dasein. Auch die Privatarbeiten der Bürger und Lohnarbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft bzw. das Privateigentum als ihr Resultat fallen damit unter den Begriff der gesellschaftlichen Arbeit. Zugleich zielt er auf den auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Begriff der Arbeit, durch den Arbeit - gefaßt als produktive individuelle Tätigkeit - von aller Gesellschaftlichkeit entkleidet zu einer Naturkategorie wird, durch welche die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als die eigentlich natürliche Gesellschaftsform erscheint, in der die freie, individuelle Betätigung nach Maßgabe der individuellen Interessen zu ihrem Recht gelangt. Der allgemeine bürgerliche Begriff der Arbeit als „nichts als Arbeit", als Arbeit „sans phrase"2 ist nach Marx eine spezifische Kategorie, die einer bestimmten historischen Gesellschaftsform angehört. Sie ist Ausdruck der Form, die gesellschaftliche Arbeit in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft angenommen hat. Privatarbeit und Privateigentum als Form und Resultat gesellschaftlicher Arbeit stecken gewissermaßen den Rahmen des Untersuchungsfeldes von Marx ab und bezeichnen die begrifflichen Extreme des widersprüchlichen Charakters der bürgerlichen Gesellschaft, der den eigentlichen Gegenstand des Marxschen Denkens darstellt. Der Begriff der gesellschaftlichen Arbeit ist daher bei Marx von vornherein auch eine kritische Kategorie, mit der ein allgemeiner Sachverhalt jeder gesellschaftlichen Organisation des menschlichen Zusammenlebens ausge60
sprachen wird und ein Maßstab der Kritik der Rationalität spezifischer Organisationsweisen gesetzt wird. Marx kritisiert daher auch vehement den Empirismus einer Sozialwissenschaft, die die Gesellschaftsanalyse auf das Konstatieren von Tatsachen reduzieren möchte, ohne sich über die Kategorien im klaren zu sein, unter denen bestimmte Formen von gesellschaftlichen Verhältnissen überhaupt erst zu „Tatsachen" werden bzw. als solche erscheinen.3 Die Marxsche Gesellschaftsanalyse beansprucht, beides zu sein, Analyse der realen Verhältnisse und kritische Theorie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, als deren Begründer Marx gelten darf. Die entfaltete Kritik gründet sich dabei nicht nur auf moralische Kategorien wie Gleichheit oder Gerechtigkeit, sondern auch auf die Frage nach der Rationalität bzw. inneren Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Organisationsformen. Damit ist nicht gesagt, daß eine kritische Theorie der Gesellschaft immer ihren Ausgangspunkt beim Begriff der gesellschaftlichen Arbeit nehmen muß. Mit dem Begriff der Arbeit stellt sich Marx jedoch gewissermaßen auf den Boden der bürgerlichen Gesellschaft und knüpft an die Kategoriensysteme der klassischen Gesellschaftstheoretiker wie John Locke und Adam Smith an. Das wäre auch von einer kritischen Theorie heute zu leisten, die sich etwa mit Versuchen auseinanderzusetzen hätte, den Begriff der Arbeit durch andere Begriffe wie den der „Dienstleistung", der „Information" oder des „Wissens" als Vergesellschaftungsformen zu ersetzen. Diese Konzeptionen akzentuieren bestimmte Tendenzen der Veränderung und Zusammensetzung der gesellschaftlichen Arbeit, ohne jedoch die Arbeit als Bezugsgrundlage wirklich verlassen zu können. Immerhin fallen etwa die verstärkten Tendenzen der Gegenwart, Arbeitstätigkeiten in Tätigkeiten der Informationsübermittlung und Informationsverarbeitung, in Steuerungs- und Wissensarbeit aufzuspalten und umzuwandeln, noch unter den Marxschen Begriff der gesellschaftlichen Arbeit. Im Begriff der Arbeit bei Marx stehen die Momente von Arbeit, Eigentum und Wissen in einem engen gesellschaftlichen Zusammenhang.4 Wie wir noch näher sehen werden, ist die kapitalistische Produktionsweise für ihn u.a. durch eine immer extremere Teilung von Kopf- und Handarbeit und eine zunehmende Verwissenschaftlichung der Produktion gekennzeichnet. Das zunächst Zusammengehörende (Kopf und Hand) wird aufgespalten, um es in der Vereinseitigung und Spezialisierung zu höhere Potenz zu treiben, und um es dann neu, nach Zweckmäßigkeit, zu synthetisieren. Die Beschäftigung von Marx mit dem Begriff der Arbeit bzw. gesellschaftlichen Arbeit vollzieht sich in mehreren Anläufen und Stadien, die hier nur in Umrissen nachgezeichnet werden können. Zunächst ist sie gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung mit Hegel und dem Materialismus der sog. Junghegelianer, insbesondere mit Anselm von Feuerbach. Marx beginnt als Philosoph 61
mit den anthropologischen Grundlagen der gesellschaftlichen Existenz der Menschen als arbeitenden Wesen. Marx hat hier nicht so sehr die Arbeit als den Arbeiter als Person im Blick, der in Gegensatz gerät zu den gesellschaftlichen Formen, in denen das Produkt seiner Arbeit angeeignet wird. Die Formen der Aneignung der Arbeitsprodukte faßt Marx in seinen frühen Schriften unter den Begriff des Eigentums bzw. vom Endpunkt der Entwicklung her gesehen bereits unter den Begriff des Privateigentums. In Abschnitt 2.2 werden wir uns kurz mit einigen dieser Texte befassen, da Marx hier den Begriff der Entfremdung entwikkelt, der bis in die Industriesoziologie der Gegenwart hinein weithin rezipiert worden ist und große Bedeutung für die Kritik der Moderne erhalten hat. „Entfremdete Arbeit" ist zu einem diagnostischen Schlüsselbegriff für das moderne Industriesystem geworden, in dem Arbeiter und Arbeiterinnen sich in der Arbeit als ihrem Hauptlebensinhalt nicht mehr erkennen können und als menschliche Wesen verkümmern.5 In seinen späteren Schriften im Umkreis der Arbeiten zu seinem Hauptwerk „Das Kapital" tritt der Begriff der Entfremdung des Arbeiters als Person zurück hinter die Analyse der Formen und Strukturen, denen die gesellschaftliche Arbeit durch die kapitalistische Warenproduktion unterworfen wird. Der Begriff des „Fetisch" als Waren-, Lohn- und Kapitalfetisch steht nun für die Verkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Verhältnisse zwischen Sachen.6 Der Begriff der Versachlichung oder „Verdinglichung" der gesellschaftlichen Verhältnisse betrifft die Verkehrsformen aller Individuen der bürgerlichen Gesellschaft untereinander und ist damit umfassender als die Entfremdung der Arbeitenden im Prozeß der Arbeit. In der Industrie tritt dem Arbeiter seine Arbeit in der entfremdeten Gestalt der Maschinerie, als Kapital gegenüber, „entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maße, worin letzteren die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird."7 Die Struktur der gesellschaftlichen Arbeit wird von Marx allgemein unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung analysiert. Die Verselbständigung der verschiedenen Zweige von Arbeit, die zur materiellen und ideellen Reproduktion einer Gesellschaft erforderlich sind, fuhrt allgemein zu einer Verfestigung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Individuen als von ihnen unabhängige Mächte gegenübertreten. Als Resultate einer langen historischen Entwicklung finden die Individuen diese Strukturen jeweils als gegebene vor und müssen sich jeweils neu in ihnen einrichten bzw. an der Veränderung vorgegebener Strukturen arbeiten.8 Zu den grundlegenden Strukturen zählt Marx die geschlechtliche Arbeitsteilung, die Teilung zwischen Hand- und Kopfarbeit und die Trennung von Stadt und Land. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird von Marx nicht so sehr als funktionaler denn als herrschaftlicher Zusammenhang, als Struktur der Überund Unterordnung begriffen, da sie von Beginn an, z.B. als Priesterherrschaft oder 62
Gerontokratie, mit der Bildung von individuellem, persönlichem Eigentum verknüpft ist. Arbeitsteilung und Eigentum liegen der Bildung der gesellschaftlichen Klassen zugrunde. Aus der Perspektive der gesellschaftlichen Arbeit bedeutet Herrschaft Verfügungsgewalt über Arbeit, über die Arbeitenden und ihre Arbeitsprodukte, insbesondere die Möglichkeit der arbeitslosen Aneignung von Produkten der gesellschaftlichen Arbeit. Diese Zusammenhänge werden von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie und besonders konzis und gedrängt im Kommunistischen Manifest dargelegt, auf die wir in Abschnitt 2.3 eingehen werden. Mit den Arbeiten am Hauptwerk, in dessen Zentrum die kapitalistische Produktionsweise steht, tritt ein gewisser Perspektivenwechsel ein, der von manchen Autoren auch als ein Bruch in der Entwicklung des Marxschen Denkens interpretiert wird.9 Wie wir gesehen haben, ging es Marx im Kapital darum, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft „auf ihrer eigenen Grundlage" zu analysieren und begrifflich schlüssig darzustellen.10 Insbesondere ging es ihm darum, die Widersprüche in dieser Grundlage aufzudecken, die schließlich zum Scheitern dieser Gesellschaftsform führen sollen bzw. deren Analyse die Notwendigkeit ihrer Überwindung darlegen soll. Unmittelbar auffallend waren die Widersprüche zwischen den ökonomischen Theorien seiner Zeit, die die Möglichkeit eines gleichgewichtigen, störungsfreien Wachstums des gesellschaftlichen Reichtums darzulegen versuchten, und der tatsächlichen Krisenhaftigkeit der Entwicklung, die immer erneut mit Zusammenbrüchen, Vernichtung von Kapital und massenhafter Arbeitslosigkeit einherging. Damit stellte sich die Frage nach der inneren Dynamik von Warenproduktion und Kapitalakkumulation und der Möglichkeit gesellschaftlicher Steuerung und Regulierung. Die Darlegung der inneren Krisenhaftigkeit des kapitalistischen „Systems" bedeutete daher zugleich die Kritik der ökonomischen Theorie oder „politischen Ökonomie". Die Antwort, die Marx im Kapital gibt, ist der Aufweis der prinzipiellen inneren Grenzenlosigkeit des Kapitals „als sich selbst verwertender Wert", der letztlich nur auf sich selbst als Schranke trifft und sich tendenziell alle sachlichen Zusammenhänge der gesellschaftlichen Arbeit unterordnet. Der Begriff des Kapitals erschließt sich für Marx nicht mehr aus der Perspektive handelnder Akteure oder Klassen von Akteuren. Vielmehr orientieren sich die Akteure an den strukturellen Imperativen der Erhaltung und Vermehrung des Kapitals als „Wert". Ins Zentrum der Analyse rückt damit die Form des „Werts", die die Resultate der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus als Waren annehmen. Der Prozeß der gesellschaftlichen Arbeit wird zum Prozeß der Verwertung von Wert. Nicht die Voraussetzungen der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise, die Bildung der für diese Produktionsweise charakteristischen Klassen der Bourgoisie als Kapitalbesitzer und des Proletariats als freie Lohnarbeiter, wie 63
sie schon in der Deutschen Ideologie beschrieben wurden, waren für Marx das theoretische Problem, sondern die Frage, wie die Bildung von Kapital und seine Anhäufung mit der bürgerlichen Form des Äquivalententausches zwischen formell gleichen und freien Warenbesitzern zu vermitteln ist, oder anders gesagt, es ging ihm nicht um Darlegung der Tatsache der Ausbeutung der Arbeitenden, d.h. die nicht entgoltene Aneigung von Arbeitsprodukten durch die Kapitalisten, sondern um die Form dieser Ausbeutung, die die Enteignung der Arbeitenden von ihren Arbeitsresultaten verdeckt. Die Schwierigkeiten der Lektüre von „Das Kapital" liegen darin, daß Marx seine Darstellung mit der Analyse der Formen beginnt, aus der Form der Ware begrifflich die Form des Geldes und schließlich des Kapitals als Formen des Werts entwickelt. Der Begriff des Geldes und des Kapitals steht ihm jedoch zu Beginn dieser Darstellung bereits fertig vor Augen. Daß es ein Problem des Anfangs oder Ausgangspunktes der Darstellung gibt und warum mit der Form der Ware zu beginnen ist, wird nicht noch einmal selbst explizit reflektiert. Der langjährige Forschungsprozeß und die umfassende Auseinandersetzung mit der ökonomischen Theorie seiner Zeit sind in der Darstellung nur noch in den Fußnoten ersichtlich.11 Wir werden Marx in Abschnitt 2.5 ein Stück weit auf dem Weg von der Form der Ware zur Form des Kapitals begleiten, da für uns diese Analyse der Formen, insbesondere der Begriff des Werts, zu den wesentlichen Beiträgen von Marx zur Theorie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gehört. Wir werden jedoch zuvor in Abschnitt 2.4 einen Umweg machen, indem wir die Grundstruktur der gesellschaftlichen Arbeit gewissermaßen unter Absehung von ihrer Formbestimmtheit darstellen. Neben dem fünften Kapitel „Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß" aus Band 1 des Kapital greifen wir dabei auf das Modell der Darstellung des aggregierten Gesamtprozesses in Band 2 zurück, in dem Marx in den berühmten „Reproduktionsschemata" zeigt, in welchem Verhältnis die zusammengefaßten Ergebnisse der gesellschaftlichen Arbeit, als Konsumtions- und Produktionsmittel, stehen müssen, um eine „gleichgewichtige" Reproduktion, d.h. Wiederherstellung der materiellen gesellschaftlichen Produktionsvoraussetzungen zu ermöglichen. Wir behandeln hierbei die sog. Arbeitswerttheorie gewissermaßen als Gleichgewichtstheorie unter Auslassung der Tauschvorgänge und unter Auslassung des Geldes als verselbständigte Form des Wertes. Dieses Vorgehen hat für uns den didaktischen Vorteil, daß wir, bevor wir uns den Formen zuwenden, einen Blick auf ihren Inhalt werfen. Dabei kann auch die Kritik zur Sprache kommen, die gegen die Arbeitswerttheorie als „ökonomische Theorie" erhoben wird. Die kapitalistische Produktionsweise - auf ihrer eigenen Grundlage betrachtet - ist „Produktion von Waren vermittels von Waren", wie Piero Sraffa sagt.12 64
Diese Aussage gilt insofern, als sie hervorhebt, daß in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums nur das zählt, was als Ware in sie eingeht. Es ist jedoch die Arbeit, die Waren mit Hilfe von Waren produziert. Die Formbestimmungen der Warenproduktion gehen daher an den unmittelbaren Produzenten, den Arbeitern und Arbeiterinnen des Kapitals, nicht vorbei. In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft werden sie nach Marx auch formell zu Warenbesitzern.13 Ihre „Ware" ist die Arbeitskraft, die sie als Konkurrenten auf den Arbeitsmärkten anbieten. Nicht die Arbeit wird verkauft bzw. gekauft, sondern die zeitlich begrenzte Verfügung über die Arbeitskraft. Die Wertbestimmung der Arbeitskraft erfolgt wie bei allen anderen Waren durch die zu ihrer Herstellung oder, wie Marx sagt, zu ihrer Reproduktion erforderliche Arbeit in Form von Waren, die als Konsumtionsmittel ihrerseits Resultat der kapitalistischen Warenproduktion sind. Dies ist ebenfalls Inhalt von Abschnitt 2.5. Abschnitt 2.5.10 ist dem berühmten 23. Kapitel des 1. Bandes von „Das Kapital" gewidmet. Zusammengefaßt im Begriff der „industriellen Reservearmee" zeigt Marx hier, wie die kapitalistische Produktionsweise sich ihr eigenes Reservoir von Arbeitskräften schafft und sich damit auch gegenüber der natürlichen Bevölkerungsentwicklung auf eigene Füße stellt. Die entscheidende materielle Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise schließlich ist das Fabriksystem oder die „große Maschinerie", durch die das Kapital die gesellschaftlichen Arbeitsprozesse unmittelbar seinen privaten Verwertungsinteressen unterordnet. Die Entwicklung der industriellen Produktion von der Manufaktur zur Fabrik und die Herausbildung der Industriearbeiterschaft wird daher ausführlicher in Abschnitt 2.6 besprochen. Unter den Begriffen der „produktiven" und „unproduktiven" Arbeit, die die Subsumtion der gesellschaftlichen Arbeit unter den Verwertungsprozeß des Kapitals reflektieren, wird in Abschnitt 2.7 insbesondere das Verhältnis zwischen „produktiver" Erwerbsarbeit und „unproduktiver" Hausarbeit thematisiert. Schließlich werden in Abschnitt 2.8 die inneren und äußeren Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise angesprochen.
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2.2 Der Begriff der gesellschaftlichen Arbeit in den Frühschriften von Marx 2.2.1 Arbeit als Entäußerung und Vergegenständlichung des Menschen In den „Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie" formuliert Marx: „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen." 14 Gesellschaft entsteht aus der Vergesellschaftung der Individuen. Vergesellschaftung kann übersetzt werden als Herstellung von „Zusammenhängen" zwischen den Individuen, die in der Geschichte immer stärker die Form einer allseitigen „Abhängigkeit" der Individuen voneinander annimmt. Die Individuen sind in der Wahl ihrer Beziehungen zueinander nicht frei, sondern folgen hierin der Notwendigkeit, sich als Einzelne und als Gattung zu erhalten. Als allgemeines Resultat seiner Studien formuliert Marx im Jahr 1859: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen."15 Mit dem Begriff der „Gesellschaft" sind bei Marx die notwendigen Zusammenhänge zwischen den menschlichen Individuen als Mitglieder der menschlichen Gattung gemeint, die dem Einzelnen wie der Gattung die Selbsterhaltung ermöglichen. Zugleich verwirklichen die Menschen die in ihnen enthaltenen Potenzen durch ihr gesellschaftliches Leben. Gesellschaft meint daher immer auch den Aspekt der Selbsterzeugung oder Selbstverwirklichung der Menschen. Die Geschichte der Selbsterzeugung der Menschen - heute etwas großartiger Autopoiesis genannt - zeigt sich in der Geschichte ihrer Bedürfnisse, die gewissermaßen den Entwicklungsstand der Menschen spiegeln. „Zum Leben aber gehört vor Allem Essen und Trinken, Wohnung und Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich erfüllt werden muß, um die Menschen nur am Leben zu erhalten. (...) Das Zweite ist, daß das befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrumente der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt - und diese Erzeugung neuer Bedürfnisse ist die erste geschichtliche Tat." 16 Das „System der Bedürfnisse" bildet eine Stufenleiter der menschlichen und zugleich gesellschaftlichen Entwicklung. Menschen werden dadurch in den Prozeß der Geschichte gerissen, daß der jeweilige 66
begrenzte Kreis ihrer Bedürfnisse gesprengt wird.17 Im Gang der Geschichte muß sich „Selbsterhaltung" jeweils auf den historisch erreichten Stand der gesellschaftlich anerkannten Bedürfnisse beziehen. Durch diesen wird definiert, was auf einer bestimmten Entwicklungsstufe gesellschaftlich notwendig ist, um die Menschen als gesellschaftliche Wesen zu erhalten. Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung können als anthropologische Grundkategorien oder Grundbestimmungen des Menschen als Gattungswesen aufgefaßt werden, die die Gemeinsamkeiten und zugleich die spezifischen Unterschiede zu anderen Gattungen von Lebewesen bezeichnen. Lebewesen sind, modern gesprochen, vor der unbelebten Natur durch Intentionalität ausgezeichnet, durch eine „Gerichtetheit" ihrer Lebensäußerungen gegenüber der unbelebten wie der belebten Natur. Als Lebewesen oder Organismen sind die menschlichen Individuen Teil der Natur. Nur im Stoffwechsel mit der Natur (Essen, Trinken, Wohnung etc.) können sich die Einzelnen und die Gattung erhalten und entwickeln. Durch die Arbeit stehen die Menschen unmittelbar in einem Verhältnis zur Natur. Durch die Arbeit wird die Natur als Quelle allen Reichtums erschlossen. „Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit."18 Im Begriff der Arbeit ist gleichzeitig ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zur Natur (Aneignung, Veränderung) angelegt,19 wie zu sich selbst als Selbsterzeugung durch Arbeit. Arbeit beinhaltet von vornherein auch ein gesellschaftliches Verhältnis. „Die Produktion des Lebens, sowohl des eigenen in der Arbeit wie des Fremden in der Zeugung, erscheint nun sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis -, gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck verstanden wird."20 Marx und Engels entwerfen hier in Auseinandersetzung mit der deutschen idealistischen Philosophie ein materialistisches Bild von der Gesellschaft, für das der Begriff der gesellschaftlichen Arbeit steht. „Es zeigt sich also von vornherein ein materialistischer Zusammenhang der Menschen untereinander, der durch die Bedürfnisse und die Weise der Produktion bedingt und so alt ist wie die Menschen selbst - ein Zusammenhang, der stets neue Formen annimmt und also eine 67
'Geschichte' darbietet, auch ohne daß irgendein politischer oder religiöser Nonsens existiert, der die Menschen noch extra zusammenhalte."21 Der Marxsche Materialismus besteht darin, daß er und Engels von den materiellen Notwendigkeiten der Erzeugung und Erhaltung der Menschen ausgehen, deren Zusammenhang untereinander zunächst und unmittelbar ein „materialistischer" ist. Gesellschaft beruht nicht auf einer „Idee von Gesellschaft", sondern auf menschlichen Bedürfnissen, die nach Erfüllung verlangen, wie immer entwickelt sie sein mögen. Damit werden die geistigen Potenzen der Menschen nicht geleugnet, allerdings von Marx und Engels als geistige Potenzen der Arbeit entwickelt. Menschen sind vor den anderen Lebewesen dadurch ausgezeichnet, daß sie Vorstellungen von ihren Beziehungen zur Natur wie zu den anderen menschlichen Individuen entwickeln können, daß sie in der Lage sind, ein Bewußtsein von ihrem Verhältnis zur Natur, das nach Marx von Beginn an ein gesellschaftliches Verhältnis ist, entwickeln können. Während die übrigen Organismen den Stoffwechsel mit der Natur instinktiv vollziehen, tritt der Mensch der Natur gegenüber. Seine Arbeit ist Auseinandersetzung mit der äußeren Natur. Zugleich formt er seine eigene Natur. „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß." 22 Durch die Arbeit wird die Natur zur bearbeiteten Natur, die die Menschen sich als ihre Welt aneignen. „Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens, d.h. eines Wesens, das sich zu der Gattung als seinem eignen Wesen oder zu sich als Gattungswesen verhält. [...] Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen: indem er sich nicht nur wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt, und sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut".23 Die Marxsche Anthropologie der Arbeit in den Frühschriften kann in einer an Hegel orientierten Terminologie als „Entäußerungsmodell"24 bezeichnet werden. Hiernach entwirft sich der Mensch selbst, indem er sich in ein Gegenüber 68
entäußert.25 Die Selbstwerdung und Selbsterkenntnis der Menschen bedarf der Vergegenständlichung in einem „Äußeren", von ihm geschaffenen und zugleich getrennten Gegenstand, zu dem er sich verhalten kann. Der Mensch schafft sich durch seine Arbeit seine Welt, in der er sich selbst gegenübersteht. Dieser Prozeß der Entäußerung seiner „Wesens- oder Gattungskräfte" in der gegenständlichen Welt ist zugleich ein Prozeß der Aneignung der Gegenstände oder der Natur. Indem der Mensch sich eine gegenständliche Welt erschafft, wird er sich selbst zum Gegenstand: „Der Mensch verliert sich nur dann nicht in seinem Gegenstand, wenn dieser ihm als menschlicher Gegenstand oder gegenständlicher Mensch wird. Dies ist nur möglich, indem er ihm als gesellschaftlicher Gegenstand und er selbst sich als gesellschaftliches Wesen, wie die Gesellschaft als Wesen für ihn in diesem Gegenstand wird. Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft die gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte, als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eigenen Wesenskräfte wird, werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände, d.h. Gegenstand wird er selbst."26 Marx formuliert den reflexiven Prozeß der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit in Anlehnung an Hegel. „Das Große an der Hegeischen Phänomenologie und ihrem Endresultate - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen, weil wirklichen Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift."27 Für das Marxsche Denken ist charakteristisch, daß er das Individuum selbst als ein Verhältnis analysiert, das hier vermittelt ist durch einen Gegenstand außerhalb seiner selbst, in dem es sich verwirklicht und erkennt.28 Der Mensch ist nicht nur geistiges Wesen, sondern tätiges, arbeitendes Wesen, dessen Geist sich in dem von ihm geschaffenen Gegenständen entäußert und erkennbar wird.29 Der Begriff der Vergegenständlichung, anders als der der Versachlichung, besitzt bei Marx daher eine positive Konnotation. Die Entäußerung der menschlichen Potenzen, ihre Darstellung in den Gegenständen bedeutet jedoch auch, daß die Menschen im Banne der von ihnen geschaffenen Gegenstände verbleiben, die ihnen im Verlauf der Geschichte als fremde Sachzusammenhänge oder Sachzwänge gegenübertreten werden. Die Arbeit ist für Marx kein beliebiger Ausgangspunkt der Gesellschaftsanalyse. Gesellschaft ist für ihn immer „Arbeitsgesellschaft", um es tautologisch zu formulieren, die sich allerdings in verschiedene Sphären (Produktion, Handel, Staat, Haushalte) ausdifferenzieren kann. Im Begriff der Arbeit sind - gewisser69
maßen als Klammer - die fundamentalen Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur angesprochen. Marx stellt sich mit dem Begriff der gesellschaftlichen Arbeit auf diesen Standpunkt des Notwendigen, das historisch verschiedene Formen annehmen kann. Jede Gesellschaft muß sich „bei Strafe ihres Untergangs" diesen Notwendigkeiten stellen. Mit der Veränderung der Natur in eine bearbeitete, durch den Menschen produzierte Natur, mit dem Wachstum des materiellen Reichtums und auf seiner Basis der Bevölkerungen verstärken sich diese Notwendigkeiten mehr und mehr. Die Geschichte der Natur wird zur Naturgeschichte des vergesellschafteten Menschen.30 Auch gegenüber der „bürgerlichen Gesellschaft" auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise nimmt Marx den Standpunkt des Notwendigen, d.h. der Arbeit ein. Sie ist der Inhalt, der auch in dieser Gesellschaftsform in den Formen von Ware - Geld - Kapital gesellschaftlich bewältigt wird. Die Kategorie des Notwendigen bezeichnet die realen Zwänge der Produktion des materiellen Lebens, der jede Gesellschaftsform unterliegt. Als Verstandeskategorie bildet sie den Ausgangspunkt für die Frage nach der „Rationalität" der gesellschaftlichen Formen und Gestaltungen.31 So definieren sich die gesellschaftlichen Notwendigkeiten in der kapitalistischen Gesellschaft aus der Perspektive der Vermehrung des Kapitals, zu der es, um sich zu erhalten, gezwungen ist. Die Analyse der gesellschaftlichen Arbeit ist daher auch eine Untersuchung der gesellschaftlichen Rationalität im Umgang mit der Natur und ihren Potenzen, zu denen auch die menschlichen Potenzen gehören. Der Begriff der Arbeit, den Marx in den sog. Frühschriften, insbesondere in den „Pariser Manuskripten", in Auseinandersetzung mit Hegel und den „Jungheglianern" (Bauer, Feuerbach) entwickelt, ist kein empirischer, sondern ein emphatischer Begriff von Arbeit, der bestimmte Wesenskräfte und damit Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen bezeichnet. Marx schreibt in der ersten These über Feuerbach, dieser habe wie der gesamte ihm vorhergehende philosophische Materialismus „den Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt [...] nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv."32 Arbeit als solche besitzt den Doppelaspekt von individueller Betätigung oder, wie Marx im Kapital sagen wird, der „Verausgabung von Arbeitskraft", und menschlicher Verwirklichung. Beide Aspekte fallen jedoch in der „entfremdeten" Arbeit auseinander. Die Reduzierung der Arbeit und des zugehörigen Begriffs von Arbeit auf die Verausgabung von Arbeitskraft (gegen Lohn), in der nur noch die individuelle Betätigung ohne weitere Bestimmungen erscheint, ist für Marx Ergebnis der Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft. „Arbeit scheint eine ganz einfache Kategorie. Auch die Vorstellung derselben in dieser Allgemeinheit - als Arbeit 70
überhaupt - ist uralt. Dennoch, ökonomisch in dieser Einfachheit gefaßt, ist 'Arbeit' eine ebenso moderne Kategorie, wie die Verhältnisse, die diese einfache Abstraktion erzeugen. (...) Es war ein ungeheurer Fortschritt von Adam Smith, jede Bestimmtheit der reichtumerzeugenden Tätigkeit fortzuwerfen - Arbeit schlechthin, weder Manufaktur- noch kommerzielle, noch Agrikulturarbeit, aber sowohl die eine wie die andre. Mit der abstrakten Allgemeinheit der reichtumschaffenden Tätigkeit nun auch die Allgemeinheit des als Reichtum bestimmten Gegenstandes, Produkt überhaupt oder wieder Arbeit überhaupt, aber als vergangne, vergegenständlichte Arbeit. (...) Nun könnte es scheinen, als ob damit nur der abstrakte Ausdruck für die einfachste und urälteste Beziehung gefunden, worin die Menschen - sei es in welcher Gesellschaftsform immer - als produzierend auftreten. Das ist nach einer Seite hin richtig. Nach der andren nicht. Die Gleichgültigkeit gegen eine bestimmte Art der Arbeit setzt eine sehr entwickelte Totalität wirklicher Arbeitsarten voraus, von denen keine mehr die alles beherrschende ist. (...) Andererseits ist diese Abstraktion der Arbeit überhaupt nicht nur das geistige Resultat einer konkreten Totalität von Arbeiten. Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre Übergehn und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist. Die Arbeit ist hier nicht nur in der Kategorie, sondern in der Wirklichkeit als Mittel zum Schaffen des Reichtums überhaupt geworden (...). Hier also wird die Abstraktion der Kategorie 'Arbeit', 'Arbeit überhaupt', 'Arbeit sans phrase', der Ausgangspunkt der modernen Ökonomie, erst praktisch wahr."33 Der Mensch als gesellschaftliches Wesen erzeugt sich in der Arbeit selbst und macht seine Geschichte selbst. „Und wie alles Natürliche entstehen muß, so hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die aber für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt ist. Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen." 34 Als Naturgeschichte bleibt die gesellschaftliche Entwicklung an die Auseinandersetzung mit der Natur gebunden, kann sich nicht von ihren Zwängen befreien. Vielmehr verstricken sich die Menschen in ihren Versuchen, die Natur zu unterwerfen, immer tiefer in diese Zwänge, die ihnen als selbstgeschaffene, aber fremde Mächte gegenübertreten.35 Auch die gesellschaftliche Entwicklung bleibt damit, zumindest soweit ihre Geschichte bisher reicht, „naturwüchsig". Sie untersteht damit nur partiell der bewußten Kontrolle der vergesellschafteten Individuen.36
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2.2.2 Arbeitsteilung, Privateigentum und Entfremdung Die Individuen sind bei Marx in einem grundsätzlichen Sinn (als Gattungswesen) gesellschaftliche Wesen. Sie existieren nicht außerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse, auch oder gerade nicht in ihrem Verhältnis zur Natur (Arbeit) oder in ihrem Verhältnis zu sich selbst.37 Die Menschen verhalten sich zur Natur immer gesellschaftlich, Arbeit ist immer gesellschaftliche (gemeinschaftliche) Arbeit, auch wenn sie im Kapitalismus der Form nach Privatarbeit auf der Grundlage des Privateigentums wird. In einem ganz allgemeinen Sinne ist Geschichte der Menschheit für Marx ein Prozeß der Trennung des gesellschaftlich Zusammengehörigen, der Trennung des Einzelnen vom Gemeinwesen und ein Prozeß der Enteignung der Individuen und Gemeinschaften von der von ihnen geschaffenen gegenständlichen Welt. Für diesen Prozeß der Enteignung oder Trennung des gattungsmäßig Zusammengehörigen stehen von Beginn an bei Marx die Arbeitsteilung und der Begriff des „Privateigentums", die ihre volle Entfaltung in der „bürgerlichen Gesellschaft" finden.38 Der Begriff der Arbeit meint bei Marx dreierlei: 1) Zweck oder Aufgabe, Plan des Baumeisters etc., 2) Ausführung, Tätigkeit, Produktion, 3) Resultat der Arbeit, Arbeitsergebnis. Diese drei Momente werden zunächst zusammengedacht. Im Begriff der „gesellschaftlichen Arbeit" sind sie als Zusammenhang enthalten, während sie auf der Ebene der Individuen bzw. Klassen auseinander treten können. Hier setzt der weitreichende und einflußreiche Begriff der Entfremdung an, der sowohl die Entfremdung des Arbeitenden vom Zweck der Arbeit, die fremden Zwecken dient, wie die Entfremdung vom Ergebnis der Arbeit durch fremde Aneignung einschließt. Die gesellschaftlichen Potenzen der Arbeit (Kooperation, Wissenschaft) treten schließlich für Marx in Widerspruch zur privaten Aneignung durch das Kapital. Entfremdung des Arbeitenden bzw. Entfremdung des Menschen als desjenigen Wesens, das seine Gattungskräfte oder schöpferischen Potenzen in der Arbeit als Vergegenständlichung betätigt oder verwirklicht (Wirklichkeit als gegenständliche Wirklichkeit), erscheint nicht nur als Trennung von Zweck, Tätigkeit und Resultat, sondern auch als Verkehrung des Zwecks der Arbeit (Verwirklichung/ Selbstverwirklichung) zum Mittel (Überlebens-Mittel). Dem geht voraus eine Trennung der Individuen vom Gemeinwesen, durch das sie existieren und sich entwickeln. Man kann dies auch als eine Verselbständigung der Teile gegenüber ihrem Ganzen sehen, die sich des Ganzen nunmehr für ihre selbstsüchtigen, individualisierten Interessen bedienen. Der Weg in die Entfremdung beginnt auf der anthropologischen Grundlage des jungen Marx mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die sich gegenüber den 72
Individuen verselbständigt. „Ferner ist mit der Teilung der Arbeit zugleich der Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums oder der einzelnen Familie und dem gemeinschaftlichen Interesse aller Individuen, die miteinander verkehren, gegeben; und zwar existiert dies gemeinschaftliche Interesse nicht etwa bloß in der Vorstellung, als 'Allgemeines', sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist. Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besonderen und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht.39 Marx kritisiert hier die gesellschaftliche Arbeitsteilung als eine zwangsweise Fixierung des Einzelnen an eine spezialisierte Tätigkeit, die erst in einer kommunistischen Gesellschaft überwunden werden kann (vgl. auch Abschnitt 3.8). Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, die eine Gesellschaft von unabhängigen Warenbesitzern und Eigentümern ist, bedeutet den Herrschaftsantritt des Privateigentums. Damit erweitert und vertieft sich nicht nur die Arbeitsteilung zwischen und innerhalb der Produktionseinheiten (Manufakturen, Fabriken), vor allem verlieren die unmittelbaren Produzenten als Lohnarbeiter vollständig die Verfügung über die Ergebnisse ihrer Arbeit. Mit der Zerstückelung der Arbeit in der Industrie, ihrer Unterordnung unter die Maschinen und Antriebssysteme wird der sinnvolle Zusammenhang der Arbeiten für sie zerstört und existiert nun als Produkt einer fremden Macht außerhalb von ihnen. Sie sind gezwungen, sich in nicht ihnen gehörigen Dingen zu vergegenständlichen, ohne sich darin verwirklichen zu können. „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knecht-
schaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung. [...] In der Bestimmung, daß der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält, liegen alle diese Konsequenzen. Denn es ist nach dieser Voraussetzung klar: Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innere Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen."40 73
2.3 Gesellschaftliche Arbeitsteilung und gesellschaftliche Klassenbildung In der Auseinandersetzung mit Feuerbach und unter dem Eindruck von Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum" brechen Marx und Engels in ihrer gemeinsamen Schrift Die Deutsche Ideologie (1845/46), veröffentlicht 1932 in Moskau, mit den Versuchen einer anthropologischen Grundlegung der Kritik des Privateigentums und der bürgerlichen Gesellschaft. Es geht nicht mehr um die Potenzen des menschlichen Wesens sondern um das „empirische Individuum". „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar."41 Damit können sie nicht mehr unmittelbar am Telos des Menschen als „Gattungswesen" anknüpfen. Die Untersuchung wird daher auch nicht mehr vom (arbeitenden) Menschen an sich ausgehen können, sondern muß sich den gesellschaftlichen Verhältnissen und den gesellschaftlichen Formen zuwenden, in denen die Individuen handeln. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden von Marx und Engels als Verhältnisse von gesellschaftlichen Klassen gedacht, die in der Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verankert sind. Im Zentrum steht nicht mehr die Subjektivität des arbeitenden Menschen, sondern die gesellschaftliche Macht, die sich den Individuen entzieht. Die in der Deutschen Ideologie entwickelte materialistische Geschichtskonzeption findet im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 einen prägnanten Ausdruck. Der Motor der Geschichte wird nicht von den Ideen der Akteure gebildet, sondern von ihren gegenseitigen Aktionen, genauer von den Kämpfen zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Während der Frage nach den Klassen als Subjekten der gesellschaftlichen Entwicklung in Abschnitt 3.4 genauer nachgegangen wird, soll hier der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Klassenbildung, wie er sich Marx und Engels vor den revolutionären Auseinandersetzungen von 1848 darstellte, vorgestellt werden. Auch in der Deutschen Ideologie findet sich die grundlegende Denkfigur der Marxschen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und ihrer Geschichte, die Vorstellung der Trennung oder Spaltung von seiner Natur nach Zusammengehörigem und die Scheidung oder Verselbständigung seiner Teile bis zum Gegensatz. Das Zusammengehörige bildet eine Einheit und strebt zugleich auseinander. In der dialektischen Denkbewegung werden zugleich die identischen wie die nicht-identischen Momente des gesellschaftlichen Zusammenhangs miteinander vermittelt. Die 74
Arbeit der Individuen bildet ihr gesellschaftliches Band, durch das sie sich aufeinander beziehen. Die Verselbständigung der verschiedenen Momente der Arbeit durch die Arbeitsteilung ist Resultat von Machtverhältnissen. Gleichzeitig wirken die verselbständigten Verhältnisse auf die Individuen als gesellschaftliche Macht zurück. Die gesellschaftliche Synthese des gesellschaftlich Getrennten nimmt selbst Zwangscharakter an, deren Ausruck die Kämpfe zwischen den Klassen bilden. Daß der gesellschaftliche Zusammenhang den Individuen gegenüber als ihnen fremde, unkontrollierte Macht auftreten kann, ist für Marx und Engels geschichtliches Resultat der naturwüchsigen Arbeitsteilung zwischen den Individuen, durch die sie gegeneinander verselbständig und zugleich vergesellschaftet werden. „Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besonderen und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigene Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. (...) Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unseres eigenen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besonderen und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an. (...) Die soziale Macht, d.h. die vervielfachte Produktionskraft, die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern nur naturwüchsig ist, nicht als ihre eigene, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft."42 Die Trennung der Tätigkeiten der Individuen in gegeneinander verselbständigte Arbeiten geht einher mit einer Aufspaltung der individuellen und der gemeinsamen Interessen, die nun in Widerspruch zueinander treten können. „Ferner ist mit der Teilung der Arbeit zugleich der Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums oder der einzelnen Familie und dem gemeinschaftlichen Interesse aller Individuen, die miteinander verkehren, gegeben; und zwar existiert dies gemeinschaftliche Interesse nicht bloß in der Vorstellung, als 'Allgemeines', sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist."43 Das gemeinschaftliche Interesse nimmt die 75
Gestalt des Sachzwangs an, durch den die individuellen Arbeiten notwendig aufeinander bezogen zu sein scheinen. Der Begriff der Macht wird hier von Marx nicht wie bei Weber als persönliche Ressource der Einflußnahme entwickelt, sondern - ganz modern, etwa im Sinne Michel Foucaults - als anonyme Macht, die aus den Kräfteverhältnissen zwischen Individuen resultiert, die als einzelne keine Kontrolle über die Verhältnisse insgesamt besitzen, sondern sich in den Verhältnissen bewegen müssen. Die Arbeitsteilung wird von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie nicht nur als funktionaler Zusammenhang gedacht, der die Individuen miteinander verbindet, sondern als ein Machtkomplex, der zugleich verbindet und trennt. Arbeitsteilung ist für die beiden Autoren von Beginn an mit bestimmten Formen der Aneignung der Produkte und der Arbeitsleistungen verbunden, mit der Bildung von Eigentum, für das bei ihnen insgesamt der Begriff des „Privateigentums" steht. „Privat" wird hier im unmittelbaren Wortsinn als das „Getrennte", das gegenüber dem Gemeinschaftlichen Abgesonderte verstanden. „Die erste Form des Eigentums ist sowohl in der antiken Welt wie im Mittelalter das Stammeigentum, bedingt bei den Römern durch den Krieg, bei den Germanen durch die Viehzucht. Bei den antiken Völkern erscheint, weil in der Stadt mehrere Stämme zusammenwohnen, das Stammeigentum als Staatseigentum und das Recht des Einzelnen daran als bloße Possesio, die sich indes, wie das Stammeigentum überhaupt, nur auf das Grundeigentum beschränkt. Das eigentliche Privateigentum fängt bei den Alten, wie bei den modernen Völkern, mit dem Mobiliareigentum an. (...) Bei den aus dem Mittelalter hervorgehenden Völkern entwickelt sich das Stammeigentum so durch verschiedene Stufen - feudales Grundeigentum, korporatives Mobiliareigentum, Manufakturkapital - bis zum modernen, durch die große Industrie und universelle Konkurrenz bedingten Kapital, dem reinen Privateigentum, das allen Schein des Gemeinwesens abgestreift und alle Einwirkungen des Staates auf die Entwicklung des Eigentums ausgeschlossen hat." 44 Im modernen „Privatrecht" wird das Eigentum zum absoluten, individuellen Eigentum, das als Recht auf der gegenseitigen Anerkennung der Eigentümer als Berechtigte zur absoluten Verfügung über ihr jeweiliges Eigentum beruht. „Im Privatrecht werden die bestehenden Eigentumsverhältnisse als Resultat des allgemeinen Willens ausgesprochen. Das jus utendi und abutendi selbst spricht einerseits die Tatsache aus, daß das Privateigentum vom Gemeinwesen durchaus unabhängig geworden ist, und andererseits die Illusion, als ob das Privateigentum selbst auf dem bloßen Privatwillen, der willkürlichen Disposition über die Sache beruhe."45 Im historisch entwickeltsten Stadium der Arbeitsteilung, in der bürgerlichen Gesellschaft, wird der Zusammenhang der Arbeitstätigkeiten durch den unablässigen Formwechsel des Kapitals hergestellt und 76
zugleich beherrscht. Die Zirkulationssphäre des Austausches von Waren und von Kapital und Arbeitskraft, der Markt, wird für die Akteure zum Zentrum ihres Handelns und erscheint ihnen als „wahres Gemeinwesen" in einer Gesellschaft von Individuen, die jedes für sich nur ihre Privatinteressen verfolgen. Der Zusammenhang von Arbeitsteilung und Eigentum und damit von Arbeitsteilung und Herrschaft zeigt sich nach Marx und Engels von Beginn der Geschichte menschlicher Gesellschaften an und findet historisch seinen Ausdruck in den „großen" Arbeitsteilungen: der geschlechtlichen Arbeitsteilung in der Familie, in der Teilung von Kopf- und Handarbeit und im Gegensatz von Stadt und Land. „Mit der Teilung der Arbeit, in welcher alle diese Widersprüche gegeben sind und welche ihrerseits auf der naturwüchsigen Teilung der Arbeit in der Familie und in der Trennung der Gesellschaft in einzelne, einander entgegengesetzte Familien beruht, ist zu gleicher Zeit auch die Verteilung, und zwar die ungleiche, sowohl quantitative wie qualitative Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte gegeben, als das Eigentum, das in der Familie, wo die Frau und die Kinder Sklaven des Mannes sind, schon seinen eigenen Keim, seine erste Form hat. Die freilich noch sehr rohe Sklaverei in der Familie ist das erste Eigentum, das übrigens hier schon vollkommen der Definition der modernen Ökonomen entspricht, nach der es die Verfügung über fremde Arbeitskraft ist." 46 Die Verselbständigung von Frauen gegenüber der Familie, die nun rechtlich frei, d.h. formell unabhängig über ihre Arbeitskraft und die Erträge ihrer Arbeit verfügen können, ist erst Ergebnis der allerjüngsten Geschichte. Damit ist jedoch die Formbestimmtheit der Arbeit von Frauen innerhalb der Familie, die unentgeltlich von den übrigen Familienmitgliedern angeeignet wird, nicht aufgehoben.47 Auch die Teilung von Kopf- und Handarbeit hat von Beginn an den Charakter von Herrschaft. „Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt."48 In diesem Augenblick werden bestimmte Individuen, sei es als Seher oder Priester, sei es als Denker oder Philosophen von der materiellen Arbeit befreit und können für sich in Anspruch nehmen, die Geschicke der anderen zu lenken und zu leiten. Die Kopfarbeiter bilden einen Teil der herrschenden Klasse oder stehen in ihren Diensten und werden aus Teilen des gesellschaftlichen Mehrprodukts, das sich die Herrschenden aneignen, alimentiert. „Die Teilung der Arbeit (...) äußert sich nun auch in der herrschenden Klasse als Teilung der geistigen und materiellen Arbeit, so daß innerhalb dieser Klasse der eine Teil als die Denker dieser Klasse auftritt (...), während die Anderen sich zu diesen Gedanken und Illusionen mehr passiv und rezeptiv verhalten, weil sie in Wirklichkeit die aktiven Mitglieder dieser Klasse sind und weniger Zeit dazu haben, sich Illusionen und Gedanken über sich selbst zu machen."49 77
Mit der Entwicklung des modernen Staates und der modernen Wissenschaften verändert und vertieft sich die Teilung von Kopf- und Handarbeit. Die „Spezialisten für das Allgemeine" entziehen sich als Angestellte oder Beamte des Staates der unmittelbaren materiellen Abhängigkeit von einzelnen Herrschern und werden nun von der Allgemeinheit aus allgemeinen Steuermitteln für ihre Dienste unterhalten. Sie sind zuständig für die allgemeinen Produktionsvoraussetzungen, die rechtlichen Regulierungen und Normierungen und die verallgemeinerten Bedingungen der Reproduktion der Arbeitskräfte (Erziehung, Gesundheit, soziale Sicherung). Davon zu unterscheiden ist die betriebliche Arbeitsteilung zwischen Hand und Kopf, die sich unter der Regie der einzelnen Kapitale vollzieht. Mit der Verwissenschaftlichung der industriellen Produktion werden die einzelnen Arbeitstätigkeiten minutiös nach ihren körperlichen und geistigen Vollzügen zerlegt und neu zusammengesetzt. In der Folge entstehen massenhafte Arbeitsverrichtungen, die weitgehend von selbständiger Denktätigkeit der Arbeitenden entleert sind. (Vgl. auch Abschnitt 2.6) Die dritte Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Marx und Engels in der Deutschen Ideologie als epochemachend herausstellen, ist die zwischen Stadt und Land. Die Differenzierung von Stadt und Land spitzt die gesellschaftliche Arbeitsteilung zum Gegensatz zu und bündelt die gesellschaftlichen Funktionen. „Die größte Teilung der materiellen und geistigen Arbeit ist die Trennung von Stadt und Land. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land fängt an mit dem Ubergang aus der Barbarei in die Zivilisation, aus dem Stammwesen in den Staat, aus der Lokalität in die Nation, und zieht sich durch die ganze Geschichte der Zivilisation bis auf den heutigen Tag. (...) Mit der Stadt ist zugleich die Notwendigkeit der Administration, der Polizei, der Steuern usw., kurz des Gemeindewesens und damit der Politik überhaupt gegeben. Hier zeigte sich zuerst die Teilung der Bevölkerung in zwei große Klassen, die direkt auf der Teilung der Arbeit und den Produktionsinstrumenten beruht. Die Stadt ist bereits die Tatsache der Konzentration der Bevölkerung, der Produktionsinstrumente, des Kapitals, der Genüsse, der Bedürfnisse, während das Land gerade die entgegengesetzte Tatsache, die Isolierung und Vereinzelung, zur Anschauung bringt. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land kann nur innerhalb des Privateigentums existieren. Er ist der krasseste Ausdruck der Subsumtion des Individuums unter die Teilung der Arbeit, unter eine bestimmte ihm aufgezwungene Tätigkeit, eine Subsumtion, die den Einen zum bornierten Stadttier, den Anderen zum bornierten Landtier macht und den Gegensatz der Interessen Beider täglich neu erzeugt."50 Im Zeichen der Globalisierung verschwindet heute der Stadt-Land-Gegensatz nicht in einer verallgemeinerten städtischen Lebensweise, sondern wird weltweit zwischen 78
den riesenhaften städtischen Agglomerationen als kommerzielle und kulturelle Zentren und den zum Teil übervölkerten, zum Teil von Menschen entleerten peripheren Regionen reproduziert.51 Die Trennung von Stadt und Land bildet den Ausgangspunkt der modernen Klassenformationen. „Die Trennung von Stadt und Land kann auch aufgefaßt werden als die Trennung von Kapital und Grundeigentum, als der Anfang einer vom Grundeigentum unabhängigen Existenz und Entwicklung des Kapitals, eines Eigentums, das bloß in Arbeit und im Austausch seine Basis hat."52 Die moderne Bougeoisie entwickelt sich aus dem städtischen Bürgertum, dem „ständischen Kapital"53 des Zunfthandwerks und dem Handelskapital, das sich unter Beseitigung der Zünfte selbst in der Warenproduktion engagiert. „Aus den vielen lokalen Bürgerschaften der einzelnen Städte entstand erst sehr allmählich die Bürgerklasse. (...) Die Bourgeoisie selbst entwickelt sich mit ihren Bedingungen allmählich, spaltet sich nach der Teilung der Arbeit wieder in verschiedene Fraktionen und absorbiert endlich alle vorgefundenen besitzenden Klassen in sich (während sich die Majorität der vorgefundenen besitzlosen und einen Teil der bisher besitzenden Klassen zu einer neuen Klasse, dem Proletariat, entwikkelt), in dem Maße, als alles vorgefundene Eigentum in industrielles und kommerzielles Kapital umgewandelt wird."54 Es ist zunächst die städtische Bourgeoisie, die in der Frontstellung gegen die feudalen und zünftigen Beschränkungen der kapitalistischen Produktionsweise sich als politische Klasse herausbildet. Sie entsteht aus den alten Verhältnissen, schafft sich aber in der kapitalistischen Warenproduktion, die alle alten Schranken niederreißt, ihre eigene Grundlage. Im Kommunistischen Manifest (1847/48) bezeichnen Marx und Engels die Schaffung der modernen Welt als gesellschaftliche und politische Tat der Bourgeoisie: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Vermehrung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. (...) Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde. Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. (...) Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. (...) Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundert79
jährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen."55 Die Bourgeoisie gründet in der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit, die sie transformiert und nach ihrem eigenen Bilde neu schafft. Zur Klasse wird sie für Marx und Engels durch ihre gesellschaftlichen Taten, in der Auseinandersetzung mit den alten und neuen Klassen, gegen die sie ihr „Projekt" als ihre „historische Mission" durchsetzt. Die anderen gesellschaftlichen Klassen sind ebenfalls doppelt bestimmt, durch ihre Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und ihren politischen Gegensatz zur Bourgeoisie. „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihre eigenstes Produkt. Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen."56 Was die Klassen in der Deutschen Ideologie und im Manifest zu Klassen macht, sind die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Kämpfe mit der Bourgeoisie um die gesellschaftliche und politische Vorherrschaft. Marx und Engels waren hier der Überzeugung, daß sich die Klassenstruktur im weiteren Verlauf der Entwicklung grundsätzlich vereinfachen und auf den Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat reduzieren würde. Ein systematisch ausgearbeiteter Ansatz zur Klassenanalyse findet sich hingegen nicht. Auf den differenziertesten Versuch von Marx zur Analyse von Klassenauseinandersetzungen in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" (1852) werden wir im dritten Teil unserer Darstellung noch näher eingehen. Die drei Bände des Kapital enthalten keine explizite Darstellung der Klassenstruktur der entfalteten kapitalistischen Gesellschaft. Das mit „Die Klassen" überschriebene 52. Kapitel des dritten Bandes bricht nach anderthalb Seiten unvollendet ab. Marx unterscheidet hier „die drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft", „die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grundeigentümer, deren respektive Einkommensquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind (..,)."57 „Was macht Lohnarbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer zu Bildnern der drei großen gesellschaftlichen Klassen? Auf den ersten Blick die Dieselbigkeit der Revenuen und Revenuequellen. (...) Indes würden von diesem Standpunkt aus z.B. Ärzte und Beamte auch zwei Klassen bilden, denn sie gehören zwei unterschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an, bei denen die Revenuen der Mitglieder von jeder der beiden aus derselben Quelle fließen. Dasselbe gälte für die 80
unendliche Zersplitterung der Interessen und Quellen, worin die Teilung der gesellschaftlichen Arbeit die Arbeiter wie die Kapitalisten und Grundeigentümer - letztere z.B. in Weinbergsbesitzer, Ackerbesitzer, Waldbesitzer, Bergwerksbesitzer, Fischereibesitzer - spaltet." [Hier bricht das Manuskript ab.]58 Marx formuliert hier gewissermaßen als Problem, daß die Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ein (objektives) Moment in der Bestimmung der Klassenlage ist, aber allein nicht ausreicht, um die Formation der gesellschaftlichen Großgruppen festzulegen. Es fehlt, so könnte man unter Rückgriff auf das „Manifest" argumentieren, die politische Dimension der gesellschaftlichen Kämpfe. Dies muß besonders für eine Klassengliederung auf der Grundlage der Revenuequellen gelten, die die Struktur der Gesellschaft auf ihrer Oberfläche spiegeln, also dort, wo sich die Individuen nur als unterschiedliche Bezieher von Einkommen begegnen, deren Beziehung zur Produktion des gesellschaftlichen Reichtums in den Formen von Profit, Zins, Rente, Einkommen aus selbständiger Arbeit und Arbeitslohn weitgehend ausgelöscht ist. Andererseits sind es die Einkommensquellen, in denen den Akteuren ihre gesellschaftliche Stellung unmittelbar erscheint. Es fragt sich daher, wieweit sie Ansatzpunkte der Bildung von politischen Bewußtsein sein können.59 Die Einkommensquellen als materielle gesellschaftliche Basis der Akteure sind, wie noch darzustellen ist, auf vielfältige Weise an den Akkumulations- und Reproduktionsprozeß des Kapitals rückgebunden und werden durch seine krisenhaften Verläufe in unterschiedlicher Weise betroffen. In ihm sind mögliche Konfliktlinien, aber auch mögliche Bündnisse der Kontur nach angelegt, die in den Klassenauseinandersetzungen aktualisiert werden können. In dieser Weise kann die Analyse der Stellungen der Akteure im oder zum Reproduktionsprozeß des Kapitals zum Verständnis der Akteure beitragen, die in den Auseinandersetzungen zu Klassen werden. Die Marxsche Analyse des Reproduktionsprozesses des Kapitals (s.u.) liefert auch eine Reihe von Hinweisen auf innere Gliederungen und Differenzierungen der beiden Grundklassen der kapitalistischen Produktionsweise. Diese sind von vielen Theoretikern in der Nachfolge von Marx zu Ansatzpunkten einer marxistischen Klassentheorie genommen worden, auf die wir hier nicht näher eingehen können.60
81
2.4 Gesellschaftliche Reproduktion und Arbeitswerttheorie Wie bereits im ersten Teil ausgeführt wurde, richtet sich das Interesse von Marx im Umkreis des Hauptwerkes besonders auf die Analyse der Formen, durch die sich in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft der gesellschaftliche Zusammenhang der Individuen und Klassen herstellt. Wie wir noch genauer sehen werden, besteht nach Marx in dieser Gesellschaftsform der zentrale Mechanismus der Vergesellschaftung im Warentausch. Die Individuen treten sich auf den Märkten als unabhängige Warenbesitzer gegenüber, die ihre Waren als Äquivalente tauschen. Die gesellschaftliche Geltung der Äquivalenzrelation oder Gleichheit im Tausch von Waren ist konstitutiv für die Marxsche Gesellschaftsanalyse. In ihr drückt sich - die kapitalistische Produktionsweise für sich betrachtet - die gesellschaftliche Gleichheit der Warenbesitzer aus. Diese Warenbesitzer sind nichts anderes als Besitzer von Warenwerten. Die gesellschaftliche Gleichheit der unmittelbaren Produzenten, d.h. der Lohnarbeiter, ist dadurch gesetzt, daß sie Lohnarbeit verrichten, ihre Arbeitsprodukte hingegen den Warenbesitzern in erster Hand zufallen. Die Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter treten ebenfalls formell als Besitzer einer besonderen Ware, der „Arbeitskraft" auf, die sie gegen Geld (Lohn) tauschen. Diese Gleichheit der Akteure existiert nicht von Natur aus, sondern muß gesellschaftlich hergestellt oder erzwungen werden, indem von Natur aus Ungleiches gesellschaftlich als gleich behandelt wird.61 Die Käufer der Ware Arbeitskraft bilden die Klasse der Kapitalisten, in deren Besitz die Produktionsmittel, die ihrerseits als Waren produziert werden, liegen. Lohnarbeiter und Kapitalisten treten auf den Märkten zugleich als Käufer von Waren für ihre individuelle Konsumtion auf. Das Prekäre dieser Gesellschaftsform besteht nach Marx darin, daß sich die gesellschaftlichen Notwendigkeiten, die Stoffwechselprozesse zwischen Natur und Gesellschaft, in den allseitigen Aktionen zwischen unabhängigen, im Prinzip isoliert handelnden Akteure durchsetzen müssen. Die gesellschaftlichen notwendigen Proportionen zwischen den Arbeitsarten und Arbeitssphären, zwischen den gesellschaftlichen Bedürfnissen und dem durch Arbeit hervorgebrachten Reichtum, zwischen Produktion und Konsum kann sich immer nur erst im Nachhinein, wenn überhaupt, vollziehen. Über allem waltet das Zwangsgesetz der Konkurrenz, das die individuellen Aktionen und Reaktionen beherrscht. Die kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft der „Nachträglichkeit", in der das Geschaffene das zu Schaffende bestimmt. Wie wir noch sehen werden, ist der Schlüsselbegriff für das Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft bei Marx der Begriff des Kapitals, das in seiner 82
umittelbarsten Form im Geld erscheint. Die kapitalistische Gesellschaft ist wesentlich Arbeitsgesellschaft und Geldgesellschaft in eins und zugleich. Vermittelt sind sie im Begriff des „Werts", dessen Vermehrung die Aktionen der Individuen bestimmt. Die Arbeit wird dabei von Marx als Inhalt oder „Substanz" gedacht, der „Wert" als ihre gesellschaftliche Form. In der ersten Ausgabe des Kapital schreibt Marx: „Das entscheidend Wichtige aber war, den inneren nothwendigen Zusammenhang zwischen Werthform, Werthsubstanz, und Werthgrösse zu entdecken."62 Und an anderer Stelle heißt es. „Wir kennen jetzt die Substanz des Werths. Es ist die Arbeit. Wir kennen sein Grössenmass. Es ist die Arbeitszeit. Seine Form, die den Werth eben zum Tausch-Werth stempelt, bleibt zu analysiren."63 Dieses Verhältnis von Arbeit und Wert als ein Verhältnis von (gesellschaftlicher) Form und (gesellschaftlichem) Inhalt steht im Zentrum der Auseinandersetzungen um die Marxsche Gesellschaftstheorie. Die Schwierigkeiten liegen insbesondere im Begriff der Substanz. Der Wert ist die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses. Die „Substanz" des Wertes, die Arbeit, muß daher ein gesellschaftliches Verhältnis sein. Dies verträgt sich schwer mit einer Anschauung, die den Substanzbegriff mit einem gegenständlichen Sein verbindet.64 Eine weitere, vielleicht noch größere Schwierigkeit resultiert daraus, daß wir das reale Sein einer Substanz immer als bestimmtes Sein, als Größe denken.65 Die Wertgröße erscheint gedanklich damit, wie im Zitat, als eine bereits dem Tauschwert vorausgesetzte, fixe Größe. Die Schwierigkeiten der Bestimmung des Zusammenhangs zwischen einer als vorausgesetzt gedachten Wertgröße und ihrer Erscheinungsweise im Tauschwert bzw. im Preis hat viele dazu gebracht, den Wertbegriff ganz zu verwerfen bzw. nur die Marxsche Formanalyse zu akzeptieren. Im folgenden soll zunächst gezeigt werden, in welcher Weise Arbeit als Substanz und Größe gedacht werden kann. Es geht uns dabei nicht darum, verengten „substantialistischen" Deutungen der Marxschen Theorie Vorschub zu leisten. Wir folgen dabei zunächst nicht dem von Marx im ersten Band des Kapitals eingeschlagenen Weg, die Arbeit als Substanz des Wertes der Waren aus der Analyse der Form der Ware herauszulesen. Es soll darum gehen zu klären, in welcher Weise es möglich ist zu behaupten, daß in den dinglichen Arbeitsprodukten, die die Waren darstellen, Arbeit „enthalten" ist. Wir ziehen damit Elemente der Analyse des Arbeitsprozesses, die Marx im fünften Kapitel im ersten Band des Kapitals liefert, vor die Warenanalyse. Zugleich betrachten wir den Arbeitsprozess vom Standpunkt der gesellschaftlichen Gesamtarbeit oder gesellschaftlichen Reproduktion aus, indem wir den Zusammenhang der verschiedenen Abteilungen der gesellschaftlichen Arbeit in einem Modell darstellen. Dabei ist von den historischen Formen zu abstrahieren, ohne zugleich von der Gesellschaftlichkeit der Arbeit zu abstrahieren. Es geht daher nicht um die 83
Betrachtung einzelner Akte der Herstellung einer Sache oder um einzelne Akte der individuellen Konsumtion von Produkten. Diese sind vielmehr immer im Gesamtzusammenhang aller Individuen bzw. Klassen zu analysieren. Arbeit wird hier nur insoweit betrachtet, als sie den Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur vermittelt. Arbeit bezieht sich in diesem Sinne ausschließlich auf Tätigkeiten, die unmittelbar oder mittelbar Stoffe bearbeiten oder transformieren.66 In allgemeinster, „überhistorischer" Weise stellt sich der gesellschaftliche Arbeitszusammenhang als Produktion und (produktive) Konsumtion von Gütern dar. Die Konsumtion beinhaltet sowohl die Verwendung der Arbeitsprodukte als „Lebensmittel" im unmittelbaren Wortsinn, die dem Erhalt der Individuen und ihrer sozialen Funktionen (z.B. Kirchen und Paläste) dienen, wie die Verwendung von Gütern als Produktionsmittel, z.B. zum Ersatz der im Produktionsprozeß verbrauchten Mittel oder zur Erneuerung und Erweiterung der produktiven Basis der Gesellschaft. Die Arbeitsprodukte bilden zusammengenommen den gegenständlichen Reichtum einer Gesellschaft.67 Die Produktion impliziert dabei bereits in gewissem Umfang die Verwendung der Arbeitsprodukte und deren Verteilung unter die Produzenten und Konsumenten, unter die Individuen und Klassen. Auf dieser ganz allgemeinen Ebene bildet der gesellschaftliche Zusammenhang von Produktion, Verteilung und Verwendung des gegenständlichen Reichtums den „ökonomischen" Inhalt der jeweiligen gesellschaftlichen Formen, durch die diese Zusammenhänge in einer Gesellschaft hergestellt werden. Sieht man von den Formen der gesellschaftlichen Produktionsweisen ab, dann erscheint der gesellschaftliche Zusammenhang der Produzenten und der Produktionsprozesse in seiner abstraktesten Form darin, daß der gesellschaftliche Produktionsprozeß immer auch gesellschaftlicher Reproduktionsprozeß sein muß, d.h. beständig seine eigenen Voraussetzungen wiederherstellen muß.68 Dieser fundamentale Sachverhalt soll an einem einfachen Modell arbeitsteiligen Produzierens demonstriert werden. Nehmen wir an, daß der Produktionsprozeß einer Gesellschaft im ganzen in der Herstellung von drei Produkten, Eisen, Holz und Weizen besteht. Eisen und Holz stehen dabei für die Produktionsmittel (z.B. Pflüge, Hacken, Schmelzöfen), der Weizen insgesamt für die Konsumtionsmittel.69 Betrachten wir einen beliebigen „Arbeitstag" dieser Gesellschaft. Zu Beginn des Arbeitstages liegen alle Produktionsmittel, die für den Tag benötigt werden und an diesem Tag zur Herstellung der Produkte verbraucht werden (produktive Konsumtion), als Ergebnis des „Vortages" fertig vor. Gegessen wird am Abend nach Beendigung der Arbeit. Jede Abteilung verfügt also über eine bestimmte Menge von Produktionsmitteln und eine bestimmte Anzahl von unmittelbaren Produzenten oder Arbeitskräften. Wir können nun logisch schließen, daß am Ende des „Arbeitstages", damit der Prozeß sich weiter fortsetzen kann, die Abteilungen alle nötigen Produktionsmittel und 84
Konsumtionsmittel für die nächste Periode hergestellt haben müssen. Dieser sachliche Zusammenhang wird durch Schema I dargestellt. Schema I Abt I (Eisen): Abt II (Holz): Abt III (Weizen):
10t Eisen (+) 20t Holz (+) 10 Arbeitskräfte --> 20t Eisen 5t Eisen (+) 10t Holz (+) 15 Arbeitskräfte --> 35t Holz 5t Eisen (+) 15t Holz (+) 25 Arbeitskräfte --> 50t Weizen
Die Mengen in diesem Schema sind fiktiv. Die (+)-Zeichen sollen symbolisieren, daß die Produktionsmittel und Arbeitskräfte im Produktionsprozeß produktiv „kombiniert" werden. Abteilung I produziert also mit 10t Eisen, 20t Holz und 10 Arbeitskräften pro Periode 20t Eisen. 70 Die Resultate der Abteilungen I und II reichen aus, um die sachlichen Voraussetzungen aller drei Abteilungen zu erneuem. 71 Wir sehen, daß in diesem System die sachlichen Produktionsvoraussetzungen (Eisen und Holz) arbeitsteilig reproduziert werden. Damit das Produktionssystem jedoch tatsächlich „funktionieren" kann, müssen die Arbeitskräfte aller drei Abteilungen durch den in Abteilung III hergestellten Weizen ernährt werden können. Ist dies gerade der Fall, dann reproduziert sich das System auf dem gegebenen Niveau der Bedürfnisbefriedigung, ohne daß Überschüsse entstehen. Entscheidend für die Logik der Marxschen Analyse des Reproduktionsprozesses ist die auch im Schema I zum Ausdruck gebrachte Tatsache, daß die Konsumtionsmittel nicht zu den unmittelbaren Produktionsvoraussetzungen gehören. 72 Sie erhalten die Arbeitskraft der unmittelbaren Produzenten, gehen in die Reproduktion ihrer Arbeitsfähigkeit ein. Die Konsumtion der Lebensmittel liegt jedoch gewissermassen jenseits der im Modell betrachteten Produktions- oder Arbeitssphäre. Damit ist im Schema eine Trennung der Produktion der materiellen Voraussetzungen des gesellschaftlichen Lebens von der Produktion und Reproduktion des Lebens der Produzenten selbst vollzogen. Diese Trennung im Modell weist voraus auf die Sphärengliederung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, in der die Reproduktion der Produzenten und ihrer Arbeitsfähigkeiten in die Privatsphäre der (freien) Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen fällt. Die Verhältnisse von eingesetzten Produktionsmitteln und Arbeitskräften beschreiben auf ganz abstrakte und zusammengefaßte Weise die technologischen Strukturen des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses. Zugleich wird ein bestimmtes Konsumtionsniveau der Arbeitskräfte gesetzt. Wir nehmen an, daß die Produzenten auf dem einfachen Niveau unserer Modellgesellschaft wenig differenziert sind und alle ähnliche Bedürfnisse zur Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeiten besitzen, zu welchem Zweck die 50t Weizen (gerade) ausreichen. (Es wird also nicht gespart oder gehortet.) Die Produktionsstruktur impliziert eine bestimmte Verwendung der produzierten Güter bzw. eine bestimmte Verteilung des gesellschaft85
lichen Gesamtprodukts in Form von Konsumtions- und Produktionsmitteln. Jede Arbeitskraft erhält genau 1t Weizen. Streng genommen werden auch die Produktionsmittel verteilt, nämlich als Ersatz für die in der Arbeitsperiode verbrauchten Produktionsmittel. In der gegebenen Produktionsstruktur ist die gesellschaftliche Verteilungsstruktur bereits im Umriß eingezeichnet. Das bedeutet jedoch nicht eine technische Determiniertheit der gesellschaftlichen Verteilung, da die Produktionsstruktur ihrerseits durch die Struktur der gesellschaftlichen Bedürfnisse und die der gesellschaftlichen Klassen bestimmt ist. Auch unter der Bedingung, daß das in Schema I skizzierte System Überschüsse an Konsumtionsmitteln und Produktionsmitteln erzeugt, müssen die jeweiligen materiellen und lebendigen Produktionsvoraussetzungen reproduziert werden. Auch die Struktur einer sich erweiternden Produktion beinhaltet eine bestimmte Proportionierung der erzeugten Güter in Hinblick auf zusätzliche Produktionsmittel und eventuell zusätzliche Arbeitskräfte, woher diese auch immer kommen mögen. Das System gerät aus dem „Gleichgewicht", wenn zuviel oder zuwenig von bestimmten Produktionsvoraussetzungen erzeugt werden. Eine „Krise" des Systems zeigt sich daher u.a. in Form von Disproportionen zwischen den Abteilungen. Solche Disproportionen können etwa bedeuten, daß bestimmte Ergebnisse von Arbeit sich als gesellschaftlich nutzlos erweisen. Mit der Möglichkeit der Disproportionen stellt sich unmittelbar die Frage, wie die für die Reproduktion notwendigen Proportionierungen im gesellschaftlichen Maßstab hergestellt werden können, d.h. nach der gesellschaftlichen Form der Beziehungen zwischen den Produzenten und ihren Produkten. Im Hinblick auf die Tauschökonomie der kapitalistischen Produktionsweise ließe sich sagen, daß zwischen den verschiedenen arbeitsteiligen Abteilungen der gesellschaftlichen Arbeit ein „Austausch" der Produkte erfolgen muß. Abteilung I benötigt Holz von Abteilung II und Weizen für ihre Arbeitskräfte aus Abteilung III usw. Wie ergeben sich die notwendigen Austauschraten? Als konkrete Dinge sind Eisen, Holz und Weizen inkompatible Sachen, die, um getauscht werden zu können, erst in einer Dimension, die ihre Gleichheit herstellt, vermessen werden müssen. Vom Standpunkt der gesellschaftlichen Arbeit aus gedacht, könnte eine solche Vermessung durch die für die Herstellung der Produkte benötigte Arbeit erfolgen. Gesetzt den Fall, es ließen sich für eine solche Vermessung „Arbeitseinheiten" definieren, etwa in Form der Arbeitszeit, dann ließe sich die Produktion jeder Gesellschaft unabhängig von ihrer Form in Arbeitseinheiten ausdrücken. Es ist jedoch offensichtlich, daß Gesellschaften, etwa afrikanische Agrargesellschaften, nicht in Arbeitseinheiten rechnen und „Arbeit" für sie nicht der bestimmende Gesichtspunkt für die Proportionierung ihrer hauswirtschaftlichen Produktion ist. Daß Arbeit zum Kriterium der gesellschaftlichen Ökonomie wird, ist 86
selbst erst ein Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung. Nach Marx wird erst die Ökonomie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, in der sich der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit durch den Austausch der Produkte der unzähligen voneinander unabhängigen Produzenten als Waren herstellt, zur „Arbeitsökonomie". Ihre Form bedingt jedoch, daß die „Vermessung" der Produkte durch Arbeit sich im Austausch selbst - gewissermaßen erst im nachhinein - vollzieht, dadurch, daß die Waren auf dem Markt in bestimmten Proportionen einander gleichgesetzt werden. Eine allgemeine Betrachtung des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses unter dem Gesichtspunkt seiner Proportionierung als „Arbeit" steht gewissermaßen bereits auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise, ohne die Form zu berücksichtigen, wie sich diese Proprotionierung vollzieht. Wir können jedoch allgemein sagen, daß mit dem Tausch von physischen Quanten von Produktions- und Konsumtionsmitteln sich auch ein Tausch von „Arbeiten" oder „Arbeitsmengen" vollzieht. Vom Standpunkt der gesellschaftlichen Arbeit lösen sich gewissermaßen die dinglichen Ergebnisse der arbeitsteiligen Produktion, die durch Arbeit mit Hilfe von Arbeitsmitteln aus Arbeitsgegenständen entstehen, in „Arbeit" auf, indem auch die jeweiligen materiellen Produktionsvoraussetzungen als Ergebnis von Arbeit erscheinen. Wie ist das zu verstehen? Der Marxsche Grundgedanke ist der, daß die Produktion der gegenständlichen Welt durch den Menschen dem Inhalt nach - also unabhängig von der Form - ein Prozeß der Transformation von Naturstoffen mit Hilfe von Naturstoffen ist. Der Mensch ist der Agent dieses Transformationsprozesses, seine Tätigkeit hierbei ist „Arbeit". Der produzierte Gegenstand wird als Ding „Träger" dieser Arbeit. Schauen wir uns dies etwas näher an: Die verausgabte Arbeit ist vergegenständlicht in einem Ding, einer Sache. Sie ist im dinglichen Resultat jedoch selbst nicht sichtbar. Es findet also ein „Formwandel" statt: die lebendige Arbeit erscheint nach ihrer Verausgabung als „tote Arbeit" in der Form des in bestimmter Weise geformten Gegenstandes. Der Stoff des Arbeitsgegenstandes selbst ist jedoch, auch wenn er durch viele Arbeitsschritte „geläutert" ist, nie Produkt der Arbeit, sondern weiterhin Naturstoff oder „Naturgabe". Gleiches gilt für die Energien, u.a. auch die menschliche Arbeitsenergie. Arbeit und Natur sind bei Marx die beiden einzigen „Springquellen" des gesellschaftlichen Reichtums. Diese strikte Trennung ist die logische Grundlage der Marxschen Analyse. Aus ihr folgen mit logischer Notwendigkeit die weiteren Bestimmungen. Man muß sich daher klar darüber sein, ob man diese Trennung mitvollziehen will oder nicht. Betrachten wir den Stoff „Holz" in der Herstellung eines Stuhls. Holz befindet sich in mehreren Formen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Zunächst 87
wächst es als Naturgabe. Auch wenn hier schon z.B. forstwirtschaftliche Arbeit verausgabt wird, ändert das nichts an der Naturbasis des Wachstumsprozesses. Dann finden wir das „geschlagene Holz", das „gesägte Holz", das „gedrechselte Holz" etc., bis schließlich das Holz in Form des Stuhles aus der Produktion heraustritt (ein Teil auch schon früher in Form von Spänen, Holzmehl etc.) und in der Konsumtion vernutzt wird. Das Holz wandelt sukzessiv seine Form, wandert von einer Arbeitsart zur anderen und wird in jeweils neuer Form weitergegeben. Dieses Nacheinander des Stoffwandels vollzieht sich gesellschaftlich in einem Nebeneinander der verschiedenen Arbeitsprozesse. Der Holzstoff liegt also in seinen verschiedenen Formen oder Stadien dem gesellschaftlichen Gesamtarbeitstag gleichzeitig als Voraussetzung zugrunde. Auf die Gesamtmenge der verschiedenen vorliegenden Holzformen wird im gesellschaftlichen Arbeitstag eine bestimmte Gesamtmenge von Arbeit (Arbeitszeit), aufgespalten in die verschiedenen Formungstätigkeiten, angewandt. Faßt man den in dieser Weise strukturierten gesellschaftlichen Arbeitstag zusammen, so ist das Tagesprodukt nichts anderes als die im Stuhl vergegenständlichte Form der insgesamt am Tag verausgabten Arbeit. Dieses Ergebnis gilt nun für den gegenwärtigen, den folgenden wie auch für den vorausgegangenen Arbeitstag. Es handelt sich also insgesamt bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Produktion und des gesellschaftlichen Reichtums im Kern nicht mehr allein um stoffliche Beziehungen, sondern um die Organisation und Verausgabung der gesellschaftlichen Arbeit, die sich Naturstoffe und Naturkräfte zu ihrer eigenen Erhaltung und Entwicklung nutzbar macht. Im Vergleich verschiedener Gesellschaften muß jedoch die Ergiebigkeit und Verfügbarkeit von Naturquellen in Rechnung gestellt werden. Hiervon ist abhängig, was wie und in welchem Umfang überhaupt produziert werden kann. Stellt sich der gesellschaftliche Reichtum auf der einen Seite in einer Vielzahl von Gegenständen dar, so ist er nur dadurch beständig, daß der gesellschaftliche Arbeitstag ständig wiederholt wird, die Vielzahl von Gegenständen also ständig wiederhergestellt werden. Real ist dieser Prozeß sehr kompliziert und verschlungen, da die Arbeitsprozesse unterschiedlich lang sind und die Gegenstände eine verschieden lange Nutzungsdauer als Produktions- und Konsumtionsmittel besitzen. Das ändert jedoch nichts am grundlegenden Zusammenhang. Zusammengefaßt ist das gesellschaftliche Produktionsergebnis eines gesellschaftlichen Arbeitstages oder allgemeiner einer Produktionsperiode die Vergegenständlichung der „lebendigen", aktuell verausgabten Arbeit in der vorausgesetzten, der „toten" Arbeit. Die tote Arbeit rückt im Produktionsgang vor („gesägtes Holz verwandelt sich in gedrechseltes") und wird gleichzeitig ersetzt („geschlagenes Holz wird gesägt"). Bei gleichbleibender Stufenleiter ist die gesellschaftliche 88
Produktion nichts anderes als die Wiederholung des Immergleichen im Zeitfluß. Der neue Arbeitstag summiert sich nicht zum alten, sondern wiederholt ihn. Wir können nun den Reproduktionsprozeß auf der Basis der Begriffe „toter und lebendiger Arbeit" analysieren. An die Stelle der Stoffmengen treten „Arbeitsmengen", die auf die Formung der Stoffe zu Produkten unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen verwendet wurden. Diese Arbeitsmengen gliedern sich in die dem jeweiligen Arbeitstag vorausgesetzten Arbeitsmengen (tote Arbeit) und die am Arbeitstag neuzugesetzte Arbeitsmengen (lebendige Arbeit). Der Zusammenhang der Arbeitsmengen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß kann etwa in Form des folgenden Gleichungssystems formuliert werden:73 Schema II Abt. I (Eisen): x11a1 + x21a2 + A, = x1 a1 Abt. II (Holz): x12a1 + x22a2 + A2 = x2 a2 Abt. III (Weizen): x1Ja1 + x23a2 + A3 = x3 a3 ai = tote Arbeit xij = Arbeitsmengen Ai = lebendige Arbeit X11a1 stellt die Menge x11 an toter Arbeit a1 (in Form von Eisen) dar, die als Produktionsvoraussetzung in den Produktionsprozeß der Abteilung I eingeht und hier stofflich zu Herstellung einer bestimmten Menge des betreffenden Produkts („Eisen") produktiv verbraucht wird. Entsprechend ist x 21 a 2 die Menge x 21 der toten Arbeit a 2 , die in Form von Holz vorliegt und eine Produktionsvoraussetzung der Produktion von Eisen ist. A1 ist die in der Produktion von Eisen am betrachteten gesellschaftlichen Arbeitstag neu zugesetzte Menge „lebendiger Arbeit". X1a1 stellt die Menge der insgesamt als Ergebnis des gesellschaftlichen Arbeitstages im neuproduzierten Eisen vergegenständlichte Arbeit als Summe der vorausgesetzten und im Produkt erhaltenen toten und der neuzugesetzten lebendigen Arbeit dar. Die Konsumtionsmittel (x3 a 3 ) bilden die materielle Basis der Reproduktion der Arbeitskraft. Sie gehen jedoch nicht selbst als Produktionsvoraussetzungen in die Produktion ein. Produktionsvoraussetzung sind nicht die Konsumtionsmittel, sondern die Arbeitskräfte. Im Ergebnis des Produktionsprozesses zählen daher auch die Konsumtionsmittel nicht als Maßgröße der geleisteten Arbeit, sondern die tatsächlich unter den gesellschaftlich gegebenen durchschnittlichen Bedingungen verausgabte Arbeit. 74 Die folgenden Gleichungen beinhalten die Voraussetzungen einfacher Reproduktion: PV1 x11a1 + x 12 a 1 + x 13 a 1 = x1 a1 PV2 x21a2 + x21a2 + x23a2 = x2a2 89
So bedeutet z. B. Gleichung PV1, daß die in Abteilung I geschaffene Produktmenge, die insgesamt die Arbeitsmenge x 1 a 1 beinhaltet, genau den Arbeitsmengen der in den drei Produktionsprozessen benötigten Produktionsvoraussetzungen dieser Art entsprechen muß. Daraus folgt nun unmittelbar:
x13a1 + x23a2 = A1
+
A2
Der in der Produktion von Eisen und H o l z neuverausgabten lebendigen Arbeit m u ß unter der Bedingung einfacher Reproduktion die zur Produktion von Weizen vorausgesetzte Menge toter Arbeit entsprechen, damit der Austausch zwischen den Abteilungen als Tausch von Äquivalenten vollzogen werden kann. Daraus folgt auch unmittelbar:
A1
+ A2 + A3 = X 3 a 3
Die am betrachteten gesellschaftlichen Arbeitstag insgesamt neuzugesetzte Arbeit m u ß unter der Bedingung der einfachen Reproduktion der insgesamt in den Konsumtionsmitteln enthaltenen Arbeit entsprechen. 7 5 In diesem System gibt es keine „Überschüsse". Die neuzugesetzte Arbeit „produziert" im gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang genau die Konsumtionsmittel, die zur Erhaltung der Arbeitskräfte nach den Voraussetzungen erforderlich sind. Unter den Bedingungen der einfachen Reproduktion entspricht das gesellschaftliche Neuprodukt oder die sog. Wertschöpfung, d.h. die in der Periode insgesamt neu verausgabte Arbeit, der in den Konsumtionsmitteln insgesamt enthaltenen, vorausgesetzten plus neu zugesetzten Arbeit. A u f Basis der gewählten Methode der Analyse folgt nun zwingend, daß „Überschüsse" dann entstehen, wenn die Arbeitskräfte in der betrachteten Periode mehr Arbeit zusetzen können, als zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft in Form von Konsumtionsmitteln erforderlich ist. Dies ist die zentrale logische Konsequenz aus der Analyse des Reproduktionsprozesses vom Standpunkt der gesellschaftlichen Arbeit aus betrachtet. Die Produktivität des Systems beruht allgemein auf der Fähigkeit der menschlichen Arbeitskraft, mehr Arbeit zu verausgaben, als zu ihrer Reproduktion erforderlich ist. Ein Überschuß oder Mehrprodukt erscheint nicht auf der Ebene der einzelnen Produktionsabteilungen, sondern erst im Gesamtzusammenhang der verschiedenen Produktionssphären. Von einem Überschuß oder Mehrprodukt kann nur insofern die Rede sein, als die Produktionsergebnisse die notwendigen Reproduktionsvoraussetzungen einschließlich der Konsumtionsmittel der Arbeitskräfte übersteigen. V o m Standpunkt der aufgewendeten Arbeit k o m m t jedoch nur soviel heraus, wie an Arbeit hineingesteckt wurde. Entscheidend ist daher die Unterscheidung zwischen der geleisteten Arbeit und der Arbeitskraft, zu deren Erhalt eine bestimmte Menge Arbeit erforderlich ist. Die Existenz eines Mehrprodukts bedeutet, daß die in einer Arbeitsperiode von den unmittelbaren Produzenten neuzugesetzte Arbeit die Menge der in den zu ihrer Reproduktion benötigten Konsumtionsmitteln enthaltenen Arbeit über-
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steigt. Der Arbeitstag kann daher - gedanklich - in einen Teil zerlegt werden, in dem die Arbeitenden ihren Konsumtionsfonds reproduzieren, und in einen Teil, in dem sie Mehrarbeit leisten, der durch die Eigentümer der Produktionsmittel angeeignet werden kann. Die Teilung des Arbeitstags in „notwendige Arbeit" (zur Reproduktion der Arbeitskraft der Arbeiters) und in „Mehrarbeit" ist die Grundlage der „Exploitationstheorie" bei Marx. Insbesondere interessiert ihn die Art und Weise, wie die Mehrarbeit oder das Mehrprodukt in der kapitalistischen Produktionsweise vom Kapital angeeignet wird. Eine zentrale Problematik der Analyse liegt in dem ihm zugrunde liegenden Begriff von „Arbeit schlechthin", also von Arbeit unter Absehung aller konkreten Qualitäten. Dieser besagt, daß die in den verschiedenen Produktionsprozessen verausgabten Mengen von menschlicher Arbeit von gleicher Natur, also addierbar sind obwohl sie sich konkret in verschiedenen Arbeitsarten (Tischlerarbeit, Bäckerarbeit, Schmiedearbeit) darstellen. Von diesen wird jedoch abstrahiert. Der Begriff der „abstrakten Arbeit" wird jedoch von Marx erst für die kapitalistische Produktionsweise entfaltet, d.h. unter den Bedingungen der tatsächlichen Gleichsetzung der vielzähligen und vielfältigen Arbeiten im Austauschprozeß der entwickelten kapitalistischen Warenproduktion. Von hier aus gesehen besitzt der zugrunde gelegte Arbeitsbegriff, wie wir noch sehen werden, einen bestimmten historischen Charakter.76 Für eine Gesellschaft „einfacher Warenproduzenten" - dieser Ausdruck stammt von Engels - scheint die Analyse des gesellschaftlichen Gesamtproduktes als Produkt der gesellschaftlichen Arbeit unmittelbar schlüssig. In einer solchen modellhaft konstruierten Gesellschaft, die häufig als Vorläufer der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft angesehen wird, aber so nicht existiert hat, ist jeder Produzent im Besitz der für seine Arbeit benötigten Produktionsmittel. Alle produzieren für den Markt. Es gibt jedoch keine Lohnarbeit. Jeder ist gewissermaßen Arbeiter und Kapitalist zugleich. Jeder ist in der Lage, die von ihm aufgewendeten Arbeitsmengen zu benennen. Für die kapitalistische Produktionsweise wird die Sachlage dadurch jedoch komplizierter, als hier in der Vorstellung der Agenten neben der Arbeit ein weiterer „Produktionsfaktor", das Kapital, auftritt, dem eine eigene Produktivität zuzukommen scheint, aus der sich seine „Entlohnung" in Form des Profits herleiten soll.77 Es gilt also zu klären, was unter „Produktivität" verstanden werden kann. Wie Marx schreibt, scheint unter dem Kapitalismus die Produktivität der Arbeit insgesamt auf das Kapital übergegangen zu sein, das die Potenzen der Arbeitskraft, die zu seinem „Anhängsel" geworden ist, in sich aufgesogen zu haben scheint. Gegenüber der Theorie der Produktionsfaktoren und der Kapitalproduktivität zeigt die bisherige Betrachtung, daß die gesellschaftliche Wertschöpfung, d.h. der in einer Periode produzierte Neuwert, nichts ande91
res umfaßt, als die in dieser Periode verausgabte Arbeit. Dies ist der vielleicht unstrittige Gehalt der Arbeitswerttheorie. Die Wertschöpfung ist wie das Mehrprodukt, das ein Teil von ihr ist, eine gesellschaftliche Größe. Jedes individuelle Gut, jede Ware, ist jedoch Ergebnis, wie wir gesehen haben, aus neu zugesetzer Arbeit und der vorausgesetzten, toten Arbeit. Hier beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten einer Arbeitswerttheorie, die die verausgabte Arbeit nicht nur als „Substanz" des Wertes behauptet, sondern in Form einer „Arbeitsmengentheorie" auch die Wertgröße der Produkte ableiten will. Wie wir im nächsten Abschnitt genauer sehen werden, drücken in der kapitalistischen Produktionsweise die Werte der Waren, genauer ihre Preise, die auf sie verausgabte gesellschaftliche Arbeit nicht unmittelbar aus, vielmehr verbirgt der „Wert" als Form der gesellschaftlichen Arbeit seinen Inhalt. Die Vermessung des gesellschaftlichen Reichtums erfolgt in der kapitalistischen Gesellschaft als Geldrechnung, als Rechnung in Kapitalgrößen, Löhnen und Preisen. Eine gesellschaftliche Rechnung in Arbeitsmengen oder „Arbeitswerten" kann es daneben nicht geben. Die Arbeit als „Substanz" des Wertes ist keine Rechengröße.78 Hierfür fehlen die gesellschaftlichen Institutionen, die eine Gleichsetzung von Arbeitsmengen verbindlich bestimmen können, wie es Markt und Geld „naturwüchsig" besorgen.79 Faßt man die Arbeitswerttheorie als ökonomische Theorie auf, die auf der Grundlage von Arbeitsmengen die Werte bestimmt und daraus die Preise erklären möchte, dann ist sie einer Reihe von Einwänden ausgesetzt, die bei vielen marxistischen Theoretikern dazu geführt haben, zwar an der Wertformanalyse festzuhalten, aber die Arbeitswerttheorie aufzugeben. Sieht man als Aufgabe der ökonomischen Theorie die Bestimmung der Preise, d.h. der Austauschrelationen zwischen den Produkten und ihre Verteilung im „Gleichgewicht" an, dann scheint die Arbeitswerttheorie in dieser Hinsicht auch überflüssig zu sein, da eine Bestimmung der relativen Preise auch direkt aus den physischen Größen der Produktionsvoraussetzungen und der hergestellten Produkte möglich ist, wie etwa im Rahmen der linearen Produktionstheorie gezeigt wird, wie sie von Sraffa und anderen entwickelt worden ist.80 Die Betrachtung der Produktionsergebnisse z.B. als Summe „vorausgesetzter" und „neuzugesetzter" Arbeit, das Arbeitsprodukt als eine „Menge vergegenständlichter" Arbeit, scheint so eine Frage des Standpunktes zu sein, den man teilen kann oder nicht, der aber zur Analyse der ökonomischen Vorgänge, d.h. der Preisbildungen auf den Märkten nichts beiträgt. Marx selbst hat im dritten Band des Kapital eine Theorie der Preise vorgelegt, in der die Arbeitswerte gewissermaßen Gravitationszentren bilden, um die die Produktionspreise und davon noch einmal unterschieden die Marktpreise schwanken.81 An der Bestimmung der Produktionspreise (dem sog. Transformationsproblem, also der Transformation von Werten in Preise) hat sich seit Böhm92
Bawerk eine erbitterte und vielleicht immer noch nicht abgeschlossene Debatte um den „ökonomischen Gehalt" der Marxschen Arbeitswerttheorie entwickelt. Mit der Problematik einer Ableitung des Systems der Preise aus den Arbeitswerten stehen auch andere Teile der ökonomischen Theorie von Marx, etwa das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, in Frage, was hier jedoch nicht ausgeführt werden kann.82 Man könnte in bezug auf die Marxsche Arbeitswerttheorie von einem „humanistischen" Standpunkt sprechen, der eine klare Trennung zieht zwischen Naturstoffen und Naturenergien auf der einen Seite und den menschlichen Potenzen (Arbeit im emphatischen Sinne des „Entäußerungsmodells") auf der anderen Seite. Warum sollte, so könnten sich der Leser und die Leserin ernsthaft fragen, die (Arbeits-)Leistung eines Arbeiters als etwas anderes als die eines Zugtieres, z.B. Ochsen oder Esel, angesehen werden, der sein Futter erhält und dafür eine bestimmte Energieleistung abgibt?83 Auch kann ja dem Anschein nach die menschliche Arbeitsleistung durch Maschinenleistung „ersetzt" werden. Es stellt sich hier offenkundig die Frage, was man überhaupt untersuchen will, welche Art von Wissenschaft man betreibt und welches die Gegenstände der Wissenschaft von der „Ökonomie der Gesellschaft" sind. Sind es die Preise, ist es das Geld, oder ist es die Form der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit? Ein Hauptvorwurf, den Marx der „politischen Ökonomie" machte, war der, daß sie sich nicht darüber im Klaren war, welchen Gegenstand sie analysiert. Marx war der Auffassung, daß der Gegenstand der Analyse selbst erst wissenschaftlich konstituiert werden muß und nicht unmittelbar der Anschauung entnommen werden kann. Der entscheidende theoretische Begriff für ihn ist der „Wert".
2.5 Ware - Geld - Kapital: Warenanalyse und Werttheorie bei Marx 2.5.1 Wertgesetz: Die Krisenhaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft Im Unterschied zu den klassischen Ökonomen, allen voran David Ricardo, die von Marx als „bürgerlich" bezeichnet werden, ist Marx in erster Linie nicht an den Bedingungen der Möglichkeiten eines allgemeinen ökonomischen Gleichgewichts oder gleichgewichtigen Wachstums interessiert, sondern an der Möglichkeit und historischen Zwangsläufigkeit von Krisen, die die kapitalistische Gesellschaft national und weltweit periodisch erschüttern und dazu führen, daß die materiellen Grundlagen der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums perma93
nent umgewälzt werden. In der inneren, aus der Form und der Funktionslogik der kapitalistischen Gesellschaft entspringenden Krisenhaftigkeit sah Marx die historische Vergänglichkeit und den Übergangscharakter des kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus über den Markt begründet. Wieweit er dabei an einen schließlichen Zusammenbruch des „Systems" aus inneren Widersprüchen und Funktionsmängeln glaubte, die die kapitalistische Akkumulation letztlich vor eine Schranke führt, die nicht mehr ohne den Preis einer gesellschaftlichen und politischen Zerrüttung, einen Systemwechsel, also in revolutionärer Weise überwunden werden kann, sei hier dahingestellt. Eines der Kernstücke der Marxschen Krisentheorie, der sog. tendenzielle Fall der Profitrate, ist allerdings heftig umstritten. Marx sagte auf Grund seiner Analysen voraus, daß der von den Beschäftigten des Kapitals geschaffene Neuwert und der darin enthaltene, in Form des Profits angeeignete Mehrwert langfristig in Relation zum in den Produktionsmitteln angelegten Kapitalmassen abnehmen würde und damit der innere Antrieb zur Akkumulation als „Motor" des Systems schwinden würde. Auch wenn diese Entwicklung aus der Marxschen Theorie nicht zwingend ableitbar ist,84 Marx selbst sah hier eine Reihe von entgegenwirkenden Tendenzen - so läßt sich doch behaupten, daß die Akkumulation des Kapitals immer wieder an Grenzen stößt, die von ihm selbst gebildet werden. Marx hat sicherlich die Fähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, ihre inneren Schranken durch Erschließung neuer profitabler Produktionssphären, durch Eröffnung und rigorose Ausnutzung neuer Rohstoff- und Energiequellen im Weltmaßstab, durch technologische Revolutionen hinauszuschieben, nicht voraussehen können und unterschätzt. Das gilt auch für die Erneuerungsfähigkeit der politischen Herrschaft und Regime etwa nach den Katastrophen der kriegerischen Auseinandersetzungen um die Vormachtstellung in der Welt. Auch die Möglichkeiten gewaltsamer Versuche, die inneren Krisen und politischen Konflikte durch diktatorische Regime stillzustellen, des „Rückfalls in die Barbarei" sind historisch in Rechnung zu stellen.85 Auch wenn Marx keine zwingende Zusammenbruchstheorie vorgelegt hat und wohl auch nicht vorlegen konnte, bleibt seine Analyse der Krisenhaftigkeit kapitalistischer Entwicklung, die auf die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise hinweist, ein wichtiger Beitrag zur Erklärung der Sprunghaftigkeiten und historischen Umbrüche der gesellschaftlichen Entwicklungen auf nationaler und internationaler Ebene bis in die Gegenwart. Verwiesen sei hier auf die Auseinandersetzungen um die Ablösung fossiler Energien durch erneuerbare Ernergiequellen und die bisher erfolglosen Bemühungen um eine Regulierung von CO 2 -Emissionen, in denen sich Schranken der menschlichen Entwicklung überhaupt, zumindest jedoch unter kapitalistischen Vorzeichen ankündigen (vgl. weiter Abschnitt 2.8). 86 94
Die im vorigen Kapitel dargestellten gleichgewichtigen Proportionen zwischen den verschiedenen Bereichen oder Sektoren des gesellschaftlichen Arbeits- und Produktionsprozesses dürfen unter der Perspektive der Krisenhaftigkeit nicht als Beschreibung eines normalen, abgestimmten Ganges der Reichtumsproduktion verstanden werden. Sie zeigen nur, daß bestimmte Proportionen bzw. Austauschrelationen zwischen den Sektoren der gesellschaftlichen Arbeit hergestellt werden müssen, wenn es zum Gleichgewicht kommen soll. Sie zeigen aber nicht, wie diese hergestellt werden bzw. ob sie überhaupt hergestellt werden können. Die Form, in der die Produkte der gesellschaftlichen Arbeit unter der Regie des Kapitals als Waren unabhängiger Produzenten zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, sichert nach Marx in keiner Weise, daß sich die gesellschaftlichen Arbeitszweige auch wirklich im „Gleichgewicht" befinden. Die Gleichsetzung und Proportionierung der Produkte der unabhängigen Produzenten als Waren auf dem Markt findet im Prinzip erst im Nachhinein statt, nachdem die fertigen Produkte als Waren, für die bestimmte Arbeitsmengen aufgewendet wurden, auf dem Markt erscheinen. Da die Märkte in der Realität immer nur begrenzt transparent sind, können Disproportionen zwischen der Masse der angehäuften Kapitale und ihren Verwertungsmöglichkeiten kumulieren. Diese müssen sich in mehr oder minder tiefgreifenden Krisen „Luft" machen, in denen durch Entwertung, Brachlegung und Vernichtung der in bestimmten Sphären verausgabten und in Form von Produktionsmitteln angehäuften Arbeit neue Proportionen geschaffen werden. Die Form, in der die unabhängigen Privatarbeiten vergesellschaftet werden, bringt es mit sich, daß der Rationalität der einzelnen kapitalistischen Produzenten auf der Ebene der gesellschaftlichen Zusammenfassung der Arbeit nur eine äußerst begrenzte gesellschaftliche Rationalität gegenübersteht. Der Zwang zum Ausgleich setzt sich nach Marx „hinter dem Rücken" der Produzenten quasi als blinde Naturgewalt durch und durchkreuzt die Pläne der Akteure. Marx spricht daher auch immer wieder von der „Anarchie" der kapitalistischen Produktionsweise, die zur Verschwendung von gesellschaftlichen Produktionsmitteln, Arbeitskräften und Naturressourcen führt.87 Ihre Höherentwicklung durch die Steigerung der produktiven Kräfte der Arbeit wird durch die Konkurrenz der Einzelkapitale um einen möglichst großen Anteil am produzierten Wert angetrieben, ohne daß eine höhere Vernunft oder eine „unsichtbare Hand" (Adam Smith) Fehlleitungen verhindern könnte, die zum Untergang einzelner Kapitale oder ganzer Industriezweige führen und die betroffenen Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut stürzen. Die im vorigen Kapitel entwickelten Schemata der Produktion und Reproduktion auf aggregierter gesellschaftlicher Ebene formulieren modellhaft notwendige Struktur- und Kohärenzbedingungen des „Systems", um die die realen Prozesse 95
kreisen oder schwanken, ohne zum Stillstand zu kommen. Diese „Gravitationszentren" sind dabei selbst in ständiger Bewegung. Auch wenn sie nicht empirisch meßbar sind, verweisen sie auf notwendige funktionale Erfordernisse einer umfassend vergesellschafteten Produktion und Konsumtion, auf die das „System" immer erneut und unter mehr oder weniger großen Schmerzen zurückverwiesen wird.88 Die abhängigen, deformierten Ökonomien an der kapitalistischen Peripherie lassen sich allgemein und abstrakt auch dadurch charakterisieren, daß sie an der Ausbildung kohärenter Strukturen der produktiven und konsumtiven Nutzung von Ressourcen und Arbeitskräftepotentialen gehindert sind.89 Ökonomen in den ehemals sozialistischen Ländern haben die Marxschen Reproduktionsschemata, wie sie im zweiten Band des Kapital entwickelt werden, als einen Ansatzpunkt umfassender Planung der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf die verschiedenen Produktionszweige, also zu einer Proportionierung der sozialistischen Akkumulation wie zur Regulierung des gesellschaftlichen Konsumtionsniveaus mißverstanden.90 Diese Planungssysteme scheiterten sowohl an der Schwierigkeit der Bestimmung rationaler Rechnungseinheiten als Austauschrelationen oder „Preise" wie auch an der Unmöglichkeit, die Produktivität und Effektivität der Produktionseinheiten zentral zu kontrollieren. Ein möglicher Gewinn an Rationalität durch gesellschaftliche Planung wurde mehr als verspielt durch Ineffektivität und Verschwendung auf den Ebenen der unmittelbaren Produktion und der Verteilung.91 Der repressive Charakter der „geschlossenen Gesellschaften"92 erstickte die produktiven Antriebskräfte oder lenkte sie u.a. in die Bahnen bürokratischer Aneignungsmentalität und der Schattenökonomien.93 Die gesellschaftlichen Zwänge wirken wie Naturgesetze auf die Individuen zurück. Sie wachsen mit der allgemeinen und allseitigen Abhängigkeit der Individuen voneinander, die nach Marx in der kapitalistischen Gesellschaft einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat, ohne daß es den Individuen gelungen wäre oder hätte gelingen können, die Abhängigkeiten kollektiv aufzuheben und zum Gegenstand einer vereinten Praxis zu machen. Die Verselbständigung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Vereinzelung gegenüber den Gemeinwesen macht sie formell zu selbstbestimmten Subjekten und entzieht ihnen zugleich die Kontrolle über die Wirkungen ihrer Aktionen.94 Für Marx ist die bürgerliche Gesellschaft trotz demokratischer Verfassungen und Freiheitsrechten weiterhin „naturwüchsig", beherrscht vom „Wertgesetz" als zusammenfassendem Ausdruck für die spezifisch bürgerlich-kapitalistische Form, in der sich die Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses gegenüber den individuellen Intentionen Geltung verschaffen. Die gesellschaftlichen Wirkungen der individuellen Aktionen werden zu „ungeplanten Nebenfolgen" der individuellen Rationalität und verkehren diese u.U. in ihr Gegenteil. In der gleichzeitigen 96
Betrachtung der individuellen Aktionen und der Zusammenfassung oder Aggregierung ihrer Wirkungen auf kollektiver Ebene liegt eine der Hauptstärken des soziologischen Denkens von Karl Marx. In der Verknüpfung von Mikro- und Makro-Betrachtung formuliert er eine Aufgabe, die bis heute im Zentrum der soziologischen Theoriebildung steht.95
2.5.2 Die Wertform: Gebrauchswert und Tauschwert Die Theorie des „Werts" steht im Zentrum der Marxschen Gesellschaftstheorie und wurde von Marx selbst als seine besondere wissenschaftliche Leistung angesehen. Mit ihr eröffnet er sein Hauptwerk, den ersten Band des Kapital. Sowohl die Stellung der Werttheorie als Ausgangspunkt der Darstellung im Kapital wie die Art und Weise, in der Marx den Begriff des „Werts" aus der Warenform entwickelt, hat zu großen Verständnisschwierigkeiten geführt, insbesondere auch in bezug auf die Frage, mit was für einer Art von Theorie wir es zu tun haben. Marx hat diese Schwierigkeiten selbst erkannt und versucht ihnen, wie er sagt, durch „Popularisierung" zu begegnen. Die verschiedenen Formulierungen, in denen die Werttheorie in der Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie und den verschiedenen Ausgaben des Kapital vorliegt, haben die Interpretation jedoch nicht erleichtert, sondern die Debatte eher angeheizt. Im Zentrum steht dabei die Frage des Wertes als Form gesellschaftlicher Verhältnisse. Marx selbst hat diese Ambivalenzen nicht aufgelöst. Er verstand sich zugleich als Gesellschaftstheoretiker wie als Ökonom, der die Widersprüche in der zeitgenössischen ökonomischen Theorie auf den Punkt bringt und überwindet. Ihm ging es darum, die von den Ökonomen seiner Zeit verwendeten Kategorien auf ihren historischgesellschaftlichen Gehalt hin zu befragen und damit gleichzeitig den Schlüssel zur Analyse der krisenhaften Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise zu finden, die ihren Siegeszug gerade erst begonnen hatte. Marx eröffnet den ersten Band des Kapital mit den Sätzen: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung', die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware".96 Die Ware als „Form" wird zwar von Marx im folgenden allgemein analysiert, jedoch stellt Marx fest, daß diese Analyse unter bestimmten historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen erfolgt, nämlich der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise. Marx entwickelt in den ersten vier Kapiteln des Kapital sukzessiv, quasi genetisch, Geld und Kapital aus der Warenform - und wir werden ihm hier ein Stück weit folgen. Diese Darstellungsform darf jedoch nicht so verstanden werden, als führe die Existenz von Waren oder Geld qua logischer Implikation auch historisch zur 97
Herrschaft des Kapitalverhältnisses. Marx hat sich vehement gegen die Auffassung gewehrt, daß überall dort, wo historisch Warentausch und Geldwirtschaft beobachtet werden können, auch von Kapital gesprochen werden dürfe. „Seine historischen Existenzbedingungen sind durchaus nicht da mit Waren- und Geldzirkulation. Es entsteht nur, wo der Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln den freien Arbeiter auf dem Markt vorfindet, und diese eine historische Bedingung umschließt eine Weltgeschichte. Das Kapital kündigt daher von vornherein eine Epoche des gesellschaftlichen Produktionsprozesses an."97 Die Existenz der kapitalistischen Produktionsweise als gesellschaftlich herrschend, die auf eigenen Grundlagen steht und sich selbst reproduzieren kann, ist zu Beginn der Darstellung bereits als fertige vorausgesetzt. Bei der Darstellung von Waren- und Wertformen handelt es sich daher um eine logisch-begriffliche Analyse, durch die gesellschaftliche Zusammenhänge als begrifflicher Zusammenhang zugänglich werden. Kapitalistische Produktionsweise bedeutet, allgemein gesprochen, verallgemeinerte Warenproduktion auf der Grundlage von Lohnarbeit. Dies impliziert die Trennung der Arbeiter als unmittelbare Produzenten von den Produktionsmitteln, die in den Händen ihrer Eigentümer zu Kapital werden. Die Arbeiter oder unmittelbaren Produzenten können sich die Produkte ihrer Arbeit nicht mehr direkt als ihre Subsistenz- oder Lebensmittel aneignen. Andererseits verfügen sie über ihre eigene Person, sind niemandem persönlich dienstpflichtig oder gar Eigentum eines anderen. Sie sind gezwungen, ihre Lebensmittel als Waren auf dem Markt von den Warenbesitzern aus ihrem Lohn zu kaufen; andersherum sind sie gezwungen, zum Erwerb von Lebensmitteln zunächst gegen Lohn für einen Produktionsmitteleigentümer zu arbeiten. Je weniger Erwerbs- oder Unterhaltsquellen außerhalb der Lohnarbeit vorhanden sind, z.B. eine kleine Landwirtschaft, umso stärker und allgemeiner ist der Zwang zur Lohnarbeit. Marx spricht auch vom „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse", der „die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter [besiegelt]."98 Die Lohnarbeiter sind jedoch insofern frei, als sie sich selbst zwingen müssen, „zur Arbeit zu gehen", und frei über die Verwendung ihres Lohnes verfügen können.99 Den Produktionsmittelbesitzern oder Kapitalisten als Klasse fallen aufgrund ihres Eigentums an den Produktionsmitteln und der Arbeitsverträge mit den Lohnarbeitern alle produzierten Waren in erster Hand zu. Der gesamte in Warenform produzierte gesellschaftliche Reichtum ist zumindest für eine bestimmte Zeit in der Hand dieser Klasse, die damit über ihn disponieren kann und muß. Aus den Erlösen der Warenverkäufe erneuern und erweitern die Produktionsmittelbesitzer ebenfalls durch Käufe auf dem Markt ihre Produktionsmittel und Produktionsgegenstände.100 Wie für die Lohnarbeiter haben auch für sie ihre Lebensmittel die Form von Waren angenommen. Die Anteile der unmittelbaren Produzenten wie 98
der Produktionsmittelbesitzer am Produkt ergeben sich nicht mehr aus direkter Teilung der Arbeitsergebnisse wie etwa zwischen feudalen Grundherrn und Pächtern oder durch direkte Abzüge oder Abgaben, sondern indirekt über die Löhne bzw. aus Gewinnen aus Warenverkäufen. Die kapitalistische Produktionsweise impliziert modellhaft die Anerkennung bestimmter Rechtsverhältnisse in Form von Eigentumstiteln und Verträgen zwischen den Warenbesitzern, den Eigentümern von Produktionsmitteln und den Lohnarbeitern, die nur über ihre Arbeitskraft verfügen. Die Beziehungen oder Verkehrsverhältnisse, wie Marx sagt, zwischen den Warenbesitzern und den sich gegenüberstehenden Klassen der Kapitalisten und der Lohnarbeiter sind „an sich" frei von Gewalt.101 Die Aktionen der Beteiligten erfolgen aus ihren Eigeninteressen. Diese Gesellschaft unabhängiger, ihre Interessen verfolgenden Rechtssubjekte nennt Marx im Anschluß an Hegel auch „bürgerliche Gesellschaft", der der Staat als Monopolist der Gewalt und Garant der Rechte und Verträge gegenüber steht. Der Staat bleibt so aus der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise vorerst ausgespart.102 Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise meint zunächst, daß ein Großteil der als Lebensmittel oder als Werkzeuge benötigten Gegenstände als Waren mit Hilfe von Lohnarbeitern hergestellt werden, daß die Warenproduktion verallgemeinert ist und immer neue und mehr Tätigkeiten die Form von Waren annehmen, „kommodifiziert" werden, z.B. die Tätigkeit des Kochens durch Fertiggerichte. Darin ist impliziert, daß die zur gesellschaftlichen Reproduktion erforderlichen oder üblichen Tätigkeiten zunehmend die Form der Lohnarbeit erhalten. Das Kapital erschließt sich so fortlaufend gesellschaftliche und private Lebensbereiche als neue Anlagesphären.103 Herrschaft oder Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise heißt nicht, daß alle Arbeitstätigkeiten als Lohnarbeit ausgeübt werden, z.B. die Hausarbeit der Frauen, oder daß alle Lohnempfänger Waren produzieren, wie etwa die Staatsdiener oder privaten Hausangestellten, schließlich auch nicht, daß alle Waren kapitalistisch produziert werden, wie etwa die Produkte von Kleinbauern oder Handwerkern. Die kapitalistische Produktionsweise bestimmt aber unter diesen Bedingungen die Existenzweise aller übrigen sozialen Beziehungsformen. In der Realität umfaßt die Klassengliederung einer kapitalistischen Gesellschaft daher auch mehr Klassen als nur die beiden Grundklassen der Produktionsmittelbesitzer und der Lohnarbeiter. Die konkretere Klassengliederung ist allerdings daraufhin zu untersuchen, in welchem Verhältnis die Individuen zur kapitalistischen Warenproduktion stehen, ob sie z.B. aus dort erzielten Einkommen finanziert werden oder etwa aus Steuern des Staates, der einen Teil des gesellschaftlichen Reichtums für seinen Unterhalt und den seiner Diener abschöpft. 99
Die Analyse der Warenform bei Marx ist, wie gesagt, vor dem Hintergrund der vollzogenen gesellschaftlichen Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise zu verstehen. Wenn er die Ware als „Elementarform" des kapitalistisch produzierten gesellschaftlichen Reichtums ansieht, hat er im Kopf bereits den fertigen Begriff des Kapitals vor Augen. „Elementar" heißt hier, daß man mit der Analyse der Warenform unmittelbar beginnen kann und von hier aus die weiteren Formen gedanklich entwickelt werden können. „Wovon ich ausgehe, ist die einfachste gesellschaftliche Form, worin sich das Arbeitsprodukt in der jetzigen Gesellschaft darstellt, und dies ist die "Ware'. Sie analysiere ich, und zwar zunächst in der Form, worin sie erscheint."104 Unter der kapitalistischen Produktionsweise nehmen tendenziell alle Arbeitsprodukte die Form der Ware an. Von Beginn an bestimmt Marx den Inhalt der Warenform als gesellschaftliche Arbeit. Die Ware ist die elementarste Form der Vergesellschaftung der Arbeiten der unabhängigen Privatproduzenten. „Die Ware ist zunächst ein äußrer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt."105 Um Ware sein zu können, muß ein Ding irgendeinen Nutzen haben. Dieser Nutzen allein macht es jedoch nicht zur Ware. Der sachliche Nutzen oder, wie Marx sagt, der „Gebrauchswert" der Ware besteht nicht in ihrer Verwendbarkeit für den Produzenten, sondern im Nutzen für andere, die potentiellen Käufer. Was den Produzenten interessiert, ist der „Tauschwert" der Ware, d.h. ihre potentielle Austauschbarkeit gegen andere Waren auf dem Markt, die für den Produzenten u.U. von Interesse sein könnten. Indem die Produkte auf dem Markt verkauft und gekauft werden oder, wie wir auch sagen können, „getauscht" werden, werden sie faktisch in bestimmten Proportionen als Tauschwerte einander gleichgesetzt. Es existieren also auf dem Markt Tauschrelationen wie „5 Schachteln Zigaretten = 2 Paar Strümpfe" oder allgemein „x Ware A = y Ware B". Die Tauschbewegung drückt Marx als Stellenwechsel der Waren zwischen zwei Warenbesitzern in einer elementaren Zirkulationsformel aus: W - W Direkter Tausch Ware gegen Ware findet jedoch unter den oben skizzierten Bedingungen der verallgemeinerten Warenproduktion nur ausnahmsweise statt. In dieser Formel wird nur die Bewegung der Waren von einer gesellschaftlichen Stelle auf eine andere unter Auslassung aller Vermittlungsglieder, wie des Geldes (s.u.), gefaßt. In der Entwicklung der Zirkulationsformel von den Waren über das Geld bis zum Kapital zeigt sich das strukturelle Denken bei Marx. Es werden nicht die tausend und abertausend empirischen Vorgänge auf dem Markt betrachtet und von ihnen bestimmte Allgemeinheiten abstrahiert, sondern ihre Strukturen und Formen, die den Aktionen der Einzelnen immer schon vorausliegen, werden zu theoretischen Gegenständen. 100
Die Tauschrelationen zeigen an, daß zwischen den Waren im Tausch bestimmte Äquivalenzrelationen hergestellt werden. Der Tauschwert jeder Ware kann in Relation zu jeder anderen Ware ausgedrückt werden. Der Tauschwert einer Ware zeigt sich nicht an ihr als einem Ding, sondern immer nur an einer anderen Ware, die zu ihr in einer Äquivalenzrelation steht. Ihr Wert kann so nur als Tauschwert erscheinen; der Tauschwert ist die Erscheinungsform des Werts. Wert und Tauschwert sind daher begrifflich nicht identisch. Zentral für die Marxsche Analyse ist der Begriff der Form oder Erscheinungsform.106 Arbeit als produktive Tätigkeit, als individuelle oder gemeinschaftliche, wie ihr Ergebnis, das Arbeitsprodukt, das irgendein individuelles oder gemeinschaftliches Bedürfnis erfüllt, findet sich in allen Gesellschaften unabhängig von ihrer Form. Die Ware in der warenproduzierenden Gesellschaft bildet dagegen eine spezifische Art und Weise, in der auf einer bestimmten historischen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung der gesellschaftliche Zusammenhang zwischen den Produzenten hergestellt wird. Im Unterschied zu früheren Formen, z.B. von begrenzten Produzentengemeinschaften, wird der gesellschaftliche Zusammenhang nun - prinzipiell - allseitig und unbegrenzt. Zugleich setzt die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise bereits eine weitgehende Auflösung der Gemeinschaften, in der eine unmittelbare Abstimmung der Arbeiten erfolgen kann, voraus, bzw. sie beseitigt progressiv die Reste solcher Gemeinschaften. Die Allseitigkeit der Vergesellschaftung der Arbeit fällt mit der formellen Unabhängigkeit der Produzenten, ihrer Vereinzelung oder Individualisierung zusammen.
2.5.3 Der Fetischcharakter der Ware Die Ware ist die Form, in der in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft der gesellschaftliche Zusammenhang der Produzenten gestiftet wird. Dieser erscheint als Verhältnis von Dingen in spezifischer Form. Die sozialen Beziehungen zwischen den Individuen sind in vielen Bereichen durch Gegenstände vermittelt. Das Spezifische der warenproduzierenden Gesellschaft jedoch ist, daß die Verhältnisse der Individuen als Verhältnisse von Dingen erscheinen, als das Verhältnis der Tauschwerte der Waren, die die Arbeiten ins Verhältnis setzen. Indem die Tauschwerte als Eigenschaften von Dingen, als ihr „Wert", erscheinen, vollzieht sich eine fundamentale Verdinglichung des gesellschaftlichen Zusammenhangs mit weitreichenden Konsequenzen, die bis in die Psyche der Beteiligten hineinreichen. Die Warendinge werden zum Fetisch. Sie gewinnen Macht über die Individuen und ihre Verhältnisse. Sie erscheinen den Akteuren als belebt, als der Inbegriff des gesellschaftlichen Lebens. 101
Hören wir Marx selbst, der im oft zitierten vierten Abschnitt des ersten Kapitels des ersten Bandes des Kapital die in der Warenform angelegte Fetischisierung der gesellschaftlichen Verhältnis wie folgt zusammenfaßt: „Woher entspringt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst. Die Gleichheit der menschlichen Arbeit erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch die Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte, endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Arbeiten betätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte. Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge."107 Der Wert erscheint als eine Eigenschaft von Dingen, die sich in bezug auf sie vergleichen lassen, gerade so wie sie sich in bezug auf andere Eigenschaften wie Größe, Gewicht etc. vergleichen lassen. Zugleich ist in der Ware als stoffliches Ding kein Atom Wert, wie Marx sagt, enthalten. Das Verhältnis von Dingen als Verhältnis von Wertgrößen läßt die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Wert als Form hervorgebracht haben, als naturgegeben und damit unveränderbar oder sogar als rational erscheinen. „Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist."108 „Wert" ist kein Ergebnis von Wertschätzungen. Diese hängen vom individuellen Nutzen eines Dinges für seinen tatsächlichen oder potenziellen Besitzer ab, sind also eine Frage an den möglichen Gebrauchswert von Dingen. Der „Wert" ergibt sich nicht daraus, was die Menschen über ein Ding denken oder meinen, sondern aus dem, was sie tun, aus ihren gesellschaftlichen Handlungen. Der Wert einer Ware ergibt sich daher auch nicht daraus, daß die Akteure die in ihnen „enthaltene" Arbeit abschätzen und die Waren hiernach tauschen. „Die Menschen beziehen (...) ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese 102
Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartiger menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. Es steht daher dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe. Später suchen die Menschen den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern, hinter das Geheimnis ihres eignen gesellschaftlichen Produkts zu k o m m e n (...) Die späte wissenschaftliche Entdeckung, daß die Arbeitsprodukte, soweit sie Werte, bloß sachliche Ausdrücke der in ihrer Produktion verausgabten menschlichen Arbeit sind, macht E p o c h e in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, aber verscheucht keineswegs den gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit." 1 0 9 Die wissenschaftliche Analyse der Wertverhältnisse setzt bereits die historische Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise in gewissem Umfang voraus: „Es bedarf vollständig entwickelter Warenproduktion, bevor aus der Erfahrung selbst die wissenschaftliche Einsicht herauswächst, daß die unabhängig voneinander betriebenen, aber als naturwüchsige Glieder der gesellschaftlichen teilung der Arbeit allseitig voneinander abhängigen Privatarbeiten, fortwährend auf ihr gesellschaftlich proportionelles M a ß reduziert werden, weil sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem K o p f zusammenpurzelt. (...) Die Formen, welche Arbeitsprodukte zu Waren stempeln und daher der Warenzirkulation vorausgesetzt sind, besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen, nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über den Gehalt." 1 1 0 Marx hält den politischen Ö k o n o m e n nicht vor, daß sie nicht erkannt hätten, daß der Wert der Ware a u f Arbeit beruht - hierin führt er sie nur fort. Seine Kritik richtet sich vielmehr dagegen, daß die Ö k o n o men den Wert nicht als historische, gesellschaftliche Form erkannt haben. „Die politische Ö k o n o m i e hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das M a ß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt?" 111 Die politische Ö k o n o m i e nimmt diese Formen „für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion." 1 1 2 Arbeit gilt ihr per se, überhistorisch, als „wertbildend." Damit bleibt sie der Fetischisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse verhaftet. Marx nimmt für sich
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als seine eigene wissenschaftliche Leistung in Anspruch, durch die Kritik der Kategorien der politischen Ökonomie als „gesellschaftlich gültige, als objektive Gedankenformen"113 hindurch nicht nur den Inhalt sondern auch die Formen erkannt zu haben, die damit der Analyse und Kritik zugänglich werden. Die Dinge als Waren besitzen einen doppelten gesellschaftlichen Charakter, sie sind konkret nützliche Gebrauchswerte, die individuelle oder gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen können, und sie sind Tauschwerte, die nunmehr den Gesetzen der Austauschbarkeit unterliegen. Das System der Tauschwerte mit seiner eigenen Logik und Dynamik fällt aus der Kontrolle durch die Einzelnen heraus und kann auch kollektiv nicht durch die Produzenten beherrscht werden, denen es die Form des Handelns in der Konkurrenz um die Werte vorschreibt. Die Sphäre der Tauschwerte und ihrer Produktion als „Werte" kann sich jedoch nur bedingt von der Sphäre der Gebrauchswerte lösen, da die Waren, um verkäuflich zu sein, ein Bedürfnis, und sei es ein eingebildetes, befriedigen müssen. Das System der Tauschwerte kann andererseits eine Dominanz über die Gebrauchswertsphäre dadurch erringen, daß mit der Produktion bestimmter Waren die Bedürfnisse für diese Waren mitproduziert werden. Die verallgemeinerte Warenproduktion sprengt tendenziell den vorhandenen „Kreis der Bedürfnisse". Konsummuster werden dynamisiert und tendenziell entgrenzt. Immer neue Objekte treten in den Kreis des Begehrens, bis das Kaufen selbst zum Bedürfnis wird. Für die Verkäuflichkeit der Waren wird immer mehr der (Vor-) Schein eines Nutzens konstitutiv, der sich u. U. bereits darin erschöpfen kann, daß man ein neues modisches Item oder Gadget besitzt.114 In der Warenästhetik wird das Auseinandertreten von Gebrauchswert und Tauschwert im schönen Schein maskiert.115 Sind die Waren aus den Händen ihrer Besitzer in die Sphäre des konsumtiven Gebrauchs hinübergewechselt, um ihren Gebrauchswert unter Beweis zu stellen, haben sie ihre „Werte" bereits verloren.116 Dies gilt jedoch nicht, wie wir sehen werden, solange die Waren eine Form des Kapitals bilden. Marx entwickelt aus der doppelten Bestimmtheit der Waren, ihrem „Doppelcharakter", eine Serie von Doppelungen, z.B. die konkrete und die abstrakte Arbeit (s .u.), die die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnen. An der Ware erscheinen die gesellschaftlichen Verhältnisse als doppelte Eigenschaften eines Dinges, die sich bis zum Widerspruch zuspitzen können. Sie sind nach Marx entscheidend dafür, wie die Verhältnisse den Akteuren erscheinen und welches Bewußtsein diese über sie gewinnen können. Sie sind jedoch nicht nur Vorstellungen oder Einbildungen, die im Bewußtsein überwunden werden können, da sich über den Gebrauchs- und Tauschwertcharakter der Waren auch der materielle Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit herstellt. Diese Grundfigur der Marxschen Gesellschaftsanalyse findet sich bei vielen Gesellschafts104
theoretikern und Soziologen nach ihm bis in die Gegenwart. Sie besitzt Bedeutung, unabhängig davon, wie weit man der Werttheorie von Marx weiter zu folgen bereit ist. Die Formanalyse, grundlegend in der Warenanalyse, bringt die Analyse der materiellen Beziehungen und der Formen, in der diese dem Bewußtsein erscheinen, unmittelbar zusammen.
2.5.4 Wertbildung: konkrete und abstrakte Arbeit Die Ware ist unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise die gesellschaftliche Form der Arbeitsprodukte. In ihren Tauschwerten werden die Arbeiten der unabhängigen Produzenten, die als konkrete Arbeit der Herstellung von Schuhen, Würsten oder Nägeln Gebrauchswerte bilden, die als solche inkommensurabel sind, einander gleichgesetzt. „Die Gebrauchswerte sind unmittelbar Lebensmittel. Umgekehrt aber sind diese Lebensmittel selbst Produkte des gesellschaftlichen Lebens, Resultat verausgabter menschlicher Lebenskraft, vergegenständlichte Arbeit. Als Materiatur der gesellschaftlichen Arbeit sind alle Waren Kristallisationen derselben Einheit. Der bestimmte Charakter dieser Einheit, d.h. der Arbeit, die sich im Tauschwert darstellt, ist nun zu betrachten." 117 Die allseitige und nicht nur punktuelle Gleichsetzung der Arbeitsprodukte als Waren kann nach Marx nur erfolgen, weil die Waren Ausdruck eines Gleichen werden, nämlich Produkte der durch sie vergesellschafteten Arbeit zu sein. Die Proportionen, in denen Arbeit in den verschiedenen Sparten der Warenproduktion für die Herstellung der Waren aufgewendet wird, müssen, so Marx, vermittelt über eine Reihe von Zwischengliedern der Preisbildung, letztlich die Proportionen der Tauschwerte regulieren. Wert ist nicht einfach ein anderer Ausdruck für den Preis einer Ware. Waren und Warenpreise gab und gibt es auch in anderen Gesellschaftsformen, und in der kapitalistischen Welt haben auch viele Dinge einen Preis, ohne einen Wert zu besitzen, d.h. ohne Produkt wertbildender Arbeit zu sein, wie der Boden oder die Stimme eines Abgeordneten. Arbeiten, die nicht wertbildend sind, werden von Marx bezogen auf die kapitalistische Produktionsweise als „unproduktiv" bezeichnet. (Vgl. weiter unten Abschnitt 2.7.) Marx bindet den Wertbegriff eng an die Produktion von Waren als Tauschwerte für den Markt. „Ein Arbeitsprodukt, für sich betrachtet, ist also nicht Werth, so wenig wie es Waare ist. Es wird nur Werth, in seiner Einheit mit anderem Arbeitsprodukt, oder in dem Verhältniß, worin die verschiedenen Arbeitsprodukte, als Krystalle derselben Einheit, der menschlichen Arbeit, einander gleichgesetzt sind. (...) Sage ich, dieses Arbeitsprodukt ist Werth, weil menschliche Arbeit in ihm verausgabt ist, so ist das blosse Subsumtion des Arbeitsprodukts unter den Werthbegriff. Es ist ein ab105
strakter Ausdruck, der mehr einschließt, als er aussagt. Denn dies Arbeitsprodukt wird blos auf diesen Werthbegriff reducirt, um es als Ding derselben Substanz wie alle anderen Arbeitsprodukte zu reduciren. Das Verhältnis zu anderen Arbeitsprodukten ist als unterstellt."118 Wert entsteht dadurch, daß die Arbeiten, die zur Erzeugung der verschiedenen Waren benötigt werden, als „lebendige" wie als „tote", vorausgesetzte Arbeit, einander gleichgesetzt werden. Die Produktion von Werten als Zweck kapitalistischer Produktion reduziert die Vielfalt der konkreten Arbeitsverrichtungen auf den Aspekt der Wertbildung. Die Arbeit ist nicht von Natur aus wertbildend, sondern dadurch, daß sie dem kapitalistischen Produktionsprozeß als Verwertungsprozeß subsumiert wird.119 In der Analyse der Waren ist das Kapital als sich „verwertender Wert" bereits unterstellt.120 Die Abstraktion der Tauschwerte von den konkreten Eigenschaften der Gebrauchswerte bewirkt auch eine Abstraktion der wertbildenden Arbeit von der konkreten, Gebrauchswerte bildenden Arbeit. In ihrer „Werthgegenständlichkeit" sind die Waren „blosse Gallerten menschlicher Arbeit schlechthin." „Die Gleicheit toto coelo verschiedener Arbeiten kann nur in einer Abstraktion von ihrer wirklichen Ungleichheit bestehen, in der Reduktion auf den gemeinsamen Charakter, den sie als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, abstrakt menschliche Arbeit besitzen."121 Wie wir bei der Betrachtung des „gesellschaftlichen Arbeitstages" gesehen haben,122 sind die Arbeiten, die zur Herstellung eines bestimmten Gegenstandes erforderlich sind, am fertigen Gegenstand i.d.R nicht mehr sichtbar. In der Zusammenfassung zum Gesamtprodukt des Arbeitstages sind die vorausgesetzten Arbeiten insofern enthalten, als sie in sachlicher Gestalt wiedererscheinen müssen, damit der nächste Arbeitstag beginnen kann. Indem die Produkte die Form von Waren unabhängiger Produzenten annehmen, müssen nunmehr alle für die Produktion notwendigen Arbeiten, lebendige am Arbeitstag verrichtete wie die in den Arbeitsmitteln und Arbeitsgegenständen vorausgesetzten Arbeiten, im Warenwert enthalten sein. Durch diesen Zähl- oder Rechenvorgang werden die verschiedenen Arbeiten gleichnamig gemacht, sie werden zu „Arbeitsquanten", die in der fertigen Ware „angehäuft" werden. Daß die Arbeit als Anhäufung von „abstrakter Arbeit" zur „Substanz" des Wertes wird, liegt nicht in den konkreten Eigenschaften der Arbeitstätigkeiten begründet, sondern in dem Zwang, das Ergebnis einer Kette von gleichzeitig bzw. nacheinander verrichteten Arbeiten als „Wert" auf den Markt zu bringen. Nur als wertbildende sind diese Arbeiten in der Ware „enthalten". Zu sagen, in einem Ding als Arbeitsprodukt sei Arbeit enthalten, ist dagegen Metaphysik.123 Marx hat allerdings mit einer Reihe von metaphorischen Formulierungen („Gallerte", „Krystallisationen" usw.) solchen metaphysischen Interpretationen selbst Vorschub geleistet. 106
Die Marxsche Warenanalyse ist von vielen Kritikern, aber auch von vielen Marxisten als ein „Beweis" bzw. „Beweisversuch" der Arbeitswerttheorie aufgefaßt worden. Die Interpretation, die Marx an verschiedenen Stellen der Tauschgleichung „x Ware A = y Ware B" gibt, legt in der Tat nahe, daß Marx die Arbeit als „Substanz" des Werts glaubt logisch zwingend aus der Äquivalenzrelation ableiten zu können. „Was besagt diese Gleichung? Daß ein Gemeinsames von derselben Größe in zwei verschiedenen Dingen existiert, in 1 Quarter Weizen und ebenfalls in a Ztr. Eisen. Beide sind also gleich einem Dritten, das an und für sich weder das eine noch das andere ist. Jedes der beiden, soweit es Tauschwerth, muß also auf dies Dritte reduzierbar sein."124 Nach Ausschluß aller anderen Möglichkeiten bestimmt Marx als verbleibende Gemeinsamkeit der Waren ihre Eigenschaft, Produkt von Arbeit zu sein. Da es sich um eine Äquivalenzrelation handelt, müssen, quasi per Voraussetzung, auch die in den als äquivalent getauschten Waren enthaltenen „Arbeitsmengen" gleich sein. Marx unterschlägt in dieser abkürzenden Darstellung die oben entwickelten Voraussetzungen, wonach erst durch die über den Markt erzwungene Rationalisierung des Arbeitsprozesses als Verwertungsprozeß des Kapitals die Betrachtung und Behandlung der Arbeiten als „anhäufbar", d.h. wertbildend möglich und zugleich erforderlich wird. Dies erst bedingt die „Abstraktion" von den konkreten Eigenschaften der Gebrauchswerte schaffenden Arbeit.125 Der Begriff der „abstrakten Arbeit" bleibt bei Marx ambivalent. Er zeigt zunächst an, daß die Arbeit als Agens der Wertbildung unter den Verwertungsprozeß des Kapitals subsumiert wird und so selbst formbestimmt ist. Befreit von ihren konkreten Bestimmungen wird die Arbeit im Verwertungsprozeß zur Verausgabung von Arbeitskraft schlechthin, von „Muskel, Nerv, Gehirn". Als Verausgabung von Kraft scheint die Arbeit nur noch quantitativ bestimmt durch die Zeit, in der sie in der Produktion tätig ist. Dabei kann allerdings die Intensität der Arbeit variieren, die „Poren des Arbeitstages" können, wie Marx treffend sagt, unterschiedlich stark verdichtet sein, etwa durch Erhöhung des Arbeitstempos, der Arbeitstakte und durch Verringerung der Arbeitspausen. Der Kampf um die Arbeitszeiten, die Länge des Arbeitstages, die Wochenarbeitszeit, die Pausenzeiten oder die Geschwindigkeit der Fließbänder wird in der Tat zum zentralen Thema der „industriellen Beziehungen" bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Gesetzliche Regulierungen der Arbeitszeit und der Erholzeiten schützen die Arbeitskräfte vor übermäßiger Verausgabung und vorzeitigem Verschleiß. Die Maximierung der Verausgabung von Arbeitskraft unter Überwindung des Widerstands der Arbeitenden wird zum Gegenstand der „wissenschaftlichen Betriebsführung" von Frederick W. Taylor.126 Die Industriearbeit wird unter der Regie des Kapitals ausgefeilten Arbeitszeitregimen unterworfen, die von starren taylori107
stischen Systemen repetitiver Teilarbeiten bis zu den modernen, flexiblen Systemen der „schlanken" Fabrik reichen127 (vgl. auch weiter unten Abschnitt 2.6). Die Ökonomisierung der Zeit wird aus der Sicht der einzelnen Kapitale zum zentralen Ansatzpunkt der Rationalisierung des Verwertungsprozesses sowohl hinsichtlich der Arbeitszeiten wie der Zirkulation der Kapitale insgesamt (Umschlagszeiten, Lagerzeiten, Transport und Kommunikation). Marx war der Ansicht, daß die Wertbildung als Prozeß der Verausgabung von menschlicher Arbeitskraft, gemessen in Zeiteinheiten, auch zu einer realen Entqualifizierung der Industriearbeit fuhren werde, daß die konkrete Arbeit durch Reduktion auf „einfache Arbeit" auch real in „abstrakte Arbeit" überfuhrt werden würde. „Um die Tauschwerte der Waren an der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit zu messen, müssen die verschiedenen Arbeiten selbst reduziert sein auf unterschiedslose, gleichförmige, einfache Arbeit, kurz auf Arbeit, die qualitativ die selbe ist und sich daher nur quantitativ unterscheidet. Diese Reduktion erscheint als eine Abstraktion, aber es ist eine Abstraktion, die in dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß täglich vollzogen wird. (...) Diese Abstraktion der allgemeinen menschlichen Arbeit existiert in der Durchschnittsarbeit, die jedes Durchschnittsindividuum einer gegebenen Gesellschaft verrichten kann, eine bestimmte produktive Verausgabung von menschlichem Muskel, Nerv, Gehirn usw. (...) Die einfache Arbeit bildet die bei weitem größte Masse aller Arbeit der bürgerlichen Gesellschaft, wie man sich aus jeder Statistik überzeugen kann." 128 Die empirischen Vorgänge einer „Realabstraktion" der Arbeit dürfen jedoch nicht mit dem oben entwickelten Begriff der „abstrakten Arbeit" vermengt werden. Auch einfache Arbeit ist unter dem Aspekt ihres Gebrauchswerts konkrete Arbeit.129 Das Verständnis der Wertkategorie wird dadurch erschwert, daß mit „Wert" immer eine bestimmte „Wertgröße" gemeint zu sein scheint, mit der sich rechnen läßt. In dieser Fixierung scheinen im Wert die gesellschaftlichen Verhältnissse vollkommen ausgelöscht und zu einer meßbaren Eigenschaft von Dingen geworden zu sein. Eine solche Fixierung findet in der Tat auch im Vollzug der Tauschakte auf dem Markt statt, auf dem die Ware einen bestimmten Preis erzielt, d.h. zu allen anderen Waren in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt wird. In den Preisen kommt zum Ausdruck, daß kapitalistische Produktion Produktion von Werten ist. Mit den Werten läßt sich aber nicht rechnen. Es kann neben der Rechnung in Preisen oder in Kosten nicht gleichzeitig eine Rechnung in „Werten" geben. Die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Wertrechnung ist mit der Existenz der bürgerlichen Gesellschaft unvereinbar bzw. würde sie in eine völlig andere Gesellschaftsform transformieren. Marx kritisiert in dieser Perspektive auch heftig die sozialistischen Theoretiker, die die Warenpreise und das Geld zur Durchsetzung einer gerechten Verteilung der Arbeitsprodukte durch „Arbeits108
stundenzettel" ersetzen und die Wertverhältnisse damit direkt in Arbeitszeit ausdrücken wollten.130 Die Wertverhältnisse sind die Grundlage für die Preisverhältnisse. Aus diesen kann jedoch nicht auf jene zurückgeschlossen werden. Die Vorstellung von Werten als „bestimmte" Wertgrößen ist eine gedankliche Operation, um die gesellschaftlichen Grundlagen der Rechenhaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft begrifflich zu erfassen. Werte werden durch menschliche Arbeit gebildet. Um ihre Bestimmung, Werte zu sein, erfüllen zu können, müssen die Arbeitsprodukte im Tausch auf dem Markt als Werte anerkannt werden. Sie müssen sich in der Zirkulationssphäre als Teil der gesellschaftlichen Arbeit erweisen. Der Begriff des Werts ist untrennbar an den Warentausch, den Markt gebunden, auch wenn er nicht auf dem Markt entsteht. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ist ihrem Begriff nach widersprüchliche Einheit von Arbeits- und (!) Marktgesellschaft. Die Arbeitsprodukte als Waren werden als Werte insoweit anerkannt, als sie bestimmte gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen, also eine zahlungskräftige Nachfrage nach ihnen besteht und sie unter gesellschaftlich durchschnittlichen Bedingungen produziert werden, als zu ihrer Produktion soviel Arbeit oder Arbeitszeit aufgewendet wurde, als durchschnittlich gesellschaftlich notwendig ist. Die Durchsetzung dieser Notwendigkeiten vollzieht sich über die Konkurrenz im allseitigen Austausch auf dem Markt und wirkt auf die Produktion der Waren zurück. Mit Veränderungen der produktiven Basis durch technologische Revolutionen werden auch die Wertverhältnisse revolutioniert. Diese Umwälzungen, angetrieben durch die Konkurrenz der Kapitale um ihren Anteil am gesellschaftlichen Produkt, vollziehen sich „naturwüchsig", indem u.a. Kapitalwerte vernichtet werden, gerade so wie jemandem das Dach über dem Kopf „zusammenpurzelt." Das Wertgesetz ist gewissermaßen ein gesellschaftliches Naturgesetz.131 Marx macht durch seine Analyse darauf aufmerksam, daß die Preisproportionen ihren Grund nicht im Feilschen um die Preise haben. In den Preisen „realisieren" sich vielmehr die Werte der Arbeitsprodukte, deren Bestimmung es ist, sich auszutauschen. Wert zu sein ist eine Eigenschaft einer Ware in der warenproduzierenden Gesellschaft und ist es zugleich nicht, sofern die Ware nur ein konkretes Ding ist. Dieser Widerspruch, der in der Ware als Ding und als gesellschaftliches Verhältnis enthalten ist, braucht, wie Marx sagt, eine Bewegungsform, die durch das Geld gebildet wird. Marx hat die Werttheorie in ihrer Grundausrichtung als „Arbeitswerttheorie", nach der sich die Wertgrößen nach den in den Waren „enthaltenen" Arbeit richten, im Ansatz von den Klassikern wie Adam Smith oder David Ricardo übernommen. Diese Theorie ist von Beginn an aus dem Blickwinkel der Vergesellschaftung der Arbeit unabhängiger Produzenten über den Markt formuliert. 109
Sie nimmt in gewisser Weise das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft in sich auf, wie es etwa bei John Locke formuliert wird, nach dem der Ursprung des Eigentums das Recht des Einzelnen auf sein Arbeitsprodukt ist.132 Die Voraussetzung von Marx, daß der Tausch der Waren in der bürgerlichen Gesellschaft Tausch von Arbeitsäquivalenten ist, nimmt die bürgerliche Gesellschaft kritisch beim Wort. Ihr rationaler Kern ist die Frage nach der Rationalität der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft, die Marx als widersprüchlich bestimmt. Daß menschliche Arbeit auch unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise den gesellschaftlichen Reichtum bildet, muß daher nicht eigens bewiesen werden. Die Werttheorie muß auch nicht in dem Sinne empirisch bewiesen werden, daß sich empirisch die Arbeitsmengen, gemessen etwa durch Arbeitszeiten und Arbeitsintensitäten, als Bestimmungselemente der Marktpreise nachweisen lassen.133 Sie ist wesentlich Theorie, d.h. rationale Nachkonstruktion der Antriebskräfte und Bewegungsformen einer bestimmten Vergesellschaftungsweise, die sich letztlich trotz oder gerade wegen ihrer ins Äußerste gesteigerten Rechenhaftigkeit als irrational und krisenhaft erweist.
2.5.5 Wertgegenständlichkeit: Ware und Geld Die Ware ist als Gebrauchswert und Tauschwert konkretes Ding und soziales Verhältnis zugleich. Das soziale Verhältnis erscheint jedoch nicht als soziales, sondern als gegenständliche Eigenschaft eines Dinges, als sein „Wert". Marx bezeichnet diese Wertgegenständlichkeit der Warendinge als „gespenstige Gegenständlichkeit". Als Werte enthalten sie „kein Atom Gebrauchswert".134 Der Wert erscheint nicht an ihnen selbst, sondern an einem anderen Warending, dem sie in bestimmter Proportion gleichgesetzt sind. Die andere Ware, als „einfache Äquivalentform" des Tauschwerts einer Ware, ist als Form des Werts jedoch noch unvollkommen. In dieser Form kann man des Werts einer Ware nur dadurch habhaft werden, daß man sie gegen eine andere tauscht, die jedoch als konkretes Ding außerhalb des Austausches ebenfalls nur dinghafter Gebrauchswert ist und kein Wert. Der Wert kann so nicht festgehalten und nur bedingt im Gebrauchswert einer anderen Ware zum Gegenstand und Zweck der Produktion werden. Die Defizite der einfachen Äquivalentform „treiben" gewissermaßen zur allgemeinen Äquivalentform und damit zum Geld fort. Indem alle Waren ihre Tauschwerte in einer bestimmten Ware ausdrücken, wird diese zum allgemeinen Äquivalent oder zur Geldware. „Eine Ware gewinnt nur allgemeinen Wertausdruck, weil gleichzeitig alle anderen Waren ihren Wert in demselben Äquivalent ausdrücken, und jede neu auftretende Warenart muß das nachmachen. Es kommt damit zum Vorschein, daß die Wertgegenständlichkeit, weil sie das bloß 'gesellschaftliche Dasein' dieser 110
Dinge ist, auch nur durch ihre gesellschaftliche Beziehung ausgedrückt werden kann, ihre Wertform daher gesellschaftlich gültige Form sein muß." 135 Historisch erfüllen viele Dinge die Funktion des allgemeinen Äquivalents. Es sind Rinder, Muscheln, häufig Edelmetalle, schließlich das Gold. Sie werden zu Geld.136 Das Geld wird zum Maß der Werte und zum Maßstab der Preise, durch den alle Waren ihren Preis ausdrücken können. „Als Maß der Werte und als Maßstab der Preise verrichtet das Geld zwei ganz verschiedene Funktionen. Maß der Werte ist es als die gesellschaftliche Inkarnation der menschlichen Arbeit, Maßstab der Preise als ein festgesetztes Metallgewicht. Als Wertmaß dient es dazu, die Werte der bunt verschiedenen Waren in Preise zu verwandeln, in vorgestellte Goldquanta: als Maßstab der Preise mißt es diese Goldquanta."137 Als Zirkulationsmittel bewerkstelligt das Geld den Austausch der Waren: „Ware - Geld - Ware" oder abgekürzt: W - G - W. „Nach ihrem stofflichen Inhalt ist die Bewegung W - W, Austausch von Ware gegen Ware, Stoffwechsel der gesellschaftlichen Arbeit, in dessen Resultat der Prozeß selbst erlischt." 138 Während die Waren nach dem Händewechsel von Verkäufer und Verkäufer aus der Zirkulation herausfallen und in der Konsumtion untergehen, erhält sich das Geld in der Zirkulation. Das Geld kann immer wieder erneut seinen Kreislauf antreten. „Die Zirkulation schwitzt beständig Geld aus."139 In ihrer Eigenschaft als Geld ist die Geldware nicht konsumierbar, ist sie ein Wert, der nicht verschleißt.140 In dieser Form können Werte angehäuft oder aufgeschatzt werden. Die Möglichkeit der Schatzbildung entzieht das Geld auf begrenzte Zeit der Zirkulation. Der gesellschaftliche Reichtum kann in der Form des Geldes selbst zum Gegenstand und Ziel des Handelns der Akteure werden. „Im Gegensatz zu den Waren, die das selbständige Dasein des Tauschwerts, der allgemeinen gesellschaftlichen Arbeit, des abstrakten Reichtums nur vorstellen, ist Gold das materielle Dasein des abstrakten Reichtums."141 Auch der Fabrikant von Waren, z.B. von Seife, hat mit diesen ein Stück gesellschaftlichen Reichtums in der Hand, das jedoch nur vorgestellter Reichtum ist, solange die Seife nicht verkauft wird. Als Seife wird er von seinen Waren keinen anderen Nutzen haben, als sich die Hände damit waschen zu können. Das Geld als abstrakte Form des gesellschaftlichen Reichtums beinhaltet hingegen für ihn das Versprechen, sich in alle anderen Dinge seines Begehrens verwandeln zu können. Aber auch das Geld ist letztendlich für sich nichts. Es muß sich wieder in Ware verwandeln, soll es dem Geldbesitzer nicht so gehen wie König Midas, der schließlich verhungerte, weil alles, was er berührte, zu Gold wurde. Der Wert in seinen gegenständlichen Gestalten als Ware und Geld ist, weil ein gesellschaftliches Verhältnis, nicht dauerhaft festzuhalten. Er muß ständig die Gestalt wechseln, um sich zu erhalten. Dies ist der handlungstheoretische Gehalt 111
der Wertformanalyse bei Marx. Die gesellschaftliche Form geht den individuellen Handlungen und Verhaltensweisen voraus und bestimmt ihren Inhalt und ihre Richtung. Die Interessen der Individuen bilden sich erst innerhalb der formbestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse. Käufer und Verkäufer sind in der entwickelten Waren- und Geldwirtschaft zugleich unabhängige Subjekte und Funktionsglieder, „Charaktermasken" im allgemeinen gesellschaftlichen Produktionsund Reproduktionsprozeß. „Die Warenbesitzer traten in den Zirkulationsprozeß einfach als Hüter ihrer Waren. Innerhalb dessen treten sie sich in der gegensätzlichen Form von Käufer und Verkäufer gegenüber, der eine personifizierter Zukkerhut, der andere personifiziertes Geld. (...) Diese bestimmten sozialen Charaktere entspringen also keineswegs aus der menschlichen Individualität überhaupt, sondern aus den Austauschverhältnissen von Menschen, die ihre Produkte in der bestimmten Form der Ware produzieren."142 Sie können am Tauschprozeß jedoch nur teilhaben, indem sie sich in den Besitz von Geld versetzen. Wer kaufen will, muß bereits verkauft haben. Das Geld wird zur Eintrittskarte in die bürgerliche Gesellschaft. Die Notwendigkeit der Produzenten und Haushalte, über Geld zu verfugen und damit für einen Markt zu produzieren, wird historisch zu einem mächtigen Hebel der Umwandlung vorkapitalistischer Verhältnisse, etwa durch die Auferlegung von Geldsteuern in kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaften, die der Warenproduktion für den (Welt)-Markt weichen müssen. Geldnot ist aber nicht nur typisch für Kleinbauern, die Steuern und Wucherzinsen zu entrichten haben. Die Insolvenz, die Unfähigkeit, in Geld zu zahlen, bedroht im Prinzip jede ökonomische Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft. In seiner Funktion als Zahlungsmittel, in der das Geld die im normalen Geschäftsgang üblichen Gläubiger-Schuldner-Beziehungen abschließt, entwickelt es eine eigene Macht. „Das Geld vermittelt nicht mehr den Prozeß. Es schließt ihn selbständig ab, als absolutes Dasein des Tauschwerts oder allgemein Ware. (...) Die Wertgestalt der Ware, Geld, wird also jetzt zum Selbstzweck des Verkaufs durch eine den Verhältnissen des Zirkulationsprozesses selbst entspringende, gesellschaftliche Notwendigkeit."143 Das Handeln der Schuldner wird nun diktiert von der Notwendigkeit, in Besitz der Zahlungsmittel zu gelangen. Dies gilt insbesondere für Zeiten der Krise, in der die Waren und Sachgüter nichts mehr, das Geld alles ist. „Mit allgemeineren Störungen dieses Mechanismus, woher sie immer entspringen mögen, schlägt das Geld plötzlich um aus der nur ideellen Gestalt des Rechengeldes in hartes Geld. Es wird unersetzlich durch profane Waren. (...) In der Krise wird der Gegensatz zwischen der Ware und ihrer Wertgestalt, dem Geld, bis zum absoluten Widerspruch gesteigert."144 Das Geld als Zahlungsmittel bildet die Grundlage des Kredits. Der Kredit, insbesondere der industrielle Kredit, wird zur Leitgröße des gesellschaftlichen 112
Reichtums und seiner scheinbar unbegrenzten Vermehrungsfähigkeit. In Form der Banken tritt das Geldkapital als eigene Kapitalmacht neben das industrielle Kapital und das Handelskapital, die um die Vormachtstellung bei der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums kämpfen. Schließlich scheint sich in der Gegenwart die Akkumulation von Geld gänzlich von der realen Akkumulation in der Warenproduktion lösen zu wollen und stürzt spekulativ die Weltwirtschaft von einer Finanzkrise in die nächste.145 Diese Entwicklung kann hier natürlich nur angedeutet werden und konnte von Marx nur in Grundzügen vorausgesehen werden.146 Historisch spielten Geld bzw. Gold und Edelmetalle als „Inkarnationen" des Reichtums bereits in der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise eine entscheidende Rolle. Durch die Plünderung der Goldschätze der spanischen Kolonien gelangen im 16. Jahrhundert große Mengen von Gold nach Europa. Diese funktionieren jedoch als solche noch nicht als Kapital, solange die gesellschaftlichen Bedingungen, die massenhafte Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihrer Subsistenz und ihre Umwandlung in Lohnarbeiter, noch nicht hergestellt sind.147 Die Zirkulationsformel „W - W' oder „x Ware A = y Ware B" darf nicht als Kennzeichen einer historischen Vorstufe zur Geldwirtschaft gelesenen werden, in der unmittelbarer Tausch Ware gegen Ware, d.h. Naturaltausch (barter) vorgeherrscht habe. Sie dient Marx dazu, den Doppelcharakter der Ware als Gebrauchswert und Tauschwert vor dem Geld begrifflich zu entwickeln und die Herkunft des Wertes aus der gesellschaftlichen Arbeit zu entschlüsseln.148 Für Marx nimmt der Wert notwendigerweise die selbständige Form der „Wertgegenständlichkeit" des Geldes an. Das Geld ist für ihn kein „Schleier", den man nur zu entfernen braucht, um die sachlichen Verhältnisse klar erkennen zu können, da in den sachlichen, stofflichen Beziehung der Waren das Geld bereits in nuce enthalten ist. Die verallgemeinerte kapitalistische Warenproduktion ist für ihn notwendigerweise Geldwirtschaft, in der der bereits in der Ware enthaltene Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert seine Bewegungsform findet und sich zum Widerspruch zuspitzen kann. Mit der Zirkulationsformel W - G - W ist die allgemeine Möglichkeit der Krise bezeichnet. In dieser Formel sind zwei unabhängige Akte zusammengefaßt: W - G; G - W. Indem diese Akte auseinanderfallen können, dem Verkauf einer Ware nicht der Kauf einer anderen unmittelbar folgt, ist das allgemeinste Moment der Krise, die Unverkäuflichkeit von Waren, potentiell gegeben. „Keiner kann verkaufen, ohne daß ein anderer kauft. Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil er selbst verkauft hat."149 Der gesellschaftliche „Stoffwechsel" gerät ins Stocken. Auf der einen Seite häufen sich unverkaufte Waren an, die entwertet werden, auf der 113
anderen Seite das Geld, das aus irgendwelchen Gründen zögert, sich gegen Ware zu tauschen. Die Problematik der „Rückverwandlung" des Geldes in Ware kann jedoch erst näher bestimmt werden, wenn die Rolle des Geldes als Kapital betrachtet wird. Die Zirkulationsformel bezeichnet daher nur die Möglichkeit oder die allgemeine Form der Krise, nicht jedoch ihre Ursachen oder gar ihre Notwendigkeit. Mit dem Geld erhält der Wert seine eigene Gegenständlichkeit. Das Geld als Geld gehört jedoch ausschließlich der Zirkulationssphäre an. In seiner Erscheinung ist die Herkunft des Wertes aus der gesellschaftlichen Arbeit, die in der Form der Ware noch sichtbar ist, verschwunden. Umgekehrt scheint es selbst die magische Fähigkeit zu besitzen, Dingen Wert zu verleihen, indem es gegen diese getauscht werden kann. Es wird zum Fetisch. „Es ist (...) ebendiese fertige Form - die Geldform - der Warenwelt, welche den gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen Verhältnisse der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren."150 Die Akteure treten sich in der Zirkulationssphäre ausschließlich als Waren- und Geldbesitzer gegenüber. Als Geldbesitzer ist ihre gesellschaftliche Stellung nur noch quantitativ bestimmt, durch die Größe ihrer Kaufkraft. Wer keine Kaufkraft besitzt, fällt aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus. Der Besitz von Geld sagt nichts über seine Herkunft, ob es als Lohn bezahlt wurde, ob als Profit aus dem Verkauf von Waren, ob als Aktienrendite oder als Zinsen auf Geldguthaben, ob als Pension oder Sozialhilfe. Marx bezeichnet daher die Zirkulationsspähre auch als „Oberfläche" der bürgerlichen Gesellschaft, unter der das Verhältnis der Individuen zur gesellschaftlichen Arbeit, ihre Klassenlage, verborgen ist. Die Oberfläche ist Realität und Schein zugleich. Die Warenproduktion zwingt den Akteuren bestimmte Verkehrsformen auf. Der gesamte gesellschaftliche Stoffwechsel findet über den Markt statt. Hier nehmen die Krisen ihren Ausgangspunkt. In der Zirkulationssphäre gründen andererseits, wie Marx sagt, alle bürgerlichen Einbildungen von Gleichheit und Freiheit. „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warentausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. (...) Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen."151 Die gesellschaftlichen Verhältnisse müssen den Akteuren auf der Oberfläche der Gesellschaft als andere erscheinen, 114
als sie es ihrem stofflich-materiellen Charakter nach sind. Die Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse können zwar durchschaut, aber nicht beseitigt werden, da sie aus den Verhältnissen selbst - notwendig - entspringen.
2.5.6 Verwertungsprozeß: Geld und Kapital Durch das Geld erhält der „abstrakte Reichtum", der Wert, seine eigenständige gegenständliche Form. Der Wert der Waren kann die Gestalt des Geldes annehmen und umgekehrt. Während die Waren aus der Zirkulation herausfallen und als stoffliche Dinge untergehen, verbleibt das Geld in der Zirkulationssphäre. Im Akt des Verkaufes bleibt der Wert der Ware in Form des Geldes in der Hand des Verkäufers, im Akt des Kaufes wird das Geld weggegeben, die an seine Stelle tretende Ware wird in der Konsumtion vernutzt. In der Zirkulationsformel W-G-W ist die Austauschbewegung des Kapitals, als Wert, der sich erhält und vermehrt, jedoch bereits im Ansatz enthalten: Während der Konsument verkaufen muß, um kaufen zu können, kauft der Kapitalist, in der Funktion der Erhaltung und Vermehrung des Wertes, um zu verkaufen: G - W - G „Geld, das in seiner Bewegung diese letztre Zirkulation beschreibt, verwandelt sich in Kapital, wird Kapital und ist schon seiner Bestimmung nach Kapital."152 Das dem Kauf vorgeschossene Geld muß, um den Wert zu erhalten, nach den Transaktionen wieder in der Hand des „Kapitalisten" erscheinen. Nicht der Erhalt des vorgeschossenen Wertes ist jedoch das Ziel der Aktion. Um als Kapital zu fungieren, muß das Geld vermehrt aus dem Austausch hervorgehen, also: G - W - (G + g) oder G - W - G' „Die einfache Warenzirkulation - der Verkauf für den Kauf - dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Wertes existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos." 153 Die „rastlose(n) Vermehrung des Werts" 154 kennt keine inneren Begrenzungen. Der Sinn der Kapitalbewegung ist die qualitätslose, nur noch rein quantitativ bestimmte Vermehrung. Der Wert als Kapital muß beständig die Form wechseln, als Geld oder Ware auftreten. Nicht nur das Geld, sondern auch die Ware wird innerhalb der Kapitalzirkulation zum Kapital, das sich in Geld zurückverwandeln muß. Stockt diese Bewegung, wird sie unterbrochen, droht die Entwertung des Kapitals, damit aber auch die gesellschaftliche Krise. Die Rastlosigkeit und Maßlosigkeit der Bewegung wurzeln nicht in der Psyche des Kapitalisten oder in allgemeinen anthropologischen Bestimmungen des Menschen, sondern in der gesellschaftli115
chen Struktur. Kapital wird „sich selbst verwertender Wert", der sich nur noch auf seine eigene Größe bezieht. „In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet."155 Der Warenfetisch wächst sich zum Kapitalfetisch aus. Die „Verwertung des Werts" als Führungsgröße des kapitalistischen Systems abstrahiert von den konkreten Bedürfnissen und Interessen, dem gesellschaftlichen Zusammenhang der Gebrauchswerte, von der Nützlichkeit der Dinge für den Menschen und der Menschen füreinander. Dies kann die Psyche der Akteure nicht ungeschoren lassen. „Der objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Werts - ist sein [des Kapitalisten; HW] subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital. (...) Dieser absolute Bereicherungstrieb, diese leidenschaftliche Jagd auf den Wert ist dem Kapitalisten mit dem Schatzbildner gemein, aber während der Schatzbildner nur der verrückte Kapitalist, ist der Kapitalist der rationelle Schatzbilder. Die rastlose Vermehrung des Werts, die der Schatzbildner anstrebt, indem er das Geld vor der Zirkulation zu retten versucht, erreicht der klügere Kapitalist, indem er es stets der Zirkulation preisgibt."156 Der unbegrenzte Bereicherungstrieb ist in der Sicht von Marx kein individueller Charakterzug, der einen Akteur zum Kapitalisten werden läßt. Vielmehr ergeben sich die Zwecke der Handlungen aus den Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Analyse der Formbestimmtheit der individuellen und kollektiven Aktionen gehört zu den bedeutsamsten gesellschaftstheoretischen Beiträgen von Marx zum Verhältnis von Handlung und Struktur.
2.5.7 Die Produktion des Mehrwerts und die Ware Arbeitskraft Der Wert als Kapital kann sich nur erhalten, indem er sich vermehrt. Zwar erscheint der Mehrwert als G' in der Zirkulation und kann sich auch nur hier mit dem vorgeschossenen Wert vergleichen, er kann jedoch nicht in ihr entstehen. Qua Voraussetzung herrscht hier Äquivalententausch, und auch wenn Einzelne ihre Waren über Wert verkaufen können, kann dies nicht für alle Warenkäufer zusammen der Fall sein. „Das Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebensowenig aus der Zirkulation nicht entspringen."157 Die Vermehrung des Wert findet, gewissermaßen verborgen unter der „Oberfläche" der bürgerlichen Gesellschaft, in der Produktion des Wertes statt. Wie kann aber aus einem Prozeß mehr herauskommen, als in ihn hineingeht? „Dies sind 116
die Bedingungen des Problems. Hic Rhodus, hic salta!"158 Marx sah in der von ihm gefundenen Lösung dieser Paradoxie, die auf dem Boden der klassischen Ökonomie formuliert ist, eine seiner bedeutsamsten Leistungen. Die Auseinandersetzung mit den Mehrwerttheorien seiner Vorgänger und Zeitgenossen füllt in den Marx-Engels-Werken drei dicke Bände mit zusammengenommen mehr als 1700 Seiten, die einen wichtigen Teil der Vorarbeiten zum Kapital umfassen.159 Was ist das Problem? Zunächst kann es als empirische Tatsache gelten, daß auf der Ebene des Gesamtkapitals, d.h. der zusammengefaßten Einzelkapitale als Ergebnis der gesellschaftlichen Warenproduktion, regelmäßig ein größerer Wert als der der zusammengefaßten Produktionskosten (Löhne, Produktionsgegenstände, Rohstoffe, Anlagen) erscheint. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wird dieser „Mehrwert" als Einkommen aus Gewinnen von Unternehmertätigkeit und Vermögen ausgewiesen.160 Diese Überschüsse können nicht physischer Natur sein, da es in der Natur, betrachtet als geschlossenes System, keine Überschüsse geben kann, sondern nur Umwandlungen von Energien.161 Physische Überschüsse, etwa in der Landwirtschaft, beruhen auf der Art der Vermessung des Produkts, etwa im Vergleich des geernteten Weizens mit dem ausgesäten Saatgut.162 In dieser Betrachtung erscheinen verschiedene Böden oder landwirtschaftliche Techniken als unterschiedlich produktiv. Die Existenz eines gesamtwirtschaftlichen Gewinns oder Mehrwerts ergibt sich jedoch nicht aus dem Vergleich unterschiedlich großer, heterogener Mengen von Gebrauchswerten, sondern aus dem Vergleich von Werten. Wie Marx sagt, steckt im Gebrauchswert kein Atom Wert. Von der geleisteten Arbeit her betrachtet ergibt sich das Gesamtprodukt aus der vorausgesetzten „toten" Arbeit und der in der betrachteten Produktionsperiode („gesellschaftlicher Arbeitstag")163 neu zugesetzten Arbeit. Auch hier gibt es keinen Überschuß. Es kommt heraus, was hineingesteckt wurde. Der Mehrwert kann daher keine Kategorie der Produktion sein, sondern ist eine Kategorie der Verteilung des Produkts. Die Verteilung des Produkts in der Form der Ware steht ihrer Struktur nach schon fest, bevor die Ware produziert ist. Setzen wir die Übertragung des Werts der in der Produktion verbrauchten Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel, der insgesamt benötigten Produktionsmittel auf den Warenwert, einmal voraus, dann teilen sich Arbeitskräfte und Kapitalisten den Neuwert, den durch die neu verausgabte Arbeit geschaffenen Wert. Der Mehrwert oder Gewinn ist jedoch in den Augen von Marx nicht ein Abzug von dem durch die Arbeiter geschaffenen Wert, also eine „Ausbeutung", die durch Willkür, Macht und Herrschaft der Kapitalisten über die Arbeitskräfte vollzogen wird, sondern er folgt den Gesetzen des Äquivalententausches, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft gelten. Der Kapitalist kauft oder bezahlt nicht 117
die geleistete Arbeit und behält dabei einen Teil für sich zurück, sondern er kauft nach den Regeln der Zirkulation eine Ware, die Ware Arbeitskraft. Mit dem Verkauf der Arbeitskraft, die im Besitz des Arbeiters ist, überläßt der Arbeiter dem Kapitalisten den Gebrauch dieser Arbeitskraft für eine gewisse Zeit. Ob es dem Kapitalisten gelingt, die Arbeitskraft produktiv, d.h. wertbildend im Produktionsprozeß einzusetzen und die erzeugten Waren auf dem Markt zu verkaufen, ist, zumindest formell gesehen, sein Risiko. Der Verkauf der Arbeitskraft, geregelt etwa durch einen Arbeitsvertrag, gehört der Zirkulationssphäre an, der Gebrauch der Arbeitskraft, die Nutzung ihres Gebrauchswertes dagegen der Produktionssphäre, die zum Privatbereich des Produktionsmittelbesitzers gehört, in dem er das Kommando führt. Der Arbeits- oder Produktionsprozeß ist produktive Konsumtion der Arbeitskraft, ihrer Energie und Qualifikationen, und produktive Konsumtion der Produktionsmittel, die beide in der Herstellung der Waren verbraucht werden. Der spezifische Gebrauchswert der Arbeitskraft für das Kapital besteht jedoch darin, den Arbeitsgegenständen neuen Wert zuzusetzen und gleichzeitig den Wert der dabei vernutzten Produktionsmittel in der Ware zu erhalten. Die Ware Arbeitskraft ist eine Ware von besonderer Qualität. Sie ist mit dem lebendigen Dasein des Arbeiters unzertrennlich verknüpft. Der Arbeiter verkauft sich jedoch nicht mit Haut und Haaren an das Kapital. Er ist nicht Sklave oder Sklave auf Zeit, sondern formell frei. Er kann sich jedoch nur ernähren, soweit er seine Arbeitsfähigkeit in den Dienst eines anderen stellt bzw. gestellt hat. Dieser für die Nichtbesitzenden allgemein geltende Arbeitszwang muß durch das Individuum freiwillig vollzogen werden, da es als (erwachsene) Person keinem unmittelbarem Herrschaftsverhältnis untersteht. Er oder sie muß sich freiwillig, auf Zeit, in die in den Unternehmen oder Bürokratien herrschenden „Knechtschaft" begeben. Daß es hierzu fähig ist, liegt in der Verantwortung des einzelnen Individuums. Dies ist die besondere Form der kapitalistischen Produktionsweise im Unterschied zu anderen Produktionsweisen, etwa der Sklavenwirtschaft oder der feudalen Fronarbeit. Die Arbeitenden verkaufen an das sie beschäftigende Kapital nicht ihre geleistete Arbeit oder ihre Dienste. Die Arbeit schafft den Wert für das Kapital, sie bildet und erhält das Kapital, hat aber selbst keinen Wert. Der „Wert der Arbeitskraft" besteht nicht in den von ihr geschaffenen Werten, die als Werte nur für das Kapital existieren. Umgekehrt hat die Arbeitskraft nur Wert für ihren Besitzer, den Arbeiter oder die Arbeiterin. Für das Kapital ist sie als solche wertlos. Der Wert der Arbeitskraft ist deshalb auch kein Bestandteil des Wertbildungsprozesses des Kapitals. Verkauft wird die Fähigkeit zu arbeiten, die im Arbeitsprozeß zu einem gewissen Grad verschlissen wird und die immer wieder neu reproduziert werden muß. 118
Verliert der Arbeiter seine Fähigkeit zu arbeiten, dann wird er ausgesteuert. Bildung und Reproduktion der Arbeitsfähigkeit liegen in der Verantwortung des freien Arbeiters, der an ihrem Wert, d.h. an ihrer Ausbildung und an ihrem Erhalt interessiert sein muß, um sie immer wieder auf dem Markt anbieten zu können. „Der Wert der Arbeitskraft gleicht dem jeder anderen Ware, ist bestimmt durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige Arbeitszeit. Soweit sie Wert, repräsentiert die Arbeitskraft selbst nur ein bestimmtes Quantum in ihr vergegenständlichter Durchschnittsarbeit. Die Arbeitskraft existiert nur als Anlage des lebendigen Individuums. Ihre Produktion setzt also seine Existenz voraus. Die Existenz des Individuums gegeben, besteht die Produktion der Arbeitskraft in seiner eigenen Produktion und Erhaltung. Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln. Die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel. (...) Die Summe der Lebensmittel muß also hinreichen, das arbeitende Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten. Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw. sind verschieden je nach den klimatischen und anderen natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andererseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter anderem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft eine historisches und moralisches Element." 164 Marx behandelt den Prozess der Bildung und der Erhaltung der Arbeitskraft in Analogie zum Prozess der Produktion von Waren. Jener hat jedoch eine grundsätzlich andere Qualität als dieser. Dieser ist kapitalistischer Produktionsprozess, jener ist als individuelle Konsumtion der Erhalt des Lebens, der lebendigen Grundlage des Lebens selbst, der als solcher aus dem Bereich des unmittelbaren Interesses des Kapitals herausfällt. Die „Ware Arbeitskraft" hat eine andere Existenzform als die kapitalistisch produzierten Waren. Sie steht nicht als Ware neben den Waren, die die „ungeheure Warensammlung" bilden, in der der gesellschaftliche Reichtum in der kapitalistischen Gesellschaft erscheint (s.o.). Das Arbeitskräftepotential einer Gesellschaft bildet daher eine andere Form ihres Reichtums, der durch seinen Preis, der vom Kapital für seine Nutzung bezahlt wird, nicht vermessen ist bzw. auf einen Kostenfaktor kapitalistischer Produktion reduziert wird. Das Geheimnis des „Werts" der „Ware Arbeitskraft" besteht daher 119
darin, daß sie einen Preis besitzt und formell in einer Gesellschaft gleicher und freier Warenbesitzer verkäuflich erscheint wie jede andere Ware auch. Die menschliche Arbeitskraft fungiert im Kapitalismus, als ob sie eine Ware wäre. Die kontraktuelle Form des Lohnes vermittelt den Anschein, als erhielte der für ein Kapital Arbeitende den Gegenwert für die von ihm verrichteten Leistungen oder Dienste. Hinter der formellen Äquivalenzrelation verbirgt sich nach Marx die Tatsache, daß im Lohn als Äquivalent des Wertes der Arbeitskraft der vom Kapital Beschäftigte einen Anspruch auf einen Teil des von ihm mitgeschaffenen gesellschaftlichen Produktes in Form von Konsumtionsmitteln erwirbt. „Gezahlt wird der Arbeiter aber erst, nachdem seine Arbeitskraft gewirkt und sowohl ihren eignen Wert als den Mehrwert in Waren realisiert hat. ... Es ist ein Teil des vom Arbeiter selbst beständig reproduzierten Produkts, das ihm in Form des Arbeitslohnes beständig zurückfließt. Der Kapitalist zahlt ihm den Warenwert allerdings in Geld. Das Geld ist aber nur die verwandelte Form des Arbeitsproduktes. ... Es ist seine Arbeit von voriger Woche oder vom letzten halben Jahr, womit seine Arbeit von heute oder vom nächsten halben Jahr gezahlt wird."165 Der Wert des Warenkorbs, der mit dem individuell oder kollektiv mit dem Kapitalisten ausgehandelten Lohn erworben werden kann und der notwendig ist, um die Arbeitskraft zu erhalten, bildet die regulierende Größe für den Wert der Ware Arbeitskraft. Welche Güter zu den „notwendigen" Lebensmitteln der Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen gehören, ist historisch und kulturell variabel. Heute zählen sicherlich Auto, Telefon, Kühlschrank, Fernseher, eine Urlaubsreise, sowie bescheidene Möglichkeiten von Rücklagen, etwa zum Erwerb eines Eigenheims, zum Lebensstandard, der durch den durchschnittlichen Lohn eines (deutschen) Industriearbeiters gedeckt ist. Wie die Lohnabhängigen ihren Lohn ausgeben, steht ihnen - in gewissen Grenzen - frei. Da die bürgerliche Gesellschaft an der Reproduktion der Arbeitsfähigkeit der Lohnabhängigen insgesamt ein Interesse hat, da diese ihr Fundament bildet, werden im Zuge der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bestimmte Bereiche der Produktion und Reproduktion der Arbeitskräfte, als Menschen wie als Arbeitende, unter gesellschaftliche, öffentliche Regie gestellt. Hierzu gehören Ausbildung von grundlegenden Arbeitsfähigkeiten und Arbeitstugenden in der öffentlichen Schule (Schulpflicht), die Sicherung gegen Risiken wie Arbeitsunfälle und Krankheiten, zeitweise Arbeitslosigkeit und eine gewisse Fürsorge bei Erwerbsunfähigkeit und altersbedingtem Verschleiß der Arbeitsfähigkeit. Ein Teil der Reproduktionskosten der Arbeitskraft wird aus öffentlichen Fonds bestritten, in die zuvor Lohnbestandteile eingezahlt wurden. Soweit der Staat aus allgemeinen Steuern an der Herstellung und Sicherung der Arbeitsfähigkeit der Lohnarbeiter beteiligt ist, z.B. im öffentlichen 120
Schulwesen oder in der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Familien, ist eine rechnerische Bestimmung der Produktions- und Reproduktionskosten der Arbeitskräfte als Klasse durch die direkt in Form des Lohns gezahlten Beträge schwierig. Die Verteilungs- und Umverteilungsvorgänge über öffentliche Kassen verwischen z.T. Herkunft und strukturelle Bestimmung der hier gesammelten Anweisungen auf den gesellschaftlichen Reichtum.166 Die „Produktionskosten" für die Ware Arbeitskraft werden durch den Geldlohn nur insoweit entgolten, als die Besitzer dieser Ware selbst, direkt oder indirekt, für sie zahlen müssen. Durch die zahlungskräftige Nachfrage nach Konsumwaren und Dienstleistungen, z.B. von Ärzten, ist die Reproduktion der Arbeitskraft der Arbeiter des Kapitals Teil des Reproduktionsprozesses des Kapitals, zu dem das in Löhnen verauslagte Geld wieder zurückkehrt. Die Sphäre der individuellen Konsumtion, der Nicht-Arbeit oder Freizeit, des familialen und geselligen Lebens wird heute oft in Anlehnung an den Begriff der „Reproduktion der Ware Arbeitskraft" als „Reproduktionssphäre" bezeichnet. Damit ist angedeutet, daß die Sphäre der Produktion des Lebens, der lebendigen menschlichen Kräfte und ihrer freien Betätigung dem Prozess der Produktion und Vermehrung des Kapitals funktional eingegliedert, wenn nicht untergeordnet ist. Der Verselbstständigung der Sphären der bürgerlichen Gesellschaft gegeneinander, die heute in der Soziologie häufig mit dem Begriff der „funktionalen Differenzierung" als allgemeines Prinzip gesellschaftlicher Evolution ausgegeben wird, liegt in der Marxschen Analyse die Auftrennung und neue widersprüchliche Synthese der Reproduktionskreisläufe des Kapitals und seiner Arbeitskräfte zu Grunde. Die Produktion, Aufzucht, Qualifizierung und Erhaltung der Arbeitskräfte bildet zwar eine notwendige Grundlage der Kapitalproduktion, vermehrt jedoch nicht unmittelbar das Kapital. Sie erscheinen ihm als Kostenfaktoren oder unproduktive gesellschaftliche Aufwendungen, die es zu begrenzen bzw. abzuwälzen gilt. Mit der historischen Durchsetzung und Verallgemeinerung der Form der sog. bürgerlichen Familie im 19. und 20. Jahrhundert wird diese auch zum Muster der auf Lohnarbeit beruhenden Familien. Die bürgerliche familiale Form der Organisation des Aufwachsens, der Bildung und der Reproduktion der Arbeitskräfte mit ihrer geschlechtlichen Arbeitsteilung bedingt, daß der Lohn des erwachsenen, männlichen, verheirateten Lohnarbeiters in gewissen Grenzen zum „Familienlohn" wird. Aus ihm ist auch der Unterhalt der Kinder und der Ehefrau als Hausfrau zu bestreiten. Die Existenz einer liebenden und pflegenden Hausfrau gehört gewissermaßen zum Kreis der notwendigen „Lebensmittel", zum Lebensstandard männlicher Lohnarbeiter als Normalform der Arbeitskraft. Die Hausfrau trägt durch ihre Hausarbeit wie durch die von ihr geforderte Liebe und Zuwendung zur Bildung des Gebrauchswert der Arbeitskräfte bei, nicht jedoch 121
zu ihrer Wertbildung. Da sie keine Werte in der Hand des Kapitalisten bildet, gilt ihre Arbeit als „unproduktiv".167 Im Wert der Arbeitskraft des Mannes ist sie in ihrer Existenz nur als Anhängsel des Mannes berücksichtigt, das unentgeltliche Arbeit aus Liebe verrichtet.168 Sollte jedoch zu Zeiten der Lohn des Mannes nicht ausreichen, muß auch die Frau ihre Arbeitskraft auf dem Markt anbieten. Sie steht in Reserve, sie ist Teil der „industriellen Reservearmee", auf die das Kapital als besonders wohlfeile Arbeitskräfte zurückgreifen kann. Sie steht auch als Arbeitskraft bereit, wenn die Männer in den Krieg ziehen müssen und es danach die Schäden aufzuräumen gilt. Marx hat sich nur an wenigen Stellen des Kapital zur Familienform geäußert. Er kritisiert die physische und moralische Verelendung von Kindern, Frauen und Männern, die durch die Zerstörung der alten hauswirtschaftlichen Familienbande durch die ungezügelte Industrialisierung hervorgerufen wurde. Insbesondere wendet er sich gegen die Verwendung von Kindern in der industriellen Produktion. „Die Gewalt der Tatsachen zwang jedoch, endlich anzuerkennen, daß die große Industrie mit der ökonomischen Grundlage des alten Familienwesens und der ihr entsprechenden Familienarbeit auch die alten Familienverhältnisse selbst auflöst. Das Recht der Kinder mußte proklamiert werden."169 Marx ist jedoch weit entfernt davon, eine bestimmte Familienform als neue oder gar notwendige Form der Organisation des Verhältnisses der Geschlechter und Generationen zu benennen. „So furchtbar und ekelhaft nun die Auflösung des alten Familienwesens innerhalb des kapitalistischen Systems erscheint, so schafft nichtsdestoweniger die große Industrie mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produktionsprozessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter."170 Hiermit scheint gerade nicht die bürgerliche Triade von Papa - Mama - Kind angezielt. Die möglichen höheren Familienformen, die sich in einer ökonomischen Verselbständigung der Beteiligten gegeneinander zu eröffnen scheinen, ergeben sich nicht zwangsläufig, sondern müssen von ihnen auch angestrebt und gesellschaftlich durchgesetzt werden. Es ist hier nicht möglich, die abstrakten Marxschen Bestimmungen zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft und der Regulierung ihres Werts, sprich des Lohns, mit den konkreteren Entwicklungen, den historischen Formen und Sonderformen der Arbeiter- und Arbeiterinnenexistenz zu vermitteln. Das Niveau der Reproduktion der Arbeitskräfte steht im Zentrum der Auseinandersetzungen der Klassen und Gruppen um ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Grundsätzlich stehen auch die Lohnarbeiter in Konkurrenz zueinander, die durch kollektive Organisation, z.B. in Form von Gewerkschaften, eingeschränkt, aber nicht aufge122
hoben werden kann. Eine empirische Untersuchung der Entlohnungs- und Lebensverhältnisse muß die Differenzierung der Klassen, z.B. Facharbeiter vs. unqualifizierte Arbeiter, die Beschäftigung von Frauen oder von Wanderarbeitern, Organisation und Kampfstärke der Kontrahenten, die historische Rolle des Staates und anderes mehr berücksichtigen. Diese Ebene der Konkretion wird von Marx nicht angezielt. Marx geht in seiner Analyse nur von den beiden Grundklassen - Lohnarbeiter und Kapitalisten - aus. Er setzt dabei auch die Existenz eines bestimmten Reproduktionsniveaus für die „einfache", durchschnittliche Arbeitskraft voraus, durch das der Wert der Ware Arbeitskraft und ihre Entlohnung bestimmt sind. Nachdem Marx zu der Feststellung gelangt ist, daß nicht die verrichtete Arbeit gekauft oder entlohnt wird, sondern der Kapitalist die Arbeitskraft als Fähigkeit, Arbeit zu verausgaben, als Ware zu ihrem Wert kauft, löst sich das Paradox der „Überschüsse" in Form von Gewinn oder Mehrwert dahin auf, daß die Arbeiter - zusammengenommen - mehr Arbeit in der Produktion der kapitalistischen Waren verrichten, als zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft gesellschaftlich notwendig ist. Vergleichbar dem weiter oben angesprochenen Überschuß der Weizenernte über das Saatgut findet eine spezifische „Vermessung" des gesellschaftlichen Produkts als Wert oder abstrakter gesellschaftlicher Reichtum statt. Wie das Samenkorn ist auch die Arbeitskraft eine Potenz, eine Produktivkraft. Die Produktivität der Arbeitskraft besteht in ihrer Fähigkeit, wertmäßig ein Mehrfaches von dem zu schaffen, was mit ihr vorausgesetzt ist. Allgemein verdanken sich die „Überschüsse" der bestimmten Arbeitsproduktivität, zu deren Bedingungen auch die Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstände, die natürlichen Gegebenheiten der Böden, die Zugänglichkeit von Rohstoffen etc. gehören. Betrachtet man alle diese Momente zusammen als ein geschlossenes System, dann ergeben sich keine Überschüsse, sondern nur Transformationen des Gegebenen, der Stoffe und Energien, in eine andere Zustandsform. Betrachtet man sie von den für die Existenz der Menschen als gesellschaftliche Wesen oder Arbeitskräfte notwendigen Lebensbedingungen her, dann können je nach Stand der Arbeitsproduktivität mehr oder weniger große Überschüsse an Gebrauchswerten über diese notwendigen Voraussetzungen hinaus produziert werden. Diese Überschüsse über das zur Produktion der gesellschaftlichen Produktionsvoraussetzungen Notwendige (eingeschlossen die Reproduktion der Arbeitskräfte) fallen in der kapitalistischen Gesellschaft in erster Hand dem Kapital und seinen Eignern als Mehrwert zu. Sie erscheinen ihnen als Unternehmergewinn oder Zins auf das eingesetzte Kapital. Die Teilung des gesellschaftlichen Produkts in einen „notwendigen Teil", der die Lebensbedingungen der unmittelbaren Produzenten (und die sachlichen Produktionsvoraussetzungen) umfaßt, ist an der einzelnen Ware oder dem 123
Warenprodukt, z.B. eine bestimmte Menge von Seife, des einzelnen unabhängigen Warenproduzenten nicht sichtbar, wie etwa in in der Fronarbeit, in der der Leibeigene einen Teil des Arbeitstages für sich auf seinem Feld arbeitet, den restlichen Teil auf den Feldern seines Herrn. Auch in der kapitalistischen Warenproduktion läßt sich der Arbeitstag des Lohnarbeiters, allerdings nur gedanklich, in einen Teil aufspalten, in dem der Arbeiter das Wertäquivalent für den ihm zu zahlenden Lohn produziert, und in einen Teil, der den Mehrwert des Kapitalisten bildet. An der Arbeit selbst wie am Ergebnis, z.B. so und so viele Stücke Seife, ist diese Teilung jedoch nicht sichtbar. Sie zeigt sich erst, wenn die Verteilung der gesellschaftlichen Produktion, also jener „ungeheuren Warensammlung", insgesamt betrachtet wird. Erst in der Zirkulation, im allseitigen Verkauf und Kauf der Waren, zeigt sich, daß alle Kapitale einen Mehrwert erzeugt haben. Seine Herkunft muß hier jedoch unsichtbar bleiben. Der Mehrwert in der Form des Profits oder Kapitalzinses erscheint nun als Ergebnis der Aktionen des Kapitalisten, ist Frucht seiner unternehmerischen Initiative, Kompensation für das unternehmerische Risiko, „Unternehmerlohn". Die Produktivität der Arbeit erscheint als Produktivität des Kapitals. In der Vorstellung der Akteure wird das Kapital zu einem selbständigen „Produktionsfaktor". Die Fetischisierung der Verhältnisse hat eine neue Stufe erreicht. Damit wird auch das Herrschafts- und Klassenverhältnis der Anschauung des „gewöhnlichen Bewußtseins" entzogen. Löhne und Gewinne erscheinen, anstatt als Verteilung des Produkts auf der Grundlage des Klassenverhältnisses, als Entgelte für die Beiträge der beiden „Produktionsfaktoren" Arbeit und Kapital in der Erstellung der Warendinge.171
2.5.8 Absoluter und relativer Mehrwert Ist bei einem bestimmten Stand der Arbeitsproduktivität der Wert der Arbeitskraft gegeben, dann kann der Mehrwert des Kapitalisten dadurch vergrößert werden, daß die Zeit verlängert wird, in der die Arbeiter für ihn tätig sind. Marx nennt diesen Vorgang, der vor allem in den Anfängen der industriellen Produktionsweise zu beobachten war, die Produktion des „absoluten Mehrwerts". Diese Methode findet ihre Grenzen in der physischen Erschöpfung der Arbeitskräfte und ihrem schnellen Verschleiß, die jedoch durch „Zufuhr" immer neuer Arbeitskräfte „von außen" hinausgeschoben werden kann. Die Länge des Arbeitstages steht im Zentrum der Auseinandersetzungen und Arbeitskämpfe zwischen Unternehmen und den in Gewerkschaften organisierten Lohnabhängigen. In der fast ein Jahrhundert dauernden mühevollen Reduzierung der täglichen Arbeitszeiten von 16 und mehr Stunden zu Beginn der 124
Industrialisierung auf 12, 10, und schließlich 8 Stunden Regelarbeitszeit ging es auch immer um die Menschwerdung der „Arbeiter-Rasse" (Marx). Erst 1908 wurde der 10-Stunden-Tag generell in der deutschen Textilindustrie eingeführt. Der Kampf um den 8-Stunden-Tag wurde zum Fanal der internationalen Arbeiterbewegung. Dieser wurde 1918 im Ausgang des 1. Weltkrieges in Deutschland per Gesetz erreicht, jene blieb auf der Strecke. Den Arbeiterinnen und Arbeitern ging es in diesen Auseinandersetzung vornehmlich um den Schutz ihrer Arbeitskraft vor übermäßiger Beanspruchung und vorschnellem Verschleiß.172 Diese Auseinandersetzungen werden auch in der Gegenwart fortgeführt, etwa im Kampf um die Wochenendarbeit oder die Maschinenlaufzeiten. Doch nicht die Methode der Produktion des absoluten, sondern die des relativen Mehrwerts erwies sich als die der kapitalistischen Dynamik adäquate Methode. Sie besteht darin, den Wert der Arbeitskraft zu senken. Hierbei sind nicht jene Versuche gemeint, die Entlohnung der Beschäftigten unter den Wert ihrer Arbeitskraft zu senken, sie auf ein absolutes Existenzminimum oder darunter zu senken und die Arbeitskräfte damit in die „absolute Verelendung" zu stürzen. Der Wert der Arbeitskraft wird allgemein durch die Reduzierung der zur Produktion der notwendigen Konsumtionsmittel erforderlichen Arbeit gesenkt, also durch eine Erhöhung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität, die sich insbesondere auf die Herstellung massenhafter, standardisierter Verbrauchsgüter für das alltägliche Leben bezieht. Insgesamt benötigen die Arbeiterinnen und Arbeiter immer weniger Zeit, um den Gegenwert ihre Löhne zu produzieren. Der Teil des ,,Arbeitstages", den die Kapitalisten sich unentgeltlich aneignen können, wächst. Die Produktion des relativen Mehrwerts ist keine Tat eines einzelnen Kapitals, sondern Resultat der Anstrengungen der Industrie als ganzer, die Arbeitsproduktivität zu steigern und die „Arbeitskosten" zu reduzieren. Diese werden vorangetrieben durch die Konkurrenz der Unternehmen untereinander. Diese führt zur Angleichung der Arbeitsproduktivitäten in den einzelnen Industriezweigen wie zur Angleichung der Lohnniveaus zwischen den Industrien. In der Produktion des relativen Mehrwerts folgen die Unternehmen den Zwängen der Konkurrenz. Diese können hier allerdings im Einzelnen nicht entwickelt werden. Durch die Verbilligung der zur Reproduktion der Arbeitskräfte erforderlichen Lebensmittel kann die Masse der Gebrauchswerte, über die ein Arbeiterhaushalt verfügen kann, steigen. Der Lebensstandard kann sich für alle erhöhen, ohne daß ihr Anteil am Wert des gesellschaftlichen Produkts steigt. In der Tendenz fällt vielmehr dieser Anteil.173 Dies nennt Marx „relative Verelendung". Anders als die absolute Verelendung macht sich die relative Verelendung, inmitten der „Wohlstandsgesellschaft", nur bedingt und nicht unmittelbar dem Bewußtsein bemerkbar. 125
2.5.9 Kapital: Der prozessierende Wert Geld, das in die Zirkulation geworfen wird, um sich zu vermehren, ist der Form nach Kapital. Nach Verkauf der produzierten Waren erscheint als Abschluß des Zirkulationsprozesses Geld als Gegenwert des vorgeschossenen Geldes wieder in der Hand des Kapitalisten, nun vermehrt um einen Mehrwert. Die Vermehrung des Gelds kann jedoch als zusammengefaßtes Resultat aller Kapitale nicht in der Zirkulationssphäre, sondern nur in der Produktionssphäre erfolgen. Geld wird erst wirklich Kapital, indem es sich gegen die Ware Arbeitskraft tauscht, indem es den Arbeitsprozeß zum Prozeß seiner Verwertung macht. Das Kapital nimmt im Produktionsprozeß die Form der Arbeitskraft und die Form von Produktionsmitteln an, gegen die es sich auf dem Markt getauscht hat. Schließlich erscheint es als Ware, z.B. Seife, wieder auf dem Markt, um sich durch Verkauf der Ware in Geld zurückzuverwandeln. Das in Form der Verfügung über die gekaufte Arbeitskraft vorgeschossene Kapital174 nennt Marx „variables Kapital" (v), da es jene Potenzen repräsentiert, die Neuwert produzieren und das Kapital vermehren. „Der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals (...) verändert seinen Wert im Produktionsprozeß. Er reproduziert sein eigenes Äquivalent und einen Überschuß darüber, Mehrwert, der selbst wechseln, größer und kleiner sein kann." 175 Den gegen Produktionsmittel ausgelegten Teil des Geldes bezeichnet er als „konstantes Kapital" (c), da sein Wert im Arbeitsprozeß auf die herzustellenden Waren nach und nach übertragen wird. Die entwickelte Zirkulationsformel des Kapitals stellt sich nun wie folgt dar: G - W (c +v) — W' - G' Im Durchgang durch diese verschiedenen Gestalten erhält und vermehrt sich das Kapital. Der Kapitalwert verbleibt in diesen Metamorphosen stets in der Hand des Kapitalisten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachtet liegt das Kapital gleichzeitig in den verschiedenen Formen vor: Geld, Waren, Produktionsmittel und unter Vertrag genommene Arbeitskräfte. Trotz ihrer verschiedenen sachlichen Gestalt bilden sie eine Einheit, nämlich Kapital. Sie bilden jedoch nur Kapital, indem sie unaufhörlich die Gestalt wechseln und Momente der Verwertung des Kapitals, sprich seiner Vermehrung sind. Eine Schaufel in der Hand eines Privatmannes, der damit seinen Garten umgräbt, ist Arbeitsinstrument, aber nicht Kapital. Eine Schaufel in der Hand eines Gartenarbeiters für ein Gartenbauunternehmen ist Arbeitsinstrument und Kapital zugleich. Als reines Arbeitsinstrument nutzt sie sich ab, als Kapital erhält sie in der Hand des Arbeiters ihren Wert, der auf das auf dem Markt verkaufte Gemüse übertragen wird und im Tausch gegen Geld als Wert wiedererscheint. Der Produktionsprozeß ist auch unter der Regie des Kapitals konkreter Arbeitsprozeß, der sich der nützlichen Eigenschaften der Arbeitskräfte und der Arbeits126
mittel und Arbeitsgegenstände bedient, um gebrauchsfähige Waren zu produzieren, die irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen haben. In diesem Sinne kann sich der Verwertungsprozeß nicht vom gesellschaftlichen Arbeitsprozeß lösen. Die Zielgröße des Produktionsprozesses ist jedoch der Mehrwert, der gegenüber seiner konkreten Warengestalt gleichgültig ist. „Der Gebrauchswert ist also nie als unmittelbarer Zweck des Kapitalisten zu behandeln. Auch nicht der einzelne Gewinn, sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens."176 Der gesellschaftliche Arbeitsprozeß wird der Verwertung des Werts subsumiert. Je nachdem, welchen Gewinn es sich verspricht, wird das Kapital von einer Anlagesphäre zur nächsten, von einem Standort zum anderen wechseln. Ob es sich in Form von Seife, Stiefeln oder Schaufeln verwertet, ist ihm gleichgültig. In seinem Drang bzw. im durch die Konkurrenz gesetzten Zwang, sich zu vermehren, wird es sich immer neue Anlagemöglichkeiten und neue Regionen zu erschließen suchen. Produktionssphären, die keinen oder im gesellschaftlichen Durchschnitt zu geringe Gewinne abwerfen, werden brach gelegt. Kapital, das keinen Mehrwehrt abwirft, wird entwertet. Geraten die Metamorphosen des einzelnen Kapitals ins Stocken, so gerät es in die Krise, es drohen der Konkurs und damit seine Vernichtung. Geraten die Metamorphosen des Kapitals gesellschaftlich ins Stocken, so wird auch die Gesellschaft in die Krise gestürzt. Die Rastlosigkeit des Kapitals, die Beschleunigung seines Umlaufs, die Erhöhung seiner Mobilität, die ständige Erneuerung seiner produktiven Basis durch technische Umwälzungen reißt die gesellschaftliche Arbeitsorganisation mit sich, wirft die Lohnabhängigen von einem Industriezweig in den nächsten bzw. macht sie für seine Zwecke überflüssig. Das Kapital wird zum Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung, allerdings zu einem „blinden" oder „automatischen Subjekt", zu einem „System", das nur seine eigene Sprache versteht. Das Kapital in Form einer einzelnen Unternehmung wie zusammengenommen als „Gesamtkapital" kann nur existieren, solange es seinen Kreislauf vollziehen kann und sich vermehrt. Schon ein Sinken der Akkumulationsrate kann eine Krise in Form nicht ausgelasteter Kapazitäten ankündigen. Die Akkumulation von Kapital in Form des Zuwachses an Geldkapital wie an in sachliche Produktionsmittel ausgelegtem Kapital wird zum absoluten Imperativ der kapitalistischen Produktionsweise, die immer aufs neue die verschiedenartigen Wachstumshemmnisse, die sich der Akkumulation in den Weg legen, eventuell auch gewaltsam, überwinden muß. „Die Akkumulation ist Eroberung der Welt des gesellschaftlichen Reichtums. Sie dehnt mit der Masse des exploitierten Menschenmaterials zugleich die direkte und indirekte Herrschaft des Kapitalisten aus."177 Die komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse, die dem Kapital vorausliegen, schrumpfen in der Perspektive des Kapitals als Wert, der sich verwerten muß, auf 127
ein reines Verhältnis zu sich selbst zusammen. In seiner Geldform ist das Kapital nur rein quantitativer Differenzierung fähig. Die reine Selbstbezüglichkeit von Geld, mehr Geld und noch mehr Geld, avanciert zum gesellschaftlichen Leitwert oder „ubiquitären Geldfetisch" (Altvater/Mahnkopf), der alles was er berührt zur Rechengröße werden läßt. Der Wert ist nur insofern Wert, als er sich verwertet. Nur indem er sich verwertet, d.h. vermehrt, bleibt er als Wert erhalten. Kapitalanlagen, die nicht den geltenden Durchschnittsprofit bzw. Kapitalzins abwerfen, werden entwertet und brach gelegt. Das in der Vergangenheit angehäufte Kapital setzt die Imperative für die Gegenwart. Die tote Arbeit, die sich als Wert erwiesen hat, gewinnt in Form des Kapitals Gewalt über die gegenwärtige, lebendige Arbeit. Diese Gewalt ist aber nichts anderes als der Zwang, auch in Zukunft Mehrwert abzuwerfen. Der gegenwärtige Wert bemißt sich nun nach seiner (vermuteten) Fähigkeit, auch in Zukunft einen Mehrwert zu liefern. Damit verkürzt sich der gesellschaftliche Zeithorizont, schrumpfen die gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven und Zukunftsplanungen, nach Maßgabe der Diskontraten. Das Kapital ist der gesellschaftliche Wechsel auf die Zukunft. Je größer die Diskontrate, um so atemloser die Suche nach kurzfristig profitablen Anlagemöglichkeiten. Geld als unmittelbares Dasein des Werts wird selbst zur Ware und wird nach Maßgabe seiner Zukunftsaussichten in Form unterschiedlicher Geldderivate gehandelt. Für die Geldbesitzer wird die Stabilität des Geldwertes zur zentralen politischen Aufgabe, der sich alle gesellschaftlichen Projekte zu beugen haben. Die kapitalistische, warenproduzierende Gesellschaft ist zugleich Arbeitsgesellschaft und Geldgesellschaft. „Die Substanz des Wertes wird durch die Arbeit gebildet, die Form des Wertes entfaltet sich zum Geld, das die sozialen Beziehungen zu Sachzwängen zuspitzt."178 Das Geld ist kein Schleier, der nur fortzuziehen wäre, um die menschlichen, sozialen und ökologischen Probleme sichtbar und bearbeitbar zumachen. Das Geld ist zum „wahren Gemeinwesen" geworden, seiner Rechenhaftigkeit muß sich der Alltagsverstand wie die politische Vernunft beugen. Das Gemeinwesen ist zu einem Verein von Shareholdern geworden, einer weltweit religiösen Gemeinschaft, ausgeliefert an das Auf und Ab der Turbulenzen an den Börsen, in deren Angesicht nichts anderes übrig zu bleiben scheint als Glaube und Gebet.
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2.5.10 Akkumulation des Kapitals: Industrielle Reservearmee und relative „Überbevölkerung" Das der kapitalistischen Produktionsweise vorausgesetzte Klassenverhältnis wird im Gang der Warenproduktion nicht nur ständig reproduziert, indem auf der einen Seite das Kapital in der Hand der Kapitalisten erhalten und vermehrt wird und auf der anderen Seite die Arbeiter stets aufs neue ihre Ware, die Arbeitskraft, auf dem Markt anbieten müssen, es hat in der Sicht von Marx auch die Tendenz, sich ständig auszudehnen. Historisch werden immer größere Teile der Bevölkerung in lohnabhängige Existenzen verwandelt, seien es ehemalige Bauern oder selbständige Handwerker oder sonstige Gruppen. Nach dem von Marx im 23. Kapitel des 1. Bandes des Kapital formulierten „allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation" ist das Wachstum des Kapitals jedoch nicht an das Wachstum der Bevölkerungen gebunden. In Form der „industriellen Reservearmee" schafft sich die kapitalistische Warenproduktion ein eigenes Reservoir von Arbeitskräften, aus denen die jeweils zusätzlich benötigten Arbeitskräfte rekrutiert werden können. Die Reservearmee wird gespeist aus denjenigen Arbeitskräften, die im Verlauf des Akkumulationsprozesses beständig freigesetzt werden. Bei gegebenem Produktionsvolumen bewirkt die durch die Konkurrenz der einzelnen Kapitale untereinander erzwungene Steigerung der Produktivität der Arbeit eine ständige Abnahme der Zahl der für ein bestimmtes Produktionsvolumen benötigten Arbeitskräfte. „Diese mit dem Wachstum des Gesamtkapitals beschleunigte und rascher als sein eigenes Wachstum beschleunigte relative Abnahme seines variablen Bestandteils scheint auf der anderen Seite umgekehrt stets rascheres absolutes Wachstum der Arbeitsbevölkerung als das des variablen Kapitals oder ihrer Beschäftigungsmittel. Die kapitalistische Akkumulation produziert vielmehr, und zwar im Verhältnis zu ihrer Energie und ihrem Umfang, beständig eine relative, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oder Zuschuß-Arbeitsbevölkerung."179 Das Maß für die „Überbevölkerung" sind die Verwertungsbedürfnisse des Kapitals. Zu seinem Funktionieren gehört die Mobilität der Arbeitsbevölkerung, die an der einen Stelle freigesetzt wird, um an einer anderen Stelle wieder zur Verfügung zu stehen. „Die mit dem Fortschritt der Akkumulation überschwellende und in Zusatzkapital verwandelbare Masse des gesellschaftlichen Reichtums drängt sich mit Frenesie in alte Produktionszweige, deren Markt sich plötzlich erweitert, oder in neu eröffnete, wie Eisenbahnen usw., deren Bedürfiiis aus der Entwicklung der alten entspringt. In allen solchen Fällen müssen große Menschenmassen plötzlich und ohne Abbruch der Produktionsleiter in anderen 129
Sphären auf die entscheidenden Punkte werfbar sein. Die Überbevölkerung liefert sie." 180 Marx entwickelt hier in Auseinandersetzung insbesondere mit der Bevölkerungslehre von Malthus ein für die kapitalistische Produktionsweise spezifisches Bevölkerungsgesetz. Nach Malthus vermehren sich Bevölkerungen in geometrischer Progression solange, bis sie die Grenzen ihres Nahrungsspielraumes überschritten haben und durch Nahrungsmittelknappheit, Kriege, Hungersnöte etc. in ihrem Vermehrungsdrang gedrosselt werden. Hiernach wird der Lebensunterhalt der Bevölkerungen ständig auf ein Minimum herabgedrückt. Die tendenzielle Überbevölkerung kann in dieser Sichtweise nur durch eine restriktive Bevölkerungspolitik, z.B. Geburtenkontrollen oder Ehebeschränkungen, vermieden werden. Von der malthusianischen Position leitete sich das „eherne Lohngesetz" ab, das auch von Sozialisten vertreten wurde (Lassalle). Danach drückt die ungebremste Vermehrung der Proletarier, die nichts besitzen, als ihre allzu vielen Nachkommen (proles), die Löhne ständig auf ein Existenzminimum herab. Nachdem in den hochindustrialisierten Gesellschaften Kinder ihre Bedeutung für das Überleben der Familienhaushalte verloren haben und die Sicherung der Eltern im Alter weitgehend durch kollektive Sicherungen übernommen wurde, sinkt das Interesse der Lohnabhängigen an Kindern kontinuierlich. An die Stelle einer antinatalistischen Politik, die die Vermehrung der ,Arbeiterrasse" eindämmen soll, tritt eine pronatalistische Politik, gepaart mit eugenischen Vorkehrungen wie der pränatalen Diagnostik. Nach Marx sind die Vermehrung der Arbeitsbevölkerung wie das Überflüssigwerden bestimmter ihrer Teile ebenso wie die Entwicklung der Löhne eine Funktion der Akkumulation des Kapitals, das sich damit tendenziell von der „natürlichen" Bevölkerangsdynamik unabhängig macht. „Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer Überzähligmachung. Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Bevölkerungsgesetz, wie in der Tat jede besondere historische Produktionsweise ihre besondren, historisch gültigen Populationsgesetze hat. Ein abstraktes Populationsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift. Wenn aber eine Surpluspopulation notwendiges Produkt der Akkumulation oder der Entwicklung des Reichtums auf kapitalistischer Grundlage ist, wird diese Übervölkerung umgekehrt zum Hebel der kapitalistischen Akkumulation, ja zu einer Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie bildet eine disponible industrielle Reservearmee, die dem Kapital ganz so absolut gehört, als ob es sie auf seine eigenen Kosten großgezüchtet hätte. Sie schafft für seine wechselnden Verwertungsbedürfnisse das stets bereit und exploitable Menschenmaterial unabhängig von den Schranken der wirklichen Bevölkerungszunahme."181 130
Die kapitalistische Produktionsweise ist für Marx daher ihrem Wesen nach keine Ökonomie der „Vollbeschäftigung". Dabei ist nicht ausgeschlossen, daß in längeren Prosperitätsphasen unter günstigen Akkumulationsbedingungen industrielles Wachstum und Ausweitung der Arbeiterschaft mit steigenden Löhnen und damit steigendem Lebensstandard einhergehen können.182 „Unter den (...) den Arbeitern günstigsten Akkumulationsbedingungen kleidet sich ihr Abhängigkeitsverhältnis in erträgliche (...) Formen." 183 „Steigender Preis der Arbeit infolge der Akkumulation des Kapitals besagt in der Tat nur, daß der Umfang und die Wucht der goldnen Kette, die der Lohnarbeiter sich selbst bereits geschmiedet hat, ihre losere Spannung erlauben."184 Mit dem Bild der „goldnen Kette" - oder sollte man sagen, der „vergoldeten" Kette - spricht Marx das Interesse der Lohnabhängigen am Fortgang der Kapitalakkumulation an. Ihr alltägliches (Über)Leben unter den gegebenen Bedingungen hängt daran. Zugleich konstituiert sich hier ein Interesse der Beschäftigten an einer sozialen Schließung gegenüber der Konkurrenz durch die Reservearmeen und ihrer Vergrößerung durch Zustrom von außen. Die Reservearmee wird gespeist u.a. aus gering qualifizierten Arbeitern, den Massenarbeitern, die in der Lage sind, in den verschiedenen Industrien einfache, repetitive Arbeit zu leisten. Die „Freisetzung" von Arbeitskräften ist regelmäßig auch mit dem Verlust von Qualifikationen verbunden, die sie als Beschäftigte erworben haben.185 In außerordentlichen Wachstumsperioden, wie etwa in Westdeutschland nach dem 2. Weltkrieg, werden die Arbeitsreserven für die industrielle Produktion verstärkt auch durch Frauen und Arbeitsmigranten aufgefüllt.186 Die Löhne dieser zusätzlich mobilisierten Arbeitskräfte sind in der Regel vergleichsweise niedrig, da ihre Reproduktionskosten zum Teil auf ihre Herkunftsmilieus und Herkunftsländer bzw. auf die Haushalte der angeworbenen Frauen abgewälzt werden und Lohnansprüche dieser Zusatzarbeitskräfte begrenzt werden können. Marx beschäftigt sich im Kapital sehr ausführlich mit den verschiedenen Formen der relativen „Überbevölkerung". .Jeder Arbeiter gehört ihr an während der Zeit, wo er halb oder gar nicht beschäftigt ist." 187 Der Verlust des Arbeitsplatzes und damit kürzere oder längere Zeiten der Arbeitslosigkeit gehören zu den normalen Erfahrungen der Arbeiterexistenz.188 In der Unfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, die Massen von Menschen, die durch die Entwicklung der industriellen Produktion aus ihren traditionellen Lebensweisen gerissen werden und die keine eigene Existenzgrundlage besitzen, in „Arbeit und Brot" zu setzen, zeigt sich für Marx auf die eklatanteste Weise der Widerspruch zwischen dem allgemeinen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit und ihrer bornierten Form unter der Herrschaft des kapitalistischen Privateigentums. Statt 131
allgemein den Zwecken der Menschen zu dienen, wird die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums in der Hülle des Privateigentums zum Selbstzweck, der sich der Menschen als Mittel bedient. Gestützt auf umfangreiches empirisches Material seiner Zeit, das er an dieser Stelle im Kapital zusammenträgt, findet Marx zu besonders schneidenden Formulierungen: „Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Überbevölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. (...) innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihn die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib und Kind unter das Juggernaut-Rad des Kapitals. Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumlation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung seiner Methoden. Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß. Das Gesetz endlich, welches die relative Überbevölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert."189 Diese kritische Diagnose gründet nicht in einer moralischen Empörung über Zustände und Entwicklungen in einer bestimmten Epoche des Kapitalismus, die heute unter der Bezeichnung „Frühkapitalismus" in eine ferne Vergangenheit verlegt wird, sondern ist im Begriff der Arbeit bzw. der gesellschaftlichen Arbeit 132
angelegt, der auf die rationalen Potenzen der menschlichen Gattung abhebt. Wie wir gesehen haben, hat der Begriff der Arbeit als Grundbegriff der Gesellschaftsanalyse bereits den Doppelaspekt von Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung der Gattung wie des einzelnen Individuums, aus dem sich kritische Maßstäbe für die Rationalität der Formen und Entwicklungsstadien der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit entfalten lassen. Allerdings betont Marx, gewissermaßen aus der Perspektive des objektiven Beobachters, die naturwüchsigen Momente der Geschichte der menschlichen Rationalität, die dazu führen, daß die Menschen zu Gefangenen ihrer eigenen Taten werden. Das „allgemeine Gesetz der kapitalischen Akkumulation" kann nicht umstandslos auf die Gegenwart übertragen werden. Die Polarisierung von Reichtum und Elend hat in den alten Zentren der industriellen Entwicklung nicht jene offenkundigen Formen angenommen, wie sie Marx beschrieben hat. Jedoch hat der Begriff der industriellen Reservearmee als vom Kapital selbst geschaffene „Überbevölkerung" von nicht beschäftigten Männern und Frauen seine Gültigkeit behalten, sowohl was die offene wie die latente Arbeitslosigkeit und die Scharen von halb- oder nur zeitweilig beschäftigten Personen angeht. Auch das Gespenst der Armut und der Verelendung ist nicht aus den Zentren gewichen, wie etwa die Untersuchungen von Pierre Bourdieu u.a. „Das Elend der Welt" eindrucksvoll dokumentieren.190 Marx bezog sich in seinen Analysen insbesondere auf England. Heute müßte der globale Aktionsraum des Kapitals mit seinen „Reserven" an potentiellen Arbeitskräften, etwa aus agrarischen Regionen, mit einbezogen werden. Die „Freisetzungseffekte", die die industriell kapitalistische Warenproduktion auf ländliche Regionen sowohl in bezug auf die Landwirtschaft wie das ländliche Gewerbe hat, sind von Marx am Beispiel der englischen und irischen Landarbeiter eingehend analysiert worden.191 Ein Beispiel aus der Gegenwart wäre Mexiko. Die von Ernest Feder als „Erdbeer-Imperialismus"192 charakterisierte Industrialisierung der mexikanischen Landwirtschaft für den Markt der USA hat ein Millionenheer von Wanderarbeitern geschaffen, die legal und illegal auf die Arbeitsmärkte der USA drängen. Diese Reservearmee der US-amerikanischen Industrie und Landwirtschaft lagert, abgetrennt durch den „tortilla curtain", vor den Grenzen der USA. 193 Mit der industriellen Reservearmee schaffen sich das industrielle Kapital wie auch die übrigen Sektoren kapitalistisch organisierter Arbeit wie Handel oder Banken ein eigenes Reservoir von Arbeitskräften für die Zwecke der Akkumulation. In gewisser Hinsicht steht damit die kapitalistische Produktionsweise auf eigenen Füßen. Allerdings bleibt sie eingebettet in Verhältnisse, die nicht unmittelbar unter ihre Herrschaft subsumiert werden können. Hierzu gehören insgesamt die Nachwuchsproduktion von Menschen, ihre Aufzucht, Sozialisation und 133
allgemeine Qualifikation zu mündigen und arbeitsfähigen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist ja gerade das Kennzeichen der kapitalistischen Produktionsweise, daß die Arbeitskräfte formell frei sind und damit die Verantwortung für die Produktion und Reproduktion der Arbeitskräfte wie auch für ihre Versorgung bei Arbeitsunfähigkeit prinzipiell den Lohnarbeitern überlassen ist. Sie sind aller persönlichen Bande zu ihren Herren frei, mit denen sie formell als Gleiche Verträge über den Verkauf ihrer Arbeitskraft abschließen.194 Außerhalb der Sphäre der betrieblichen Arbeit, die zur Privatsphäre des Kapitalisten gehört, sind die Arbeitskräfte Privatpersonen. Die Erzeugung und Erziehung des Nachwuchses fällt nicht unter die Regie des Kapitals. Allerdings haben alle Einzelkapitale zusammengenommen ein Interesse an einer allgemeinen Arbeitsfähigkeit eines gesunden Nachwuchses und der Vermittlung allgemeiner Arbeitstugenden. Dieses macht sich als öffentliches Interesse geltend und verbindet sich mit dem Interesse des Staates an Bürgern, die nicht der Allgemeinheit zur Last fallen.195 Mit der Entwicklung eines allgemeinen öffentlichen Schulwesens, eines staatlichen Gesundheitswesens etc. wird die Produktion und Reproduktion der Arbeitskräfte als Klasse zu einem Teil der Privatsphäre der Lohnabhängigen entzogen und zur öffentlichen, politischen Angelegenheit.196 Die Klassengegensätze werden im Staat politisch überformt. Zugleich werden die Widersprüche zwischen der Gesellschaftlichkeit der Arbeit und der privaten Form ihrer Organisation in den Staat hineingetragen, indem der Staat etwa zum Adressaten von Forderungen eines „Rechts auf Arbeit" wird. Dieses kann jedoch nicht gewährt werden, ohne die Marktgesellschaft grundstürzend zu verändern. Diese wenigen Hinweise müssen hier genügen, um anzudeuten, daß die Reproduktion des Kapitalverhältnisses nicht allein aus sich heraus erfolgen kann, sondern einer politischen Regulation bedarf. Diese betrifft nicht nur die Systeme der sozialen Sicherung, sondern auch die Sicherung der Vertragsverhältnisse und grundlegenden Rechte. Bürgerliche Gesellschaft und kapitalistische Produktionsweise umfassen nur einen Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, zu der notwendigerweise auch die staatlich organisierte Arbeit und die Eigenarbeit der privaten Haushalte gehören. Diese können jedoch nicht für sich analysiert werden, sondern sind ihrem Inhalt und ihrer Form nach bestimmt durch die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums in Form von Waren. Deshalb beginnt Marx die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft mit der Ware und nicht mit der Bevölkerung oder mit der Familie, auch wenn diese zu den ältesten Formen der gemeinschaftlichen Organisation der Arbeit gehört.197 Gleiches gilt für den Staat, der ebenfalls als Form keine Schöpfung der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern bei ihrer Geburt Pate gestanden hat.198 134
2.6 Gesellschaftliche Arbeit und Kommando des Kapitals: Kooperation und Fabrikregime Das Kapital erscheint als Instanz der Vergesellschaftung durch die Organisation der Arbeitsteilung. Dies erfolgt vor allem auf zwei Ebenen: auf der Ebene des Marktes und auf der des Betriebs als des produktiven Zusammenhanges, in der die auf dem Markt zu tauschenden Waren hergestellt werden. Die Verallgemeinerung von Waren- und Kapitalbeziehungen und ihre Dominanz als prägendes gesellschaftliches Verhältnis sind nicht ablösbar von den grundlegenden Transformationen in der technischen wie auch der gesellschaftlichen Form dieser Produktion. Unter den Umwälzungen, die den Beginn der bürgerlich-kapitalistischen Epoche markieren, steht die „industrielle Revolution" mit an erster Stelle, nicht nur weil ihre Konsequenzen für die Zeitgenossen ebenso wie für die Nachwelt als besonders einschneidend und spektakulär erschienen.199 Der im Kontext der Marxschen Theorie entscheidende Gesichtspunkt aber ist die Transformation gesellschaftlicher Grundstrukturen. Anders als einflußreiche an Marx orientierte Autoren der Gegenwart200 betont Marx entschieden, daß die „antediluvianischen Formen des Kapitals"201, d.h. Handels- und Wucherkapital, in nicht-kapitalistischen Gesellschaftsformen zwar erhebliches Ausmaß und große Macht gewinnen können, aber in keiner Weise die Grundstrukturen solcher Gesellschaften verändern, insbesondere keine Transformation hin zum Kapitalismus einleiten.202 Dies geschieht erst da, wo das Kapital sich der Kontrolle über die Produktion bemächtigt. Der „Ausgangspunkt" dieses Prozesses ist daher „gleichzeitige Beschäftigung einer größren Anzahl von Lohnarbeitern,"203 die Herausbildung des kapitalistischen Betriebs. Der kapitalistische, zumindest im typischen Fall industrielle Betrieb gehört daher begrifflich zum Kernbestand der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Marx hat den Industriebetrieb vor allem im ersten Band des Kapital untersucht. Er geht dabei in drei Schritten vor. Sie können einerseits als sukzessive Stufen der Konkretion verstanden werden, andererseits aber auch in historischgenetischer Sicht als Etappen: Die „Kooperation" charakterisiert fast alle menschlichen Arbeitsprozesse, während ihre spezifische Form der „Manufaktur" in Europa seit der frühen Neuzeit auftritt und wiederum die „Maschinerie und große Industrie" als spezifische Fortentwicklung der Manufaktur verstanden werden können.204 Wir orientieren uns an dieser Abfolge. Dabei sollte deutlich werden, daß es nicht um die Darstellung eines historischen Prozesses geht, die beispielsweise die Verhältnisse während der „Manufakturperiode"205 zu rekonstruieren hätte, sondern um eine kategoriale, begriffliche Entwicklung, in der die einzelnen Etappen nicht so sehr historisch, als logisch aufeinander folgen. Damit ist zu135
gleich gesagt, daß bei Marx auch mit Kooperation und Manufaktur nicht vergangene Verhältnisse zur Debatte stehen, sondern Strukturzusammenhänge, die auch unter industriellen Bedingungen und durch diese hindurch ihre Wirksamkeit behalten haben. In der Systematik der Kritik der politischen Ökonomie nimmt der Komplex der gesellschaftlichen und technischen Organisation des Arbeitsprozesses eine strategische Position ein. Es geht dabei um die Produktion des relativen Mehrwerts, die sich auch verstehen läßt als die Steigerung des Anteils der Mehrarbeit am Gesamtarbeitstag, was „offenbar unmöglich (ist) ohne gleichzeitige Zusammenziehung der notwendigen Arbeit". 206 Hier wird schon deutlich, daß mit einem solchen Prozeß zugleich die Tendenz zur Intensivierung der Arbeit einhergeht. Die Kontraktion der notwendigen Arbeit wird erreicht durch die Steigerung des gesellschaftlichen Produktivitätsniveaus, „eine Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit",207 die eine Verbilligung der Lebensmittel bewirkt, in denen sich der Lohn vergegenständlicht. Dies ist ja nur ein anderer Ausdruck dafür, daß für die Produktion der Lebensmittel im gesellschaftlichen Durchschnitt weniger Arbeitszeit aufgewendet werden muß. Diese Absenkung des Wertes der Arbeitskraft und damit der notwendigen Arbeit auf Kosten der Mehrarbeit ist daher nur möglich auf der Grundlage einer „Revolution in den Produktionsbedingungen (der) Arbeit, d.h. in (der) Produktionsweise und daher (im) Arbeitsprozeß selbst".208 Ein zweiter Mechanismus treibt die einzelnen Kapitalisten zur beständigen Innovation an: Individuelle Produktivitätsgewinne verringern den Wert jedes einzelnen Stücks der produzierten Ware, und solange die neue Technik nicht verallgemeinert ist, läßt sich am Markt, wo die an der alten Durchschnittsproduktivität orientierten Preise gelten, ein „Extramehrwert" realisieren, bis das „Zwangsgesetz der Konkurrenz" die übrigen Kapitalisten in der Branche dazu veranlaßt hat, die Neuerung ihrerseits einzuführen, und die Einebnung der Produktivitätsunterschiede zum Anreiz für neuerliche Innovationsschübe werden kann. Ergreift dieser zyklische Prozeß die Produktion der Lebensmittel, so sinkt zugleich der gesellschaftliche Wert der Arbeitskraft. So ergibt sich aus der Konkurrenz und dem unausgesetzten Drang nach Steigerung des Mehrwertes „der immanente Trieb und die beständige Tendenz des Kapitals, die Produktivkraft der Arbeit zu steigern, um die Ware und durch die Verwohlfeilerung der Ware den Arbeiter selbst zu verwohlfeilern".209 Doch ist nicht die Verwohlfeilerung als solche das Ziel, sondern die Verschiebung der Grenze zwischen notwendiger Arbeit auf der einen und Mehrarbeit auf der anderen Seite. Die Expansion der Mehrarbeit auf Kosten der notwendigen Arbeit kann freilich auch einzelbetrieblich, d.h. „ohne Verwohlfeilerung der Waren" erreicht werden. Die „besondren Produktionsmethoden des relativen Mehrwerts"210 betreffen daher vor allem die beständige 136
Umorganisation des Arbeitsprozesses, und mit dessen „größrer quantitativer Stufenleiter" setzt, wie wir sahen, Marx auch den Beginn der kapitalistischen Produktion an.211 Die Fabrik führte eine völlig neue Form der Organisation von Arbeit ein und zugleich eine Form der Herrschaft, die für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft prägend wurde. Dieser Umbruch hatte nachhaltige Auswirkungen auf die Form der Arbeit und das Leben der Arbeitenden, die den Zeitzeugen dieser Veränderungen besonders deutlich vor Augen standen: „Die moderne Industrie hat die kleine Werkstatt des patriarchalischen Meisters in die große Fabrik des industriellen Kapitalisten verwandelt. Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt. Sie sind nicht nur Knechte der Bourgeoisklasse, des Bourgeoisstaates, sie sind täglich und stündlich geknechtet von der Maschine, von dem Aufseher, und vor allem von den einzelnen Bourgeois selbst. Diese Despotie ist um so kleinlicher, gehässiger, erbitternder, je offener sie den Erwerb als ihren Zweck proklamiert."212 Die Analogie zum Militär verweist auf mehr als auf die Durchsetzung strikter, „kasernenhofmäßige(r) Disziplin".213 Armeen repräsentieren die wichtigste Form eines Großverbandes, in dem vor der Industrialisierung, vor der Mechanisierung und vor der Erschließung nicht-menschlicher Energiequellen die Kooperation vieler Menschen als Mittel der Effektivitätssteigerung angewandt wurde.214 Kooperation, „die Form der Arbeit vieler, die in demselben Produktionsprozeß oder in verschiednen, aber zusammenhängenden Produktionsprozessen planmäßig neben- und miteinander arbeiten"215 ist daher nicht völlig auf den Kapitalismus beschränkt, sie ist aber ein notwendiges Moment der Arbeit unter dem Kapitalismus. Hier aber wird allein schon die Tatsache des gemeinsamen, gleichzeitigen Arbeitens eine „gesellschaftliche Kraftpotenz", eine „Produktivkraft, die an und für sich Massenkraft sein muß". 216 Marx begründet dies anthropologisch, nämlich „daß der Mensch von Natur ... jedenfalls ein gesellschaftliches Tier ist".217 Im Hintergrund steht aber auch die etablierte Lehrmeinung der politischen Ökonomie. So nennt Adam Smith als Momente für die Steigerung der Produktivität die „Zunahme der Geschicklichkeit der einzelnen Arbeiter," die Zeitersparnis, wenn der Ubergang von einer zur anderen Verrichtung entfällt, und die Ersetzung von Handarbeit durch Maschinenarbeit.218 Der Steigerungseffekt ist demzufolge sowohl von der einfachen räumlichen Zusammenfassung gleicher Arbeiten, wie auch von der Aufteilung komplizierter Arbeitsprozesse zu erwarten, die nun aufgrund räumlicher Nähe synchronisiert werden können. Immer aber ist der „kombinierte Arbeitstag" produktiver als der 137
„mehr oder minder vereinzelter Arbeiter".219 Darin ist für Marx ein dezidiert emanzipatives Moment enthalten, denn gleichviel, welche Form die Kooperation im einzelnen annimmt, „unter allen Umständen ist die spezifische Produktivkraft des kombinierten Arbeitstags gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit oder Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit. Sie entspringt aus der Kooperation selbst. Im planmäßigen Zusammenwirken mit andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen".220 Anders gesagt, „erscheint der kombinierte Gesamtarbeiter oder gesellschaftliche Arbeitskörper als übergreifendes Subjekt".221 Unter den gegebenen Bedingungen kann dies aber nur geschehen unter dem andernorts mit scharfen Worten gegeißelten „Kommando des Kapitals"222: Der Gesamtarbeiter kommt überhaupt nur zusammen, wenn die Lohnsumme für die einzelnen Arbeiter „in der Tasche des Kapitalisten vereint" ist, und damit der gesellschaftliche Zusammenhang überhaupt zustandekommen und fortbestehen kann, ist „der Befehl des Kapitalisten auf dem Produktionsfeld ... jetzt so unentbehrlich wie der Befehl des Generals auf dem Schlachtfeld,"223 der „den Arbeitern gegenüber die Einheit und den Willen des gesellschaftlichen Arbeitskörpers vertritt".224 Diese „Arbeit der Oberaufsicht und Leitung" ergibt sich für Marx daraus, daß ganz allgemein „in allen Arbeiten, worin viele Individuen kooperieren, ... sich notwendig der Zusammenhang und die Einheit des Prozesses in einem kommandierenden Willen dar(stellt) und in Funktionen, die nicht die Teilarbeiten, sondern die Gesamttätigkeit der Werkstatt betreffen".225 Es handelt sich also um das Problem der Vermittlung zwischen der Einzeltätigkeit in dem durch eine Herrschaftsinstanz repräsentierten Gesamtzusammenhang, der in konkreter, direktiver oder „kommandierender" Tätigkeit zum Ausdruck kommt. Dies ist nicht auf kapitalistische Verhältnisse beschränkt, wie Marx durch Verweise auf „die Wirkung der einfachen Kooperation in den Riesenwerken der alten Asiaten, Ägypter, Etrusker usw."226 ebenso unterstreicht wie durch Verweise auf die ganz analogen Überlegungen antiker Autoren.227 Vor allem aber ist diese Leitungstätigkeit „eine produktive Arbeit", und zwar eine, „die verrichtet werden muß in jeder kombinierten Produktionsweise",228 d.h. Marx versteht diese gesellschaftliche Herrschaftsfunktion als Bedingung jeder Kooperation. In anderer Terminologie229 ist daher für den kapitalistischen Betrieb das Kommando des Kapitals die notwendige Bedingung der gesellschaftlichen Synthesis, die den Betrieb als sozialen Zusammenhang überhaupt erst konstituiert. Daher ist nun die aus der Kooperation, dem gesellschaftlichen Zusammenhang entspringende Produktivkraft, die über die Produktivkraft der einzelnen Arbeiter hinausgeht, „Produktivkraft des Kapitals"230 - ganz entsprechend der Auszeichnung der Leitungstätigkeit als produktive Arbeit. Der gesellschaftliche 138
Zusammenhang, der ihr „Gattungsvermögen" überhaupt erst hervorzubringen vermag, tritt aus diesem Grund den Arbeitenden dennoch als fremd und feindlich gegenüber: „Der Zusammenhang ihrer Funktionen und ihre Einheit als produktiver Gesamtkörper liegt außer ihnen im Kapital, das sie zusammenbringt und zusammenhält. Der Zusammenhang ihrer Arbeiten ... tritt ihnen gegenüber als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft."231 Mehr noch: Der gesellschaftliche Zusammenhang der Arbeitenden, „ihre Kooperation", also die Form und Bedingung der Entwicklung ihres „Gattungsvermögens", „beginnt erst im Arbeitsprozeß, aber im Arbeitsprozeß haben sie bereits aufgehört, sich selbst zu gehören. Mit dem Eintritt in denselben sind sie dem Kapital einverleibt. Als Kooperierende ... sind sie selbst nur eine besondre Existenzweise des Kapitals."232 Umgekehrt erscheint die Vergesellschaftung der so Kooperierenden damit als Eigenschaft des Kapitals. Sie ist nicht nur vom Willen der Einzelnen weitgehend abgelöst, sondern der Prozeß und die Konsequenzen ihrer Interaktion im Arbeitsprozeß treten ihnen auch als objektive Gegebenheiten, ja als Zwangszusammenhang gegenüber. Dies kann als spezifische Ausformung der Verkehrung verstanden werden, die auf allgemeinerer Ebene mit dem Fetischcharakter der Warte bezeichnet wurde. Für Marx liegt diese „Zwieschlächtigkeit" begründet in der Einheit des kapitalistischen Verwertungsprozesses als gesellschaftlichem Arbeitsprozeß und „der Form nach" despotischem Verwertungsprozeß.233 Damit ist nichts anderes gesagt, als daß der gesellschaftliche Zusammenhang wenigstens unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion nicht von seiner Qualität als Herrschaftszusammenhang, seiner „despotischen" Form abgelöst werden kann. Das bedeutet wesentlich mehr als die relativ banale Aussage, daß der kapitalistische Betrieb ein Herrschaftszusammenhang ist. Zunächst kann die Gestalt dieses Herrschaftszusammenhanges variieren. Der persönliche Einzelkapitalist zieht sich schon von einem sehr frühen Entwicklungsstand an aus unmittelbaren Leitungs- und Aufsichtsfunktionen zurück und delegiert diese einer „besondre(n) Sorte von Lohnarbeitern", die sich wiederum in „industrielle Oberoffiziere ... und Unteroffiziere" aufgliedern. Das alles ändert aber nichts an dem Grundverhältnis: „Der Kapitalist ist nicht Kapitalist, weil er industrieller Leiter ist, sondern er wird industrieller Befehlshaber, weil er Kapitalist ist. Der Oberbefehl in der Industrie wird Attribut des Kapitals .,." 234 Dementsprechend ist es für den zugrundeliegenden Strukturzusammenhang auch gleichgültig, ob die Herrschaftsfunktion von einem „Kapitalisten" als Einzelperson wahrgenommen wird oder von einer kollektiven, stärker anonymisierten „Kapitalinstanz,"235 etwa durch den Vorstand und Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft. Marx hat bereits ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich bei den „Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer ... um die 139
Personen nur (handelt), soweit sie Personifaktionen ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen". 236 Entscheidend sind die Kategorien, nicht ihre Personifikationen. Deshalb kann auch die vollständige Anonymisierung der Kapitalinstanz, die Radikalisierung der Entpersonifizierung betrieblicher Herrschaft bis hin zur nackten, anonymen Logik des Verwertungsprozesses237 diesen Herrschaftszusammenhang selbst nicht aufheben. Aufgrund der strukturellen Verknüpfung von Kapital- und Leitungsinstanz kommt weiter der in der Betriebs- und Industriesoziologie immer wieder thematisierte gesellschaftliche Charakter des Betriebes nur soweit und genau so lange zustande, wie der Betrieb als Herrschaftszusammenhang existiert. Wird der Herrschaftszusammenhang beendet, etwa dadurch, daß die aus dem Eigentum am Betrieb herstammenden Verfügungsrechte aktualisiert werden in der Entscheidung zu seiner Schließung, so ist auch die gesellschaftliche Dimension des betrieblichen Kooperationszusammenhanges am Ende. In dramatischer Form zeigte sich dies in der Ausnahmesituation der Privatisierung der ostdeutschen Industrie Anfang der 1990er Jahre, in der die Existenz ganzer Branchen abhängig war von der - allzu oft erfolglosen - Suche nach Käufern. Die Aktualität der Herrschaftsdimension dieses Zusammenhangs zeigt sich auch an den Folgen der Verlagerung des bestimmenden Kalküls von Investitionsentscheidungen weg von längerfristigen Erwägungen (stakeholder value) zu Strategien kurzfristiger Profitmaximierung (shareholder value), wie sie im Zusammenhang mit der Globalisierungsdebatte als Folge der Intensivierung und Virtualisierung des Kapitalverkehrs als häufiger Grund für abrupte Produktionsverlagerungen diskutiert werden.238 Der herrschaftlich, genauer despotisch bestimmte Kooperationszusammenhang des Betriebes wird damit schließlich erkennbar als entscheidende Instanz, die mit über die Lebenswege und die Lebenschancen der Arbeitenden entscheidet. Denn an diesem Zusammenhang hängt für sie mehr als nur die Möglichkeit, das eigene „Gattungsvermögen" einzulösen, also die eigenen Fähigkeiten in der gemeinsamen Arbeit mit anderen zu bewähren und zu entfalten, sich zu „verwirklichen". Wie Marx mit dem Verweis auf die Lohnsumme „in der Tasche des Kapitalisten" sehr plastisch verdeutlicht, ist auch die physische Reproduktion der Arbeitenden jeweils abhängig davon, ob die Kapitalinstanz den von ihrer Wirksamkeit nicht ablösbaren betrieblichen Kooperationszusammenhang aufrechterhält oder nicht.239 Die Konkretisierung unterschiedlicher Formen der Kooperation in der Manufaktur und im eigentlichen industriellen Betrieb erfolgt nun nach der Seite des Arbeitsprozesses. Dieser unterliegt dem Kommando des Kapitals und, gemäß der gemeinsamen Wirkung der Logiken der relativen Mehrwertproduktion sowie des Extramehrwerts und seines beständigen Ausgleichs, einer unausgesetzten Verän140
derung. Gerade diese nicht endenden Transformationsprozesse machen die spezifisch kapitalistische Form der Arbeitsorganisation aus. In ihnen materialisiert sich gleichsam die „reelle Subsumtion" der Arbeitskraft unter das Kapital, und indem sie „eine veränderte Gestalt der Produktion" schafft, gestaltet sich „die kapitalistische Produktionsweise ... als eine Produktionsweise sui generis".240 Die Manufaktur nimmt dazu eine Ubergangsstellung ein. Zum einen wird der Arbeitsprozeß zwar in vielen Fällen räumlich zentralisiert. In der „heterogenen Manufaktur", die sich auf diese räumliche Zusammenfassung beschränkt, ist „die Kombination der Teilarbeiter in derselben Werkstatt zufällig", und es gibt immer wieder Gründe dafür, daß die „Zersplittrung der Produktion" auch zu ihrer physischen - freilich nicht ökonomischen - Dezentralisation führt.241 Dagegen beruht die „organische Manufaktur" bereits auf einer Reorganisation der Arbeitsprozesse. Hierher gehört etwa die berühmte Nähnadel-Produktion, die Adam Smith als Paradebeispiel für den durch Arbeitsteilung erzielbaren Produktivitätsgewinn dargestellt hat.242 Dies geschieht dadurch, daß die Arbeitsteilung innerhalb der Manufaktur ausdifferenziert wird in der Form einer „Stufenfolge von Produktionsphasen", die „verschiednen Teilarbeiter(n)" übertragen werden, wogegen in der „Werkstatt als eine(m) Gesamtmechanismus" alle Arbeitsschritte zeitlich synchron verlaufen. Das „zeitliche Nacheinander" ist in ein „räumliches Nebeneinander" verwandelt. Dies bedeutet nun einerseits einen Produktivitätsgewinn, aber andererseits für den einzelnen Arbeiter das „Festschmieden ... an dasselbe Detail". Diese Verengung und Partikularisierung des individuellen Arbeitsprozesses aber wird erst möglich durch die „Zerlegung der handwerklichen Tätigkeit".243 Dadurch wird eine Steigerung nicht allein der Produktivität, sondern auch der Rationalität des Betriebes und schließlich auch der Kontrolle über die Arbeitenden erzielt, „eine ganz andre Kontinuität, Gleichförmigkeit, Regelmäßigkeit und Ordnung, und natürlich auch Intensität der Arbeit". 244 Dies wiederum ermöglicht die unter den Bedingungen der Warenproduktion unerläßliche Kontrolle über die für die Produktion aufgewandte Zeit, pünktliche Lieferung bestimmter Mengen und endlich die Festsetzung der „passendsten Verhältniszahl der verschiednen Gruppen von Teilarbeitern", die sich wiederum nach Bedarf in denselben Proportionen vervielfältigen lassen.245 Charles Babbage, einer der wichtigsten Theoretiker des Fabriksystems, sah unter ausdrücklichem Verweis auf die Leitungsfunktion des Kapitalisten die Vorteile seines vielzitierten „Prinzips" eben in derartigen Dispositionsmöglichkeiten, nämlich „daß, nachdem das Werk in mehrere Prozesse getheilt ist, deren jeder verschiedene Grade von Geschicklichkeit oder Stärke erfordert, der Fabrikherr sich in den Stand gesetzt sieht, von beiden Eigenschaften genau so viel in Anspruch zu nehmen, als jeder Prozeß verlangt".246 141
Schließlich lassen sich zusätzliche Produktivitätsgewinne durch die „Kombination verschiedner Manufakturen" erzielen.247 Was aber hier noch ausbleibt, ist die systematische Anwendung von Maschinen. Zwar tritt, wie wir gesehen haben, ihr eigener kooperativer Zusammenhang den Arbeitern als fremde Macht gegenüber. Aber noch besitzt der „Gesamtmechanismus" der Manufaktur, der letztlich noch immer auf „Handwerksgeschick" beruht, „kein von den Arbeitern unabhängiges objektives Skelett,"248 wie es auf der nächsten Stufe in Gestalt der Maschinerie auftritt. Vielmehr ist „die spezifische Maschine der Manufakturperiode ... der Gesamtarbeiter selbst", der „jetzt alle produktiven Eigenschaften in gleich hohem Grad der Virtuosität (besitzt) und ... sie zugleich aufs Ökonomischste (verausgabt), indem er alle seine Organe, individualisiert in besondren Arbeitern oder Arbeitergruppen, ausschließlich zu ihren spezifischen Funktionen verwendet".249 Die Rationalität der Manufaktur beruht aus dieser Perspektive also in einer immer weiter getriebenen Arbeitsteilung innerhalb der einzelnen Betriebe oder „Werkstätten". Das bedeutet für die Arbeitenden Spezialisierung, Verengung und zugleich Intensivierung ihrer Kompetenz, wobei das „Festschmieden" durchaus auch so zu verstehen ist, daß sie durch diese spezifische Qualifikation an einen bestimmten Betrieb gebunden werden, denn „die Einseitigkeit und selbst die Unvollkommenheit des Teilarbeiters werden zur Vollkommenheit als Glied des Gesamtarbeiters",250 wobei „einseitige Muskelentwicklung, Knochenverkrümmung usw."251 ausdrücklich eingeschlossen sind. Aber mehr noch, „das Individuum selbst wird geteilt, in das automatische Triebwerk einer Teilarbeit verwandelt ,.."252 Die allgemeine ökonomische Abhängigkeit von der realen Möglichkeit zum Verkauf der Arbeitskraft wird somit ergänzt durch die Einschränkung des Gebrauchswertes dieser Arbeitskraft, der auf einen oder wenige Abnehmer beschränkt ist: Jetzt „versagt (die) individuelle Arbeitskraft (des Arbeiters) selbst ihren Dienst, sobald sie nicht an das Kapital verkauft wird,"253 weil sie nur noch als Teilelement des Gesamtarbeiters überhaupt effektiv entäußert werden kann. Zudem schafft die Manufaktur durch die Erzeugung „eine(r) Klasse ... ungeschickter Arbeiter" eine „Hierarchie der Arbeitskräfte" 254 Da aber sowohl enge Spezialisierungen wie der „Mangel aller Entwicklung" die „Erlernungskosten" gegenüber dem Handwerk senkt oder ganz eliminiert, ist in jedem Fall ein Absinken des Wertes der Arbeitskraft die Folge, was gleichbedeutend ist mit „höhere(r) Verwertung des Kapitals" aufgrund einer Verlängerung der „Domäne der Mehrarbeit".255 Die Manufaktur ermöglicht der kapitalistischen Produktion nun zwar enorme Rationalitätssteigerungen. Zugleich stößt diese Produktionsweise hier aber „für die volle Ausführung ihrer eignen Tendenzen auf vielseitige Hindernisse". Dabei verschränken sich mehrere Momente miteinander: Erstens trifft die Ersetzung qualifizierter - meist männlicher - Arbeitskräfte durch minder qualifizierte oder 142
„ungeschickte" Arbeiter einschließlich Frauen und Kinder auf recht enge Grenzen; zweitens sind in dem hohen individuellen Qualifikationsniveau und den damit einhergehenden Kontrollmöglichkeiten der Arbeitenden über ihren Arbeitsprozeß Widerstandspotentiale und Möglichkeiten zu effektiver „Insubordination" enthalten, die in der weitverbreiteten Klage über „Disziplinmangel der Arbeiter" deutlich zum Ausdruck kommen.256 Das Fabriksystem, das über das „objektive Skelett" in Gestalt von Maschinen verfügt, kann dem Desiderat der „Ordnung" weit nachdrücklicher Geltung verschaffen, als dies in der Manufaktur möglich ist. Wenn „Maschinen ... die handwerksmäßige Tätigkeit als das regelnde Prinzip der gesellschaftlichen Produktion ausheben)", so bedeutet dies daher mehr, als die Möglichkeit, die „enge technische Basis" der Manufaktur zu transzendieren. Es bedeutet einen massiven Verlust an Macht und Kontrolle, die sich die Arbeitenden bisher noch über ihren Arbeitsprozeß, damit aber auch über den Produktionsprozeß des Kapitals hatten bewahren können. Die Fabrik erscheint Marx demnach als die Organisationsform, in der die kapitalistische Produktionsweise erst in vollem Umfang verwirklicht worden ist. Es genügt dazu nicht allein das „Kommando des Kapitals" auf der Grundlage der Zusammenführung von Lohnarbeitenden und der Zentralisierung ihrer Arbeitsprozesse. Auch die über diese „formelle Subsumtion" der Arbeit unter das Kapital hinausgehende „reelle Subsumtion" genügt den Erfordernissen des Kapitals nach Verfügung und Kontrolle über den Arbeitsprozeß noch nicht. Zwar kommt es hier zur Umorganisation der einzelnen Arbeitsverrichtungen. Aufgaben werden parzelliert, so daß sie nicht mehr konsekutiv, sondern zeitlich parallel zueinander verrichtet werden können, und die Qualifikation der Arbeitenden wird dadurch verengt, daß sie auf den betriebsspezifischen Arbeitsprozeß und die jeweils geforderte, ebenfalls eingegrenzte Arbeitsaufgabe eingeschränkt wird. Dies bedeutet zwar zum einen eine verstärkte Abhängigkeit der Arbeitenden vom jeweiligen Betrieb. Die Kontrollmöglichkeiten über den konkreten Arbeitsprozeß sind aber nach wie vor auf die persönliche Präsenz und das unmittelbare Eingreifen von Aufsichtspersonen - in der Regel die „industriellen Unteroffiziere" begrenzt. Das ändert sich nun mit der Einführung der Maschinerie, die das Fabriksystem um eine letzte, aber entscheidende Komponente komplettiert. Doch die Bedeutung der Maschinerie erschöpft sich nicht in einer effektiveren Kontrolle über die Arbeitenden. Kerninhalt des Übergangs zur Produktion mit Maschinen, der „industrielle(n) Revolution,"257 war die Mechanisierung bestimmter Arbeitsgänge. Die „Werkzeugmaschine" ermöglichte zunächst gleichzeitig die mehrfache Betätigung eines Instrumentes, das handwerklich jeweils von einer Arbeitskraft bedient werden mußte, also 12-18 Spindeln oder 1.000 Nadeln auf dem Strumpfwirkstuhl, d.h. sie ist „emanzipiert von der organischen Schranke, 143
wodurch das Handwerkszeug des Arbeiters beengt wird".258 Der Anschluß dieser Maschine an eine mechanische Kraftquelle, eine mit der Werkzeugmaschine über einen „Transmissionsmechanismus" verknüpfte „Bewegungsmaschine"259 ist dann ein nachgeordneter Schritt: „Sobald der Mensch, statt mit dem Werkzeug den Arbeitsgegenstand, nur noch als Triebkraft auf eine Werkzeugmaschine wirkt, wird die Verkleidung der Triebkraft in menschliche Muskel zufällig und kann Wind, Wasser, Dampf usw. an ihre Stelle treten."260 Mit dem Einsetzen der Mechanisierung ist so bereits die in der Systematik des Mechanisierungsprozesses wurzelnde Tendenz erkennbar, daß die Menschen aus der Produktion verdrängt werden. In der Fabrik wiederholt sich die schon aus der Manufaktur bekannte Zweiteilung: Die Maschinerie kann nach dem Prinzip der „einfachen Kooperation" durch die räumliche Zusammenfassung gleichartiger, jetzt mechanisierter Arbeitsschritte organisiert sein; sie ist freilich dann eine „technische Einheit", wenn „die vielen gleichartigen Arbeitsmaschinen gleichzeitig und gleichmäßig ihren Impuls empfangen vom Herzschlag des gemeinsamen ersten Motors," wohl in der Regel einer Dampfmaschine oder eines Wasserrades. Die Maschinen sind dann „nur noch gleichartige Organe desselben Bewegungsmechanismus" 261 Doch ist damit ein „eigentliches Maschinensystem" noch nicht erreicht. Dort nämlich wird eine Reihe verschiedner Stufenprozesse ... von einer Kette verschiedenartiger, aber einander ergänzender Werkzeugmaschinen ausgeführt." Die Kooperation der Arbeitenden in der Manufaktur wird mechanisiert und in einen möglichst kontinuierlichen Gesamtprozeß organisiert. Die „entwickelte Fabrik" ist daher charakterisiert durch die Kontinuität der Sonderprozesse". Marx sieht sich vor diesem Hintergrund berechtigt, die Maschinerie insgesamt als „einen großen Automaten" zu bezeichnen,262 gleichsam in Vorwegnahme künftiger Automationsschritte und in zeittypischer Überschätzung des erreichten Ausmaßes der Mechanisierung. Es fällt aber nicht schwer, die hier beschriebene Tendenz auf spätere Formen der Arbeitsorganisation zu beziehen, etwa die als „Taylorismus" bekannte Zergliederung und Aufteilung in immer kleinere Einzeloperationen in der „wissenschaftlichen Arbeitsorganisation"263 oder die Fließbandproduktion geradezu als Einlösung des Postulates der Kontinuität. Die Auswirkungen der Mechanisierung sind nicht auf den Betrieb allein beschränkt. Die große Industrie hat für Marx entschieden systemischen Charakter: „Die Umwälzung der Produktionsweise in einer Sphäre der Industrie bedingt ihre Umwälzung in der andren." Das gilt nicht nur für verschiedene Industriebranchen und die Landwirtschaft, sondern insbesondere auch für die „Kommunikationsund Transportmittel" und endlich für die Verdrängung manufakturmäßiger Arbeit aus der Anfertigung der Maschinen selbst.264 Alle diese Schritte bedeuten zunächst die immer weitere Verdrängung von Handarbeit, was unweigerlich ein144
hergeht mit der Entwertung von Qualifikationen und der Vernichtung von Produktionswissen oder „Erfahrung", die ja über Generationen tradiertes Wissen einschließt. Tradiertes Erfahrungswissen wird vom Arbeitsprozeß abgespalten und als wissenschaftlich systematisiertes Spezialistenwissen neu organisiert. Mit der Verdrängung der Handarbeit kommt es daher zu Veränderungen nicht nur im Arbeitsprozeß, sondern in gesellschaftlichen Grundbeziehungen und schließlich auch in der gesellschaftlichen Naturbeziehung. Miteinander verschränkt wirken diese Veränderungen schließlich zurück auf den betrieblichen Herrschaftszusammenhang: „Als Maschinerie erhält das Arbeitsmittel eine materielle Existenz, welche Ersetzung der Menschenkraft durch Naturkräfte und erfahrungsgemäßer Routine durch bewußte Anwendung der Naturwissenschaft bedingt." Zugleich tritt der „ganz objektive Produktionsmechanismus" der großen Industrie dem Arbeiter „als fertige Produktionsbedingung" gegenüber. Dennoch ist die Maschinerie abhängig vom Zusammenwirken der Arbeitenden, das sie zugleich erzwingt, denn sie „funktioniert nur in der Hand unmittelbar vergesellschafteter oder gemeinsamer Arbeit. Der kooperative Charakter des Arbeitsprozesses wird jetzt also durch die Natur des Arbeitsmittels selbst diktierte technische Notwendigkeit."265 Als „technische Notwendigkeit" erscheint der so ausgeübte Zwang als sachlich begründet, in neuerer Sprache als Sachzwang und nicht mehr als Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses, das durch die unmittelbare, d.h. nicht durch Aushandlung und Tausch vermittelte, sondern personell oder sachlich direkt erzwungene Vergesellschaftung bezeichnet ist. Die Einführung und Verallgemeinerung der Maschinerie hatte eine ganze Serie weiterer Veränderungen zur Folge, die nicht nur die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts zumal in Großbritannien, sondern darüber hinaus die industriellen Beziehungen und schließlich die Sozialstruktur überall da wesentlich bestimmt haben, wohin die kapitalistische Industrie später vorgedrungen ist. Es handelt sich dabei um die Ersetzung qualifizierter durch weniger oder nicht qualifizierte Arbeitskräfte, vor allem Frauen und Kinder, die Verlängerung des Arbeitstages und die Intensivierung der Arbeit.266 Nach alledem mag es überraschen, daß Marx in der Bewertung der Maschinerie letztlich zwiespältig bleibt. Das ist freilich alles andere als zufällig. Die ambivalente Bewertung der Maschinerie steht in einem engen Zusammenhang mit seinen entwicklungsgeschichtlichen Grundüberlegungen.267 Sie ist für ihn einerseits in historischer, über den Kapitalismus hinausreichender Perspektive ein wesentlicher Schritt in der Entfaltung des menschlichen Gattungswesens, da sie die Chance zur Befreiung von schwerer Arbeit und zu einer dramatischen Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums, d.h. die materiellen Voraussetzungen einer kommunistischen Zukunftsgesellschaft zu bieten schien. Zum andern hat er den 145
Zwangscharakter der kapitalistischen Gestalt der industriellen Produktion immer wieder betont. Letztlich ungeklärt ist aber geblieben, ob dieser Zwangscharakter in die Struktur der Maschinerie bereits eingeschrieben ist, die die Kooperation der Arbeitenden ja durch ihren Takt und die Kombination unterschiedlicher Arbeitsmaschinen erzwingt, oder ob dieser Zwang in dem Sinne von ihr ablösbar ist, daß die Maschinerie vom Kapital „mißbraucht" wird, „um den Arbeiter selbst von Kindesbeinen in den Teil einer Teilmaschine zu verwandeln".268 Marx kontrastiert die Situation, wo „der kombinierte Gesamtarbeiter ... als übergreifendes Subjekt und der mechanische Automat als Objekt erscheinen," der in seinen Augen diametral entgegengesetzten, wo „der Automat selbst das Subjekt und die Arbeiter ... nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen beigeordnet und mit denselben der zentralen Bewegungskraft untergeordnet" sind. Er meint, den ersten Fall „jeder möglichen Anwendung der Maschinerie im großen," den zweiten dagegen „ihre(r) kapitalistische(n) Anwendung und daher (dem) moderne(n) Fabriksystem" zuordnen zu können. 269 Zwar bemerkt Marx, daß „die verselbständigte und entfremdete Gestalt, welche die kapitalistische Produktionsweise überhaupt den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsprodukt gegenüber dem Arbeiter gibt, (sich) mit der Maschine zum vollständigen Gegensatz" entwikkelt, der Ausdruck findet in der „brutale(n) Revolte des Arbeiters gegen das Arbeitsmittel".270 Doch dies erweist sich in Marxens Perspektive nur als Ausgangspunkt für einen Lernprozeß, in dem „der Arbeiter" durch „Zeit und Erfahrung ... lernt," „die Maschinerie von ihrer kapitalistischen Anwendung (zu) unterscheiden und daher seine Angriffe vom materiellen Produktionsinstrument selbst auf dessen gesellschaftliche Exploitationsform (zu) übertragen".271 Damit wird die Technologie ausdrücklich von der Fragestellung nach der gesellschaftlichen Formbestimmung ausgenommen. Dementsprechend betont Marx, daß „die Maschinerie für sich betrachtet die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeitstag verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre Intensität steigert, an sich ein Sieg des Menschen über die Naturkraft ist, kapitalistisch angewandt den Menschen durch die Naturkraft unterjocht, an sich den Reichtum des Produzenten verehrt, kapitalistisch angewandt ihn verpaupert usw." So seien „die von der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie untrennbaren Widersprüche und Antagonismen ... nicht aus der Maschinerie erwachsen, sondern aus ihrer kapitalistischen Anwendung!"272 Diese Argumentation ist nur unter der Voraussetzung schlüssig, daß die zuvor als Ausdruck der Strategien von Manufaktur- und Fabrikherren gekennzeichnete Form der Arbeitsteilung, die ja ausdrücklich in die kombinierte Maschinerie übersetzt worden war, nun plötzlich gegen die gesellschaftliche Formbestimmung ihrer „Anwendung" als neutral gilt. 146
Das „Kommando des Kapitals" wird, soweit es sich der Leitungstätigkeit zurechnen läßt, als objektiv gegebene Notwendigkeit unterstellt. Marx bewegte sich mit dieser Sichtweise im Horizont der zeitgenössischen Diskussion.273 In jedem Fall geriet hier der Betrieb als Herrschaftszusammenhang aus dem Blick. Das gilt auch für die ausführliche Darstellung der Kämpfe um die konkreten Formen des Lohnverhältnisses. So werden etwa im Kapital Arbeitszeit und Arbeitslohn ausführlich und differenziert behandelt,274 die Auseinandersetzung um die innerbetriebliche Ausübung von Herrschaft aber in der zitierten Weise auf die unmittelbare Konfrontation in der Form des Maschinensturms eingeschränkt, also auf eine Form des Protestes, der eher als primäre, durch gesellschaftliche Lernprozesse zu überwindende Reaktion auf die Zumutungen industrieller Arbeit interpretiert wird. Die spätere Entwicklung hat gezeigt, daß Marx diese Problematik unterschätzt hatte. Das bolschewistische Experiment stand unter der ausdrücklichen Prämisse der „Umwandlung aller Bürger in Arbeiter und Angestellte eines großen 'Syndikats', nämlich des ganzen Staates".275 Gewiß hatte Marx ironisch darauf verwiesen, „daß die begeisterten Apologeten des Fabriksystems nichts Ärgeres gegen jede allgemeine Organisation der gesellschaftlichen Arbeit zu sagen wissen, als daß sie die ganze Gesellschaft in eine Fabrik verwandeln würde,"276 und dies war offensichtlich keine programmatische, sondern eine kritische Aussage. Dennoch kann die selbstverständliche Annahme einer von konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen und zumal von Herrschaft unabhängigen Rationalität der industriellen Produktionsmittel als ein Moment gesehen werden, das zur Reproduktion solcher Herrschaft auf gesellschaftlicher Stufenleiter wenn nicht beigetragen, so doch ihr keine Hindernisse in den Weg gelegt hat.277 Die Annahme, daß sachliche Produktionsmittel aus ihrem Entstehungszusammenhang ohne größere Schwierigkeiten herauslösbar seien oder gar, wie Marx von der Maschinerie behauptet, innerhalb dieses Entstehungszusammenhanges selbst „mißbraucht" werden könnten, widerspricht auch der eigenen, andernorts im Kapital vertretenen Systematik. Die Rede vom Mißbrauch unterstellt ja, die Maschinerie sei letztlich dem kapitalistischen Verwertungsprozeß, dem System gesellschaftlicher Beziehungen unter dem Kapitalismus äußerlich; nur unter dieser Voraussetzung läßt sich die hier zumindest implizite Annahme erklären, die Maschinerie könne ohne große Schwierigkeiten in eine Gesellschaftsform übertragen werden, in der sie eben nicht mehr „mißbraucht" würde. Dem widerspricht nicht zuletzt die Analyse des Verhältnisses von Arbeitsmitteln und Gesellschaftsform, die Marx an anderer Stelle formuliert hat und die konsistent mit seiner methodischen Grundorientierung, der Frage nach der Formbestimmung, ist: „Dieselbe Wichtigkeit, welche der Bau von Knochenreliquien für die Erkenntnis der Organisation untergegangner Tiergeschlechter, haben Reliquien von Arbeitsmitteln für die 147
Beurteilung untergegangner ökonomischer Gesellschaftsformationen. Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird". Konsequenterweise gelte dies in besonderem Maß für die „mechanischen Arbeitsmittel", weniger etwa für Behältnisse u.ä.278 Die Marxsche Analyse von Arbeitsteilung und Kooperation, mit ihren nachdrücklichen Hinweisen auf die ihnen eingeschriebenen despotischen Potentiale, hat vor diesem Hintergrund durchaus eine Fülle von Ansatzpunkten für eine auch gegenüber den eigenen Schlußfolgerungen kritische Bewertung industrieller Arbeit und Technologie. Ähnliches gilt für eine Analyse des industriellen Betriebs als Herrschaftszusammenhang. Gerade der langfristige Wandel der „Fabrikregime"279 kann deutlich machen, wie die vor allem im Kapital - und in der ihm voraufgegangenen politischen Ökonomie - untersuchten gesellschaftlichen Tiefenstrukturen des Kapitalismus durch sehr augenfällige und wesentliche Veränderungen hindurch dennoch wirksam bleiben. In erster Linie durch erfolgreiche gewerkschaftliche Politik und durch die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich systematisierte und in den industriekapitalistisch entwickelten Ländern, bei allen gravierenden Unterschieden, auch verallgemeinerte, staatlich garantierte Absicherung der großen Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter wurde die Verhandlungsposition der Arbeitenden in einer Weise gestärkt, die es berechtigt erscheinen läßt, von einer Abmilderung des despotischen betrieblichen Herrschaftszusammenhangs in unterschiedlichen Formen eines hegemonialen Regimes zu sprechen. Hinzu kam andererseits die zunehmende Anonymisierung der Kapitalinstanz, die ältere Formen einer mit patrimonialer Fürsorge verbundenen umfassenden Kontrolle faktisch aller Lebensbereiche der Belegschaften obsolet werden ließ. Diese Verschiebungen in den Formen betrieblicher Herrschaft lassen sich weiter verknüpfen mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die als Abfolge unterschiedlicher „Regulationsweisen" innerhalb des kapitalistischen Systems interpretiert worden sind. Dabei nimmt der in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus den USA nach Westeuropa übergreifende „Fordismus" mit seiner Kombination von Massenproduktion, Massenkonsum und Massendemokratie sowie fest institutionalisierten betrieblichen und industriellen Aushandlungsmechanismen eine besonders wichtige Position ein.280 Die etwa seit den 1980er Jahren zu verzeichnende Erosion der für den Fordismus zentral wichtigen staatlich garantierten Sozialsysteme weist aus dieser Sicht auf eine langfristige Krise hin, die den erneuten Wechsel der Regulationsweise einleiten könnte.281 All dies hat freilich die Grundstruktur nicht angetastet, und die aktuellen Auswirkungen 148
weltweit wirksamer Deregulierungsschübe können der Rede vom despotischen Kern des arbeitsteiligen und daher immer gesellschaftlichen Fabriknexus eine Evidenz verleihen, die in der Blütephase des Fordismus zumindest in den industriekapitalistisch entwickelten Ländern nicht gegeben war. Freilich geht dies mit einer weiteren Radikalisierung der Anonymität der Herrschaftsinstanz einher. In Zeiten des „Kasinokapitalismus" sind es häufig genug nicht einmal mehr die Aufsichtsräte, die über das Schicksal großer Unternehmen bestimmen, sondern die rational im einzelnen kaum einzuschätzenden Bewegungen der Finanz- und Aktienmärkte, die wie im Fall der versuchten feindlichen Übernahme des Mannesmann-Konzerns durch den anglo-amerikanischen Konzern v o d a f o n e im November 1999 schon nicht mehr allein über Arbeitsplätze und Berufsschicksal der Belegschaftsmitglieder, sondern letztlich auch des Top-Managements entscheiden. Noch dramatischer, nämlich als direkte Bedrohung der Arbeitsplätze, stellte sich die gleichzeitige Krise des Baukonzerns Holzmann dar; als Ursache ließen sich neben möglichen Managementfehlern Entscheidungen und Prozesse innerhalb des Bankensektors ausmachen, die weit entfernt von den betrieblichen Zusammenhängen abliefen, aber bis hin zur Schließung massive Konsequenzen für sie zeitigten. Hier zeichnet sich über die Delegation von Leitungsfunktionen durch die Kapitalinstanz hinaus ein möglicher weiterer Abstraktionsschritt in der Wahrnehmung von Eigentumsrechten ab, ihre weitgehende Abkoppelung vom konkreten Betrieb und seiner Leitung, in Ansätzen wenigstens selbst noch die freilich nur punktuell bis zum Antagonismus gesteigerte - Trennung zwischen Eigentumsinstanz und Konzernmanagement. Doch auch hier geht die Verfügungsgewalt am Ende auf die aus dem Konzept des bürgerlichen Eigentums abgeleitete, letztlich absolute Verfügungsgewalt zurück, das ius disponendi de re sua, also der absoluten Verfügungsgewalt,282 die auch durch einschränkende Verfassungsbestimmungen in ihren Auswirkungen offensichtlich in allenfalls höchst begrenztem Ausmaß eingeschränkt werden kann und die heute Entscheidungen über die Schicksale von Tausenden und Hunderttausenden impliziert, die oft individuell gar nicht mehr zugerechnet werden können. Die wiederholten Veränderungen des Fabrikregimes sind zu verstehen nicht als Ausdruck der Umgestaltung gesellschaftlicher Tiefenstrukturen, sondern als Formen der Anpassung an neuartige Herausforderungen. Zu diesen Herausforderungen gehört unzweifelhaft auch die Widerständigkeit der Trägerinnen und Träger der Arbeitskraft.283 Ohne sie wäre die Relativierung der proletarischen Lebenslage, oder in anderer Terminologie der „stets drohenden Peitsche der Arbeitslosigkeit", 284 durch die Einrichtung staatlich garantierter Sozialfonds schwerlich zustandegekommen. Doch zeigt sich gerade an aktuellen Entwicklungen, daß diese Einschränkungen in der Verfügungsgewalt der Kapitalinstanz 149
alles andere als irreversibel sind. In den länderspezifisch unterschiedlich erfolgreichen und zeitlich versetzten, insgesamt aber durchaus effektiven Versuchen zu ihrer Rücknahme im Namen der Deregulierung sind Tendenzen zu einem neuerlichen Umbau von Fabrikregimen zu erkennen, die diese Verfügungsgewalt weit offener zum Ausdruck bringen, als dies in den industriekapitalistischen Ländern während der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall gewesen ist. Gerade dies unterstreicht aber die Kontinuität der Tiefenstrukturen des Kapitalismus als Gesellschaftssystem. Zugleich zeigt sich daran, daß die Ausdrucks- oder Erscheinungsformen alles andere als bedeutungslos sind. Vielmehr sind sie determiniert durch die realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Artikulation und Organisation von Interessen und zugleich durch deren Verhältnis zu jeweils dominierenden Strategien der Kapitalakkumulation - die freilich ihrerseits nicht ganz unabhängig sind von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen.
2.7 Produktive und unproduktive Arbeit Die Frage der Formbestimmung begegnet uns auf einem scheinbar ganz anderen Gebiet erneut - bei der gesellschaftlichen Bewertung unterschiedlicher Arbeitsleistungen. Weil es dabei wesentlich um die Gesamtheit des Prozesses der gesellschaftlichen Reproduktion geht, hängt diese Fragestellung in Wirklichkeit sehr eng mit den wechselnden Formen des Fabrikregimes zusammen. Wie wir sahen, hat vor allem Burawoy betriebliche Herrschaft auch ausdrücklich mit Fragen der langund mittelfristigen Reproduktion der Arbeitskraft in Verbindung gebracht, wobei freilich nicht die Kategorie der Arbeit selbst im Mittelpunkt stand. Um deren Bedeutung sowie die ihrer Formbestimmung als produktive und unproduktive Arbeit im Kapitalismus deutlich zu machen, müssen wir etwas weiter ausholen.285 Kritik der politischen Ökonomie ist nicht abgelöst zu sehen von ihrem dialektisch-umwälzenden Impuls. Durch das Medium der politischen Ökonomie, die zugleich als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse begriffen wird, ist der Kritik zunächst ein Programm vorgegeben, doch kann dies keine thematische Beschränkung begründen. Zweifellos aber vollzieht politische Ökonomie die bürgerliche Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit, von Heim und Arbeitssphäre nach: „Arbeit" als gesellschaftliche und gesellschaftskonstituierende Tätigkeit erscheint beschränkt auf das, was auf dem Markt getauscht wird. Die Sphäre des Heims und die in ihr verrichteten Tätigkeiten werden aus dem Bereich öffentlichen Verkehrs und gesellschaftlicher Anerkennung als „Arbeit", wie insoweit auch aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgegrenzt. Das Heim erscheint als 150
„Sphäre von scheinbar absoluter Privatheit, von Abgeschlossenheit, Ausgeschlossensein, ja von Scham." 286 Das in der Dynamik von Produktion und Arbeitsteilung wurzelnde Auseinandertreten von „Heim" und „Welt" ist begleitet von der Zuweisung dieser Sphären an Frauen und Männer. Dieser Prozeß ist konstitutiv für die Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.287 Die Konstitutierung bürgerlicher „Öffentlichkeit" ist nicht abzulösen von der Herausbildung einer von ihr streng unterschiedenen, familialen „Intimsphäre", wie fiktiv sich deren „private Autonomie" auch bei näherer Betrachtung erweisen mag.288 Der Markt vermittelt zugleich zwischen dem Heim und der ebenfalls nicht-öffentlichen Sphäre des Betriebs; das Verhältnis beider zum Bereich des Marktes gestaltet sich jedoch entsprechend den tiefgreifenden Unterschieden ihrer Stellung zum Verwertungsprozeß des Kapitals. Politische Ökonomie hat in ihrer Themenstellung die Trennung der Außenwelt des Markts und der Innenwelt des Heims abgebildet, und die Marxsche Kritik ist ihr wenigstens in dieser Hinsicht gefolgt. Dies bedeutet für den Reproduktionszusammenhang und seine Beziehung zu Produktion, Zirkulation und Distribution vor allem Folgendes: „Arbeit", verstanden als die zielgerichtete und in aller Regel kooperative, d.h. gesellschaftliche Hervorbringung oder Veränderung von ihrem Subjekt externen Gegenständen wird, da sie über den Bereich von Lohnarbeit und Warenproduktion hinausgreift, für politische Ökonomie wie für die Kritik nur in einem bestimmten Ausschnitt zum zentralen Thema. Ähnliches gilt für „Produktion" und auch für „Reproduktion", soweit sie nicht an den Warenkreislauf angeschlossen sind. Jüngere Debatten, zumal die Diskussion über die gesellschaftliche Bedeutung oder schließlich die Entlohnung der Hausarbeit haben nachdrücklich unterstrichen, daß der Begriff der Arbeit selbst Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung ist: Diese Auseinandersetzungen können auch als Hinweise gewertet werden auf z.T. lange Zeit übersehene Knotenpunkte gesellschaftlicher Widersprüche. Die gesellschaftliche Form der Hausarbeit, die hier mit an erster Stelle steht, spielt offensichtlich auch eine wesentliche Rolle bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Produktion und Reproduktion und dessen Auswirkungen auf die Produzenten-Rationalität. Umgekehrt stellt sich die Sache aus der Sicht des Kapitals dar: Für die Rationalität des Kapitals sind alle Rohstoffe, Prozesse und Leistungen, die ihm zur Verfügung stehen, ohne daß für sie ein Preis zu zahlen wäre, in erster Linie Gratisproduktivkräfte. Aktuell wird dies in der Sprache der „Internalisierung" von Kosten der Naturvernutzung diskutiert.289 Gratisproduktivkraft ist aber auch Arbeit, deren Produkte vom Kapital zwar absorbiert werden können, die aber nicht entlohnt 151
wird - in der Begriffssprache der Kritik der politischen Ökonomie werden die Kosten der Arbeitskraft und ihrer Reproduktion, die die jeweilige Arbeitsleistung erbringt, nicht in Waren abgegolten, diese Arbeitskraft hat keinen Tauschwert. Damit ist eine wesentliche Dimension des Problems der Abgrenzung „produktiver" und „unproduktiver" Arbeit benannt. An ihr scheidet sich mit besonderer Deutlichkeit Kapital- von Produzentenrationalität. Denn für das Kapital ist die Tatsache, dass nicht-entlohnte Arbeit erbracht wird, unter dem Aspekt des Wertes unerheblich. Sie interessiert allenfalls insoweit, als ohne eine bestimmte Sorte solcher nicht-entlohnter Arbeit, die in die Reproduktion der Arbeitskraft selbst eingeht, auf mittlere Sicht überhaupt keine Arbeitskraft auf dem Markt verfügbar wäre - eine zunächst rein hypothetische Vorstellung. Im folgenden wollen wir uns diese Form der Arbeit, deren Auszeichnung als unproduktiv besonders umstritten und gesellschaftlich außerordentlich relevant ist, näher ansehen.290 Im Kontext der politischen Ökonomie interessiert ausdrücklich allein die für das Kapital produktive Arbeit. Adam Smith ist hierzu unzweideutig: „Es gibt eine Art der Arbeit, die dem Gegenstand, auf den sie verwendet wird, Wert zusetzt: es gibt eine andere, die keine solche Wirkung hat. Die erstere kann, da sie Wert produziert, produktive; die letztere unproduktive Arbeit genannt werden."291 Entscheidendes Kriterium für die Bestimmung einer gegebenen Art der Arbeit ist hier, ob sie „Wert" produziert oder nicht, d.h. wenigstens zunächst, ob ihr Resultat eine Ware ist, die auf dem Markt gekauft und verkauft werden kann. Der Begriff der „produktiven Arbeit" ist demnach von vornherein determiniert durch spezifische gesellschaftliche Verhältnisse, deren historisch bestimmter, damit auch vergänglicher Charakter von der politischen Ökonomie freilich ausgespart wird. Die Qualität gesellschaftlicher Nützlichkeit ebenso wie die Übereinstimmung der erbrachten Arbeitsleistung mit den gesellschaftlich gültigen quantitativen und qualitativen Standards wird den Produkten der privat verrichteten Arbeit erst auf dem Markt attestiert. Gleiches gilt für die Arbeitskraft. Auch ihr Wert realisiert sich erst durch den Verkauf auf dem Markt. Die Subsumierung der Marxschen Analyse kapitalistischer Verhältnisse unter Theoreme der „Arbeitsgesellschaft" ist daher unzutreffend: Nicht Arbeitsleid und Arbeitsmühe als solche sind ihr zufolge Eintrittsbillets zur Mitgliedschaft in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die „Marktgängigkeit" der Arbeitskraft und zumal der Produkte der Arbeit.292 Mit ironischer Tendenz zeigt dies gerade die Diskussion über „produktive" Arbeit, verstanden als gesellschaftsspezifische Kategorie.293 Unter kapitalistischen Verhältnissen erscheinen identische Arbeitsleistungen als „produktiv" oder „unproduktiv", je nachdem, ob sie als Lohnarbeit, d.h. vermittelt über den Markt, erbracht werden, oder nicht. Dies gilt auch und gerade in der Alltagssprache. So 152
wechselt dieselbe Hose ihre gesellschaftliche Gestalt - und ihre Bedeutung für die jeweiligen Träger der Arbeitskraft! - je nachdem, ob sie für den eigenen oder den Gebrauch eines Familienmitglieds, oder aber im Auftrag eines Kunden genäht oder geflickt wurde. Die Zubereitung eines Gerichts erscheint gesellschaftlich als etwas durchaus unterschiedliches je nachdem, von wem es gekocht und verzehrt wird. Nehmen wir als Hersteller eine Hausfrau, eine Haushälterin oder den Koch einer Gaststätte: Nur im letzten Fall erscheint das Essen als Ware auf dem Markt, nur im ersten steht es ganz außerhalb des Kontextes der Lohnarbeit; Sorgfalt und individuelle Zubereitung brauchen dabei in keiner Weise zu variieren. Nur im Fall des Kochs erscheint aber die Arbeit als „produktiv", denn nur durch den Verkauf des zubereiteten Gerichts läßt sich ein „Wert" realisieren, der sich freilich allenfalls indirekt auf Geschmack, Nährwert und Bekömmlichkeit bezieht. Allein durch seine Verwandlung in eine Ware und die damit verbundene Abstreifung seines virtuellen Gebrauchswerts für die Produzenten selbst, etwa im Bereich häuslicher Reproduktion, wird das Produkt in die Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen integriert; nur so wird es ohne weiteres erkennbar als Teil des gesellschaftlichen Arbeitsaufwands, dessen Begriff seinerseits auf Lohnarbeit bezogen ist. Die Formulierung dieses 'real existierenden' Paradoxons hat Marx als eines der „größten wissenschaftlichen Verdienste" von Adam Smith bezeichnet: Dieser habe „die Grundlage der ganzen bürgerlichen Ökonomie" dadurch gelegt, „daß er die produktive Arbeit als Arbeit bestimmt, die sich unmittelbar mit dem Kapital austauscht, d.h. durch Austausch, womit die Produktionsbedingungen der Arbeit und Wert überhaupt, Geld oder Ware, sich erst in Kapital verwandeln."294 Nicht die konkrete Art der Verrichtung oder die Verausgabung von Energie und Lebenszeit als solche definieren also hier, was „produktive" Arbeit genannt wird, sondern die Form ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs. Geht es, wie im Fall des gebrauchswertorientierten Lohnarbeits-Verhältnisses der Haushälterin, um eine „bestimmte konkrete Arbeit", die nicht der Produktion von Waren für den anonymen Markt dient, sondern verrichtet wird, um ihre Ergebnisse „zu genießen, zu gebrauchen", die also „nicht als wertbildendes Element, sondern bloß ihres Gebrauchswerts halber" gekauft wird, „so ist (diese) Arbeit unproduktiv."295 Dieser letztere Umstand berührt allerdings das Lohnarbeitsverhältnis der Haushälterin nicht in seiner Formbestimmung als seinerseits durch den Markt vermitteltes. Die Unterscheidung hebt jedoch die Bedeutung der Orientierung auf den Markt für den Begriff der produktiven Arbeit hervor. Seine Einlösung erscheint hier zugleich in letzter Instanz bestimmt durch die Dispositionen des Käufers der Arbeitskraft. Aus den gleichen Gründen können aufs Erste gesehen gänzlich „unproduktive" Dienstleistungen, „das Arbeitsvermögen von Schauspieler(n), Musikanten, 153
Huren etc." 296 durchaus im Sinne der Kapitalverwertung „produktiv" sein. Dies unterstreicht den für diese Abgrenzung entscheidenden Stellenwert der gesellschaftlichen Formbestimmtheit von Arbeitsleistungen und ihren Produkten und ebenso den der konkreten Anstrengung, dem konkreten Gegenstand gegenüber willkürlichen Charakter dieser Setzung. „Wenn also einerseits ein Teil der sogenannten unproduktiven Arbeit sich in materiellen Gebrauchswerten verkörpert, die ebensogut Waren sein könnten ..., so kann andererseits ein Teil der bloßen Dienste ... gekauft werden mit Kapital ... und einen Profit abwerfen."297 Steht so nicht die konkrete Arbeit, nicht ihr Gebrauchswert zur Debatte, der „von der futilsten Art sein" kann298, sondern die gesellschaftliche Formbestimmtheit der Arbeit, ihre Fähigkeit, sich als abstrakte Arbeit in marktgängigen Waren zu vergegenständlichen, so überschneidet sich „produktive" Arbeit zwar mit gesellschaftlich notwendiger Arbeit, ist aber keineswegs mit dieser identisch. Letztere läßt sich bestimmen als die Summe der Arbeitsleistungen, die erforderlich sind, um die Produktivkräfte einer Gesellschaft, in erster Linie die lebendigen Produzenten selbst, auf einem gegebenen Niveau zu erhalten.299 Dem Kapital dagegen geht es um anderes: um Aufhäufung von Wert, um Akkumulation um der Akkumulation willen - ohne Ansehung der konkreten Tätigkeit, bis zur aktuellen Verselbständigung dieses Strebens in der Spekulationsblase des KasinoKapitalismus. Damit stellt sich auch für uns aktuell die Frage nach den Schranken der kapitalistischen Produktion - letztlich ist dies wohl das zentrale Erkenntnisinteresse der Kritik der politischen Ökonomie.
2.8 Naturschranken und Schranken des Kapitalverhältnisses Die Einsicht in den Expansionsdrang des Kapitals geht der Kritik der politischen Ökonomie voraus. Vor allem im Kommunistischen Manifest wird die „höchst revolutionäre Rolle" 300 der Bourgeoisie betont, die „nicht existieren (kann), ohne ... sämtliche Gesellschaftsverhältnisse fortwährend zu revolutionieren". Das gilt für die Auflösung aller überkommenen Bindungen ebenso wie für die räumliche Expansion: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte treibt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen schaffen." Sie hat ferner „durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet".301 Diese Tendenz zur beständigen Expansion ist auch zu beobachten, wenn in der Effektivierung des Verkehrs, im Umbau ganzer Landschaften, der „Unterjochung der Naturkräfte" ungeahnte Möglichkeiten rea154
lisiert werden „- welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten".302 Aus der Sicht des Manifestes bereitet die schlagartige Mobilisierung dieser zuvor verborgenen produktiven Möglichkeiten den Boden für die herannahende Revolution. Diese Perspektive ist im Kapital nicht aufgegeben, aber in den Hintergrund gedrängt. Hier geht es in erster Linie um die Konsequenzen, die der Zwang zur Verwertung des Kapitals, zur Vergrößerung des Mehrwerts, zumal des relativen Mehrwerts zeitigt. Dieser Zwang hat einschneidende Folgen für die beiden einzigen „Quelle(n) des stofflichen Reichtums", die Marx anerkennt:303 für die Arbeitskraft in Gestalt ihrer Trägerinnen und Träger und für die Natur. Dabei kommt zunächst einmal der Maschinerie eine überragende Bedeutung zu. Sie ist ja das sinnbildliche Mittel zur Erhöhung der gesellschaftlichen Produktivität und damit zur Steigerung des relativen Mehrwerts. Da sich in ihr „die Bewegung und Werktätigkeit des Arbeitsmittels gegenüber dem Arbeiter (verselbständigt)", entsteht „an und für sich ein Perpetuum mobile". Im Prinzip gibt es keinen ihr selbst immanenten Grund, keine in ihrer eigenen Struktur enthaltene Schranke, die immanent erzwingen würde, daß die Maschinerie irgendwann eine Pause einlegen und stillstehen müßte. Sie könnte eigentlich, für sich allein genommen „ununterbrochen fortproduzieren",304 und es kann kein Zweifel bestehen, daß das Kapital danach strebt, eben dies wenigstens zu erreichen oder doch sich diesem Zustand gleichsam asymptotisch so weit als möglich anzunähern. Marx nennt für dieses Bestreben akkurat dieselben Gründe, die in den gegenwärtigen „Standort"-Diskursen für akkurat dasselbe Ziel ins Feld geführt werden: Wenn die Maschinerie länger oder möglichst ständig läuft, kann nicht nur ihr eigener Kapitalwert schneller umgeschlagen werden, sondern eben deshalb hat sie auch entsprechend mehr „Mehrarbeit eingeschluckt", ist profitabler oder - eher in der höflicheren Sprache des Standort-Räsonnements - rentabler. Hinzu kommt der „moralische Verschleiß" der Maschinerie - sie wird nach relativ kurzer Zeit durch neue Innovationen obsolet.305 Heute stehen die Bestrebungen um die durchgängige Flexibilisierung der Zeit, Maschinenlaufzeiten rund um die Uhr und Kontischichten, für diese grundlegende Tendenz des Kapitals.306 Der Maschinerie durch ihre hier von Marx stark herausgestrichene weitgehende technologische Emanzipation von der lebendigen Arbeitskraft und dem Kapital durch seinen „Heißhunger auf Mehrwert" wohnt demnach die gleichgerichtete Tendenz inne, den Arbeitstag möglichst bis zu einem Punkt auszudehnen, wo die Maschinerie ohne Pause in Betrieb sein kann. Doch diese Tendenz des Kapitals trifft auf „eine Naturschranke in seinen menschlichen Gehilfen: ihre Körperschwäche und ihren Eigenwillen".307 Einerseits also die notwendig immer irgendwie begrenzten körperlichen Kräfte der Arbeitenden, andererseits aber auch 155
ihr „Eigenwillen", ihre Widerständigkeit verhindern aus dieser Sicht, daß die ökonomisch im engeren Sinne ebenso wie technologisch begründete Tendenz des Kapitals zur Ausweitung des Arbeitstages vollständig zum Durchbruch kommt. Daß dabei von einer „Naturschranke" die Rede ist, verweist zum einen darauf, daß die Arbeitskraft notwendig an den Leib der Arbeiterin und des Arbeiters gebunden ist, d.h. durch ihren Verkauf als Ware können die durch „Körperschwäche" oder, anders gesagt, durch die immer irgendwie begrenzte körperliche Leistungsfähigkeit der Arbeitenden gegebenen Beschränkungen nicht aufgehoben werden. Gerade in seiner Arbeitsleistung steht der Mensch nicht nur im Stoffwechsel mit der Natur, sondern allein schon durch den Einsatz seiner Körperlichkeit, einschließlich seines Verstandes ist er gerade im Arbeitsprozeß immer zugleich auch Naturwesen, wie kulturell überformt auch immer. Mehr noch: Als Lohnabhängige sind die Arbeitenden vom kontinuierlichen und langfristigen Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängig. Daher überlassen sie „dem Kapitalisten die Konsumtion dieser Kraft, aber innerhalb gewisser rationeller Grenzen". Denn auch mit dem Verkauf, nicht nur mit dem Kauf der Arbeitskraft wird ja ein rationaler Zweck verfolgt, und zwar, „sie, abgesehn von ihrem natürlichen Verschleiß zu erhalten, nicht aber sie zu zerstören: [...] Bei ihren Versuchen, den Arbeitstag auf seine frühem rationellen Ausmaße zurückzuführen, [...] erfüllen die Arbeiter bloß eine Pflicht gegen sich selbst und ihren Nachwuchs".308 Es handelt sich also um eine Naturschranke in dem genauen Verständnis, daß die Leibbindung der Arbeitskraft das höchst rationale Interesse an ihrer langfristigen Reproduktion zur Konsequenz hat.309 Zugleich verweist vor allem im Hinblick auf das Moment der Widerständigkeit die Formulierung, es handle sich hier um eine „Naturschranke", auch darauf, daß es hier um Natur für das Kapital geht: Der „Eigenwillen" der Arbeiter ist dem Kapital in letzter Instanz nicht voll verfügbar, und zugleich wurzelt er unmittelbar in dem durch die Lage der Lohnabhängigkeit selbst begründeten Interesse am langfristigen Erhalt, d.h. an der Reproduktion der Arbeitskraft. Allerdings ist diese Schranke keineswegs absolut, vielmehr wirkt sie selbst als Ansporn, den Druck zur Verlängerung der Arbeitszeit zu verstärken: „Als Kapital, und als solches besitzt der Automat im Kapitalisten Bewußtsein und Willen, ist es daher mit dem Trieb begeistet, die widerstrebende, aber elastische menschliche Naturschranke auf den Minimalwiderstand einzuzwängen."310 Allein schon die Tatsache, daß die Vereinfachung der Arbeit an der Maschine, ihre „scheinbare Leichtigkeit", zur Stärkung des „füg- und biegsamere(n) Weiber- und Kinderelement(s)" geführt habe, macht Marx dafür verantwortlich, daß dieser Widerstand „ohnehin schon vermindert" sei.311 Es mag verwundern, daß Marx von einer „Naturschranke" im Hinblick auf die andere Quelle des Reichtums, die Natur selbst oder auch die „Erde", nicht spricht. 156
Das erklärt sich zumindest teilweise aus der Zielsetzung, die innere Struktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und Wirtschaftsweise aufzudecken. Nach der bekannten Metapher vom „Stoffwechsel mit der Natur", den „der Mensch ... durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert", scheint die Natur der Gesellschaft im Grunde äußerlich, doch bemerkt Marx zugleich, der Mensch verändere, „indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert ... zugleich seine eigne Natur".312 Hier sind zumindest Ansätze für eine kritische Bewertung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses erkennbar.313 Vordringlich für die Kritik der politischen Ökonomie ist aber zunächst einmal die Bedeutung der Natur nicht für den „Menschen" sondern für das Kapital. Denn es geht vorab um die Entschlüsselung der Verhältnisse in der von ihm beherrschten und geprägten - determinierten - Gesellschaft. Das impliziert einen spezifischen Blickwinkel, der dazu tendiert, wesentliche Probleme auszublenden. Die gesellschaftliche Naturbeziehung gehört zu diesen Komplexen. Doch andererseits drängt sich diese Frage gerade einer kritischen Sichtweise unvermeidlich immer wieder auf, so daß sich gerade hier durchaus konzeptionell produktive Ambivalenzen ergeben. Vom Standpunkt des Kapitals aus gesehen ist Natur zunächst einmal eine Gratis-Produktivkraft. Sie ist nicht durch Arbeit geschaffen und kann daher auch keinen Wert im Sinne der politischen Ökonomie haben. Naturagentien setzen dem Produkt daher keinen Wert zu, weder im Sinne der Übertragung von Wert wie die Maschinerie noch erst recht im Sinne der Neuschaffung von Wert.314 Es ergibt sich eine Konstellation, die vergleichbar ist mit der Paradoxie der „unproduktiven" Arbeit,315 die ja gleichfalls vom Kapital als Gratis-Produktivkraft angeeignet wird, und zwar eben aufgrund der Verkehrung der Verhältnisse durch die kapitalistische Formbestimmung der Arbeit. Doch im Fall der Natur hat Marx es bei einer Andeutung belassen, die hier eher eine Anschlußmöglichkeit an seine Theorie als ein eigenes theoretisches Interesse seinerseits bezeichnet. Eine Zugriffsmöglichkeit zur gesellschaftlichen Wertproduktion können Naturkräfte vermitteln, wenn sie monopolisiert werden, wobei sich die Monopolbildung nicht auf Grundeigentum beschränkt, sondern etwa auch Wasserfälle als Energiequelle betreffen kann.316 Immer aber geht es um eine im Kern gewaltsame Abgrenzung und Aneignung von Naturressourcen,317 auf der schließlich der Bezug der Grundrente beruht. Mit dieser gewaltsamen, d.h. nicht über den Markt vermittelten Aneignung eines Titels auf einen Teil des Wertproduktes318 ist zwar ein dem Kapital im Prinzip strukturell fremdes, eigentlich inkongruentes Element in das gesellschaftliche System eingeführt. Es läßt sich aber deswegen etwa weder von Widerständigkeit der Natur reden, noch hindert dies den Expansionsdrang des Kapitals. Die Erschließung neuer Rohstoff- und Energiequellen erscheint auf 157
dieser Ebene im wesentlichen als unproblematisch.319 Freilich ist dies nicht das letzte Wort. Zum einen ist sich Marx nämlich im Klaren darüber, daß es sich um eine Ausdrucksform der von ihm an zentraler Stelle der Kritik der politischen Ökonomie aufgedeckten spezifischen Verkehrung der Verhältnisse handelt, um einen Blick durch den Zaubergarten, wenn nicht nur Maschinen als „die sichtbaren Produkte der Arbeit" und Wissenschaft als „das Produkt der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung in ihrer abstrakten Quintessenz" den Arbeitenden nun „als Mächte des Kapitals" gegenübertreten, sondern eben auch „die Naturkräfte". Dabei geht es freilich zunächst um die kapitalistische Formbestimmung gesellschaftlicher Arbeit, die die Naturkräfte zu ihrem Gegenstand hat: Einmal „dem Kapital einverleibt ... erscheinen alle ... auf gesellschaftlicher Arbeit begründete Anwendung von Wissenschaft, Naturkraft und Produkten der Arbeit in großen Massen ja selbst nur als Exploitationsmittel der Arbeit".320 Aus der Perspektive der Verkehrung von Produktivkräften in Mittel zur Ausbeutung der Arbeit zeichnet sich auch eine kritische Position zur Ausbeutung der Natur durch diese Form der Produktion ab. So läßt sich zumindest im Kontext weiterer Überlegungen von Marx argumentieren. Und dies - nicht die Rechtfertigung und Verteidigung einzelner seiner Positionen - ist das Erbe, das es durch die Rezeption seiner Werke wie der eines jeden anderen klassischen Autors zu bewahren und anzutreten gilt. Marx sieht eine Gemeinsamkeit, die beide Quellen des Reichtums, „den Arbeiter und die Erde", vor allen anderen Ressourcen auszeichnet, nämlich das negative - Potential, zu Objekten einer destruktiven „Antizipation der Zukunft" zu werden: „Bei beiden kann durch vorzeitige Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, die Zukunft realiter antizipiert und verwüstet werden. Bei beiden geschieht dies in der kapitalistischen Produktion."321 Marx sagt hier also, daß von Leben und vor allem von Produzieren auf Kosten der Zukunft allein auf Kosten der Trägerinnen und Träger der Arbeitskraft und der Natur die Rede sein könne. Die genauere Argumentation zur Überanstrengung und dem damit verursachten vorzeitigen Verschleiß der Arbeitskraft haben wir bereits kennengelernt. Wie aber steht es mit den natürlichen Ressourcen? Da die Natur Gratis-Produktivkräfte bereitstellt, solange diese nicht in irgendeiner Weise eingehegt werden können, ist es schwierig, sie in das Bezugssystem von Werten und Preisen einzupassen. Das ist in der Ökologiedebatte bekannt als das Problem der externalisierten Kosten, die in manchen Konzepten durch Preisarrangements wieder internalisiert werden sollen.322 Dies kann ein Grund dafür sein, daß der Naturbezug der kapitalistischen Produktion auch in der Kritik der politischen Ökonomie wenig vorkommt. Die bezeichnete Destruktivität durch 158
die Nutzung produktiver Potentiale, die eigentlich erst der Zukunft angehören, kommt daher in der Kritik der politischen Ökonomie im Hinblick auf Naturkräfte nur vereinzelt zur Sprache. Marx verknüpft aber, wenn er von den Auswirkungen der Mechanisierung nicht nur auf die Industrie, sondern auch auf die „Agrikultur" spricht, die „Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft" mit der Feststellung, daß „jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ... nicht nur ein Fortschritt in der Kunst [ist], den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit."323 Dieser letztlich noch aus der privaten Aneignung von Abschnitten der Natur erklärbaren Zerstörungstendenz stellt Marx an anderer Stelle eine seiner wenigen Bemerkungen „vom Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation" entgegen: „Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und sie haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen."324 Die altväterlich anmutende Rede von den „guten Familienvätern" kann nicht verdecken, daß hier - freilich für die hypothetische Zukunftsgesellschaft: - der normative Anspruch ökologischer Nachhaltigkeit formuliert wurde, wozu der Verweis auf den Vorgriff auf eigentlich erst zukünftig nutzbare Potentiale als Ausweis mangelhafter Nachhaltigkeit ja notwendig gehört. Implizit ist hier durchaus eine weitere, und zwar letztlich absolute Naturschranke des Kapitalverhältnisses begrifflich angelegt, und es bleibt bemerkenswert, daß sie durch ihre Verknüpfung mit den Fragen künftigen menschlichen Lebens und Produzierens gerade parallel konstruiert ist zu der zuvor betrachteten, freilich deutlich als relativ ausgezeichneten Naturschranke, die in den Reproduktionsbedingungen der lebendigen Arbeitskraft begründet liegt. Dies macht die Überlegungen von Marx anschlußfähig an ein kritisches Konzept der Nachhaltigkeit, das die Postulate der ökonomischen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit miteinander zu verbinden hat.325 Vermutlich ist es dennoch berechtigt, hier eher von Ahnungen als von definitiven Erkenntnissen zu sprechen.326 Daher sieht Marx zunächst einmal nicht Schranken für das Kapital, sondern ganz andere Folgen der Inkorporation von Arbeitskraft und Natur in das Kapitalverhältnis: „Indem das Kapital sich die beiden Urbildner des Reichtums, Arbeitskraft und Erde einverleibt, erwirbt es eine Expansionskraft, die ihm erlaubt, die Elemente seiner Akkumulation auszudehnen jenseits der scheinbar durch seine eigne Größe gesteckten Grenzen, gesteckt durch den Wert und die Masse der bereits produzierten Produktionsmittel, in denen es sein Dasein hat." 327 Ermöglicht wird dies durch die Aneignung 159
von Gratis-Produktivkräften, weil einerseits etwa im Bergwerk „der Arbeitsgegenstand von der Natur ... gratis geschenkt (ist)", andererseits die „Elastizität der Arbeitskraft", die durch höhere Intensität oder Dauer der Arbeit bei gleichem Einsatz an konstantem Kapital hilft, „das Gebiet der Akkumulation (zu) erweiter(n)"328 - jeweils, wie an anderer Stelle dargetan wird, auf Kosten der Zukunft. Freilich hat Marx diese, aus heutiger Sicht weiterführende Perspektive nicht systematisch in sein Theoriekonzept eingebaut, wenn auch deutlich wird, in welcher Weise sie daraus folgen kann. Die Unterordnung der beiden Quellen des Reichtums unter das Kapital läßt sich im Anschluß an Marx in einer frappierenden, von ihm freilich nicht ausgeführten Parallelität entwickeln. So sieht er in der Landwirtschaft „erst allmählich die Konzentration der Produktionsmittel und ihre Verwandlung in Kapital gegenüber den in Lohnarbeiter verwandelten unmittelbaren Produzenten", also den Übergang „vom handwerksmäßigen Betrieb der Agrikultur" zur „kapitalistischen Produktionsweise" im eigentlichen Sinn.329 Hier ist eine Stufenfolge angedeutet, die recht genau der Unterscheidung zwischen der formellen und der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital entspricht.330 Im einen wie im anderen Fall werden der Arbeitsprozeß oder eben der Austauschprozeß mit der Natur was letztlich ja nur eine andere Seite des Arbeitsprozesses ist - vom Kapital in ihrer vorfindlichen Form übernommen, um in einer zweiten Stufe Gegenstand gezielter, wissenschaftlich angeleiteter und beständig erneuerter Umformung zu werden. Auf dieser Stufe der reellen Subsumtion geht es nicht mehr allein um die Dienstbarmachung der Reichtumsquellen, sondern um ihre eingreifende Veränderung, wenn möglich ihren Umbau nach den jeweiligen Bedürfnissen des kapitalistischen Produktionsprozesses. Im Fall der - von Marx nicht so bezeichneten - reellen Subsumtion der Natur unter das Kapital läßt sich das Bedürfnis des Kapitals zur Einleitung des Prozesses der reellen Subsumtion mit Marx recht exakt angeben. Diese tiefgreifende Umformung der Natur durch den kapitalistischen Verwertungsprozeß setzt nämlich an dem Punkt ein, wo „bei einer gewissen Höhe der Kultur und ihr entsprechender Erschöpfung des Bodens das Kapital, hier zugleich in dem Sinn schon produzierter Produktionsmittel, das entscheidende Element der Bodenkultur wird".331 Die reelle Subsumtion erfolgt hier ausdrücklich auf der Grundlage einer bereits eingetretenen Zerstörung: „Die kapitalistische Produktion wirft sich erst aufs Land, nachdem ihr Einfluß es erschöpft und seine Naturgaben verwüstet hat." 332 Das Kapital unterwirft aus dieser Sicht nicht allein die Naturkraft, sondern es setzt sich geradezu an ihre Stelle. Das Kapital „kompensiert" demnach die „Abnahme der Naturkraft", jedoch kann „diese Kompensation immer nur für eine Zeit wirken",333 und Marx konstatiert dementsprechend „die abnehmende 160
Produktivität des Bodens bei sukzessiven Kapitalanlagen".334 Diese Überlegungen lassen sich in ein aufschlußreiches Schema eintragen: Das Kapital bewirkt allein schon durch die Indienstnahme und die damit einhergehende Ausbeutung des landwirtschaftlichen Produktionsprozesses (formelle Subsumtion) dessen Desorganisation, zumal die Zerstörung, Desorganisation der Naturpotentiale. Es sieht sich zur Reorganisation oder auch „Systematisierung"335 nicht nur des Arbeitsprozesses, sondern auch der Naturbeziehung gezwungen, die aber ihrerseits neuerliche Zerstörung, neue „Unordnung" 336 hervorbringt. Demnach lassen sich bei Marx durchaus Anknüpfungspunkte finden für eine kritische Rekonstruktion der Naturbeziehung moderner bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften und darüber hinaus selbst der industriellen Produktion. Es handelt sich aber um verstreute Einsichten, die hauptsächlich in einem anderen, durch den Leitfaden der politischen Ökonomie bestimmten Denkzusammenhang angefallen sind - der eingehenden Auseinandersetzung mit den Problemen der Grundrente und der Agrarpreise. Dies mag neben der ambivalenten Haltung, die Marx gegenüber der Industrie einnahm, die Erklärung dafür bieten, daß diese Probleme von ihm durchgängig im Kontext der Landwirtschaft angesprochen worden sind, nicht aber im Hinblick auf andere Formen der Nutzung von Naturkräften und ihrer Desorganisation oder des Ressourcenverbrauchs. Vor allem aber hat er es unterlassen, seine verstreuten Anmerkungen theoretisch miteinander zu verknüpfen. Wie wir hier andeuten wollten, ist es aufgrund einer kritischen Marx-Lektüre aber möglich, die oben bezeichneten unterschiedlichen Dimensionen der Nachhaltigkeitsproblematik, also ökonomische, soziale und ökologische Prozesse in einen begrifflichen Zusammenhang zu stellen, der mehr ergeben könnte als den beständig wiederholten Befund über Konflikte, in denen sich solche Zielsetzungen befinden. Unzweifelhaft müßte sich ein solches kritisches Konzept der Nachhaltigkeit allerdings auch auf das in der Debatte allzugern ausgesparte Problem der Formbestimmung der Einzel- wie des Gesamtprozesses einlassen, d.h die Frage nach den Gründen der Krise als Frage an gesamtgesellschaftliche Verhältnisse stellen und in diesem Sinne eine im Marxschen Sinne radikale, an die Wurzel gehende Wende anvisieren. Eine solche Wende weist über den Horizont des Marxschen Werkes und seines Konzeptes der modernen bürgerlichen Gesellschaft zumindest insoweit hinaus, als er seine eigenen verstreuten Hinweise nicht systematisch reflektiert hat. Vor allem war er sehr weit davon entfernt, eine Kritik der industriellen Produktivkräfte auch nur in Erwägung zu ziehen. Das Potential einer solchen Denkstrategie läßt sich aber an Formulierungen wie den folgenden erahnen: „Mit dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung, die sie in großen Zentren zusammenhäuft, häuft die kapitalistische Produktion einerseits die 161
geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andrerseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d.h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewige Bedingung der Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. Aber sie zwingt zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandnen Umstände jenes Stoffwechseln ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion und in einer vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen." Dies müsse nach der „Zerreißung" der vorkapitalistischen Einheit von Landwirtschaft und Industrie geschehen „in einer neuen, höheren Synthese, des Vereins von Agrikultur und Industrie, auf Grundlage ihrer gegensätzlich ausgearbeiteten Gestalten".337 Hier ist die oben referierte Kritik an der Produktivkraftentwicklung der Landwirtschaft ausgespart; deutlich wird aber hier der systemische Zusammenhang zwischen den Folgen der reellen Subsumtion nicht nur der Arbeit, sondern zugleich der Natur unter das Kapital. Die Identifikation von gesellschaftlichen Destruktionskräften, die sich gegen die lebendige Arbeitskraft und die Natur, also die Quellen des Reichtums richten, bezeichnet jedoch aus der Gesamtsicht von Marx ausdrücklich nicht absolute, sondern allenfalls relative Schranken des Kapitals. Dagegen „die wahre Schranke der kapitalistischen Produktionsweise ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind". Demgegenüber gerät unter der Kapitalherrschaft das nicht hinterfragte „Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck der Verwertung des vorhandnen Kapitals".338 Dies entspricht strikt der methodischen Vorgabe der gesellschaftlichen Formbestimmung, die sich hier vor allem auf die Produktivkräfte bezieht, denen sie auch hier offensichtlich äußerlich gedacht wird. Was ein verantwortungsvoller, die Zukunft nicht gefährdender Umgang mit den Springquellen des Reichtums unter den Bedingungen einer „Gesellschaft der Produzenten" denn bedeuten könnte, mag zwar erschließbar sein, wird aber nicht weiter reflektiert. Dieser Sicht entspricht auch die Konstruktion der „geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation". Sie wird hergeleitet vor allem aus der Konkurrenz der Einzelkapitale, die schließlich zu einer Zentralisation und Konzentration des Kapitals führt, die zusammen mit der „Vergesellschaftung der Arbeit ... unverträglich wird mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt"339 hier eigentlich mehr als Resultat der Bewegung des Kapitals denn als Folge 162
sozialer Bewegungen oder Klassenkämpfe. Diese sind in der Marxschen Theorie sicherlich nicht ausgespart, sie spielen aber zumindest in der Kritik der politischen Ökonomie keine entscheidende Rolle gegenüber den großen Tendenzen der Entwicklung des Kapitalverhältnisses. Freilich muß diese Tendenz der kapitalistischen Konkurrenz zur immer größeren Konzentration und damit einhergehenden „Vergesellschaftung" des Kapitals gerade aus der Sicht der Entwicklungen der letzten 125 Jahre als problematisch erscheinen. Schließlich ist es nicht zur Sprengung der Verhältnisse, sondern zur Zusammenballung von Macht auf der Seite des Kapitals gekommen. Ist diese Marxsche Prognose daher aus heutiger Sicht zumindest fragwürdig, so bieten die Marxschen Kategorien für die Analyse der Macht, auch des aus seiner Sicht wohl in einem kaum vorstellbaren Ausmaß konzentrierten und zentralisierten Kapitals, wichtige Hinweise. Interessanter scheint uns freilich eine an anderer Stelle von Marx ins Auge gefaßte Schranke der kapitalistischen Produktion: die Tendenz zur Eliminierung der wertbildenden Arbeit. Auch hier handelt es sich um eine Schranke, die dem Kapital selbst immanent ist, nämlich seinem Drang zur Expansion des relativen Mehrwertes und damit zugleich zur immer weiteren Zurückdrängung des Anteils der lebendigen Arbeitskraft am Produkt. Denn „das Setzen der gesellschaftlichen Arbeit in der Form von Lohnarbeit und Kapital" - also das kapitalistische Grundverhältnis - „ist und bleibt" abhängig von der „Masse unmittelbarer Arbeitszeit, das Quantum angewandter Arbeit ... der entscheidende Faktor der Produktion des Reichtums." Diese Grundvoraussetzung stößt an die Grenze der immer weitergehenden Entwicklung der Produktivkräfte, der Steigerung ihrer Produktivität im sachlichen, eben nicht im wertmäßigen Sinne. An dieser Steigerung muß das Einzelkapital nach wie vor jedes Interesse haben, auf der Ebene des Gesamtsystems aber zeigt sich ein immanent nicht lösbarer Widerspruch: „In dem Maße ... wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden ... sondern vielmehr vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion." Damit ist die in der Wertform enthaltene Verkehrung des Reichtums auf die Spitze getrieben, denn „der wirkliche Reichtum enthüllt sich vielmehr ... im ungeheuren Mißverhältnis zwischen der angewandten Arbeitszeit und ihrem Produkt ebenso wie im qualitativen Mißverhältnis zwischen der auf eine reine Abstraktion reduzierten Arbeit und der Gewalt des Produktionsprozesses, den sie bewacht". Der „Arbeiter" tritt jetzt „neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein", und daher erfolgt eine neuerliche Umkehrung: „Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des gesellschaftlichen Reichtums zu sein, hört und 163
muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes."340 Freilich scheint für Marx nur die logische Konsequenz aus diesem Umschlagen der Verkehrungen des Wertgesetzes vorstellbar gewesen zu sein - die endlich gelingende Sprengung der durch das Kapital geschaffenen Verhältnisse, anders gesagt: der Zaubergarten wird als solcher endgültig sichtbar und damit auch der Weg, aus ihm herauszutreten. Heute haben wir uns nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gesellschaftspolitisch damit auseinanderzusetzen, daß die hier von Marx skizzierte Tendenz sich weitgehend durchgesetzt hat: Zwar wird Arbeit „in unmittelbarer Form" noch notwendig sein, solange Autos nicht aus Information gebaut sind oder solange die menschliche Gesellschaft auf der ganzen Welt steigende Mengen an Energie vernutzt. Dennoch beobachten wir in der Gegenwart die Auswirkungen technologischer Veränderungen, die zur Zurückdrängung unmittelbarer Handarbeit ebenso geführt haben wie zu einer steigenden Bedeutung des Wissens im Prozeß der Produktion und Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer materiellen Grundlagen. Freilich wird eine an Marx anknüpfende Perspektive auf diese Veränderungen nicht in den verbreiteten Fehler verfallen, die weitgehende Abkoppelung spekulativer Operationen einer „virtuellen Ökonomie" mit der tatsächlichen Entstofflichung ökonomischer und allgemeiner, gesellschaftlicher Prozesse zu verwechseln. Dafür enthalten die Zusammenbrüche auf den globalen Aktienmärkten zu Beginn des neuen Jahrtausends Hinweise genug. Gerade die Marxsche Perspektive aber kann dazu beitragen, uns darüber auf zuklären, daß es verfehlt wäre, auch in solchen Umbrüchen bereits das Ende des Kapitalismus erkennen zu wollen. Wenn es zutrifft, daß die Expansion des Kapitals im Prinzip schrankenlos ist und ihre Grenzen jenseits historischen, politischen Handelns allenfalls in der Zerstörung der beiden Springquellen gesellschaftlichen Reichtums, der menschlichen Arbeit und der Natur zu suchen sind, so ist damit zugleich das Risiko des Fortdauerns kapitalistischen Wirtschaftens ebenso angegeben, wie die Schwierigkeiten umrissen sind, eine konstruktive Alternative zu entwerfen und durchzusetzen. Gerade dies geht - für viele, die auf seine Lektüre verzichtet haben, wohl überraschenderweise - über das Marxsche Werk in wesentlichen Punkten hinaus. Was ihm aber weiter zu entnehmen ist, sind theoretisch-begriffliche Instrumente, mit denen lange Entwicklungslinien und epochale Veränderungen gesellschaftlicher Prozesse nachvollzogen und damit (re-)konstruierbar gemacht werden können. Diesen Hinweisen wollen wir uns im dritten Teil unseres Abrisses zuwenden. 164
3 „Zu viel Ehre und zu viel Schimpf zugleich": Marxsche Perspektiven auf soziale Evolution und historische Prozesse Die Kritik der politischen Ökonomie bildet innerhalb des Marxschen Werkes den avanciertesten, in weiten Teilen ausgearbeiteten Theoriekomplex. Ihr Gegenstand ist vorab die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. Doch die Marxsche Theorie beschränkt sich nicht allein auf eine Gesellschaftstheorie des Kapitalismus und ist erst recht keine pure Wirtschaftslehre. Der Impuls für das Unternehmen, das zur Publikation der Kapital-Schriften führte, zielte auf die Vergänglichkeit und damit die Geschichtlichkeit des Kapitalverhältnisses. Das kommt auch immer wieder in der Konfrontation von kapitalistischen mit nicht-kapitalistischen Verhältnissen zum Ausdruck. In der Perspektive der Überwindung des Kapitalverhältnisses stehen auch jene Schriften, in denen Marx einzelne historisch-politische Wendepunkte seiner Zeit auf die in ihnen wirksamen gesellschaftlichen Kräfte, vorab auf Klassen und Klassenfraktionen hin untersuchte. Solche Analysen bewegen sich auf einem deutlich niedrigeren Abstraktionsniveau als die Kritik der politischen Ökonomie: Sie fassen historische, d.h. empirische gesellschaftliche Prozesse und Auseinandersetzungen ins Auge. Die Anstrengung, diese Prozesse verständlich zu machen oder anders gesagt, sie zu rekonstruieren, ist nicht ablösbar von der exemplarischen Entwicklung und Erprobung des entsprechenden begrifflichen Instrumentariums. Das historische Moment ist aber auch in der Kritik der politischen Ökonomie immanent gegeben durch die kontrastierenden Betrachtungen, die den gewordenen und damit auch vergänglichen, transitorischen Charakter der Verhältnisse gerade der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verdeutlichen sollen. Dieses kontrastierende Heranziehen historischen Materials ist wiederum verknüpft mit Annahmen über die Genese der kapitalistischen Verhältnisse und ebenfalls, untrennbar davon, über den Gang der Weltgeschichte. Solche Überlegungen mögen auf den ersten Blick äußerst abstrakt erscheinen. Doch können gerade die Schwierigkeiten und Widersprüche, die sich in diesbezüglichen Marxschen Texten auftun, sehr instruktiv sein auch für aktuelle Fragestellungen, die gerade nach 165
den Umbrüchen der Jahre 1989/91 verstärkt auch unter Gesichtspunkten der Weltgeschichte oder der sozialen Evolution betrachtet werden. Für Marx als Gesellschaftstheoretiker sind schließlich zwei eng miteinander verbundene Problemfelder von zentraler Bedeutung: Da für ihn die Analyse gesellschaftlicher Tiefenstrukturen wie die Beurteilung aktueller Ereignisse nicht allein intrinsisches Interesse hatte, sondern immer in der Perspektive der revolutionären Veränderung stand, mußte der Prognose kurz- und langfristiger Entwicklungen ein besonderer Stellenwert zukommen. Das wirft nicht nur die Frage nach der Treffgenauigkeit, sondern auch nach den methodischen Voraussetzungen und Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens auf. Prognose oder auch Projektion finden schließlich auch statt in der spezifischen Weise der kontrastiven Heranziehung nicht-kapitalistischer Verhältnisse, nicht unter Rückgriff auf die Vergangenheit, sondern in programmatischer Perspektive im Blick auf eine erhoffte Zukunft. Diese Überlegungen führen zurück auf den Ausgangs- und Fluchtpunkt Marxscher Gesellschaftsanalyse, die soziale Revolution als grundlegende Veränderung der Verhältnisse, die den zentralen Platz in seinem Theoretisieren einnahm. Die Betrachtung historischer Verhältnisse steht bei Marx vorab in diesem Bezugsrahmen der Gewordenheit und daher auch der Vergänglichkeit der bestehenden Zustände: „Erscheinen einerseits die vorbürgerlichen Phasen als nur historische, i.e., aufgehobne Voraussetzungen, so die jetzigen Bedingungen der Produktion als sich selbst aufhebende und daher historische Voraussetzungen für einen neuen Gesellschaftszustand setzende."1 Nun wurde schon des öfteren darauf hingewiesen, daß Marx im Gegensatz zu landläufiger Auffassung kein geschlossenes Theorie- oder gar Dogmengebäude hinterlassen hat. Das zeigt sich noch deutlicher als an den Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie an den weit bruchstückhafteren Überlegungen zu sozialer Evolution, Geschichte, Politik, aber auch zu Klassenstrukturen und Prozessen gesellschaftlicher Veränderung. Marxsche Texte können aber gerade dann, wenn ihre unverkennbare innere Widersprüchlichkeit zugelassen und zur Kenntnis genommen wird, Anregung und Ausgangspunkt für konzeptionelle Neuansätze sein. Vor diesem Hintergrund werden im folgenden zunächst die Bedeutung der Geschichte im Marxschen Werk näher betrachtet. Ihr kommt vor allem aus dem Blickwinkel der Frühschriften ein zentraler Stellenwert für die materialistische Grundorientierung der Marxschen Theorie zu, die sich im engen Verhältnis von Materie und Zeit bis auf epikureische Grundlagen zurückführen läßt.2 Doch ist gerade die Marxsche Geschichtskonzeption Gegenstand besonders intensiver Anstrengungen zur Schaffung eines orthodoxen Kategoriengebäudes geworden. Von dieser Erblast können auch wir nicht ganz absehen. Wir tragen dem vor allem Rechnung, indem wir zwei zentrale Kategorien dieser Geschichtskonzeption 166
genauer untersuchen, Gesellschaftsformation und Produktionsweise. Daraus ergeben sich Hinweise zum einen auf eine Geschichtskonzeption, die einlinige Evolutionsschemata hinter sich läßt, wie sie auch mit der Marxschen Theorie noch immer in Verbindung gebracht werden; zum andern verweist die Kategorie der Produktionsweise auf den Stellenwert, den die Beziehungen der Menschen untereinander sowie zur Natur bei der Sicherung ihrer Lebensgrundlagen eingehen und unterhalten, für gesamtgesellschaftliche Strukturen. Diese Zusammenhänge lassen sich weiter präzisieren anhand der Marxschen Behandlung der großen historischen Trennungsprozesse, die im Zusammenhang mit der Arbeitsteilung bereits im vorhergehenden Teil dieses Buches angesprochen worden sind. So wird zugleich deutlich, daß im Rahmen der Marxschen Theorie universalhistorische Rekonstruktionen kein Selbstzweck, sondern bezogen auf die Entstehung des modernen Kapitalismus zu verstehen sind. Das Ergebnis der großen historischen Trennungsprozesse leitet über zu den Strukturen moderner kapitalistischer Gesellschaften. Über die Bestimmung des dafür zentralen Klassenbegriffs hinaus fragen wir zusätzlich vor allem nach der Konstruktion kollektiven Handelns in den aktuellen, sozialstrukturell begründeten Analysen, die Marx vor allem über die Entwicklungen in Frankreich nach der Revolution von 1848 ausgearbeitet hat. Gleichfalls über aktualitätsbezogene Analysen lassen sich dann im unmittelbaren Anschluß an die Problematik der Klassenauseinandersetzung einige wesentliche Aspekte der Marxschen Staatskonzeption erschließen und damit auch die Vorstellung der Klassenherrschaft präzisieren. Gerade unter kapitalistischen Verhältnissen geht sie nicht auf in der einfachen Übernahme des Staates durch eine herrschende Klasse, etwa die Bourgeoisie. Marxsche Perspektiven erweisen sich - nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Ausgestaltung des Staates etwa in der Form des allgemeinen Wahlrechtes - als weit differenzierter, als dies unter unterschiedlichen Vorzeichen der Zustimmung und Ablehnung häufig angenommen wird. Vorwiegend aktualitätsbezogen sind auch die Arbeiten von Marx, die eine besondere Rolle spielen in der Debatte über seine Beziehung zu den für die Gesellschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts weithin prägenden Modernisierungstheorien. Damit ist wiederum die Frage weltweiter gesellschaftlicher Entwicklungen angesprochen, diesmal freilich unter dem spezifischen Aspekt der Ausbreitung des Kapitalismus oder genauer des Prinzips der Kapitalverwertung über die ganze Erde. Ergab sich daraus für Marx vor allem die Auseinandersetzung mit der kolonialen Expansion westeuropäischer Staaten, so bieten seine Arbeiten doch zugleich auch ein reiches Material, die aktuelle, häufig kurzatmig geführte Globalisierungsdiskussion in eine längerfristige, theoretisch reflektierte Perspektive zu stellen. Da die Auseinandersetzung mit dem Marxschen Geschichtsverständnis unvermeidlich immer wieder auf das 167
Problem der Teleologie, also der Zielgerichtetheit des historischen Prozesses verwiesen wird, erscheint uns ein abschließender Blick auf die Marxsche Prognostik unerläßlich zur Abrundung unseres auch hier bewußt selektiv gehaltenen Überblicks.
3.1 „Geschichte" in der Marxschen Theorie Seit ihren Anfängen stand die Marxsche Theorie in einer emphatisch historischen Perspektive, die sich unmittelbar aus ihrer umwälzenden Intention ergab: „Die allseitige Abhängigkeit, diese naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen Zusammenwirkens der Individuen, wird durch die kommunistische Revolution verwandelt in die Kontrolle und bewußte Beherrschung dieser Mächte, die, aus dem Aufeinander-Wirken der Menschen erzeugt, ihnen bisher als durchaus fremde Mächte imponiert und sie beherrscht haben."3 Daraus ergab sich zunächst nur die Forderung, dieses „Aufeinander-Wirken" nicht mehr als natürlich und damit unabänderlich vorgegeben, sondern als „wirklichen Produktionsprozeß" und damit grundsätzlich gesellschaftlich verfügbar zu verstehen. Hinzu kam aber das noch weiterführende Programm, auch „die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen ... aufzufassen" - die Begründung der materialistischen Grundthese. In schroffem Gegensatz nämlich zur „idealistische(n) Geschichtsauffassung" vor allem Hegels stellt die hier skizzierte Konzeption den Anspruch, Geschichte als im Zeitverlauf nach vorne offene Wirklichkeit zu verstehen: „Sie hat in jeder Periode nicht ... nach einer Kategorie zu suchen, sondern bleibt fortwährend auf dem wirklichen Geschichtsboden stehen, erklärt nicht die Praxis aus der Idee, erklärt die Ideenformation aus der materiellen Produktion. ... Sie zeigt, daß die Geschichte nicht damit endigt, sich ins 'Selbstbewußtsein' ... aufzulösen, sondern daß in ihr auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffnes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet ... daß also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen."4 Geschichte umfaßt in dieser Sicht also wechselnde Verhältnisse der Menschen untereinander, aber auch der Menschen zur Natur. Dabei ist der Wechsel in diesen Verhältnissen für Marx das entscheidende, wie sich an der klassischen Formulierung zeigt, die deutliche Anklänge an die zitierte Deutsche Ideologie erkennen läßt. Marx berichtet 1859 von seiner etwa 15 Jahre zuvor gewonnenen Einsicht, daß die „Anatomie" jener „materiellen Lebensverhältnisse, deren Gesamtheit Hegel ... unter dem Namen 'bürgerliche Gesellschaft' zusammenfaßt", „in der politischen Ökonomie zu suchen sei"5. Damit „bedingt" 168
für Marx nicht nur „die Produktionsweise des materiellen Lebens ... den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt"; die Pointe liegt vielmehr in dem Postulat, daß „auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung ... die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch (geraten) mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein."6 Revolution ist damit nicht wie im üblichen Sprachgebrauch als in der Regel gewaltsames, in erster Linie politisches und meist punktuelles Ereignis verstanden, sondern in erster Linie als „Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen", wobei „die Menschen" in diversen „ideologischen Formen ... sich ... dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten".7 Marx fügt dieser Beschreibung des Mechanismus, den er bei gesellschaftlichen Umwälzungen offenbar ganz allgemein am Werk sieht, den berühmten Satz hinzu, der gemeinhin als Formulierung seiner Vorstellung des weltgeschichtlichen Ablaufs verstanden wird: „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation verstanden werden." Unter ihnen bezeichnet Marx „die bürgerlichen Produktionsverhältnisse" als „die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses"; die „Lösung des Antagonismus", d.h. die endgültige Überwindung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften, wozu ja auch die menschliche Arbeitskraft zu zählen ist, und Produktionsverhältnissen ist in diesem Fall zu erwarten, weil „im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft ... die materiellen Bedingungen" dafür geschaffen wurden - eben in den „sich entwickelnden Produktivkräften". Diese Umwälzung bezeichnet daher mehr als die zuvor genannten „Epochen": „Mit dieser (also der bürgerlichen) Gesellschaftsformation schließt ... die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." 8 Marx sieht hier ausdrücklich nicht das „Ende der Geschichte" voraus, d.h. die in der Hegeischen Geschichtsphilosophie anvisierte Stillstellung aller Widersprüche und Eliminierung jeglicher Alternativen, wie sie auch jüngst noch als Konsequenz aus dem Ende des Ost-West-Konfliktes behauptet worden ist.9 Vielmehr erwartet Marx offenbar, daß die „menschliche Gesellschaft" mit der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaftsform und des von ihm als Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen definierten Bewegungsprinzips überhaupt erst in ihre Geschichte eigentlich eintreten werde, im Unterschied zur bloßen „Vorgeschichte". Wie auch dem oben zitierten älteren Text zu entnehmen ist, würde dies das Ende der „naturwüchsigen" Wirkung der von 169
Menschen erzeugten „Mächte" und den Beginn ihrer „Kontrolle und bewußte(n) Beherrschung" bedeuten. Wenn auf diese Weise auch keine Rede von einem „Ende der Geschichte" sein kann, diese als bewußte gesellschaftliche Veranstaltung vielmehr erst eigentlich beginnen soll, so ist dennoch in diesem Entwurf einer retrospektiv konstruierten Reihe von „Epochen ökonomischer Gesellschaftsformation" nicht allein eine Progression, ein Aufeinander-Aufbauen enthalten, sondern zusammen mit dem von Marx nachdrücklich vertretenen Bewegungsprinzip und der krönenden Zukunftsperspektive auch eine historische Teleologie: Nicht nur einzelne Gesellschaften verändern und entwickeln sich, auch die Menschheit als Ganze bewegt sich in dieser Sicht auf ein Ziel zu. Dieser Prozeß wird zwar auf das Zusammenwirken tätiger Menschen bezogen, zugleich aber erscheint er als objektiv, d.h. dem Willen der Handelnden nicht verfügbar oder „naturwüchsig". Eben das meint ja die Wendung von der „Vorgeschichte", die mit der „Lösung", d.h. der endgültigen Überwindung des Antagonismus zum Abschluß kommen soll. Diese Tendenz zur Objektivierung gesellschaftlicher Prozesse tritt deutlich zutage nicht nur in der vor allem in den Schriften der 1850er Jahren ständig präsenten Revolutionserwartung, sondern auch in der Annahme der Vereinheitlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Erde unter der Herrschaft der Bourgeoisie. Verbunden mit dem von Marx häufig erhobenen Anspruch auf naturwissenschaftliche Stringenz, der Rede von „Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion" 10 hat dies weitreichende politische Folgen gehabt.11 Dem steht das spätere Dementi entgegen, in dem Marx nachdrücklich bestritt, bei seiner „Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa" handele es sich um „eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges"; dies „heißt mir zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf antun".12 „Ehre" bezieht sich hierbei auf die unterstellte Reichweite der theoretischen Aussage, „Schimpf' offenkundig auf die in Marx' Augen verfehlte Annahme, eine solche Aussage sei möglich. Wie schon angedeutet, läßt sich vor diesem Hintergrund nicht abstreiten, daß sich im Marxschen Werk gute Gründe für die Annahme finden lassen, er habe in bestimmten Fragen und Situationen mit eben einer solchen übergreifenden Theorie operiert. All dies hat weitreichende Konsequenzen für die auch neuerdings wieder diskutierte Interpretation der Marxschen Theorie als Modernisierungstheorie.13 Darüber sollte die theoriestrategische Bedeutung nicht übersehen werden, die der nachdrücklichen Historisierung aller Kategorien für die Marxsche Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zukommt: Nicht nur in der Perspektive einer vordergründig politisch verstandenen Kritik, sondern auch für die Analyse dieser Gesellschaft werden diese Kategorien so als Verweise nicht auf feste Gegebenheiten, sondern auf soziale Prozesse verstehbar gemacht. 170
Es eröffnen sich auch Perspektiven der vergleichenden Gesellschaftsanalyse. Das gilt einmal auf der Ebene der Konfrontation grundlegend unterschiedlicher Verhältnisse, etwa von marktorientierter Warenproduktion gegenüber unmittelbar bedürfnisorientierter Gebrauchswertproduktion. Noch aufschlußreicher dürfte die vergleichende Untersuchung von Vergesellschaftungsformen wie Arbeitsteilung, Kooperation, aber auch Verwandtschaft oder auch von institutionellen Arrangements wie Eigentum sein. Sie alle lassen sich in ihrer jeweils historischen Besonderheit oder anders gesagt, in ihrer Bestimmtheit durch die jeweiligen gesellschaftlichen Grundstrukturen erst erfassen, wenn diese selbst voneinander unterschieden werden. Die spezifische Formbestimmung läßt sich nur gewinnen und verdeutlichen durch den Vergleich und Kontrast mit anderen. So etwa verweist Marx gegen den Schein, die „gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit" sei „immanente Produktivkraft" des die Arbeit aneignenden Kapitals auf andere historische Formen der Kooperation, auf die kolossale „Wirkung der einfachen Kooperation in den Riesenwerken der alten Asiaten, Ägypter, Etrusker" usw.: „Diese Macht ... ist in der modernen Gesellschaft auf den Kapitalisten übergegangen", freilich nicht in unveränderter Form, wie die unmittelbar folgende Differenzierung zeigt: Marx unterscheidet zwischen Kooperation von „Gemeinwesen", die in Jagd oder Ackerbau auf der Grundlage von „Gemeineigentum an den Produktionsbedingungen" erfolge; ferner beruht die „Kooperation auf großem Maßstab in der antiken Welt, dem Mittelalter und den modernen Kolonien ... auf unmittelbaren Knechtschaftsverhältnissen, zumeist auf der Sklaverei" und findet zudem nur „sporadische Anwendung". Demgegenüber setzt „die kapitalistische Form ... von vornherein den freien Lohnarbeiter voraus" und hat darüber hinaus systematischen Stellenwert: Es geht, wie Marx es ausdrückt, nicht um „eine besondre historische Form der Kooperation, sondern die Kooperation selbst als eine dem kapitalistischen Produktionsprozeß eigentümliche und ihn spezifisch unterscheidende historische Form". 14 Hier zeigt sich zugleich, daß Marx sich auf eine zumindest implizite Theorie gesellschaftlicher Entwicklung oder anders, auf ein Konzept sozialer Evolution bezieht, das deutlich über den Kapitalismus hinausweist, und zwar nicht nur voraus in die Zukunft, auf die angestrebte Aufhebung des Kapitalismus und des übergreifenden „Antagonismus" dazu, sondern auch in die Vergangenheit. Ohne solche theoretische Annahmen wäre eine historisch-kritische Kapitalismus-Analyse, also das zentrale Anliegen Marxens, auch gar nicht vorstellbar. Bevor wir uns seinen Analysen konkreter gesellschaftlicher Prozesse zuwenden, wollen wir daher einige Grundzüge dieser geschichtstheoretischen Position nachzeichnen. Das scheint umso dringlicher, als die Dogmatisierung der Marxschen Theorie gerade hier das gängige Verständnis bis heute nachhaltig bestimmt. 171
3.2 Produktionsweisen und Gesellschaftsformation Wenn somit Fragen eines universalhistorischen Konzeptes oder auch der sozialen Evolution zur Debatte stehen, so geht es nicht allein und nicht in erster Linie um eine „große Erzählung" der gesellschaftlichen Entwicklungsgeschichte der Menschheit, sondern zuerst und vor allem um grundlegende Fragen von Gesellschaftsanalyse überhaupt, insbesondere um die Abgrenzung allgemeiner gesellschaftlicher Sachverhalte von Verhältnissen, die sich auf unterschiedlichen Konkretionsstufen bestimmten, mehr oder weniger ausgedehnten Epochen oder Perioden zuordnen lassen oder auf grundlegend voneinander abweichende Entwicklungsbahnen verweisen. Zugleich kann eine Auseinandersetzung gerade mit dieser Dimension der Marxschen Theorie nicht ganz an den dogmatischen Verkrustungen vorbeigehen, die die Rezeption nach wie vor erschweren. Die Marxsche Auffassung der sozialen Evolution wird noch immer mit dem dogmatischen Fünf-Stadien-Schema in Verbindung gebracht, das besagt: „Die Geschichte kennt fünf Grundtypen von Produktionsverhältnissen: die Produktionsverhältnisse der Urgemeinschaft, der Sklaverei, des Feudalismus, des Kapitalismus, des Sozialismus."15 Schon zu der oben zitierten, klassisch verdichteten Formulierung von Marx besteht hier ein offenkundiger Widerspruch: Die dort unter den „Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation" genannte asiatische Produktionsweise fehlt im gängigen Konzept. Die Vorherrschaft des stalinistischen Fünf Phasen-Schemas ebenso wie die damit einhergehenden starren begrifflichen Festlegungen, die im wesentlichen den Sowjetmarxismus und damit das herrschende Bild von der Marxschen Theorie geprägt haben, waren und sind Folgen der politisch motivierten und in der Sowjetunion seit Anfang der 30er Jahre mit staatlicher Repressionsgewalt durchgesetzten Diskussionsverbote.16 Gerade für die Konstruktion von Konzepten der sozialen Evolution befindet sich das gängige marxistische Dogma in krassem Widerspruch zu den Texten des angerufenen Heiligen. Die theoretisch besonders bedeutsame Problematik der Gesellschaftsformation soll daher bei aller gebotenen Kürze auch unter Berücksichtigung der textlichen Schwierigkeiten dargestellt werden. Dabei soll auch gezeigt werden, daß die Auseinandersetzung gerade auch mit solchen zunächst einmal sperrigen, einer scholastischen Aneigung widerstehenden Texten fruchtbar und lohnend sein kann. Ein von Marx belehrtes Konzept der sozialen Evolution wird nicht umhin können, sich an den zentralen Begriffen der Gesellschaftsformation und der Produktionsweise zu orientieren. Beide lassen sich vorläufig in der Weise unterscheiden, daß „Gesellschaftsformationen" übergreifende Formen oder auch Epochen gesellschaftlicher Entwicklung bezeichnen, während sich „Produktionsweisen" auf die Formbestimmung des - umfassend verstandenen - Ensembles von 172
Tätigkeiten beziehen, die in die Produktion und Reproduktion bestimmter Gesellschaften eingreifen. „Gesellschaftsformationen" sind also übergreifende Strukturzusammenhänge und Prozesse, während sich „Produktionsweisen" unmittelbarer auf die Ebene materieller Tätigkeit beziehen sollen. Wie schon angedeutet, sind diese Begriffe bei Marx nirgends eindeutig definiert, ihnen wurden jedoch in den unterschiedlichen marxistischen Traditionen feste, je nach Observanz abweichende Bedeutungen zugeschrieben. Darauf soll hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Wir halten es für fruchtbarer, wenn auch vorderhand umständlicher, die Marxschen Texte selbst zu befragen.
3.2.1 Gesellschaftsformationen und der Gang der Weltgeschichte Die meistzitierte Stelle zum Begriff der Gesellschaftsformation wurde bereits angeführt. Es muß auffallen, daß allein in dem kurzen, sehr konzentrierten Text des Vorwortes von Zur Kritik der Politischen Ökonomie, der ausdrücklich als Darstellung des konzeptionellen „Leitfadens" von Marxens Studien deklariert ist,17 der Begriff „Gesellschaftsformation" in zwei klar zu unterscheidenden Bedeutungen benutzt wird. Einmal ist die Rede von „progressive(n) Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation". Dabei ist der Bezug nicht eindeutig bestimmbar: Läßt sich die ökonomische Gesellschaftsformation von anderen Formationen unterscheiden, oder wird damit einfach der jeweils ökonomisch determinierte Prozeß der Formation bezeichnet? Für beide Versionen lassen sich in späteren Schriften von Marx Anhaltspunkte finden. Die vier hier benannten Epochen unterscheiden sich deutlich von der zitierten dogmatisierten Version, vor allem durch die Berücksichtigung einer eigenen „asiatischen". Diese Epochen werden wiederum mit „Produktionsweisen" bezeichnet. Im Gegensatz zur Unklarheit des Verweises auf die „ökonomische Gesellschaftsformation" wird im Schlußsatz der Passage sehr eindeutig die „bürgerliche Gesellschaft" synonym auch als „Gesellschaftsformation" bezeichnet. Der gemeinte Sinn scheint recht klar zu sein, wenn auch die Terminologie keineswegs eindeutig ist: Marx subsumiert hier unterschiedliche Gesellschaftsformen, deren er hier vier nennt, unter die „ökonomische Gesellschaftsformation" und bringt diese „Produktionsweisen" in eine Abfolge, eine „Progression". Damit ist hier nichts von einer Notwendigkeit gesagt, mit der etwa von national abgegrenzten Einzelgesellschaften bestimmte Stadien zu durchlaufen wären, wie dies spätere Konzepte postuliert haben. Es darf aber unterstellt werden, daß Marx mit „Progression" die Annahme verband, diese unterschiedlichen Ausformungen bauten aufeinander auf. Diese Sichtweise wird bereits durch die Erläuterung des berühmten Diktums im Kommunistischen Manifest bekräftigt, „die Geschichte aller bisherigen Gesell173
schaft ist eine Geschichte von Klassenkämpfen". Als Beleg dient die Abfolge der Gegensatzpaare „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell". Offensichtlich haben diese jeweils durch polare Sozialcharaktere beschriebenen Verhältnisse historisch nebeneinander und zueinander verschränkt existiert. So gab es im alten Rom sklavenhaltende Patrizier, die zugleich politische und wirtschaftliche Privilegien gegenüber Plebejern genossen, und das west- und mitteleuropäischen Mittelalter war geprägt durch weitverbreitete Leibeigenschaft auf dem Land und Zunftverhältnisse in der Stadt. Dementsprechend ist „in den früheren Epochen der Geschichte ... fast überall ... eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen" zu finden. Dagegen hat die „moderne bürgerliche Gesellschaft... die Klassengegensätze vereinfacht" auf „zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat".18 Exemplarisch und auch empirisch nachweisbar sah Marx diese Vereinfachung der Klassenverhältnisse im Mutterland des industriellen Kapitalismus - mit unmittelbaren Konsequenzen für die erwartete Verlaufsform des Klassenkampfes. So kommentierte er den Wiederaufschwung der chartistischen Bewegung in den 1850er Jahren: „In keinem anderen Land hat die Despotie des Kapitals und die Arbeitssklaverei einen so hohen Grad erreicht wie in Großbritannien. Nirgends sind die Zwischengruppen zwischen dem Millionär, der über ganze industrielle Armeen herrscht, und dem Lohnsklaven, der nur von der Hand in den Mund lebt, so gründlich vom Erdboden hinweggefegt worden. (...) Deshalb hat der Krieg zwischen den beiden Klassen, die die moderne Gesellschaft ausmachen, in keinem anderen Lande so kolossale Ausmaße und so ausgeprägte und unverhüllte Züge angenommen."19 Ältere gesellschaftliche Zustände dienen demgegenüber, neben dem Nachweis der Gewordenheit und Vergänglichkeit aller sozialen Verhältnisse, in erster Linie als Folie, um die Spezifika der „modernen bürgerlichen Gesellschaft" klarer herauszuarbeiten. Allen diesen Überlegungen liegt ein weltgeschichtliches Schema zugrunde, dessen deutliche Spuren sich auch noch in dem später kanonisierten Fünf-Phasen-Schema finden. Die Grundvorstellung, die im Hintergrund der Reflexionen von Marx über geschichtliche Vorgänge steht, geht auf Konzepte der Aufklärung zurück, in denen die Entwicklungsgeschichte der Menschheit an räumliche Verschiebungen angekoppelt wurde.20 Danach setzt die weltgeschichtliche Entwicklung im Fernen Osten oder im Orient ein und fuhrt über den Mittelmeerraum nach Westeuropa, wobei den entsprechenden Großregionen einzelne Entwicklungsstadien oder -epochen zugeordnet werden. Vorgeformt findet sich dieses Modell vor allem bei Herder,21 die einflußreichste Fassung ist jedoch Hegels Philosophie der Weltgeschichte.22 Anders als Hegel betont Marx freilich die materiellen Grundlage dieses Prozesses, die er mit unterschiedlichen Produktionsweisen benennt. Auf diesen Begriff 174
ist zurückzukommen. Marx hat später im Kapital den Terminus „Gesellschaftsformation", im einzelnen in unterschiedlichen Versionen, eher auf einzelne der zuvor so bezeichneten „Epochen" bezogen und dabei vor allem unterschiedliche Formen etwa von Arbeitsmitteln oder auch der Mehrarbeit sowie der Verknüpfung zwischen Arbeitsmitteln und Produzenten herausgestellt, nach denen sie sich untereinander, vor allem aber von der kapitalistischen Gesellschaft unterscheiden.23 Doch legt die Bezeichnung „alle ökonomischen Formen der Gesellschaft" für die Gesamtheit der genannten Epochen24 wiederum die Frage nahe, ob noch andere Gesellschaftsformationen oder -formen aufzufinden seien, die eventuell nicht als „ökonomisch" zu bezeichnen wären. Wie sich zeigt, ist Marx so wenig wie viele vor und nach ihm ein Autor, der es der späteren Textexegese durch gußeiserne, festgelegte Formeln und Kategorien leicht gemacht hätte, und es ist vielleicht eine der Ironien seiner Rezeption, daß gerade sein Werk einer so strikten Dogmatisierung unterzogen wurde, wie schwerlich das eines anderen der sozialwissenschaftlichen Klassiker. Gerade deshalb ist eine genaue Lektüre geboten. Speziell die Marxsche Konzeption der Weltgeschichte erführ eine deutliche Zäsur mit der verstärkten Rezeption zeitgenössischer ethnologischer Forschungen25 und der intensiven Auseinandersetzung mit Problemen des Grundeigentums, zumal in seinen gemeindeförmigen Ausprägungen im zeitgenössischen Rußland und Indien.26 Dies hatte nicht nur Konsequenzen für die Revision der oben zitierten Formel des Kommunistischen Manifests, alle bisherige Geschichte sei eine Geschichte von Klassenkämpfen; Engels beschränkte die Geltung dieser Annahme nun unter Verweis auf die neuen Entdeckungen der gemeindeförmigen „Urform der Gesellschaft ... von Indien bis Irland" und auf die verwandtschaftliche „innere Organisation" der „urwüchsigen kommunistischen Gesellschaft", auf „die schriftlich überlieferte Geschichte".27 Bei alledem ging es nicht um eine formale Übung, sondern um eng miteinander verschränkte Anliegen: Das enzyklopädische Interesse an gesellschaftlichen Verhältnissen und Vorgängen, die damit zusammenhängende unablässige Neugier sind notwendige Voraussetzungen umfassender Entwürfe von Geschichts- und Gesellschaftstheorie. Vor allem in der Korrespondenz zwischen Marx und Engels sind sie mit Händen zu greifen. Es ging aber um mehr, um Fragen, die mit den politischen Zielsetzungen der theoretischen Anstrengung von Marx eng verbunden waren: Zum einen ist hier an die Rekonstruktion der Stellung moderner Gesellschaften in ihrem übergreifenden, nach vorne offenen, auf grundlegende Veränderung hintreibenden historischen Zusammenhang zu denken. Zugleich aber leiteten sich wesentliche Anstöße für diese Überlegungen aus aktuellen Anlässen ab, vor allem aus den Fragen, die aus dem Umkreis der neu einsetzenden revolutionären Bewegung in Russland ausdrücklich gestellt wurden und aus der Sicht von Marx eine Antwort 175
vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit universalhistorischen Fragen zwingend notwendig machten. Die miteinander verschränkten Fragenkomplexe der Gemeindeorganisation und der Entwicklungsform der Weltgeschichte gewannen unmittelbar politische Brisanz mit dem Auftreten einer revolutionären Bewegung in Rußland seit den 1860er Jahren. Die Aktivitäten der russischen Populisten oder Volkstümler boten Anlaß zu der Hoffnung, die Zarenherrschaft als Hort der politischen Reaktion in Europa werde in naher Zukunft von innen aufgebrochen werden. Dies führte zu intensiven politischen Kontakten zwischen Marx und besonders Engels und russischen revolutionären Gruppen. Deren allmähliche Abkehr von populistischen Positionen war mit einer Überprüfung der Bedeutung der russischen Dorfgemeinde (obscina, mir) verbunden, die mit ihrer regelmäßigen Umverteilung der Felder und der solidarischen Haftung für Steuern und Abgaben als Beleg eigenständiger sozialistischer Verhältnisse aufgefaßt wurde und einen anderen Weg in die Zukunft zu weisen schien als der westeuropäische Kapitalismus und die Arbeiterbewegung. Eine entsprechende, von Vera Zasulic (Wera Sassulitsch) an ihn gerichtete Anfrage war für Marx der Anlaß, in vier Entwürfen zu einer Antwort weiterführende Überlegungen zur Formationsproblematik anzustellen. Auch in seiner schließlich abgeschickten kurzen Antwort ließ Marx keinen Zweifel, daß er für Rußland eine andere Entwicklung für möglich halte, als er selbst sie für „Westeuropa" analysiert hatte. Er verwies dabei darauf, daß der Übergang zum Kapitalismus im Westen „die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums" bedeute, in Rußland dagegen die weitere kapitalistische Entwicklung bedeuten würde, „Gemeineigentum in Privateigentum um(zu)wandeln". Dabei sei die Dorfgemeinde, wie die russischen Populisten annahmen, „der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands".28 Diese Überlegung impliziert ein Modell der sozialen Evolution, das nicht eine für alle menschlichen Gesellschaften mehr oder weniger verbindliche Reihe von Stadien vorsieht, sondern mehrlinig konzipiert ist. Die Konsequenzen eines solchen Konzeptes sind erheblich, wie sich bei Marx vor allem in den Entwürfen zu dem zitierten Brief nachlesen läßt. Hier bezeichnet Marx die „Ackerbaugemeinde", die im Unterschied zu allen anderen Gemeindeformen bereits „parzellierte Arbeit als Quelle der privaten Aneignung" und damit der besitzmäßigen Differenzierung kenne, als „letzte Phase der primitiven Gesellschaftsformation".29 Er erläutert dies mit einem Verweis auf die Geologie, denn ebenso wie „die archaische Formation unseres Erdballs ... eine Reihe von Schichten verschiedenen Alters" enthält, „enthüllt uns die archaische Formation der Gesellschaft eine Reihe verschiedener Typen".30 Der Typus der Ackerbaugemeinde, dem Marx auch die obscina zuordnet, unterschei176
det sich von „allen früheren Urgemeinschaften" weiter dadurch, daß sie nicht auf „der Blutsverwandtschaft ihrer Mitglieder",31 sondern auf Nachbarschaft beruht. Sie weist einen „Dualismus" auf, der zum Ausdruck kommt im gemeinsamen Eigentum am Boden mit periodischer Umverteilung einerseits, aber andererseits individuellem Eigentum an Haus und Haushalt.32 Dies bedingt die Möglichkeit des Übergangs „von der primären zur sekundären Formation",33 der in Westeuropa vollzogen wurde, in Rußland aber als „einzige(m) europäische(n) Land"34 nach Marxens Auffassung bisher nicht eingetreten war. Wie heute feststeht, fußte diese Analyse der russischen Dorfgemeinde auf völlig falschen historischen Voraussetzungen.35 Damit ist aber der konzeptionelle Zugriff von Marx nicht erledigt: Im Kern geht es um die Konstruktion der Menschheitsgeschichte. Und hier werden von Marx in deutlichem Kontrast zu unilinear evolutionistischen Vorstellungen mehrere Entwicklungswege menschlicher Gesellschaften skizziert. Es gibt die durch den Dualismus der Ackerbaugemeinde konstituierte „Alternative" des Übergangs der Dorfgemeinde zum individuellen Eigentum oder des Sieges des „kollektiven Element(s)", und die Entscheidung ist abhängig „vom historischen Milieu".36 Dazu zählt Marx im gegebenen Fall auch „die Gleichzeitigkeit mit der westlichen Produktion".37 Es gibt in dieser Konzeption neben strukturellen Gegebenheiten sowie deren internen Spannungen, die zur Auflösung des Dualismus der Ackerbaugemeinde in die eine oder andere Richtung drängen, mithin historisch kontingente, nicht aus dem Systemzusammenhang der Gemeinde erklärbare Momente, die die historische Entscheidungssituation wesentlich beeinflussen. Mehr noch: Zu diesen Momenten zählen auch andere, in unterschiedlichem Kontext entstandene Gesellschaftsformen, die freilich im Falle des Kapitalismus universell auf alle anderen Gesellschaften einwirken.38 Das Konzept der archaischen und sekundären Formation entspricht dem im Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie angedeuteten Begriff einer mehrere „Epochen" übergreifenden „ökonomischen Gesellschaftsformation", die dann ihren Namen insofern zurecht trüge, als in ihr die jeweilig vorherrschende, für alle anderen gesellschaftlichen Beziehungen prägende Ausformung der individuellen Eigentumsverhältnisse entscheidend für die Unterscheidung der „Epochen" angesehen werden könnte. Die in den Entwürfen des Briefes an Vera Zasulic skizzierten Überlegungen unterstreichen zugleich, daß es keine notwendige Abfolge unter diesen Ausformungen der „ökonomischen Gesellschaftsformation" geben muß. Der an Hegel orientierte Katalog aus dem Vorwort von 1859 bezeichnet daher zwar eine Progression, tut dies aber nur auf universalgeschichtlichem Niveau und, von der „Urgemeinschaft" abgesehen, beschränkt auf die später als „sekundär" bezeichnete Formation. 177
3.2.2 Produktionsweisen und die Heterogenität realer Gesellschaften Die Problematik der Kategorie der Gesellschaftsformation erschöpft sich freilich nicht in der Rekonstruktion der Entwicklungswege menschlicher Gesellschaften. Eine weitere wesentliche Dimension tritt hinzu, wenn wir den eng damit verknüpften Begriff der Produktionsweise betrachten. In verschiedenen Versuchen zur Systematisierung eines „marxistischen" Kategoriengebäudes sind beide zueinander in eine hierarchische Beziehung gesetzt worden, wobei die „Produktionsweise" etwa Grundstrukturen, oft die „Produktionsverhältnisse" und die „Produktivkräfte" umfassen, dagegen die „Gesellschaftsformation" zugleich den Rahmen für alle weiteren gesellschaftlichen Verhältnisse einschließlich weiterer Produktionsweisen bezeichnen sollte. Häufig wurde die Gesellschaftsformation dabei auf einen nationalstaatlich umgrenzten Rahmen bezogen. Dabei wurde jeweils eine Produktionsweise als die „dominierende" ausgezeichnet.39 Das ist nur schwer vereinbar mit der Vorstellung von Gesellschaftsformationen als Bestandteilen eines übergreifenden, mehrlinigen Konzeptes der sozialen Evolution oder auch mit der zweiten Bedeutung, in der Marx von der „bürgerlichen Gesellschaftsformation" spricht. Es kommt hinzu, daß der Marxsche Sprachgebrauch auch im Fall des Terminus „Produktionsweise" überaus flüssig ist. Dies soll zunächst knapp skizziert werden, um dann eine übergreifende, bewußt über Marx hinausgehende Lösung der Gesamtproblematik vorzuschlagen. Allein in den Kapitel-Schriften wird „Produktionsweise" in zwei klar voneinander zu unterscheidenden Bedeutungen benutzt. Die Grundthese dürfte lauten: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt."40 In ähnlicher Weise räumt Marx zwar ein, daß im „Mittelalter" der „Katholizismus", in „Athen und Rom ... die Politik herrschte", gibt jedoch zu bedenken, daß sie davon „nicht ... leben konnte(n). Die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen, erklärt umgekehrt" jeweils die Vorherrschaft von Religion oder Politik,41 die für Marx demnach determiniert ist durch die Produktionsweise im bezeichneten Verständnis. Die Produktionsweise schließt, wie schon vor dem Auftreten dieses Terminus in der Deutschen Ideologie betont wurde, mit der Verflechtung „in die materielle Tätigkeit" die „Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins" mit ein.42 Ferner aber läßt Marx aus „einer bestimmten Produktionsweise" und den ihr entsprechenden „Eigentumsformen ... auch die Produktions- und Austauschverhältnisse ... entspringen".43 Hier wird jeweils in unterschiedlicher Nuancierung der Systemcharakter der durch die Produktionsweise determinierten Verhält178
nisse und ihre Rückkoppelung an die gesellschaftliche Form des materiellen Lebensprozesses der Menschen betont. Wenn andererseits auf die „beständigen revolutions in der Produktionsweise, daher den Produktionsverhältnissen, Verkehrsverhältnissen und Lebensweise" verwiesen wird,44 so ist ebenfalls der systemische Zusammenhang bezeichnet, der Terminus „Produktionsweise" aber stärker auf den Produktionsprozeß bezogen als in den anderen hier angeführten Versionen. Dem entspricht auch die Bedeutung, die Marx den „Reliquien von Arbeitsmitteln für die Beurteilung untergegangner ökonomischer Gesellschaftsformationen" beimißt. Doch auch hier geht es in erster Linie um die Spezifizierung der - in diesem Fall sachlich ausgedrückten - Formbestimmung: „Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen." 45
3.2.3 Reproduktion und Komplexität Doch ist „die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen", bezogen auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht erschöpft mit den Warenbeziehungen, die für die Kritik der politischen Ökonomie schon von ihrem Ausgangspunkt ins Zentrum rücken müssen, der ja bestimmt ist durch den avanciertesten theoretischen Ausdruck des Bewußtseins der bürgerlichen Gesellschaft von sich selbst. Daraus ergeben sich nicht nur thematische Beschränkungen, sondern auch theoretische Engführungen, die Rückwirkungen haben auf die Bedeutung der Kategorien der Gesellschaftsformation und der Produktionsweise. Doch erlauben diese Kategorien gehaltvolle theoretische Aussagen, die ohne sie nicht möglich wären, freilich unter der Bedingung einer kritischen Revision vor allem der thematischen Beschränkungen. Am nachhaltigsten sind derartige Beschränkungen angegriffen worden im Hinblick auf die Abspaltung der Sphäre häuslicher Reproduktion nicht nur von dem Bereich öffentlichen gesellschaftlichen Austauschs, sondern auch vom Themenbereich der damit befaßten Theorie. Der Ausschluß aus dem Begriff der produktiven im Sinne von wertbildender Arbeit46 hat die Abdrängung aller jener Arbeitsformen aus dem öffentlichen und damit dem entscheidenden gesellschaftlichen Zusammenhang bestätigt, die nicht über den Markt vermittelt sind. Vor allem die in der paradoxen Welt nicht nur der politischen Ökonomie, sondern vor allen Dingen des Marktes und der verallgemeinerten Lohnarbeit „unproduktiven" Arbeiten im häuslichen Bereich sind zugleich notwendig, ja unverzichtbar zur Reproduktion der Arbeitskraft. Damit wäre auch die erweiterte Reproduktion des Kapitals nicht denkbar ohne die regelmäßige und kontinuierliche Verrichtung solcher unentlohnter Arbeit. Hausarbeit wird darüber hinaus in der Regel in gesellschaftlichen Zusammenhängen 179
verrichtet, die zwar durch Markt- und Kapitalbeziehungen determiniert, zugleich aber durch Geschlechterverhältnisse bestimmt sind, die ihrerseits durch asymmetrische Verteilungen von Verfügungsgewalt und Herrschaft geprägt sind. Die Debatte über Hausarbeit hat nicht zuletzt auch die quantitative Bedeutung dieser Verhältnisse deutlich gemacht. Eine Gesellschaftstheorie, die es unternehmen will, hinter die Paradoxien moderner Gesellschaften zu kommen, wird sich nicht damit zufrieden geben können, sie allenfalls zu notieren und darüber zur Tagesordnung des Marktgeschehens zurückzukehren, wie es die klassische politische Ökonomie ebenso wie noch ihre Kritik und der überwiegende Teil der nachfolgenden Sozial- und Wirtschaftswissenschaft glaubte tun zu können. Im Kontext speziell der Marxschen Theorie läßt sich zusätzlich beobachten, daß die Problematik der menschlichen Reproduktion und mit ihr die der Geschlechterverhältnisse nicht nur auf den weder politisch noch ökonomisch thematisierten Bereich von Familie und Verwandtschaft abgeschoben, sondern vor allem in der späteren Phase der intensiven Rezeption ethnologischer Literatur gleichsam der Vorgeschichte anheimgegeben wird. Dies gilt zumal für „die Aufteilung der Geschichte in zwei völlig heterogene Teile",47 wie sie Engels in seiner folgenreichen Darstellung von Verwandtschaftsverhältnissen als prägende Strukturen vor der Herausbildung von Privateigentum, Staat und Klassen vollzogen hat.48 Auch in Abweichung von der Vorlage49 stehen hier schroff getrennt die vor allem verwandtschaftlich organisierten, weitgehend egalitären und matriarchalischen Vorklassengesellschaften den durch Eigentumsdifferenzen, staatliche Organisation und Patriarchat geprägten Klassengesellschaften gegenüber. Durch diese Konzeption wird zwar der Herrschaftscharakter des Patriarchats sicher nicht geleugnet, er wird im Gegenteil sogar noch betont. Gerade durch den Gegensatz der herausgestellten gesellschaftlichen Organisationsprinzipien der Verwandtschaft einerseits, von Staat und Klassen andererseits aber wird die ganze Problematik am Ende dennoch in den gesellschaftlichen Randbereich verschoben. Diese Problematik zeichnet freilich nicht allein die Marxsche Theorie aus. Vielmehr dürfte sie diese Schwäche mit der großen Mehrzahl gesellschaftstheoretischer Entwürfe teilen. Die von Marx skizzierten Kategorien erlauben jedoch eine immanente Lösung. Dabei ist es entscheidend, die vor allem in der Marx-Orthodoxie gängige einfache Zuordnung von Produktionsverhältnissen, Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen aufzugeben. Offenbar ist die zitierte Prognose50 aus dem Kommunistischen Manifest, daß die Entwicklung des Kapitalismus die Produktionsverhältnisse bis auf die klare und schroffe Gegenüberstellung von „Bourgeoisie und Proletariat" vereinfachen werde, aus systematischen Gründen so nicht eingetroffen. Wenn das Kapital vielmehr zu seiner Reproduktion außer Lohnarbeit notwendig weitere, in der Regel unbezahlte Momente benötigt, so ist 180
es berechtigt, hier von subordinierten, d.h. von Kapital- und Lohnabhängigkeitsverhältnissen wesentlich geprägten, aber dennoch klar von diesen zu unterscheidenden Reproduktionsverhältnissen zu sprechen. Diese können ihrerseits als wesentlicher Teilbereich der übergreifenden Kategorie der nicht marktgängigen Subsistenzproduktion verstanden werden, die neben Haus- und sonstiger Reproduktionsarbeit auch andere produktive Tätigkeiten umfaßt, die auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung oder jedenfalls nicht auf Erwerb ausgerichtet sind und in neuerer Zeit als „Eigenarbeit" bezeichnet, teilweise zuletzt auch unter die Rubrik des „Ehrenamtes" gefaßt wurden. Empirisch ist die Vereinfachung der Klassenverhältnisse industriekapitalistischer Gesellschaften auch in der Hinsicht nicht eingetreten, daß im Verlauf der wirtschaftlichen, besonders auch der technologischen Entwicklung immer wieder auch neue Bereiche kleinbetrieblichen Wirtschaftens entstanden sind, die oft genug zu Motoren der Innovation geworden sind. Zwar kann die deutliche Zunahme des Anteils der abhängig Beschäftigten an der Erwerbsbevölkerung durchaus als Beleg für anhaltende Tendenzen zur Proletarisierung im genauen Sinn der Marxschen Theorie gelten; zugleich aber verweist die wiederholte Erneuerung des kleinbetrieblichen Sektors auf Verhältnisse, die sicher nicht mehr als Überreste vorkapitalistischer, prämoderner Produktionsstrukturen anzusprechen sind, sondern innerhalb des industriellen Kapitalismus spezifische Verhältnisse darstellen. Systematisch geht es bei alledem vor allem darum zu zeigen, daß gerade auch ein Konzept wie das der kapitalistischen Produktionsweise wesentlich komplexere und vielgestaltigere gesellschaftliche Verhältnisse bezeichnen kann, als dies in der der einfachen Gegenüberstellung von Kapitalinstanz und Lohnabhängigen auf den ersten Blick zum Ausdruck kommt. Auch in diesem für die Kategorienbildung bei Marx zweifellos paradigmatischen Fall wären der Produktionsweise also eine Mehrzahl unterschiedlicher Produktionsverhältnisse und entsprechender gesellschaftlicher Beziehungen, zumal Herrschafts-, aber auch Kooperationsverhältnisse zuzuordnen. Die Subsumtion mehrerer unterschiedlicher Ausformungen von Produktionsverhältnissen unter eine Produktionsweise - hier die kapitalistische - ist Marx übrigens auch nicht fremd. Das zeigt vor allem seine Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in den großen europäischen Siedlungskolonien seiner Zeit und der darauf bezogenen Kolonisationstheorie. Marx verweist hier verschiedentlich darauf, daß die moderne Form der Sklavenarbeit sich nicht aus Verhältnissen in den Kolonien oder den Herkunftsgebieten der Sklaven erklärt, sondern allein aus den spezifischen Bedingungen, unter denen hier kapitalistisch im Sinne der Verwertung des Kapitals und entsprechend der damit bezeichneten Logik und Zwänge produziert wurde, aber eben keineswegs in der Form des Lohnverhältnisses.51 Wird demnach die spezifische Differenz zwischen den unter181
schiedlichen Produktionsverhältnissen berücksichtigt, so bedeutet dies keineswegs, daß deren Zusammenhang aus dem Blickfeld geraten muß. Er ist konstituiert durch das Prinzip der Kapitalverwertung. Dieser Zusammenhang ist demnach vielgestaltig und zugleich bestimmt durch kapitalistische Verwertungsprozesse. Er ist dementsprechend ungeachtet mannigfacher Abweichungen und Variationen in den Produktionsverhältnissen auch durch die kapitalistische Produktionsweise geprägt und determiniert. Um bei dem genannten Beispiel zu bleiben: In diesem Bezugsrahmen ist die moderne Plantagensklaverei immer zu unterscheiden etwa von dem Bild der antiken Sklaverei, auf das Marx verschiedentlich Bezug genommen hat.52
3.2.4 Die Dynamik der gesellschaftlichen Verhältnisse Freilich wäre die Konzeption der Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen unvollständig, wenn nicht die ihnen von Marx beigemessene Dynamik berücksichtigt würde. In der klassischen Formulierung des Vorwortes von Zur Kritik der Politischen Ökonomie wird diese Dynamik beschrieben als der Widerspruch, in den die Produktivkräfte auf einer bestimmten Entwicklungsstufe zu den Produktionsverhältnissen geraten. Doch dieser Widerspruch tritt nicht unmittelbar in Erscheinung, sondern in „den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin die Menschen sich dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten".53 Für die Analyse solcher Prozesse wäre damit die schwierige Aufgabe formuliert, durch diese „ideologischen Prozesse" hindurch die strukturellen Umwälzungen aufzuzeigen. Zugleich ist damit gesagt, daß die durch solche Umwälzungen hervorgebrachten „neue(n) höhere(n) Produktionsverhältnisse"54 auf den von den überlebten geschaffenen Grundlagen aufbauen. Marx hat für die kapitalistische Produktionsweise genauer dargelegt, wie er sich diese „geschichtliche Tendenz" 55 vorgestellt hat. Diese Skizze beleuchtet nicht nur eine besonders kontroverse Dimension seiner Konzeption gesellschaftlicher Entwicklung, sondern einmal mehr zugleich seinen Gesetzesbegriff. Marx benennt zunächst die Grenzen des Kleinbetriebs, in dem der Arbeiter als Bauer oder Handwerker „freier Privateigentümer seiner von ihm selbst gehandhabten Arbeitsbedingungen ist". Dies ist zunächst einmal „eine notwendige Bedingung für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion und der freien Individualität des Arbeiters selbst".56 Arbeitsvermögen, aber auch Bedürfnisse können sich demnach nicht entfalten unter den Bedingungen der Knechtschaft, d.h. unfreier Arbeit. Solche Prozesse werden begünstigt durch den freien und individuellen Bezug zum Arbeitsprozeß und seinen Produkten. Auf der anderen 182
Seite ist aber mit dieser „Produktionsweise ... Zersplitterung des Bodens und der übrigen Produktionsmittel" unterstellt und damit „auch die Kooperation, Teilung der Arbeit innerhalb derselben Produktionsprozesse, gesellschaftliche Beherrschung und Reglung der Natur" ausgeschlossen: „Sie ist nur verträglich mit engen naturwüchsigen Schranken der Produktion und der Gesellschaft" und behindert daher die „freie Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte".57 Gerade die Entwicklung jener Produktivkräfte, die das Kapital durch die Zusammenführung der Arbeiter und die Organisation der Kooperation unter seinem Kommando in der Fabrik, aber auch durch seine Tendenz zur Zentralisation und Konzentration schafft,58 ist also durch die Funktionsprinzipien der kleinbetrieblichen Produktionsweise verbaut, in der jeder für sich allein im eigenen Betrieb arbeitet. Doch Marx beläßt es nicht bei dem Hinweis auf die Grenzen der kleinbetrieblichen Produktionsweise - er erblickt eben darin auch ihre historische Dynamik: „Auf einem gewissen Höhegrad bringt sie die materiellen Mittel ihrer eignen Vernichtung zur Welt." Der alten Produktionsweise stehen nun „Kräfte und Leidenschaften entgegen, welche sich von ihr gefesselt fühlen," und ihre „Vernichtung" bedeutet den strategischen Umbruch der Grundstrukturen: „die Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte, daher des zwerghaften Eigentums vieler in das massenhafte Eigentum weniger". Dies ist gleichbedeutend mit der Schaffung eines massenhaften Proletariats, „der Expropriation der großen Volksmasse von Grund und Boden und Lebensmitteln und Arbeitsinstrumenten;" dies ist, wie Marx betont, die gewaltsame „Vorgeschichte des Kapitals".59 Die Geschichte des Kapitals selbst konstruiert Marx als Fortsetzung des Expropriationsprozesses, der freilich jetzt „durch die Zentralisation der Kapitale" den „viele Arbeiter exploitierende(n) Kapitalist(en)" trifft: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot." 60 Die damit bezeichnete kapitalistische Konkurrenz ist verbunden mit der Ausweitung der Kooperation der Arbeit, der Technisierung und Verwissenschaftlichung der Produktion, der „planmäßige(n) Ausbeutung der Erde" sowie der Bindung der Arbeitsmittel an den kooperativen Arbeitsprozeß, ohne den sie nicht mehr angewendet werden können. Schließlich nennt Marx die „Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts".61 In diesem Bezugsrahmen sieht Marx die Entfaltung des entscheidenden Widerspruchs. Der „beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten" stehen nun gegenüber die wachsende „Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses geschulten, vereinigten und organisierten Arbeiterklasse".62 Die aus Marxscher Sicht nach vorne weisenden Tendenzen lassen sich grundsätzlich nicht auf Dauer eindämmen: „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der
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Produktionsweise," und schließlich tritt erneut eine Situation ein, in der es zum Umschlag kommt: „Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert."63 Beide hier skizzierten Entwicklungsabläufe, der Ubergang von der kleinbetrieblichen in die kapitalistische Produktionsweise und die Sprengung des „Kapitalmonopols", sind parallel konstruiert und werden in engen Bezug zueinander gesetzt, nämlich durch die jeweilige Transformation der „Aneignungsweise" und damit des Eigentums. Sie folgen nicht nur auf- und auseinander, sondern auch die Sprengung der „kapitalistischen Hülle" ist mit der Expropriation der Kleineigentümer vermittelt, die der kapitalistischen Produktion vorausgegangen ist. War diese „Negation des individuellen ... Privateigentums", so erzeugt „die kapitalistische Produktion ... mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation." Das bedeutet nicht die Wiederherstellung der früheren Verhältnissen, vielmehr versteht Marx sie als bestimmte Negation in genau dem Sinne, daß sie auf der „Errungenschaft der kapitalistischen Ära" aufbaut, also „individuelle(s) Eigentum auf Grundlage ... der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel".64 Marx postuliert demnach nicht nur Widersprüche und Spannungen, die in unterschiedlichen Gesellschaftstypen zum Motor der Veränderung werden; er konstatiert nicht nur, daß solche Veränderungen gerichtet zumindest insofern sind, daß sie negativ oder auch positiv auf die nun vergangenen, überwundenen oder aufgehobenen Verhältnisse bezogen sind und daher auf ihnen aufbauen. Speziell für die kapitalistische Produktionsweise nimmt Marx zugleich eine spiralförmige Höherentwicklung an gegenüber der negierten Kleinproduktion. Diese selbst kann schwerlich als vollständige Beschreibung der vorkapitalistischen Verhältnisse in Westeuropa gemeint sein, da Marx sich sehr wohl bewußt war, daß vor dem Aufstieg des Kapitalismus nicht alle Leute Kleineigentümer gewesen sind. Es geht vielmehr um eine idealtypische Folie für die Negation des Privateigentums, auf die es hier ankommt. Die Zukunftserwartung der Negation der Negation leitet sich ihrerseits aus der Extrapolation unterschiedlicher Tendenzen ab, die aus Marxscher Sicht freilich objektiv gegeben waren. Das gilt für die Ergebnisse der Konkurrenz mit Konzentration und Zentralisation des Kapitals wie für technologische Entwicklungen und endlich das Ansteigen von Elend und Empörung. Diese bilden zugleich das subjektive Moment der erwarteten Umwälzung. Sie selbst aber werden noch einmal in objektiven Strukturen verankert: der kapitalistischen Betriebsorganisation und Arbeitsdisziplin. Die Schlüssigkeit gera184
de dieser Erwartung auf die subjektive Aktion der durch das Kapital organisierten Arbeiter muß nicht nur aufgrund der inzwischen eingetretenen historischen Entwicklung bezweifelt werden. Auch immanent bleibt hier die Vermittlung zwischen objektiven, durch Konkurrenz und technologische Entwicklung vorgegebenen Tendenzen und den Motivationen handelnder Menschen unklar, die nur durch den Bezug auf „Leidenschaften" und „Empörung" angesprochen werden.65 Im Zusammenhang mit Marxens konkreten Analysen zu Struktur und Handlungsweisen kollektiver Subjekte ist darauf zurückzukommen.66 Die Problematik dieser Prognosen, die das Ende der kapitalistischen Produktionsweise einordnen in ein Konzept der gesellschaftlichen Höherentwicklung, kontrastiert auffällig mit der Reihe klarsichtiger Aussagen über die Fortentwicklung des Kapitalismus, etwa im Hinblick auf die Konzentration des Kapitals, die Verwissenschaftlichung der Produktion, die Umwälzungen des Arbeitsprozesses oder auch die Naturschranken kapitalistischer Produktion. Die Skizze der Dynamik und gegenseitigen Hervorbringung von Gesellschaftsformationen oder Produktionsweisen verweist aber zugleich auf eine Reflexionsebene, die im Kapital gegenüber dem Entwurf der Grundrisse deutlich zurückgedrängt ist. Mit der Differenzierung der Eigentumsformen und mit der Unterscheidung zwischen kollektivem und individuellem sowie privatem Eigentum ebenso wie mit dem Hinweis auf die historische Rolle des Kleinbetriebes als Ort der Entfaltung individueller Fähigkeiten ist die Problematik der Individuation verbunden, die Marx als langfristig historischen Prozeß der Trennung sowohl von kollektiven Verhältnissen wie auch letztlich vom Eigentum konstruiert hat. Dies soll zugleich helfen, das Bild der Abfolge von Gesellschaftsformationen in der Marxschen Konzeption weiter zu differenzieren.
3.3 Prozesse der Trennung: Natur, Arbeit und Eigentum Da Marx die kapitalistische Produktionsweise als System auffaßt, in dem das Kapital unter seinen eigenen Bedingungen beständig auf stets erweiterter Stufenleiter reproduziert wird, muß er den historischen Ursprung dieses „fehlerhaften Kreislaufes)"67 außerhalb der durch ihn bezeichneten Verhältnisse suchen. Er sieht diesen Ursprung im ausdrücklichen Gegensatz zur klassischen politischen Ökonomie nicht in einem Prozeß der Aufhäufung von Reichtum, sondern in historischen Umwälzungen, wobei „Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle" spielen.68 Wenn Marx die Funktionsweise des Kapitalismus einschließlich des Ausbeutungsmechanismus der Lohnarbeit nachdrücklich allein aus dem Äquivalententausch erklärt, wo es unter den gegebenen 185
Bedingungen nach Recht und Gesetz und ohne manifeste Gewalt zugeht, so sieht er beim Zustandekommen dieser Verhältnisse umgekehrt krassen Rechtsbruch und vielfältige, blutige Gewalt am Werk. In kritischer Unterscheidung zu Adam Smith spricht Marx daher nicht von „ursprünglicher Akkumulation" - womit gerade ein allmählicher, rechtsförmiger Prozeß der Reichtumsbildung bezeichnet würde - sondern von der „sogenannten ursprünglichen Akkumulation",69 die er bestimmt als den „Scheidungsprozeß des Arbeiters von seinen Arbeitsbedingungen."70 Die genauere Betrachtung der zuvor bereits angesprochenen Trennungsprozesse71 ist daher geeignet, die historische Perspektive zu verdeutlichen, in der Marx die kapitalistische Produktionsweise, das Zentrum seines theoretischen Bemühens gesehen hat.
3.3.1 Sogenannte ursprüngliche Akkumulation Die Darstellung dieses Prozesses, wie Marx ihn für Großbritannien etwa von der Herrschaft Heinrichs VIII bis zur industriellen Revolution rekonstruiert hat, gehört zu den eindrucksvollsten, aber auch zu den kontroversesten Passagen im Kapital.72 Im Mittelpunkt steht dabei die Vertreibung großer Massen von unmittelbaren Produzenten vom Land durch den Entzug des Zugangs zu diesem wichtigsten Produktionsmittel. Dies nahm vor allem die Form der berühmten Einhegungen (enclosures) von Gemeindeland (commons) an, die vor allem die unterbäuerlichen Schichten ihrer Lebensgrundlage beraubte. Dieser sozialhistorische Prozeß ist mittlerweile noch sehr viel gründlicher erforscht worden; vor allem die Zeitintervalle zwischen der Enteignung und Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung und ihrer Absorption als industrielle Arbeitskräfte ist weit differenzierter zu sehen. Der über etwa 200 Jahre sich hinziehende Verlust eines Zugangs zu Ressourcen, der nicht über individuelles Eigentum, sondern über kommunale Rechte vermittelt war, tritt aber eher noch deutlicher hervor.73 Entscheidend sind hier jedoch die Formwandlungen von Eigentum und der damit vermittelten gesellschaftlichen Verhältnisse. Über den im Kapital benannten „Formwechsel (der) Knechtung"74 hinaus werden sie in den Grundrissen im Zusammenhang mit der sogenannten ursprünglichen Akkumulation in eine sehr viel weiter ausholende historisch-genetische Perspektive gestellt. Aus der Perspektive der Formbestimmung ist der entscheidende Vorgang in dem historischen Prozeß, den Marx als sogenannte ursprüngliche Akkumulation bezeichnet, der einschneidende Akt der Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln. Hinter diesen dürren Begriffen verbergen sich existentielle Brüche, die auch über die Gewaltsamkeit des Prozesses und die mit ihm einhergehende Verelendung weit hinausgehen: Marx erinnert zunächst daran, daß 186
„im und durch" den kapitalistischen Verwertungsprozeß, nach der Seite des Arbeitsprozesses hin betrachtet, „gesetzt sind die realen sachlichen Bedingungen der lebendigen Arbeit ... als fremde, selbständige Existenzen, ... als Werte, die dem Arbeitsvermögen fremden Reichtum, den Reichtum des Kapitalisten bilden. Die objektiven Bedingungen der lebendigen Arbeit erscheinen als getrennte, verselbständigte Werte gegen das lebendige Arbeitsvermögen ..., das ihnen gegenüber daher auch nur als Wert von einer andren Art (nicht als Wert, sondern als Gebrauchswert verschieden) erscheint".75 Damit es dazu kommt, müssen „historische Voraussetzungen" des Lohn- oder Kapitalverhältnisses eintreten, denen Marx „auf den ersten Blick einen doppelseitigen Charakter" zuspricht: Und diese Doppelseitigkeit ist ihrerseits je nach historischer Perspektive wiederum gebrochen. In einer Art Langzeitperspektive, die die gesamte bekannte Menschheitsgeschichte in den Blick nimmt, steht die „Auflösung auf der einen Seite niedrigerer Formen der lebendigen Arbeit - auf der andren Auflösung glücklicherer Verhältnisse derselben."76 Dies wird sogleich anhand der Marxschen Skizze der Gemeindeformen ausführlicher zu betrachten sein. Kurzfristiger handelt es sich nicht allein um den hier auch schon postulierten Prozeß der historischen Höherentwicklung, sondern über die Auflösung der von Marx immer wieder so bezeichneten bornierten, aber auch beschaulichen älteren Verhältnisse hinaus um einen zutiefst widersprüchlichen Emanzipationsprozeß. Hier geht es um „die geschichtliche Bewegung, die die Produzenten in Lohnarbeiter verwandelt, einerseits als ihre Befreiung von Dienstbarkeit und Zunftzwang ... Andrerseits aber werden diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nachdem ihnen alle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotnen Garantien ihrer Existenz geraubt sind. Und die Geschichte dieser Expropriation ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer." Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft hat daher für Marx nichts zu tun mit den Prozessen, die sie am Laufen halten - noch mit den Tugenden, die dafür erforderlich sind. Vielmehr vermochten es „die Ritter der Industrie" nur dadurch, „die Ritter vom Degen zu verdrängen ..., daß sie Ereignisse ausbeuteten, an denen sie ganz unschuldig waren."77 Es geht nicht um die Aufhäufung von Reichtümern mit welchen Methoden auch immer, sondern vorab um Prozesse der Trennung. In ihnen erblickt Marx den wohl am tiefsten eingreifenden historischen Prozeß überhaupt. Das gilt für das Verhältnis der Menschen zur Natur ebenso wie für die Verhältnisse der Menschen untereinander. Ziel ist hier die Vergegenwärtigung des historisch gewordenen Charakters scheinbarer Selbstverständlichkeiten in den gegenwärtigen Verhältnissen. In der von Marx eingenommenen Perspektive erscheinen gerade sie überhaupt nicht mehr als selbstverständlich, und es kommt geradezu zu einer - höchst aufschlußreichen - Umkehr solcher Selbstverständ-
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lichkeit: „Nicht die Einheit der lebenden und tätigen Menschen mit den natürlichen, unorganischen Bedingungen ihres Stoffwechsels mit der Natur, und daher ihre Aneignung der Natur - bedarf der Erklärung und ist Resultat eines historischen Prozesses, sondern die Trennung zwischen diesen unorganischen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein, eine Trennung, wie sie vollständig erst gesetzt ist im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital."78 Ein vollständiges Verständnis dieser vieldimensionalen Trennungsprozesse erfordert ein historisch sehr weites Ausholen.79
3.3.2 Formen der Gemeinde Den mit der sogenannten ursprünglichen Akkumulation bezeichneten Prozessen der Differenzierung, der Enteignung und der Trennung historisch und genetisch vorgelagert analysiert Marx daher die Schicksale der unterschiedlichen Formen der Gemeinde. Entgegen einem weitverbreiteten Mißverständnis geht es in diesem Text nicht um die „Epochen ökonomischer Gesellschaftsformation",80 sondern vielmehr um den „Prozeß, der der Bildung des Kapitalismus ... vorhergeht".81 Zu Beginn dieses Abschnittes stellt Marx ausdrücklich klar, daß es hier um „eine der historischen Bedingungen des Kapitals" geht, „die Trennung der freien Arbeit von den objektiven Bedingungen ihrer Verwirklichung". Dies betrifft die „Auflösung des kleinen, freien Grundeigentums sowohl wie des gemeinschaftlichen, auf der orientalischen Kommune beruhenden Grundeigentums," in denen jeweils „der Arbeiter" sich „zu den objektiven Bedingungen seiner Arbeit als seinem Eigentum" verhält, d.h. über die Ressourcen verfugt, um mit seiner Arbeit seine Reproduktion zu sichern: „In beiden Formen verhalten sich die Individuen nicht als Arbeiter, sondern als Eigentümer - und Mitglieder eines Gemeinwesens, die zugleich arbeiten", und zwar tun sie dies nicht zum Zweck der „Wertschöpfung", auch wenn Überschüsse ausgetauscht werden. Es geht vielmehr um die eigene Bedürfnisbefriedigung der arbeitenden Eigentümer, denn „ihr Zweck ist die Erhaltung des einzelnen Eigentümers und seiner Familie, wie des Gesamtgemeindewesens." Auch hier versteht Marx demnach Arbeit nicht einfach als Verausgabung von Kraft oder Herstellung von Gegenständen, sondern untrennbar davon als Reproduktion („Erhaltung") der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie erst ermöglichen und ihr zugleich ihre jeweils spezifische Bedeutung verleihen. Entscheidend aber ist für Marxens Argumentation der Nachweis der Gewordenheit der gegenwärtigen Zustände: „Die Setzung des Individuums als eines Arbeiters, in dieser Nacktheit, ist selbst historisches Produkt." Wie es dazu gekommen ist, erläutert Marx nun unter Bezug auf die zeitgenössischen Kenntnisse und Vorstellungen über urtümliche, aber auch über aktuell 188
noch bestehende Formen der Gemeinde. Anders aber als in den über zwanzig Jahre später verfaßten Entwürfen der Antwort an Zasulic handelt es sich hier nicht um eine Skizze der Abfolge verschiedener gesellschaftlicher Formationen, sondern spezifisch um die Herausbildung der Voraussetzungen kapitalistischer Produktion, worunter Marx vor allem die gesellschaftliche Kategorie der freien Arbeiter verstand. Die freie Lohnarbeit erscheint Marx hier als vorläufiger Endpunkt eines Prozesses, der mit der „naturwüchsigen Stammgemeinschaft" einsetzt.82 Der problematische Ausdruck der „Naturwüchsigkeit" chiffriert dabei die These, daß „der Mensch ... sich erst durch den historischen Prozeß (vereinzelt). Er erscheint ursprünglich als Gattungswesen, Stammwesen, Herdentier",83 Es geht dabei nicht um historisch völlig unveränderliche Verhältnisse, sondern um die Dominanz der als primäre gesellschaftliche Form verstandenen Kollektivstrukturen, ähnlich wie Marx dies später im Zusammenhang mit den Gesellschaftsformationen skizzieren sollte. Für diese „Stammgemeinschaft" stellt nun die „Erde ... das große Laboratorium" dar, „das Arsenal, das sowohl das Arbeitsmittel, wie das Arbeitsmaterial liefert, wie den Sitz, die Basis des Gemeinwesens". Das Eigentum an der Erde, d.h. der Zugang zum gemeinsamen Eigentum, ist vermittelt über die Mitgliedschaft im Gemeinwesen: „Jeder Einzelne verhält sich nur als Glied ... dieses Gemeinwesens als Eigentümer oder Besitzer", und dieses Verhältnis ist, wie Marx sich ausdrückt, „naiv", weil die „wirkliche Aneignung durch den Prozeß der Arbeit ... unter diesen Voraussetzungen (geschieht), die selbst nicht Produkt der Arbeit sind, sondern als ihre natürlichen oder göttlichen Voraussetzungen erscheinen". Diese Überhöhung kann in den von Marx speziell betrachteten „asiatischen Grundformen" dieser Gemeinde dazu führen, daß die dort oberhalb der Gemeinden etablierte zusammenfassende Einheit", versinnbildlicht im despotischen Herrscher, Mehrarbeit in der Form des Herrscher- oder Gottesdienstes bezieht. Entscheidend aber ist bei sehr unterschiedlichen Ausformungen kollektiver oder individueller Arbeitsorganisation die Vermittlung des „Eigentums", genauer des Zugangs zu den natürlichen und gesellschaftlich erarbeiteten Ressourcen über die Mitgliedschaft in der Gemeinde.84 Auf die beschriebene erste Stufe, der Marx auch slawische, rumänische, keltische und indische, mexikanische und peruanische Gemeinden zurechnet, folgt eine „zweite Form". Marx konstruiert sie in erster Linie anhand seines Wissens über antike Stadtgemeinden: Die Gemeinde übernimmt hier vor allem die Verteidigung nach außen als „große gemeinschaftliche Arbeit". Doch dieser „negative(n) Einheit nach außen" steht die Differenzierung nach „höhren und niedren Geschlechter" gegenüber und vor allem, daß es zwar einen Rest von Gemeindeeigentum an Grund und Boden (ager publicus) gibt, daß aber zugleich „der Einzelne Privateigentümer von Grund und Boden ... wird, deren besondre Bear189
beitung ihm und seiner Familie anheimfällt".85 Jedoch bleibt in dieser „klassisch antiken" Form „der Boden okkupiert von der Gemeinde", d.h. er ist im Falle Roms „römischer Boden", und auch die private Parzelle bleibt es „dadurch ..., daß sie das Privateigentum ... eines Römers ... ist"; umgekehrt ist er „aber nur Römer, insofern er dies souveräne Recht über einen Teil der römischen Erde besitzt". Die Vermittlung der Teilhabe über privaten Besitz oder die Zuteilung aus dem öffentlichen Grund, dem ager publicus, differenziert zwischen Patriziern und Plebejern. Dabei wird die Bedeutung des Zugangs zum Boden unterstrichen durch die Abwertung des städtischen Gewerbes gegenüber der Landwirtschaft.86 Die Vermittlung des Gemeindezusammenhangs erfolgt demnach nicht mehr einfach über gemeinsames Eigentum an den Ressourcen und Kontrolle über den Zugang zu ihnen und noch weniger durch gemeinsame Arbeit. Die Beziehung ist komplizierter geworden und zugleich zirkulär begründet: Um überhaupt „Parzellenbauer" zu werden, muß der Einzelne „Mitglied der Gemeinde ... sein, aber als Gemeindemitglied ist er Privateigentümer". Dieser Zustand ist bereits „historisches Produkt", und zwar „als solches gewußt". Dabei sind der Eigentumsdifferenzierung durch den Bestand der Gemeinde Grenzen gesetzt, denn deren Mitglieder „verhalten sich als Eigentümer zu den natürlichen Bedingungen der Arbeit: aber diese Bedingungen müssen noch fortwährend durch persönliche Arbeit wirklich als Bedingungen und objektive Elemente der Persönlichkeit des Individuums, seiner persönlichen Arbeit, gesetzt werden".87 Nur die persönliche Arbeit also kann die spezifische ge-sellschaftliche Form solcher Gemeinden zusammen mit den Lebensmitteln reproduzieren, aber zugleich ist nicht diese privat geleistete Arbeit entscheidend für die immer neue Herstellung des gesellschaftlichen Zusammenhangs, „sondern Kooperation in der Arbeit für die gemeinschaftlichen Interessen (imaginären und wirklichen) zur Auffechterhaltung des Verbandes nach außen und innen". 88 Nicht umsonst hatte der wichtigste Theoretiker dieser Gemeindeform, Aristoteles, die private Arbeit des Einzelnen oder Privatmannes (griech. idiotes) weit niedriger bewertet als das Zusammenwirken der Freien und Gleichen in der politischen Gemeinschaft. Die dem historisch-genetischen Schema nach nächstfolgende, die „germanische" Form der Gemeinde, repräsentiert einen weiteren Schritt in der Auflösung der Beziehungen zwischen der Gemeinde, dem Boden oder allgemeiner der Natur sowie dem Individuum. Diese Form ist nicht mehr wie die antike Gemeinde in einer Stadt konzentriert, sondern die Gemeindemitglieder sind über das Land zerstreut, was zur Folge hat, daß „die Gemeinde nun eine äußerliche Existenz besitzt, unterschieden von der des Einzelnen".89 Dem damals gängigen Bild von der frühmittelalterlichen Bauernwirtschaft als dem „ganzen Haus" entsprechend zeichnet Marx das Bild der germanischen Gemeindegenossen als einer Art öko190
nomischer Monaden: „Das ökonomische Ganze ist au fond in jedem einzelnen Hause enthalten, das für sich ein selbständiges Zentrum der Produktion bildet." 90 In dieser Form hätte es der „Einzelne" also aus ökonomischen Gründen gar nicht nötig, mit anderen in eine kontinuierliche Beziehung zu treten, und dies ist auch nicht erforderlich zur Schaffung der Voraussetzungen der Produktion, weil das „Eigentum des Einzelnen ... nicht vermittelt (erscheint) durch die Gemeinde, sondern das Dasein der Gemeinde ... als vermittelt, d.h. als Beziehung der selbständigen Subjekte aufeinander". Hier ist die „Familie als selbständige Einheit" konstituiert, wobei „der einzelne Wohnsitz ... selbst nur als Punkt in dem zu ihm gehörigen Land erscheint". Dies steht in deutlichem Gegensatz zur „antiken Welt", wo „die Stadt mit ihrer Landmark das ökonomische Ganze" darstellte,91 die Einzelnen also zwar jeweils für sich auf ihrer privaten Parzelle wirtschafteten, aber noch abhängig waren von der Gesamtheit, nur „vermittelt" durch sie wirtschaften konnten. In der „germanischen" Gemeinde dagegen ist das - etwa als Almende bestehende - Gemeindeeigentum nur noch „Ergänzung des individuellen Eigentums", und die Gemeinde selbst hat „überhaupt nicht Existenz für sich ... außer in der Versammlung der Gemeindeglieder und ihrer Vereinigung zu gemeinsamen Zwecken".92 Weil diese Gemeindeform keine in den Reproduktionsprozeß des materiellen und gesellschaftlichen Lebens notwendig eingebundene Substanz mehr hat, kann sie sich nur noch manifestieren in der Vergegenwärtigung der Gemeinschaft durch die physische Anwesenheit ihrer Mitglieder. Die Einzelwirtschaften in der „germanischen Gemeinde" entsprechen als vorläufiges Endprodukt des beschriebenen Auflösungsprozesses offenbar sehr genau dem Kleinbetrieb, den Marx als genetischen Ausgangspunkt für den Prozeß der sogenannten ursprünglichen Akkumulation auffaßte. Zugleich ergeben sich aus den drei Gemeindeformen unterschiedliche Ausformungen des Verhältnisses zwischen Stadt und Land. Sie werden von Marx ebenfalls in eine historisch-genetische Abfolge gebracht: Die „asiatische Geschichte" kennt keine Städte im eigentlichen Sinn, da hier „eine Art indifferente Einheit von Stadt und Land" vorliegt und die „großen Städte ... bloß als fürstliche Lager ... zu betrachten" sind; dagegen ist die „klassische alte Geschichte ... Stadtgeschichte, aber von Städten gegründet auf Grundeigentum und Agrikultur", während „das Mittelalter ... vom Land als Sitz der Geschichte aus(geht), deren Fortentwicklung dann im Gegensatz von Stadt und Land vor sich geht". Endlich unter „modernen" Verhältnissen sieht Marx hier „die Verstädtischung des Landes, nicht wie bei den Antiken die Verländlichung der Stadt".93
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3.3.3 Stufen von Eigentum und Individuation Zentrales Thema ist aber die unterschiedliche Form des „Eigentums" im Prozeß der Lockerung und schließlichen Auflösung des Gemeindeverbandes und der damit einhergehenden Konstituierung des Individuums. Gemeinsam ist diesen „Formen" das „Eigentum", und zwar das „Grundeigentum", das zusammen mit der „Agrikultur die Basis der ökonomischen Ordnung" bildet, und zwar mit dem „Zweck" der „Produktion von Gebrauchswerten". Dabei sind die sozialen Beziehungen eingeschlossen in den Prozeß der „Reproduktion des Individuums in den bestimmten Verhältnissen zu seiner Gemeinde, in denen es deren Basis bildet". Diese Reproduktion, die damit verbundene „Arbeit", ist gebunden an die „Aneignung ... der natürlichen Bedingung der Arbeit, der Erde, als des ursprünglichen Arbeitsinstrumentes sowohl, wie Behälters der Rohstoffe". Doch diese Aneignung erfolgt „nicht durch Arbeit, sondern als der Arbeit vorausgesetzt": „Das Individuum verhält sich einfach zu den objektiven Bedingungen der Arbeit als den seinen ... als der unorganischen Natur seiner Subjektivität, worin diese sich selbst realisiert".94 Die Naturbeziehung und die Aneignung der Natur erfolgt für Marx demnach nicht durch Arbeit, sondern wird als ein Akt verstanden, der vor aller Arbeit angesiedelt ist. Vor allem aber ist dies kein isolierter Akt von einem Einzelnen. Menschen sind zu allererst gesellschaftliche Wesen und nur so überhaupt vorstellbar: „Ein isoliertes Individuum könnte sowenig Eigentum haben an Grund und Boden, wie sprechen." Nur aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Gemeinde ist also sein Eigentum überhaupt möglich. Dieses ist ferner „immer vermittelt durch die Okkupation, friedliche oder gewaltsame",95 was offenkundig auch die Abgrenzung der Gemeinde oder auch des „Stammes" gegenüber denjenigen Menschen einschließt, die nicht dazugehören und demnach auch nicht am gemeinsamen Eigentum teilhaben. Der Fortschritt, den diese Konstruktion des Beginns der Entwicklung von Eigentumsformen im sozialen Denken darstellte, läßt sich durch einen kurzen Vergleich mit einem bis heute sehr folgenreichen Text ermessen, John Lockes Second Treatise of Government von 1698: Locke läßt ohne jeglichen Hinweis auf gesellschaftliche Zusammenhänge den einzelnen Menschen als ersten Arbeiter auftreten, der durch seine Arbeit die Erde individuell aneignet.96 Der individuell wirtschaftende Warenbesitzer ist so bei Locke als überhistorisches Bild des Menschen gesetzt, aus dem die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse entwickelt werden. Das für sein soziales, aber auch sein politisches Denken entscheidende Postulat, daß gesellschaftliche Verhältnisse historisch sind, gekennzeichnet durch Werden und Vergehen,97 Übergang aus und in andersartige Verhältnisse, erlaubt Marx neben einem höheren Stand der empirischen Kenntnisse 192
ein völlig anderes Herangehen: Nicht nur betritt der individuell wirtschaftende Warenbesitzer erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt die gesellschaftliche Bühne; alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind auch historisch zu spezifizieren. Allerdings werden sie hier nicht um ihrer selbst willen untersucht, sondern als Stufen der Herausbildung des allein wirtschaftenden und austauschenden Individuums, das so nicht am Anfang, sondern am Ende der Entwicklungsreihe steht. Es ist nun festzuhalten, daß die genetische Abfolge der Gemeindeformen in der von Marx im „Formen"-Abschnitt entworfenen Konzeption sich offenkundig nicht eindeutig mit einem Ubergang zu Klassengesellschaften synchronisieren läßt. Das wurde schon deutlich im Verweis auf orientalische Herrscher oder Despoten, die sich in ideologischer Überhöhung als „Vater der vielen Gemeinwesen"98 oberhalb der Gemeinden etablieren und deren sonst nicht herstellbare Gemeinsamkeit repräsentieren. Marx treibt solche Überlegungen weiter in der Bemerkung, daß „die Entwicklung der Sklaverei, die Konzentration des Grundbesitzes, Austausch, Geldwesen, Eroberung etc." zwar „bis zu einem gewissen Punkt verträglich scheinen mit der Grundlage und sie teils nur unschuldig zu erweitern schienen", schließlich aber doch die Beschränkungen durchbrechen, die unauflöslich an den Gemeindezusammenhang geknüpft sind. Letztlich führen solche Formen deutlicher gesellschaftlicher Differenzierung daher „Verfall und Untergang" der Gemeindeordnung herbei. Diese kann zwar „große Entwicklungen" durchaus zulassen, jedoch „innerhalb eines bestimmten Kreises", und dieser Kreis ist bestimmt durch Grenzen, die die Gemeinde der Individuation zieht: Demnach ist „an freie und volle Entwicklung, weder des Individuums, noch der Gesellschaft nicht hier zu denken, da solche Entwicklung mit dem ursprünglichen Verhältnis im Widerspruch steht".99 Die Rekonstruktion der Gemeindeverhältnisse ist daher immer historisch, auf Gewordenheit und Vergänglichkeit orientierte Kritik, vor allem aber ist sie Explikation der historischen „Voraussetzungen" der bürgerlichen Gesellschaft. Für Marx geht es hier bei aller Ausführlichkeit der Rekonstruktion historischer Zusammenhänge um die Voraussetzungen für die freie Lohnarbeit, die Lage des Proletariats, nämlich für „das Vorfinden der objektiven Bedingungen der Arbeit als von ihm getrennter, als Kapital": Dies „unterstellt einen historischen Prozeß", in dem diese Verhältnisse auf „außerökonomische" Weise geschaffen werden, d.h. durch Veränderungen, die nicht dem Äquivalententausch unterliegen. Das schließt keineswegs aus, „daß die vorbürgerliche Geschichte und jede Phase derselben ... ihre Ökonomie hat", in dem Sinne zumindest, „daß das Leben der Menschen von jeher ... auf gesellschaftlicher Produktion beruhte, deren Verhältnisse wir eben ökonomische Verhältnisse nennen".100 Von diesem scharfen Gegensatz zu individualistischen Auffassungen über die Menschwerdung, aber auch über Gesellschaft im Allgemeinen rührt der Spott, 193
mit dem Marx sich immer wieder gegen das eben von aller Gesellschaftlichkeit nicht nur der Arbeit, sondern auch der Geschichte abstrahierende Bild von „Robinson auf seiner Insel"101 wandte. So erscheint auch die zunächst „sehr einfach(e)" Vorstellung als „abgeschmackt", „daß ein Gewaltiger, physisch Überlegner, nachdem er erst Tiere gefangen, dann Menschen fängt, um durch ihn Tiere fangen zu lassen": Diese Vorstellung von der Entstehung von Knechtschaftsverhältnissen geht nämlich „von der Entwicklung vereinzelter Menschen aus",102 und diese Vereinzelung gegenüber der primär kollektiven Organisationsform ist doch gerade erklärungs- und rekonstruktionsbedürftig. Marx konstatiert eine Lockerung des Gemeindeverbandes bereits in der antiken Form. Die „Trennung schon der Gemeindeglieder von sich als Stadtgemeinde und Stadtterritoriumseignern" schafft nicht nur Spannungen zwischen der privaten und der kollektiven, kommunalen Ebene, sondern läßt „auch schon Bedingungen ein(treten), wodurch der Einzelne verlieren kann sein Eigentum", das hier verstanden wird als „das doppelte Verhältnis" als Stadtbürger und „Eigentümer".103 Die damit verknüpfte „Auflösung" sieht Marx als Folge der „Reproduktion" des Gemeinwesens, die verknüpft ist mit der „Entwicklung der Produktivkräfte der arbeitenden Subjekte ... der bestimmte Verhältnisse derselben zueinander und zur Natur entsprechen". Diese Reproduktion geht aber nur „bis zu einem gewissen Punkt" und „schlägt dann in Auflösung um". 104 Demnach führte die Radikalisierung der gerade in der antiken Gemeinde bereits vollzogenen und manifesten Trennungsprozesse zur Ablösung der „ursprünglichen" oder „mehr oder minder naturwüchsigen" Formen, die für Marx freilich „alle zugleich aber auch Resultate historischen Prozesses" sind. Mit der Auflösung der Gemeindeform setzt Marx den Übergang an zu „sekundären" Formen, „Sklaverei, Leibeigenschaft etc.", die eine andere Form von Eigentum bezeichnen: Dies ist „nicht mehr das Verhalten des selbstarbeitenden Individuums zu den objektiven Bedingungen der Arbeit", sondern die neue, „sekundäre" Eigentumsform konstituiert nun eine Beziehung krasser Ungleichheit zwischen den aus der Gemeinde herausgetretenen Individuen: „... der Arbeiter (erscheint) selbst unter den Naturbedingungen für ein drittes Individuum".105 Nicht allein ist „der Arbeiter" demnach ebensowenig wie der nunmehr ihm gegenüberstehende Eigentümer Gemeindemitglied, sondern mit dem Verlust seiner durch das primäre Kollektiv vermittelten Position als Subjekt der Eigentumsbeziehung zum Boden ist er selbst innerhalb der neuen, sekundären Eigentumsbeziehung zum Objekt geworden.
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3.3.4 Lohnverhältnis und Herrschaft Dieser Zustand ist jedoch noch einmal von der Kapitalbeziehung zu unterscheiden. Wenn nämlich „Sklaven oder Leibeigene" „selbst noch unmittelbar unter die objektiven Produktionsbedingungen gehören", so ist das Lohnverhältnis abstrakter und komplexer, weil „vermittelt durch Austausch": Das Interesse des Kapitals richtet sich nicht auf die „unmittelbare" Aneignung des Arbeiters, dieser „ist ... keine Produktionsbedingung, sondern nur die Arbeit". Deshalb, so argumentiert Marx hier, kann diese Arbeit im Prinzip auch durch Maschinen, Wasser oder Luft verrichtet werden106 - entsprechend wird die menschliche Arbeitskraft denn auch durch technologisch immer perfektere Maschinen ersetzt. Dies tritt nur in dem Fall ein, daß „der Arbeiter als freier Arbeiter, als .... rein subjektives Arbeitsvermögen" sich seinen Lebens- und Produktionsbedingungen „als seinem „Nichteigentum, als fremdem Eigentum, als für sich seiendem Wert als Kapital" gegenübersieht. Umgekehrt ist aber auch nach den „historischen Voraussetzungen" zu fragen, „damit er ein Kapital sich gegenüber findet".107 Auch hier geht es wiederum um Eigentumsformen und ihr Verhältnis zu den Prozessen der Umformung der Natur durch menschliche Arbeit. Das als ursprünglich postulierte Eigentum ist konstitutiv für das menschliche Subjekt, denn „das arbeitende Individuum verhält sich im besten Fall nicht nur als Arbeiter zum Grund und Boden, sondern als Eigentümer des Grund und Bodens zu sich selbst als arbeitendem Subjekt". In dieser zirkulären Beziehung sind gleichsam keimhaft, logisch erschließbar weitere Beziehungen angelegt, die in der Folge entfaltet werden: „Das Grund- und Bodeneigentum schließt der Potenz nach ein sowohl Eigentum am Rohmaterial wie am Urinstrument der Erde selbst, wie an den spontanen Früchten derselben".108 Nicht allein die Lockerung der Gemeindebeziehungen durch Austausch und steigende Produktivität führen daher aber auch zur Auflösung dieses Verhältnisses, sondern die Differenzierung der Produktion und des sachlichen Produktionsapparates selbst. Dies tritt bereits im Handwerk ein, bei dem „das Instrument selbst schon Produkt der Arbeit" ist. Daher liegt hier auch das Gemeinwesen nicht mehr in seiner „naturwüchsigen Form" vor, „sondern ist selbst schon ... sekundäres, durch den Arbeiter selbst schon produziertes Gemeinwesen".109 Das Eigentum des Zunfthandwerkers ist nicht mehr die vorgefundene Erde, sondern das durch Arbeit geschaffene Werkzeug und dazu „die Meisterschaft in (der) besondren Art der Arbeit". Es mag zunächst befremdlich wirken, wenn Marx als „dritte mögliche Form, sich als Eigentümer zu verhalten ... Sklaverei und Leibeigenschaft" nennt. Doch gerade hier wird zugespitzt der Sinn der ganzen Untersuchung der wechselnden und strukturell progressiven, schließlich auf „Auflösung" hinstre195
benden Eigentumsformen deutlich: Es geht darum, daß der Arbeiter sich nun weder zur Erde noch zum Werkzeug und „also auch nicht zur Arbeit selbst sich als eignen" verhält, sehr wohl aber „zu den Lebensmitteln", die er „vorfinde(t) als natürliche Bedingung des arbeitenden Subjekts". 110 Gerade in dieser „Formel der Aneignung der Produktionsverhältnisse" sind auch „Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse" enthalten, die Marx kurz darauf samt der ihnen zugrundeliegenden „Aneignung fremden Willens" als Teilaspekt dieser Verhältnisse kennzeichnet. Zugleich sieht er hier Ursachen der so ausführlich analysierten Trennungsprozesse, „notwendiges Ferment der Entwicklung und des Untergangs aller ursprünglichen Eigentumsverhältnisse und Produktionsverhältnisse, wie sie auch ihre Borniertheit ausdrücken".111 Den Beginn der Etablierung von Herrschaftsverhältnissen und damit die Schaffung der Möglichkeit „negative(r) Entwicklung(en)" wie Sklaverei, Leibeigenschaft oder auch Kastenwesen112 durch die Veränderung der Eigentumsverhältnisse pointiert Marx in dem Hinweis, daß hier „durch das Versetzen der Arbeit selbst unter die objektiven Produktionsbedingungen ... der einfach affirmative Charakter aller (gemeindeförmiger) Eigentumsformen verlorengeht". Worauf es ihm hier aber vor allem ankommt, ist die Zuspitzung, daß auch das auf die unmittelbaren Lebensnotwendigkeiten reduzierte Eigentumsverhältnis des Sklaven oder Leibeigenen an den Lebensmitteln „ebenfalls negiert ist ... im Verhältnis des Arbeiters zu den Produktionsbedingungen als Kapital".113 Marx versteht das Kapital hier demnach als die radikale und äußerste Negation jeglicher Beziehung des arbeitenden Subjekts zu seinen Arbeits-, aber letztlich auch zu seinen Lebensmitteln als seinen „eigenen". Mit dieser Enteignung ist zugleich die Konstitution eines neuartigen gesellschaftlichen Verhältnisses verknüpft. Als „Voraussetzung des Herrschaftsverhältnisses" stellt sich ihm „die Aneignung fremden Willens" dar. Damit ist Herrschaft bestimmt als Verhältnis zwischen bewußtseins- und willenbegabten Menschen: „Das Willenlose ... wie Tier z.B. kann zwar dienen", aber Herrschaft kommt nur als gesellschaftliches Verhältnis zustande, im Rahmen von Verhältnissen der „Aneignung" und wichtiger noch, der Internalisierung des „fremden Willens" als deren Moment. 114 Zugleich stellt Marx diese gesellschaftliche Beziehung, anders als vor ihm Hegel mit seinem sehr abstrakten Konzept der Problematik des Kampfes und der gegenseitigen Anerkennung von Herr und Knecht,115 in einen historisch-genetischen Zusammenhang durch den Verweis auf ihre Verankerung in der „Formel der Aneignung der Produktivkräfte".116 Er betont, daß die so bezeichneten „Verhältnisse" jeweils „nur mit einem bestimmten Grad der Entwicklung der materiellen (und daher auch der geistigen) Produktivkräfte möglich waren",117 also ihrer Möglichkeit, nicht deren Einlösung nach rückgebunden bleiben an die Produktivität der Arbeit und die Vielgestaltigkeit ihrer Erzeugnis196
se. So stehen „Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis" zugleich ebenso in der Linie „der Entwicklung und des Untergangs aller ursprünglichen Eigentumsverhältnisse und Produktionsverhältnisse", wie sie „im Kapital - in vermittelter Form reproduziert" werden und wiederum „so ebenfalls Ferment seiner Auflösung (bilden) und ... Wappen seiner Borniertheit (sind)."118 Diese komplexen Vermittlungsprozesse beschreiben einen konstruierten weltgeschichtlichen Verlauf unter dem Prinzip doppelter Trennung, nämlich zum einen der Menschen von ihrem „Eigentum", zugleich aber auch der Menschen von dem als „urtümlich" oder „naturwüchsig" unterstellten Gemeindeverband: Die Absonderung des arbeitenden, produzierenden Individuums aus gemeinschaftlichen Zusammenhängen geht demnach einher mit der Konstituierung seines besonderen Eigentums, und die Konfiguration beider Prozesse ergibt jeweils unterschiedliche historische Formen der Gegenüberstellung der Produktion und ihrer menschlichen Akteure mit dem Eigentum. Daraus ergeben sich ebenfalls unterschiedliche historische Formen von Herrschaft und Knechtschaft. Das „Kapital" erscheint so als vorläufiger Endpunkt einer historischen Entwicklung, freilich „vermittelt", weil es im Unterschied etwa zum europäischen Mittelalter kein persönliches Knechtschaftsverhältnis kennt.
3.3.5 Konsequenzen der Trennungsprozesse Damit sind die Konsequenzen der hier rekonstruierten „historischen Auflösungsprozesse" noch keineswegs erschöpft, denn es geht nicht allein um die „Auflösung der Hörigkeitsverhältnisse, die den Arbeiter an Grund und Boden und den Herrn des Grund und Bodens fesseln". Hier ist nämlich bereits der weitere „Ablösungsprozeß von der Erde" impliziert.119 Auch darin sieht Marx eine Dialektik am Werk, nämlich einen Abstraktionsprozeß, der gleichzeitig eine wiederum zwieschlächtige Freisetzung bedeutet. Die reale Abstraktion erfolgt „in allen diesen Auflösungsprozessen" dadurch, „daß Verhältnisse der Produktion aufgelöst werden, worin vorherrscht: Gebrauchswert, Produktion für den unmittelbaren Gebrauch". Damit wurden die „objektiven Bedingungen der Arbeit Grund und Boden, Rohmaterial, Lebensmittel, Arbeitsinstrumente, Geld und alles dies" von den „nun von ihnen losgelösten Individuen" „freigemacht": Sie existieren jetzt „in andrer Form ...; als freier fonds, an dem alle alten politischen etc. relations ausgelöscht, und die nur noch von Werten, an sich festhaltenden Werten, jenen losgelösten eigentumslosen Individuen gegenüberstehen", und zwar „als Kapital". Dabei sind die „bisher verbundnen Elemente" durch den Scheidungsprozeß nicht zerstört worden oder verschwunden, sondern „jedes (erscheint) in negativer Beziehung auf das andre ... - der freie Arbeiter ... auf der einen Seite, 197
das Kapital ... auf der andren."120 Und erst hier, nicht in gemeindeförmigen Bindungen, kann „das Individuum ... in der Punktualität auftreten, in der es als bloßer freier Arbeiter erscheint".121 Die untersuchten und rekonstruierten Trennungsprozesse sind gleichbedeutend mit einer völligen Umwälzung aller Lebensverhältnisse. Das wird sogleich deutlich, wenn Marx die Kritik der „modernen Welt" vom Standpunkt der „alte(n) Anschauung" resümiert in dem Gegensatz, daß dort „der Mensch ... als Zweck der Produktion erscheint," während nunmehr „die Produktion als Zweck des Menschen und der Reichtum als Zweck der Produktion erscheint".122 Das entspricht exakt den gegensätzlichen Leitmotiven, die Max Weber knapp fünfzig Jahre später dem traditionellen und dem kapitalistischen „Geist" zugeschrieben hat - Bedürfnisbefriedigung einerseits und rationaler, maximierter Erwerb, Aufhäufung von Reichtümern andererseits.123 Doch Marx gibt dieser Überlegung sofort eine charakteristische, wiederum historisch-kritische Wendung: Er fragt, was dieser „Reichtum" denn anderes sei als die „Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen," wenn ihm nur erst „die bürgerliche Form abgestreift wird". Freilich handelt es sich nicht einfach um Reichtum, sondern um seine Erzeugung „im universellen Austausch". In dieser Dimension glaubt Marx weitere Möglichkeiten des Individuums zu entdecken und fragt, was der so bestimmte, in universalen Zusammenhängen erst konstituierte Reichtum anderes sei als: „Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eigenen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht? wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität reproduziert? Nicht irgendein Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist?"124 In diesen emphatischen Formulierungen stellt Marx die Verbindung her zwischen der Kapital-Analyse und dem anderthalb Jahrzehnte zuvor in den „Pariser Manuskripten" anläßlich der ersten gründlicheren Auseinandersetzung mit ökonomischen Fragen aufgeworfenen Perspektiven der menschlichen Gattung, die sich erst wahrhaft verwirklichen und die durch ihre bisherige Entwicklung geschaffenen Möglichkeiten einlösen könne durch Umwälzung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, eben die Abstreifung der „bürgerlichen Form". Denn unter dieser bleiben die durch die untersuchten, jahrtausendelangen Trennungsprozesse, die Auflösung der Gemeindeformen hervorgebrachten Möglichkeiten in ihr Gegenteil verkehrt: „Unter der bürgerlichen Ökonomie ... er198
scheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung, diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung, und die Niederreißung aller bestimmten Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußern Zweck."125 Noch die Universalisierung der wirtschaftlichen, damit der menschlichen Beziehungen erscheint für Marx so unter bürgerlichen Verhältnissen verkehrt ins Partikulare, das dem Individuum dann als übermächtige, „äußere" Macht gegenübertritt. Daraus folgt auch der romantische Blick auf die gemeindeförmige Vergangenheit vor den einschneidenden Trennungsprozessen. Doch dieser Blick kann dem Bezugsrahmen des gesamten historischen Prozesses nicht gerecht werden: „Daher erscheint einerseits die kindische alte Welt als das Höhere. Andrerseits ist sie es in alledem, wo geschloßne Gestalt, Form und gegebne Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befriedigung auf einem bornierten Standpunkt: während das Moderne unbefriedigt läßt, oder wo es in sich befriedigt erscheint, gemein ist."126
3.4 Klassen als historische Subjekte Die Positionsveränderungen und Transformationen gesellschaftlicher Instanzen reichen freilich in keiner Weise aus zu einem Verständnis gesellschaftlicher Prozesse. Die Analyse solcher konkreter geschichtlicher Vorgänge ist auf dem Abstraktionsniveau der Kritik der Politischen Ökonomie auch nicht zu erwarten. Denn hier geht es nicht mehr allein um Strukturprozesse oder die Widersprüchlichkeit auffindbarer gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich auseinanderlegen und dann auch in ihrer Dynamik vorab begrifflich erschließen ließen. Es geht, wie schon angesprochen, um „Leidenschaft" und „Empörung", aber auch um Strategien, Interessenwahrnehmungen und Zielsetzungen, die Menschen als Individuen, vor allem aber als gesellschaftliche Kollektive antreiben oder die von ihnen verfolgt werden. Diese Analyseebene ist zwar mit den Kategorien der Kritik der Politischen Ökonomie verknüpft, sie erfordert aber noch weitere Schritte und einen deutlich anderen Zugriff. Exemplarisch dafür können im Marxschen Werk eine Reihe von Arbeiten stehen, die der Analyse von politischen Wendepunkten seiner Zeit dienten. Dabei ging es vor allem um die nicht nur aus der Sicht von Marx entscheidenden gesellschaftlichen Kämpfe in Frankreich während des Revolutionsjahres 1848 und in der unmittelbar anschließenden Periode bis zum Staatsstreich vom Louis Bonaparte, des späteren Napoleon III, am 2. Dezember 1851. Marx verstand diese Prozesse in erster Linie als Klassenkämpfe. Sie sind seiner Ansicht nach in zugespitzter und konzentrierter Form zu studieren in „Revolutionen" als 199
den „Lokomotiven der Geschichte",127 bei denen „Entwicklungsepochen nach Wochen zählen, wo sie früher nach halben Jahrhunderten gezählt hatten".128 Bevor darauf näher eingegangen werden kann, müssen wir freilich einen Blick auf die strukturellen Grundlagen der Klassenverhältnisse werfen.
3.4.1 Zur kategorialen Bestimmung der Klassen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Auf systematischer Ebene ordnen sich die Klassenverhältnisse ein in die zuvor erörterten Trennungsprozesse: Der „Tendenz ... der kapitalistischen Produktionsweise ..., die Produktionsmittel mehr und mehr von der Arbeit zu scheiden ..., also die Arbeit in Lohnarbeit und die Produktionsmittel in Kapital zu verwandeln ... entspricht auf der andern Seite die selbständige Scheidung des Grundeigentums von Kapital und Arbeit". Damit sind die „drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft" benannt,129 die Marx entsprechend ihrem jeweiligen Verhältnis zum Produktionsprozeß bestimmte. Die Revenuen dieser Klassen erscheinen jeweils unter der Form von Lohn, Profit bzw. Zins und Grundrente. Gegen die Evidenz und die „Vulgärökonomie" insistiert Marx darauf, daß diese „trinitarische Formel" gerade nicht den Ausfluß unterschiedlicher „Quellen des jährlich disponiblen Reichtums" nach dem Muster von „Kapital - Zins, Erde - Bodenrente, Arbeit Arbeitslohn" bezeichnet, sondern daß vielmehr „die Revenuen alle derselben Sphäre, der des Werts angehören",130 daß sie Verhältnisse der Verteilung oder der „Distribution" eines einheitlichen Wertprodukts bezeichnen. Daraus ergibt sich folgende Grundkonstellation: Unter kapitalistischen Bedingungen ist der jährlich zu verteilende Reichtum dem Neuwert gleichzusetzen, also dem jeweils neugeschaffenen Wertanteil, der in variables Kapital und Mehrwert zerfällt, wobei letzterer aufgeteilt wiederum wird in Profit, Zins und Grundrente. Es handelt sich daher nicht um jeweils unterschiedliche „Quellen" für die Revenuen der einzelnen Klassen, sondern vielmehr um verschiedene Formen der gesellschaftlichen Revenue, die sich in Wirklichkeit aus zwei gleichbleibenden Quellen speist, nämlich Natur und Arbeit. Während Naturkräfte, d.h. Boden, natürliche Rohstoffe, Energieträger usw. nur durch außerökonomische, in ihrem Ursprung letztlich gewaltsame Eingriffe gegen andere abgegrenzt, angeeignet und monopolisiert werden können,131 ist das Wertprodukt allein Ergebnis der Verausgabung von Arbeit. Dabei interessiert hier allein der Teil des Jahresprodukts, der wertförmig neu geschaffen wurde. Denn das konstante Kapital (c) wird ja im Produktionsprozeß durch die Vernutzung seiner Komponenten - fixes Kapital, also Maschinen und sonstige längerfristig benutzte Einrichtungen (f) sowie zirku200
lierendes Kapital, d.h. Hilfs- und Rohstoffe (z) - wertmäßig nicht verändert. Diese Werte werden lediglich auf die neuen Produkte übertragen. Am Ende des Produktionszyklus stellen daher ausschließlich das reproduzierte variable Kapital (v) in der Form des Lohnes und der durch Verausgabung von Arbeit über dessen Reproduktionskosten hinaus entstandene Mehrwert Neuwert dar und können in den gesellschaftlichen Verteilungsprozeß eingehen. Die Form dieser Verteilung bildet die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse ab, die ihrerseits wiederum Ausdruck der Produktionsverhältnisse sind. Das „Eigentum" des Arbeiters an seiner Person, die zumindest formell gesicherte Verfügung über seinen Leib und der dadurch ermöglichte Verkauf der Ware Arbeitskraft finden dann Ausdruck in der Revenueform des Lohnes; das Eigentum an den Produktionsmitteln, d.h. die kollektive Monopolisierung der sachlichen Voraussetzungen des Arbeitsprozesses unter kapitalistischen Bedingungen, sichert die Verfügungsgewalt über die Mittel zur sachlichen Produktion wie zur menschlichen Existenz, die die Produktion des Mehrwertes erzwingen kann. Die proletarische Klassenlage, über die eigene Person verfügen zu können, aber über nichts sonst, ist Grundlage und erste Bedingung dafür, daß eine solche Teilung des neuproduzierten Wertes dauerhaft realisiert und durchgesetzt werden kann. Der Mehrwert wiederum wird zwischen der Kapitalistenklasse und den Grundeigentümern aufgeteilt, weil die eigentumsmäßige Monopolisierung von Naturkräften die letzteren zum Bezug von Grundrente, aber etwa auch von Bergwerks- oder Wasserrenten ermächtigt. Weder Kapital noch Boden und Arbeitskraft und auch nicht das Eigentum an ihnen sind also gleichermaßen Springquellen des Reichtums. Vielmehr konstituiert dieses Eigentum gesellschaftliche Beziehungen zu diesen Springquellen, zur Arbeit und zur Natur. Diese Beziehungen konstituieren zugleich Aneignungsformen gegenüber dem allein durch Arbeit, durch aktive menschliche Auseinandersetzung mit der Natur, in jedem Produktionszyklus neu geschaffenen Wertanteil der Produkte. Auf dieser strukturellen Ebene sind darüberhinaus demnach die grundlegenden Klassenverhältnisse einer Gesellschaft zurückgekoppelt an das „gesellschaftliche Naturverhältnis", das Gesellschatten wesentlich prägt.132 Vor allem aber wird so die Höhe von Lohn, Profit und Rente erkennbar nicht als objektive, durch die Ergiebigkeit unterschiedlicher Quellen von Reichtum unabhängig voneinander bestimmte Größen, sondern als Gegenstand und Ausfluß gesellschaftlicher Auseinandersetzungen über die Verteilung des Neuwertes und damit auch gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse in einer jeweils gegebenen historischen Situation. Die bereits im Kommunistischen Manifest betonte, auch später immer wieder bekräftigte133 Vereinfachung der Klassenverhältnisse auf die bloße Gegenüberstel201
lung zwischen den Produzenten und den Aneignern des Mehrwertes findet hier ihre strukturtheoretische Begründung. Auf dieser Ebene springen alle Kritiken zu kurz, die meinen, die Klassenproblematik mit dem Argument ad acta legen zu können, weil es ein „Klassenbewußtsein", meist vorab in verengter Weise bezogen auf die Arbeiterklasse, (heute) nicht (mehr) gebe.134 Diese Argumentation unterstellt stillschweigend und wie selbstverständlich die frühere Existenz substantieller Klassen, insbesondere nationaler Arbeiterklassen. Diese Annahme ist zumindest zutiefst fragwürdig,135 auch wenn die gleich zu betrachtenden Marxschen Überlegungen in eine ähnliche Richtung zu deuten scheinen. Die Gesamtargumentation entspricht darüber hinaus in weiten Teilen der These von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, die in der westdeutschen Soziologie der 1950er Jahre Konjunktur hatte und ihrerseits durch empirische Untersuchungen zum Bewußtsein oder „Gesellschaftsbild" von Arbeitern konterkariert wurde.136 Die strukturelle Seite der Klassenproblematik, wie sie Marx auf der Grundlage seiner Kritik der Politischen Ökonomie skizziert hat, wird von solchen Überlegungen auf kategorialer Ebene verfehlt.
3.4.2 Das Problem mit dem Klassenbewußtsein Damit ist freilich auch im Kontext der Marxschen Theorie erst der Einstieg in die Klassenproblematik vollzogen. Denn gerade für Marx ging es ja an entscheidender Stelle um die Frage, wie denn das Proletariat als subordinierte Klasse über einen objektiven, kategorial abzuleitenden Strukturzusammenhang hinaus zu einer subjektiv gewußten, geschichtlich wirkungsmächtigen Realität werden könnte, wie also Proletarierinnen und Proletarier über ihre von der Kritik der Politischen Ökonomie konstatierte Lage hinaus sich selbst als kollektives Subjekt konstituieren könnten. Frühzeitig wurde dies von Marx in hegelianischer Sprache formuliert als die Transformation der Klasse „an sich" in die Klasse „für sich".137 Damit sind die soeben angedeuteten Risiken eines substantialistischen oder essentialistischen Konzeptes von Kollektividentität im Prinzip konterkariert. Spätere Analysen sahen in dem für Marx damals exemplarischen, da „am weitesten, klassischsten entwickelt(en)"138 Fall der Formation der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen in England denn auch zugleich den Prozeß der Herausbildung der Klasse als eines handlungsfähigen gesellschaftlichen und politischen Subjektes, das sich durch gesellschaftliche Auseinandersetzung und Erfahrung selbst erst konstituiert.139 Diese Verknüpfung zwischen den objektiven Gegebenheiten der gesellschaftlichen Lage und ihren subjektiven Ausdrucksformen macht das Spezifische des Marxschen Klassenbegriffs aus. Dieser Begriff läßt sich daher auch nicht einfach auf empirische, etwa statistisch nachweisbare Realität reduzieren. 202
Nun war sich Marx offensichtlich im klaren darüber, daß die Vereinfachung der Verhältnisse nicht gleichgesetzt werden kann mit ihrer Durchschaubarkeit:140 Der Schein, als flössen die drei verschiedenen Revenueformen aus unterschiedlichen Springquellen des Reichtums, ist für ihn ebenso Ausdruck und Moment der durch die Warenverhältnisse geprägten „verzauberte(n) und verkehrte(n) Welt" 141 wie die Verdinglichung gesellschaftlicher Beziehungen im Allgemeinen. Und dieser Schein dient der Legitimation der Revenueformen, weil er suggeriert, alle Beteiligten erhielten jeweils das und nur das, was ihre jeweilige Reichtumsquelle als Ertrag spende. Die Menschen leben demnach zwar unter Klassenverhältnissen und bewegen sich unweigerlich in ihnen. Doch ist ihnen dies nicht notwendig bewußt. Erst recht sind sie sich nicht von vornherein im klaren über die von Marx unterstellten historischen Konsequenzen ihrer Lage. Mit anderen Worten ist es für die Marxsche Theorie alles andere als selbstverständlich, daß sich auf der Grundlage gleicher Lebenslagen, insbesondere gleicher Verhältnisse zu den Produktionsmitteln, „Klassen" als handlungsfähige Kollektivsubjekte konstituieren, wie dies die Grundthese, alle bisherige Geschichte sei im wesentlichen eine Geschichte von Klassenkämpfen, wenigstens auf den ersten Blick unterstellt. Der Weg von der objektiven Klassenlage zum subjektiven und obendrein kollektiven Bewußtsein von dieser Lage und ihren Konsequenzen ist überaus komplex. Er ist dies zudem nicht in gleicher Form und in gleicher Weise für jede beliebige Klasse. So erscheinen schon bei Marx und auch in der Literatur nach ihm Klassenbewußtsein und entsprechendes strategisches Handeln für die Bourgeoisie als weniger problematisch als die Konstituierung des Proletariats als Klasse. Hier genügen weder die gleichartige Revenueform noch die im Prinzip gemeinsame Opposition gegenüber der Bourgeoisie, denn „gemeinsame Interessen" allein bewirken zwar, daß „diese Masse ... eine Klasse gegenüber dem Kapital (ist), aber noch nicht für sich selbst."142 Die säkularen Trennungsprozesse haben mit dem Übergang zur kapitalistischen Gesellschaft ihren Abschluß in vollendeter Individuation, der Ablösung von allen überkommenen Bindungen, aber zugleich auch in gesellschaftlicher Atomisierung gefunden. Diese findet handfesten Ausdruck in der Konkurrenz der Arbeiter gegeneinander in der Form von Lohndrückerei und Intensivierung der Arbeit.143 Diese Atomisierung und gegenseitige Konkurrenz ist das zunächst durch die kapitalistischen Verhältnisse Gegebene. Marx versinnbildlicht diese Situation in der Metapher einer Konfrontation von „zwei Heermassen" - Kapital und Arbeit -, „wovon eine jede in ihren eignen Reihen zwischen ihren eignen Truppen wieder eine Schlacht liefert".144 Organisation und Solidarität zur Verfolgung als gemeinsam erkannter Interessen kann daher nur Folge nicht nur weiterer Entwicklung, sondern vor allem auch bewußt eingreifenden Handelns sein. 203
Erst in den sozialen Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital „findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, die sie verteidigt, werden Klasseninteressen."145 Durch „ihre Kämpfe" kommt es zur „immer weiter um sich greifenden Vereinigung der Arbeiter", d.h. zur Organisierung der Klasseninteressen. Diese Organisierungsprozesse werden dadurch, daß die Arbeiter bereits durch das Kapital in der Fabrik zusammengefaßt sind, aber auch durch die modernen Kommunikationsmittel, vor allem durch die Eisenbahnen, entscheidend begünstigt. Der „Organisation der Proletarier zur Klasse" steht freilich die andauernde „Konkurrenz unter den Arbeitern" entgegen,146 die dazu tendiert, sie im Zustand einer „zersplitterten Masse" zu erhalten.147 Dem steht aber die dominierende Tendenz gegenüber, die aus den fortdauernden Kämpfen „immer wieder, stärker, fester, mächtiger erstehe(nde)" Klassenorganisation.148 Die revolutionäre Organisation ist für Marx geradezu Ausdruck der Reife der Verhältnisse für den gesellschaftlichen Umbruch: „Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz der Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten." 149 Die „Organisationsfrage" sollte sich im späteren Verlauf als äußerst kontroverses Problem für die verschiedenen Fraktionen des politisch organisierten Marxismus erweisen; ebenso wirft die Rede vom proletarischen „Klassenbewußtsein" vor allem dann, wenn es als adäquates gegenüber „falschem" Bewußtsein postuliert wird, eine Reihe weitläufiger erkenntnistheoretischer Fragen auf, die im weiteren Verlauf der Rezeption der Marxschen Theorie auch zu unmittelbar politischen Konsequenzen geführt haben.150 Wir wollen uns im folgenden darauf beschränken, die von Marx geleistete Analyse einiger wesentlicher gesellschaftlicher Auseinandersetzungen nachzuvollziehen, in denen Massen als Subjekte der Geschichte die zentrale Stellung einnehmen. Der wichtigste Textkomplex dazu im Marxschen Werk ist die detaillierte Analyse der politischen Ereignisse von der Februarrevolution 1848 in Frankreich bis zum Ende der zweiten Republik durch den Staatsstreich Louis Bonapartes am 2.12.1851. An diesem Wendepunkt europäischer Geschichte interessieren Marx vor allem die spezifischen Interessenlagen, durch die Klassen, Klassenfraktionen und Klassenallianzen in politischen Krisensituationen zu Manövern veranlaßt wurden, die zumeist nicht kongruent waren mit ihren proklamierten Zielen, noch mit denen, die aus ihrer Klassenlage geschlußfolgert oder „abgeleitet" werden können. In ihrer Gesamtheit führten diese Manöver gemäß der Marxschen Analyse im konkreten Fall schließlich in jene Diktatur, die das Modell für „bonapartistische" Herrschaft abgegeben hat. Nicht zuletzt durch die Marxsche Analyse wurden diese Vorgänge zu einem Paradigma, das wesentlich das Bild des modernen Klassenkampfes mitgeprägt hat. Bei der Nachzeichnung der komplexen Auseinandersetzung im Parlament, aber auch auf der Straße in Form von Massen204
aktionen, Militäreinsätzen und dann des abschließenden Putsches geht Marx von der bereits früher von ihm formulierten Grundthese aus, daß Klassen als kollektive Subjekte Geschichte machen, daß diese „Klassenkampf' ist, und daß ferner die „Organisation zur Klasse" gleichbedeutend ist mit der Konstituierung „zur politischen Partei"151 - freilich offenkundig nicht im Sinne heutiger, fest verbandsartig organisierter Parteien, sondern eher als mehr oder weniger konsolidierte, gemeinsam abstimmende und handelnde politische Strömung.
3.4.3 Das Paradigma: Klassenkämpfe in Frankreich nach 1848 Das von Marx zugrundegelegte Modell für die Klassenkonstellation Frankreichs um 1848 zeichnet sich durch zwei auffällige Charakteristika aus: Zunächst spricht Marx hier, anders als etwa im Kommunistischen Manifest oder in anderen Schriften, in denen vor allem die geschichtliche Tendenz des Kapitalismus und die revolutionäre Mission des Proletariats begründet werden, anders auch als im Kapital, nicht allein von den zwei bzw. drei Haupt-Klassen der bürgerlichen Gesellschaft. Vielmehr treten zusätzlich eine ganze Reihe wichtiger Klassen oder Schichten auf, vor allem Lumpenproletariat, Kleinbürgertum, Parzellenbauern und Großgrundeigentümer, in bestimmten Situationen aber auch die Armee. Bei seiner Rekonstruktion der politischen Intrigen und parlamentarischen Auseinandersetzungen rückt Marx außerdem die einzelnen Fraktionen der Bourgeoisie entschieden ins Blickfeld. Die „Kluft ... zwischen dem dichotomischen ZweiKlassenmodell" und dieser „Klassen-Vielfalt"152 ist freilich nicht als Ausdruck theoretischer Inkonsistenz zu werten. Sie ergibt sich vielmehr methodisch aus den unterschiedlichen Konkretionsstufen, auf denen sich die Texte jeweils bewegen. Die ins Einzelne gehende Untersuchung konkreter gesellschaftlicher Prozesse fördert unweigerlich eine komplexere und weiter verzweigte Wirklichkeit zutage, als dies die Analyse der unterhalb der Erscheinungsebene angesiedelten Tiefenstrukturen tun kann oder soll. In den revolutionären Kämpfen in Frankreich ging es nun nicht zuletzt wesentlich um die politische Rolle der zahlenmäßigen Mehrheit, die Marx als Bauern und Kleinbürger definierte.153 In dem von Marx benutzten Klassenmodell fällt zunächst seine nachdrückliche Differenzierung der Bourgeoisie auf. In der Grundkonstellation ist sie aufgeteilt in zwei bis drei wesentliche Fraktionen.154 Die „Finanzaristokratie" hatte sich unter dem „orleanistischen" Regime des nach der Julirevolution von 1830 an die Macht gelangten sogenannten Bürgerkönigs Louis-Philippe vor allem durch die steigende Staatsschuld, die damit ermöglichten Zinsgewinne der Banken und die an dieser Situation ansetzende Geldspekulation gewaltige Gewinne sichern können. Sie zielte daher, wie Marx betont, im Prinzip auf die Restauration des 205
soeben gestürzten Zweiges der Bourbonen-Dynastie. Dagegen unterstützten die Großgrundbesitzer den Prätendenten der älteren Bourbonen-Linie, die bis 1789/ 92 und von 1814/15 bis 1830 den König gestellt hatte. Diese „legitimistische" Partei war also auf eine Restauration auch gegenüber der Julirevolution aus. Alle anderen gesellschaftlichen Gruppen, einschließlich der industriellen, der „oppositionellen Bourgeoisie", hatten unter dem gestürzten Regime gelitten und erhofften sich von der Revolution eine Besserung ihrer Lage. Es kam nach der Februarrevolution zunächst zu einem „Kompromiß der verschiedenen Klassen", und Marx nennt die „republikanische Bourgeoisie", das „republikanische Kleinbürgertum", die „dynastische Opposition" und endlich die „Arbeiterklasse",155 die an der provisorischen Regierung beteiligt waren, die zunächst die „eingebildete Aufhebung der Klassenverhältnisse"156 nach dem Sieg der Revolution verkörperte. Die politischen Ziele und Schicksale dieser Gruppierungen differenzierten sich, „ehe die letzte Februarbarrikade weggeräumt" war, also unmittelbar nach dem Sieg der Revolution, der symbolisiert war im Sturz des „Bürgerkönigs" Louis Philippe. „Die Revolution bewegt(e) sich ... in absteigender Linie", und zwar in der Weise, daß zunächst auch die „proletarische Partei" in der provisorischen Regierung vertreten war, dann aber als erste „fallengelassen" wurde, und zwar von „der kleinbürgerlich-demokratischen", der es wiederum seitens der „BourgeoisRepublikaner" nicht besser erging; sie wiederum wurden von der „Ordnungspartei", der Koalition der beiden royalistischen Fraktionen, abgeschüttelt, die sich wiederum auf die „bewaffnete Gewalt" stützte, die schließlich ihrerseits offen die Macht ergriff: „Jede Partei schlägt von hinten aus nach der weiterdrängenden und lehnt sich von vorn über auf die zurückdrängende."157 Der von Marx entworfene Bezugsrahmen ordnet demnach jeder sozialen Formation eine politische Orientierung zu. Dies geschieht nicht in völlig gleichartiger Weise. Die Doppelbezeichnung ist am wenigsten deutlich, wenn einmal vom Proletariat eher als politischem Kollektivakteur und „Partei", dann von der Arbeiterklasse eher als sozialer Kategorie die Rede ist. Die „Bourgeois-Republikaner", die anhand der Exposition am ehesten der industriellen Bourgeoisie zuzuordnen wären, werden beim detaillierten Nachvollzug der einzelnen Abschnitte öfter als gesellschaftlich kaum fundiert, als „Koterie", also als wenig mehr als eine bloße Clique bezeichnet.158 Dies hängt freilich auch damit zusammen, daß das Interesse der besitzenden Klassen an „Ordnung" alle ihre weiteren und unterschiedlichen Zielsetzungen überschattete und so die politischen Vertreter der Republik marginalisierte. Solche Verschiebungen ändern aber nichts daran, daß gesellschaftliche Kategorien und „Parteien" von Marx durchgängig parallel behandelt werden. Der reale Prozeß, der von Marx als politischer Ausdruck gesellschaftlicher Kämpfe, kurz: des „Klassenkampfes", verstanden wird, ist nun aber gleichsam 206
doppelt strukturell bestimmt. Zum einen treten auf der politischen Bühne zwar Handelnde auf, ihre Möglichkeiten sind ihnen aber vorgegeben. Marx formuliert dies in dem berühmten Satz: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen." Freilich sind mit diesen Umständen nicht allein die sozialstrukturellen Gegebenheiten, die Klassenverhältnisse, gemeint. Marx zielt darüber hinaus auf die gesamte historische Situation, wenn er fortfährt: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden."159 Er betont in seinen Analysen der Revolution von 1848 immer wieder die Dimension der sozialen Kämpfe als Prozeß des Lernens und der Orientierung in einer historisch nie dagewesenen Situation, die zugleich bestimmt sei durch die besondere Stellung und historische Rolle des Proletariats. Während nämlich „bürgerliche Revolutionen" durch schnelle Erfolge, „dramatische Effekte", eine Phase gekennzeichnet seien, in der die „Ekstase ... der Geist jedes Tages" sei, auf die freilich auch ein „Katzenjammer" folge, spricht Marx „proletarische(n) Revolutionen ... wie d(en)en des neunzehnten Jahrhunderts" eine ganz andere, emphatisch reflexive Verlaufsform zu: Diese „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge ... schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!"160 Diesen Endpunkt des revolutionären Lernprozesses, des Umschlages, freilich glaubte Marx zugleich für die allernächste Zukunft erwarten zu dürfen. So ist es auch zu verstehen, wenn die nach der Februarrevolution vom „Proletariat" für wenige Monate „proklamierte ... soziale Republik" als Andeutung des „allgemeinen Inhalt(es) der modernen Revolution"161 bezeichnet wird. Die „Verhältnisse" sind dabei nichts anderes als die gesellschaftlichen Strukturen mit den ihnen innewohnenden Entwicklungstendenzen und Dynamiken. Sie drängen aus dieser Perspektive die revolutionäre Klasse in der „modernen Gesellschaft", das Proletariat also, zu der Konsequenz, die Bedingungen und Perspektiven des eigenen Tuns wo nicht vollständig zu erkennen, so doch unter ihrem Zwang letztlich selbst auszufüllen - so jedenfalls die eigentlich paradox begründete Hoffnung, die Marx hier formuliert. 207
Das bedeutet zugleich, daß die expliziten programmatischen Äußerungen der politischen Akteure nicht ohne weiteres mit ihren wirklichen Zielen gleichzusetzen sind. Marx versucht hier mehr als nur die heute geläufige, oft aber auch als vordergründig erscheinende ideologiekritische Operation, in der aus der typischen gesellschaftlichen Lage bestimmter Klassen und Schichten auf deren „Interessen" geschlossen wird. Ihm geht es vor allem um den gesellschaftlichen Denkhorizont, der jeweils durch diese Lage definiert und begrenzt wird. Aus der Verknüpfung und Verschränkung zwischen weitgehend direkt mit sozialen Lagen verbundenen Interessen und den komplexer begründeten Grenzen diverser gesellschaftlicher Bewußtseinsformen ergeben sich Erklärungsmöglichkeiten vor allem für gesellschaftliche Bündnisse, die gerade in einer Phase dramatischer Ereignisfolgen schnell gewechselt haben. Ihre Formierung wie auch ihr Auseinanderbrechen bilden nun den Leitfaden, an dem entlang sich der Gang der Ereignisse rekonstruieren und explizieren läßt.
3.4.4 Klassen und ihre Vertreter Die kurz umrissene Ausgangsdisposition bietet nun zugleich ein hervorragendes Beispiel, an dem sich die Funktionsweise der Marxschen Ideologiekritik beobachten lässt. Damit können wir hier auch eine konkretere Vorstellung davon gewinnen, wie Marx das Verhältnis von „Basis und Überbau" konzipiert hat. Die Gründe, die einzelne Personen derart zu Repräsentanten bestimmter Klassen werden ließen, waren für Marx nicht unmittelbar aus ihren Äußerungen zu erschließen. Vielmehr betonte er, politische Zielsetzungen und materiell begründete Interessen seien in komplexer Weise vermittelt. Zumindest sah er diese Komplexität bei den nicht-proletarischen „Parteien". Deren programmatischen Zielsetzungen können ihren Mitgliedern durchaus als subjektiv begründete Motive erscheinen, dahinter stecken aber sozialstrukturelle Gegebenheiten und letztlich auch Beweggründe: „Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus ... Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden."162 Das in den sozioökonomischen Strukturen wurzelnde Klasseninteresse und sein Ausdruck im kollektiven und individuellen Bewußtsein entspringen demnach für Marx einem Prozeß, in dem kollektive wie individuelle Lagen, Erfahrungen und Wünsche verarbeitet werden. Der „Überbau" ist daher kein einfacher Abklatsch oder gar 208
eine Widerspiegelung sozialer Strukturen. Er ist vielmehr Resultat der bewußtseinsmäßigen Bearbeitung dieser Verhältnisse und der individuellen Erfahrungen damit über längere Zeiträume, jedenfalls über mehrere Generationen hinweg. Diese Erfahrungen und Bearbeitungsprozesse freilich werden sich mit gewissen Schwankungsbreiten auf gemeinsames Material beziehen, eben auf die sozioökonomischen Strukturen, unter denen ähnliche individuelle Ausgangslagen auch ähnliche Erfahrungshorizonte hervorbringen. Dabei entsteht freilich kein treues Abbild der Realität im Bewußtsein. Besonders, wenn dies nun auf „geschichtliche Kämpfe" bezogen wird, „so muß man ... die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden."163 Hinter den expliziten Zielsetzungen wie „Republik" oder „Menschenrechte" sieht Marx demnach eher implizite Programme, die er auf zugrundeliegende Strukturen und Interessen der unterschiedlichen Klassen oder „Parteien" zurückführt, die unmittelbar nach der Februarrevolution die Allianz ausmachten, deren Ausdruck die provisorische Regierung gewesen war. Dieses Klassenbündnis war aus der „allgemeine(n) Erhebung gegen die Finanzaristokratie" entstanden, die den „Kampf gegen die untergeordneten Exploitationsweisen des Kapitals" mit eingeschlossen hatte, „des Bauern gegen den Wucher und die Hypotheke, des Kleinbürgers gegen den Großhändler, Bankier und Fabrikanten." Demgegenüber war „der Kampf gegen das Kapital in seiner entwickelten modernen Form, in seinem Springpunkt, der Kampf des industriellen Lohnarbeiters gegen den industriellen Bourgeois ... ein partielles Faktum". Die revolutionären Chancen „der französischen Arbeiter" waren daher abhängig vom Verhalten der „zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie stehenden Masse der Nation, Bauern und Kleinbürger".164 Der Sieg der Revolution übertünchte zunächst einmal mit der Parole der fraternité, einer „eingebildeten Aufhebung der Klassenverhältnisse",165 die vorhandenen gesellschaftlichen Gegensätze, wie sie in diesen Formulierungen resümiert werden. Erst die Anfang Mai abgehaltenen „direkten allgemeinen Wahlen ... (brachten) das wirkliche Volk ans Tageslicht, d.h. die Repräsentanten der verschiedenen Klassen, in die es zerfällt".166 Nicht nach ihrer Programmatik und ihren expliziten Zielsetzungen, sondern aufgrund ihrer Interessenpolitik und gesellschaftlichen Perspektiven glaubte Marx die politischen Akteure als „Repräsentanten" oder „Vertreter" bestimmter Klassen kennzeichnen zu können. Wie gleich ausführlicher gezeigt werden soll, wird auch hier freilich nicht eine vordergründig direkte, sondern eine mehrfach und komplex vermittelte Beziehung unterstellt. Solche von gesellschaftlichen Großgruppen eingenommenen Perspektiven verdeutlicht Marx vor allem anhand ihrer Entscheidungen in Extremsituationen an Wendepunkten der Revolution. Ein 209
besonderes Anliegen mußte die genauere Analyse der erwähnten intermediären „Masse" zwischen den beiden gesellschaftlichen Polen, der Bourgeoisie und dem Proletariat sein. Da Zentren der Revolution in den Städten gelegen hatten, liegt es nahe, daß das städtische Kleinbürgertum dabei die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Marx rechnet dem „Kleinbürgertum", dessen Interesse er mit der radikalen, nicht aber der sozialen „Demokratie" gleichsetzt, nicht etwa die Absicht zu, „prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen" zu wollen. Vielmehr versteht Marx die faktische Verfolgung eines solchen Interesses als Ausdruck der „Grenzen", die durch die gesellschaftliche Lage dieser Kategorie bedingt seien. Das Kleinbürgertum sei in dem Glauben befangen, „daß die besonderen Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann."167 Diese verfehlte Hoffnung sieht Marx in dem Charakter des Kleinbürgertums als „Übergangsklasse" begründet, „worin sich die Interessen zweier Klassen zugleich abstumpfen". Dies werde von den „Demokraten" übersetzt in die Gegenüberstellung zwischen einer „privilegierte(n) Klasse" und einem undifferenzierten „Volk".168 Wie Marx im weiteren Verlauf zeigt, konstituieren die „besonderen Bedingungen", unter denen sich das Kleinbürgertum in Wirklichkeit befindet, ein Spannungsverhältnis, das die Repräsentanten des Kleinbürgertums zunächst gegenüber dem Ansturm des Proletariats an die Seite der bürgerlich dominierten „Ordnungspartei" treten läßt, im weiteren Verlauf sie aber in eine enge, „sozialdemokratische" Koalition mit den Arbeitervertretern zwingt zur schließlich erfolglosen - Verteidigung der Verfassungsinstitutionen, vor allem des allgemeinen Männerwahlrechts. Es besteht für Marx demnach keine unmittelbare Kongruenz zwischen den Absichten der Individuen, die einer Klasse zugerechnet werden können, und den von ihnen verfolgten Interessen, sondern diese wird durch die Lage der jeweiligen Klasse abgesteckt. Ebensowenig besteht eine unmittelbare Kongruenz zwischen der Klasse und den ihr zugerechneten politischen Exponenten, denn man müsse sich nicht etwa „vorstellen, daß die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers sind oder für dieselben schwärmen. Sie können ihrer Bildung und ihrer individuellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt sein. Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben." Das nicht weiter erläuterte Verhältnis zwischen der Klasse und ihren Repräsentanten erinnert am ehesten an die Metapher der „Wahlverwandtschaft", d.h. das Zusam210
menschießen zweier zunächst einander fremder Elemente.169 An anderer Stelle wurde die ähnliche Parteinahme einzelner Träger von „Bildung" für das Proletariat aus individuellen Deklassierungsprozessen, aber auch aus bewußter Entscheidung begründet, die einen „Teil der Bourgeoisideologen" „zum Proletariat über(gehen)" lasse.170 Die grundlegende Konfiguration bleibt dieselbe, wie Marx unterstreicht: „Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten."171 Damit freilich sind Probleme der rationalen Zurechnung von Zielsetzungen, Handlungen und theoretischen Aussagen ebenso wie etwa ästhetischen Orientierungen auf spezifische gesellschaftliche Lagen aufgeworfen. Diese Probleme sind im Marxschen Werk nicht gelöst, und sie sind auch nicht systematisch thematisiert worden. Allerdings liegen in den hier betrachteten Arbeiten exemplarische Analysen auf der Grundlage des erläuterten Theorems vor. Die Rezeption war auch hier politisch folgenreich. Durch die Ausschaltung der von Marx gerade herausgestellten Vermittlungsschritte wurden vor allem im Sowjetmarxismus selbst noch erkenntnistheoretische Optionen oder literarische Strömungen unmittelbar auf die Parteinahme für eine bestimmte Klasse bezogen - mit zuweilen tödlichen Konsequenzen für die Betroffenen.172 Demgegenüber dürfte die lang anhaltende Faszination dieses Ansatzes gerade darin begründet sein, daß politische Optionen und Aktionsentscheidungen hier nicht als völlig beliebig und damit letztlich als unerklärlich erscheinen, sondern zurückgebunden werden an gesellschaftliche Lagen und Prozesse, die ihrerseits entscheidend zu den historischen Großereignissen beigetragen haben.
3.4.5 Kollektive Akteure - Klassensubjekte? Wenn nun in Marxens Untersuchung eines solchen Großereignisses, wie es die Revolution von 1848 sicherlich war, Klassen als kollektive Subjekte auftreten, so rücken jene Probleme noch weiter in den Hintergrund, die mit der Diskussion des Horizonts und auch der Motivationslage von deren „Vertretern" angesprochen sind. Dabei geht es um die zentrale Frage, wie objektive und kollektive Prozesse auf der Ebene der Subjekte, also auch individuell vermittelt werden. Doch die Spannung zwischen den „Phrasen und Einbildungen" der Parteien und ihrer Exponenten und den herausgearbeiteten realen Prozessen bleibt zentral für die Marxsche Analyse. Das zeigt sich zunächst an der Einschätzung der Republik und sodann an den sozialstrukturellen Begründungen für wesentliche Entscheidungen der Revolution. Die „politische Wiederbefestigung der bürgerlichen Gesellschaft, ... die bürgerliche Republik" war nach den Anfang Mai 1848 durchgeführten Wahlen eben 211
nicht auf revolutionäre Weise erreicht worden. Sie war, wie Marx betonte, „nicht die Republik mit sozialen Institutionen, nicht das Traumbild, das den Barrikadenkämpfern vorschwebte".173 Diese Republik nun bestimmte Marx systematisch als die eigentlich bürgerliche Form staatlicher Herrschaft. Dabei konfrontiert er die eher kontingente, historisch konkrete Situation mit einem strukturellen Zusammenhang. Wie schon erwähnt, ordnete Marx die beiden nacheinander gestürzten monarchischen Regimes, das legitimistische der 1814 restaurierten älteren Linie der Bourbonen und die nach der Revolution von 1830 installierte orleanistische „Julimonarchie" ebenso wie die an sie anknüpfenden politischen Strömungen, jeweils einer der „großen Fraktionen" der „Bourgeoisklasse" zu, und zwar die Legitimisten dem „große(n) Grundeigentum" und die Orleanisten der „Finanzaristokratie ... und ... industrielle(n) Bourgeoisie".174 Marx betont andernorts, „das große Grundeigentum" sei „trotz seiner feudalen Koketterie ... vollständig verbürgerlicht" gewesen.175 Auch hier wird demnach eine Divergenz zwischen Sozialcharakter und dem kollektiven Bewußtsein davon konstatiert, die dann in der Extremsituation der Revolution gleichsam verdampfte und an Bedeutung verlor. Aus einsichtigen Gründen war ein Bündnis beider Gruppierungen am ehesten herstellbar, wenn die Frage, welche der beiden Linien des Hauses Bourbon restauriert werden sollte, wenigstens für den Moment ausgespart wurde oder gänzlich offen blieb. Demnach war die Republik, für die die Frage nach der Person des Monarchen ja entfiel, zunächst auf taktischer Ebene geeignet, den Konflikt zwischen den beiden bürgerlichen Fraktionen zu umgehen: „Hier in der bürgerlichen Republik, die weder den Namen Bourbon noch den Namen Orleans trug, sondern den Namen Kapital, hatten sie die Staatsform gefunden, worunter sie gemeinsam herrschen konnten." 176 Dies kann als der kontingente Grund für die republikanische Lösung verstanden werden. Die gleiche Funktion erfüllte später die Kandidatur Louis Bonapartes zur Präsidentschaft, als dieser als „neutraler Mann" 177 auftrat. Die gesellschaftliche Grundlage des einmal etablierten Regimes des Louis Bonaparte zeichnet Marx als weit komplexer: Zunächst „(ist) die Stärke dieser bürgerlichen Ordnung ... die Mittelklasse". Deren „Geschäfte" sind „Handel und Industrie". Es handelt sich also um nichts anderes als die Bourgeoisie unter Ausschluß der Finanzaristokratie. Doch obwohl diese „Klasse" demnach die gesellschaftliche Grundlage von Bonapartes Regime bildete, konnte dieser nur an die Macht kommen „dadurch ..., daß er die politische Macht dieser Mittelklasse gebrochen hat und täglich neu bricht", während er „ihre materielle Macht beschützt". „Dies freilich „erzeugt ... von neuem ihre politische Macht", die wiederum bekämpft werden muß. Marx sah die Grundlage der Machtstellung Bonapartes vor diesem Hintergrund in seiner Fähigkeit, die unterschiedlichen Klassen der 212
französischen Gesellschaft gegeneinander auszuspielen und zugleich durch immer neue, oft einander widersprechende Dekrete die „Grenzlinie" zu „verwischen": „Bonaparte weiß sich zugleich gegen die Bourgeoisie als Vertreter der Bauern und des Volkes überhaupt, der innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft die untern Volksklassen beglücken will." Diese Zielsetzung freilich erwies sich als unrealistisch, wie Marx eigens anhand der Lage der Bauern erläuterte. Doch besaß Bonaparte zusätzlich eine direkte Machtbasis in der konspirativen „Gesellschaft des 10. Dezember", die seine politische Strategie unterstützte und die Marx als „Repräsentanten des Lumpenproletariats" kennzeichnete.178 Damit sind zwei weitere Klassen benannt, die in Marxens Rekonstruktion der Ereignisse seit 1848 eine wesentliche Rolle spielten. In der späteren Rezeption der Marxschen Klassen-Kategorien erwiesen sich gerade die anhand der Situation in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten Konzepte der Bauernschaft und des Lumpenproletariats als besonders folgenreich und sollen daher noch etwas näher betrachtet werden. Zunächst wurden die Bauern erwähnt, die „zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft", von der Marx annahm, daß „Bonaparte" sie „vertritt". Anhand dieser Klasse der „Parzellenbauern" zeigt sich besonders klar die Spannung zwischen der objektiven und der subjektiven Dimension des Marxschen Klassenbegriffs, eben weil Marx ihnen die subjektive Seite, die Möglichkeit der gemeinsamen Aktion als Klasse ausdrücklich abspricht: Sie „bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. (...) Jede einzelne Bauernfamilie genügt beinahe sich selbst, produziert unmittelbar selbst den größten Teil ihres Konsums und gewinnt so ihr Lebensmaterial mehr im Austausche mit der Natur als im Verkehr mit der Gesellschaft. (...) So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet. Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. (...) Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den andern Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt."179 Dies, so fährt Marx fort, sei durch den Nimbus der 213
„Dynastie Bonaparte" gegeben gewesen, der sich daraus herleitete, daß in der „erste(n) Revolution die halbhörigen Bauern in freie Grundeigentümer verwandelt" wurden und dieses Eigentum unter Napoleon I. abgesichert worden sei.180 Dagegen sei 50 Jahre später bereits die Krise des bäuerlichen Kleineigentums angebrochen, nicht zuletzt durch seine „progressive Verschuldung": War daher in der ersten Revolution „die Bauernklasse der allgegenwärtige Protest gegen die eben erst gestürzte Grundaristokratie" gewesen, so war nun „die Parzelle des Bauern ... nur noch der Vorwand, der dem Kapitalisten erlaubt, Profit, Zinsen und Rente von dem Acker zu ziehn": „Die bürgerliche Ordnung, die im Anfange des Jahrhunderts den Staat als Schildwache vor die neuentstandene Parzelle stellte und sie mit Lorbeeren düngte, ist zum Vampyr geworden, der ihr Herzblut und Hirnmark aussaugt."181 Unter diesen so veränderten Umständen sah Marx das städtische Proletariat zwar grundsätzlich als den „natürlichen Verbündeten und Führer" der Parzellenbauern;182 der Einlösung dieser Möglichkeit oder Tendenzen standen jedoch die „Ideen der unentwickelten, jugendfrischen Parzelle" entgegen, die angesichts der inzwischen eingetretenen Krise der „überlebte(n) Parzelle" zwar nur mehr verkehrt und pervertiert, dennoch aber wirkungsmächtig waren.183 Hier geht es Marx freilich nicht allein um die Entlarvung einer nun überholten, reaktionär gewordenen Ideologie. Deutlich wird auch, daß das kollektive Handeln von Klassen an komplexe Voraussetzungen gebunden ist und in wichtigen Fällen durch ideologische Überhänge bestimmt sein kann, wie Marx sie im Fall der französischen Parzellenbauern im Festhalten an der inhaltsleer gewordenen Hülle einer nicht mehr realistischen bäuerlich-kleinbetrieblichen Selbständigkeit erblickte. Vor allem aber wird vor der negativen Folie der Bauernschaft deutlich, was in Marxens Augen unter den subordinierten Klassen vor allem das Proletariat zumindest der Möglichkeit nach auszeichnete: Für die Möglichkeit der kollektiven Handlungsfähigkeit, die er bei der Bourgeoisie offensichtlich ebenso, wenn auch aus etwas anderen Gründen, gegeben sah wie beim Proletariat, genügt es nicht, „dieselben" Interessen zu haben, solange diese Interessen nicht auch „gemeinsam" sind. Damit ist recht genau derselbe Unterschied von Vergesellschaftungsmodi angesprochen, wie ihn einige Zeit später Emile Durkheim mit seinem berühmten Begriffspaar der mechanischen und organischen Solidarität formuliert hat, freilich mit aufschlußreichen Unterschieden:184 Die stereotype Gleichförmigkeit der Bauernwirtschaften entspricht den einander gleichenden sozialen Segmenten bei Durkheim, die nur zu einem „mechanischen" Zusammenhang fähig sind oder durch eine Herrschaftsinstanz zusammengehalten werden, während differenzierte Arbeitsteilung bei Durkheim einen gesellschaftlichen Zusammenhang schafft, der eben aufgrund der gegenseitigen engen Abhängigkeit 214
der beteiligten Elemente als „organisch" bezeichnet werden kann, während Marx betriebliche Kooperation und gesellschaftlichen Austausch beschreibt, die zwar herrschaftsförmig hergestellt sind, aber den Arbeitern wenigstens die Chance geben, ihre gegenseitige Konkurrenzsituation zu überwinden und Einsicht in die Gemeinsamkeit ihrer Interessen zu erlangen.185 Das Bild vom Sack Kartoffeln, das die Dieselbigkeit ohne Gemeinsamkeit der Interessen sehr drastisch zum Ausdruck bringt, hat spätere marxistische Analysen und Bewertungen von bäuerlichen Gesellschaften sehr nachhaltig geprägt, auch wenn es sich vielfach um ganz andere Verhältnisse gehandelt hat als im konkreten Fall der französischen Parzellenbauern. Dadurch wurde das Verständnis entscheidender sozialer Bewegungen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgenreich erschwert. Die wichtigsten Fälle dürften die Revolutionen in Rußland und mehr noch in China gewesen sein, die ganz wesentlich durch die spannungsreichen, gerade von der marxistisch-leninistischen Orthodoxie aber verkannten und abgeleugneten Beziehungen zwischen städtischen und ländlichen Bewegungen geprägt waren.186 Marx macht in der sozialen Struktur des zeitgenössischen Frankreich des weiteren einen kollektiven, klassenmäßig bestimmbaren Akteur aus, der der von ihm beschriebenen Krise gleichsam entsprungen ist und ihre antirevolutionäre und schließlich bonapartistische Lösung exekutiert hat, das „Lumpenproletariat". Marx verstand den Staatsstreich Bonapartes ausdrücklich als „Untergang" der Herrschaft der Bourgeoisie.187 Die geheime „Gesellschaft des 20. Dezember", das organisatorische Instrument des Staatsstreichs Bonapartes, verstand er eher als Organisation des „Pariser Lumpenproletariat(s)": Nicht ohne Polemik bestimmte Marx diese Kategorie als „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen", im Einzelnen „neben zerrütteten Roues (Wüstlingen) mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni (Bettler), Taschendiebe, Spieler, Maquereaus (Zuhälter), Bordellhalter, Lastträger, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen". 188 Im Kontext der Kritik der politischen Ökonomie hat Marx später das Lumpenproletariat als Unterkategorie der „industriellen Reservearmee" bestimmt, wobei er im wesentlichen dieselben Charakteristika nennt.189 Diese deutlich polemischen Formulierungen bringen viktorianisch gefärbte Werturteile unverkennbar zum Ausdruck. Hier knüpften später vielfältige, häufig auch populär oder agitatorisch gehaltene Argumentationsstrategien an, die vor allem zur Erklärung revolutionärer Niederlagen auf das vorgebliche Auftreten des allein 215
schon durch seine ausgestoßene Lage käuflichen, für alle möglichen finsteren Machenschaften verfügbaren Lumpenproletariats verwiesen. Betrachtet man den analytischen Gehalt des Konzeptes, so erweist sich das Lumpenproletariat in der Charakteristik von Marx als buntes Konglomerat, dessen Mitglieder ein Spektrum von der ungeregelten Gelegenheitsarbeit über verschiedene Formen der Verelendung bis hin zur Kriminalität repräsentieren. Gemeinsam ist ihnen die subproletarische Lage, die zur Verfolgung unterschiedlicher Überlebensstrategien und auch zur Kombination mehrerer verschiedener Erwerbs- und Subsistenzformen durch einzelne Personen oder Haushalte zwingt. Ähnliche Verhältnisse werden in der Gegenwart unter dem harmloser erscheinenden Etikett des „informellen Sektors" diskutiert.190 Das Lumpenproletariat kann aus dieser Sicht als geradezu negatives Gegenbild zum Proletariat verstanden werden, dessen Lebensform zumindest für den keineswegs sicheren Fall des stetigen Verkaufs der Arbeitskraft, d.h. lebenslang kontinuierlicher Lohnarbeit, gerade durch die vom Kapital und seinem Fabrikregime erzwungene Regelhaftigkeit charakterisiert ist. Marx hat aber im Kapital sorgfältige Abstufungen der „industriellen Reservearmee" in „flüssige, latente und stockende" Kategorien der „relativen Überbevölkerung" vorgenommen.191 Er bezeichnet ferner als „tiefste(n) Niederschlag der relativen Überbevölkerung ... die Sphäre des Pauperismus" und unterscheidet hier noch einmal das „eigentliche Lumpenproletariat" von den durch den Arbeitsmarkt immer wieder absorbierten Kategorien der „arbeitsfähigen" Armen und der „Waisen- und Pauperkinder", denen wiederum „Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige" gegenüberstehen.192 Damit ist deutlich gemacht, daß eine wesentlich stärkere Kontinuität, mehr fließende Übergänge zwischen diesen Gruppierungen bestehen, als die kategoriale Festlegung dies auf den ersten Blick vermuten läßt.
3.4.6 Die Sonderstellung des Proletariats Zugleich aber unterstreicht die begriffliche Auszeichnung der industriellen Reservearmee und ihrer Unterkategorien ein wesentliches, häufig mißverstandenes Moment der Marxschen Klassenkonzeption: Dem Proletariat wird seine Stellung als gesellschaftliches Subjekt der erwarteten Revolution keineswegs zugeschrieben als der „leidendsten Klasse" der bürgerlichen Gesellschaft,193 sondern weil die Proletarier durch Trennung von Produktionsmitteln und allen gemeinde-, aber auch herrschaftsförmigen personalen Abhängigkeiten, durch absolute Bindungslosigkeit, die Negation aller menschlichen Verhältnisse repräsentierten. Diese radikale Negation schien den radikalen Umschlag zu versprechen - und zwar nicht in eine neue Klassenherrschaft, sondern zur bestimmten Negation aller 216
Herrschaft von Menschen über Menschen. Nicht unmittelbar vom Ausmaß der - auch von Marx häufig in drastischer Form dargestellten - materiellen Verelendung des Proletariats war aus dieser Sicht der revolutionäre Umschlag zu erwarten, sondern von der spezifischen gesellschaftlichen Stellung dieser Klasse. Dieses Konzept der proletarischen Klassenlage ließ durchaus der Möglichkeit Raum, daß es anderen sozialen Gruppen und Schichten materiell noch wesentlich schlechter ging. Mit der Konstatierung materiellen Elends allein ist aber nichts ausgesagt über eine irgendwie besonders hervorstechende Widerständigkeit oder gar die Fähigkeit zur dauerhaften Organisation eines solchen Potentials. Das läßt sich leicht auch an dem Katalog von Einzelsituationen überprüfen, mit denen Marx seine Kategorien der Reservearmee und vor allem des Lumpenproletariats konkretisiert hat. Wie auch die weitere Entwicklung sozialer Bewegungen und Revolutionen sehr deutlich gezeigt hat, wurden diese nicht allein oder nicht einmal in erster Linie durch eine besonders elende Lage ausgelöst. Eine mindestens ebenso große Rolle spielten die Wahrnehmung von Möglichkeiten der Veränderung und die Verfügbarkeit von Ressourcen zur effektiven Artikulation und Organisation ihrer Interessen.194 In der Analyse der Ereignisse in Frankreich tritt das „Proletariat" als kollektiver Akteur überraschend kompakt, ja geradezu undifferenziert auf, vor allem im Vergleich zu den sorgfältig auseinandergelegten Fraktionierungen der Bourgeoisie oder auch zu den Überlegungen zur Rolle des Kleinbürgertums und den hier ansetzenden Reflexionen auf das Verhältnis zwischen sozialen Großgruppen und ihren politischen Repräsentanten. Eher schon lassen sich Rückschlüsse aus den Defiziten ziehen, die Marx vor allem im Hinblick auf die Rolle der Parzellenbauern geltend macht. Deren sozioökonomische Zersplitterung macht sie ja seiner Meinung nach auch unfähig zu einer gemeinsamen Aktion und bildet die Grundlage dafür, daß sie sich auf eine starke, quasi-patriarchalische Führungspersönlichkeit orientieren, wie sie vor allem von Napoleon I und später, durch die Nutzung von einer Art Erbcharisma in geringerem Maß und vor allem mit deutlich rückschrittlicher Tendenz, von Louis Bonaparte repräsentiert wurde. Doch liegen für Marx die Dinge weit komplizierter, als daß allein aus der geschichtsphilosophisch begründeten Sonderstellung des Proletariats als radikalste Negation von Menschlichkeit sich schon reale Handlungsfähigkeit ergeben würde. An anderer Stelle hat Marx sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, daß Arbeiter ihrer sozialen Lage nach keineswegs von vornherein und unter allen Umständen zu spontaner, aus eigener Kraft hervorgebrachter „vereinigte(r) Aktion" 195 befähigt sind. Zunächst einmal herrscht zwischen ihnen Konkurrenz. Die Arbeiter sind atomisiert, und „die Großindustrie bringt eine Menge einander unbe217
kannter Leute an einem Ort zusammen";196 es besteht demnach vorderhand kein gesellschaftlicher Zusammenhang zwischen ihnen. Dieser wird erst durch das Kapital geschaffen. Die „Arbeitermassen ... werden soldatisch organisiert" in einem ausdrücklich als „Despotie" bezeichneten Herrschaftszusammenhang.197 Dieses strikte Befehlssystem, ein extremes Herrschaftsverhältnis also, bildet den Rahmen, in dem sich der gesellschaftliche Zusammenhang und das organisatorische Potential der Arbeiter zuerst konstituieren. Das Kapital eignet sich die „Massenkraft" der Arbeiter an, die nur unter seiner „Direktion" effektiv genutzt werden kann. Doch dies bedeutet zugleich die Steigerung des Organisationsgrades der Arbeiter, und zwar nicht nur als Agenten des Produktionsprozesses, sondern auch als gesellschaftliche Subjekte: „Mit der Masse der gleichzeitig beschäftigten Arbeiter wächst ihr Widerstand." Diese widerständige Tendenz ändert aber nichts daran, daß „der Zusammenhang ihrer Funktionen und ihrer Einheit als produktiver Gesamtkörper ... außer ihnen (liegt), im Kapital, das sie zusammenbringt und zusammenhält".198 So sind die Arbeiter zunächst einmal ähnlich atomisiert wie die Parzellenbauern - außer durch die Existenz und den Zwang des Kapitals, daß sie allererst überhaupt „zusammenbringt". Aus der „über das ganze Land zerstreute(n) und durch die Konkurrenz zersplitterte(n) Masse"199 kann sich jedoch eine „Koalition" bilden durch das „gemeinsame Interesse gegenüber ihrem Meister" an der „Aufrechterhaltung des Lohnes" 200 . Die Überwindung der Zersplitterung, in anderer Terminologie im Grunde erst die eigentliche Vergesellschaftung der Arbeiter oder gleichsam die Einlösung der Chance einer klassenpolitischen Umsetzung organischer Solidarität, erfolgt daher auf der Grundlage der despotisch erzwungenen Kooperation und des durch sie konstituierten Herrschaftszusammenhangs. Darüber hinaus setzen dann die Entstehung großer Betriebe, die Konzentration und die Zentralisation des Kapitals, kurz, „der Fortschritt der Industrie ... an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation".201 Dies ist jedoch kein mit mechanischer Notwendigkeit ablaufender Vorgang, sondern ein Prozeß gesellschaftlichen Lernens. Marx hat dies in der politischen Auseinandersetzung mit voiuntaristischen Positionen in der Prognose zum Ausdruck gebracht, die „Arbeiter" hätten „15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um (sich) selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen"202. Die Herausbildung dieser subjektiven Seite des Klassenzusammenhanges mußte aus der für Marx dominierenden Perspektive verändernder Politik entscheidend sein. Umso mehr mag es überraschen, daß er sich dazu vergleichsweise wenig geäußert hat. Hinweise auf eine Konkretion des angesprochenen Lernprozesses enthalten am ehesten die Kommentare, die Marx und Engels vor allem während der 1850er 218
Jahre mehr oder weniger fortlaufend zu Entwicklungen unter anderem auch in Großbritannien schrieben. Sie beobachteten vor dem Hintergrund der Konjunkturentwicklung in England und des vor allem zu Jahresbeginn 1853 gegenüber dem Vorjahr deutlich angestiegenen Exports eine kräftige Streikbewegung als „notwendige Folge einer relativen Abnahme der überschüssigen Arbeiterbevölkerung, die mit einer allgemeinen Verteuerung der Preise für die wichtigsten Bedarfsgüter zusammenfällt".203 Daran knüpfte sich die Hoffnung auf eine neue gesellschaftliche Bewegung, nachdem der Chartismus und seine Organisationen dahingeschmolzen waren, „gerade zu einer Zeit, da sich das Wissen um die sozialen Zusammenhänge ausbreitete. Inzwischen wuchs auf den Ruinen der politischen Bewegung eine Arbeiterbewegung, die aus den ersten zaghaften Schritten zu einem sozialen Bewußtsein geboren wurde." Sie aber gelte es nun organisatorisch zusammenzufassen und ihr eine politische Stoßrichtung zu geben, im wesentlichen durch eine Erneuerung des chartistischen Programms.204 Wenig später erblickte Marx die Form dieses politischen Projektes in dem von den Chartisten initiierten „Arbeiterparlament" 205 Die ökonomische, an den Bewegungen und den Zwängen von Angebot und Nachfrage orientierte Bewegung war abhängig von der Konjunktur oder so problematischen Instrumenten wie der damals in England breit propagierten Auswanderung 206 Diese sollte hier genutzt werden, um grundlegendere Umwälzungen vorzubereiten und die dafür notwendigen organisatorischen, aber auch bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen zu schaffen. Tageskämpfe und Streiks, bei aller „Bedeutungslosigkeit ihrer Resultate", sollten dabei dazu dienen, „den Kampfgeist der Arbeiterklasse lebendig zu halten". Entscheidend waren daher nicht ihre materiellen, sondern „ihre moralischen und politischen Auswirkungen".207 Beim Einsetzen der Krise Ende 1853 glaubte Marx sagen zu können, die Streiks hätten „ihr Werk getan. Sie haben das Industrieproletariat revolutioniert", was Ausdruck gefunden habe in der Bewegung für das Arbeiterparlament.208 In ihm glaubte er, „eine wirkliche Vertretung aller Zweige und Teile der Arbeiter im nationalen Maßstab" vor sich zu haben.209 In diesen eher an Tagesereignissen orientierten Überlegungen wird die Arbeiterklasse freilich ganz ähnlich wie schon in den eingehenderen Frankreich-Analysen als eine weitgehend einheitliche Kategorie behandelt. Die Chance des erhofften Wiederaufschwungs der revolutionären Bewegung in Europa verband sich für Marx unauflöslich mit dem Herannnahen einer neuerlichen kapitalistischen Krise.210 Auch dies mag ein Teil der Erklärung dafür sein, daß Marx politische Differenzierungen innerhalb der Arbeiterklasse kaum angesprochen hat. Daher bleiben auch deren möglichen sozialen Ursachen weitgehend unerörtert 211 In der Folge haben sich die miteinander verknüpften Problemstellungen der Konstituierung des Subjekts der angestrebten Revolution und der Differenzie219
rung der Arbeiterklasse als historisch, aber auch für das Schicksal der Marxschen Theorie als überaus folgenreich erwiesen. Die „Organisationsfrage", d.h. das Verhältnis der seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts weit stärker als zuvor institutionalisierten sozialdemokratischen Parteien zur Arbeiterklasse, aber auch zu den gleichfalls organisatorisch stärker konsolidierten Gewerkschaften, wurde zu einem der großen Streitpunkte, an denen später auch der hegemoniale Anspruch der Bolschewiki festgemacht wurde.212 In demselben Kontext wurde die ökonomische Differenzierung der Arbeiterklasse durch die These von der Arbeiteraristokratie aufgegriffen. Dabei wurde, methodisch anders als in den dargestellten, sehr komplexen Überlegungen von Marx, ein einfacher Zusammenhang zwischen der „Bestechung der Oberschichten des Proletariats" durch die Erträge der imperialistischen Expansion und dem „Opportunismus" innerhalb der Sozialdemokratie hergestellt.213 Als Wendepunkt zur Vorherrschaft des Opportunismus als Ausdruck wenigstens der kurzfristigen Interessen der so verstandenen Arbeiteraristokratie erschien die gerade von Lenin schockartig erlebte Zustimmung der sozialistischen Parteien zur Kriegführung ihrer jeweiligen Regierungen beim Beginn des Ersten Weltkrieges Anfang August 1914. In der weiteren Theorieentwicklung ist neben der verbreiteten Kritik an der Verbürokratisierung von Partei- und Gewerkschaftsorganisationen vor allem die Konzeption der Klassenhegemonie Antonio Gramscis hervorzuheben.214 Gramsci eröffnet durch die Berücksichtigung eines breiten Spektrums von „Hegemonieapparaten" wie „Massenparteien, ... Verbände und Gewerkschaften,... Schulen und Hochschulen,... Medien, ... Kirchen, ... Bibliotheken"215 nicht allein in systematischer Weise den Blick auf die kulturelle Dimension sozialer Kämpfe; er verweist auch auf die alltägliche Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung in individuellen und kollektiven Lebensprozessen und fragt aus dieser Perspektive nach den Möglichkeiten der Konstituierung einer Gegen-Ordnung. In der Geschichte der an Marx anknüpfenden kritischen Beschäftigung mit sozialen Kämpfen verweisen solche Überlegungen auch zurück auf radikale, dissidente oder marginalisierte Positionen wie die frühzeitige Thematisierung von Lernprozessen in den Massenbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts durch Rosa Luxemburg216 oder Leo Trockijs Analyse der „molekularen" Prozesse, die ihm das für Beobachter wie für Parteifunktionäre überraschende Ausbrechen der Februarrevolution 1917 in Russland erklärten.217 Alle diese Überlegungen kreisten immer wieder um den Zusammenhang zwischen der konstatierten Klassenherrschaft und der Staatsmacht, der sich revolutionäre Bewegungen ebenso wie oft genug streikende Arbeiterinnen und Arbeiter unmittelbar konfrontiert sahen. Marx hat auch diese Problematik vor allem anhand aktueller Entwicklungen behandelt, und auch hier nimmt Frankreich eine zentrale Stellung ein.
220
3.5 Staat und Klassenherrschaft In seiner Rekonstruktion der Klassenkämpfe am paradigmatischen Fall Frankreichs nach 1848 rückt Marx nicht nur Klassen oder Klassenfraktionen als kollektive Akteure in den Blickpunkt, sondern immer wieder auch die Kontrolle des Staatsapparats als wesentliches Objekt der Auseinandersetzung. Diese Analyse hat daher, neben Debatten über das Konzept gesellschaftlicher Klassen, auch die von Marx inspirierte Staatsdiskussion wesentlich beeinflußt. Dem soll hier zumindest in wenigen groben Zügen nachgegangen werden.
3.5.1 Bürgerliche Herrschaft Die gegenüber älteren, hegelianisch geprägten Positionen wesentliche geschichtsmaterialistische Grundthese besagte, „daß überhaupt nicht der Staat die bürgerliche Gesellschaft, sondern die bürgerliche Gesellschaft den Staat bedingt und regelt, daß also die Politik und ihre Geschichte aus den ökonomischen Verhältnissen und ihrer Entwicklung zu erklären ist, nicht umgekehrt"218. Aus dieser Annahme ergibt sich mehr, als zumindest auf den ersten Blick in der vielzitierten klassischen Formulierung enthalten ist, „die moderne Staatsgewalt" sei „nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet".219 Zunächst einmal wird in beiden Fällen mit unterschiedlicher Akzentuierung ein Kausalverhältnis behauptet, das der damals herrschenden Auffassung ebenso widerspricht wie manchen Vorstellungen von politischer Machbarkeit aus jüngerer Zeit. Die Staatsgewalt ist Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. Auch für frühere, vorkapitalistische Gesellschaftsformen gilt, daß „die unmittelbar aus der Produktion und dem Verkehr sich entwickelnde gesellschaftliche Organisation ... die Basis des Staats und der sonstigen idealistischen Superstruktur bildet" 220 Das bedeutet vor allem auch, daß die Staatsgewalt Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaft ist, daß die herrschende Klasse, hier die Bourgeoisie, privilegierten Zugang zu ihr besitzt. Die Staatsgewalt ist daher nach Marxscher Auffassung keine neutrale Instanz, die die Anliegen und Interessen aller Gesellschaftsmitglieder, modern gesprochen Bürgerinnen und Bürger in gleicher Weise vertritt. Dies ist mit der Formulierung vom geschäftsführenden Ausschuß oder in mehr zugespitzter Form von der „Staatsmacht" als „einer Maschine der Klassenherrschaft"221 gemeint. Diese Formulierungen können aber ein Problem verdecken, das dagegen ein zentrales Moment in den Frankreich-Schriften bildet: Wie wir gesehen haben, tritt die Bourgeoisie hier keineswegs als einheitlicher Akteur auf, sondern zerfällt in unterschiedliche Fraktionen. Diese Fraktionen verfolgen auf formalpolitischer 221
Ebene auseinanderstrebende Ziele, was klar versinnbildlicht wird in ihrem Streben nach der Restauration verschiedener Zweige der Bourbonen-Dynastie. Hier sieht Marx gleichsam den systematischen Grund dafür, daß es zunächst zur Etablierung der Republik gekommen ist. Die Republik nämlich ermöglichte auf formaler Ebene eine „Synthese der Restauration und der Julimonarchie", also der Ziele sowohl der Legitimisten als auch der Orleanisten. In der konkreten historischen Situation mußte eine Lösung der politischen Widersprüche gefunden werden, die auf taktisch-politischer die „Bourgeoisrepublikaner" bieten konnten, und zwar gerade aufgrund ihrer Schwäche, eben weil sie „keine auf ökonomischen Grundlagen beruhende große Fraktion ihrer Klasse (vertraten)". Ihre Legitimation, ihr „Titel" bestand darin, „unter der Monarchie den beiden Bourgeoisfraktionen gegenüber, die nur ihr besonderes Regime begriffen, das allgemeine Regime der Bourgeoisklasse geltend gemacht zu haben, das namenlose Reich der Republik."222 Nun können hier nicht allein „die besonderen Ansprüche neutralisiert und vorbehalten bleiben",223 sondern die Republik erweist sich als die Form, in der übergreifende, „allgemeine" Anliegen der Bourgeoisie zur Geltung gebracht werden können: „Die parlamentarische Republik war mehr als das neutrale Gebiet... Sie war die unumgängliche Bedingung ihrer gemeinsamen Herrschaft, die einzige Staatsform, worin ihr allgemeines Klasseninteresse sich zugleich die Ansprüche ihrer besondern Fraktionen wie alle übrigen Klassen der Gesellschaft unterwarf."224 Die französischen Royalisten unterschiedlicher Couleur waren demnach zwar Republikaner wider Willen geworden, aber zugleich war dies aus Zwängen heraus geschehen, die Marx in den Grundlagen bürgerlicher Herrschaft erblickte: Das Hegeische Konzept vom Staat als der Instanz, die dem Allgemeinen Geltung gegenüber dem Besonderen verschaffe, hatte in seinen Augen seine materielle Begründung in der Stellung der bürgerlichen Republik als Sachwalterin des Kapitals insgesamt, d.h. nicht der einer einzelnen Fraktion oder Gruppierung des Bürgertums, sondern der diesem insgesamt zuzuordnenden Interessen. Dies schloß freilich wiederum nicht aus, daß dieses allgemeine Klasseninteresse in spezifischer Weise eingelöst wurde, nämlich durch die „Herrschaft der Finanz", wie Marx ausführlich begründete.225 Entscheidend ist hier die Einsicht in die Anonymität, die strukturelle Verankerung moderner republikanischer Staatsmacht, die sie zur „subjektlosen Gewalt" werden läßt, eben weil „personaler Herrschaftsbesitz" hier zurückgedrängt wurde226 und damit „die Position der Macht ... symbolisch leer" bleibt.227 Das schließt nicht aus, daß es an der Staatsspitze zu einer historisch nicht dagewesenen Machtkonzentration kommt.228 Marx konstatierte dies etwa für den klassischen „Bonapartismus," wo die Staatsmacht auf eine Person konzentriert wurde, weil keine der in Frage kommenden Klassen, weder Bourgeoisie noch Proletariat 222
über die „Fähigkeit" verfügte, „die Nation zu beherrschen."229 So habe Louis Bonaparte bei seinem Machtantritt die „verselbständigte Macht der Exekutivgewalt" repräsentiert, die mit dem Anspruch auftrat, „die 'bürgerliche Ordnung' sicherzustellen".230 Das bedeutete freilich nicht die völlige Loslösung der „Staatsmacht," die nur „scheinbar hoch über der Gesellschaft schweb(te)", in Wirklichkeit aber „die Brutstätte aller ihrer Fäulnis (war)," wie sich schließlich in der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zeigte. Dabei bleibt für Marx fraglos, daß auch die bonapartistische Herrschaft „von der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft ins Leben gerufen war als das Werkzeug ihrer eignen Befreiung vom Feudalismus" und schließlich „ein Werkzeug zur Knechtung der Arbeit durch das Kapital" geworden war.231 Die Zielsetzung, der grundlegende gesellschaftliche Inhalt der Klassenherrschaft bleibt daher durch die Veränderung ihrer Form im Kern unangetastet. Nicht zufällig wurde später versucht, zu einem kritischen Verständnis faschistischer Diktaturen, vor allem in Deutschland unter Rückgriff auf die Marxsche Bonapartismus-Analyse zu kommen.232
3.5.2 Staat und Gesellschaft Allen diesen Überlegungen liegen noch grundlegendere Annahmen über staatliche Herrschaft ebenso wie über bürgerliche Klassenherrschaft zugrunde. Da „das materielle Leben der Individuen, ... ihre Produktionsweise und die Verkehrsform, die sich wechselseitig bedingen, die reelle Basis des Staates" darstellen, wird dadurch auch der „Staatswillen" bestimmt, der auch für die „herrschenden Individuen" klar unterschieden ist von „ihre(m) eigenen Willen". Vielmehr muß sich „ihre persönliche Herrschaft ... zugleich als Durchschnittsherrschaft konstituieren." Das „Gesetz," staatliche Institutionen, sind daher zu verstehen als „Ausdruck dieses durch ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens". 233 Wenn bei Hegel der Staat das Allgemeine gegenüber dem Besonderen der Einzelnen oder der Familien repräsentiert hatte, so wird das Allgemeine hier in der Struktur der Klassenherrschaft verankert gesehen. Das bedeutet aber, daß einzelne Kapitalisten nicht in der Lage sind, den Staat zu kontrollieren. Mehr noch: Die Durchsetzung ihrer individuellen Interessen würde nicht den Notwendigkeiten der „Durchschnittsherrschaft" entsprechen. Der bürgerliche Staat auch in seiner Gestalt als parlamentarische Republik muß daher über die Partikularinteressen der Einzelkapitale hinausgreifen, schon um dem „gemeinschaftlichen" Klasseninteresse effektiv Geltung zu verschaffen. Im Kapital erscheint dieses innerkapitalistische Verhältnis als Einheit zwischen einerseits der Konkurrenz, in der die einzelnen Kapitalisten zueinander stehen und in der sie versuchen, durch „die besondre Produktivität der Arbeit in einer 223
besondren Sphäre ... einen Extraprofit zu machen" und andererseits ihres gemeinsamen Interesses „an der Produktivität der vom Gesamtkapital angewandten gesellschaftlichen Arbeit," die den „Durchschnittsprofit" und die „Profitrate" bestimmen.234 Demnach sind die Interessen der einzelnen Kapitalisten oder genauer, der einzelnen Kapitale unlösbar verkoppelt mit dem des Gesamtkapitals, auch wenn beide in konkreten Situationen voneinander abweichen können. Als „ideeller Gesamtkapitalist"235 kann der Staat durchaus in Gegensatz zu den aktuellen Interessen einzelner Kapitalisten, Kapitale oder Kapitalfraktionen geraten, gerade wenn er der „Durchschnittsherrschaft" Geltung verschafft, insbesondere die Rahmenbedingungen des Marktes garantiert wie vor allem zuverlässiges Geld und kalkulierbares Recht. Zur „Aufrechterhaltung ihrer äußern Produktionsbedingungen" zählt auch die „Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse". So repräsentiert der bürgerliche Staat wie jeder andere Klassenstaat auch die Gesamtgesellschaft nur durch das Medium der Vertretung spezifischer Klasseninteressen hindurch: „Der Staat war der offizielle Repräsentant der Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum der Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie." Wird der Staat „endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft ..., macht er sich selbst überflüssig,"236 wie Marx und Engels dies exemplarisch an der Pariser Kommune von 1871 glaubten aufzeigen zu können. Aus dieser Perspektive fallen Staatlichkeit und Klassenherrschaft miteinander zusammen. Die Spaltung der Gesellschaft in Klassen bedingt dann die Entstehung staatlicher Institutionen, die sich entsprechend der unterschiedlichen Klassenverhältnisse ihrerseits wandeln, und die Überwindung der gesellschaftlichen Klassenspaltung bedeutet - im Einklang mit der These von der Bestimmung des Staates durch die gesellschaftlichen Verhältnisse - auch das Ende der Staatlichkeit.237 Die Problematik der Repräsentation der „ganzen Gesellschaft" aber verweist zurück auf das Hegeische Konzept des Staates als der Instanz des Allgemeinen oder auch der volonté générale Rousseaus. Sie wird hier zugespitzt in der zentralen These, daß Staatlichkeit zur Durchsetzung eines allgemeinen Interesses solange im Widerspruch steht, als die Spaltung der Gesellschaft in Klassen nicht überwunden ist, daß aber damit auch jeder Grund für das Bestehen eines Staates als Zwangsanstalt entfallen müßte. Zugleich aber besteht der Widerspruch offensichtlich auch darin, daß eine solche „sichtbare Körperschaft", die den gesellschaftlichen Zusammenhang nicht nur greifbar versinnbildlicht, sondern ihm auch handfest Geltung verschafft, einerseits funktionales Erfordernis, aber andererseits nur in spezifischer, d.h. durch die jeweils bestehenden Klassenverhältnisse bestimmter 224
und durch das (Gesamt-)Interesse der jeweils herrschenden Klasse geprägter Weise einlösbar ist. Beides ergibt sich in der Sprache der Deutschen Ideologie einerseits aus der Konstitution des „gemeinschaftliche(n) Interesse(s) nicht bloß aus der Vorstellung ..., sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist", und andererseits dadurch, daß der „Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen" annahm, d.h. aus der Vergesellschaftung durch Arbeitsteilung und dem damit verschränkten „Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese(r) Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns,"238 dem Prozeß der Entfremdung. Die Problematik des allgemeinen Interesses wird hier daher nicht einfach negiert, sondern als Problem von Staaten und Staatsapparaten kenntlich gemacht, die ein solches Allgemeines nicht unmittelbar, sondern nur in der Form der Klassenherrschaft zur Geltung bringen können. Die konzeptionellen, aber auch die politischen Konsequenzen dieser Grundposition werden sichtbar in der entschiedenen Frontstellung, die Marx und Engels gegenüber etatistischen Strömungen in den damals sich herausbildenden sozialdemokratischen Parteien, vor allem in Deutschland einnahmen. So wandte sich Marx in seiner berühmten Auseinandersetzung mit dem Gothaer Programm der SPD von 1875 gegen die Zielbestimmung eines „freien Staates" mit dem Argument, dies laufe auf die Freisetzung des Staates von gesellschaftlichen Einflüssen hinaus: Marx setzte solchen Vorstellungen, die auch in dem damals verbreiteten Schlagwort vom „Volksstaat" ihren Niederschlag fanden, eine radikale Staatskritik entgegen: „Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr untergeordnetes Organ zu verwandeln." Dabei insistierte er auf dem gesellschaftlich bedingten Charakter des Staates. Es sei verfehlt, den Staat „als ein selbständiges Wesen" zu behandeln, anstatt „die bestehende Gesellschaft ... als Grundlage des bestehenden Staats... zu behandeln" - und entsprechend auch „jede künftige" Gesellschaft für einen künftigen Staat.239 Dabei verstand Marx die „demokratische Republik" als „letzte Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft".240 Das erschien durchaus als Fortschritt gegenüber dem „preußisch-deutschen Reich,"241 dies änderte aber nichts an der Erwartung, daß gerade hier „der Klassenkampf definitiv auszufechten" sein werde.242 Das allgemeine Wahlrecht erschien Marx systematisch als Weg der „Teilnahme an der politischen Gewalt", auf dem das Proletariat das gesellschaftliche „Kampfterrain" einer „freigewählten Repräsentation des Volkes" betreten und sich aus der Pariastellung des Ausschlusses von formeller politischer Beteiligung herauslösen könnte243 - ohne daß damit freilich schon die gesellschaftlichen Machtverhältnisse verändert oder die Klassenherrschaft beseitigt wären. Damit ist eine analytische, aber auch politische Perspektive angedeutet, in der später eben diese Republik als 225
Terrain eines Kampfes verstanden wurde, bei dem es nicht ausschließlich und nicht einmal in erster Linie um die formale Besetzung staatlich-politischer Ämter und Positionen ging, sondern um Hegemonie, um die Macht und Kompetenz zur Bestimmung gesellschaftlicher Normen und Prioritäten.244
3.5.3 Die moderne Bürokratie Für die bürgerlich-kapitalistische Form der Klassenherrschaft ergeben sich aus diesen differenzierenden Überlegungen noch weitere wichtige Schlußfolgerungen. Wenn die Bourgeoisie als herrschende Klasse bezeichnet wird, so zeigt sich doch, daß sie den Staat nicht unmittelbar besetzt. Nicht nur am Beispiel des Bonapartismus erweist sich, daß die Bourgeoisie, soweit sie herrschende Klasse ist, doch nicht als regierende Klasse bezeichnet werden kann. Im Unterschied zu vorkapitalistischen Gesellschaften fungiert der Staat nicht unmittelbar als Agentur zur Aneignung des Mehrprodukts, das vielmehr über das marktvermittelte Lohnarbeitsverhältnis angeeignet wird. Zugleich ist die Kapitalistenklasse nicht unmittelbar, etwa durch politische Allianzen oder Heiratsbeziehungen, vergesellschaftet. Obwohl solche Bindungen keineswegs ausgeschlossen sind, wird Gesellschaft doch systematisch durch die Vermittlungsinstanz des Marktes hergestellt. Aus diesen systematischen Gründen kann die Bourgeoisie auch nicht unmittelbar den Staat besetzen und kontrollieren.245 Aus solchen Gründen unterscheidet Marx auch zwischen dem „allgemeinen Klasseninteresse" der Bourgeoisie, „d.h. ihr(em) politische(n) Interesse," konzentriert in einer parlamentarischen Regierungsform, und dem „borniertesten, schmutzigsten Privatinteresse," dessen Vorrang zur bonapartistischen Herrschaft geführt habe 246 Und ferner ist der Staat auch nicht identisch mit der „Regierungsmaschine," die Marx als „einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eignen Organismus" spezifiziert.247 Im Kontext seiner Frankreich-Analyse hat er die Angehörigen dieses Apparates und ihre historische Rolle genauer betrachtet. Die Bürokratie gewinnt schon aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke ein Eigengewicht auch als gesellschaftliche Kategorie. Marx macht dies plastisch deutlich am französischen Beispiel mit einem schon aus dem Absolutismus ererbten „Beamtenheer von mehr als einer halben Million von Individuen," das einerseits der „Exekutivgewalt" zur Verfügung steht, das schon dadurch aber andererseits „eine ungeheure Masse von Interessen und Existenzen beständig in der unbedingtesten Abhängigkeit erhält". Das bedeutet weiter, daß „der Staat die bürgerliche Gesellschaft von ihren umfassendsten Lebensäußerungen bis zu ihren unbedeutendsten Regungen hinab von ihren allgemeinsten Daseinsweisen bis zur Privatexistenz der Individuen umstrickt, kontrolliert, maßregelt, überwacht und 226
bevormundet." Weiter gewinnt „dieser Parasitenkörper durch die außerordentlichste Zentralisation eine Allgegenwart, Allwissenheit, eine beschleunigte Bewegungsfähigkeit und Schnellkraft..., die nur in der zerfahrenen Unförmlichkeit des wirklichen Gesellschaftskörpers ein Analogon finden".248 Diese Bürokratie begrenzte zum einen die Verfügungsmöglichkeiten der Nationalversammlung, doch waren deren tatsächlichen Möglichkeiten begrenzt, hier Änderung zu schaffen, denn „das materielle Interesse der französischen Bourgeoisie ist gerade auf das innigste mit der Erhaltung der breiten und vielverzweigten Staatsmaschine verwebt," nicht zuletzt durch die Nutzung von Staatspfründen für ihre „überschüssige Bevölkerung"; hinzu kam das politische Interesse ..., die Repression, also die Mittel und das Personal der Staatsgewalt, täglich zu vermehren"249. In dieser Konstellation entwickelt die Bürokratie ein Eigengewicht und Eigeninteresse, das dazu führt, daß der Staatsapparat prägend zurückwirkt auf die Gesellschaft. Das Bestimmungsverhältnis ist also nicht einseitig, sondern es besteht eine Wechselwirkung. Freilich handelt es sich hier nicht um eine rationale, sachlich entscheidende, sondern um eine parasitäre, vorab an ihrem partikularen Eigeninteresse orientierte Bürokratie, die sich geradezu als selbständige gesellschaftliche Kategorie oder Schicht etabliert hatte. Dieser gesamte mächtige bürokratische Apparat wurde durch die Steuern alimentiert, die wiederum hauptsächlich zu Lasten der Parzellenbauern erhoben wurden.250 Diesem Bild steht dann das Postulat der „wohlfeilen Regierung"251 gegenüber, die Marx durch die Pariser Kommune eben aus dem Grund exemplarisch verwirklicht sah, daß der Staat in die Gesellschaft zurückgenommen und damit der Tendenz nach bereits aufgehoben war.
3.5.4 Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist Der für die Analyse des Staates im Zusammenhang konkreter Klassenkämpfe für Marx paradigmatische Fall des Bonapartismus kann freilich keine universelle Gültigkeit beanspruchen. Er hat seine strukturelle Grundlage in „der zeitweiligen Demoralisierung aller Klassen und aller Parteien",252 die Marx in grundsätzlich vergleichbarer Form wie in Frankreich gleichzeitig auch in Großbritannien oder in Preußen beobachtete: In allen diesen Fällen hatte es die Bourgeoisie in seinen Augen zwar nicht vermocht, die politische Herrschaft an sich zu reißen, aber dennoch wahrte die Staatsgewalt nach den Erschütterungen von 1848/49 im wesentlichen die Interessen dieser Klasse. Dies erlaubt es, das Marxsche Konzept der bürgerlichen Klassenherrschaft und des bürgerlichen Staates noch weiter zu präzisieren. Das wichtigste von Marx genannte Moment, das die Durchsetzung bürgerlicher Klasseninteressen begünstigte oder geradezu erzwang, ist die Verallgemeinerung kapitalistischer Wirtschaftsformen und Gewinnstrategien. 227
Vor diesem Hintergrund konnte die Bourgeoisie in England bzw. Großbritannien an dem Kompromiß der „Glorious Revolution" von 1688 festhalten, wonach die Grundaristokratie „offiziell regier(te)", während die Bourgeoisie „nicht offiziell, aber faktisch in allen entscheidenden Sphären der bürgerlichen Gesellschaft herrsch(te)". Gegenüber 1688 war hier nur neben die „Finanzaristokratie" durch die Parlamentsreform von 1831 als zusätzliche „Sektion in der Bourgeoisie" noch die „Millocracy" getreten,253 die während der 1840er Jahre allmählich das Übergewicht gewonnen und „zum leitenden Bestandteil der Mittelklassen" geworden war.254 Entscheidend aber war für Marx: „Jede Regierung", die - auch im Gegensatz zu den Mehrheitsverhältnissen im Unterhaus - nach wie vor von der „Grundaristokratie"255 gestellt wurde, konnte demnach „sich nur dadurch im Amt und die Bourgeoisie aus dem Amt heraushalten ..., solange sie für die Bourgeoisie die Vorarbeit leistet".256 Das hatte Rückwirkungen auf die Perspektiven der sozialen Bewegung, denn „solange eine aristokratische Koalition das tut, was die Industrie- und Handelsklasse von ihr verlangt, solange werden diese letzteren weder eine politische Anstrengung machen, noch der Arbeiterklasse gestatten, ihre eigene politische Bewegung zu entfalten". Sollte sich die Bourgeoisie dagegen gezwungen sehen, gegen die „Partei der Grundbesitzer" offen vorzugehen, so sei eine Parlaments- und damit eine Wahlrechtsrechtreform unvermeidlich; es stehe dann „nicht länger in (der) Macht" der Bourgeoisie, „für beschränkte Reformen zu agitieren, dann müssen sie die Forderungen des Volkes bis zu Ende erfüllen".257 Dies würde auf konstitutioneller Ebene zugleich die von Marx postulierte Vereinfachung der Klassengegensätze in der modernen kapitalistischen Gesellschaft schließlich zum Ausdruck bringen, weil dann „die beiden wirklich kämpfenden Parteien in diesem Lande sich Auge in Auge gegenübertreten ..., die Bourgeoisie und das Proletariat, und England wird dann endlich gezwungen sein, an den allgemeinen sozialen Entwicklungen der europäischen Gesellschaft teilzunehmen".258 Die Bedeutung des Kampfes um das allgemeine Wahlrecht unter der Parole der Volkscharta259 ergab sich aus dieser spezifischen historischen Situation, die Marx grundsätzlich von den Erfahrungen mit dem allgemeinen Wahlrecht 1848 in Frankreich unterschied. Er verwies auf die spiegelbildlich voneinander unterschiedenen zahlenmäßigen Verhältnisse zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung, wobei in England die Städte zwei, in Frankreich nur ein Drittel ausmachten. Daher und unter den Bedingungen der informellen Verfassung Englands bzw. Großbritanniens bedeute in der akuten wirtschaftlichen und sozialen Krisensituation „die Charte der Volksklassen ... Aneignung der politischen Macht als Mittel zur Verwirklichung ihrer sozialen Bedürfnisse", während das allgemeine Wahlrecht 1848 in Frankreich am Beginn der Revolution das - illusionäre 228
„Losungswort allgemeiner Verbrüderung" gewesen sei, nicht wie im englischen Fall „Kriegsparole".260 Auch in der Analyse späterer Initiativen zur Parlamentsreform sah Marx die Nagelprobe im Ausschluß der Arbeiterklasse.261 In anderer Form sah sich das bonapartistische Regime in Frankreich schon aufgrund der von ihm eingeleiteten spekulativen Wirtschaftsstrategie gezwungen, den Interessen der Bourgeoisie insgesamt Rechnung zu tragen. Zwar verstand Marx zum einen den Bonapartismus als Versuch der direkten „Herrschaft" der Armee, „verkörpert durch ihre eigene Dynastie". Doch sah sich auch diese „Prätorianer"-Herrschaft ihrerseits materiellen Zwängen gegenüber,262 die zumindest partiell die Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie, oder doch wesentlicher Teile dieser Klasse erzwangen. Vor dem Hintergrund einer eingehenden Analyse der Spekulationswelle, die durch den unter Napoleon III ins Leben gerufenen „Credit mobilier"263 hervorgerufen worden war, betont Marx die auch gegenüber der Zeit des „Bürgerkönigs" Louis-Philippe (1830-1848) noch einmal immens gestiegene Macht der „Bankokratie", die in der Lage sei, sich „die Geldschwierigkeiten" zunutze zu machen, „in die sich die bonapartistische Regierung getrieben sieht".264 Und in ähnlicher Weise vollzog sich in Preußen eine Transformation im sozialen Charakter zentraler gesellschaftlicher Gruppierungen, nicht zuletzt des niederen Adels, der „Krautjunker", deren Perspektiven sich nach ihrem Anschluß an den Warenmarkt und an die von Frankreich aus ausgreifende kapitalistische Spekulation verschoben hatten 265 Vor allem aber habe sich die Bourgeoisie nach der Niederlage von 1849, zerrieben zwischen den radikalen, sozialen Perspektiven der Revolution und der Konterrevolution, „zu ihren wahren Erwerbszweigen zurückgeworfen" gesehen „Handel und Industrie". Die rasante wirtschaftliche Entwicklung habe bewirkt, daß während „die Bourgeoisie in babylonischer Gefangenschaft weinte und ihre gedemütigten Häupter hängen ließ," sie zugleich „zur wirklichen Macht im Lande wurde, wobei sogar der hochmütige Aristokrat sich im Innern seiner Seele in einen profitgierigen, geldraffenden Börsenjobber verwandelte".266 Wenig später zeigte sich angesichts der Bismarckschen Politik, daß auch hier die Etablierung ökonomischer Macht und die erfolgreiche Durchsetzung entsprechender Interessen nicht identisch war und nicht gleichgerichtet verlief mit Veränderungen politischer Machtverteilung oder gar der effektiven Übernahme staatlicher Leitungspositionen. Das könnte bedeuten, wie Engels vermerkte, daß „der Bonapartismus ... doch die wahre Religion der Bourgeoisie (ist). Es wird mir immer klarer, daß die Bourgeoisie nicht das Zeug hat, selbst direkt zu herrschen, und daß daher, wo nicht eine Oligarchie wie hier in England es übernehmen kann, Staat und Gesellschaft gegen gute Bezahlung im Interesse der Bourgeoisie zu leiten, eine bonapartistische Halbdiktatur die normale Form ist; die großen materiellen Interessen der Bourgeoisie führt sie durch selbst gegen
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die Bourgeoisie, läßt ihr aber keinen Teil an der Herrschaft selbst. Andrerseits ist diese Diktatur selbst wieder gezwungen, diese materiellen Interessen der Bourgeoisie widerwillig zu adoptieren."267
3.5.5 Republik und allgemeines Wahlrecht Dies entspricht recht genau der Auszeichnung des Staates als ideeller Gesamtkapitalist, als relativ neutrale Regelungsinstanz der Konkurrenz und Vertreter der gemeinsamen Interessen der Bourgeoisie als Klasse. Damit erhielt aber die auf allgemeinem Wahlrecht aufgebaute Republik einen besonderen Stellenwert. Das wird besonders deutlich an den Kommentaren, die Marx in den ersten Jahren des amerikanischen Bürgerkrieges verfaßte. Die 1861 ausgerufene Sezession der sklavenhaltenden Südstaaten verstand er als expansiv angelegten Versuch, die Sklaverei über den Süden hinaus auszudehnen und damit als Angriff auf das System der freien Arbeit,268 aber auch des freien Zugangs zu Siedlungsland,269 was wiederum ein entscheidendes Moment für die Verhandlungsposition der Arbeiter bildete. Vor allem aber erschien die transatlantische Republik als die „einzige Volksregierung der Welt", die daher von der „britischen Arbeiterklasse" selbst dann verteidigt werden „sollte", wenn sie aufgrund der ausbleibenden Baumwollieferungen „direkt und schwer unter den Folgen der Blockade des Südens leidet".270 Dieses Urteil beruhte auf einer grundlegenden Option für das allgemeine Wahlrecht und das Mehrheitsprinzip. Marx betonte wiederholt, daß diese Prinzipien bei den Abstimmungen über das Verhalten der einzelnen Südstaaten verletzt worden waren und bestritt auf dieser Grundlage die Legitimität der jeweiligen Entscheidung zur Sezession.271 Mit der mangelnden Popularität der Sezession begründeten Marx und Engels auch ihre Zweifel an den Erfolgsaussichten eines „Guerillakrieges", als der Vormarsch der Nordarmeen im Mississipi-Tal begonnen hatte.272 Der Widerstand der Nordstaaten und die lange hinausgezögerte Proklamation der Sklavenbefreiung kommentierte Marx: ,,'E pur si muove.' Die Vernunft siegt dennoch in der Weltgeschichte". Dazu habe es keiner „Volksrevolution" bedurft, sondern aufgrund des „gewöhnliche(n) Spiel(s) des allgemeinen Stimmrechts" nur der vergleichsweise schlichten und unspektakulären Gestalt Abraham Lincolns, des „Bedeutende(n) im Alltagsrocke".273 In diesem „Riesenkampfe" hätten „für die Männer der Arbeit außer ihren Hoffnungen für die Zukunft auch ihre vergangnen Eroberungen ... auf dem Spiele (ge)standen". Sein Ausgang erschien nicht zuletzt dadurch bestimmt, daß die Arbeiter „die wahren Träger der Macht im Norden" seien.274 Offensichtlich war dies Ausdruck ihrer effektiv einsetzbaren Stimmenmehrheit, doch minderte dies nicht die Bedeutung „eine(r) selbständige(n) Arbeiterbewegung" in den USA und die Gegner230
schaft der „alten Parteien und ihre(r) professionellen Politiker". Dies erschien in der Periode nach dem Bürgerkrieg umso vordringlicher, als die Lage der Arbeiter sich verschlechtert und die soziale Differenzierung sich verschärft habe, bis hin zum „auffallenden Luxus von Finanzaristokraten, Shoddy-Aristokraten und ähnlichem durch Kriege erzeugten Ungeziefer".275 Die Republik und das allgemeine Stimmrecht wurden von Marx demnach nicht als Garantien gegen eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse, verschärfte Ausbeutung, Ungleichheit oder auch politische Korruption angesehen, sehr wohl aber als ein Feld, auf dem die Arbeiterklasse ihrerseits die Möglichkeit hatte, ihre Interessen auszufechten. Die relativ wenig beachteten Nordamerika-Artikel stehen daher in einer Kontinuität zu den späteren Überlegungen von Engels, der die vor allem in Deutschland erfolgreiche sozialdemokratische „Kampfweise" „der Benutzung des Wahlrechts, der Eroberung aller uns zugänglichen Posten" auch aus dem Grund empfahl, weil Ende des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der Militärtechnik die „Zivilkämpfer" gegenüber den organisierten Militärtruppen noch weiter in Nachteil gebracht hatte als schon auf den Barrikaden von 1848. 276 Damit wurden die Manipulationen, die vor allem das bonapartistische Regime mit dem Wahlrecht angestellt hatte, nicht geleugnet und auch außerparlamentarische Formen der Interessenvertretung und der politischen Aktion nicht verworfen. Entscheidend auch gegenüber einem Großteil der späteren marxistisch-leninistischen Orthodoxie sowie verbreiteten gegnerischen Vorurteilen ist aber die grundsätzliche Befürwortung des Mehrheitsprinzips und die Betonung der Möglichkeiten der durch das allgemeine Stimmrecht eröffneten politischen Arena. So werden hier die bereits angesprochenen Überlegungen Antonio Gramscis deutlich vorwegnommen, der in der società civile, der zivilen Gesellschaft, ein Feld erkannte, auf dem die gesellschaftlichen Kräfte ihre Interessen zum Austrag bringen können, das freilich auch bestimmt ist durch gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die zum Ausdruck kommen in sozialer und ideologischer Hegemonie.277
3.6 Marx als Theoretiker und Kritiker der Modernisierung Wie wir gesehen haben,278 ist die Marxsche Theorie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die Kritik der Politischen Ökonomie, eingelassen in den größeren Rahmen eines Konzeptes der Weltgeschichte. Marx hat dieses Konzept an keiner Stelle vollständig ausgeführt, was Interpretationen und Kontroversen darüber ein weites Feld eröffnet hat. Unstrittig dürfte sein, daß in diesem Konzept vor allem in der Nachfolge Hegels die Abfolge unterschiedlicher Epochen postuliert wird, 231
wobei sich für deren genaue Bestimmung im Marxschen Werk unterschiedliche Versionen finden lassen. Wir haben eine Interpretation skizziert, die es ermöglichen soll, durch die Verknüpfung der Konzepte der Gesellschaftsformation und der Produktionsweise das begriffsstrategische Potential der Marxschen Überlegungen optimal für ein weltgeschichtliches Modell nutzbar zu machen, das die Schwächen der dogmatischen Marx-Rezeption überwindet, die nach wie vor das Bild dieses Theoretikers in weiten Teilen bestimmt. Im Hinblick auf den Wechsel und die Abfolge von Gesellschaftsformen gilt dies vor allem für die Überwindung unilinearer und teleologischer Konzepte, wie sie am deutlichsten durch das stalinistische Fünf-Phasen-Schema repräsentiert werden. Dies alles ändert freilich nichts daran, daß das Marxsche Erkenntnisinteresse immer in erster Linie auf die Dynamik der kapitalistischen Verhältnisse und ihre mögliche Überwindung gerichtet war. Dies wurde bereits deutlich an der Betrachtung seiner Rekonstruktion der Prozesse der Trennung und der Individuation, an denen ihn die Genese wesentlicher gesellschaftlicher Voraussetzungen dieser Verhältnisse interessierte.279 Alle diese Überlegungen sind verankert in den Ansätzen eines zunächst auf die Natur, bald aber auch auf die menschliche Gattung und die Gesellschaft bezogenen Entwicklungsdenkens, wie es seit der Aufklärung - nicht zuletzt unter dem Eindruck sich beschleunigender Veränderung - formuliert worden war.280 Einen Höhepunkt hatte das gesellschaftliche Entwicklungsdenken in der Geschichtsphilosophie Hegels gefunden, deren Spuren in der Marxschen Geschichtskonzeption wir leicht identifizieren konnten. Einen weiteren Wendepunkt bildete zu Lebzeiten von Marx die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Marx hat sie enthusiastisch als Gegenstück zu seinem Unternehmen der Kritik der Politischen Ökonomie begrüßt und auch auf diese Weise deren enge Beziehung zum allgemeinen Entwicklungsdenken entschieden unterstrichen. Zugleich betrachtete er es als besonderes Verdienst Darwins, daß dessen Evolutionstheorie die entschiedene Abkehr von teleologischen Vorstellungen vollzogen hatte, insbesondere da, wo sie in Gestalt eines Schöpfungsplans postuliert wurde.281 Der berühmte Satz, „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte"282 stellt das Unternehmen der Marxschen Theorie mit allem Nachdruck in den Kontext dieses Entwicklungsdenkens. Auch dies bildet und bildete freilich kein abgeschlossenes Gebäude, sondern unterlag - nachdrücklich demonstriert am Auftreten Darwins - einschneidenden Veränderungen. Durch die Auseinandersetzung mit der Genese des Kapitalismus sind zugleich zentrale Themenstellungen angesprochen, die im engeren Kontext der soziologischen Theorie bis heute unter den Begriffen der Differenzierung oder der Säkularisierung, vor allem aber der Modernisierung diskutiert werden. Immer wieder ist Marx aus solchen Gründen unter die Ahnherren der sozialwissenschaft232
lichen Modernisierungstheorie eingereiht worden.283 Diesen Ansätzen, freilich auch ihrer Ambivalenz soll im folgenden nachgegangen werden. Sie sind eng verknüpft mit der Analyse des gesellschaftlichen Weltzusammenhangs, der in Marxens Überlegungen eine entscheidende Rolle spielte. Die Bewertung der bürgerlichen Herrschaft ist bei Marx durch die grundlegende Ambivalenz gekennzeichnet, daß der Kapitalismus einerseits zwar als System extremer Ausbeutung von Menschen, aber auch der Naturressourcen erscheint, dieses System andererseits aber nicht nur alte Abhängigkeiten und Bindungen zerstört, sondern mit der großen Industrie auch die Produktivkräfte auf einen Stand gebracht hat, der seine Überwindung und damit das Ende der Herrschaft von Menschen über Menschen in Reichweite rücken läßt. Marx' Gesellschaftskritik ist auch insofern immer in emphatischer Weise historisch, als ihr vielleicht fundamentalstes Anliegen wesentlich darin besteht, die moderne kapitalistische Gesellschaftsform als ebenso notwendige wie zu überwindende Stufe auf dem Weg zum Abschluß der „Vorgeschichte der Menschheit" 284 zu begreifen. Diese Spannung kommt mit besonderer Klarheit am Beginn des Kommunistischen Manifestes zum Ausdruck in der langen und emphatischen Darstellung der gesellschaftlichen Folgen des Aufstiegs der industriellen Bourgeoisie, der revolutionären, befreienden Folgen dieses Prozesses: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände. Die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus." Diese beständige Umwälzung ist begleitet vom Aufbrechen verkrusteter Beziehungen, von ihrer Entmythologisierung, Säkularisierung oder in anderer Sprache, ihrer Entzauberung: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu anzusehen."285 Mit der Auflösung der überkommenen, scheinbare Sicherheit gewährenden Verhältnisse ist demnach ein realistischer Blick auf die Verhältnisse unausweichlich geworden, und damit ist auch die Chance der Emanzipation von materieller Fremdbestimmtheit ebenso gegeben wie von Illusionen und Ideologien, die die Menschen daran hinderten, selbstbestimmt zu handeln.286 Das schließt nicht aus, sondern aus dem expansiven Charakter der bürgerlichen Verhältnisse folgt hier gerade, daß es erneut zu „eine(r) ähnliche(n) Bewegung" kommt wie die Sprengung der feudalen Fesseln, zur „Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind": Die Verallgemeinerung und Ausbreitung der bürgerlichen Produktions- und Austauschform erzeugt beständig „allseitigere und gewaltigere Krisen". Dies sind die von der Bourgeoisie selbst geschmiedeten Waffen die ihr den 233
Tod bringen ..." Schließlich sind auch die, „die Männer ..., die diese Waffen fuhren werden - die modernen Arbeiter, die Proletarier" Erzeugnis der Bourgeoisie.287 Die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie beschränkt sich daher nicht auf die Auflösung der alten Gesellschaft und die Verflüssigung aller Verhältnisse, sondern reicht noch hinein in den Prozeß der Zerstörung ihrer eigenen Herrschaft. Wo Marxsche Formulierungen uns als modernistisch erscheinen, gilt es daher immer im Auge zu behalten, daß dieser Modernismus jedenfalls eine historisch-kritische Spitze aufweist. Diese Perspektive einzuholen sind vor allem die meisten soziologischen oder auch politikwissenschaftlichen Modernisierungstheorien nicht in der Lage - und sie sind auch nicht dafür intendiert. Das hat vor allem den Grund, daß diese Theorien im Gegensatz zur Marxschen Theorie nicht historisch, nach vorne offen konzipiert sind, sondern im Gegenteil auf ein im wesentlichen bereits verwirklichtes und bekanntes Ziel hin orientieren.288 Sie beziehen die Perspektive einer grundlegenden Veränderung bestehender Verhältnisse nicht ein, sondern leugnen eine solche Möglichkeit mehr oder weniger ausdrücklich gerade ab. Deshalb liegt die Annahme einer Stillstellung von Entwicklungen nahe, die bis in die Gegenwart nachgezeichnet werden, aber auch die Behauptung, auf einem gewissen Niveau der Perfektion angekommen zu sein, das nun allenfalls von anderen territorial definierten Gesellschaften noch nachzuvollziehen oder einzuholen wäre. Unter diesen Gesichtspunkten ist auch die Bewertung der geographischen Expansion der bürgerlichen Verhältnisse zu verstehen. Denn die Umwälzung aller überkommenen Verhältnisse erfolgt im globalen Maßstab, und die Schilderung der Folgen hat eine schwerlich zu überhörende aktuelle Färbung: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt... Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde."289 Die Schaffung einer mehr oder weniger einheitlich von der Bourgeoisie beherrschten und geprägten Welt würde auch zu einheitlichen Bedingungen für die Überwindung ihrer Herrschaft fuhren. Diese Perspektive wird noch deutlicher in der Auseinandersetzung mit den konkreten Schritten der kolonialen Expansion westeuropäischer Staaten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Kommunistischen Manifestes lag die gewaltsame Öffnung Chinas durch britische und französische Truppen im Ersten Opiumkrieg 184042 nur wenige Jahre zurück. Die Anspielung auf die 234
Zerstörung chinesischer Mauern als des Inbegriffs der Beharrung, des „Statarischen",290 als das Hegel China gesehen hatte, konnte also auf einen sehr handfesten Bezugspunkt verweisen, und das Gleiche gilt für die freilich bald enttäuschten Hoffnungen auf den Zugang zu dem riesigen chinesischen Markt. Zugleich verweist die Betonung des Weltmarktes als Konsequenz aus der Herrschaft der Bourgeoisie auf zwei miteinander verknüpfte Momente: auf die weltweite Verflechtung, die historisch erstmals durch den kapitalistischen Weltmarkt hergestellt wurde,291 und auf die krisenhaften Bewegungen dieses Weltmarktes. Krisen erschienen Marx und Engels nun untrennbar verbunden mit der Perspektive der Revolution, denn eine „wirkliche Revolution ... ist nur in den Perioden möglich, wo ... die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen miteinander in Widerspruch geraten", also „im Gefolge einer neuen Krise".292 Diese Grundannahme macht die ausführlichen Überlegungen zur Expansion des Weltmarktes und zur Erschließung neuer Märkte und Ressourcen einsichtig, die charakteristisch für die Kommentare sind, die Marx wie Engels zu laufenden Ereignissen gaben. Dabei spielten die 1848 entdeckten Goldlager in Kalifornien eine zentrale Rolle, daneben aber die Öffnung Chinas, nicht zuletzt, weil damit der Teehandel weiter beflügelt worden war. Die sozialen Bewegungen in China konnten durch eine Störung dieses Handels möglicherweise den letzten Anstoß zum Ausbrechen der „seit langem heranreifende(n) allgemeine(n) Krise" geben und „die chinesische Revolution den Funken in das übervolle Pulverfaß des gegenwärtigen industriellen Systems schleudern".293 Diese Überlegungen schlossen an der objektiven Tatsache des kapitalistischen Weltmarktes an. Daneben sahen Marx und Engels aber auch die Chance, daß die gewaltigen sozialen Bewegungen der Jahrhundertmitte in China gleichsam der europäischen Reaktion in den Rücken fallen könnten, nachdem es 1849 Rußland gewesen war, dessen Eingreifen entscheidend zur Niederlage der Revolutionen in West- und Mitteleuropa beigetragen hatte. Die Nachricht von dem 1848 in Südchina begonnenen Aufstand der Taiping und deren angeblichen sozialistischen Vorstellungen war daher Anlaß für eine aufschlußreiche Spekulation: Dies müsse „jedenfalls die bedeutendsten Resultate für die Zivilisation haben ... Wenn unsere europäischen Reaktionäre auf ihrer demnächst bevorstehenden Flucht durch Asien endlich an der chinesischen Mauer ankommen, an den Pforten, die zu dem Hort der Urreaktion und des Urkonservatismus führen, wer weiß, ob sie darauf nicht die Überschrift lesen: République chinoise Liberté, Egalité, Fraternité."294 Mit unverkennbarer Ironie wird so zumindest die Möglichkeit erwogen, daß es ungeachtet aller kulturellen Unterschiede in China zu einer Umwälzung kom235
men könnte, die vergleichbare Ziele verfolgen werde wie die Französische Revolution. Diese ausdrücklich zivilisatorisch begründete Emanzipationsperspektive wird dabei fraglos universalisiert. Im Kontext neuerer Diskurse - etwa in der Menschenrechtsdebatte295 - könnte hier der Vorwurf des Eurozentrismus laut werden. Dem ist entgegenzuhalten, daß hier zumindest in deutlichem Unterschied zum später einsetzenden kolonialistischen Diskurs und zu Teilen der sozialwissenschaftlichen Diskussion bis ins späte 20. Jahrhundert hinein296 außereuropäische Gesellschaften als Akteure konzipiert werden und nicht einfach als Objekte europäischer Expansion, daß ihnen ferner in deutlichem Gegensatz auch zu neueren Positionen etwa der soziologischen Modernisierungstheorie297 die Perspektive einer Entwicklung ausdrücklich zugeschrieben wird, die mit der europäischen identisch ist. Bei aller Problematik solcher Annahmen gerät hier dennoch eine Legitimation von Hierarchien zwischen nationalstaatlich voneinander abgegrenzten Gesellschaften erst gar nicht in den Blick. Das schließt spätere, scharf negative und distanzierende Urteile über die im zitierten Text erst vage bekannte Taiping-Bewegung nicht aus298 - und ebensowenig die Subsumtion gesellschaftlicher Katastrophen unter die Perspektive des allgemeinen historischen Fortschritts. Diese unverkennbar modernistische Perspektive tritt besonders deutlich zutage in Marxens Indien-Analysen. Für ein Verständnis der Vorgänge in Indien konnte Marx sich auf eine unvergleichlich breitere und detailliertere Faktengrundlage stützen299 als in den Bemerkungen zu China. Anlaß für eingehendere Analysen waren die Parlamentsdebatten im Vorfeld der Erneuerung der königlichen Charta für die britische East India Company (EIC), die seit 1757 durch territoriale Eroberungen zur Vormacht auf dem Subkontinent aufgestiegen war. In seinen Berichten an die New York Daily Tribune300 konstatierte Marx zunächst die Intensität der Ausbeutung Indiens durch die EIC und ihre Mißwirtschaft, wobei er unter anderem auf das Mißverhältnis von £ 19,8 Mio Einnahmen gegenüber lediglich £ 166.300 Ausgaben für öffentliche Arbeiten in den Presidencies Bengalen, Madras und Calcutta ausweislich des Jahresberichtes für 1851/52 hinwies.301 In der Vernachlässigung der öffentlichen Arbeiten insbesondere für Bau und Erhalt von Bewässerungseinrichtungen erblickte Marx eine der zentralen Ursache für die Agrarkrise: „Die unbedingte Notwendigkeit einer sparsamen und gemeinschaftlichen Verwendung des Wassers ... machte im Orient, wo die Zivilisation zu niedrig und die territoriale Ausdehnung zu groß war, um eine freiwillige Assoziation ins Leben zu rufen, das Eingreifen der zentralisierenden Regierungsgewalt erforderlich." Da die EIC die öffentlichen Arbeiten „völlig vernachlässigte," kam es zum „Verfall einer Landwirtschaft, die nicht fähig ist, nach dem britischen Grundsatz der freien Konkurrenz ... betrieben zu werden".302 Die Agrarkrise verschränkte sich mit der 236
Zerstörung der handwerklichen Produktion in den indischen Dörfern. Sie war unmittelbar verknüpft sowohl mit der britischen Kolonialherrschaft als auch mit der Herstellung des Weltmarktes. Die industrielle Revolution hatte in England während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts mit der Mechanisierung des Spinnens von Baumwollgarn eingesetzt. Damit war das Monopol Indiens auf feine Baumwollgarne gebrochen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Kattun- und Musselin-Import schwer die Handelsbilanz Englands und anderer europäischer Länder belastet, und die indische Konkurrenz hatte sich auch in anderen Weltregionen bemerkbar gemacht. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Struktur des Weltmarktes und der internationalen Arbeitsteilung dramatisch umgekehrt,303 und Indien war ab den 1830er Jahren massiven Importen britischer Baumwollstoffe ausgesetzt. Die handwerklich organisierte indische Produktion von Baumwollstoffen wurde zerstört. Hier nun setzt die überraschende und aufschlußreiche Wende in Marxens Argumentation ein. Zusammen bedeuteten die Agrarkrise und die Katastrophe der Baumwollproduktion nämlich die Zerstörung der „häuslichen Einheit von landwirtschaftlichen und manufakturiellen Beschäftigungen", die zusammen mit den von einer Zentralregierung organisierten öffentlichen Arbeiten „seit den ältesten Zeiten ... das sogenannte Dorfsystem (hervorgebracht)" hatten.304 Für Marx war nun wesentlich, daß „diese kleinen stereotypen Formen des gesellschaftlichen Organismus," also die indischen Dorfgemeinden „immer schon das feste Fundament des orientalischen Despotismus gebildet haben". Sie hatten sich nun „zum größten Teil aufgelöst und sind im Begriff zu verschwinden". Daher, so folgerte Marx, hatte das „englische Eingreifen," durch die Zerstörung der „ökonomischen Basis" dieser „kleinen halb-barbarischen, halb-zivilisierten Gemeinwesen ... die größte und, die Wahrheit zu sagen, die einzige soziale Revolution hervorgebracht, von der Asien je gehört hatte". 305 Marx konnte daher „das von den Briten Hindustan angetane Elend", das „von wesentlich anderer und unendlich intensiverer Art ist als alles, was Hindustan zuvor zu erleiden hatte", 306 abwägen gegen das von ihm konstatierte Faktum einer erstmals eingetretenen grundlegenden Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Er erinnerte daran, daß „diese kleinen Gemeinwesen durch Kastenunterschiede und Sklaverei befleckt waren". Ihr Ruin mußte daher auf lange Sicht und aus weltgeschichtlicher Perspektive als Fortschritt erscheinen. Ohne zu übersehen, daß „England" durch „widerwärtigste Geschäftsinteressen" angetrieben war, stellte Marx daher die für ihn eigentlich entscheidende Frage, „ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne eine grundlegende Revolution im gesellschaftlichen Zustand Asiens?" Dies machte England ungeachtet seiner „Verbrechen" zum „unbewußten Werkzeug der Geschichte" und berechtigte zugleich, „mit Goethe auszurufen: 237
'Sollte diese Qual uns quälen Da sie unsre Lust vermehrt, Hat nicht Myriaden Seelen Timurs Herrschaft aufgezehrt?'"307 Marx hat hier koloniale Ausbeutung und die damit einhergehenden Herrschaftsformen mit großem Nachdruck denunziert. Wenig später verwies er auf „die tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation und die ihr innewohnende Barbarei", die in den Kolonien „unverschleiert vor unseren Augen liegen", während sie in „ihrer Heimat ... respektable Formen" annehmen.308 Solche Kritik an Grundgegebenheiten kolonialistischer Ideologie trat aber aus systematischen Gründen zurück hinter der welthistorisch gedachten Fortschrittsperspektive. Mehr noch: Es ging um die Vorstellung, die überseeische territoriale Expansion europäischer Mächte sei gleichbedeutend mit der Ausbreitung einer aller Kritik zum Trotz doch als historisch vorwärtsweisend bewerteten „Zivilisation", die ihren Ausgang ebenfalls von Europa und den dort durch die industrielle Revolution ermöglichten, durch die erwartete politische Revolution in greifbare Nähe gerückten Fortschritten nehme. Die Verbreitung dieser Zivilisation erschien ungeachtet der keineswegs verschwiegenen Opfer, die dieser Prozeß forderte, also für den Augenblick als gleichbedeutend mit der Schaffung einer Welt nach dem Bilde der Bourgeoisie unverkennbar auch aus dem Grund, weil deren Herrschaft nicht mehr von langer Dauer sein sollte. Das läßt sich auch an den Überlegungen zeigen, die Marx über die zukünftige Entwicklung Indiens anstellte. Er erwartete eine Industrialisierung des Landes, schon weil Indien auf Dauer nur als Absatzmarkt für die britische Industrie zur Verfügung stehen könne, wenn seine „Kaufkraft" für britische Waren nicht ständig weiter sinke.309 Ungeachtet der scharfen Kritik auch an konkreten Erscheinungen der britischen Verwaltung und Politik in Indien erschien es Marx doch als entscheidend, daß „die Briten die ersten Eroberer" auf dem Subkontinent in ihrer Zivilisation „überlegen waren und daher unzugänglich für die Hindu-Zivilisation", die alle früheren Eroberer-Wellen absorbiert und damit die eigene Stagnation verewigt hatte. Daher konnten die Briten die Dorfgemeinden zerstören, und es zeigten sich ungeachtet ihrer Mißwirtschaft Ansätze einer „Erneuerung", die freilich äußerst bescheiden waren. Marx nennt als erstes die „politische Einheit Indiens", dann die britisch geführte und ausgebildete „Eingeborenenarmee", weiter den Beginn einer „freien Presse" und Formen des „privaten Grundeigentums". Weiter verweist er auf das Entstehen einer „neuen Klasse" von wissenschaftlich Gebildeten und Verwaltungsfachleuten und auf die „regelmäßige und rasche Verbindung mit Europa" durch die Dampfschiffahrt, 238
die zusammen mit der Eisenbahn bald die zeitliche Entfernung zu England auf acht Tage werde schrumpfen lassen.310 Das Aufbrechen der „selbstgenügsamen Trägheit" der Dorfgemeinden werde seinerseits ein „neues Bedürfnis nach Kommunikation und Verkehr schaffen", das gleichfalls durch die Eisenbahn befriedigt würde.311 Zugleich werde das Eisenbahnsystem zur Entstehung einer „modernen Industrie" führen, und diese werde „die erblichen Teilungen der Arbeit auflösen, auf denen die indischen Kasten beruhen, diese entscheidenden Hemmnisse für indischen Fortschritt und indische Macht". 312 Marx glaubte, daß die „englische Bourgeoisie" dazu „gezwungen" werde, diese „neuen gesellschaftlichen Elemente" unter den Indern „auszustreuen", ohne daß dies „die Masse des Volkes emanzipieren oder materiell seine soziale Lage verbessern" werde. Dies hänge „nicht nur von der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern von ihrer Aneignung durch das Volk ab. Möglich sei dies, wenn „in Großbritannien selbst die heute herrschenden Klassen durch das industrielle Proletariat abgelöst, oder bis die Hindus selbst stark genug geworden sind, um das englische Joch gänzlich abzuwerfen.313 Damit war neben der gleichsam kollateralen Aufhebung der Kolonialherrschaft durch die Revolution in der Metropole auch die Möglichkeit einer eigenständigen Bewegung und Aktion der Kolonisierten einbezogen. Entscheidend aber blieb für Marx der von ihm antizipierend diagnostizierte zivilisierende Effekt der britischen Kolonialherrschaft. So werde die Verbesserung der Verkehrsverbindungen dazu führen, daß „dieses einstige Märchenland wirklich an die Westliche Welt annektiert sein wird".314 Hierin, in der Schaffung des umfassenden Weltmarktes, erblickte Marx einen der entscheidenden Fortschritte der Epoche: „Die bürgerliche Periode der Geschichte hat die materielle Basis einer neuen Welt zu schaffen - einerseits den universellen Verkehr, der auf der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker beruht; andererseits die Entwicklung der produktiven Kräfte des Menschen und die Umwandlung der materiellen Produktion in eine wissenschaftliche Beherrschung natürlicher Kräfte." Die darin enthaltenen Möglichkeiten waren erst durch die erwartete soziale Revolution einzulösen. Ungeachtet der zitierten anderslautenden Überlegungen sah Marx sie als einen Prozeß im Kontext eines nach den Stufen des erreichten Fortschrittes immer noch ungleichen Weltzusammenhanges: „Wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen haben wird, erst dann wird der menschliche Fortschritt aufhören, jenem scheußlichen Götzen zu gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte."315 Die an die Fortschrittsperspektive geknüpfte Orientierung auf einen vom westlichen Europa als der Entstehungsregion des Kapitalismus ausgreifenden 239
Prozeß der Zivilisierung, in späterer Diktion an einem Prozeß der Modernisierung, hat Marx hier letztendlich beibehalten. Die Annahme im Kommunistischen Manifest, die bürgerlich-kapitalistische Epoche werde zu einer Vereinheitlichung der gesellschaftlichen Zustände auf der Welt führen, wurde hier bestätigt und bekräftigt. Daran hat sich im Hinblick auf die von europäischen Staaten kolonisierten Länder oder die Randgebiete des europäischen Kapitalismus auch in späteren Arbeitsperioden wenig geändert. Die Annahme einer Vereinheitlichung der gesellschaftlichen Zustände auf der ganzen Welt hatte auch vor dem Hintergrund revolutionsstrategischer Überlegungen überragende Bedeutung. Damit ist die für Marx eigentlich entscheidende Reflektionsebene erreicht, der Gesichtspunkt, von dem aus er alle welthistorischen Entwicklungen einschließlich der globalen kapitalistischen Expansion letztendlich bewertet hat. So konstatierte Marx in Erwartung einer Handelskrise im Oktober 1858, die weltweite Expansion der kapitalistischen Wirtschaft, wie sie durch die Einbeziehung Kaliforniens und Australiens bewirkt worden war, habe dazu geführt, daß „die bürgerliche Gesellschaft zum 2tenmal ihr 16tes Jahrhundert erlebt hat", also eine Phase schlagartiger Ausweitung der Märkte und Ressourcenquellen. Daran schloß Marx nun eine Befürchtung, die alle anderen Überlegungen als zweitrangig erscheinen lassen mußte: Während die Revolution „auf dem Kontinent" unmittelbar bevorstehe „und auch sofort einen sozialistischen Charakter annehmen" werde, könne sie dennoch erdrückt („ge-crusht") werden, „da auf viel größerm Terrain das movement der bürgerlichen Gesellschaft noch ascendant ist". 316 Eine möglichst einheitliche bürgerlich-kapitalistische Entwicklung schien demgegenüber am ehesten eine Garantie für den Erfolg und das Überleben der erhofften westeuropäischen Revolution zu sein. Von dieser durchgängigen Sicht der weltweiten Entwicklung bildet die Bewertung der Perspektiven Rußlands angesichts der aufkommenden Bewegung des revolutionären Populismus (narodnicestvo, „Volkstümler") eine charakteristische Ausnahme. Wie wir bereits gesehen haben,317 hat Marx hier die welthistorische Gültigkeit seiner Analyse des englischen Entwicklungsweges ausdrücklich in Abrede gestellt. Zugleich setzte er die mögliche russische Alternative aber in eine überaus enge Beziehung zur kapitalistischen Entwicklung in Westeuropa, denn die Chance einer Transformation der russischen Dorfgemeinde sah er nur, weil diese „sich ... in einem historischen Milieu (befindet), wo die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion ihr alle Voraussetzungen für die kollektive Arbeit liefert. Sie kann sich alle positiven Eigenschaften aneignen, die vom kapitalistischen System geschaffen worden sind, ohne dessen Kaudinisches Joch passieren zu müssen".318 Damit war zwar die Einlinigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen ausdrücklich zurückgewiesen worden. Die Bewertung der bürgerlichen Epoche 240
als notwendiges, daher als fortschrittlich bewertetes Durchgangsstadium zur endlichen Aufhebung aller Herrschaftsbeziehungen unter Menschen wurde damit aber ausdrücklich unterstrichen. Wie die heutige Struktur des weltgesellschaftlichen Zusammenhangs zeigt, haben sich die recht kurzfristigen Hoffnungen Marxens auf eine soziale Revolution ebensowenig bestätigt wie seine Annahme, die bürgerliche Entwicklung werde zu einer immer weiteren Ausbreitung mehr oder weniger einheitlicher, wenn auch in ständiger Veränderung begriffener Zustände führen.319 Dagegen kommt seinen Hinweisen auf die Folgen der Schaffung des Weltmarktes oder der Effektivierung und Verkürzung der Verkehrs- und Kommunikationswege durchaus aktuelle Bedeutung zu. Es lohnt sich daher, Marxsche Überlegungen kurz mit der zeitgenössischen Globalisierungsproblematik zu vergleichen.
3.7 Marxsche Perspektiven auf die Globalisierung: Umbrüche und strukturelle Kontinuitäten Wenn wir die Frage nach der Aktualität Marxscher Kategorien und Analysen für ein Verständnis von Globalisierungsprozessen stellen, so betrifft diese Frage zunächst die Leistungsfähigkeit vor allem der Kritik der politischen Ökonomie. Wir nehmen hier also mit höherer Konkretion und deutlicherem Bezug auf die aktuelle sozialwissenschaftliche Debatte die Frage der Reichweite und der andauernden Gültigkeit der Marxschen Theorie wieder auf.320 Als Theorie der kapitalistischen Gesellschaft ist von ihr zu fordern, daß ihre Reichweite ungeachtet der unterschiedlichen Ausformungen der kapitalistisch bestimmten Verhältnisse alle diese unterschiedlichen Formen kategorial umfaßt. Bezogen auf die aktuelle Globalisierungsdiskussion bedeutet dies, daß die Thesen vom Ende der Moderne321 oder auch von einer „zweiten Moderne" 322 gegen die Annahme einer Kontinuität der gesellschaftlichen Grundverhältnisse oder Tiefenstrukturen überprüft werden müßten. Diese These würde besagen, daß trotz aller wesentlichen Veränderungen, etwa im Wechsel von Regulationsweisen oder Akkumulationsregimen und auch in der Relevanz von Klassenverhältnissen sich nichts Grundlegendes geändert hat am Kapitalverhältnis und seiner Bewegungsform, d.h. auch nicht an den ihm zugrundeliegenden fundamentalen sozialen Beziehungen, vorab der Lohnbeziehung sowie auch am gesellschaftlichen Naturverhältnis. Für die Marxsche Theorie bedeutet ein grundlegender gesellschaftlicher Umbruch, wie er zumindest mit der Rede vom Ende der Moderne unterstellt wird,323 entweder die definitive Falsifikation oder aber die Annahme einer Revolution im strukturellen Sinn des Wechsels der Produktionsweise. Die einem 241
solchen Befund widersprechende Kontinuität der Tiefenstrukturen kann auch gleichsam auf induktivem Weg belegt werden: Wir können klassische Arbeiten wie etwa Das Kapital als theoretische Ausdrucksformen ihrer jeweils eigenen Gegenwart verstehen. Dann kann uns ein Autor wie Marx, der auf der Grundlage seiner eigenen kritischen Lektüre der klassischen politischen Ökonomie und der zeitgenössischen Literatur argumentiert, neue Einsichten nicht nur als Theoretiker vermitteln, sondern als ein Schriftsteller, der überaus materialreich sozialhistorische Perspektiven einholt. Die so aufgeworfenen Probleme lassen sich in vielfältiger Weise in Beziehung setzen zu dem, was heute mit dem Etikett Globalisierung versehen wird. Das bedeutet auch, daß diese Erscheinungen dann nicht mehr als so grundstürzend neu behandelt werden können, wie dies gewöhnlich zur Grundlage der Argumentation und Analyse der gegenwärtigen Situation gemacht wird. Die gegenwärtigen Veränderungen und Innovationen können dann eher als Umbrüche innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse, als ihre Reorganisation, als neue Form oder Regulationsweise des Kapitalismus verstanden werden. Damit wird keineswegs bestritten, daß die gegenwärtigen Umbrüche einschneidende Veränderungen der Lebensweisen, der Arbeitsformen oder der gesellschaftlichen Strukturen mit sich bringen. Sie erscheinen freilich in einer etwas anderen Perspektive und werden in einen Bezugsrahmen gestellt, der geeignet ist, stärker als dies gegenwärtig oft gesehen wird, die längerfristigen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus zu erkennen. Bereits das Kommunistischen Manifest stellt die welthistorisch progressive Leistung der Bourgeoisie ganz lapidar in einen globalen Zusammenhang: „Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt".324 Später präzisierte Marx, die kapitalistische Produktionsweise führe zu einer „neue(n) ... internationale(n) Teilung der Arbeit", die sich an den „Hauptsitzen des Maschinenbetriebs", also den kapitalistischen Zentren orientiere und „einen Teil des Erdballs in vorzugsweis agrikoles Produktionsfeld für den andern als vorzugsweis industrielles Produktionsfeld umwandelt".325 Dies entspricht recht genau der Umstrukturierung der globalen Handelsbeziehungen, wie sie von Marx am exemplarischen Fall Indiens aufgezeigt wurden.326 Wichtiger aber ist, daß hier ein weltweiter, also „globaler" wirtschaftlicher, damit auch gesellschaftlicher Zusammenhang beschrieben wird, der nicht mehr hintergehbar, gleichsam ein nicht einfach ökonomisches, sondern gattungsgeschichtliches Faktum geworden ist. Marx machte deutlich, daß das „Fabrikwesen" in „Abhängigkeit vom Weltmarkt" stand. Dies, so betonte er, verstärkte das Risiko zur „Überfüllung der Märkte, mit deren Kontraktion Lähmung eintritt",327 mithin die Tendenz zur Überproduktionskrise. Diesen expandierenden und zugleich krisenhaften Weltzusammenhang verknüpft Marx mit der Naturbeziehung der kapitalistischen Gesellschaftsform: Die 242
schon erwähnte „Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts" war für ihn unlösbar verbunden mit der „bewußte(n) technische(n) Anwendung der Wissenschaft" und der „planmäßige(n) Ausbeutung der Erde".328 Der Weltmarkt erscheint hier als ein allumfassendes „Netz", also ein globaler gesellschaftlicher Zusammenhang. Dessen Ausbreitung ist bedingt durch und bewirkt zugleich die gleichfalls allumfassende Inwertsetzung329 oder Ausbeutung der „Erde", also der Gesamtheit natürlicher und auch menschlicher Ressourcen. Das Kapitalverhältnis ist begrifflich an den „Weltmarkt" gekoppelt, denn dieser „bildet selbst die Basis dieser Produktionsweise", geradezu ihre „Lebensatmosphäre".330 Aus eben diesem Grund wirkten die Konstituierung des Weltmarktes und die sukzessive Einbeziehung „ausgedehnter Gebiete" in Amerika, Asien und Australien sowie die Entstehung einer gewissen Anzahl „industrieller Nationen" als Bedingung für den zyklischen Charakter der ökonomischen und damit auch der sozialen Krisen des Kapitalismus.331 Der einmal konstituierte Weltmarkt erscheint daher als ein komplexer sozio-ökonomischen Zusammenhang; er entspricht der spezifischen „Art und Weise", in der Menschen in der Lage sind, unter den einmal so konstituierten Bedingungen „ihr Leben (zu) gew(i)nnen".332 Nun sind die Indikatoren dafür zahlreich und auch sicherlich nicht allein auf Marx beschränkt, daß während des größten Teils des 19. Jahrhunderts ein sehr lebhaftes Bewußtsein davon bestand, daß die Welt ein Stadium der interdependenten Einheit erreicht hatte; freilich wurde dies nicht als undifferenzierte Kontinuität gesehen. Auch die Autoren vom Kommunistischen Manifest zogen aus der von ihnen betonten Bedeutung der Existenz und selbst eines Übergewichtes des Weltmarktes nicht den Schluß, kleinere gesellschaftliche Zusammenhänge, die u.a. auf die einzelnen Nationalstaaten orientiert waren, seien nun etwa bedeutungslos geworden. Dies wird deutlich in der Annahme, daß „der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler" sei.333 Weiter sah Marx die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft bestimmt durch die Modifikation des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt, entsprechend den nationalen Unterschieden im Produktivitätsniveau.334 Hier war der Weltmarktzusammenhang durchaus präsent, aber vermittelt über die Nationalstaaten, ihre gegenseitigen Grenzen und die damit zusammenhängenden Regelungen wie Zölle und Währungen, aber auch durch repressive und ideologische Apparate und deren Rolle im Klassenkampf. Nicht zuletzt verwies Marx darauf, daß britische Kapitalisten und Politiker mit dem geringeren Preis der Arbeitskraft in fremden Ländern argumentierten, sei es nun Frankreich oder China,335 daß sie also, in die Sprache aktuellen politischen Redens übersetzt, eine Standortdebatte führten. Auch vor gut 130 Jahren ging es am Ende darum, unter Berufung auf die internationale Konkurrenz zu Hause, in diesem Fall in Großbritannien, die Löhne zu drücken. Für das Merkantilsystem 243
und die nachholende Entwicklung sah Marx aufgrund des Weltmarktzusammenhangs eine Notwendigkeit zur Anwendung von „Zwangsmittel(n)" zur Förderung „eine(r) beschleunigte(n) Entwicklung des Kapitals" im Kontext des „industriellen Kampfes) der Nationen auf dem Weltmarkt". Ideologisch würden hier „die Interessen der Kapitalistenklasse und die Bereicherung überhaupt für den letzten Staatszweck" erklärt.336 Auf allgemeinerer Ebene betonte Marx, daß es der Weltmarkt sei, der die kapitalistische Konkurrenz schaffe und ihr Form gebe, mithin die Bedingungen, unter denen die Kapitalisten handeln: „Der industrielle Kapitalist hat beständig den Weltmarkt vor sich ... und muß beständig vergleichen, seine eignen Kostpreise mit den Marktpreisen nicht nur in der Heimat, sondern der ganzen Welt."337 Auch wo Marx diese Beobachtungen für eine vermeintlich abgeschlossene Periode, den Merkantilismus spezifizierte, klingen sie doch - angesichts wiederholter und aktueller merkantilistischer Reprisen - höchst aktuell.338 So sind die Anklänge zur heutigen politischen, ökonomischen und erst recht zur ideologischen Wirklichkeit des „nationalen Wettbewerbsstaates"339 geradezu frappierend, der aus Sicht aktueller Kritiken im späten 20. Jahrhundert zumindest in den industriekapitalistischen Zentren den dort scheinbar fest etablierten keynesianischen Wohlfahrtsstaat abgelöst hat. Aber die Bedeutung und die Implikationen des Weltmarktes für die Marxsche Theorie sind nicht mit den Hinweisen auf seine Bedeutung für interne und externe, kollektive und individuelle Kapitalstrategien erschöpft. Gesellschaftlich ist der Weltmarkt eher eine Chiffre, die eine ganze Serie komplizierter sozialer Zusammenhänge und gegenseitiger Abhängigkeiten bezeichnet. Das zeigt sich bei Marx nicht nur in ständigen Bezugnahmen auf Handelskrisen irgendwo in der Welt, von denen erwartet wird, daß sie Auswirkungen auf den Handel und den Krisenzyklus in Europa und vor allem in England zeitigen werden, womit sich die Hoffnung verbindet, dies werde die nächste Runde europäischer Revolutionen auslösen. Wichtiger ist die Tatsache, daß die Kernposition der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie darauf beharrt, daß ökonomische Beziehungen und materieller Austausch immer gesellschaftliche Beziehungen enthalten und wenigstens unter kapitalistischen Bedingungen - deren gesellschaftlichen, von Menschen konstituierten und letztlich daher auch veränderbaren Charakter zugleich verschleiern; weiter, daß diese Beziehungen unter dem Kapitalismus wirklich globaler Natur in dem Sinne sind, daß sie in fundamentaler Weise, unauflöslich mit dem Weltmarkt verkoppelt sind. Die Konstituierung und Existenz des Weltmarktes ist für Marx daher keinesfalls eine historische Tatsache oder Tendenz unter anderen, die sich zu den Entwicklungen und Ereignissen in den sich herausbildenden Nationalstaaten rein kontingent oder akzidentiell verhalten könnte. Die Marxsche Perspektive zeigt 244
vielmehr, daß das Auftreten dieser Nationalstaaten und der ihnen entsprechenden „nationalen" oder Volkswirtschaften eingebettet war in die Konstituierung des Weltmarktes und unauflöslich mit dieser verbunden. Und im Gegensatz zu den hegemonialen Diskursen der Gegenwart können gesellschaftliche Beziehungen in dieser Perspektive nicht abgetrennt von ökonomischen Prozessen betrachtet werden und ebensowenig von struktureller Ungleichheit oder von den gesellschaftlichen Kämpfen, die diese nach sich ziehen. Aus Marxscher Perspektive entsteht daher der Weltmarkt als eine Arena vielfältiger Auseinandersetzungen und Kämpfe, deren Inhalt vor allem anderen die internationale kapitalistische Konkurrenz ist, weiter der Klassenkampf in nationalen wie auch in internationalen Bezugszusammenhängen. Schließlich entsteht der Weltmarkt auch in der Form und durch die Konkurrenz der Nationalstaaten, die wiederum im Grunde die Interessen und Projekte der nationalen Bourgeoisien repräsentieren. In der Darstellung der strukturellen Tendenzen auf dem Weltmarkt und der Kräfte, die ihn verändern oder intensivieren, klingt Marx überraschend aktuell, solange wir uns an die Grundtendenzen halten. Die Einzelphänomene sind natürlich an die spezifische Periode gebunden, die behandelt wird. So hob Marx die tiefgreifenden Veränderungen hervor, die zu seiner Zeit Kommunikation und Transport betrafen, „ein System von Flußdampfschiffen, Eisenbahnen, ozeanischen Dampfschiffen und Telegraphen".340 Die Entwicklung der „letzten fünfzig Jahre", also seit der Etablierung der nachrevolutionären Ordnung in Europa durch den Wiener Kongreß 1815, erschien ihm als „Revolution". Teer- oder Macadam-Straßen auf dem Land und die Eisenbahn, vor allem aber auf See „die Dampferlinie" und die durch den Suez-Kanal drastisch verkürzte Route von Europa nach Süd- und Ostasien und Australien hatten die „Zirkulationszeit einer Warensendung" innerhalb der 20 Jahre nach 1847 von „zwölf Monate(n) ... auf ungefähr soviele Wochen" schrumpfen lassen, und Marx schätzte, daß „Amerika und Indien ... durch diese Umwälzung der Verkehrsmittel den europäischen Industrieländern um 70-90% nähergerückt (sind)". Dies wiederum bedeutete kürzere Umschlagszeiten für das Kapital, so daß „die Aktionsfähigkeit des darin beteiligten Kapitals um mehr als das Doppelte oder Dreifache gesteigert worden" war.341 Heute ist Kommunikation in Echtzeit rund um den Erdball möglich, und die Transportkosten können auf ökonomischer Ebene vernachlässigt werden.342 Dennoch sind hier nicht nur gleichgerichtete Tendenzen in der Kontraktion von Raum und Zeit zu konstatieren, sondern der Maßstab dieser Veränderung war im 19. Jahrhundert vermutlich noch eingreifender und dramatischer, betrachten wir die Dauer und die Effektivität einzelner Kommunikationsakte. Wie wir noch sehen werden, betrifft dies freilich eher die Lebenswelt, weniger die Funktionsweise des modernen Kapitalismus. Die Erfahrung der Kontraktion von 245
Raum und Zeit kommt auch mit ganz lebensweltlichem Bezug und unter starker Betonung der Neuheit dieser Erfahrung und der damit verknüpften optimistischen Erwartungen in der folgenden Formulierung eines persönlichen Glückwunsches zum Ausdruck: „Glückauf für den neuen Weltbürger! Man kann in keiner famosern Zeit auf die Welt kommen als heutzutage. Wenn man in 7 Tagen von London nach Kalkutta fährt, werden wir beide längst geköpft sein oder Wackelköpfe haben. Und Australien und Kalifornien und der Stille Ozean. Die neuen Weltbürger werden nicht mehr begreifen, wie klein unsere Welt war."343 Marx nahm zwar die weitreichenden Konsequenzen der technologischen Umwälzungen wahr, aber er sah sie nicht als die eigentlichen Ursachen gesellschaftlicher Veränderungen. Dies unterscheidet ihn wiederum von großen Teilen der gegenwärtigen Globalisierungs-Debatte. Für Marx bedeuteten technologische Fortschritte in Transport und Kommunikation zwar kürzere Warenumschlagszeiten, aber dies stellte zunächst einmal nur eine „Möglichkeit" dar. Dieses Potential wurde jedoch zugleich zur „Notwendigkeit ..., für immer entferntere Märkte, mit einem Wort für den Weltmarkt zu arbeiten". Damit war eine „enorme" Zunahme des zu einem bestimmten Zeitpunkt in Waren vergegenständlichten, „innerhalb der Umlaufzeit" befindlichen Kapitals verbunden, aber auch ein Wachstum des „Teil(s) des gesellschaftlichen Reichtums, der, statt als direktes Produktionsmittel zu dienen, in Transport- und Kommunikationsmittel und in dem für ihren Betrieb erheischten fixen und zirkulierenden Kapital ausgelegt wird".344 Mit der Intensivierung und Radikalisierung der kapitalistischen Produktionsweise stiegen auch im 19. Jahrhundert die Transaktionskosten, und die relativen sektoralen Gewichte verlagerten sich von der unmittelbaren Produktion zur Sicherstellung der Bedingungen der Zirkulation, zu - großenteils freilich noch durch physische Arbeit erbrachten - „Dienstleistungen". Die Transportrevolution der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts öffnete ferner riesige Ackerbaugebiete für den Weltmarkt. Gegen die damit auftretende Konkurrenz „konnte der europäische Pächter und Bauer bei den alten Renten nicht aufkommen". Ähnliche Folgen zeitigte es, daß die durch staatliche Steuer ausgepreßten Produkte der „russischen und indischen kommunistischen Gemeinwesen" auf den Weltmarkt gelangten.345 Zu gleicher Zeit bedeutete die Effektivierung der Transportmittel die Reduzierung der Vorräte, die die Produzenten bereithalten mußten, um die Fortsetzung ihrer Produktionsprozesse zu gewährleisten - ein vertrauter Zusammenhang in Zeiten der am Prinzip des just in time orientierten schlanken Produktion. Weiter führte die Expansion des Weltmarktes zur Diversifizierung der Quellen, aus denen diese Rohstoffe kamen - auch world wide sourcing ist eben keine Erfindung kluger Manager aus dem späten 20. Jahrhundert, sondern Konsequenz der kapitalistischen Wirtschaftsweise selbst. 246
Für Marx handelte es sich daher unter dem Gesichtspunkt des für die Produktion aufgewendeten Kapitals nur um eine Formveränderung.346 Im Bezugsrahmen gegenwärtiger Debatten können solche Überlegungen auch zur Vorsicht mahnen gegen die Überschätzung der Folgen technologischen Wandels. Zum Verständnis der gegenwärtigen Situation ist auch ein kurzer Blick auf die Aspekte nützlich, durch die die Marxschen Überlegungen von der heutigen Realität wirklich durch einschneidende Veränderungen getrennt sind. Es ist kennzeichnend, daß dies hauptsächlich für die Formen und Funktionen des Geldes auf Weltebene gilt. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß jemand heute behaupten könnte, die Bewegung des Geldes auf dem Weltmarkt sei „bestimmt durch den internationalen Warenaustausch", ebenso wie „die Bewegung des Geldes als inländisches Kauf- und Zirkulationsmittel durch den inländischen Warenaustausch" und „die ganze Geldzirkulation ... bloßes Resultat der Warenzirkulation";347 ähnlich steht es mit der damit zusammenhängenden Aussage, Weltgeld existiere nur in der Form von Edelmetall.348 Offenkundig haben die Virtualisierung der Kommunikation ebenso wie die spezifische, noch immer nationalstaatlich geprägte Verfaßtheit des Weltmarktes und die Entstehung transnationaler Konzerne als eigenständige global players gerade die Tendenz auf einen neuen Höhepunkt getrieben, Geldoperationen von materiellen Garantien und Prozessen zu entkoppeln349 - freilich mit den Risiken des Kasinokapitalismus und der bubble economy.350 Doch entspricht wiederum die Beobachtung, daß der Weltmarkt den Zinssatz viel direkter beeinflusse als die Profitrate351, recht genau neueren Beobachtungen über die andauernde Bedeutung territorialer Zusammenhänge und Grenzen, wo es zu tatsächlicher Produktion und materiellem Austausch kommt,352 gerade im Gegensatz zu den Formen des „entbetteten Geldes".353 Aber es ist schwerlich vorstellbar, daß all dies zu einer Veränderung in der „allgemeine(n) Natur des Kapitals"354 geführt haben könnte. Sie und nicht Veränderungen seiner konkreten Operationsmodi aber stellt das Thema der Kritik der politischen Ökonomie dar. Diese allgemeine Natur des Kapitals hat Marx besonders in seiner Analyse der Tendenz des Kapitals zu unbeschränkter Expansion und der Formen herausgearbeitet, in denen es mit den unterschiedlichen Schranken umgeht, die ihm dabei ihm Wege stehen - die natürlichen Beschränkungen materieller Ressourcen ebenso wie die körperlichen Grenzen der Arbeitskraft, aber auch die durch Raum und Zeit vorgegebenen Grenzen. In allen diesen Fällen besteht Marx im Unterschied zu einem Großteil der neueren Diskussion darauf, daß diese Schranken in letzter Analyse keine natürlichen Hindernisse darstellen, sondern gesellschaftlich hervorgebrachte und reproduzierte Hemmnisse, die auf das Kapital selbst als der Grundbeziehung der modernen Gesellschaft zurückgehen. So ist es auch das Prinzip der kapitalistischen Produktion selbst, 247
das zur Krise und endlich zur Selbstzerstörung fuhrt. Ziemlich unabhängig von der Einschätzung von Strategien zur Überwindung dieser Situation ist doch Marxens Diagnose noch immer relevant, vor allen Dingen als Kritik an den Paradoxien und dem Widersinn des modernen Kapitalismus: „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses der Gesellschaft der Produzenten sind (...) Das Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden Produktionsverhältnissen."355 Unter diesem Gesichtspunkt kann Weltgesellschaft unter einem kapitalistischen Regime nicht anders als krisenhaft sein, eben aufgrund der Widersprüche, die die Hauptachse der Globalisierungsdebatte bilden - die beständige Überschreitung von Schranken, vor allen Dingen in Raum und Zeit. In dieser Passage verweist Marx auch auf den grundlegenden Krisenmechanismus, daß „die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts ... auf der Enteignung und Verarmung der großen Massen der Produzenten beruht",356 also auf krasser Ungleichheit. Auch wenn die Einwände, daß die Marxsche Prognose einer zunehmenden Verarmung in den Zentren des industriellen Kapitalismus während der letzten 150 Jahre nicht eingetreten ist, auf den ersten Blick zutreffen, so ist damit doch alles andere als eine Einebnung der Unterschiede in Reichtum und Einkommen impliziert. Ungleichheit auf der Ebene der Weltgesellschaft kann noch weniger übersehen werden als im nationalstaatlichen Rahmen. Daß dies dennoch geschieht, ist eine der entscheidenden Schwächen der gegenwärtigen Globalisierungsdiskurse. Eine realistische Sicht der gegenwärtigen Weltgesellschaft muß einen gewaltigen gesellschaftlichen Zusammenhang erfassen, der durch ein ganzes Spektrum von Ungleichheiten bestimmt ist. Dazu gehört ein Moment von zentraler Bedeutung, das Marx offenbar nicht beachtet hat oder noch nicht erkennen konnte. Die mit der einprägsamen Metapher, die Bourgeosie schaffe neben ihrer zivilisierenden Mission „eine Welt nach ihrem eignen Bilde"357 bezeichnete Vereinheitlichung der Welt ist nicht eingetreten. Wie wir sahen, haben diese und ähnliche Formeln Anlaß gegeben, Marx eine Perspektive zuzuschreiben, die in vielem den späteren Modernisierungstheorien entspreche. Dies ist, wie sich gezeigt hat, 358 248
nicht ohne Grundlage, doch im Rahmen des Marxschen Gesamtwerkes dürfte es zutreffender sein, sie in den Zusammenhang einer Entwicklungslinie zu stellen, die auf eine internationale oder Weltrevolution hinauslaufen sollte und die den eigentlichen Sinn und Zweck seiner theoretischen Anstrengung bildete.
3.8 Prognose und Projektion: Der Fluchtpunkt der Revolution Die Marxsche Theorie unternimmt es, zum Wesen der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse vorzudringen. Damit soll ein Beitrag geleistet werden, diese zu überwinden. Das Aufdecken von Gesetzmäßigkeiten, etwa der Zyklizität von Krisen und vor allem der allgemeinen Krisentendenz des Kapitalismus, war für Marx daher kein Selbstzweck und leitet in seinen Texten auch immer wieder über zu Prognosen, die offensichtlich aus seiner Sicht durch diese Gesetze selbst impliziert waren.359 Einige der teilweise problematischen Prognosen dieser Art haben wir bereits angesprochen, etwa die Annahme des Umschlags der kapitalistischen Wirtschaft durch das Erreichen ihres logischen Endpunktes in der Eliminierung der lebendigen Arbeit aus dem Produktionsprozeß oder auch die umstrittenen Thesen von der Tendenz zu massenhafter Verelendung in den kapitalistischen Kernländern, die freilich klar zu unterscheiden ist von der Herausbildung einer relativen Überbevölkerung. Sie läßt sich in der historischen Dominanz erheblicher Arbeitslosigkeit gegenüber relativ kurzen Perioden der „Vollbeschäftigung" im nationalstaatlichen Rahmen und erst recht auf globaler Ebene deutlich nachweisen. Wir wollen die für Marxens wissenschaftliche Absichten zentrale Frage der Prognose künftiger Entwicklung etwas genauer verfolgen am Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Krise und sozialer Bewegung. Danach folgen kurze Hinweise auf eine andere Form der Prognose, die seltenen Extrapolationen auf eine vorgestellte nach-kapitalistische Gesellschaftsform.
3.8.1 Krise und Revolution Wie sich gezeigt hat, liegen die Dinge in jeder Hinsicht weit komplizierter, als dies der Autor der Kritik der politischen Ökonomie angenommen hatte, der 1851 zu Beginn seiner Londoner Exilzeit glaubte, „daß ich in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin. ... Ca commence à m'ennuyer."360 In Wirklichkeit sollte er mit diesem ihm bereits „langweilig" erscheinenden Gegenstand bis an sein Lebensende zu tun haben - dies ist wohl eine der unproblematischsten Fehlprognosen, die man Marx nachweisen kann. 249
Dieser eher anekdotische Fall verweist aber auf zwei wesentliche Aspekte der Marxschen Prognostik. Ist die übergreifende Erwartung, die kapitalistische Produktionsweise werde aufgrund der ihr selbst innewohnenden Tendenzen überwunden, auch mit einem mittleren oder gar langfristigen Zeithorizont vereinbar, so steht dem auf der Ebene politischen Handelns die auf Zeiträume von wenigen Jahren orientierende revolutionäre Ungeduld gegenüber. Diese revolutionäre Ungeduld ist mit großer Deutlichkeit vor allem den frühen Erwartungen zu entnehmen, die sich jeweils auf die nächsten Handelskrise richteten, in der prognostischen Annahme, diese werde ebenso unweigerlich die nächste europäische Revolution auslösen, wie die 1848 in England einsetzende wirtschaftliche Prosperität der Revolution auf dem Kontinent den Garaus gemacht habe. Dem lagen weitreichende Annahmen über die gesellschaftlichen Verhältnisse in den wichtigsten westeuropäischen Ländern und darüber hinaus über Gründe und Verlaufsformen von Revolutionen, allgemeiner gesprochen von sozialen Bewegungen zugrunde. Zunächst einmal wurde hier unterstellt, die bürgerlichen Verhältnisse seien nach 1848 vor allem in Frankreich, aber auch in Deutschland in ihren Grundstrukturen, wenn auch nicht in den politischen Herrschaftsformen etabliert. Die gesellschaftliche Veränderung, die mit dem Konzept der bürgerlichen Revolution bezeichnet werden soll, wäre demnach im wesentlichen vollzogen, nicht aber die entsprechende Veränderung in den politischen Institutionen, die nach wie vor durch monarchische Herrschaft, bestenfalls mit einer vom Monarchen oktroyierten Verfassung mit äußerst restriktiv ausgestaltetem Wahlrecht gekennzeichnet waren. Nicht dies wurde jetzt aber von Marx als das zentrale Hindernis und der wesentliche Gegenstand gesellschaftlicher Kämpfe identifiziert, sondern die einmal etablierten bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse selbst. Aus diesem Grund war von politischen Verschwörungen, die diese entscheidenden Fragen gar nicht hätten stellen können, aus Marxens Sicht nichts (mehr) zu erwarten - weniger noch als vor der Revolution von 1848, die er wenigstens in Teilen noch als gegen feudale Restbestände gerichtete „bürgerliche" Revolution verstanden hatte. Deren zentralen Ziele, nämlich die Beseitigung der ökonomischen Hemmnisse für die Entfaltung der Potentiale des Kapitalismus, schienen ungeachtet der politischen Niederlage erreicht. Diese nun herrschenden Verhältnisse aber könnten dann nur mehr durch eine ökonomische Krise und die dadurch ausgelöste soziale Bewegung erschüttert werden, nicht aber durch eine einfache politische Aktion. Eine solche Krise aber sei unvermeidlich und müsse ihrerseits auch die Revolution unweigerlich bewirken.361 Hier wird ein recht einfacher Mechanismus postuliert, der zumindest auf den ersten Blick geradezu zwangsläufig zur ökonomischen Erschütterung und vermittelt über die damit einhergehenden sozialen 250
Konflikte auch zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus fuhrt. Es handelt sich dabei um zwei Grundannahmen: Zum einen wird angenommen, daß im Kapitalismus wirtschaftliche Krisen zyklisch eintreten. Dies gründete sich zunächst auf die empirische Beobachtung des Verlaufs während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dann aber auch auf die Ausarbeitung eines theoretischen Konzeptes. Wie wir sahen, ergibt sich für Marx die grundsätzliche Möglichkeit der Krise aus dem Auseinanderfallen der beiden Kaufakte in der allgemeinen Formel des Kapitals G-W-G'.362 Die Zyklizität des Eintretens von Krisen dagegen leitet sich auf einer bereits deutlich höheren Konkretionsstufe aus den Modalitäten des kapitalistischen Akkumulationsprozesses ab, wobei die genaue kausale Zurechnung von Überproduktion und Unterkonsumtion strittig ist. Doch auch dies erklärt nicht das Eintreten der jeweiligen konkreten Krise. Sie wird jeweils spezifischen Ursachen zugerechnet, etwa Schwierigkeiten beim weltweiten Handel mit chinesischem Tee 363 - einem der ersten überseeischen Produkte des Massenkonsums in England - oder mit Baumwolle,364 kriegerischen Ereignissen usw. An diesem Verfahren stufenweiser Konkretion läßt sich zum einen modellhaft ablesen, wie Marx sich an empirisch vorfindlichen Fällen die Durchsetzung von Gesetzmäßigkeiten vorstellte. Gerade auf der obersten Konkretionsebene, wo tatsächliche Krisenverläufe untersucht werden, spielen Zufälle oder kontingente Ereignisse und Entwicklungen, die mit dem eigentlichen Krisenmechanismus zunächst einmal nichts zu tun haben, eine wesentliche, aber eben doch begrenzte Rolle: Der ausbleibende chinesischen Tee, die Unterbrechung der Baumwollzufuhr aus dem Süden der USA infolge des Bürgerkrieges oder auch das Ansteigen der Kornpreise365 wirken als Auslöser von Krisen. Sie können aber nicht als die Ursachen solcher Krisen gelten, die letztlich in den Tiefenstrukturen der kapitalistischen Produktionsweise selbst zu suchen sind. Dies ist der Grund, weshalb Marx immer wieder den zu seiner Zeit gar nicht selbstverständlichen zyklischen Charakter der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung hervorhob: Die zyklische Wiederkehr der Krise war ein wesentlicher Beleg dafür, daß Krisen letztlich nicht auf zufällige Ursachen, auf das Zusammentreffen unglücklicher Umstände zurückzuführen waren, sondern in der Struktur des Kapitalismus selbst begründet waren. Die dieser Gesetzmäßigkeit gegenüber zufälligen konkreten Umstände konnten als Anlässe den Ausbruch der Krise beschleunigen oder auch verzögern, kurz, ihren konkreten Verlauf bestimmen. Sie wurden daher von Marx mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Er bestand aber darauf, daß die Tatsache der Krise und ihrer periodischen Wiederkehr selbst tiefere Ursachen habe, daß sie in der Grundstruktur der kapitalistischen Produktionsweise wurzele. Für Marx ist daher ein kontinuierliches „Wachstum" nicht vorstellbar. Der moderne Kapitalismus entwickelt sich fort in Krisen, durch die
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Vernichtung von Kapital und andererseits in Schüben der Innovation, der Prosperität und forcierten Akkumulation. In der Krise aktualisieren sich die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise auf unterschiedlichen Ebenen: grundsätzlich etwa in dem Gegensatz zwischen produziertem und produzierbarem Reichtum auf der einen und den Beschränkungen seiner Realisierung auf der anderen Seite, die ja nicht in den wirklichen Bedürfnissen der Menschen zu suchen sind, sondern in den engen Grenzen ihrer effektiven, kaufkräftigen Nachfrage, d.h. in der realen Einschränkung ihrer Bedürfnisse; noch grundsätzlicher in der Schrankenlosigkeit des Kapitals, die eben durch die selbstgeschaffenen Restriktionen der Realisierung des Wertes, der in seinen Waren steckt, auf letztlich durch das Kapital selbst gesetzte Schranken stößt. Dennoch sind diese durch die Krise ans Tageslicht beförderten Schranken alles andere als absolut: Die Krise bereinigt durch die Eliminierung einzelner Kapitalien und durch die Vernichtung von Kapital auf gesellschaftlicher Stufenleiter das Feld für die weitere Expansion des Kapitals, in neuerer Terminologie des „Wachstums", während einer neuen Prosperitätsphase. Auch diese trägt freilich die Keime der Krise bereits in sich. So gesehen aber trägt der Krisenmechanismus deutlich zyklischen Charakter. Nimmt man hinzu, daß jede Prosperitätsphase die vorhergehende durch die Stufenleiter der Produktion, aber auch der Zentralisation und Konzentration des Kapitals zugleich überbietet, so liegt es nahe, eher von einer nach oben gerichteten Spirale zu sprechen als von einem Kreislauf. Dabei ist bei Marx aber immer mitgedacht, daß diese ungleichmäßige, in Zyklen von Krise und Prosperität verlaufende Aufwärtsentwicklung sich ihrerseits gleichsam asymptotisch an Grenzen des Kapitalverhältnisses annähert, die er selbst freilich nicht ausschließlich und vielleicht nicht in erster Linie mit der offenen Auflehnung etwa des Proletariats, also der Revolution im landläufigen Sinne verknüpfte, sondern gerade im Zusammenhang der Kritik der politischen Ökonomie mit einem Punkt, an dem die kapitalistischen Verhältnisse selbst umschlagen müßten: In ihrem Bezugsrahmen selbst, so Marxens Annahme, hätten sich so viele Momente angesammelt, die über private Aneignung, Konkurrenz und selbst über Wertrechnung und Wertgesetz hinaustreiben, daß sich die rationale Form einer Assoziation freier Produzenten als geradezu unvermeidliche Lösung der vielen zugespitzten Paradoxien aufdrängen müsse.366 Bei alledem fehlt aber noch die zweite Komponente des Verlaufsmodells, das Marx in den 1850er Jahren so offenkundig seinen Überlegungen und Beobachtungen zugrundegelegt hat. Es ging ihm ja nicht einfach um den Krisenzyklus und seine Erklärung als intellektuelle Übung, auch nicht um Strategien zur Vermeidung und Abmilderung von Krisen oder zur Sicherung dauerhaften Wachstums, was aus der Sicht seiner Theorie zumindest im Rahmen kapitalistischen 252
Wirtschaftens als illusorisch erscheinen muß. Krisen gehören für Marx zum Kapitalismus ebenso wie Lohnarbeit, große Industrie und Akkumulation oder Weltmarkt. Marxens Erkenntnisinteresse war vor allem politisch begründet, und orientierte daher alle Überlegungen auf die - zumindest während der 1850er Jahre - von der nächsten Krise erwartete neuerliche Revolution. Gerade hier, wo es um die Prognose kollektiver Prozesse geht, also von „Klassenkämpfen", lassen sich am ehesten mechanistische Konzepte erkennen: Es geht nicht, wie sonst gelegentlich angedeutet, um Lernprozesse,367 sondern um die unmittelbare Identität der ökonomischen, der gesellschaftlichen und der politischen Krise. Dies kommt deutlich zum Ausdruck, wenn Marx die Krise, die „Folgen der Teuerung" und aus seiner Sicht unmittelbar mögliche politische Erschütterungen in verschiedenen Ländern Europas als direkten kausalen Zusammenhang versteht368 und kurze Zeit später glaubt, „die Symptome eines in England heranreifenden Bürgerkrieges"369 zu erkennen. In der Anfang 1855 zu konstatierenden Krise des britischen Parteien- und Regierungssystems, gepaart mit den Kosten des Krimkrieges und „der furchtbarsten Handels- und Industriekrise" erblickte Marx denn auch „Symptome genug einer bevorstehenden politischen und sozialen Umwälzung" - und zwar aufgrund der Logik dieser unterschiedlichen, einander verstärkenden Entwicklungen: Es habe „gleichzeitig mit dem Schiffbruch der politischen der Schiffbruch der Freihandelsillusionen" stattgefunden. „Wie die ersteren das Regierungsmonopol der Aristokratie, sicherten die letzteren das Gesetzgebungsmonopol der Bourgeoisie."370 Obwohl gerade die revolutionäre Umwälzung ja vom bewußten Handeln der Menschen bestimmt sein sollte, tritt dies hier fast völlig zurück gegenüber der direkten Umsetzung der existentiellen Krise des Kapitalismus in seine revolutionäre Überwindung. Dem entspricht die von Marx unter dem Eindruck von „Vorboten einer generellen Krise" formulierte Annahme, diese Krise werde nicht allein zur Revolution fuhren, sondern die Verhältnisse hätten sich gegenüber der Situation von 1848 auch so weit geklärt, daß der soziale Inhalt dieser Revolution für niemanden mehr fraglich sein könne: „Jetzt ... wird eine soziale Revolution allgemein als selbstverständlich angenommen noch ehe die politische Revolution proklamiert ist."371 Dennoch erscheinen die beiden Konzepte des Umschlags der Verhältnisse auf der Grundlage ihrer inneren Dynamik, also der ihnen innewohnenden, über sie selbst hinaustreibenden Tendenzen einerseits und des aktiven politischen Eingreifens einer organisierten Klassenbewegung in diesen Prozeß bei Marx als nur unzureichend miteinander vermittelt. Dieser Befund verweist nochmals zurück auf die Probleme des Begriffs und der Analyse der Arbeiterklasse.372 Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Marx die Auswirkungen der Zusammenbruchstendenz des Kapitalismus zumindest gegenüber den dieser Ten253
denz entgegenwirkenden Ursachen deutlich und äußerst folgenreich überschätzt hat. 373 Aus der Sicht einer Gesellschaftsanalyse am Ubergang zum 21. Jahrhundert sind daher Überlegungen zu Strukturtendenzen des Kapitalismus selbst aufschlußreicher. Auf die Tendenz zur immer weiteren Eliminierung physischer Arbeit aus dem Produktionsprozeß, die die Menschen auf Positionen „neben" der Produktion stellt, wurde bereits verwiesen.374 Derartige Überlegungen können wesentlich dazu beitragen, die gegenwärtigen Probleme industriekapitalistisch entwickelter Gesellschaften in einem anderen Licht zu sehen als dies durch die auch in der soziologischen Literatur gängige Rede vom Ende der Arbeitsgesellschaft oder auch von der Umverteilung von Arbeit vorgezeichnet wird. Auch wenn wir der darin enthaltenen Automatisierungseuphorie skeptisch gegenüberstehen, können Marxsche Perspektiven gegenüber den zitierten vordergründigen Prognosen einerseits Zukunftspotentiale verdeutlichen, zugleich aber andererseits auf den ideologischen Umgang mit „Arbeit", zumal in ihrer Gleichsetzung mit Lohnarbeit verweisen.
3.8.2 Die „Assoziation freier Menschen" Obwohl er zeitlebens eine sozialistische Revolution anstrebte, verstand sich Marx nicht als Theoretiker des Sozialismus. Er lehnte es ab, „Rezepte für die Garküchen der Zukunft zu verschreiben".375 Er glaubte aber, aus den von ihm entwikkelten kapitalistischen Formbestimmungen sehr allgemeine Rückschlüsse auf die Folgen von deren revolutonärer Negation ziehen zu können. Seine wenigen Aussagen über denkbare sozialistische Verhältnisse sind daher im strengen Sinn Extrapolationen aus seiner Kapitalismus-Analyse. Sie können freilich zugleich normativen Vorgaben folgen, und zwar unter der Voraussetzung, daß der Kapitalismus alle gesellschaftlichen Widersprüche auf die Spitze getrieben habe. Das gerade Gegenbild der durch das Kapitalverhältnis geprägten Vergesellschaftung wäre danach „eine Assoziation, worin die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". 376 Hinzu kommt noch die weitere Perspektive der Grundkonstanten gesellschaftlichen Lebens und zumal der Produktion und Reproduktion. Ein großer Stellenwert kommt in diesen Überlegungen der Annahme zu, daß die Beziehungen zwischen den Mitgliedern eines künftigen „Verein(s) freier Menschen" nicht mehr wie unter kapitalistischen Verhältnissen durch Waren vermittelt und daher undurchschaubar, verdinglicht, durch den Warenfetischismus vernebelt wären. Diese Menschen würden vielmehr „ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben".377 Das hieße, die beteiligten Menschen wären sich selbst über den eigenen gesell254
schaftlichen Zusammenhang im klaren, könnten ihn kontrollieren und gestalten. Ferner wären diese Beziehungen nicht durch einen anonymen Markt vermittelt, sondern diese Menschen wären in unmittelbarer Form vergesellschaftet, denn nur so können sie ihre vielen Arbeitskräfte in „eine gesellschaftliche Arbeitskraft" zusammenfassen. Unter solchen Umständen, meinte Marx, werde es möglich sein, durch „gesellschaftlich planmäßige Verteilung" nicht nur für die „richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen" zu sorgen,378 so daß die gesellschaftliche Nützlichkeit und Anerkennung der Arbeit nicht erst im Nachhinein auf dem Markt erwiesen würde, sondern bereits vorab in der gemeinsamen Planung. Zugleich werde „die Arbeitszeit" zum „Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution". 379 Daß sich dahinter Probleme verbergen konnten, zeigt sich an den Argumenten, die Marx gegen die von den Anhängern Ferdinand Lassalles propagierte Forderung für den „unverkürzten Arbeitsertrag" anführte. Vom „gesellschaftlichen Gesamtprodukt" müßten nämlich vor jeder Verteilung Abzüge sowohl für den Ersatz alter als auch für die Beschaffung neuer Produktionsmittel gemacht werden, ferner auch von „Konsumtionsmitteln", und zwar für die „Verwaltungskosten", die Erfordernisse für die „gemeinschaftliche Befriedigung von Bedürfnissen ... wie Schulen, Gesundheitsvorrichtungen etc." schließlich für den „Fonds für Arbeitsunfähige etc.". 380 Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des bolschewistischen Experiments liegt die Frage nahe, wie die Verfügung über solche recht umfangreiche, für die Lebenschancen der Einzelnen u.U. entscheidend wichtige Ressourcen geregelt sein sollte. Jedoch erschien dies Marx offenbar nicht als die eigentliche Schwierigkeit. Er verwies vielmehr auf die andauernde Rechnung einer noch immer „mit den Muttermalen der alten Gesellschaft" behafteten „kommunistischen Gesellschaft" mit Arbeitszeit-Einheiten. Jeder sollte „nach den Abzügen ... exakt zurück(bekommen), was er (der Gesellschaft) gibt". Dies sei „dasselbe Prinzip, das den Warentausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist".381 Es verfällt damit zugleich auch der Kritik des „Warenaustausches", obwohl dessen „Inhalt und Form ... verändert sind", weil Austauschmittel nur noch die eigene „Arbeit" ist und nur noch „individuelle Konsummittel" „in das Eigentum der einzelnen Übergehn" können.382 Mit anderen Worten, das Kapitalverhältnis ist aufgehoben, und die Arbeitszeit offen zum allgemeinen Äquivalent erklärt. Vor diesem Hintergrund formuliert Marx aber eine Kritik dieses für ihn eben nur dem Schein nach makellos gerechten Prinzips, der alle die Vorwürfe der Nivellierung und pauschaler Gleichmacherei Lügen straft, die gegen seine Vorstellungen von einer Zukunfts-
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gesellschaft erhoben wird. Das Prinzip der Vergütung nach Leistung ist auch noch befangen in den Kategorien der alten Gesellschaft, es ist „mit einer bürgerlichen Schranke behaftet": „Das gleiche Recht ist hier daher immer noch - dem Prinzip nach - das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen". Vor allem ist „dies gleiche Recht... ungleiches Recht für ungleiche Arbeit". Weil der Äquivalententausch nur auf das abstrakte Zeitmaß der geleisteten Arbeitszeit bezogen werden kann, erkennt dieses Recht „stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an". Daraus folgt für Marx eine radikale Zuspitzung der Kritik dieses - für die vorgestellte nachrevolutionäre Phase als unvermeidlich erachteten - Rechtes: ,,Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht."383 Demnach erzeugt die abstrakte, formale Gleichsetzung materielle Ungleichheit, und dies ist nach den Überlegungen von Marx nur zu ändern, wenn „in einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft (..) der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden" kann. Auf der Grundlage „der allseitigen Entwicklung der Individuen", dadurch bedingt auch „ihre(r) Produktivkräfte", wodurch „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen", werde „die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen".384 Auf diese Weise konnte Marx aus fundamentalen Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie Verweise auf Möglichkeiten der Überwindung eben der durch sie zum Ausdruck gebrachten Verhältnisse entwickeln. Dafür spielt die Entwicklung der Produktivkräfte eine zentrale Rolle, und dies macht einmal mehr verständlich, warum eine Kritik der industriellen Produktivkräfte im Sinne ihrer Durchmusterung nach den ihnen eingeschriebenen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen bei Marx nur in Ansätzen zu finden ist. Hier kann auch von einer explizit modernistischen oder industrialistischen Schlagseite seiner Gesellschaftskritik gesprochen werden. Dennoch sollte darüber nicht aus dem Blickfeld geraten, daß Produktivkraftentwicklung für Marx hier keinen Wert an sich darstellte wie etwa die kapitalistische Akkumulation - in heutiger Sprachregelung „Wachstum" - im Kontext der politischen Ökonomie ebenso wie späterer volkswirtschaftlicher Ansätze. Bei Marx verbindet sich die möglichst umfassende Entwicklung industrieller Produktivkräfte mit dem vordringlichen Anliegen, hierdurch die materiellen Voraussetzungen für das erstrebte „Reich der Freiheit" zu schaffen. Diese Möglichkeit war aus Marxscher Perspektive zurückgebunden an die Entfaltung der Produktivität der Arbeit, sobald diese einmal befreit wäre von der ihr unter kapitalistischen Verhältnissen anhaftenden Maxime der Profitmaximierung. Das „Reich der Freiheit" war für Marx gleichbedeutend nicht mit dem Ende des ihm entgegengestellten „Reiches der Notwendigkeit", sondern mit dessen 256
möglichst weitgehenden Zurückdrängung. Dafür schien die kapitalistische Industrie wichtige Voraussetzungen geschaffen zu haben, die freilich von der Hülle des Verwertungskalküls des Kapitals zu befreien wären: „Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit beständiger Erweiterung ihres Reproduktionsprozesses hängt ... nicht ab von der Länge der Mehrarbeit, sondern von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reichhaltigen Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht." Diese Arbeit selbst aber mußte Zwang und Notwendigkeit bleiben: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. (...) Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden."385 Der von Marx in den Jugendschriften recht undifferenziert und emphatisch propagierte „reiche Mensch" aber findet hier offenkundig keinen Platz, auch wenn Marx die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, einmal werde „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden" sein.386 Systematisch jedenfalls „bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit", und das Streben nach Freiheit ist auf den Bereich außerhalb der Produktionssphäre, des Betriebs verwiesen: „Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung."387 Industrielle Produktivkraftentwicklung zur Schaffung freier, zu kreativer Tätigkeit freier Zeit - dies ist das Marxsche Gegenprogramm zu Produktivitätssteigerungen, die in der Logik der Produktion des relativen Mehrwerts nicht die Schaffung frei verfügbarer Zeit, sondern die Schaffung relativer Überbevölkerung zur Konsequenz haben, konkret die Sorge um den kontinuierlichen Verkauf der eigenen Arbeitskraft und die Desorganisation von Lebenszeit und Lebenszusammenhängen in der Jagd nach Gelegenheitsbeschäftigungen. Die Rede vom Ende der Arbeitsgesellschaft, deren Krise darin bestehen soll, daß ihr die Arbeit ausgehe, entpuppt sich dann als die aktuelle Ausdrucksform der Verkehrung der Verhältnisse, nach denen in der Tat Vernunft Unsinn und Wohltat Plage werden. Die Marxschen Überlegungen über eine Zukunftsgesellschaft lassen sich derart zurückholen in eine Kritik zentraler und nach wie vor höchst aktueller Tendenzen, die den bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen innewohnen. Als Projektionen objektiver Möglichkeiten unterliegen sie den Beschränkungen, die vor allem an einigen Aspekten der Kritik der politischen Ökonomie aufgezeigt wur257
den - der inkonsequenten Untersuchung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, der in Ansätzen steckenbleibenden Kritik betrieblicher ebenso wie geschlechtsspezifischer Herrschaftsverhältnisse. Solche aus einer kritischen Lektüre der Marxschen Theorie selbst sich ergebenden Einwände sind ernster zu nehmen als die scheinbar naheliegenden, am Kern dieser Theorie vorbeigehenden Verweise auf Erfahrungen mit ihrer angeblichen „Anwendung" im Rahmen des bolschewistischen Experiments. Zugleich sollte deutlich geworden sein, daß die Marxsche Theorie kritische Potentiale enthält, die sich in produktiver Weise auch gegen ihre Defizite wenden lassen.
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Resümee und Ausblick: Was also können wir bei Marx lernen? Ein Ansatz soziologischer Analyse, der sich wesentlich von der Marxschen Theorie anregen läßt, wird in seinem Ausgangspunkt querstehen zu vorherrschenden Tendenzen. Ein solcher Ansatz wird zunächst an der These von der Kontinuität der Grund- oder Tiefenstrukturen kapitalistischer Verhältnisse festhalten, ohne daß deswegen wesentliche Veränderungen verkannt oder geleugnet würden. Die gängigen Thesen von Globalisierung oder auch an aktuell viel diskutierten soziologischen Theorien ansetzende Konzepte von einer immer schon als Weltgesellschaft gedachten Gesellschaft haben aber nicht nur die Virtualisierung wichtiger ökonomischer Prozesse zur Kenntnis genommen; sie haben zugleich große Schritte auf einem Weg getan, Gesellschaft - zumindest konzeptionell - gleich mit zu virtualisieren, sie aufzulösen in Kommunikation (über sie). Hier bietet die Marxsche Theorie keinen erloschenen Vulkan, wie Niklas Luhmann einmal meinte, sondern die nach wie vor wohl entschiedenste Gegenposition. Mit der zentralen Kategorie der gesellschaftlichen Arbeit steht die Marxsche Theorie sicher auch in der Tradition klassischer bürgerlicher Gesellschaftstheorie seit John Locke oder auch der klassischen deutschen Philosophie, in erster Linie von Hegel. Was Marx aber darüber hinaus auszeichnet, ist die Einsicht in den notwendig gesellschaftlichen Charakter der Arbeit. Menschen sind demzufolge nur vorstellbar als gesellschaftliche Wesen, und Arbeit ist kein isolierter Akt eines Individuums, sondern immer kooperativ und gesellschaftlich. Arbeit ist freilich viel mehr als die grobe Entäußerung physischer Kraft. Sie enthält den bewußten Willen, den Plan, ja die Phantasie von dem zu schaffenden Produkt. Und sie enthält immer auch die gesellschaftliche Form, in der sie geleistet wird: die Beziehungen der Menschen, die Arbeit gemeinsam oder über mehr oder weniger komplexe Vermittlungen aufeinander bezogen verrichten, schließlich auch Herrschaftsbeziehungen, wo es um Befehl und Gehorsam geht, Ausbeutungsverhältnisse durch die unterschiedlichen Formen, in denen Produkte der gesellschaftlichen Arbeit angeeignet werden. Über die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und die Kritik der politischen Ökonomie hinaus wird durch die anthropo259
logische Grundbestimmung des Menschen als eines bewußten, gesellschaftlich arbeitenden Wesens stets der materielle Kontext im Blickfeld von Gesellschaftstheorie gehalten, ohne den Gesellschaft nicht bestehen kann. Für Marx ist jede Gesellschaft Arbeitsgesellschaft, und gerade weil ihm dies vermutlich als banal erschien, wäre er wohl kaum auf einen solchen Begriff verfallen. Zugleich aber läßt sich dieser Kontext nicht ohne weiteres in eine nicht-gesellschaftliche „Umwelt" abdrängen. Er wirkt selbst bestimmend auf Gesellschaft ein. Wie wir anhand der Marxschen Überlegungen zu den „Naturschranken" der kapitalistischen Produktion gesehen haben, ist seine Behandlung des gesellschaftlichen Naturbezugs vor allem aus heutiger Sicht sicher nicht unproblematisch. Seine Theorie enthält aber zentrale Anschlußstellen für eine kritische Diskussion gesellschaftlicher Naturbezüge, und zwar nicht als etwas, das Gesellschaften äußerlich wäre, sondern das im Sinne der Nicht-Identität von Natur und Gesellschaft konstitutiv zu den jeweiligen Gesellschaftsformen dazugehört. Die Marxsche Theorie ist vor allem aufgrund der zentralen Stellung, die in ihr der menschlichen Arbeit zugewiesen wird, in spezifischer Weise humanistisch, teilweise auch auf Kosten einer gründlicheren Reflexion der Naturbeziehung. Das impliziert sicher eine moralisch-wertende Haltung, entscheidend aber ist die eingenommene Perspektive. In Weberscher Terminologie handelt es sich somit weniger um das Werturteil als um die Wertorientierung bei Marx. Wenn die Gesellschaften auf bestimmten Formen menschlicher Arbeit beruhen, so sind auch sie selbst von Menschen geschaffen und prinzipiell auch durch sie veränderbar. Freilich ist die Einsicht schon in diesen Sachverhalt, erst recht aber in die Verhältnisse, unter denen die Menschen - miteinander - leben, nur durch theoretische Anstrengung und durch eine damit verbundene Praxis möglich. Und dies gilt nicht für jede beliebige Gesellschaft in der Geschichte, sondern vorab für die bürgerlich-kapitalistische. Nur sie hat ein theoretisches Selbstbewußtsein hervorgebracht, dessen „Kritik" die Chance bietet, ihre eigenen inneren Mechanismen zu entschleiern, und nur in ihr sind die Gegensätze zwischen den großen sozialen Gruppen, den Klassen, so klar erkennbar und vor allem so radikal, daß Aussicht besteht, sie durch radikale Änderung nicht nur durch neue Formen der Knechtschaft zu ersetzen, sondern das Prinzip der Knechtschaft selbst zu überwinden. Wie wir immer wieder gesehen haben, gelten alle Bestimmungen gesellschaftlicher Verhältnisse bei Marx stets nur in historisch bestimmter Form. Es ist eine der Schwierigkeiten, aber zugleich eine der großen Stärken und Vorzüge der Marxschen Theorie, daß ihre Kategorien ausdrücklich nicht als ewig gültige konzipiert sind, sondern spezifiziert auf bestimmte, klar umrissene Zusammenhänge - was allerdings nicht bedeutet, diese Kategorien wären unmittelbar in der gesellschaftlichen Empirie auffindbar. Bei diesem Ansatz stehen der moderne 260
Kapitalismus, seine Entstehung und die Möglichkeiten seiner Überwindung im Mittelpunkt. Mit der beständig durchgehaltenen methodischen Frage nach der Formbestimmung kann Marx als Lehrmeister gelten, der zu grundsätzlicher Skepsis gegen allzu häufige und immer noch allzu vorschnelle, explizite und implizite Annahmen über die Dauerhaftigkeit oder gar den Ewigkeitscharakter gesellschaftlicher Verhältnisse mahnt. Dies hat er in den verschiedenen Kontexten und Dimensionen seines Werkes immer wieder deutlich gemacht. Zugleich ist die Kategorie der Formbestimmtheit nicht nur der systematische Knotenpunkt des der Marxschen Theorie immanenten historischen Relativismus, sondern verweist eben damit auch auf ein zentrales Moment der Kritik zumal der kapitalistischen Verhältnisse - die ihnen immanente Verkehrung, die durch die Warenproduktion bedingte Verzauberung menschlicher Beziehungen, wie sie vor allem in den Paradoxien der produktiven Arbeit zum Ausdruck kommt: Sinnlose und selbst zerstörerische Beschäftigungen werden hier mit dem Schein gesellschaftlicher Nützlichkeit geadelt, weil ihre Produkte marktgängig sind, während durchaus konstruktiven und notwendigen Tätigkeiten bis hin zu Kinder- und Krankenpflege oder Essenkochen selbst noch die Anerkennung als „Arbeit" versagt wird, solange sie nicht über den Lohnnexus, d.h. über den Markt, vermittelt sind. Und obendrein kehrt sich das alles noch einmal um, sobald diese Tätigkeiten monetarisiert werden oder anders ausgedrückt, sobald Liebe und Zuwendung zur Ware werden. Dieses Bild des - schlechten - Zaubergartens steht in der Reihe der Gesellschaftstheorien in einem faszinierenden Gegensatz zu Max Webers Sicht der Entzauberung der Welt als Eingangsakt zur Schaffung jenes stählernen Gehäuses der Moderne, das er für unentrinnbar hielt. Dies ist nicht die Sicht von Marx, und gerade deshalb war er zweifellos weit mehr an der Dynamik der kapitalistischen Verhältnisse interessiert. Die Begeisterung über den Aufbruch, der mit dem Herrschaftsantritt der Bourgeoisie verbunden ist, über das Aufsprengen alter Fesseln und Beschränkungen, über die technologischen Fortschritte des beginnenden Industriezeitalters steht fest in der Perspektive der Überwindung des kapitalistischen Ausbeutungssystems, an das diese Errungenschaften zunächst - aber aus Marxscher Perspektive keineswegs auf Dauer - gebunden zu sein schienen. Diese Dynamisierung aller Verhältnisse schafft: für ihn weniger, wie dies eine retrospektive Sicht auf die Marxschen Schriften nahelegen kann, eine Ambivalenz in der Beurteilung der Moderne, sondern eine emphatische Betonung ihrer Dialektik: Die Entwicklung der Produktivkräfte durch die kapitalistische Industrie ebenso wie die Vereinfachung der Klassengegensätze und ihre systematische Zuspitzung, die in periodischen Krisen noch eine weitere Verschärfung erfährt, bedeuten aus dieser Sicht ebenso viele notwendige Voraussetzungen für die schließliche Überwindung der kapitalisti261
schen Verhältnisse, für den endlichen Abschluß der „Vorgeschichte der Menschheit" und den Beginn ihrer bewußten, menschlichen Gestaltung. Marx kann in besonderem Maße den Epochenbruch der Moderne reflektieren, eben weil er entschieden gegen die Sicht der kapitalistischen Verhältnisse als naturgegeben und unabänderlich Stellung bezieht. In scharfen Kontrasten zeigt er die schmerzhaften, ihm aber als historisch unvermeidlich erscheinenden, daher „stoisch" zu betrachtenden Trennungsprozesse auf, die die Menschen aus ihren „naturwüchsigen" Zusammenhängen herausgerissen haben. Die Neuheit der modernen Verhältnisse und Lebensformen wird aber auch auf der Ebene der Kommunikationsmittel oder der Transportrevolution reflektiert. Sie wird gesehen unter der Hülle der Schrankenlosigkeit kapitalistischer Expansion, die erstmals in der Geschichte alle menschlichen Verhältnisse auf der Erde zueinander in Beziehung gesetzt und damit nicht nur die Realität universellen Austausches und universeller Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen hervorgebracht hat, sondern auch die Chance universeller Beziehungen und universeller Solidarität. Die Marxsche Theorie überbietet daher alle ihr vorhergehenden und folgenden Thesen vom Ende der Geschichte, ob diese nun aus der Feder Hegels oder den weniger ehrwürdigen eines Francis Fukuyama oder postmoderner Theoretikerinnen und Theoretiker stammen. Marx überbietet insofern auch spätere Konzepte soziologischer Evolutionstheorien, etwa bei Talcott Parsons oder Niklas Luhmann, als sie alle im Unterschied zu ihm nicht in der Lage sind, den geschichtlichen Prozeß als nach vorne hin offen zu denken, sondern explizit oder implizit die Geschichte in ihrer jeweiligen Gegenwart schon an einem Endziel angekommen sehen. Indem Marx sich einem utopischen Entwurf versagt, unterstreicht er diese Offenheit, damit freilich auch die Unbestimmtheit des historischen Prozesses und endlich die ihm innewohnenden Chancen, aber auch Gefahren. Mit dem Konzept der Ökonomie der Zeit und der daran anschließenden Perspektive freier Zeit als der zentralen Voraussetzung eines historisch zu erringenden „Reiches der Freiheit" hat Marx endlich Kriterien für die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse formuliert, die über seine eigenen strategisch-politischen Überlegungen hinaus Beachtung verdienen und Gültigkeit beanspruchen können. Hiermit ist ein Maßstab, ein zentrales Kriterium der Rationalität gesellschaftlicher Verhältnisse gegeben, das gerade angesichts wiederholter Explosionen im gesellschaftlichen Produktivitätsniveau durch sukzessive Schübe kapitalistisch inszenierter Produktivkraftentwicklung eine humanistische Gegenposition gegenüber einer Freiheitsideologie formuliert, die Individualismus und individuelle Freiheit mit gesellschaftlicher Atomisierung in einer Wolfsgesellschaft verwechselt. Zugleich haben wir freilich gesehen, daß die Rückbindung dieser Freiheitsperspektive an die Produktivkraftentwicklung und damit die Zunahme 262
der Produktivität menschlicher Arbeit bei Marx selbst die Perspektive einer Kritik der Produktivkräfte und auch der gesellschaftlichen Naturbeziehung verschüttet hat. Allerdings lassen sich klar erkennbare Ansätze zu einer solchen Kritik bei Marx erkennen, und es geht dann darum, diese aufzunehmen und fortzuentwickeln. Hier ist am ehesten eine historische Kritik an seinen Überlegungen zu formulieren, die allzu einsinnig von der relativ kurz bevorstehenden Sprengung der kapitalistischen Verhältnisse durch die Produktivkraftentwicklung ausgingen und kaum die Möglichkeit der beständigen Expansion dieser Verhältnisse, der Entwicklung von Massenbedürfnissen und Massenkonsum unter ihrer Ägide in Rechnung stellten. Dennoch können die Marxschen Überlegungen zu einem „Reich der Freiheit", verstanden nicht als Wolkenkuckucksheim einer vulgären Utopie, sondern als durchaus nüchterne Konfrontation des Bestehenden mit dem Möglichen, kritisches Potential entfalten, selbst gegen Marxens eigene Positionen, wo diese offenkundig zu kurz greifen. Dieses kritische Potential bezieht sich nicht allein auf den Stachel der Unzufriedenheit und Veränderung durch die zwischen Bestehendem und objektiver Möglichkeit erkennbare Kluft. Denn auf begrifflicher Ebene ist auch die nicht eingelöste - positiv wie negativ bewertete Möglichkeit integrierender Aspekt der wissenschaftlich zu bearbeitenden Problemstellung. Das schließt - daran sei noch einmal ausdrücklich erinnert - die von Marx als „vulgär" scharf abgelehnte Haltung ausdrücklich aus: Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung sind ernst zu nehmen, unabhängig davon, ob sie etwa ins politische Konzept passen oder nicht. Die Kritik richtet sich nicht gegen die wissenschaftlichen Aussagen, sondern gegebenenfalls gegen die Verhältnisse, auf die sie bezogen ist. Bei alledem entzieht sich Marx der Festlegung auf eine der uns vertrauten wissenschaftlichen Disziplinen. Er ist weder Philosoph noch Ökonom, weder Soziologe noch Historiker oder gar Politologe, obwohl er zweifellos allen diesen Disziplinen etwas zu sagen hat. Auf diese Weise kann er als Vorläufer und Vorbild für eine integrierende, kleindisziplinäre Grenzen überwindende „historische Sozialwissenschaft;" (Wallerstein 2000) gelten. Die Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk kann uns so wesentliche Hinweise auf Probleme unseres eigenen wissenschaftlichen Tuns geben. Sie kann vor allem zeigen, daß die Grenzen der akademischen sozialwissenschaftlichen Disziplinen einen hohen Grad von Willkür aufweisen, und daß die möglichst häufige Überschreitung dieser zuweilen eifersüchtig gehüteten Grenzen in aller Regel durch Erkenntnisgewinn belohnt wird. Marx schrieb in einer Epoche, als die uns heute vertraute Versäulung der akademischen Landschaft noch kaum bekannt war, und er arbeitete den längsten und entscheidenden Teil seines Lebens außerhalb wissenschaftlicher Institutionen. Sein Werk kann aber sehr plastisch zeigen, wie beispielsweise Be263
griffe, die auf den ersten Blick rein ökonomische sind wie Wert oder Ware, bei genauerer Betrachtung ihren gesellschaftlichen Kern preisgeben, den freilich wiederum die Fachökonomie allermeist geflissentlich ignoriert, ebenso wie große Teile der Fach-Soziologie glauben, es sich leisten zu können, beispielsweise ökonomische Kategorien unbeachtet zu lassen. Marx zeigt also Wege zu kreativer sozialwissenschaftlicher Interdisziplinarität, die freilich - konsequent zu Ende gedacht - die Einteilung in Disziplinen selbst als recht fragwürdig erscheinen läßt. Wichtiger aber noch scheint uns der doppelte historische Bezug der Marxschen Theorie. Sie ist gesättigt mit historischen Bezügen, sowohl in dem Bemühen um Konkretion oder auch Illustration ihrer Kategorien als auch vor allem in deren Kontrastierung mit den Verhältnissen anderer, zumal vormoderner Epochen. Ihre Analyse steht aber zugleich beständig in einer historischen Perspektive in dem Sinne, daß sie die Gewordenheit und Vergänglichkeit, den transitorischen Charakter ihrer Kategorien nie aus dem Auge verliert. Dies mehr als formale logische Verfahren ist auch der Sinn Marxscher Dialektik, die nach wie vor zu den Ansätzen gehören dürfte, die mit am besten geeignet sind, den soziologischen Blick zu schärfen, solange er denn als kritischer Blick seine Berechtigung bewahren will.
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Anmerkungen 1 Das Marxsche Werk ... 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
vgl. etwa Esser 1993, 4ff. Weber 1985, 1 Schimank 1999, 9 und 21 Hitzler 1997, 12 Spencer 1880, 4 Hitzler 1997, 9 Hitzler 1997, 9 s. Marx, Das Kapital, MEW 23, 73f. vgl. hierzu Hauck 1992 Benjamin 1993, 59 vgl. z. B. Hodgskin 1969 vgl. Giddens 1981, 91-136 Hauck 1984, 26 s. beispielhaft Luhmann 1995; Willke 2001, 73f; Brunkhorst 2000, 1103 Zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen werden repräsentiert durch Görg 1999 und Foster 2000; auf sie ist verschiedentlich zurückzukommen. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, MEW 1, 385 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, MEW 1, 386 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, MEW 1, 390 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, MEW 1, 385 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, MEW 1, 390 Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, 7 (These 10) Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 20 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, MEW 1, 381 Marx, Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie", MEW 19, 357 Engels, Rezension des Ersten Bandes „Das Kapital" für die „Düsseldorfer Zeitung", MEW 16, 216 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsband 1, 465-588 neben der gleichfalls damals nicht veröffentlichten „Die Deutschen Ideologie" (MEW 3) s. bes. Engels/Marx, Die heilige Familie. MEW 2, 3-223 Marx an Engels, Briefe, MEW 27, 228 Marx an Engels, Briefe, MEW 29, 232; Marx an Engels, Briefe, MEW 31, 134 vor allem Althusser/Balibar 1968 265
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vgl. im einzelnen Schrader 1980 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 3-133 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953 Marx, Das Kapital I, MEW 23; diese Standardversion folgt im wesentlichen der zweiten Auflage von 1873 mit den in zwei späteren Auflagen vorgenommenen zusätzlichen Korrekturen von Engels. Die davon deutlich abweichende „Urausgabe" ist zugänglich in: Marx, Das Kapital, Urausgabe, 1980
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Genaueres hierzu s. unten, Abschn. 1.4.1 Das Manuskript von 1863-65 liegt heute vor in MEGA II/3.5 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 1-3. Eine erste Fassung wurde von Kautsky 1905-10 veröffentlicht. Der zitierten Fassung liegt eine grundlegende Revision dieses Textes zugrunde.
38 Hecker 1999, 221-226, 235-238 39 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. MEW 13, 7 (Vorwort) 40 vgl. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. MEW 13, 7 (Vorwort) sowie Marx an Engels, Briefe, MEW 29, 312; Marx an Weydemeyer, Briefe, MEW 29, 572f. 41 Dies gilt vor allem für die in Abschnitt 3.4 behandelten Frankreich-Schriften. 42 s. unten, Abschnitt 3.6 43 Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW 2, 225-506 44 Engels, Der Deutsche Bauernkrieg, MEW 7, 327-413 45 vgl. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 5-303 46 Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, 25-173 47 Engels, Dialektik der Natur, MEW 20, 305-579; eine neue Kontextualisierung auch dieses Werkes bietet Foster 2000, 21 Off; eine bemerkenswerte, positive Bewertung aus naturwissenschaftlicher Sicht vertreten Prigogine/Stengers 1984. 48 49 50 51 52 53 54 55 56
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vgl. Lucas 1964a, 153-176; Lucas 1964b, 327-343; Lucas 1975, 386-402; vor allem als Edition hierzu Krader 1973 Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 8 s. Abschnitt 2.3 Einige Beispiele sind unten den Abschnitten 2.7 und 3.2 zu entnehmen; vgl. außerdem Kößler 1982, 150-166 Marx an Lassalle, Briefe, MEW 29, 550 Marx an Engels, Briefe, MEW 29, 275 vgl. auch Marx, Das Kapital I, MEW 23, 12 (Vorwort zur 1. Aufl.) Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 3, 234 David Ricardo (1772-1823), Autor des geschlossensten Systems der klassischen politischen Ökonomie (Werttheorie, Arbeitswertlehre, Theorie der Bodenrente, Entwicklungsgesetz der Einkommensverteilung, Theorem der komparativen Kosten Außenwirtschaftstheorie - Preis- und Geldtheorie)
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Engels, „Karl Marx, 'Zur Kritik der Politischen Ökonomie'", MEW 13, 472 vgl. auch die detaillierte Darstellung bei Rosdolsky 1968, Kap. 1 vgl. Berger/Luckmann 1967 vgl. aus der Luhmannschen „Serienproduktion" (Willke) stellvertretend: Luhmann 1997, Kap. 1
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Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 22 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 27 (Nachwort zur zweiten Auflage 1873) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 22 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 425 Dies tat er durchaus, vor allem in zahlreichen, 1851-1864 in der New York Daily Tribüne erschienenen Zeitungsartikeln. vgl. Kößler 1990, 264ff. vgl. hierzu Marx, Das Kapital I; MEW 23, 237-244 Engels, Rezension des Ersten Bandes „Das Kapital" für die „Zukunft", MEW 16, 209 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 2, 112; vgl. auch Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie 1953, 388; dazu unten der Schluß von Abschnitt 3.3
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70 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 2, 112f. 71 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 2, 110 72 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 324 73 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 3, 420f. 74 vgl. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 464-468; s. ausführlicher unten, Teil III, besonders Abschnitt 3.5 75 Dies darf selbstverständlich nicht als individuelle Entscheidungssituation, sondern muß als Wegscheide in der Geschichte dieser Wissenschaft gesehen werden, wie sie von Marx konstruiert wurde. 76 77 78 79 80 81
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Marx, Das Kapital I, MEW 23, 19f. (Nachwort zur zweiten Aufl. 1873) so Schiel 1983, 26; dem naheliegenden Verweis auf Kant, aber auch auf Plato (vgl. ebd.) können wir hier nicht nachgehen. s. Marx, Das Kapital II, MEW 24, III. Abschnitt und vgl. die eingehendere Erörterung unten, Abschnitt 2.2 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 353 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 20 (Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie) Zur Frage der gesellschaftlichen, institutionellen Instanz, in der eine solche Totalität Ausdruck finden kann, s. einige Hinweise unten, Abschnitt 3.5 zum bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalist". Rosdolsky 1968, 581 vgl. auch zum folgenden: Rosdolsky 1968, 556-596 267
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s. hierzu und zu einer daran anschließenden Analyse des Sowjetsystems di Leo 1973 Marx, „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation", MEW 16, 11 s. unten, Abschnitt 2.7 als exemplarischen und grundlegenden Beitrag: von Werlhof 1978, 18-22 s. unten, Abschnitt 2.4 Um Mißverständnissen vorzubeugen: Damit ist gerade bei Marx auch hier alles andere als ein „Wert-Urteil" impliziert; s. bes. Marx, Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der Ökonomie", MEW 19, 363-371 sowie ausführlicher unten, Abschnitt 2.5
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s. unten, Abschnitt 2.7 s. bes. Foster 2000 unter Berufung auf die grundlegende, an der epikureischen Philosophie orientierten Ausrichtung des Marxschen Denkens (vgl. Marx, Doktordissertation). Über die folgenden, allgemein einführenden Bemerkungen hinaus s. unten, Abschnitt 2.5.3 zum zentralen Problem der Wertform. Aristoteles, Politik, 1254 b s. dazu ausführlich den Abschnitt 2.6 über das Fabrikregime Die umfassende Kontrolle und Reglementierung des Alltagslebens in frühen Industriesiedlungen wie etwa Saltaire (Yorkshire), religiösen Projekten wie Bethlehem in den USA oder auch dem owenistisch-kommunistischen New Lanark wird hier vernachlässigt. Marx präzisiert dies als Verkauf der „Arbeitskraft", d.h. weder der „Arbeit" noch erst recht des „Arbeiters"; s. Abschnitt 2.4 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 10 (Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie) Marx, Das Kapital II, MEW 24, 42. Zu den Konzepten der Trennung und der Gesellschaftsformationen s. Abschnitte 3.2 und 3.3 Dt. Was ist das Eigentum? (1840). Karl Marx, „Über P.-J. Proudhon", MEW 16, 26f. Genaueres s. Abschnitte 3.1 und 3.2 im einzelnen s. u. Abschnitt 2.5 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 50 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 50 (Hervorhebung des Autors) zu den Konsequenzen für die Begriffe der produktiven und unproduktiven Arbeit s. u., Abschnitt 2.7 vgl. Hegel 1970b, bes. 94f (1. Teil, 2. Buch, 1. Abschnitt, 3 Kapitel, Ac) Marx, Das Kapital I, MEW 23, 609 zur Kategorie des Wertes bei Marx s. Abschnitt 2.4 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 94f. Marx, Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie", MEW 19, 359
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Marx, Das Kapital I, MEW 23, 95f. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 1, 133 Marx, Das Kapital II, MEW 24, 228; vgl. Ricardo 1983, 30 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 12 (Vorwort zur ersten Aufl.) Marx, Das Kapital I, MEW 23, 12 (Vorwort zur ersten Aufl.) Inzwischen sind bekanntlich gerade die avanciertesten naturwissenschaftlichen Positionen sehr weit entfernt von dem vergleichsweise naiven Empirismus und Positivismus des 19. Jahrhunderts. Marx, Das Kapital I, MEW 23, bes. 645-649 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 675 Ausweislich des Sachregisters auch von den sowjetmarxistischen Herausgebern der MEW bzw. der ihr zugrundeliegenden russischen Ausgabe; s. Marx, Das Kapital, MEW 23, 945 vgl. hierzu Hofmann 1967 vgl. Marx, Das Kapital III, MEW 25, Kap. 13 vgl. Gillman 1969, bes. Kap. 3 vgl. bes. Mattik 1970 (1959), 13ff. Marx, Das Kapital III, MEW 25, Kap. 14, 15 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 242 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 249 Gillman 1969 (1957), 67f. vgl. auch die Rede vom gesellschaftlichen Naturgesetz, hierzu unten, Abschnitt 2.5.4 s. den Schluß von Abschnitt 1.4.1 Als untereinander klar unterschiedene Beispiele solcher Arbeiten können gelten Altvater u.a. 1974; Schoeller u.a. 1974; Altvater u.a. 1975 für die ersten zwei Jahrzehnte der Bundesrepublik Deutschland; ähnlich Brenner 1999 für die OECD-Länder sowie zur Innovation durch Mikroelektronik und Informationstechnologie Castells 2000, Kap. 2. Marx, Die Industrie- und Handelskrise, MEW 10, 603 Marx, „Britischer Handel und Finanzen", MEW 12, 571 s.u., Abschnitt 3.8 s.o., Abschnitt 1.3 Auf dieser Ebene muß sie sich auch bewähren. Deshalb verdient eine kategoriale Kritik, die freilich unter Verweis auf die mangelnde Reife des Kapitalismus zur Zeit von Marx vorgetragen wird (vgl. Dämpfling 2000), grundsätzlich Beachtung, auch wenn wir uns mit den Grundthesen nicht notwendig identifizieren. s. ausführlicher unten, Abschnitt 3.7 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 26 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 31 269
139 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 46; vgl. auch Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 480 140 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 36 141 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 48 142 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 70 143 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 36 144 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, MEW 1, 385; zum radikalen Humanismus s. auch den an gleicher Stelle formulierten, oben zitierten „kategorischen Imperativ". 145 Dies kann hier nicht weiter verfolgt werden; vgl. Lenin 1973 (1909) 146 vgl. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 193 und s. ausführlicher unten, Abschnitt 2.2.1
2 Vergesellschaftung durch Arbeit 1
Die Klasse der „freien" Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen entsteht z.T. als Zersetzungsprodukt der feudalen Gesellschaftordnung, aus Menschen, die aus den zünftischen Ordnungen herausfallen oder der Knechtschaft der ländlichen Verhältnisse entflohen sind. Aus ihnen bilden sich u.a. die Scharen von „Vagabunden", die der Zwangsarbeit in Armenhäusern zu geführt oder auch schlicht erschlagen und gehängt werden. Mit der Vertreibung der bäuerlich-ländlichen Bevölkerung im Zuge der beginnenden Kapitalisierung der Landwirtschaft werden diese entwurzelten Scharen der ,,Axmen" und Tagelöhner, die die Städte zu bevölkern beginnen, aufgefüllt und bilden bis weit ins 19. Jahrhundert die „gefährlichen Klassen". (Für einen guten Überblick Castel 2000). Marx hat in Teilen diesen gewaltsamen Prozess der Bildung des ländlichen und städtischen Proletariats unter der ironischen Überschrift „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation" im ersten Band des Kapital eindringlich dargestellt, (vgl auch unten Abschnitt 3.3.1)
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Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 24 Zur Marxschen Kritik am Empirismus vgl. Heinrich 2001; zur Entwicklung der Sozialwissenschaften zu Tatsachenwissenschaften auch Bonß 1982 Vgl. dagegen Stehr 1994. Stehr trennt diesen Zusammenhang auf und verwandelt Arbeit, Eigentum und Wissen je für sich in konstitutive Momente von Vergesellschaftung. Vgl. u.a. Blauner 1964; Popitz 1967; Torrance 1977 Vgl. ausfuhrlicher Abschnitt 2.5.3 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 674 Die grundlegende Bestimmung des Verhältnisses von Struktur und Handlung, nach der die Strukturen als Resultate der Handlungen der Individuen aufeinander diese Handlungen selbst strukturieren, ist heute, etwa bei Pierre Bourdieu oder Anthony Giddens, fast zum Allgemeingut der Gesellschaftstheorie geworden. So etwa die Interpretation von Althusser/Balibar 1968; zum „Bruch" in der Marxschen Wissenschaftskonzeption auch Heinrich 2001
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Die vorausgesetzten Klassenverhältnisse von Arbeiter und Kapitalist werden durch die Arbeit selbst beständig reproduziert, d.h. erneuert und befestigt. „Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eigenen Vergegenständlichungsund Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter. Diese beständige Reproduktion oder Verewigung des Arbeiters ist das sine qua non der kapitalistischen Produktion." (Marx, Das Kapital I, MEW 23, 596)
11 So schreibt Marx im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital I: „Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band auszuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun." Vgl. Marx, Das Kapital I , MEW 23, 27 12 Sraffa 1976 13 Dies ist auch die Sichtweise der klassischen Ökonomie, die neuerdings gesteigert wird zum Bild der Einzelnen als Vermarkter ihres „Humankapitals". 14 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 176 15 Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 8 16 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 28 17 Wie wir noch sehen werden, verlangt die Grenzenlosigkeit der Kapitalverwertung auch eine Entgrenzung der individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse, die jeweils eine Schranke der weiteren Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums bilden. 18 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 192 19 Marx sieht jedoch auch die zerstörerischen Aspekte der Aneignung und Transformation von Natur. Vgl. hierzu genauer Abschnitt 2.8 20 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 29f. 21 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 30 22 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 193. Das formuliert ein viel beachteter neuer Beitrag zur Evolutionsbiologie fast wörtlich identisch; vgl. Maynard Smith/Szathmäry 1995, 275, 273. 23 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsband I, 516f. 24 Lange 1980 25 An die Stelle der „Entäußerung" eines inneren Selbst tritt in den Schriften zum Kapital der Begriff der „Verausgabung" von Arbeitskraft. In diesem Wechsel der Begriffe deutet sich an, daß in der kapitalistischen Produktionsweise die kreativen Potenzen der Arbeit als Potenzen des Kapitals erscheinen, die Arbeiter und Arbeiterinnen hingegen auf die Ausführung von Tätigkeiten reduziert werden. 271
Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsband I, 541 27 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsband I, 574 28 Das Individuum ist daher für Marx kein unteilbares Elementarteilchen - wobei die Gesellschaft aus der Summe dieser Elementarteilchen zusammengesetzt wäre -, sondern ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse". Methodologisch gewendet bedeutet dies, daß die soziologische Analyse bei den Verhältnissen und nicht im Sinne des methodologischen Individualismus bei den Individuen zu beginnen hat. Zur Position des methodologischen Individualismus ausfuhrlich Vanberg 1975 29 In der Tradition des symbolischen Interaktionismus stellt sich der Selbstwerdungsprozeß des Individuums der soziologischen Theorie als eine Spiegelung des Ichs durch den Anderen dar (looking-glass seif) (C.H.Cooley). Das Individuum erkennt sich durch das Auge des Anderen. Marx dagegen denkt das reflexive Verhältnis der Individuen aufeinander als durch Gegenstände vermittelt, die durch die Individuen bearbeitet werden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse bilden damit für Marx nicht zweistellige sondern allgemeiner als dreistellige Relationen. G.H. Mead ist einer der wenigen soziologischen Theoretiker, die die vermittelnde Rolle der Gegenstände in der Koordination von Handlungen zur Kenntnis nehmen (Mead 1969, 69ff) 30 s. hierzu ausführlich Foster 2000. 31 vgl. hierzu die Ausführungen zum „Reich der Notwendigkeit" und zum „Reich der Freiheit" in Abschnitt 3.8 32 Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, 5 33 Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 634ff. 34 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsband I, 579 35 Das Bild der Verstrickung übernehmen wir von Horkheimer und Adorno, die in der „Dialektik der Aufklärung" der Naturwüchsigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse im Verhätltnis von Naturbeherrschung und Herrschaft über die Menschen nachgehen. „Die Absurdität des Zustands, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet." (Horkheimer/ Adorno 1981, 56) 26
36 Ausführlicher zum Begriff der Geschichte bei Marx vgl. Abschnitt 3.1 37 Die moderne Kategorie der „Privatheit" oder „Privatsphäre" ist kein Gegenbegriff zur „Gesellschaftlichkeit" der Individuen, sondern eine ihrer Formen. 38 vgl. näher auch Abschnitte 3.2 und 3.3 39 Vgl. Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 33 40 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsband I, 51 lf. 41 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 20 42 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 33f. 43 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 32f. 44 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 61f. 45 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 63
46 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 32 47 s. weiter Abschnitt 2.7 48 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 31 49 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 46f. 50 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 50 51 vgl. etwa Knox/Taylor (Hg.) 1995; Sassen 1992 52 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 50 53 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 52 54 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 53f. 55 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 466f. 56 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 472 57 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 892 58 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 893 59 Eine „Ableitung" des politischen Klassenbewußtseins aus den ökonomischen Stellungen ist von marxistischen Klassentheoretikern oft versucht worden. Sofern das Bewußtsein der Akteure offenkundig ihrer objektiven Lage nicht gerecht wird, muß dabei regelmäßig die Ausflucht zur Manipulation des Bewußtseins genommen werden. Diese Art von Klassenanalyse, die das politische Element in der Bildung von Klassen unterschlägt, ist zu Recht als Ökonomismus bezeichnet worden. 60 61
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Ein Rückblick auf Marx und ein Überblick über die neuere Diskussion findet sich etwa bei Koch 1994 Castoriadis führt gegen die von Marx unterstellte Gleichheit die Analyse des Austausches etwa zwischen Arzt und Bauer bei Aristoteles an. Nach Aristoteles kann zwischen sozial unterschiedlichen Personen nur dann ein gerechter Tausch zustande kommen, wenn die soziale Ungleichheit oder Wertigkeit der Personen in der Tauschrelation reflektiert wird. Für die kapitalistische Gesellschaft trennt sich bei Marx die Frage nach der Gleichheit von der Frage nach der Gerechtigkeit, die erst in einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft wieder vereint werden. (Castoriadis 1981, 221-276) Marx, Das Kapital I, Hamburg 1867, 34 Marx, Das Kapital I, Hamburg 1867, S.6 Zu einem allgemeinen sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbegriff, der diese Fixierung vermeidet, vgl. Wienold 2000 Mit den Schwierigkeiten des Denkens „unbestimmter Größen" hat sich Castoriadis intensiv auseinandergesetzt (Castoriadis 1990. 372f). Eine Diskussion des „gesellschaftlichen Imaginären" bei Castoriadis im Zusammenhang des Wertbegriffs übersteigt jedoch das hier Mögliche. Zur Kritik der Beschränkung der Analyse auf stoffliche Resultate, vgl. Dämpfling 2000 Sog. Dienstleistungen, soweit sie unmittelbar konsumiert werden, z.B. eine Massage in einem Massage-Salon, bleiben also außer Betracht. Die Menschen, die durch solche Dienste „fit" gehalten werden, bilden einen gesellschaftlichen Reichtum „an273
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derer Art", der analytisch nicht auf der gleichen Ebene mit den gegenständlichen Resultaten von Arbeit behandelt werden kann. Dies gilt nicht nur für die materielle, sondern auch allgemein für die sozialen Voraussetzungen. In der Marxschen Terminologie im zweiten Band von „Das Kapital" bilden die Herstellung von Eisen und Holz die Abteilung I (Produktionsmittel), die Herstellung von Weizen die Abteilung II (Konsumtionsmittel). Die Abteilungsgliederung von Marx ist ein analytischer Kunstgriff, mit dem er die notwendigen Proportionierungen im gesellschaftlichen Gesamtprodukt auf einfache und grundlegende Weise zum Ausdruck bringen kann. Wenn wir hier von drei Abteilungen ausgehen, dann dient dies zur Verdeutlichung der Verflechtungen der Produktionsprozesse. Im Prinzip könnten so viele „Abteilungen" gebildet werden, wie es Produktarten gibt, wobei wir von „Koppelprodukten" absehen. Das Roherz, soweit noch keine Arbeit auf es verwendet worden ist, zählt nicht zu den (produzierten) Produktionsvoraussetzungen. Dabei ist unterstellt, daß alle vorausgesetzten Produktionsmittel und Arbeitsgegenstände in der Periode verbraucht werden. Sie sind keine „Kosten" des Produktionsprozesses, sondern die sachliche Form der Verteilung eines Teils der Produktionsergebnisse an die Produzenten. Anders ist es in der Rechnung eines kapitalistischen Unternehmens, in der die Löhne zu den Produktionskosten gezählt werden. Zur folgenden Darstellungsweise ausführlicher Wienold 1982 Schema II unterscheidet sich in diesem Punkt wesentlich von den linearen Produktionsgleichungen der sog. Neo-Ricardianer, insb. Sraffa (vgl. Cogoy 1977), in denen auch die Konsumtionsmittel als Produktionsvoraussetzungen betrachtet werden. Gründe und Folgen dieser Vorgehensweise (z.B. für die Bestimmung der Größe des Mehrprodukts und der Profitrate) können hier nicht untersucht werden. Die Gleichheit von insgesamt verausgabter lebendiger Arbeit und in den Konsumtionsmitteln enthaltender Arbeit beinhaltet nicht eine vorausgesetzte Identität dieser Größen, sondern ergibt sich erst als Resultat des gesellschaftlichen Zusammenhanges des Reproduktionsprozesses im unterstellten Gleichgewicht. vgl. dazu näher den folgenden Abschnitt 2.5 In der Zusammenfassung der gesellschaftlichen Arbeit in der „Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" wird etwa durch Abzug der sog. Abschreibung und den sog. Vorleistungen (als Ersatz/Entgelt) für die im Produktionsprozeß verbrauchten oder abgenutzten materiellen Produktionsvoraussetzungen (Rohstoffe, Zwischenprodukte, Maschinen, Gebäude etc.) die sog. „Wertschöpfung" ermittelt, die nach den Verteilungsarten in Löhnen und Unternehmergewinnen (Profite, Zinsen, Renten) besteht. In dieser Sicht ist auch das Kapital „produktiv" oder „schöpferisch". In der Marxschen Sicht ist der Profit Teil der neuzugesetzten Arbeit, der vom Kapitalisten unentgeltlich angeeignet werden kann.
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Zum Verhältnis von Wertform, Wertsubstanz und Wertgröße bei Marx vgl. auch Rubin 1973 (1928) Die Versuche sozialistischer Ökonomien, die Gleichsetzung verschiedener Arbeiten, z.B. des Landarbeiters und Industriearbeiters, durch Verordnung und Zwang herzustellen, sind aus unterschiedlichen Gründen gescheitert. Sraffa 1976 Diese Analyse wird dadurch kompliziert, daß unter der Voraussetzung einer für alle Produktionsabteilungen geltenden Durchschnittsprofitrate die Produktionspreise systematisch von den Arbeitswerten abweichen. Wir verweisen zur Gesamtproblematik auf Heinrich 2001. In der Ökonomie der Sklavenhaltung ist der „Wirkungsgrad" des Sklaven, der einen Energie-Input in einen Arbeits-Output (Schleppen von Steinen) verwandelt, tatsächlich eine interessierende Größe. vgl. ausführlich Heinrich 2001, 327 sowie oben, Abschnitt 1.4.3 In diesem Zusammenhang verweisen wir ausdrücklich auf die großartige Analyse des deutschen Faschismus bei Neumann 1977. vgl. etwa Altvater 1992 so etwa Marx, Das Kapital I, MEW 23, 552 Zu den Kohärenzbedingungen zwischen ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Funktonsräumen vgl. allgemein Altvater/Mahnkopf 1999 vgl. etwa Schiel 1982, 2943; sowie Kößler/Schiel 1996, Kap. 6 s. dazu kritisch Rosdolsky 1968, bes. 508f Conert 1990; Ticktin u.a. 1981 Zaslavsky 1982 Umfassend auch Heller/Feher/György 1983 vgl. auch Kößler/Schiel 1966, Kap. 3 vgl. etwa Alexander/Giesen/Münch/Smelser 1987 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 49 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 184 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 765 Auf die Entwicklung von Arbeits- und Selbstdisziplin in der moralischen Verpflichtung, pfleglich mit der eigenen Arbeitsfähigkeit umzugehen, kann hier nicht näher eingegangen werden (vgl. weiter unten auch Abschnitt 2.6). Formal könnten auch Lohnarbeiter aus ihrem Lohn Produktionsmittel kaufen. In der Regel reicht ihre Sparfähigkeit dazu nicht aus. Die Akkumulation von Produktionsmitteln in der Hand ihrer Eigentümer muß daher systematisch und historisch andere Quellen und Ursprünge haben. Das hindert allerdings nicht daran, daß etwa streikende Arbeiter ins Gefängnis gesperrt werden oder daß im Ausnahmezustand durch das Militär auf sie geschossen wird. 275
102 Historisch gesehen bilden jedoch die absolutistischen Staaten und frühen Nationalstaaten den Raum für die sich konstituierende „bürgerliche Gesellschaft". Vgl. auch Abschnitt 3.5 103 Marx konzentriert sich im Kapital auf die Warenproduktion. Daneben lassen sich auch die sog. Dienstleistungen kapitalistisch organisieren, d.h. durch Beschäftigung von Lohnarbeitern und Lohnarbeiterinnen, durch Anlage von Kapital in sachliche Produktionsmittel und durch kapitalistische Betriebs- und Rechnungsführung. So lassen sich sowohl Schulen wie Freudenhäuser als Profit abwerfende Unternehmen führen. Eine Abgrenzung der Dienstleistungen von der Warenproduktion ist jedoch schwierig. Zunächst verrichtet auch der Arbeiter in der Warenproduktion Dienste für den Betrieb, den er angehört. Diese Dienste, etwa die Lagerhaltung, der Transport, Reparaturen, Reinigung, Buchhaltung oder Werbung können auch in eigenständige Unternehmen überfuhrt oder ausgelagert werden. Während diese Dienstleistungen im mittelbaren Zusammenhang der Warenproduktion stehen, produzieren andere Bereiche nichts als die Dienstleistung, die unmittelbar als solche konsumiert wird, z:B. ein Haarschnitt oder der Dienst einer Prostituierten. Bei der Zählung der in den Dienstleistungssektoren Beschäftigten, die heute die Zahl der als Industriearbeiter geführten Personen überflügelt hat, ist auch zu beachten, welche Sektoren dem Staat oder nicht kapitalistisch wirtschaftenden Organisationen zuzurechnen sind (zu den Abgrenzungsproblemen vgl. Graßl 2000). Daß Marx den Ausgangspunkt seiner Analyse der kapitalistischen Produktionsweise bei der Ware „als Elementarform des gesellschaftlichen Reichtums" nimmt, hat historische, aber auch systematische Gründe. Durch die Ausweitung der Dienstleistungssektoren in der Gegenwart ist der Anspruch seines Begriffs des Kapitals auf Allgemeingültigkeit nicht eingeschränkt. (Zur Kritik an der analytischen Behandlung der „Dienstleistungen" vgl. Dämpfling 2000) 104 Marx, Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie", MEW 19, 369 105 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 49 106 vgl. auch Abschnitt 1.4.2 107 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 86 108 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 86f. 109 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 88 110 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 89f. 111 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 94f. 112 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 95 (Fußn. 32) 113 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 90 114 Marxens Position gegenüber der Entwicklung der Bedürfnisse ist wie auch gegenüber der sie bestimmenden Entwicklung der Produktivkräfte insgesamt als ambivalent einzustufen, da durch sie die Menschen aus, wie er es sieht, engen und dumpfen Verhältnissen, etwa des Landlebens, befreit werden. „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende 276
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verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu sehen." (Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 465) Haug 1971 „Wert" besitzen die Waren nur in der Tauschsphäre. Der Begriff des „Werts" bei Marx ist daher streng vom Begriff des Nutzens zu unterscheiden. So können auch Abfälle, in die sich die Konsumwaren außerhalb des Tausches nach und nach verwandeln, für bestimmten Menschen noch nützlich sein, ohne Wert zu besitzen. Auch Naturressourcen, wie etwa der Regenwald Amazoniens, besitzen so an sich keinen „Wert", sofern sie nicht durch kapitalistische Interessen „in Wert gesetzt" werden. (Vgl. Altvater 1987) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 16f. Marx, Ergänzungen und Veränderungen zum ersten Band des Kapital, Marx-EngelsGesamtausgabe (MEGA), II.6/31 f. Rein formal ist es natürlich möglich, auch für andere Produktionsweisen Rechnungen in Arbeitseinheiten durchzuführen. Es fehlt in diesen Formen die gesellschaftliche verselbständigte Form des Werts, die die Rechenhaftigkeit geradezu erzwingt, der gesellschaftlichen Arbeit die Form des Werts durch die gesellschaftlichen Verhältnisse real auferlegt. Die methodische Figur von Marx, in der Analyse der „einfachen" Form die entwickelte komplexe Form bereits vorauszusetzen, um sie später einzuholen, der „Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten", macht einige der Schwierigkeiten der Lektüre insbesondere der ersten Kapitel des ersten Bandes des „Kapitals" aus. Diese Form der Darstellung der Formbestimmtheit der bürgerlichen Gesellschaft darf nicht als „Beweisführung" verstanden werden, sondern als eine Dechifffierung, die den gesellschaftlichen Charakter der Dinge, der an ihrer konkreten Gestalt nicht sichtbar ist, entschlüsselt, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse durchschaubar macht. Dies ist nach Marx nicht empirisch, sondern nur durch begriffliche Analyse möglich.
121 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 87f. 122 s. oben, Abschnitt 2.4 123 Physikalisch betrachtet ist der Arbeitsprozeß eine Transformation von in der Natur vorgefundenen Stoffen und Energien. Daran ändert sich auch nichts, wenn heute viele Stoffe synthetisch erzeugt werden. 124 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 51 125 Zur Kritik vgl. auch Castoriadis 1981 126 Taylor 1913; neu herausgegeben und eingeleitet von Volpert und Vahrenkamp 1977 127 vgl. zu neueren Entwicklung Kern/Schumann 1984 128 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 18 129 Von der „einfachen" Arbeit unterschied Marx Arbeit, „die als höhere, kompliziertere Arbeit gegenüber der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit gilt (...) als Äußerung einer Arbeitskraft, worin höhere Bildungskosten eingehn (...) und die daher einen 277
höheren Wert hat als die einfache Arbeitskraft. Ist der Wert dieser Kraft höher, so äußert sie sich daher auch in höherer Arbeit und vergegenständlicht sich daher, in denselben Zeiträumen, in verhältnismäßig höheren Werten. (...) Andererseits muß in jedem Wertbildungsprozeß die höhere Arbeit stets auf gesellschaftliche Durchschnittsarbeit reduziert werden, z.B. ein Tag höherer Arbeit auf x Tage einfacher Arbeit." (Marx, Das Kapital I, MEW 23, 211ff.) Der Zusammenhang, den Marx hier zwischen der wertbildenden Potenz der Arbeit und dem Wert der Arbeitskraft herstellt, gehört zu den eher dunklen Ausführungen im Kapital. 130 Marx zeigt etwa in seiner Kritik an Proudhon, daß der unmittelbare Tausch zwischen den Produzenten nach den von ihnen geleisteten Arbeitsstunden mit einer (kapitalistischen) Tauschwirtschaft nicht vereinbar ist. Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 8, 104 131 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 89 132 vgl. umfassend Macpherson 1967. Die Rechtfertigung des Eigentums durch John Locke (1991) wirkt bis heute nach und findet sich in der Eigentumsgarantie der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland wieder (vgl. Brocker 1994). 133 Mit dieser Auffassung stehen wir allerdings in Widerspruch zu (orthodoxen) Marxinterpretationen, die das Kapital als marxistische Wirtschaftstheorie auffassen; so etwa Mandel 1968. Im übrigen ist auch der Ansatz der herrschenden ökonomischen Theorie, die im Modell die Werte (Preise) aus den Nutzschätzungen der Akteure ableitet, nicht empirisch. Vgl. hierzu Albert 1966, 406-434 134 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 52 135 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 80f. 136 Marx zeigt die Notwendigkeit einer Verselbständigung des Werts im Geld. Das ist der entscheidende Gehalt seiner Geldtheorie. Er war dabei der Überzeugung, daß Geld in seinen verschiedenen Formen immer an die Existenz einer allgemein akzeptierten Geldware, z.B. Gold, zurückgebunden sein muß. Damit wäre etwa eine Banknote nur Repräsentant oder Zeichen des Goldes als Geldware. Es ist jedoch heute weitgehend unbestritten, daß die verschiedenen Geldformen, z.B. Banknoten an sich, „selbständig", gesellschaftlich gültige Repräsentanten des Werts sein können, ohne daß ein Goldstandard existieren muß (vgl. zur Diskussion Heinrich 2001, 233ff; auch Dämpfling 2000, 40ff). 137 138 139 140 141 142 143 144 278
Marx, Das Kapital I, MEW 23, 113 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 120 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 127 Bei einer Edelmetallwährung kann sich allerdings der tatsächliche Metallgehalt einer Münze, z.B. Gold, von ihrem ideellen Goldgewicht trennen. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 102 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 76 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 150 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 152
145 Marx war der Ansicht, daß das Gold insbesondere zur Begleichung internationaler Zahlungsverpflichtungen unersetzlich ist. Das System der Bindung des Geldes (Dollar) an einen Goldstandard hatte auch bis zu Beginn der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts Bestand. Die Geldtheorie von Marx ist damit an eine bestimmte Epoche der kapitalistischen Produktionsweise gebunden, ohne ihre analytische Kraft zur Dechiffrierung des gesellschaftlichen Reichtums in Form von Ware und Geld dadurch einzubüßen. 146 Vgl. zur Weltwirtschaft Abschnitt 3.7 147 zur Geschichte von Gold und Geld vgl. Vilar 1976 (1960); Braudel 1986 148 Er knüpft damit auch an den Gründungsmythos der bürgerlichen Gesellschaft an, in der das Eigentum, das den Einzelnen zum gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft erhebt, Resultat von Arbeitsamkeit und Sparsamkeit ist. Die Theorien des Gesellschaftsvertrages des 17. und 18. Jahrhunderts sahen als politisch gleichberechtigte Vollmitglieder nur die Besitzenden an, während Besitzlosen, Frauen und Kindern keine Stimme zukam. Erst spät konnten sich die eigentumslosen Lohnarbeiter und noch später die Frauen das politische Wahlrecht erkämpfen. 149 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 127 150 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 90 151 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 189f; Jeremy Bentham (1748-1832) war Hauptvertreter des Utilitarismus. 152 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 162 153 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 167 154 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 168 155 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 169 156 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 167f 157 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 180 158 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 181 159 Marx, Theorien über den Mehrwert, 3 Bde, MEW 26 160 Marx zeigt im dritten Band vom Kapital, daß diese Größe nur einen Teil des gesellschaftlichen Mehrwerts nach Abzug der Kapitalzinsen, der Handelsspanne und der Bodenrenten ausmacht, die alle aus dem in der Warenproduktion geschöpften Mehrwert entstammen. Zur Analyse und Kritik der ökonomischen Theoriebildung heute und der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vor dem Hintergrund der Marxschen Kapitaltheorie vgl. Wasmus 1987; auch Wienold 1982 161 Betrachten wir die Erde als ein System, dann besteht die einzige Energiezufuhr von außen in der Sonnenenergie; vgl. Altvater 1992 162 Die physiokratischen Theoretiker wie Quesnay im 18. Jahrhundert, mit denen Marx sich intensiv auseinandergesetzt hat, waren der Ansicht, daß nur die Arbeit in der Landwirtschaft produktiv sei, da sie allein in der Lage sei, Überschüsse zu produzieren. vgl. zu den Physikraten Pribram 1992, 194-225 163 vgl. oben Abschnitt 2.3 279
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Marx, Das Kapital I, MEW 23, 184f. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 592f. vgl. Ganßmann 2000 zur Frage der „unproduktiven" Arbeit vgl. weiter unten Abschnitt 2.7 zur Haushaltsökonomie der Lohnarbeiterfamilie vgl. Kößler 1990, 77-93 Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 513. Marx bezieht sich hier auf die Fabrikgesetzgebung in England um 1860. 170 Marx, Das Kapital I, MEW 23, S.514 171 Die Untersuchung der Verwandlung der Formen der Verteilung des gesellschaftlichen Produkts in seine Quellen im Bewußtsein der Akteure wie in der ökonomischen Theorie wird im dritten Band des Kapital ergänzt um die Analyse der Grundrente. Neben Arbeit und Kapital tritt der Boden als dritte Quelle. Die spezifisch bürgerliche Vorstellung von den drei Quellen des gesellschaftlichen Reichtums wird von Marx als „trinitarische Formel" ironisiert. „Kapital - Profit (Unternehmergewinn plus Zins), Boden - Grundrente, Arbeit - Arbeitslohn, dies ist die trinitarische Formel, die alle Geheimnisse des gesellschaftlichen Produktionsprozesses einbegreift." Marx, Das Kapital III, MEW 25, S. 822
172 vgl. zur Geschichte der Auseinandersetzungen um den „Normalarbeitstag" (Marx) die Darstellung bei Deutschmann 1982; Schudlich 1987; zur Übersicht auch Wienold 1989 173 Der empirische Aufweis dieser von Marx behaupteten Tendenz gestaltet sich schwierig, insbesondere dann, wenn nicht nur die relative Einkommensposition bestimmter Gruppen, sondern aller Lohnabhängigen, vom Hilfsarbeiter bis zum leitenden Angestellten betrachtet wird. So ist die Bruttolohnquote in der Bundesrepublik (alte Länder) in den letzten vierzig Jahren kontnuierlich angestiegen, während die strukturbereinigte Bruttolohnquote mehr oder weniger konstant geblieben ist. Hingegen ist der Anteil der Lohn-und Gehaltssummen am privat verfügbaren Volkseinkommen im gleichen Zeitraum kontinuierlich gefallen (vgl. Schäfer 1999). 174 Sofern die Lohnarbeitenden erst am Ende der Arbeitsperiode bezahlt werden, schießen sie ihren Lohn dem Kapitalisten vor. 175 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 224 176 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 168 177 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 619 178 Altvater/Mahnkopf 1999, S.164 179 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 658 180 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 661 181 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 660f. 182 Für die Gegenwart vgl. Vobruba 2000 183 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 645 184 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 646 280
185 Die Industriesoziologie unterscheidet so zwischen den sog. Randbelegschaften mit unsicheren Arbeitsplätzen und den sog. Kernbelegschaften, die auf Grund von Qualifikationen und hohen Bindungen an „ihr" Unternehmen relativ geschützt sind. 186 In diesen Zusammenhang fällt auch die Zunahme der Beschäftigung von Frauen in der Industrie in Zeiten von Kriegen. 187 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 670 188 Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist heute die verbreitetste Angst in der deutschen Bevölkerung. 189 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 673ff. 190 Bourdieu u.a. 1997 191 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 701-740 192 Feder 1980 193 Für einen knappen Überblick vgl. Wienold 1984, 35-61 194 Dem widerspricht nicht, daß einzelne Unternehmer und Unternehmen das Verhältnis zu ihren Beschäftigten als persönliches Verhältnis auszugestalten oder diese durch betriebliche Sozialeinrichtungen an sich zu binden versuchen, eine Strategie die sich als „Patrimonialismus" einordnen lässt in eine historische Abfolge der Fabrikregimes (s. Burawoy 1985). 195 Historisch galt das Interesse etwa des preußischen Staates zunächst unmittelbar auch der Produktion von diensttauglichen Soldaten. 196 Zur Entwicklung des Schulwesens vgl. Thien 1984 197 Für Engels etwa fallen die Entstehung der patriarchalischen Familie und die Ursprünge des Privateigentums zusammen. Engels, Der Ursprung der Familie, MEW 21, 25-173 198 Zum Staat vgl. weiter unten Abschnitt 3.5. 199 Als charakteristischen, auch von Marx stark beachteten Beitrag vgl. Ure 1967 (zuerst 1835) 200 vgl. bes. Wallerstein 1980, 1-36; ders. 1983, 215-229; Frank 1978; ders. 1990, 155-248 201 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 607 202 vgl. Marx, Das Kapital III, MEW 25, Kap. 20, 36. Dies steht übrigens in exakter Übereinstimmung mit der Differenzierung zwischen rationalem betrieblichem Kapitalismus auf der einen und vielfältigen Formen des Kapitalismus auf der anderen Seite bei Weber 1981 (1920), 17-21 203 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 354 204 s. Marx, Das Kapital I, MEW 23, Kap. 11, 12, 13 205 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 356 206 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 331 207 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 333 208 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 333 209 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 338 210 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 340 281
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Marx, Das Kapital I, MEW 23, 341 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 469 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 447 vgl. Mumford 1981, 262; Foucault 1977, 114-123; ders. 1978, 270 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 344 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 345 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 346 Smith 1976 (zuerst 1776), 17 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 346 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 349 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 442 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 350 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 349, 350 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 382 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 397 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 353 vgl. Marx, Das Kapital III, MEW 25, 398f.; s. dazu ausführlicher Kößler 1993, bes. Kap. 3 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 397 vgl. Sohn-Rethel 1972 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 353 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 351 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 352f. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 351 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 351f. Kößler 1993, 110 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 16 (Vorwort zur ersten Auflage) Beispielhaft skizziert im Schlußkapitel von Castells 2000. s. Altvater/Mahnkopf 1999, 316 (s. auch unten) Max Weber hat in diesem Zusammenhang nachdrücklich darauf hingewiesen, daß das gängige Bild von der Risikoverteilung zwischen Unternehmer und Beschäftigten „im strengen ökonomischen Sinne durchaus unrichtig" sei: Die Arbeiter stehen in Wahrheit mit ihrem Broterwerb für „jede(n) Fehler" des „Unternehmers" (der Kapitalinstanz) ein; Weber 1988, 155.
240 Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, 1969, 60f. 241 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 363; zu dem hier angesprochenen Verlagswesen, der räumlich dezentralisierten Manufaktur, vgl. Kößler 1990, 147-156 242 vgl. Smith 1976, Kap. 1 und Marx, Das Kapital I, MEW 23, 364 243 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 364f. 282
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274 275 276 277
Marx, Das Kapital I, MEW 23, 365 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 366 Babbage 1833, 178 (Kap. XIX, 194) Marx, Das Kapital I, MEW 23, 368; Marx nennt den Verbund von Flintglas-Produktion mit Glasschleiferei und Gelbgießerei für die Fassung der Glasartikel. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 389 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 369 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 365f. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 366 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 381 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 382 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 366-367 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 367 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 389f. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 396 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 394 Zur Terminologie s. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 393 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 396 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 400; zur Bedeutung der zentralen Energiequelle für das Fabrikregime s. Kößler 1990, 172-175, mit Literaturverweisen Marx, Das Kapital I, MEW 23, 400f. vgl. Taylor 1919 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 405 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 407 s. insbes. Marx, Das Kapital I, MEW 23, Kap. 10, Abschnitt 3 s. unten, bes. Abschnitte 3.6 und 3.8 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 445 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 442 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 455 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 452 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 465 So haben auch seine anarchistischen Kritiker bei aller Kritik an autoritären Tendenzen gerade der Marxschen Strömung im internationalen Sozialismus die Leitungsfunktion in der industriellen Arbeit ebenfalls als objektive Notwendigkeit behandelt; s. Kößler 1990, 344ff. vgl. Marx, Das Kapital I, MEW 23, Kap. 8, 15-20 Lenin 1917, 484 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 377 s. dazu Kößler 1993, Kap. 7-9 283
278 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 194f; Hervorhebungen von den Autoren. 279 vgl. dazu Burawoy 1985; dort auch ausfuhrlich zu der hier nur kurz angesprochenen Typologie. 280 vgl. bes. Aglietta 1987; Boyer 1987; Hübner 1990 281 vgl. für derartige Überlegungen aus weitgehend regulationstheoretischer Perspektive u.a. Hirsch/Roth 1986; Mahnkopf (Hg.) 1988; Hirsch 1995; Hein 1995,144-152 282 Kant 1983, 366, 387; vgl. auch Hegel 1970, 44ff. 283 Die Widerständigkeit der Arbeitskräfte ist eng mit ihren Potentialen zu autonomer und kreativer Betätigung verbunden. Auch diese möchte das Management für die Unternehmenszwecke nutzen, wie die neuen Management-Parolen von „Unternehmenskultur" oder „Beteiligung" zeigen, ohne allerdings die Heteronomie der Arbeit damit aufzugeben, (vgl. Wolf 1999) 284 Weber 1988 (zuerst 1908/1909), 127 285 Der folgende Abschnitt ist stark angelehnt an Kößler 1990, 64-67; zu der weiterführenden Perspektive der „Produzenten-Rationalität" verweisen wir auf den dort entwikkelten Zusammenhang. 286 Schiel 1983, 40 287 vgl. Hausen 1976, 363-393 288 Habermas 1971, 64 289 vgl. auch unten, Abschnitt 2.8 290 Wir sparen daher die Frage aus, ob produktive Arbeit nach der Entwicklung der Wertform im ersten Band des Kapital ausschließlich als Arbeit verstanden wird, die unmittelbar sachlichen Ausdruck in der stofflichen Veränderung eines Arbeitsgegenstandes findet. Damit wären insbesondere Dienstleistungen vom Begriff der produktiven Arbeit ausgeschlossen. Diese Debatte führt in komplexe Verästelungen der Werttheorie, deren Bedeutung für den gesellschaftlichen Gehalt der diskutierten Kategorien nicht immer deutlich ist; s. dazu Dämpfling 2000, der seinerseits erstaunlicherweise die Frage der nicht-entlohnten, insbesondere der Hausarbeit vollständig ausgespart hat. 291 Smith 1976 (zuerst 1776), 330; Hv.: d.V. 292 Die Abgrenzung von „produktiver" und „unproduktiver" Arbeit betrifft, was die Wertschätzung ihrer Person und Tätigkeit angeht, offenbar nicht diejenigen, die auf dem Markt andere Waren zu verkaufen haben als nur ihre Arbeitskraft. Der Terminus „Arbeitsgesellschaft" geht daher am Gegenstand vorbei; gemeint ist „Erwerbs-" oder im genauen Sinn „Markt"-Gesellschaft. 293 O'Connor 1975, 297-336 294 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Bd. 1, 127 295 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Bd. 1, 135f. 296 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Bd. 1, 136 297 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Bd. 1, 137 298 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Bd. 1, 128 284
299 300 301 302 303
304 305 306 307 308 309 310 311
312 313 314 315 316 317 318 319 320 321
Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Bd. 3, 242 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 14, 464 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 14, 465f. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 14, 467 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 58; hier reklamiert Marx den Status als Reichtumsquelle auch für die Natur, neben der „Arbeit". Für den damit zugleich vollzogenen Ausschluß von Kapital und Grundeigentum als „Springquellen des Reichtums" vgl. Marx, Das Kapital III, MEW 25, Kap. 48; genaueres s. u., Abschnitt 3.4. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 425 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 426 vgl. zur Einebnung der Zeit Rinderspacher 2000; allgemein Castells 2000, Kap. 4, 7 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 425 Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, 144 vgl. zu Reproduktionsinteressen und Produzentenrationalität Kößler 1990, 60-92 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 425 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 425; der hier impliziten Annahme der geringeren Bereitschaft von Arbeiterinnen gegenüber Arbeitern, für ihre Interessen einzutreten, steht freilich u.a. die Tatsache entgegen, daß die britische Fabrikgesetzgebung mit dem Schutz von Frauen und Kindern einsetzte. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 192 vgl. Görg 1999, 51-57 s. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 2, 556 s.o., Abschnitt 2.7 vgl. Marx, Das Kapital III, MEW 25, 656ff, 765, 781 vgl. auch Bensch 1998 vgl. genauer am Anfang von Abschnitt 3.4 so etwa auch die Kritik bei Debeir u.a. 1989, 15f. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 1, 367 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 3, 303; bei „Staatsschulden" ist dies, wie Marx im Anschluß an den Ricardianer Piercy Ravenstone argumentiert, ausdrücklich nicht so, weil sie nur die Umverteilung von Reichtum im großen Stil bewirken, nicht aber den gegenwärtigen Konsum von Produkten, die erst in der Zukunft erzeugt werden. Die Behauptung dieses „Absurden", wie Ravenstone 1824 schrieb (s. ebd., S. 303f), hat offenkundig auch bald 180 Jahre später seine mehr oder minder interessierte Anhängerschar.
322 vgl. dazu z.B. Altvater 1992, Kap. 5; Massarrat 1994; ders. 1998, Kap. 11 323 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 529; zu betonen ist hier die intensive, aus dieser wie auch aus im folgenden zitierten Textstellen hervorgehende Rezeption der Arbeiten von Justus von Liebig durch Marx sowie die kritischen Einsichten Liebigs gegenüber einer übermechanisierten Landwirtschaft; s. hierzu Foster 2000, bes. 147-177 285
324 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 784 325 vgl. Arts 1994, 6-27 326 Görg 1999, 57 möchte aus dem zuletzt angeführten Zitat auf ein „Spannungsverhältnis" zwischen einem nachhaltigen und einem herrschaftsförmigen Naturbezug sehen. Dies scheint überzogen, wenn der Kontext der bezogenen Texte berücksichtigt wird: Es handelt sich hier letztlich um Nebenbemerkungen, die aber helfen können, die Perspektiven der Theorie besser zu erkennen und auch zu erweitern. 327 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 630f. 328 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 630; „Elastizität der Arbeitskraft" verweist natürlich zugleich auf die industrielle Reservearmee. 329 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 688; auf die Problematik der Marxschen Annahme, daß es in der Landwirtschaft generell zum Großbetrieb mit Lohnarbeit kommen müsse, können wir hier nicht eingehen. 330 331 332 333 334
s.o., Abschnitt 2.6 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 688 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 3, 295 Marx, Kapital III, MEW 25, 775 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 753 auch hier unter ausdrücklichem Verweis auf die skeptischen Einschätzungen Liebigs.
335 336 337 338 339 340
Altvater 1992, Kap. 3 Altvater 1992, Kap. 4, 7, 8 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 528 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 260 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 791 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 592f.
3 „Zu viel Ehre und zu viel Schimpf zugleich" ... 1 2
Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, 1953, 365 vgl. Foster 2000: 114, auch zu dem damit zusammenhängenden, auf Epikur und Lukrez zurückgehenden Denkmotiv der mors immortalis. 3 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 37 4 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 38 5 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 8 6 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9 7 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9 8 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9 9 vgl. bes. Fukuyama 1992 10 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 12 11 vgl. auch oben, Abschnitt 1.4.3-1.4.4 286
12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Marx, Brief an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski", MEW 19, 111 s. unten, Abschnitt 3.6 alle Zitate Marx, Das Kapital I, MEW 23, 353f. Stalin 1939, 156 vgl. Kößler 1982, Teil 2, bes. 285f. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 8 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 462f. Marx, „Brief an das Arbeiterparlament", MEW 10, 125 vgl. ausführlicher Kößler 1998, Kap. 1 Herder 1965 (1784-91) Hegel 1970d Marx, Das Kapital I, MEW 23, 194f., 231; Marx, Das Kapital, MEW 24, 42 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 96 Anm. 33 Krader 1973; Lucas 1964a, 153-176 s. bes. Marx, Über Formen vorkapitalistischer Produktion, 1977 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 462, Anm. Marx, Brief an W.I. Sassulitsch, MEW 19, 243 Marx, Brief an W.I. Sassulitsch, MEW 19, 404 (Dritter Entwurf). Zum Einfluß des geologischen Formationsbegriffes bereits auf den jungen Marx s. Foster 2000, 119ff. Marx, Brief an W.I. Sassulitsch, MEW 19, 398 (Zweiter Entwurf) Marx, Brief an W.I. Sassulitsch, MEW 19, 387 (Erster Entwurf) Marx, Brief an W.I. Sassulitsch, MEW 19, 403 (Dritter Entwurf) Marx, Brief an W.I. Sassulitsch, MEW 19, 388 (Erster Entwurf) Marx, Brief an W.I. Sassulitsch, MEW 19, 389 (Erster Entwurf) Einen Überblick gibt Goehrke 1964 Marx, Brief an W.I. Sassulitsch, MEW 19, 404 (Dritter Entwurf) Marx, Brief an W.I. Sassulitsch, MEW 19, 389 (Erster Entwurf) s. hierzu weiter unten, Abschnitt 3.7 Wohl der wichtigste dieser Autoren ist Poulantzas, vgl. etwa 1975; zur Kritik auch Kößler 2001. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 8f. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 96 Anm. 33 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 26 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 635 Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 3, 437 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 194f. s. Abschnitte 2.2 und 2.7 vgl. Lucas 1975; Krader 1973 Engels, Der Ursprung der Familie, MEW 21, 25-173 287
49 50
vgl. Morgan 1987 In späteren Entwicklungsphasen handelt es sich eindeutig um eine Diagnose, d.h. um eine Aussage über empirisch vorfindliche Zustände; s. z.B. Karl Marx, „Brief an das Arbeiterparlament", MEW 10, 125; Friedrich Engels, Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, MEW 16, 67
51
vgl. bes. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 787, 797f; Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 2, 299, 438 vgl. auch zur Produktionsweise im „Kleinbetrieb" Marx, Das Kapital I, MEW 23, 789 und s.u. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9 (Vorwort) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9 Überschrift des 7. Abschnittes, Marx, Das Kapital I, MEW 23, Kap. 23 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 789; vgl. zu diesem Problemkomplex auch aus anderer Perspektive: Marx, Das Kapital III, MEW 25, 811-821 („Die Metäriewirtschaft und das bäuerliche Parzelleneigentum") Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 789 s. oben, Abschnitt 2.6. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 789f. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 790 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 790 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 790f. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 791 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 791 vgl. zur Kritik auch Städtler 1998, 119-136 s. Abschnitt 3.4; zum Klassenbegriff s. Abschnitte 2.3 und 2.5 (passim) Marx, Das Kapital I, MEW 23, 741 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 742 Überschrift des 24. Kapitels, Marx, Das Kapital I, MEW 23, 741 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 742 s. Abschnitt 2.3 vgl. zum folgenden allgemein Marx, Das Kapital I, MEW 23, Kap. 24 vgl. dazu stellvertretend Thompson 1985 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 743 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 365 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 368 alle Zitate Marx, Das Kapital I, MEW 23, 743 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 389 Die Bemerkung, dies sei „eine Arbeit für sich, an die wir hoffentlich auch noch kommen werden" (Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953,
52 53 54 55 56
57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
288
365) legt nahe, daß Marx die auf den Abschnitt „ursprüngliche Akkumulation" folgende „Formen"-Skizze wirklich allenfalls als Exkurs im Rahmen der Darstellung der (sogenannten) ursprünglichen Akkumulation verstand, nicht bereits als erschöpfende Abhandlung. 80
So der redaktionell eingefügte Kolumnentitel in der lange Zeit einzig zugänglichen Ausgabe: Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 375ff; die Formulierung fehlt in den im Anhang abgedruckten „Referaten zu meinen eignen Heften" (s. ebd., S. 958). Die geschlossenste und eine der instruktivsten der Konzeptionen, die an diesem Mißverständnis anknüpfen, dürfte sein Tökei 1969. Der Kolummnentitel wurde in der Ausgabe MEW 42 von 1983 geändert.
81
Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 375; dort auch alle weiteren Zitate in diesem Absatz. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 376 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 395 alle Zitate: Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 376fj zur eingehenden Formanalyse der Gemeinden vgl. bes. Tökei 1969, 71-87, der die Gemeindeformen dann freilich fälschlich mit Produktionsweisen identifiziert.
82 83 84
85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97
98 99 100 101 102
Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 378f. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 380f. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 379 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 380 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 382 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 383 alle Zitate: Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 383 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 385 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 382 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 384 alle Zitate: Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 385 vgl. Locke 1991, bes. II, Kap. 5 s. Foster 2000 für eine eindringliche Darstellung des Zusammenhangs dieser materialistischen Grundüberzeugung sowohl im Marxschen Werk als auch in der auf Epikur zurückgehenden Tradition innerhalb der abendländischen Philosophie. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 377 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 386f. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 388 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 90 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 394. Hier wie an vielen anderen Stellen des Marxschen Werkes finden sich starke Argumente gegen den methodologischen Individualismus, der nach wie vor die Gesellschaftswissenschaften und insbesondere die Ökonomie beherrscht. 289
103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126
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Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 394 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 395 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 389f. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 397 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 397f. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 398 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 398f. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 399 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 400 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 399f. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 399 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 400 vgl. Hegel 1970a (1807), 145-155; vgl. Honneth 1994 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 400 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 402 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 400 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 401 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 402f. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 385 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 387 vgl. Max Weber 1981, bes. S. 47ff. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 387 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 387 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, 387f; hier zugleich eine Anspielung auf die Vulgärökonomie; vgl. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, Teil 2, 112 und s. oben, Abschnitt 1.4.1 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 85 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 61 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 892 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 822, 824, 832 vgl. dazu Bensch 1998, bes. 57 vgl. Görg 1999 vgl. nochmals Marx, „Brief an das Arbeiterparlament", MEW 10, 125; Engels, Die preußische Militärfrage, MEW 16, 67 Das verbindet sonst stark divergierende aktuelle soziologische Theorieentwürfe wie die von Ulrich Beck und Antony Giddens, aber auch von Niklas Luhmann. Vgl. Thien 1997, 61f unter Verweis auf Gerstenberger. Zu notieren ist femer die deutlich analoge Struktur solcher Konzepte mit essentialistischen Begründungen von Ethnizität.
136 vgl. bes. Popitz/Bahrdt/Jüres/Kesting 1967; Schumann/Gerlach/Gschlössl/Milhoffer 1971. Einen Überblick auch über die einzelnen Stadien der Debatte über Klassen und ihr - vermeintliches - Verschwinden gibt Ritsert 1998, Kap. 4. Auf die Parallelen zwischen den Argumentationsmustern der 1950er und 1980er/90er Jahre verweist Thien 1989, 1997. 137 vgl. Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 180f. 138 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 892 139 Eine heute klassische, wenn auch nicht unumstrittene Analyse zum Entstehungsprozeß von „Klasse" als eines subjektiven, recht emphatisch politischen, freilich nicht notwendig partei-politischen Handlungszusammenhanges ist Thompson 1978. 140 Gerade deshalb sind Wissenschaft, Ideologiekritik und Analyse der Verdinglichung ja für Marx notwendige Operationen. 141 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 835 142 Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 181 143 vgl. Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, 420 144 Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, 402. Diese Metapher überbietet übrigens deutlich das von Antonio Gramsci stammende Bild des Stellungskrieges zwischen den feindlichen Klassen, in dem die Kasematten der zivilen Gesellschaft und der hegemonialen Kultur die Herrschaft der Bourgeoisie abstützen, in dem sich aber dennoch zwei Klassen geschlossen gegenüberstehen. Das bedeutet nicht, daß Marx in den gleich zu betrachtenden Analysen konkreter historischer Prozesse dieses Problembewußtsein immer eingeholt hätte. 145 Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 181. Spätestens im Rahmen der KapitalAnalyse ist dies im Spannungsverhältnis mit dem eben dadurch konstituierten despotischen Herrschaftsverhältnis im kapitalistischen Betrieb zu sehen, 146 alles Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 471 147 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 470 148 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 471 149 Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 181 150 Eine anspruchsvolle und philosophisch reflektierte, wenngleich überhöht leninistische Fassung des Problems bietet immer noch Lukács 1923; Merleau-Ponty (1968) verweist auf die im Stalinismus ins Extrem getriebenen möglichen Konsequenzen. Es würde zu weit führen, dies mit Organisationskonzepten und erst recht mit der politisch-organisatorischen Praxis von Marx zu konfrontieren, etwa im Rahmen des Bundes der Kommunisten in den 1840er oder der Internationalen Arbeiter-Assoziation („Erste Internationale") in den 1860er Jahren, vgl. aber die entsprechenden Materialien in MEW 16. 151 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 471 152 Ritsert 1998, 58 153 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 21 291
154 Zum Gebrauch des Terminus „Fraktion" vgl. z.B. Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 124 und 138f; Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 58 155 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 16f. 156 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 21 157 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 135 158 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 124 und 131; auch Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 43 159 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 115 160 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 118 161 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 120 162 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 139 163 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 139 164 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 20f. 165 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 21 166 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 29 167 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 142 168 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 144 169 vgl. dazu Weber 1981, 44; Goethe 1949, bes. S. 43 170 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 471 f. 171 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 142 172 vgl. exemplarisch: Deborin/Bucharin 1969; Schmitt 1973 173 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 29 174 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 38 175 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 139 176 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 131 177 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 76 178 Alle Zitate: Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 204f. 179 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 198f. 180 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 200 181 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 200f. 182 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 202 183 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 203 184 vgl. Dürkheim 1966 (1902/1930; dt.: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main 1992) 185 Zoll 2000 möchte gerade umgekehrt die auf ähnlicher Lage beruhende Arbeitersolidarität in die Nähe der Durkheimschen „mechanischen Solidarität" rücken. 186 genauer: Kößler 1982, Teil I, und Kößler 1988 187 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 191 188 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 160f. 292
189 vgl. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 673 190 vgl. Kößler/Hauck 1999, 505ff. Der seinerseits sehr diffuse Terminus des informellen Sektors umfaßt freilich noch weitere Verhältnisse, die in diesen Überlegungen nicht berücksichtigt werden, vgl. etwa Pries 1996, 7-28 191 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 670 und 670ff. 192 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 673 193 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 490 194 Für bäuerliche Revolutionsbewegungen eindrucksvoll analysiert bei Alavi 1965 195 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 478 196 Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 180 197 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 469; vgl. o., Abschnitt 2.6 sowie ausführlicher Kößler 1993, Kap. 3. 198 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 345, 350, 351 199 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 470. 200 Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 180 201 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 473f. 202 Marx, Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß, MEW 8, 412 (zit. in redigierter Fassung das Protokoll der Sitzung der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten vom 15. September 1850, s. ebd., 598) 203 Marx, „Englische Prosperität", MEW 9, 134 204 Marx, „Englische Prosperität", MEW 9, 136, zit. den Chartisten-Führer Ernest Jones. 205 Marx, „Der Londoner Magistrat - Reform Russells - Arbeiterparlament", MEW 9, 523: vgl. Marx, Brief an das Arbeiterparlament, MEW 10 206 vgl. dazu Marx, „Die russische Politik gegenüber der Türkei", MEW 9, 173; Marx, „Panik an der Londoner Börse", MEW 9, 345 207 Marx, „Die russische Politik gegenüber der Türkei", MEW 9, 170f. 208 Marx, „Der türkische Krieg - Das industrielle Elend", MEW 9, 536 209 Marx, Die Eröffnung des Arbeiterparlaments, MEW 10, 117f. 210 vgl. z..B. Marx, Herr Vogt, MEW 14, 450; zu dem damit verknüpften revolutionsstrategischen Kalkül vgl. Marx., Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß, MEW 8, 458 211 Dies gilt auch für die Analyse der „Pariser Kommune" 1871 in: Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 313-365. Dieser Befund steht in deutlichem Gegensatz zu den detailreichen, oft um persönliche Intrigen zentrierten Schriften über die deutsche Exilpolitik der 1850er Jahre, in denen ein gesellschaftlicher Rückbezug der kritisierten Positionen aber kaum erörtert wird; vgl. außer Marx, Herr Vogt, MEW 14, auch Marx/Engels, Die großen Männer des Exils, MEW 8, 233-335 und Marx, Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß, MEW 8 212 vgl. hierzu: Lenin 1973 (1902), 355-551; Luxemburg 1970 (1903/04), 422-444; dies., 1974 (1918), 332-365 und zum weiteren Verlauf Herrmann Weber 1969, bes. Kap. 2; Flechtheim 1969, bes. 194ff. 293
213 Lenin 1971 (1916), 285 214 Es würde viel zu weit führen, hier auf Gramscis Texte einzugehen. Wir verweisen auf die äußerst instruktive Darstellung bei Demirovic 1997, 88-94; vgl. auch Kößler/ Melber 1993, 69-73 215 Demirovic 1997, 90 216 s. Luxemburg 1972, 104 217 Trockij 1967, 145-154 218 Engels, „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten", MEW 21, 21 lf; vgl. Marx, „Zur Judenfrage", MEW 1, 355f. In Hegelscher Terminologie, auf die hier angespielt wird, ist „bürgerliche Gesellschaft" vor allem als Gegenbegriff zum Staat und nicht als Epochen- oder gar Klassenbegriff zu verstehen, wie dies dem späteren marxistischen Sprachgebrauch entsprechen würde; s. Hegel 1970c), §§ 182ff. 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236
237 238 239 240 241 294
Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 464 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 36 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 336 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 59 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 76 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 177 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, IIS.. Gerstenberger 1990, 38 Rödel/Dubiel/Frankenberg 1989, 43 vgl. Gerstenberger 1990, 462 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 338 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 204 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 338 vgl. insbes. Griepenburg/Tjaden 1966, 461-472 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 311 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 208 Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW 20, 260 Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW 20, 261f; die heute geläufige Problematik der höchst zweifelhaften Staatlichkeit vormoderner „Staaten" konnte Engels noch nicht kennen. Sie kann fär die Darstellung der von ihm und Marx entwickelten Grundposition auch vernachlässigt werden. vgl. dazu Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW 20, 166ff; Engels, Der Ursprung der Familie, MEW 21 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 33 Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW 19, 27f. Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW 19, 29 Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW 19, 30f.
242 Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW 19, 29; Engels hat später durchaus das „allgemeine Stimmrecht" als wesentliches Mittel dieses Kampfes betrachtet, während die „Rebellion alten Stils ... bedeutend veraltet" sei. vgl. Engels, Einleitung zu Karl Marx, MEW 22, 518ff 243 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 157, 190; vgl. auch Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 93 244 Diese Debatte verbindet sich vor allem mit dem Namen Antonio Gramscis. 245 246 247 248 249
vgl. ausfuhrlich Kößler/Schiel 1996, Kap. 6 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 185; vgl. ebd., S. 171 Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW 19, 29 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 150 Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 150f.
250 251 252 253
vgl. Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 202 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 345 Marx, „Das Attentat auf Bonaparte", MEW 12, 389 Marx, „Die britische Konstitution", MEW 11, 95; „Millocracy" bezeichnet mit einem damals gebräuchlichen Ausdruck die Gruppe der Fabrikherren, abgeleitet von „mill" im Sinne von Fabrik. Auf Marx' differenzierende Einschätzung der beiden damals konkurrierenden Parteien, der Whigs und der Tories, kann hier nur verwiesen werden: vgl. dazu Marx, ,,'Morning Post' gegen Preußen", MEW 11, 218f; Marx, „Oberhaussitzung", MEW 11, 223; Marx, „Die Parlamentsreform", MEW 11, 249f.
254 255 256 257 258 259
Marx, „Lord John Russell", MEW 11, 397 zur Konkretisierung vgl. Marx, „Palmerston", MEW 11, 91-94 Marx, „Unruhen in Konstantinopel", MEW 9, 70 Marx, „Seife fürs Volk", MEW 9, 81 Marx, „Die Krise in England", MEW 11, 103 Die Bewegung der Chartisten war eine Massenbewegung, die nach der Parlamentsreform von 1832 bis in die 1840er Jahre hinein in Großbritannien vor allem Forderungen nach politischer Gleichheit verfolgte, die in der „People's Charter" niedergelegt waren. Zu einer Wiederbelebung kam es während der 1850er Jahre. Marx, „Die Administrativreform-Assoziation", MEW 11, 269 vgl. Marx, „Die neue britische Reformbill", MEW 13, bes. 217 Marx, „Die Herrschaft der Prätorianer", MEW 12, 400 vgl. Marx, „Der Credit mobilier", MEW 12, 202-209 Marx, „Das neue Gesetz über die Bank von Frankreich", MEW 12, 225 vgl. Marx, „Die Geldkrise in Europa", MEW 12, 56 Marx, „Die Lage in Preußen", MEW 12, 686 Engels an Marx, 13.4.1866, MEW 31, 208 vgl. bes. Marx, „Der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten", MEW 15, 345f
260 261 262 263 264 265 266 267 268
295
269 vgl. Marx, „Zur Kritik der Dinge in Amerika", MEW 15, 526 unter Verweis auf die Homestead Act von 1862. Hier kann nur am Rand festgehalten werden: Die freie Lohnarbeit wird von Marx hier entschieden als verteidigenswerter historischer Fortschritt verstanden, und das Land im Westen wird ausschließlich als Siedlungsreserve gesehen, nicht etwa als ein zuvor von indianischen Völkern bewohntes Gebiet, die vernichtet und vertrieben wurden, bevor von Siedlung die Rede sein konnte. Absolut vorrangig ist die strategische Bedeutung der offenen Grenze, der frontier. 270 Marx, „Die öffentliche Meinung in England", MEW 15, 440 271 vgl. bes. Marx, „Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten", MEW 15, 340-344; „Krise in der Sklavenfrage", MEW 15, 420 272 Marx/Engels, „Die Lage auf dem amerikanischen Kriegsschauplatze", MEW 15, 507 273 Marx, „Zu den Ereignissen in Nordamerika", MEW 15, 552f; „e pur si muove" - und sie bewegt sich doch - waren angeblich die letzten Worte Galileo Galileis, mit denen er seinen von der Inqusition erzwungenen Widerruf der Erkenntnis vom Umlauf der Erde um die Sonne zurücknahm. 274 Marx, „An Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika", MEW 16, 19 275 Marx, „Adresse an die Nationale Arbeiterunion der Vereinigten Staaten", MEW 16, 356 276 Engels, Einleitung zu Karl Marx, Klassenkämpfe in Frankreich MEW 22, 519, 523, 522 277 vgl. hierzu ausfuhrlicher Kößler/Melber 1993, 65-77 278 s.o., Abschnitt 3.2 279 s.o., Abschnitt 3.3 280 vgl. auch zum folgenden Kößler 1998, Kap. 1 281 vgl. Marx an Lasalle, 16.1.1861, MEW 30, 578; Foster 2000 hat jetzt die enge Beziehung zwischen dem Denken von Darwin und Marx noch einmal mit großem Nachdruck herausgearbeitet. 282 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 18 283 vgl. auch stellvertretend Menzel 1982, 84; Avineri (Hg.) 1969 284 s.o., Abschnitt 3.1.; vgl. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9 285 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 465 286 vgl. zu dieser Lesart etwa Berman 1999 287 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 467f. 288 vgl. dazu Kößler 1998, Kap. 3 289 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 466 290 vgl. Hegel 1970d, 147 291 vgl. Braudel 1986; Wallerstein 1980a sowie ausfuhrlich ders. 1980b 292 Marx/Engels, Revue. Mai bis Oktober 1850. MEW 7, 440 293 Marx, „Die Revolution in China und Europa", MEW 9, 100 294 Marx/Engels, Revue. Januar/Februar 1850, MEW 7, 222 296
295 vgl. z.B. Sardar 1999, 44-62 296 vgl. zur Kritik bes. Wolf 1986 297 vgl. exemplarisch Parsons 1977; ders. 1964; Zapf 1994; zur Kritik ausfuhrlicher Kößler 1998, 105-107, 109-112 298 vgl. Karl Marx, „Chinesisches", MEW 15, 514 299 Neben amtlicher Literatur gilt dies besonders auch für Beiträge zur Politischen Ökonomie, vor allem von Richard Jones und James St. Mill. 300 Bei diesen journalistischen Arbeiten stand der Broterwerb im Vordergrund. Oft wurden in einer Korrespondenz mehrere Themen behandelt. Die stärker theoretischen Überlegungen, die uns gleich beschäftigen sollen, gingen aber auch in vergleichende Passagen der Kapital-Schriften ein. 301 Marx, „Russischer Humbug", MEW 9, 126 302 Marx, „The British Rule in India", 1969 (1853), 90f., sowie Marx, „Die britische Herrschaft in Indien", MEW 9, 129f; die deutsche Übersetzung ist an einigen Stellen unexakt und wurde entsprechend korrigiert. Das in diesen Überlegungen angesprochene Theorem der „asiatischen" Produktionsweise bzw. des orientalischen Despotismus kann hier nicht weiter verfolgt werden; vgl. den Überblick bei Bailey/Llobera 1981 303 vgl. ausführlicher mit Literaturverweisen Kößler 1990, 99-102 Marx, „The British Rule in India", 1969 (1853), 92, sowie Marx, „Die britische 304 Herrschaft in Indien", MEW 9, 131 Marx, „The British Rule in India", 1969 (1853), 93, sowie Marx, „Die britische 305 Herrschaft in Indien", MEW 9, 133 Marx, „The British Rule in India", 1969 (1853), 89, sowie Marx, „Die britische 306 Herrschaft in Indien", MEW 9, 128 Marx, „The British Rule in India", 1969 (1853), 94f., sowie Marx, „Die britische 307 Herrschaft in Indien", MEW 9, 133 Marx, „The Future Results of British Rule in India", 1996 (1853), 137, sowie Marx, 308 „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien", MEW 9, 225 Marx, „Die Ostindische Kompanie", MEW 9, 155 309 Marx, „The Future Results of British Rule in India", 1996 (1853), 133f., sowie Marx, „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien", MEW 9, 221 f. 310 Marx, „The Future Results of British Rule in India", 1996 (1853), 135, sowie Marx, „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien", MEW 9, 223 311 Marx, „The Future Results of British Rule in India", 1996 (1853), 137, sowie Marx, „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien", MEW 9, 224 312 Marx, „The Future Results of British Rule in India", 1996 (1853), 137, sowie Marx, „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien", MEW 9, 224 313 Marx, „The Future Results of British Rule in India", 1996 (1853), 134, sowie Marx, „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien", MEW 9, 222 314 Marx, „The Future Results of British Rule in India", 1996 (1853), 138, sowie Marx, „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien", MEW 9, 236 315 297
316 317 318 319 320 321 322 323
324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 298
Marx an Engels, 8.10.1958, MEW 29, 360 s.o., 3.2; vgl. auch ausführlicher Kößler 1983, 16ff. Marx, Brief an W.I.Sassulitsch, MEW 19, 392 (Erster Entwurf) Zu einigen denkbaren Konsequenzen daraus unter Bezug auf Marxsche Ansätze zur Formationstheorie vgl. Kößler 1998, Kap. 4 s.o., Abschnitt 1.4.4 vgl. bes. Albrow 1998 vgl. etwa Beck/Giddens/Lash 1996, bes. die Beiträge von Beck und Giddens; jetzt auch Beck 1999, 535-550 Albrow (1998) spricht wiederholt von über das postulierte Ende der Moderne hinausreichenden kapitalistischen Verhältnissen, doch dies widerlegt entweder immanent seine These von einem fundamentalen gesellschaftlichen Umbruch, oder aber es verfehlt ein striktes Verständnis von Kapitalismus, nicht nur im Sinne von Marx, sondern etwa auch von zentralen Autoren wie Max Weber oder Fernand Braudel. Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 463 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 475 s.o., Abschnitt 3.6. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 476 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 790; zur Naturbeziehung vgl. nochmals Görg 1999 vgl. auch die analogen Überlegungen bei Altvater 1987 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 345, 120 vgl. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 662; auch ders., Das Kapital III, MEW 25, 506 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 963 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 473 vgl. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 584 vgl. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 626f. Marx, Das Kapital III, MEW 25, 793 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 349 Auf die aktuelle, freilich nicht isolierte oder allein wirksame Tendenz zum „Neomerkantilismus" weist ausdrücklich hin: Menzel 1998, 124 u.ö. Hirsch 1995 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 405 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 81 vgl. Altvater/Mahnkopf 1996, 217ff. Marx an Weydemeyer, 25.3.1852, MEW 28, 510 Marx, Das Kapital II, MEW 24, 254 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 735 Marx, Das Kapital II, MEW 24, 144f. Marx, Das Kapital III, MEW 25, 332
348 vgl. Marx, Das Kapital I, MEW 23, 156ff; zu weitergehenden Implikationen, die wir hier nicht verfolgen können, s. Dämpfling 2000, 40-51 349 Diese Sichtweise wird stark gemacht z.B. von Menzel 1998, bes. Kap. 3 350 Hier sind aber Marxens Beobachtungen über die durch Staatsschuld, Steuer und Aktiengesellschaften begünstigte Ausbreitung des „Börsenspiel(s) und der Bankokratie" anschlußfähig (Marx, Das Kapital I, MEW 23, 783). 351 vgl. Marx, Das Kapital III, MEW 25, 380 352 vgl. Kappel 1995, 79-117 353 Altvater/Mahnkopf 1996, 129 354 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 120 355 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 260 356 Marx, Das Kapital III, MEW 25, 260 357 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 466 358 s. am Anfang dieses Abschnittes 359 Zum Marxschen Konzept der Gesetzmäßigkeit s. oben, Abschnitt 1.4.3 360 Marx an Engels, Briefe, MEW 27, 228 361 vgl. Marx/Engels, Revue, MEW 7, 438ff. 362 s.o., Abschnitt 2.5.5-6 363 vgl. Marx, „Die Revolution in China und Europa", MEW9, 100; ders., „Krieg Streiks - Teuerung", MEW 9, 450 364 vgl. Marx, „Der britische Baumwollhandel", MEW 15, 314-317; ders., „Die Krise in England", MEW 15, 348-351, beide Artikel entstanden anläßlich des amerikanischen Bürgerkrieges und des dadurch verursachten Baumwollhungers; sie verweisen nachdrücklich auf die Folgen der Zerstörung des indischen Baumwollexportes durch die britische Kolonialherrschaft (s. dazu oben, Abschnitt 3.6). 365 vgl. hierzu Marx, „Die Handelskrise in Britannien", MEW 10, 617 366 vgl. zur Reduktion der für die Produktion notwendigen Arbeitszeit bis zu diesem Umschlagspunkt Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1953, bes. 592ff; s. dazu oben, Abschnitt 2.7 367 s.o., Abschnitt 3.4 368 Marx, „Politische Schachzüge - Brotknappheit in Europa", MEW 9, 319 369 Marx, „Die Kriegsfrage - Finanzangelegenheiten - Streiks", MEW 9, 426 370 Marx, „Die Koalition zwischen Tories und Radikalen", MEW 11, 75; zum Bezugsrahmen dieser Aussage vgl. oben, am Schluß von Abschnitt 3.5 371 Marx, „Die Geldkrise in Europa", MEW 12, 54 372 s.o., Abschnitt 3.4, bes. den Schluß 373 Zu den politischen Konsequenzen einer zudem noch dogmatisierten, in die passive Haltung des Wartens auf den großen „Kladderadatsch" führenden Interpretation der Marxschen Überlegungen zum Zusammenbruch des Kapitalismus vgl. etwa Groh 1973 374 s.o., Schluß von Abschnitt 2.7 299
375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
300
Marx, Das Kapital I, MEW 23, 25 (Nachwort zur zweiten Auflage) Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 482 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 92 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 93 Marx, Das Kapital I, MEW 23, 93 Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW Marx, Das Kapital III, MEW 25, 828 Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW Marx, Das Kapital III, MEW 25, 828
19, 19, 19, 19, 19,
18f. 20 20 20f. 21
19, 21
Literatur Werkausgefen sind in der Reihenfolge der benutzten Bände zitiert.
I. Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels Soweit möglich, werden die Arbeiten von Marx und Engels nach der weit verbreiteten und insgesamt gut zugänglichen Ausgabe Marx-Engels-Werke (MEW; ersch. Berlin/DDR 1956ff) zitiert. Einzige Ausnahme bilden die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, die erst nach 1989 in die MEW aufgenommen wurden. In einigen wenigen Fällen erschien der Rückgriff auf englischsprachige Originaltexte sowie auf die noch unvollendete kritische Werkausgabe (zweite MEGA) erforderlich. Alle diese Publikationen werden jeweils im Anschluß an die Nachweise aus MEW aufgeführt, und zwar zunächst Nachweise aus der MEGA, dann Einzelpublikationen und Teilsammlungen in chronologischer Reihenfolge des Erscheinens der tatsächlich zitierten Ausgaben. Marx, Karl, „Zur Judenffage" (1844), MEW 1, 347-377 -, „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung" (1844), MEW 1, 378-391 -, Thesen über Feuerbach (1845). MEW 3, 5-7 -, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends" (La misere de la philosophie, 1847), MEW 4, 63-182 -, Lohnarbeit und Kapital (1849), MEW 6, 395-423 -, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 (1850/1895), MEW 7, 9-107 -, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), MEW 8, 111-209 -, Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln (1853), MEW 8, 405470 -, „Unruhen in Konstantinopel - Tischrücken in Deutschland - Das Budget" (1853), MEW 9, 67-74 -, „Seife fürs Volk - Guter Bissen für die 'Times' - Das Koalitionsbudget" (1853), 75-82 „Die Revolution in China und Europa." (1853), MEW 9, 95-103 -, „Russischer Humbug - Gladstones Mißerfolg - Ostindische Reformen" (1853), MEW 9, 117-126 -, „Englische Prosperität - Streiks - Die türkische Frage - Indien" (1853), MEW 9, 134-141 -, „Die britische Herrschaft in Indien" (1853), MEW 9, 127-133. -, „Die Ostindische Kompanie, ihre Geschichte und die Resultate ihres Wirkens" (1853), MEW 9, 148-156 -, „Die russische Politik gegenüber der Türkei - Die Arbeiterbewegung in England" (1853), MEW 9, 164-175
301
-, -, -, -, -,
„Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien" (1853), MEW 9, 220-226 „Panik an der Londoner Börse - Streiks" (1853), MEW 9, 341-346 „Politische Schachzüge - Brotknappheit in Europa" (1853), MEW 9, 312-320 „Die Kriegsfrage - Finanzangelegenheiten - Streiks" (1853), MEW 9, 419-427 „Krieg - Streiks - Teuerung" (1853), MEW 9, 447-455
„Rede Manteuffels - Der Kirchenkonflikt in Preußen - Aufruf Mazzinis - Der Londoner Magistrat - Reform Russells - Arbeiterparlament" (1853), MEW 9, 519-526 -, „Der türkische Krieg - Das industrielle Elend" (1853), MEW 9, 534-537 -, „Die Eröffnung des Arbeiterparlaments - Das englische Kriegsbudget" (1854), MEW 10, 117-124 -, „Brief an das Arbeiterparlament" (1854), MEW 10, 125-126 -, „Die Industrie- und Handelskrise" (1855), MEW 10, 602-609 -, „Die Handelskrise in Britannien" (1855), MEW 10, 616-621 „Die Koalition zwischen Tories und Radikalen" (1855), MEW 11, 73-75 -, „Palmerston [und die englische Oligarchie]" (1855), MEW 11, 91-94 -, „Die britische Konstitution" (1855), MEW 11, 95-97 -, „Die Krise in England" (1855), MEW 11, 100-103 -, ,,'Morning Post' gegen Preußen - Charakter der Whigs und Tories" (1855), MEW 11, 217-219 -, „Oberhaussitzung" (1855), MEW 11, 220-223 -, „Die Parlamentsreform - Abbruch und Fortdauer der Wiener Konferenz - Der sogenannte Vernichtungskrieg" (1855), MEW 11, 249-252 „Die Administrativreform-Assoziation [- Die Charte]" (1855), MEW 11, 266-269 -, „Lord John Russell" (1855), MEW 11, 381-401 -, „Die Geldkrise in Europa" (1856), MEW 12, 53-57 -, „Der Credit mobilier" (1857), MEW 12, 202-209 -, „Das neue Gesetz über die Bank von Frankreich" (1857), MEW 12, 222-225 -, „Das Attentat auf Bonaparte" (1858), MEW 12, 388-393 -, „Die Herrschaft der Prätorianer" (1858), MEW 12, 399-402 -, „Britischer Handel und Finanzen" (1858), MEW 12, 570-573 -, „Die Lage in Preußen" (1859), MEW 12, 683-687 -, Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), MEW 13, 3-133 -, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), MEW 13, 615-642 -, „Die neue britische Reformbill" (1859), MEW 13, 215-219 -, Herr Vogt (1860), MEW 14, 381-686 -, „Der britische Baumwollhandel" (1861), MEW 15, 314-317 -, „Der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten" (1861), MEW 15, 339-347 -, „Die Krise in England" (1861), MEW 15, 348-351 -, „Die öffentliche Meinung in England" (1862), 439-444 302
-, -, -, -, -,
„Chinesisches" (1862). MEW 15, 514-516 „Zur Kritik der Dinge in Amerika" (1862), MEW 15, 524-526 „Zu den Ereignissen in Nordamerika" (1862), MEW 15, 551-553 „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation" (1864), MEW 16, 5-13 „An Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika" (1864), MEW 16, 18-20
-, „Über P.-J. Proudhon" (1865), MEW 16, 25-32 -, Lohn, Preis und Profit (1865), MEW 16, 101-152 -, „Adresse an die Nationale Arbeiterunion der Vereinigten Staaten" (1869), MEW 16, 355-357 -, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871), MEW 17, 313-365 -, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875), MEW 19, 15-32 -, Brief an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski" (1877), MEW 19, 107-112 -, Brief an W.I. Sassulitsch [V.l. Zasulic ...] (1881), MEW 19, 242-243 Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie" (1879), MEW 19, 355-383 -, Entwürfe einer Antwort auf den Brief an W.I. Sassulitsch (1881), MEW 19, 384-406 -, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. (1867/73) (= MEW 23) -, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band. Buch II: Der Zirkulationsprozeß des Kapitals. Hg. von Friedrich Engels (1885/93) (= MEW 24) -, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Buch III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion. Hg. von Friedrich Engels (1895) (= MEW 25). -, Theorien über den Mehrwert (1905-10/1965), MEW 26, Teil 1-3 -, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844/1932), MEW Ergänzungsband 1, 465588 -, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858. Berlin (DDR) 1953 (Nachdruck der Ausgabe Moskau 1939/41, mehrere weitere Nachdrucke, bes. Frankfurt am Main/Wien o.J.) -, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. Das Kapital I. Bd.. Der Produktionsprozeß des Kapitals. VI. Kapitel (1933). Frankfürt am Main 1969 -, „The British Rule in India" (1853) In: Shlomo Avineri (Hg.), Karl Marx on Colonialism and Modernization. Garden City, N.Y., 1969, 88-95 -, „The Future Results of British Rule in India" (1853). in: ebd., 132-139 -, Über Formen vorkapitalistischer Produktion. Aus dem handschriftlichen Nachlaß hg. und eingel. von Hans-Peter Harstick, Frankfurt am Main/New York 1977 -, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Urausgabe, mit einem editorischen Vorwort von Fred E. Schräder. Hildesheim 1980 (Hamburg 1867) 303
-, Doktordissertation: Differenz der demokritischen, stoischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange (1840/41). MEW Ergänzungsband 1. Teil, 257-373 Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen (1845), MEW 2, 225-506 -, Der Deutsche Bauernkrieg (1850/1870), MEW 7, 327-413 „Karl Marx, 'Zur Kritik der Politischen Ökonomie'. Erstes Heft" (Rezension, 1859), MEW 13, 468477 -, Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei (1865), MEW 16, 37-78 Rezension des Ersten Bandes „Das Kapital" für die „Zukunft" (1867), MEW 16, 207209 -, Rezension des Ersten Bandes „Das Kapital" für die „Düsseldorfer Zeitung" (1867), MEW 16, 216-218 -, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring") (1877/78), MEW 20, 5-303 -, Dialektik der Natur (1925), MEW 20, 305-579 -, „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten" (1885), MEW 21, 206-224 -, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an Lewis Henry Morgans Forschungen (1884/1892), MEW 21, 25-173 -, Einleitung zu Karl Marx, Klassenkämpfe in Frankreich (1895), MEW 22, 509-527 Marx, Karl/Engels, Friedrich, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, MEW 2, 3-223 -/-, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, MEW 3, 9-530 -/-, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), MEW 4, 459493 -/-, „Revue. Januar/Februar 1850" (1850), MEW 7, 213-225 -/-, „Revue. Mai bis Oktober 1850" (1850), MEW 7, 421463. -/-, Die großen Männer des Exils, (geschr. 1852) MEW 8, 233-335 -/-, „Die Lage auf dem amerikanischen Kriegsschauplatze" (1862), MEW 15, 504-507. -/-, Briefe. Februar 1842 bis Dezember 1851, MEW 27 -/-, Briefe. Januar 1852 bis Dezember 1855, MEW 28 -/-, Briefe. Januar 1856 bis Dezember 1859, MEW 29 -/-, Briefe. Oktober 1864 bis Dezember 1867, MEW 31
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II. Andere Autorinnen und Autoren Aglietta, Michel, A Theory of Capitalist Regulation. The US Experience. London 1987 (Regulation et Crises du Capitalisme, zuerst 1976) Alavi, Hamza, „Peasants and Revolution," The Socialist Register 1965 (dt. u.d.T. Theorie der Bauernrevolution. Stuttgart 1972) Albert, Hans, „Modell-Platonismus. Der neo-klassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung", in: Ernst Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften. Köln und Berlin 1966, 406434 Albert, Mathias/Lothar Brock/Stephan Hessler/Ulrich Menzel/Jürgen Neyer, Die Neue Weltwirtschaft. Entstofflichung und Entgrenzung der Ökonomie. Frankfurt am Main 1999 Albrow, Martin, Abschied vom Nationalstaat. Frankfürt am Main 1998 Alexander, Jeffrey C./Bernhard Giesen/Richard Münch/Neil J. Smelser, The Micro-MacroLink, Berkeley/Los Angeles/London 1987 Althusser, Louis/Etienne Balibar, Lire le Capital. 2 Bde. Paris 1968 (dt. Das Kapital lesen. Reinbek 1972) Altvater, Elmar/Jürgen Hoffmann/Wolfgang Schöller/Willi Semmler, „Entwicklungsphasen und -tendenzen des Kapitalismus in Westdeutschland (1. Teil)," Probleme des Klassenkampfs. Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik 13, 101-132. -/Jürgen Hoffmann/Rainer Künzel/Willi Semmler, „Inflation und Krise der Kapitalverwertung," Probleme des Klassenkampfs. Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik 17/18, 237-302 -, Sachzwang Weltmarkt. Verschuldungskrise, blockierte Industrialisierung, ökologische Gefährdung - der Fall Brasilien. Hamburg 1987 -, Der Preis des Wohlstands oder Umweltplünderung und neue Welt(un)ordnung. Münster 1992 -/Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung. 4., völlig Überarb. Aufl. 1999 Aristoteles, Politik , München 1976 Arts, Bas, „Nachhaltige Entwicklung. Eine begriffliche Abgrenzung," Peripherie 54 (1994), 6-27 Avineri, Shlomo (Hg.), Karl Marx on Colonialism and Modernization. Garden City, N.Y., 1969 Babbage, Charles, Ueber Maschinen- und Fabrikenwesen. Berlin 1833 (2. erw. engl. Aufl. 1832) Bader, Veit M./Albert Benschop/Michael Krätke/Werner van Treeck (Hg.), Die Wiederentdeckung der Klassen. Hamburg 1998 Bailey, Anne B./Josep R Llobera (Hg.), The Asiatic Mode of Production. Science and Politics. London/Boston/Henley 1981 Beck, Ulrich/Antony Giddens/Scott Lash, Reflexive Modernisierung. Frankfurt am Main 1996 305
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