Die besten Science-Fiction-Romane der Welt erscheinen jeden Monat in den UTOPIA-Großbänden
Flucht in die Zukunft von L...
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Die besten Science-Fiction-Romane der Welt erscheinen jeden Monat in den UTOPIA-Großbänden
Flucht in die Zukunft von Lee Elliot heißt der nächste UTOPIA-Großband SCIENCE FICTION in deutscher Sprache Im Jahre 1991 wird der „Kalte Krieg“ heiß – sehr heiß sogar. Asien stürmt über Europa hinweg und beginnt mit der Invasion in Amerika. Nichts mehr kann die Staaten retten, denn die Politiker haben versagt. Professor Calton jedoch hat eine Idee – eine wahnsinnige Idee! Wahnsinnig – – –? Er will in die Zukunft fliegen, die Waffen der kommenden Jahrhunderte kennenlernen – und mit ihnen den Feind von heute schlagen und besiegen. Doch der Zusammenbruch erfolgt schneller als alle gedacht haben. Calton flieht mit zwei Mitgliedern der Regierung und dem Piloten Kane in das Weltall. Sie erproben Caltons Wahnsinnsidee – und das Unglaubliche gelingt ihnen. Sie stürzen in einen Strudel sich überschlagender Ereignisse, erleben die vernichtende Wirkung der Kobaltbombe, reisen 16 Jahre durch den Weltraum zu einem fernen Sonnensystem, treffen hier auf die vor fünfzig Jahren von der Erde geflohene Menschheit – und befinden sich mitten drin in der Welt von 2191 nach Christi. Der grausame und unmenschliche Diktator, den man den „Overlord“ nennt, sieht in ihnen eine Gefahr. Wie es Kane gelingt, seinen Mordanschlägen zu entgehen, wie es ihm gelingt, seinen Gegner zu überlisten, wie er – – Nein! Sie müssen diesen erregenden Roman von Leo Elliot selbst lesen! Reisen Sie selbst mit dem Piloten Kane durch Raum und Zeit! Erleben Sie mit ihm plastisch und realistisch die phantastischen Abenteuer einer fernen – aber unaufhaltsam näherrückenden Zukunft. Bei UTOPIA-Großbänden ist alles möglich – nur eines ist unmöglich: nicht davon gefesselt zu werden! VERLAG ERICH PABEL – RASTATT (BADEN) – PABEL-HAUS
Grenze zwischen den Welten Von Paul Lorraine Das Geheimnis der Raumfahrt ist gelöst. Die Technik und die Wissenschaft stehen an einem Höhepunkt ihrer Entwicklung. Machtgierige Politiker haben sich an die Spitze gesetzt. Sie beherrschen die Länder der Erde mit ihrem Terror, der die Menschen in zwei Klassen aufteilt. Ein jahrhundertealter Wunschtraum wird wahr: das Lebenselixier ist entdeckt – ein Mittel, das Leben zu verlängern und ewige Jugend zu verleihen! Aus dem Segen des Wunderwassers – wird der Fluch der Unsterblichkeit. Die Erde wird von Menschen übervölkert. Aber der Beherrscher der Welt, der wahnsinnige Vanca Unthra, schafft zwei künstliche Planeten, auf die er alle Menschen deportieren läßt, die durch den Genuß des Elixiers unsterblich wurden. Die genaue Dosierung der kosmischen Strahlung soll dafür sorgen, daß sie auf jenen Welten wieder zu normalen Sterblichen werden. Doch die Strahlung bewirkt bei den im
Weltraum verbannten Menschen ein geradezu unheimliches Ansteigen der Intelligenz. Vanca Unthra fürchtet ihre Rache. Die Rivalität zwischen den Oberhäuptern der beiden Planeten nützt er aus und spielt dem einen davon eine furchtbare Waffe in die Hand: den Roten Fleck. Ein Krieg entbrennt zwischen den beiden künstlichen Welten. Wie die beiden Menschen, Sylvia Grantham, die „Controllix“ von OMEGA, und Dexter Carfax der Kapitän der ALPHA, die sich einst liebten, zu Todfeinden und ihre Welten durch die entfesselten Energien der Atome zerstört werden, wie die Sintflut über die Erde rast und alles Leben in den Fluten ertränkt, wie ein neues Menschengeschlecht – geläutert durch die Gewalten der Natur – aus all diesen Katastrophen hervorgeht, das erzählt dieser Roman, den man wegen seiner gigantischen Visionen als eine Sensation unter der heutigen utopischen Romanliteratur bezeichnen kann.
nur eines ist unmöglich: nicht davon gefesselt zu werden!
UTOPIA-GROSSBÄNDE DIE BESTEN SCIENCE-FICTION-ROMANE DER WELT
Grenze zwischen den Welten VON PAUL LORRAINE Originaltitel: DARK BOUNDARIES von Walter Ernsting aus dem Englischen übersetzt
ERICH PABEL VERLAG IN RASTATT (BADEN)
Grenze zwischen den Welten von Paul Lorraine
1. Kapitel: Das Lebenselixier 2. Kapitel: Die Erde ist zu klein 3. Kapitel: Das große Experiment 4. Kapitel: In den Weltraum verbannt 5. Kapitel: Unthra greift erneut ein 6. Kapitel: Der Feuersee des Jupiter 7. Kapitel: Der Fluch der entfesselten Atome 8. Kapitel: Die grünen Hügel der Erde
UTOPIA-GROSSBAND – SCIENCE FICTION in deutscher Sprache. Copyright by Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden). Scan by Brrazo 03/2010. Gesamtherstellung: Druck- u. Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Aus dem Englischen übersetzt von Walter Ernsting. Originaltitel: Dark Boundaries.
Grenze zwischen den Welten Von Paul Lorraine
DAS LEBENSELIXIER Die zwei Männer an der Beobachtungsluke betrachteten die einsame Gestalt des Kommandanten Herris, der durch den Sand auf das Schiff zustapfte. Sonst war nichts weiter zu sehen. Er schien das einzige Lebewesen in der verlassenen Wüste des Mars zu sein, die sich bis zum Horizont ausdehnte. Der blaue, wolkenlose Himmel wölbte sich über der trostlosen Einsamkeit. „Zeitverschwendung – sonst nichts!“ Es war der Navigator, der diese Bemerkung machte. Er hatte einen brutalen Gesichtsausdruck. Diese Abstecher zum Mars waren ihm unbegreiflich. Es war jetzt das zweite Mal, daß Herris von der vorgeschriebenen Route abgewichen und auf dem Mars gelandet war. Normalerweise stellte ihr Raumfrachter die Verbindung zwischen Erde und Venus her. Es bestand absolut keine Veranlassung, die 40 Millionen Meilen Umweg zum Mars zu machen, um erst von hier aus zur Erde zurückzukehren. „Kein Wunder, wenn er dafür bekannt wird, immer zu spät zu kommen“, meinte der Erste Steuermann, indem er kräftig an seiner Pfeife sog – ein Vergnügen, das während des Fluges verboten war. „Kaum!“ bemerkte der Navigator kurz. „Er holt die Verspä7
tung wieder genau so schnell heraus wie beim vorigen Mal, auch wenn er uns durch die zusätzliche Beschleunigung halb umbringt. Ich verstehe das alles nicht – und er ist verschwiegener als ein Schellfisch, wenn man versucht, ihn irgendwie auszufragen. Was, zum Teufel, kann es in dieser glorreichen MarsSahara schon geben, das ihn interessieren könnte?!“ „Es wird Zeit, daß wir das herausfinden, Jeff!“ Der Steuermann hatte einen bösen Zug um die Mundwinkel. „Wir werden es herausfinden, Jeff! Wir sind das unserer Mannschaft schuldig.“ In gewissem Sinne stimmte das. Die anderen sechs Männer saßen im Aufenthaltsraum des Raketenschiffes und fluchten still vor sich hin, weil sie hier nutzlos ihre Zeit vergeuden mußten, während daheim, auf der Erde, der wohlverdiente Urlaub auf sie wartete. Kommandant Herris handelte ganz offensichtlich gegen die Instruktionen der Interplanetaren Kommission (I. K.), wonach jedes Schiff „auf kürzester Strecke mit größter Geschwindigkeit“ zu seinem Einsatzort zurückzukehren hatte. Jetzt kam Herris durch die Druckkammer in den Kontrollraum. Er atmete heftig; die Luft des Mars war dünn und kalt. Für einen Menschen ohne Raumanzug war das Betreten dieses Planeten immer wieder ein Experiment. Aber die geringe Dichte der Atmosphäre wurde ein wenig durch die schwächere Gravitation ausgeglichen, die den Energieverbrauch herabsetzte. Kommandant Herris trug ein befriedigtes Lächeln zur Schau. „So, meine Herren!“ sagte er kurz, während er eine kleine Botanisiertrommel, die an einem Riemen um seine Schulter hing, abnahm. „Wir können sofort starten. Vielen Dank dafür, daß ihr so geduldig meine – Launen ertragen habt!“ Der sarkastische Tonfall seiner letzten Worte hinderte den Ersten Steuermann Jackson, seine beabsichtigte Frage auszusprechen. Es war schon ein gewisser Unterschied, ob man sich so etwas vorgenommen hatte – oder ob man es auch ausführte, wenn man Herris so vor sich stehen sah. 8
Herris war ein rauher und unberechenbarer Typ, impulsiv in seinen Handlungen. Er hatte anscheinend schon bemerkt, daß der Steuermann etwas sagen wollte. Er warf Jackson einen scharfen Blick zu. „Sie halten uns auf, Bester! Sie sollten wissen, genau so gut wie ich, daß jeder Zeitverlust unersetzlich ist. Wir haben genau 7 ½ Stunden Verspätung.“ „Jawohl!“ stimmte Jackson zu, ärgerte sich jedoch im nächsten Augenblick höllisch über die Worte seines Vorgesetzten. Er legte den Hebel der Bordsprechanlage um. „Fertig zum Start! Maschinen klar!“ „Maschinen klar!“ kam kurz darauf die Stimme des Maschinisten aus dem Raketenraum. Etwas leiser folgte der Zusatz: „Wird auch langsam Zeit!“ Herris hatte die letzten Worte gehört, sagte aber nichts. Er hatte nur Interesse für seine Botanisiertrommel, die er auf einen Tisch gestellt hatte. „Haben Sie den Kurs zur Erde festgesetzt und berechnet, Baines?“ fragte er den Navigator, ohne sich auch nur umzublicken. „In Ordnung! Wenn wir dem Raumquadranten 6 folgen, brauchen wir keine Störung durch die anderen Schiffslinien zu befürchten.“ „Ja – natürlich!“ Herris warf ihm einen kurzen Blick zu. Er schien sich bewußt zu werden, daß er auch noch Pflichten als Kommandant hatte. Mit einer ungeduldigen Bewegung durchschritt er den Raum und begab sich zur Instrumententafel. Die Ventile und die Hauptluke wurden geschlossen. Dann sprach er in das Mikrophon: „Wie weit sind Sie, Hawkins?“ „110 – Super, Captain!“ „Gut! Los denn! Steigdüsen – volle Kraft: 5 – 4 – 3 – 2 – los!“ 9
„Volle Kraft!“ Herris sank in den Andrucksitz und wartete. Er hatte den roten Hebel herumgelegt. Der „Teufelsaufzug“, wie die alten Raumfahrer es nannten, begann. Es war nichts anderes als die immer wieder nötige Beschleunigung beim Start, mit der die Gravitation überwunden werden mußte. Je größer der Planet, von dem man sich trennen wollte, desto größer die Geschwindigkeitsbeschleunigung. Im Falle Mars war es nicht so schlimm. Trotzdem begann Herris zu schwitzen, als er den roten Hebel Zahn für Zahn vorschob. Auch die beiden Männer, die neben ihm saßen – oder besser: lagen –, verloren alle Farbe. Endlich war die benötigte Höchstgeschwindigkeit erreicht. Mit flammenden Düsen raste der Frachter von der Wüste des Mars hoch und schwang sich in den unendlichen Weltenraum – hinein in den nackten Glanz der Sonne, in das erbarmungslose Geflimmer der Sterne. „Erhöhen auf 15 Atmosphären!“ befahl Herris ins Mikrophon. „Chef, das ist zu gefährlich! Der Druck –“ „Sie haben meine Anordnung gehört, Hawkins. Wir haben Zeit genug, um nach und nach zu erhöhen.“ „15 Atmosphären!“ meldete der Lautsprecher. Herris legte den Hebel um. Ein Sonnenstrahl, vom Bildschirm reflektiert, streifte kurz die harten Linien seines Gesichtes. Mühsam versuchte er, sich aus seinem Sitz zu erheben. Der steigende Andruck preßte ihn mit aller Gewalt nach unten. Unter Anstrengung aller seiner Kräfte gelang es ihm endlich, langsam hochzukommen. Da trafen ihn die vorwurfsvollen Blicke seines Steuermanns Jackson. „Übernehmen Sie, Jackson!“ sagte Herris ungerührt. „Ich gehe in die Kabine und trage ins Logbuch ein. Mit 15 Atmosphären erhöhen bis zwei Millionen. Dann umschalten auf konstante Geschwindigkeit und automatische Kontrolle.“ „In Ordnung!“ 10
Jackson fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und richtete sich auf. Schwerfällig zog er sich an einem Griff hoch und wandte sich der Schalttafel zu. Als er sah, daß Herris nach der Botanisiertrommel griff, gab er sich einen Ruck und drehte sich um. „Da ist etwas, was – ich Sie fragen möchte.“ „Ja?“ Herris hob seine Augenbrauen. Seine Pupillen blickten starr auf den Mann. „Diese Abstecher zum Mars – haben sie einen besonderen Zweck?“ „Eine seltsame Frage, wenn man bedenkt, daß sie an den Kommandanten dieses Schiffes gerichtet ist.“ „Es tut mir leid, wenn ich respektlos erscheine. Ich bin der Sprecher der Mannschaft und nach Ihnen der nächste im Rang. Nehmen Sie ruhig an, daß mich die anderen beauftragt haben.“ „Achten Sie lieber auf Ihre Kontrollhebel, Jackson. Sonst ist es besser, wenn Baines Ihre Aufgabe übernimmt.“ Jackson schien irritiert zu sein. Baines erfaßte die Situation und kam ihm zu Hilfe. „Los, Dick!“ murmelte er. „Ich vertrete dich schon solange!“ Jetzt, da er seine Aufmerksamkeit nicht mehr der Führung des Schiffes widmen mußte, fühlte sich Jackson freier. Unbeholfen bekämpfte er die heftige Schwerkraftserscheinung und näherte sich langsam Herris, der stehengeblieben war und die Botanisiertrommel an dem Lederriemen in der Hand hielt. „Ich nehme an, daß dieses Ding hier“ – er hob den Behälter ein wenig an – „Ihnen einiges Kopfzerbrechen bereitet hat?“ „Stimmt. Aber nicht nur mir, sondern uns allen. Auf unserer letzten Fahrt machten wir denselben Umweg. Ich glaube, daß wir ein gewisses Recht haben, um eine Auskunft zu bitten. In unserem Kontrakt steht nichts von Umwegen, die wir nur Ihrer Launen wegen – so war doch wohl das Wort – machen müssen.“ Kommandant Herris grinste. 11
„Sie haben Nerven, Mann! Fragt seinen Kommandanten nach den Beweggründen seines Handelns! – Unterbrechen Sie mich nicht! Ich gebe Ihnen ja recht, keine Sorge! Ich hatte sowieso die Absicht, euch alles zu erklären. Sie kommen mir also nur entgegen. Sobald die automatische Kontrolle eingeschaltet ist, bitte ich Sie, Baines und Hawkins in meine Kabine. Ich habe Ihnen eine interessante Neuigkeit mitzuteilen.“ „Sehr wohl!“ sagte Jackson steif. „Ich habe immer gehofft, daß Sie uns die Gründe dieser merkwürdigen Flüge zum Mars mitteilen könnten.“ „Worauf Sie sich verlassen können!“ Immer noch vor sich hin grinsend, verließ Herris den Kontrollraum. Die Büchse baumelte an seiner Seite. Vorsichtig ging er den Gang entlang, der zu seiner Kabine führte. Der Steuermann sah ihm nachdenklich nach und blickte dann fragend auf Baines. „Irgendeine Idee, Jeff?“ „Nein! Warten wir ab, was er uns erzählen wird.“ Jackson unterrichtete Hawkins durch das Telefon, daß der Chef ihn in seiner Kabine erwarte, sobald die „Automatik“ eingeschaltet sei, also in ungefähr einer Stunde. Die Mannschaft war von diesem Zeitpunkt an zur Untätigkeit verurteilt. Ohne weitere Führung eilte dann das Schiff mit gleichbleibender Geschwindigkeit durch den Raum. Nur ein einziger Mann mußte auf der Wacht sein und Alarm geben, sobald ein Weltkörper, Asteroid oder Meteoritenschwarm die Flugbahn kreuzte. Zwischen Mars und Erde kam das gelegentlich schon mal vor. * Jackson, der Erste Steuermann, führte die Männer an. Er klopfte leicht an Herris’ Tür. „Kommen Sie herein, meine Herren!“ 12
Ein ungewohntes Bild bot sich ihnen. Auf dem mittleren Tisch standen eine geschlossene Flasche Champagner und vier leere Gläser. Herris stand vor dem Bullauge. Die Sterne umrahmten seinen Kopf wie ein Diadem. „Setzen Sie sich bitte, meine Herren! Machen Sie es sich bequem!“ Das Trio blickte sich stumm an. Endlich schlossen sie die Tür und taten, wie man ihnen geheißen hatte. Was war nur in Herris gefahren? Es war ihnen nicht erinnerlich, daß er jemals zuvor derartige menschliche Regungen gezeigt hätte. Nie hatte er auf die nötigen Formalitäten verzichtet. „Wenn unser Luftvorrat nicht so begrenzt wäre“, sagte er nun, „gäbe ich euch mit besonderer Freude die Erlaubnis zum Rauchen. Na ja, als arme Raumfahrer müssen wir eben mit Sekt vorliebnehmen!“ In seiner Stimme schwang eine leichte Ironie. Er drehte sich um, griff nach der Botanisiertrommel, die an einem Haken an der Wand hing, und stellte sie mitten auf den Tisch. Wie ein Zauberer, der einen Trick vorführt, öffnete er den Deckel und hielt die Dose so, daß jeder der Männer einen Blick hineinwerfen konnte. Zu ihrer Überraschung sahen sie eine Glaskugel, an der Miniaturluftpumpen angebracht waren, die von einer kleinen Batterie gespeist wurden. Das war noch nicht alles. In der Kugel befand sich ein Schmetterling, der verzweifelt hin und her flatterte und zu entkommen versuchte. „Überrascht?“ fragte Herris trocken. „Das habe ich mir gedacht. Vor Ihnen befindet sich nämlich ein Exemplar des einzigen auf dem Mars befindlichen Lebewesens, ein Dalokiv. So nennen es die Berichte der Forscher. Es ist bekannt, daß dieses Tier nur einen einzigen Tag lebt, unter normalen Umständen. Die Marsrotation ist der irdischen fast gleich. Doch was ich Ihnen sagen wollte, meine Herren: Dieses Exemplar lebte schon 13
bei unserem vorigen Besuch auf dem Mars – und es lebt auch jetzt noch.“ „Sehr interessant!“ kommentierte Jackson mit verstörter Stimme. Er blickte verstohlen zu seinen Kameraden hinüber. Es war offensichtlich, daß jene den gleichen Gedanken hatten wie er: Der „Alte“ war verrückt geworden. Er hatte die Kosmosis, eine Krankheit, die jeden Raumfahrer mal befallen kann. Sie wurde hervorgerufen durch die kosmischen Strahlen, die ohne Unterbrechung durch den Raum kamen und auch das widerstandsfähigste Gehirn beeinflussen konnten. „Nein, ich bin es nicht!“ sagte Herris, der ihre Gedanken erriet. Er setzte sich zu ihnen an den Tisch. „Ich bin weder irrsinnig, noch bin ich ein Schmetterlingssammler. Das habt ihr doch gemeint?“ „Nun – äh –“ Jackson zögerte und räusperte sich. „Hört zu!“ fuhr Herris fort. „Ich bin ein skrupelloser Mann. Ich habe nie allzuviel Bedenken gehabt, wie vielleicht manch anderer Mensch. Ich bin hart – wie alle Männer, die diese langen Fahrten durch den Weltraum machen müssen. Der Gedanke, mein Leben lang Frachten durch den Raum befördern zu müssen, bis man mich eines Tages pensioniert, brachte mich auf die Idee, nach einer Gelegenheit zu suchen, mit der schnell und sicher Geld zu verdienen ist. Dort ist sie, diese Gelegenheit – in jener Botanisiertrommel!“ Die drei Männer starrten verständnislos auf die geöffnete Dose. „Ein Marsschmetterling soll Sie reich machen?“ fragte der Navigator. „Verzeihen Sie – ich kann Ihren Gedankengängen nicht so ganz folgen. Das müssen Sie uns etwas näher erläutern.“ „Dann gebt mir wenigstens Gelegenheit, es euch zu erklären!“ knurrte Herris unwillig. „Ich möchte aber vorher noch bemerken, daß wir alle Formalitäten jetzt beiseite lassen wollen. Wir sind nichts anderes als vier Geschäftsmänner bei einer Besprechung. Redet, wie ihr wollt und wie euch der Schnabel gewachsen ist. 14
Ich bin weder der Kommandant, noch seid ihr meine Mannschaft. Ihr könnt mir vertrauen. Ich habe euch besonders deswegen herausgesucht, weil ich glaube, daß ihr Skrupel genau so wenig kennt wie ich.“ „Danke!“ sagte Jackson trocken. „Ich meine es ernst. Vergeßt nicht, daß ich ausreichend Gelegenheit hatte, über jeden meiner Männer eine ausführliche polizeiliche Auskunft zu erhalten. Außerdem: Wäret ihr sonst auf so einem lausigen alten Frachter, wie dies einer ist? Nur Tramps fahren auf Trampschiffen!“ Er machte eine Pause und blinzelte ihnen zu. „Ihr fahrt auch nicht ohne Grund diesen monotonen Trip Erde – Venus und zurück, immer wieder mit Früchten, Holz und Mineralien – bloß weil ihr Spaß daran habt. Also hört zu!“ Herris lehnte sich ein wenig zurück und fuhr fort: „Mars ist an sich kein Landeplatz für Raumfahrer und Frachter, bestimmt aber nicht für Geschäftsleute. Die Haupttouren führen zur Venus, die sowohl für Touristen wie auch für die Siedler interessant ist. Mit anderen Worten: Der Mars gilt als tote Welt und wird als nutzlos betrachtet.“ Die Männer nickten nachdenklich. „Gut also. Hat schon mal jemand von euch Crawfords „Geschichte des Mars“ gelesen? Er war der erste Mensch, der den Mars erreichte. Er fand Spuren von Leben und Zivilisation, die einst auf dem roten Planeten existierten. Inzwischen ist jedoch durch den Eisenstaub der rötlichen Wüsten alles restlos ausgelöscht.“ „Ich habe mal angefangen, sein Buch zu lesen, bin aber nicht fertig geworden“, sagte Jackson. Die beiden anderen Männer schüttelten den Kopf. „Keiner hat es jemals richtig gelesen, sonst hätten sie nämlich das gleiche gemacht wie ich: nachgedacht!“ Herris beugte sich nach vorn und sah die Männer an. 15
„Crawford war nicht nur ein guter Raumpilot, sondern auch ein großer Gelehrter. Es gelang ihm nämlich, die gefundenen Schriftzeichen der alten Marsianer teilweise zu entziffern und zu übersetzen! Es war die grausame Geschichte des Kampfes einer ganzen Welt gegen den langsamen, aber sicheren Untergang. Die Luft wurde dünner, das Wasser knapper; unendliche Wüsten bildeten sich. Um es kurz zu machen: Verzweifelt suchten sie nach einem Mittel, das ihren Tod hinausschieben sollte – und fanden dieses Mittel tatsächlich!“ „Meinen Sie – ein Mittel gegen den Tod?“ „Ich sagte nur etwas von „hinausschieben“, von „Leben verlängern“. Das ist ein kleiner Unterschied, Baines. – Was es allerdings war, das wußte auch Crawford nicht herauszufinden. Seine Berichte enthielten keinerlei Formeln. Es wurde nur gesagt, daß es eine Flüssigkeit sei und daß es zur Zeit des Ablebens des letzten Marsianers in noch verhältnismäßig großen Mengen vorhanden gewesen sein müsse. – Nun, sagt Ihnen das wenigstens etwas, meine Herren?“ Das Schiff fiel durch die Unendlichkeit des Raumes. Schon erblickten sie durch die runde Luke eine schimmernde grüne Welt, die immer näher kam und größer wurde. Endlich sagte Jackson: „Die einzige Flüssigkeit, die in beträchtlichen Mengen vorhanden war und es noch ist, sind die Polarozeane des Mars und die Kanäle, die den Planeten durchziehen.“ „Richtig!“ Herris ließ seine Faust hart auf den Tisch fallen. „Meine Schlußfolgerung war die gleiche. Ich überlegte, ob es möglich sei, daß das Wasser der Marsozeane, das ja nicht salzig ist, wirklich lebensverlängernd wirken sollte. War das Wasser vielleicht durchsetzt von einer Substanz, die man damals hergestellt hatte? Es gibt ja auch auf der Erde heilende und kräftigende Wasser. Warum sollte das auf dem Mars nicht der Fall sein – wo man doch annimmt, daß die ausgestorbenen Bewohner uns 16
wissenschaftlich eher überlegen als gleichwertig waren? Was bei uns von Natur aus vorhanden war – vielleicht hatten sie es synthetisch hergestellt.“ „Deshalb also machten Sie die Abstecher zum Mars – um das herauszufinden?“ fragte Baines. „Allerdings! Bevor ich das tat, erfuhr ich noch aus Crawfords Berichten, daß auf dem Mars ein Schmetterling existiere, der nach dem Ausschlüpfen nur 22 bis höchstens 28 Stunden lebe. So entwickelte ich meinen Plan, fundiert auf nichts anderem als auf Vermutungen, Angenommen also, die Marsgewässer oder das, was von ihnen übriggeblieben ist, hätten die Eigenschaft, das Leben zu verlängern: Wenn es damals so war – warum sollte es heute anders sein? Man hatte den Mars und sein Wasser bisher nicht beachtet. Nur deswegen kam noch keiner auf die Idee. Das ist alles! Wenn es also so wäre, dann eröffneten sich für uns die ungeheuersten Möglichkeiten. Wie aber sollte man einen Versuch machen? Sollte ich selbst von dem Zeug trinken? Ich müßte ja dann viele Jahre lang warten, um die Richtigkeit meiner Vermutungen bestätigt zu sehen. Da versuchte ich es also mit diesem Schmetterling, der ja normalerweise nur einen Tag lebt.“ „Das also taten Sie auf dem Mars“, murmelte Hawkins vor sich hin. „Ja, das tat ich! Auf unserem ersten Flug zu dem roten Planeten brachte ich diesen Käfig mit, den ihr in der Trommel seht. Ich fand einen Schmetterling und sperrte ihn ein, nachdem ich ihm vorher einige Tropfen Wasser eingeflößt hatte. Dann ließ ich den Glaskasten zurück. Ich hatte eine Menge Sand hineingetan. Daraus entnehmen sie ihre Nahrung, indem sie mit ihren kräftigen Beißwerkzeugen die Körnchen zerkleinern. Ich mußte die Antwort auf alle meine Fragen bekommen, wenn ich Monate später wieder zurückkäme. Ich bekam die Antwort. Hier ist sie: Der Schmetterling lebt immer noch!“ 17
Mit erwachendem Interesse starrten die Männer auf das ängstlich hin und her flatternde Tier. Jackson war der einzige, der eine logische Frage stellen konnte. „Wie kommt es denn, daß das Tier sonst kein Wasser trinkt? Es könnte dann doch sein Leben verlängern. Oder trinkt es nie?“ Etwas ungläubig schüttelte er seinen mächtigen Kopf. „Nein! Den Berichten Crawfords nach absorbieren die Schmetterlinge die Feuchtigkeit aus der Atmosphäre, die natürlich völlig normal ist. Wasserdampf auf dem Mars ist sehr dünn und minimal, aber für die Insekten genügt es. Nein, durch das Trinken des Wassers wurde das Leben dieses Schmetterlings verlängert. Das bedeutet, meine Herren“ – Seine Augen leuchteten. Er blickte die Männer fest an –, „daß wir ein einmaliges Verkaufsobjekt in Händen haben. Wir alle können damit unser Glück machen.“ Ein allgemeines Schweigen folgte seinen Worten. Jackson, Baines und Hawkins starrten nachdenklich auf den kleinen Schmetterling. Sie strengten ihren Geist mit Kalkulationen an. „Ich hätte das Geheimnis auch für mich behalten können“, sagte Herris endlich. „Ihr seht also, daß ich großzügig bin.“ „Nein, so ist das auch wieder nicht!“ gab Jackson ihm unverblümt zur Antwort. „Sie wissen ganz genau, daß es unmöglich ist, Wasser vom Mars zur Erde zu bringen, wenn Sie keine Vertrauten und Helfer haben. Selbst wenn Sie wollten, Kommandant Herris, könnten Sie gar nicht anders handeln.“ Herris grinste. „Kluger Junge, Jackson! Sie vergessen aber auch nichts! Gut – ich brauche euch also für das Geschäft. Je eher wir beginnen, um so besser für uns. – Nun?“ „Wie, zum Teufel, sollen wir das anfangen? Die Interplanetare Kommission stiege uns aufs Haupt, und wir flögen sofort 18
aus dem Dienst. Womöglich richtete man uns auch hin, wenn wir gegen die Gesetze verstießen.“ „Du lieber Himmel!“ knurrte Herris ungeduldig. „Glauben Sie vielleicht, ich meldete unser Geschäft an? Keine Spur davon! Wie wurden denn in alten Zeiten Haschisch und Opium gehandelt? Nur durch Agenten und kleine Helfer, die für wenig Geld das Risiko auf sich nahmen. Wenn man sie schnappte, wußten sie von nichts. Wir haben schließlich ein ganzes Heer von Helfern, alle die Ausgestoßenen, die Armen, die Normalas – sie werden die Arbeit für uns tun! Die reichen Dickbäuche der Klasse der Intelligenzia werden jeden Preis zahlen, um ihr nutzloses Leben verlängern zu können. Hier liegt unsere Möglichkeit, unsere einmalige Gelegenheit zu einem grenzenlosen Reichtum.“ Herris klopfte auf den Tisch. „Wir dürfen sie nicht versäumen!“ „Hoffentlich haben Sie recht, Chef!“ murmelte Jackson. „Ich habe noch so meine Zweifel.“ „Die hatte ich zuerst auch. Aber ich habe mir alles reiflich überlegt. Lass’ dir von mir gesagt sein, Jackson: Die Sache geht bestimmt in Ordnung, sonst ließe ich mich bestimmt nicht darauf ein. Dann haben wir auch noch eine andere Sicherheit.“ Herris sah den Männern scharf in die Augen, als er fortfuhr: „Keiner von uns kann den anderen betrügen, ohne sich selbst zu vernichten.“ Als die Männer immer noch schwiegen, begann Herris, sie in allen Tonarten zu bereden. Er versicherte, daß er es leid sei, ewig so einen alten Frachter durch den Weltraum zu fliegen, für diese lächerliche Bezahlung. Jetzt böte sich eine einmalige Gelegenheit, dem allem ein Ende zu bereiten. „Alles, was wir dabei verdienen, wird durch vier geteilt“, entschied er. „Wir werden uns nur im All treffen, wo wir vor Überraschungen sicher sein werden. Verdammt, schließlich begehen wir ja kein Verbrechen! Wenn die Menschen ihr Leben 19
verlängern wollen, bitte – sollen sie es tun! Was die Interplanetare Kommission angeht“ – er machte eine wegwerfende Bewegung und griff zu der Champagnerflasche. „Wann holen wir das erste Wasser?“ fragte Jackson. Herris löste den Draht vom Kork. „Wenn die Herren es in Kauf nehmen wollen, daß wir eine Rüge bekommen, weil wir zu spät an unserem Bestimmungsort eintreffen, dann könnten wir sogleich zum Mars zurückfliegen und unsere drei Wassertanks füllen.“ „Ich mache mit“, erklärte Jackson eifrig. Anscheinend hatte er schnell seine Meinung geändert. „Unsere Verspätung erklären wir einfach mit einem Düsendefekt. Auf jeden Fall: Zurück zum Mars!“ Der Champagnerkork knallte gegen die Decke. Da die Geschwindigkeit des Schiffes eine normale Gravitation erzeugte, sprudelte die Flüssigkeit nicht schneller als gewöhnlich aus der Flasche. Grinsend füllte Herris die vier Gläser. „Auf unsere längst verstorbenen Urgroßväter auf dem Mars!“ rief er aus. „Sie hinterließen uns ein großartiges Erbe!“ * So wurden dann die Wasser des Mars zur Erde gebracht. Mit allen Raffinessen organisierte Kommandant Herris die illegale Einfuhr, mit dem Ziel, das Monopol in Händen zu behalten. Seine erste Verteilungsbasis war London (Nord), das im 21. Jahrhundert eine gewisse Ähnlichkeit mit dem damaligen Limehouse und Chinatown hatte. Hier hausten die Ausgestoßenen der menschlichen Gesellschaft, die flüchtigen Verbrecher und die vom geraden Wege abgewichenen Raumfahrer. Hier lebten Mörder, Bastarde, der Abschaum der Stadt. Sie haßten und wurden gehaßt – aber sie wollten leben. 20
Zu diesen Kreaturen begab sich Herris. Er richtete seinen Appell an sie – und endlich befahl er. Sorgfältig hatte er sich jene ausgesucht, die sofort in der Hinrichtungskammer gelandet wären, wenn man sie erwischt hätte. So schützte Herris sich vor Verrat. Auf der einen Seite wurde Herris der Diktator der Welt der Ausgestoßenen – andererseits blieb er der ruhige Kommandant eines Raumfrachters. Auch nicht der leiseste Hauch eines Verdachtes konnte ihn treffen. So gelangte das Marswasser in die Städte der Erde: kleine, schmale Phiolen mit versiegelten Verschlüssen. Ein geringer Farbzusatz ließ es nicht mehr so sehr nach Wasser aussehen. Langsam, aber sicher gelangten die Fläschchen in die Kreise der Intelligenzia. (Die Menschheit war in zwei Klassen aufgeteilt: in die der Intelligenzias und die der Normalas. Erstere arbeiteten nur geistig, während die Normalas körperlich arbeiteten und die Befehle der Oberschicht ausführen mußten. Unter den Normalas befanden sich genügend intelligente Menschen; aber Klassendünkel verhinderte ihr Fortkommen.) Frauen fielen zuerst darauf herein. Der merkwürdig süße Geschmack und der feine Duft, der ihnen beim Öffnen der Flasche entgegenströmte, lockten sie. Die Männer waren weniger daran interessiert, bis ihnen das Gerücht – von Herris vorsichtig ausgestreut – zu Ohren kam, diese Flüssigkeit verleihe „ewige Jugend“, verlängere das Leben um Hunderte von Jahren. War das nicht der uralte Traum der Menschheit? Die ewige Jugend! Der Umsatz stieg plötzlich sprunghaft in die Höhe. Die Herkunft des Wunderwassers war unbekannt und blieb im Dunkel. Aber die Tatsache seiner Existenz wurde allmählich bekannt. Die Interplanetare Kommission nahm sich des Falles an und drohte allen an diesem Schmuggel beteiligten Personen mit der Todesstrafe. Dadurch wurde das „Mittel gegen den Tod“ jedoch nur noch begehrter – und teurer. 21
Noch ahnte niemand, welch eine Riesenorganisation Herris gegründet hatte, sowohl auf der Erde, wo die Flaschen verteilt wurden, wie in den Dschungeln der Venus, wo Verbrecher und sonstige zweifelhafte Elemente damit beschäftigt waren, das vom Mars herangebrachte Wasser in die Phiolen zu füllen und zu versiegeln. Mit dem einstmaligen Opiumschmuggel konnte man dies wirklich nicht mehr vergleichen. Zu Herris’ Überraschung stellte sich bald heraus, daß dieses Wasser noch eine zweite Eigenschaft hatte, die das Geschäft noch mehr verbesserte. Diejenigen, die auch nur einmal davon getrunken hatten, gaben all ihr Gut und Geld, um eine neue Flasche zu erhalten. Wenn Umstände eintraten, die das verhinderten, dann – starb der Betreffende sehr bald, als ein Wrack, eine Ruine, aus der alle Kraft und Gesundheit wie weggeblasen zu sein schien. Diese Todesfälle verursachten der I. K. natürlich einiges Kopfzerbrechen. Sie kamen noch nicht auf die Idee, daß dieses neue Wundermittel an diesen Ereignissen schuld war. Es erschien ihnen allerdings seltsam, daß im Zeitalter der fortgeschrittenen Medizin Menschen unter diesen erschreckenden Umständen sterben konnten. Herris grinste, als er davon hörte. Er gab Anweisung, die Preise der kleinen Flaschen um das Doppelte zu erhöhen. Sie kosteten nun 1000 Pfund. Donnerwetter – das war ein Geschäft! Aber dieses Geschäft entglitt bald den leitenden Händen Herris’. Nicht nur die, die zuerst das Wunderwasser kauften, tranken es. Kinder versuchten es und schrien nach mehr. Freunde probierten nur einen Schluck – und sie wurden unheilbar süchtig. Ja – es verlängerte zwar das Leben, gab unvergängliche Kraft und Energie – aber nur dann, wenn man es regelmäßig trank! Nur ein Schluck und dann nichts mehr – das war mehr als fatal, es war sogar tödlich! 22
So standen die Dinge, als der Präsident der I. K. mit dem Gouverneur von England zu einer geheimen Aussprache zusammentraf. „Was sich da in verschiedenen Teilen des Landes abspielt, ist mir ein Rätsel“, bekannte Präsident Haslam Bax. „Soweit ich unterrichtet wurde, betreibt man einen illegalen Handel mit einer leichtgefärbten Flüssigkeit und behauptet, sie verlängere das Leben.“ Gouverneur Lester Irving gab keine Antwort. Er war ein großer, wuchtiger Mann, nicht ohne Intelligenz. Man sah ihm die Schwere der Verantwortung, die er zu tragen hatte, nicht an. Er kontrollierte Großbritannien und sämtliche Überseeländer. Er war klug, aber kein Wissenschaftler. „Der Verkauf dieser Flüssigkeit scheint wohlorganisiert zu sein“, fuhr Bax nüchtern fort. „Es gelang uns, eine Phiole von dem Zeug in die Hände zu bekommen. Wir analysierten es: 75% Wasser, 5% harmloser Farbstoff und 20% – irgend etwas Undefinierbares.“ „Etwas nicht zu Definierendes?“ Irving zog die Augenbrauen in die Höhe. „Ein unbekannter Stoff, Gouverneur. Er erscheint nicht unter den uns bekannten Elementen.“ „Haben Ihre Chemiker auch an die Elemente der ‚Inneren Welten’ gedacht – an Merkur, Mars und Venus?“ „Ja. Auch darunter war nichts Ähnliches zu finden.“ „Hm – und was, wünschen Sie, soll ich nun tun?“ „Geben Sie mir die Vollmacht, den Geheimdienst zu ermächtigen, jeden Süchtigen zu befragen: ob Normala oder Intelligenzia. Ohne Ihre Erlaubnis kann ich das nicht tun.“ Irving zuckte mit den Schultern. „Die Intelligenzia sind eine besondere Sorte von Menschen, Mr. Bax.“ „Das kann ich nicht ändern, Gouverneur. In ihren Reihen 23
sind allein in London Hunderte, bei den Normalas sicher Tausende, die unter dem Einfluß der mysteriösen Flüssigkeit stehen. Wer immer auch dahintersteckt – er erzielt illegal die ungeheuersten Gewinne. Wir müssen die Intelligenzia befragen, denn wir müssen die Wurzel des Übels herausfinden – um jeden Preis!“ Der Gouverneur schwieg. Bax wartete. Solch ein Ansinnen war bisher noch nie gestellt worden. Die Intelligenzia war über jeden Zweifel erhaben. Sie bestand nur aus Menschen, die auf Grund ihres überlegenen Geistes – und ihrer Beziehungen – leitende Stellen innehatten. Verbrechen oder Unmoral war ihnen schon seit zwanzig Jahren unbekannt. Die Normalas jedoch, einstmals die „Leute von der Straße“, waren noch mit allen Schwächen der früheren Menschheit behaftet. Die Kluft zwischen diesen beiden Klassen war groß, aber nicht unüberbrückbar. Ein Normala konnte bei entsprechender Veranlagung zur Intelligenzia hinüberwechseln, wenngleich das sehr schwer war. „Ich sehe keinen anderen Weg, um dem Problem zu Leibe gehen zu können“, sagte Bax, als der Gouverneur immer noch nachdenklich und stumm auf seinem Stuhl sitzen blieb. „Verzeihen Sie, Mr. Bax! Haben Sie bestimmte Beweise, daß sich auch in unserer Klasse schon Fälle der – der „Wunderwassersucht“ ereignet haben?“ „O ja, ich könnte Ihnen sogar Namen nennen! Aber das nützt uns auch nicht viel.“ „Warum begeben sich denn diese Menschen nicht zum Arzt, wenn sie feststellen, daß sie nach dem Genuß der Flüssigkeit krank werden?“ „Aus einem einfachen Grunde: Sie haben illegal gehandelt und wollen nicht entdeckt werden. Aber wir müssen sie entdecken. Das ganze Geschäft muß unterbunden werden. Es ist eine inter24
planetare Angelegenheit. Diese Flüssigkeit stammt nämlich nicht von der Erde.“ „Eigentlich sollte ich erst meinen Rat einberufen. Das nimmt jedoch zuviel Zeit in Anspruch“, sagte der Gouverneur nachdenklich. „Gut, Mr. Bax! Ich gebe Ihnen alle Vollmachten, die Sie benötigen. Melden Sie mir den Erfolg, bitte!“ „Darauf können Sie sich verlassen, Gouverneur. Und – vielen Dank!“
DIE ERDE IST ZU KLEIN Es vergingen einige Monate. Die ungezählten Agenten des Intelligenzia-Geheimdienstes hatten ganze Arbeit geleistet. Die Organisation des Kommandanten Herris war aufgeflogen, die Fabriken in den Venusdschungeln wurden beschlagnahmt, die Verteiler verhaftet. Herris, der sich immer so schlau und vorsichtig gedünkt hatte, stand mit Jackson, Baines und Hawkins vor den Schranken des höchsten Gerichtshofes der Welt. All sein Reichtum und seine Pläne waren zu Staub und Asche zerfallen. Die Argumente gegen die vier Männer waren so gewaltig und unwiderlegbar, daß sie nichts zu ihrer Verteidigung zu sagen hatten. Vier Tage später endete ein Traum von Reichtum und Macht in der Strahlkammer des Hinrichtungsgefängnisses. Damit war die leidige Angelegenheit noch lange nicht erledigt. Im Gegenteil – jetzt begann sie erst, kompliziert zu werden. Die nun bekannte Tatsache, daß das Lebenselixier nichts anderes als ganz gewöhnliches Marswasser war, verursachte eine heillose Verwirrung. Tausende von Menschen versuchten mit allen nur möglichen Mitteln zum Mars zu gelangen, um jenes
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Wasser zu holen. Die einen benötigten es, weil sie sonst einem qualvollen Tode verfallen wären, die anderen wollten, trotz aller Gefahren, ihr armseliges Leben verlängern. Die I. K. erklärte den Mars zum „verbotenen Planeten“ und stationierte Truppen auf ihm. Diesen war es aber unmöglich, jeden Flecken unter ständiger Kontrolle zu halten. So gelangte das lebensverlängernde – und auch tötende Wunderwasser immer wieder zur Erde. Manche hatten schon Vorräte, mit denen sie Hunderte von Jahren auskommen konnten. Ein wahnsinniger Durst nach diesem Wasser hatte die Erde ergriffen. Bald gab es keinen Kontinenten mehr, auf dem die Süchtigen nicht nach dem unentbehrlichen Naß lechzten. * Schon nach zwei Jahren entwickelte sich ein bisher noch nie dagewesenes Chaos. Die führenden Männer sahen ein, daß etwas Entscheidendes geschehen mußte. „Wir können nur ein einziges tun“, erklärte Gouverneur Irving. „Macht den Handel mit jenem Wunderwasser legal!“ Ein erstauntes Schweigen schlug ihm aus der riesigen Halle entgegen. Irving ließ sich nicht beirren. „Was sollen wir denn sonst machen?“ fragte er. „Zehntausende von Menschen kaufen, stehlen und verkaufen das Zeug. Raumschiffe fliegen zum Mars und holen es. Man mordet und erschlägt den Nächsten, um sich in den Besitz des unentbehrlichen Mittels zu setzen. Wir selbst sind machtlos und haben nicht genügend Polizei, um alle Räume überwachen zu können. Unter ihnen selbst befinden sich ja schon die Süchtigen. Wenn wir den Handel mit dem „Wasser des Mars“ erlauben, fallen alle Schwierigkeiten weg. Wer will, kann davon trinken. – Glauben Sie mir: Dies ist nicht mein persönlicher Standpunkt 26
allein. Ich habe mit Wissenschaftlern und Politikern aller Länder beraten. Sie denken genau so darüber.“ Verschiedene Delegationsmitglieder nickten leicht mit dem Kopf. Dann sprang ein Mann auf, den sie alle kannten: Vance Unthra, der Chef der Wissenschaftlichen Abteilung der I. K. Er war groß und schmal, hatte ein Herz, eiskalt wie flüssige Luft, und war leidenschaftslos wie ein Marmorblock. Ruhig blickte er sich um. „Ich glaube“, sagte er dann, „daß der Vorschlag des Gouverneurs der einzig vernünftige sein wird. Macht das Wasser des Mars zu einem legalen Handelsobjekt! Machen Sie sich auch, bitte, die Folgen eines solchen Schrittes klar: Finanzielle Vorteile für uns alle; denn der Mars steht unter irdischer Oberhoheit – das Ende aller Schmuggelei und Schwarzhändler – Verhinderung unübersehbar vieler Todesfälle. – Jeder kann es erwerben, wenn es zu einem angemessenen Preis auf den Markt kommt. Alle Schwierigkeiten wären damit behoben. Dies ist, meiner Meinung nach, der einzig mögliche Weg, um aus dem Dilemma herauszukommen. Außerdem verlängern wir das Leben der Menschheit, überlegen Sie sich diese Vorteile, ehe Sie zu Ihrer Entscheidung kommen!“ Die Versammlung hatte aufmerksam zugehört. Vance Unthra wußte, was er sagte. Er war auf allen Gebieten der Wissenschaft „zu Hause“ und für seine 40 Jahre ein Genie. „Mr. Unthra redet von der Verlängerung des Lebens“, warf der amerikanische Delegierte ein, indem er sich erhob. „Wird das wirklich so sein? Ich gebe zu: Wir können das erst in vielen Jahren feststellen. Ich gebe auch zu, daß Herris’ Experiment mit dem Schmetterling die Theorie zu bestätigen scheint. Wenn es aber wirklich so ist – warum starben denn die Marsbewohner aus? Sie hatten das Lebenselixier direkt bei der Hand, und zwar in unerschöpflichen Mengen, wenn man es nicht für etwas anderes 27
benutzte. Trotzdem verschwanden sie spurlos und starben aus. Kann uns Mr. Unthra das erklären?“ „Nichts einfacher als das!“ Unthra sah ruhig in die gespannten Gesichter der Männer. „Die Analyse ergab, daß das Wunderwasser einen Stoff enthält, der die Fähigkeit hat, den Zellenzerfall zu kontrollieren und sogar aufzuhalten. Je geringer der Zerfall, um so länger dauert das Leben. Die kosmische Strahlung fördert den Zellenzerfall. Das ist klar bewiesen worden. Lebende Zellen in den Weltraum gebracht und der Strahlung ausgesetzt, zerfallen in kürzester Zeit und sterben ab. Darum – so nehme ich als sicher an – starben auch die Marsianer. Als sich ihre Atmosphäre verdünnte, wurde auch die Ionenbarriere schwächer, und die kosmische Strahlung drang intensiver auf die Oberfläche. Trotz ihres Wunderwassers hielten ihre Zellen das auf die Dauer nicht aus. So starben sie dann eben dahin, als ob sie nie ein Lebenselixier gehabt hätten. Das ist meine Ansicht. Hier kann uns das nicht so schnell passieren. Unsere Heavysideschicht schützt uns noch viele tausend Jahre.“ Unthras kurze Rede hatte den Ausschlag gegeben. Nach kurzer Aussprache fiel die Entscheidung, den Handel mit dem Wunderwasser zu legalisieren. Eine Spezialtankerflotte sollte gebaut werden, um den Verkehr zwischen Erde und Mars aufzunehmen und für Nachschub zu sorgen. Der Mars sollte für Besucher wieder freigegeben werden. Alle Gewinne, die man aus dem Verkauf des Wassers erzielte, wollte man unter den Ländern der Erde gleichmäßig verteilen. So schien nun endlich doch alles in geregelte Bahnen gekommen zu sein. Die ganze Affäre konnte vergessen werden. Es gab jedoch noch einige Wissenschaftler, die weiter zu sehen vermochten als von heute bis morgen. 28
Bald schon suchten sie Unthra auf. „Haben Sie gar nicht bedacht, Mr. Unthra, daß Sie mit der Erlaubnis für die Menschen, länger leben zu dürfen, eine viel größere Gefahr heraufbeschworen haben, als es die jetzt überwundene jemals gewesen ist?“ Ein Kanadier hatte die Frage gestellt. Unthra wandte sich ihm zu, seine Unterhaltung mit einem Franzosen unterbrechend. „Welche?“ fragte er. „Übervölkerung, mein Freund! Ihr Plan wird den Tod zu einer Seltenheit machen. Wenn die Menschen nicht mehr sterben, wird sich bald eine furchtbare Situation ergeben – sehr bald schon, Mr. Unthra!“ Unthras Pupillen verengten sich eine Sekunde lang. „Hm – Übervölkerung? Das wäre tatsächlich möglich. Aber es ist das kleinere der beiden Übel und wird sich schon in erträglichen Grenzen halten. Wenn nicht, so werden wir auch damit fertig werden. Bis dahin haben wir die Planeten unseres Systems kolonisiert.“ „Ist das wirklich Ihre Überzeugung?“ fragte der Amerikaner, der neben ihnen stand. „Ich möchte eigentlich mehr unserem kanadischen Freund zustimmen. Wir begeben uns in eine große Gefahr!“ „Warum habt ihr denn für meinen Plan gestimmt?“ fragte Unthra ärgerlich. „Es ist nun mal passiert. Wir können nichts anderes tun, als abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln werden.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und schritt davon. Die Delegierten sahen sich an und schüttelten den Kopf. Die Mehrheit hatte für Unthras Plan gestimmt. Was sollte man machen? – Die Entscheidung löste bei ihrer Bekanntgabe einen großen Jubel unter den Menschen aus. Während die Monate vergingen, schien es sich zu erweisen, daß Unthras Vorschläge gerechtfertigt waren. Die Gesundheit 29
der Bevölkerung wurde gefestigter. Man trank das wunderbare Wasser wie zuvor den Alkohol. Die Finanzen der Länder besserten sich. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Beide Klassen, sowohl die Intelligenzia wie die Normala, hatten ihre Vorteile. Jedermann war glücklich. Die meisten der erstgenannten Klasse jedoch zogen es vor, nicht die abhängigen Sklaven der unbarmherzigen Medizin zu werden. Auch Vance Unthra war einer von diesen. Mit unverhüllter Verachtung blickte er auf jeden, der dem „Lebenstrank“ verfallen war. * Wieder vergingen fünf Jahre. Fast 75% der Menschheit hatten den Trank probiert und mußten ihn immer wieder nehmen, wenn sie nicht innerhalb kürzester Zeit unter qualvollen Umständen sterben wollten. Schon begann eine panische Furcht durch die Herzen der Süchtigen zu schleichen: Was mochte geschehen, wenn der Vorrat eines Tages versiegte? Die Wissenschaftler hatten angedeutet, daß dieser Tag in nicht mehr allzu weiter Ferne läge. Noch ein neues, schwieriges Problem warf seine ersten Schatten auf die verantwortlichen Regierungsstellen. Das Statistische Amt verfolgte besorgt das Ansteigen der Kurven. Eines Tages erschien der Chef bei Lester Irving. „Wenn die Heirats- und Geburtenziffern so bleiben wie bisher, dann haben wir in weiteren fünf Jahren die schlimmste Katastrophe, die je die Erde betroffen hat.“ Der Gouverneur sann vor sich hin. In solchen Momenten bedauerte er das fühlbare Fehlen einer wissenschaftlichen Vorbildung. „Wieso eine Katastrophe?“ fragte er endlich. „Übervölkerung! Mehr Menschen, als wir beschäftigen kön30
nen! Mehr Menschen, als wir Nahrung und Wohnungen haben! Sie werden um den Platz an der Sonne kämpfen müssen. Die uralten Instinkte werden wieder erwachen. Sie werden sich wegen eines Stückchen Brotes gegenseitig umbringen. Das Wunderwasser schützt nicht vor einer Kugel oder ähnlichen Mordinstrumenten. Vergessen Sie das nicht.“ „Die Kolonisation der Venus macht gute Fortschritte.“ „Es ist nicht meine Aufgabe, darüber zu diskutieren, Gouverneur. Es ist nur meine Pflicht, Sie auf eine drohende Gefahr aufmerksam zu machen. Sie müssen die weiteren Schritte unternehmen. Die Wurzel allen Übels ist das Ausbleiben von Gevatter Tod. In den vergangenen fünf Jahren ist die Sterblichkeit um 75% zurückgegangen.“ Der Gouverneur bewegte sich ungemütlich in seinem Sessel hin und her. „Ich danke Ihnen für Ihren Bericht. Ich werde ihn an die einzige Stelle, die jetzt noch helfen kann, weiterleiten: an die Wissenschaftler. Sie werden schon wissen, was zu tun ist!“ Der Statistiker ging. Der Gouverneur bat Vance Unthra, sofort zu ihm zu kommen. Fünfzehn Minuten später erschien dieser. „Nehmen Sie Platz, Mr. Unthra!“ Der Gouverneur zeigte auf einen Stuhl. „Ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.“ Unthra gab keine Antwort, sondern setzte sich. In seinen Augen flackerte es ein wenig fragend. „Der Chef des Statistischen Amtes war eben bei mir.“ Irving wiederholte den Bericht, den er soeben erhalten hatte. Unthra hörte zu, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er dann sagte: „Das ist die natürliche Folge der Legalisierung des Marswasserhandels.“ „Ja, wußten Sie denn das schon vorher?“ „Selbstverständlich!“ 31
Der Gouverneur schnappte nach Luft. „Warum – warum haben Sie dann den Plan befürwortet und ihm zugestimmt?“ „Eine besondere Krankheit benötigt besondere Mittel, Gouverneur. Zu jener Zeit – damals, vor fünf Jahren – gab es keinen anderen Ausweg. Sie selbst haben ja den Vorschlag gemacht, wenn ich mich nicht irre. Wie sagten Sie eben? Was meint der Statistiker? In fünf weiteren Jahren sei die Lage ernst und kritisch?“ „So sagte er allerdings.“ Unthra dachte einen Moment nach. Dann nickte er. „Das gibt uns genügend Zeit, um meinen Plan zur Ausführung zu bringen. Ich glaube allerdings, daß Sie ziemlich verwundert sein werden, wenn ich Ihnen meine Absichten erläutere.“ Der Gouverneur lächelte. „Ihr Wissenschaftler könnt mich nicht so schnell in Erstaunen versetzen. Ich nehme an, daß Sie beabsichtigen, die Leute in einem gewissen Alter zu töten, um so die Bevölkerungszahl wieder auf den normalen Stand zu bringen.“ „Nichts von alledem! Nur eine Andeutung davon – und wir hätten den schönsten Bürgerkrieg. Nein, ich schlage vor – und einige meiner Mitarbeiter stimmen mir da bei –, die größte Auswanderung der menschlichen Geschichte durchzuführen. Mit anderen Worten: Wir schieben alle diese willensschwachen Narren ab, die von dem Teufelswasser getrunken haben.“ „Sie meinen – Kolonisation? Sie zum Mars oder zur Venus schicken?“ Unthra schüttelte den Kopf. „Nein, das hätte keinen Zweck. Auf dem Mars haben sie das Wasser, das sie ja nicht mehr haben sollen. Die Venus ist noch zu wenig erforscht für eine solche Masseneinwanderung. Ganz abgesehen davon, daß die Süchtigen dort ohne weiteres stürben, wenn sie das Elixier nicht mehr hätten. – Nein, ich schlage die 32
Schaffung zweier künstlicher Planeten vor, beide ein wenig größer als der Mond und mit einer Kreisbahn um die Sonne, die zwischen der des Mondes und der des Mars liegt.“ Der Gouverneur starrte ihn fassungslos an. „Zwei Planeten? Wie sollte das möglich sein?“ „Es ist sogar sehr leicht möglich. Ich habe fünf Jahre an meinen Berechnungen gearbeitet und möchte behaupten, daß die Erschaffung zweier Planeten bei unseren heutigen Erkenntnissen kein Problem ist. Der Himmel selbst, der Weltraum, wird sie für uns bauen!“ Hier versagte der Verstand des Gouverneurs. Er zog es vor, keinerlei Fragen mehr zu stellen. Er wandte sich wieder den Dingen zu, die er eher begreifen konnte. „Hm – äh – also, Mr. Unthra, was diese beiden – äh – Planeten anbetrifft – Sie meinen also, man sollte alle Menschen, die jenes Wasser trinken, dorthin schaffen? Mehr als die Hälfte unserer –“ „Sogar 75% unserer Erdbevölkerung! Hier bleiben dann nur die, die noch nie von dem Wasser getrunken haben. Diese Menschen gehören fast alle zur Klasse der Intelligenzia.“ „Und – welchen Sinn soll das haben?“ verlangte der Gouverneur zu wissen. „Selbst auf diesen neuen Planeten – Sie tun so, als hätten Sie sie schon – wären die angesiedelten Menschen nicht besser dran, auch wenn sie weiterhin von dem Wunderwasser trinken dürften.“ „Sie dürfen nicht! Wenn die Umsiedlung beendet ist, wird dieses Wunderwasser verschwinden. Es ist zu einem Fluch geworden und muß verschwinden!“ „Dann werden jene Menschen alle eines furchtbaren Todes sterben. Nein, das kann ich nicht gutheißen und verantworten.“ Der bekannte Wissenschaftler hatte ein zynisches Lächeln um die Lippen. „Keine Sorge, Gouverneur. Die Planeten werden eine Atmosphäre haben, die dünn genug ist, um die Bildung einer stärkeren ionisierten Schutzhülle zu verhindern. Die kos33
mische Strahlung wird dort kräftiger als auf der Erde auf unsere Auswanderer einwirken. Das Endergebnis wird sein, daß sie eines Tages überhaupt keine Sehnsucht mehr nach ihrem ‚unentbehrlichen’ Wasser haben werden. Wenn doch: Durch die Strahlung werden Geburt und Tod von allein wieder in die normalen Bahnen gelenkt.“ „Das verstehe ich nicht“, stammelte der Gouverneur, sich in seinem Sessel zurücklehnend. „Dann will ich es Ihnen erklären. Sie erinnern sich vielleicht noch, daß ich auf dem letzten Internationalen Kongreß davon sprach, daß die Marsbewohner nur deshalb ausgestorben seien, weil die dünner werdende Atmosphäre die kosmische Strahlung stärker habe einfallen lassen. Diese Feststellung war völlig richtig. Ich habe aber damals noch nicht gewußt, daß die Einwirkung dieser Strahlen auf die menschlichen Zellen bewirkt, daß der Körper nicht mehr nach diesem Wasser verlangt, ganz gleich, in welchem Maße ein Mensch diesem Zeug verfallen gewesen sein mag. Ich habe in den vergangenen Jahren genügend Gelegenheit gehabt, diese Behauptung zu überprüfen und zu beweisen. Ich habe Süchtige in ungeschützten Raumschiffen der Weltraumstrahlung ausgesetzt. Sie waren dann nicht mehr süchtig. Allerdings starben sie später – nach drei Jahren etwa. Hätte ich sie draußen gelassen, lebten sie heute noch.“ Der Gouverneur gab keine Antwort. Er mußte die sachlichen Feststellungen des kaltblütigen Gelehrten erst verdauen. „Diese zwei von mir geplanten Planeten“, fuhr Unthra fort, „sollen durch eine entsprechende Atmosphäre genügend abgeschirmt werden. Allerdings nicht genug, um keine Raumstrahlung mehr auf die Oberfläche dringen zu lassen. Es wird gerade ausreichend sein, um die Menschen das Wunderwasser vergessen und sie wieder normal werden zu lassen. Es wird ihnen eine Zeitspanne von 50 bis 60 Jahren bleiben.“ 34
„Ja, ich verstehe jetzt, Mr. Unthra“, sagte der Gouverneur, obwohl sein Gesichtsausdruck das Gegenteil bewies. „Das bringt mich auf einen anderen Gedanken. Warum schicken wir unsere Süchtigen nicht einfach für gewisse Zeit in den Weltraum und lassen sie dann als geheilt zurückkommen? Damit wäre das ganze Problem gelöst.“ Unthra lächelte eigenartig. „Nach drei Jahren wären sie alle tot – auch eine Lösung! Nein, wir benötigten 15 Jahre dazu. Außerdem: Kämen sie geheilt zurück – wer sagt Ihnen denn, daß sie nicht doch wieder von dem Teufelszeug trinken werden, ob sie wollen oder nicht? Es ist doch nun einmal vorhanden. Nein, töten dürfen wir sie nicht, aber loswerden wollen wir sie. Dazu habe ich auch noch einen besonderen Grund!“ „Und der wäre?“ Der Gouverneur sträubte sich innerlich immer noch gegen Unthras Projekt. Vielleicht hatte er seine Gründe. „Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Gouverneur, welch herrliches Leben wir auf Erden führen könnten – ohne diese Unerwünschten und Ausgestoßenen, ohne die Unintelligenten und Verbrecher? Wir könnten heute in einem Paradies sein, in einem wissenschaftlichen Paradies!“ Eine dunkle Ahnung dämmerte dem Politiker von den wirklichen Plänen des Gelehrten. In plötzlich erwachendem Interesse beugte er sich vor. „Ein wissenschaftliches Paradies, meinen Sie?“ „Ganz recht, für jeden von uns!“ Unthra lehnte sich zurück, die Fingerspitzen aufeinandergelegt und die Augen geschlossen. „Ein erhabener Staat, in dem wir unsere ganze Zeit dem Denken und Meditieren widmen können, ohne durch die Belange der Menschenmasse gestört zu werden.“ „Könnte sein“, runzelte der Gouverneur die Stirn und sah ein wenig verstört aus. 35
Unthra öffnete seine hellen Augen. „Ich habe jetzt nicht die Zeit, um Ihnen das ausführlich erklären zu können. Ich werde auf einer großen Versammlung der Wissenschaftler und Politiker meinen Standpunkt noch vertreten. Nur soviel möchte ich Ihnen schon heute verraten: Wir müssen diesen Planeten von allen unnützen Menschen befreien und nur die Intelligenten hierlassen, die den Fortschritt wünschen und der Wissenschaft ergeben sind. Alle anderen sollen nach ALPHA und OMEGA verbannt werden.“ „Auf die zwei künstlichen Planeten?“ stotterte der Gouverneur. „Richtig! Anfang und Ende eines großes Experimentes! Wie ich beabsichtige, diese beiden neuen Weltkörper zu schaffen, erkläre ich Ihnen heute abend, wenn Sie zu mir in mein Hauptlaboratorium kommen wollen. Ich werde alle brauchbaren Wissenschaftler benachrichtigen und rate Ihnen, die Regierungshäupter der Welt zu bitten, ebenfalls anwesend zu sein. Aber alle!“ Der Gouverneur nickte. Unthra erhob sich. Auf seinen Zügen lag ein merkwürdiger, zynischer Ausdruck. „Für jemand, der mit unter den Emigranten sein wird, lassen Sie es eigentlich an Opposition mir gegenüber fehlen, Gouverneur.“ Lester Irving starrte ihn an. „Warum sollte ich einer der – Emigranten sein?“ „Weil Sie ein Süchtiger des Lebenselixiers sind!“ „Dafür fehlen Ihnen die Beweise! Sie haben keine –“ „Ich habe alle Beweise! In den vergangenen fünf Jahren haben meine Agenten nicht geschlafen. Jeder – aber auch jeder – ist erfaßt, der nur ein einziges Mal von dem Wasser trank. Das war eine notwendige Maßnahme, damit keiner vergessen wird – wenn die Zeit gekommen ist!“ „Sie vergessen, daß ich ein Mitglied der Intelligenzia bin. Ich bin der Gouverneur von –“ 36
„Sie sind ein Süchtiger!“ Schwer hingen die Worte in dem Raum. Dann nickte Unthra langsam mit dem Kopf und ging zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um. „Ich erwarte Sie heute abend um 8 Uhr, Gouverneur.“ Die Tür schloß sich. Irving blieb allein zurück. Sein erster Gedanke war, Unthra durch die Militärpolizei verhaften zu lassen. Aber er ließ ihn gleich wieder fallen. Unthra war ein mächtiger Mann. Die Wissenschaftler standen alle auf seiner Seite. Es war nutzlos, diesem Manne drohen zu wollen. „Der Himmel verfluche ihn!“ Der Gouverneur nahm die Hand vom Wählerknopf seines Visifons und dachte nach. Es blieb ihm nur ein einziger Weg: Wenn es zur Abstimmung kam, mußte er dagegenstimmen und die Politiker ebenfalls dazu veranlassen. Er glaubte selbst nicht an einen Erfolg. Die Welt war wirklich schon zu sehr übervölkert. Der Gouverneur hatte das Gefühl, tiefer und tiefer in einen Sumpf zu sinken. Vance Unthra aber wäre der letzte, ihn daraus zu befreien.
DAS GROSSE EXPERIMENT Der Gouverneur raffte seinen ganzen Mut zusammen und erschien zur angegebenen Zeit im Hauptlaboratorium, das im Gebäude der Wissenschaftlichen Abteilung untergebracht war. Hier war Vance Unthras Hauptquartier. Von hier aus regierte und kontrollierte er – angefangen bei der Energieversorgung und der konzentrierten Nahrung für die Menschen bis zur Überwachung des Individuums. Eine Reihe führender Wissenschaftler war bereits anwesend,
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als Irving erschien. Außer Unthra bemerkte er bekannte Experten der Astronomie, Biologie, Radiophysik und anderer Wissensgebiete. Ein wenig erleichtert blickte er zu den Gestalten einiger Politiker hinüber, die aus allen Teilen der Welt gekommen waren. Der Gouverneur nickte ihnen leicht zu, während er weiterschritt. Vorsichtig hielt er sich dabei von den Wissenschaftlern fern, vor denen er eine tiefverankerte Furcht empfand, weil sie mit Kräften jonglierten, die jenseits seines Begriffsvermögens lagen. Plötzlich trennte sich Unthra von seinen Kollegen und stieg auf ein kleines Podium. Hinter ihm befand sich auf einem riesigen Tisch ein merkwürdiges, aber ohne weiteres erkennbares Modell. Es bestand aus einer großen Kugel, nicht weit davon entfernt schwebten zwei kleinere Kugeln, und dicht daneben eine dritte, noch etwas kleiner im Durchmesser. Was das nun bedeuten sollte, war dem Gouverneur und seinen politischen Freunden nicht klar. Sie wußten nur, daß sie einem Plane Unthras nicht allzu schnell zustimmen wollten. „Lassen Sie mich mit der Feststellung beginnen“, leitete Unthra seine Ausführungen ein, „daß meine Behauptungen, die ich aufstellen werde, keine Utopien oder bloße Theorien sind. Sie sind vielmehr das endgültige Ergebnis jahrelangen sorgfältigen Forschens, zusammen mit meinen geschätzten Kollegen. – So – und nun zu meinem Plan. Ich habe heute vormittag unserem verehrten Herrn Gouverneur erklärt, daß zwei synthetische Planeten –“ „Meine Freunde sind über unsere Unterredung genauestens orientiert“, unterbrach der Gouverneur kurz. „Ausgezeichnet! Das erspart uns eine Menge unnötiger Erklärungen.“ Er zeigte auf das Modell. „Hier sehen Sie die Stellung der beiden Planeten im Weltraum. Der große ist die Erde, der ganz kleine der Mond. Dies hier sind die beiden Planeten ALPHA und OMEGA, etwa anderthalbmal so groß wie der 38
Mond, genau wie auf dem Modell. Sie haben einen ungefähren Durchmesser von 4000 Meilen.“ Die Politiker nickten. Bisher waren keine besonderen Kenntnisse erforderlich, um Unthras Ausführungen folgen zu können. „Sie werden bemerkt haben“, fuhr Unthra fort, „daß sie eine gewisse Stellung zueinander und eine Sonnenumlaufbahn haben, die zwischen der des Mondes und der des Mars liegt. Wir beabsichtigten zuerst, sie zwischen Erde und Venus zu praktizieren. Die zu starke Anziehung der Sonne entschied gegen dieses Projekt. So, wie es bei diesem Modell sichtbar wird – zwei und sieben Millionen Meilen von der Erde entfernt –, werden die beiden neuen Planeten von dem Gravitationsgewicht des Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun und Pluto gegen die Schwerkraftfelder von Erde, Venus, Merkur und sogar der Sonne ausbalanciert. Das Gleichgewicht unseres Sonnensystems wird nicht gestört. Dank der kosmischen Mechanik ist diese errechnete Stellung genau die, die notwendig ist, um die beiden Planeten bis in alle Ewigkeit auf ihrer vorgeschriebenen Bahn kreisen zu lassen, ohne daß wir uns um sie zu kümmern brauchen.“ „Also das gleiche System wie bei einer Raumstation, die durch das Gravitationsfeld und ihre eigene Fliehkraft gehalten wird?“ fragte einer der Politiker und bewies damit schon einige erhebliche Kenntnisse. „Genau so!“ stimmte Unthra bei. „Die Raumstation ist die Grundidee und zugleich der Beweis, daß zwei solche Welten, 4000 Meilen im Durchmesser, auf genau berechneten Bahnen die Sonne umkreisen können. Natürlich werden wir am Anfang mit einigen Störungen rechnen müssen – eine Überschwemmung hier, ein Erdbeben dort. Wenn aber innerhalb fünf Jahren nichts Ernsthaftes passiert, besteht absolut kein Grund zu irgendwelchen Befürchtungen, schon gar nicht für die anderen Planeten.“ 39
„Soweit konnten wir Ihren Ausführungen folgen“, warf Gouverneur Irving ein. „Aber wie wollen Sie die künstlichen Planeten erschaffen? Ich kann mir nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte!“ „Ihr Gehirn ist auch von keinerlei wissenschaftlichen Erkenntnissen beschwert, Gouverneur“, sagte Unthra trocken. „Ich bezweifle, ob Sie es überhaupt verstehen werden, wenn ich es erkläre. Na ja, vielleicht wissen Sie wenigstens, daß die Erde – wie alle Planeten unseres Systems – einen Kern aus Nickel und Eisen hat, flüssig durch den ungeheuren Druck, der von allen Seiten ausgeübt wird.“ Der Gouverneur und seine Freunde nickten zögernd. Das war sogar ihnen bekannt. „Um aber eine Kugel aus Nickeleisen zu konstruieren – gleiche Zusammensetzung wie der Erdkern –, benötigen wir noch nicht mal ein besonderes Laboratorium. Unsere Kenntnisse der Elementarverwandlung durch Atomzertrümmerung lassen es zu –“ „Sie wollen doch wohl nicht eine Kugel von 4000 Meilen im Durchmesser in einem Laboratorium herstellen?“ rief der Gouverneur und mußte fassungslos feststellen, daß die Wissenschaftler sich lächelnd zunickten. „Der Bau eines Laboratoriums, das die halbe Erdoberfläche bedeckt, ist allerdings nicht beabsichtigt“, bestätigte Unthra zynisch. „Wir beabsichtigen vielmehr, zwei Nickeleisenkerne zu schaffen, fünf Meilen Durchmesser und besonders magnetisiert. Wir stellen sie auch nicht auf der Erde her, sondern im Weltall – sogar an der Stelle, an der einst die Planeten sein werden. – Um einen Augenblick abzuschweifen. Sie sind sich doch darüber im klaren, daß der Weltraum nicht leer, sondern mit einem regelrechten Hagel von kleinen und kleinsten Bruchstücken kosmischen Ursprungs angefüllt ist. Unsere ersten Raumschiffe 40
wurden, wie Sie sich sicher noch entsinnen können, sehr davon betroffen, einige sogar zerstört. Dann wurde der Meadows-Robinson-Energieschirm erfunden. Jedes Schiff ist heute damit ausgerüstet. Kein Meteorit trifft mehr die Außenhülle einer Rakete, sondern nur noch dessen Kraftfeld, das ihn zurückschleudert.“ „Was hat das mit der Erschaffung der Planeten zu tun?“ verlangte der Gouverneur zu wissen. „Alles!“ gab Unthra zur Antwort. „Wir werden als erstes aus unserem Raumlaboratorium einen reinen Nickeleisenball in das Weltall stoßen, von etwa einem Meter Durchmesser. Er wird dank seiner verstärkten Anziehungskraft alle in seine Nähe geratenden Meteoriten anziehen. Während diese auf den Kern zufallen, werden sie durch unsere Mutationsströme, mit denen wir jede Atomgruppe beliebig verändern können, in Nickeleisen verwandelt. Der Originalball wird also der Ursprung eines rapide einsetzenden Meteoritenhagels, von der Staubpartikel bis zum faustgroßen Klumpen. Wir haben errechnet, daß er innerhalb eines Monats fünf Meilen Durchmesser haben wird. Damit ist der Kern des neuen Planeten geschaffen. Der Kosmos schafft den Rest. Mit dem zweiten ist es genau so.“ Einen Augenblick herrschte Schweigen im Saal. Der Gouverneur sah seine Kollegen an, als suche er Schutz. Unthra beobachtete ihn und lächelte irritierend. „Sie nehmen sicherlich an, das Projekt sei irgendwie unvollendet?“ „Ja – natürlich.“ Der Gouverneur blickte ihn ärgerlich an. „Wir haben zwar begriffen, wie Sie einen Nickeleisenball von fünf Meilen Durchmesser schaffen wollen – aber da fehlen noch die restlichen 3995 Meilen. Wo bleiben die denn?“ „Ich sagte schon, daß die Natur, der Kosmos selbst, uns helfen wird. In jenem Teil unseres Sonnensystems sind Meteoritenschwärme sehr häufig. Hinzu kommen die ungewöhnlich hohe 41
Anziehungsgewalt des magnetisierten Kernes und die Tatsache, daß keinerlei Atmosphäre die einfallenden Sternschnuppen pulverisiert. Wie ein Schneeball zu einer Lawine wird, so werden diese beiden Magnetkugeln in fünf Jahren einen Durchmesser von 4000 Meilen haben.“ „Das ist unmöglich!“ brüllte der Gouverneur, der sich plötzlich an eine Statistik zu erinnern glaubte. „Die Erde passiert so oft Meteoritenschwärme auf ihrer Bahn um die Sonne. Warum vergrößert sich denn ihr Durchmesser nicht um mehr als nur wenige Millimeter je Jahr?“ Um Unthras Lippen lag ein hämisches Grinsen. „Sie übersehen, Gouverneur, daß wir eine Atmosphäre haben, die 75% aller einfallenden Meteoriten vernichtet. Der Mond, der keine Lufthülle hat, nimmt jährlich um mehrere tausend Tonnen an Masse zu, nur durch auf ihn herabfallende Himmelskörper. Dabei nehmen wir ihm noch den größten Teil davon ab. Abgesehen davon, daß er keinen besonders magnetisierten Kern hat, wie unsere zukünftigen Planeten. Deren Kern wird aus Nickeleisen und Sauerstoff bestehen – 73 zu 27.“ „Mit anderen Worten“, bemerkte einer der Politiker überraschenderweise, „die alte Formel der Erzgesteine?“ „Ungefähr so“, stimmte Unthra bei. „Magnetisches Eisenoxyd, kombiniert mit reinem Nickel, bedeutet, daß jede Partikel von den Kernen angezogen und so eine Kruste von natürlichem Fels und Metall bilden wird. Ich muß zugeben, daß unsere Berechnungen falsch sein können und es ein wenig länger als fünf Jahre dauern kann, bis die Planeten die gewünschte Größe erreicht haben. Unsere Kalkulationen beruhen auf astronomischen und physikalischen Gesetzen. Der Enderfolg jedenfalls ist sicher; denn diese Gesetze sind nicht falsch.“ „Und Luft, Wasser oder Vegetation?“ fragte jemand. Unthra hob nur die Schulter. „Absolut kein Problem, wenn es erst mal soweit ist. Ich werde 42
Ihnen das schon erklären. Erde ist nur pulverisierter Felsen. Die Luft ist eine Frage der Anziehungskraft. Wasser ist ein wissenschaftliches Kinderspiel. Zuerst die Planeten! Das andere ist dann einfach. So, das wäre alles.“ „Werden diese Welten die gleiche Rotation wie die Erde haben?“ fragte der Gouverneur. Unthra schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Unsere Berechnungen ergaben, daß sich das mit der Bahn um die Sonne nicht vereinbaren läßt. Aus verschiedenen Gründen werden ALPHA und OMEGA eine Eigendrehung haben. Sie wird bewirken, daß immer dieselbe Seite der Sonne zugewandt sein wird. Die andere Seite wird in ewiger Nacht liegen.“ Der Gouverneur sah eine Chance. „Also ist Ihr Plan undurchführbar. Jeder Planet könnte ja nur zur Hälfte besiedelt werden; denn niemand kann auf der kalten Seite leben.“ „Man könnte das Problem durch künstliche Beleuchtung und Heizung lösen. Die Atmosphäre ist der beste Schutz für alle erzeugte Wärme. Diese beiden Welten haben zusammen den gleichen Durchmesser wie die Erde. Sie bieten also den Emigranten genügend Lebensraum.“ „Warum eigentlich zwei Welten?“ fragte ein anderer. „Warum nicht nur eine große?“ „Aus Gleichgewichtsgründen. Glauben Sie mir: Wir haben an alles gedacht! Der zweite Grund ist politischer Natur und gehört nicht hierher.“ Unthra warf einen Blick über die Staatsoberhäupter, fragend und suchend. „Noch irgendwelche Fragen?“ Zögernd schüttelte man den Kopf. „Gut – das also sind meine Vorschläge. Es liegt nun an Ihnen, 43
zu entscheiden, ob sie eine Antwort auf die drohende Übervölkerung sein sollen oder nicht.“ * Nach einer Pause von zehn Minuten, in der der Gouverneur eifrig mit seinen Kollegen debattiert hatte, kehrte Unthra mit hochgezogenen Augenbrauen an seinen Tisch zurück. „Nun, meine Herren – wie haben Sie sich entschieden?“ „Wir sind gegen Ihren Plan“, sagte der Gouverneur. „Aus welchen Gründen?“ „Sie sind zu unmenschlich! Gingen wir auf Ihren Vorschlag ein, dann wären damit 75% der irdischen Bevölkerung auf zwei noch gar nicht existierende Planeten verbannt. Das ist zuviel verlangt!“ „Sie ziehen also die Übervölkerung, den Bürgerkrieg und den Zusammenbruch der sozialen Ordnung vor?“ fragte Unthra sachlich. „Wir glauben nicht daran, daß derartiges geschehen wird. Und wenn, dann werden wir auch damit fertig werden.“ „Das werdet ihr nicht!“ sagte Unthra hart. „Es sei denn, Sie verurteilten jeden Süchtigen zum Tode. Ich glaube nicht, daß das die richtige Methode wäre. Sie wäre allenfalls noch unmenschlicher.“ Die Repräsentanten der Völker sahen sich an. Sie schienen unsicher zu werden. Forschend beobachtete Unthra sie und fügte hinzu: „Ihr seid Narren, meine Freunde. Ich werde euch allen – außer unserem verehrten Gouverneur – ein wissenschaftliches Paradies bieten. Es wird eine Freude sein, darin leben zu können.“ „Warum soll denn der britische Gouverneur von diesem – Paradies ausgeschlossen werden?“ fragte einer der Männer. „Weil er einer von denen sein wird, die wir von der Erde 44
verbannen. Wenngleich er Gouverneur ist, so ist er doch ein Süchtiger.“ Der Gouverneur ballte die Fäuste, während seine Kollegen ihn erstaunt und verstehend anstarrten. Das war das letzte, was sie erwartet hatten. „Warum sollte das so sein?“ verlangte er zu wissen. „Tausende der Intelligenzia trinken Marswasser. Ich sehe nicht ein, warum –“ „Die Bestimmungen lauten“, unterbrach Unthra kurz, „daß zu jenen Planeten alle die Menschen geschickt werden sollen, die die Übervölkerung verursachen. Wir können keine Ausnahmen machen.“ „In dem Falle habt ihr recht“, murmelte einer der Politiker. „Wir hörten leider bisher nur auf die Ansichten des Gouverneurs. – Was verstehen Sie übrigens unter dem erwähnten wissenschaftlichen Paradies?“ Innerlich atmete Unthra ein wenig auf. Langsam schritt er auf und ab. „Die Wissenschaft hat heute ohne Zweifel ihren höchsten Stand erreicht. Jeder einzelne unserer Mitmenschen könnte sich einfach hinlegen und alles vollzöge sich für ihn automatisch, ohne daß er sich zu rühren brauchte. Aber es wäre sinnlos, dieses Nichtstun der breiten Masse, den Nichtdenkenden, zu bieten. Es wäre die Verschwendung unseres eigenen Geistes. Dieses Paradies darf nur der Intelligenzia, den Wissenschaftlern und Politikern, den Träumern, Schöpfern und Konstrukteuren vorbehalten bleiben. Alle diejenigen, die psychisch schwach sind und von dem Marswasser getrunken haben, müssen die Erde und damit das Paradies der Zukunft verlassen. Es sind gerade die Dümmsten, die ihr unwichtiges Leben bis in alle Ewigkeit verlängern wollten.“ „Ich möchte bemerken, daß das nur Ihre persönliche Auffassung ist, weiter nichts!“ entrüstete sich der Gouverneur. 45
„Wie Sie meinen“, wandte sich Unthra ihm kurz zu und nahm seine Wanderung wieder auf. „Ich will Ihnen aber noch folgendes sagen, Gouverneur: In bezug auf wissenschaftliche Dinge haben Sie gar nichts mitzureden. Ich kann Sie nicht als maßgebend anerkennen. Wir leben im Zeitalter der Atomtechnik, das mit der ersten Bombe 1945 begann. Heute haben wir den Zenit erreicht. Es ist Zeit für die Erde, sich allen unnötigen Ballastes zu entledigen. Nur die bleiben hier, die zum Denken befähigt sind. Wir können auf Betten von Luft liegen. Roboter ernähren, waschen und kleiden uns. Maschinen geben unseren Gehirnen alle gewünschten Eindrücke. Mit automatischer Television reisen wir um die ganze Erde. Mit der Robot-Astronomie können wir bis zum fernsten Stern gelangen, ohne uns zu rühren.“ Unthra unterbrach seine Wanderung und erhob die Hände. „Ich werde die Erde von allem Unrat befreien und mit dem würdigen Rest alle Annehmlichkeiten der Wissenschaft genießen. Das kann und wird geschehen, und zwar innerhalb fünf Jahren! Keiner von euch kann mich durch sein kleines, dummes Veto davon abhalten, meine Pläne durchzuführen. Die Technik wird euch einfach erdrücken, allen menschlichen Leidenschaften zum Trotz und fundierend auf der Kraft der eigenen Vollendung.“ Unthra schwieg. Ihm wurde mit einem Male bewußt, daß man ihn schweigend und erstaunt anstarrte. Er trat einen Schritt vor. „Stehen Sie immer noch unter dem Einfluß des Gouverneurs?“ fragte er. „Wir wußten nicht, daß er süchtig ist“, entgegnete einer der Politiker. „Ich persönlich habe meine Entscheidung getroffen. In Ihren bewährten Händen, Mr. Unthra, ist die Lösung des ganzen Problems am besten aufgehoben. Ich bin für Ihren Plan. – Fangen wir an!“ 46
„Es wird ein Paradies sein, mein Freund.“ „Sie haben für mein Land alle nötigen Vollmachten.“ „Danke!“ murmelte Unthra und warf den anderen Männern einen Blick zu. Sie befanden sich in einer angeregten Unterhaltung. Der Gouverneur stand mitten zwischen ihnen und gestikulierte heftig mit den Armen. Doch dann stand er plötzlich allein da. Seine Kollegen hatten sich von ihm abgewandt. „Ich spreche im Namen meiner Freunde“, sagte dann der kanadische Präsident. „Wir sind bereit, Ihrem Projekt zuzustimmen, Mr. Unthra. Unsere wissenschaftlichen und finanziellen Mittel stehen zu Ihrer Verfügung. Bleiben Sie am besten immer mit uns in Verbindung.“ „Darauf können Sie sich verlassen“, gab Unthra zur Antwort und verbeugte sich leicht. Dann aber wandte er sich dem britischen Gouverneur zu, der allein stand, mit rotem, wutverzerrtem Gesicht. „Es sieht so aus, als hätten Sie die Schlacht verloren, Gouverneur.“ „Es sieht so aus – dank Ihrer gespaltenen Zunge und Ihrer blumenreichen Versprechungen. Aber von britischer Seite aus werden Sie keine Hilfe erwarten können. Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich werde alle wissen lassen, was Sie mit ihnen vorhaben. Und wenn Sie dann nicht die Mehrheit des Volkes an Ihrer Kehle hängen haben, dann weiß ich auch nicht.“ Ohne eine Antwort des Wissenschaftlers abzuwarten, schritt der Gouverneur von dannen und schlug die Tür des Laboratoriums hinter sich zu. Unthra lächelte vor sich hin und ging dann zu seinen Kollegen hinüber. „Dieser Narr!“ sagte er. „Er ist es nicht wert, daß er lebt.“ Rutter, ein kleiner, stiernackiger Wissenschaftler, bekannt als Unthras rechte Hand, sah etwas zweifelnd vor sich hin. 47
„Er wird versuchen, Unruhe zu stiften“, meinte er plötzlich. „Wenn er dem Volk erzählt, was wirklich unsere Absicht ist, können wir unnötige Schwierigkeiten haben.“ „Ja“, murmelte Unthra. „Wir müssen gleich etwas unternehmen. Wir haben alle anderen Länder hinter uns, sind also auf unseren bockbeinigen Freund nicht mehr angewiesen. Wenn er verschwindet, gibt es in England nur einen Menschen, der seine Geschäfte übernehmen wird – das bin ich!“ Unthra war zum Visifon hinübergegangen, noch während er sprach. Er hob den Hörer ab, drückte auf einen bestimmten Knopf. Auf dem kleinen Bildschirm erschien ein Gesicht. „Ich habe einen Job für Sie, Blake“, sagte Unthra kurz. „Jetzt eben hat der britische Gouverneur dieses Gebäude verlassen. Er wird entweder nach Hause gehen, oder zu seinem Büro in der Stadt. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, daß er keinen der beiden Plätze jemals wieder lebend verläßt. Die Methode überlasse ich Ihnen, empfehle Ihnen aber Superschall. Nie werden dann die Mediziner das Problem seines Todes lösen können.“ „Verstanden, Mr. Unthra!“ Blakes Bild verschwand von der Mattscheibe. „Ist das nicht ein wenig riskant?“ fragte Rutter, vortretend. Unthra sah ihn an. Ein böses Lächeln lag auf seinen Zügen. „Kaum! Blake ist in Ordnung. Superschall ist seine Spezialität – ist es schon immer gewesen. Die unsichtbaren Schwingungen extremer Geschwindigkeit werden das Gehirn des Gouverneurs derart zerstören, daß er tot umfällt, ehe er überhaupt etwas ahnt. Kein Mediziner wird die Ursache seines so plötzlichen Todes feststellen können.“ „Wir müssen es tun!“ sagte Rutter einfach. „Die Sache ist wichtiger als ein Menschenleben. Wenn ich die Stelle des Gouverneurs übernehme, werde ich meinen Plan erst dann bekanntgeben, wenn alles vorbereitet ist. Die anderen 48
Staatsoberhäupter werden vorläufig aus eigenem Interesse den Mund halten.“ – Was den Gouverneur anbetraf, so ging alles, wie geplant. Nach Verlassen des Laboratoriums begab sich dieser in sein Dienstbüro – mit der festen Absicht, eine ausführliche Rede für Rundfunk und Television vorzubereiten. Alle Nachteile von Unthras Plan wollte er besonders anschaulich darstellen. Diese Aufgabe erforderte seine ganze Konzentration. So bemerkte er auch nicht den schattengleichen Blake, der schweigend und geräuschlos über das Dach glitt und nach einem Eingang suchte. In der einen Hand hielt er den Superschallapparat – eine Erfindung Unthras. Nicht zum ersten Male sollte er jetzt in Tätigkeit treten. Es war ein harmlos aussehendes Mahagonikästchen. Nachdem Blake hereingefunden hatte, fand er sehr schnell den Raum, in dem sich der Gouverneur befand. Ein Blick durch das Schlüsselloch genügte. Es dauerte nur wenige Sekunden. Der Gouverneur blickte erstaunt auf den Mann, der, ohne anzuklopfen, in sein Zimmer trat. Schon griff er instinktiv in seine Schublade. Er wußte noch nicht mal, wie er starb. Seine Leiche konnte nicht vor Morgengrauen von dem Personal entdeckt werden. – Zwei Tage lang herrschte in London Trauer. Die Vertreter aller Völker kamen zu dem feierlichen Begräbnis. Danach kümmerte Unthra sich unauffällig ein wenig um die Staatsgeschäfte, um dann nach einer Woche – „widerstrebend“ natürlich – diese ganz zu übernehmen. Die Oberhäupter der anderen Länder hatten zwar tief in ihrem Herzen einen gewissen Verdacht, hüteten sich jedoch, etwas davon laut werden zu lassen. Für Unthra war der Weg frei. Er hatte alles erreicht, was er wollte. Innerhalb dreier Monate hatte er sämtliche finanziellen 49
Fragen bezüglich ALPHA und OMEGA geklärt. Eine Spezialraumrakete – ein riesiges Laboratorium – wurde konstruiert. Gerüchte ließen sich natürlich nicht vermeiden. Unthra wußte auch diesen zu begegnen, indem er einfach folgendes erklärte: Eines Tages werde die Erde übervölkert und somit nicht mehr imstande sein, alle Menschen zu ernähren. Zwei künstliche Planeten seien die Antwort auf alle Schwierigkeiten; denn der Mars käme wohl kaum in Frage, und die Venus ebenfalls nicht. Er unterschätzte jedoch seine Mitmenschen, besonders die Intelligenz eines gewissen jungen Mannes, der überdies auch noch der Klasse der Normala angehörte. Schon zweimal hatte dieser junge Mann versucht, das Prädikat eines Astronomen zu erlangen, das ihn in die höhere Gesellschaftsklasse eingereiht hätte – aber vergeblich. Nun kamen ihm die Pläne Unthras zu Ohren und riefen ein ungewöhnliches Interesse in ihm wach. „Warum“, so fragte er seine langjährige Freundin und jetzige Verlobte, „sollte sich ein Wissenschaftler vom Format Vance Unthras schon jetzt auf eine Zeit vorbereiten, die noch weit, weit vor uns liegt? Sicher, einmal wird jener Tag kommen, aber erst in Zehntausenden von Jahren. Bis dahin jedoch gehören alle Planeten des Sonnensystems uns. Wir haben genügend Möglichkeiten, zu emigrieren. – Nein, Unthra belügt uns!“ Das Mädchen hob die Augenbrauen und schwieg. Sie saßen auf einer Bank des Zentralparkes. Es war einer dieser warmen Spätfrühlingsabende. Es war mehr als ungewöhnlich, daß zwei Normalas – Dexter Carfax und Sylvia Grantham – die Handlungen des größten Gelehrten der Welt zu kritisieren wagten, Sie taten es deshalb, weil der junge Carfax die Astronomie liebte und das Mädchen ein hervorragendes Allgemeinwissen ihr eigen nannte. „Ich nehme an“, sagte sie endlich, „daß es mit uns gar nichts zu tun hat.“ Die Blicke seiner grauen Augen lagen auf ihrem Gesicht. 50
„Im Gegenteil, Syl. Wenn Unthra zwei Planeten so nahe um die Erde kreisen lassen will, dann nur wegen uns – vielleicht als riesige Versuchsstationen, auf denen er durch Experimente feststellen will, wie die Menschen auf gewisse kosmische Einflüsse reagieren. Er hat ähnliches schon öfter gemacht. Wer waren immer wieder die Versuchskaninchen? Nur die Normalas – niemals einer von der Intelligenzia!“ Das Mädchen lächelte ein wenig. Sie war groß und dunkelhaarig, hatte ein ruhiges, freundliches Wesen. Nur Dexter wußte, daß sie bei Gelegenheit auch sehr erregt und feurig werden konnte. „Was sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen?“ fragte sie und legte eine Hand auf seinen Arm. „Selbst wenn du recht hättest – was ginge es uns an?“ „Sehr viel. Wenn man den Gerüchten glauben will, dann ist Unthra wirklich nicht der Mann, für den man ihn im allgemeinen hält.“ „Gerüchte?“ „Meine Arbeit als Elektroingenieur führt mich mit vielen Menschen zusammen. Oft habe ich auch mit der Wissenschaftlichen Abteilung zu tun. Dort hörte ich jenes Gerücht, nach dem Unthra beabsichtige, die Erde von den Normalas zu ‚befreien’. Er will sie nach den beiden künstlichen Planeten schicken. Wahr oder nicht wahr – du mußt zugeben, daß die Übervölkerung allmählich zu einem Problem wird.“ „Du meinst also, er wolle den Menschen mehr Lebensraum schaffen?“ „Mehr Raum, ja – aber ob Lebensraum, das ist eine andere Frage. Wenn das Gerücht auch nur einen Funken Wahrheit enthält, dann halte ich jede Wette, daß die Normalas geopfert werden sollen – du und ich mit ihnen.“ Syl hob die Schultern. „Warum sollten wir nicht nach einem anderen Planeten aus51
wandern? Die Erde ist übervölkert – also verlassen wir sie. Was ist schon dabei?“ „Dagegen ist nichts einzuwenden, Syl. Werden wir dort aber auch unser Marswasser haben?“ Sylvias Ausdruck veränderte sich jäh. „Oh – daran habe ich nicht gedacht! Aber sicher hat Unthra es getan. Es wäre doch geradezu Mord, uns dort das Wasser entziehen zu wollen. Wir müßten alle qualvoll sterben.“ „Eben – und das bereitet mir Sorgen!“ Dexter sah ein wenig düster vor sich hin, warf dann einen Blick auf seine Uhr und erhob sich. „Komm, Syl! Gehen wir! Die Wasserhäuser haben schon seit einer halben Stunde geöffnet.“ * Unthra, Rutter und noch andere ausgesuchte Wissenschaftler waren mit einem riesigen Raumschiff zum Flug in den Weltraum gestartet. Der Andruck preßte sie auf die Matratzen. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie sich im schwerefreien Raum wieder erheben konnten. Unthra stellte die automatische Steuerung ein und wandte sich dann seinen Kollegen zu. „Wir müssen noch einen Neutralisator entwickeln, damit dieser immer wieder gefährliche Andruck verschwindet. – Na, wir haben es nun hinter uns. Jetzt haben wir viel Zeit.“ „Sind Sie sicher“, fragte Rutter, „daß auf der Erde alles in Ordnung ist und bleibt, wenn wir so lange abwesend sind? Haben Sie volles Vertrauen zu Ihrem Stellvertreter?“ „Meinen Sie Stevenson? Vertrauen kann man zwar keinem Menschen; aber ich glaube, daß ich mich auf ihn verlassen kann. Außerdem sind wir von hier aus in ständiger Verbindung mit der Erde. Ich erfahre jede Kleinigkeit, die von In52
teresse ist. Sollte etwas geschehen, werden wir sofort zurückkehren.“ Mit diesen Worten drehte Unthra sich wieder um und blickte aus der Quarzluke in den leeren Raum hinaus. Die Erde war ein gigantischer grüner Globus, in dessen Nähe ein nicht ganz voller Mond schwebte. Dort – zwischen Finsternis und glühenden Sternen – stand der rötliche Mars. „Grenzen – die Grenze zwischen den Welten“, murmelte Unthra vor sich hin. „Ja, das ist der richtige Name dafür. Zwischen der Erde und den beiden Planeten ist die große Leere, die Grenze, die sie ewig von uns trennen soll – die dunkle Grenze! – Na, was sagt ihr zu meiner Poesie?“ „Ich meine, wir ließen die Poesie bis später“, sagte Rutter trocken. „Ich möchte erst die beiden Planeten sehen, ehe ich solchen Anwandlungen nachgebe. Ich habe nämlich noch so meine Zweifel.“ „Die werden Ihnen bald vergehen, mein Freund“, entgegnete Unthra. „Die Wissenschaft beruht nur auf ihrer Exaktheit. Wir haben in unseren Berechnungen keinen Fehler gemacht. Zweifel erzeugen nur Unsicherheit, die ein Unternehmen von vornherein zum Scheitern verurteilt.“ „Das tut mir leid“, entschuldigte sich Rutter. Man sah ihm an, daß es ihm absolut nicht, leid tat. Unthra warf ihm ungeduldig einen Blick zu und machte sich an den Instrumenten der Zentrale zu schaffen. Das Raumschiff – ein riesiges Laboratorium – kreuzte gerade die Bahn des Mondes. Noch ungefähr 1,75 Millionen Meilen mußte es zurücklegen, um den errechneten Punkt im Weltraum zu erreichen. „Wir wollen uns ausruhen“, entschied Unthra, indem er sich wieder umdrehte. „Die Automatik bringt uns ans Ziel. Dort müssen wir frisch und munter an unser Werk gehen.“ Er stellte an verschiedenen Hebeln und drückte auf einen 53
Knopf. Dann legte er sich mit den anderen auf die weichen, bequemen Ruhelager, die ringsum an den Wänden angebracht waren. Losgelöst von aller Erdenschwere, war das einfache Liegen genau so erfrischend wie ein normaler irdischer Schlaf. Es schien ihnen gar nicht so lange gedauert zu haben, da näherten sie sich schon jener Stelle, an der einst ein Planet schweben sollte. Unthra wurde sehr geschäftig. Er lief hin und her, legte eine Unzahl von Hebeln um und brüllte Befehle. Durch gelegentliche Raketenstöße brachte er das Schiff genau an den gewünschten Fleck. Langsam trieb es dann in der genau berechneten Umlaufbahn des zukünftigen Planeten dahin. „Fertig für Kugel eins?“ fragte Unthra plötzlich. „Fertig!“ bestätigte Rutter. „Also – dann – los!“ Rutter machte sich an den Kontrollinstrumenten eines Gerätes zu schaffen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Feuermechanismus eines Torpedobootes hatte. Es summte ein wenig. Ein kleiner, kaum spürbarer Ruck – und draußen im All – nicht weit vom Schiff entfernt – rollte eine glänzende Metallkugel ins Nichts. Ohne in dem perfekten Vakuum einen Widerstand zu finden, entfernte sie sich etwa fünf Meilen. Dann wurde die Bewegung langsamer. Sie schwebte ruhig und begann allmählich – durch die Masse des Schiffes angezogen – zurückzurollen. Unthra stand am Teleskop und starrte auf die heranschwebende Kugel. Schon nach wenigen Sekunden wandte er sich um. „Unsere Kalkulationen stimmen genau. Ein feiner Regen Meteoritenstaubes senkt sich bereits auf die Kugel herab. Swainson!“ „Yes, Sir?“ 54
„Nehmen Sie Düse 16, schmal eingestellt. Halten Sie uns vorsichtig den Ball in gleichbleibender Entfernung.“ „Jawohl, Sir!“ Der junge Wissenschaftler richtete den feinen Strahl genau auf den winzigen Fleck in einigen Meilen Entfernung. Die Instrumente bestätigten den Erfolg. Die Rückwärtsbewegung der Kugel hatte aufgehört. Sie schwebte erneut bewegungslos im Raum. „Rutter!“ rief Unthra. „Übernehmen Sie die Mutationsbestrahlung. Die Wellenlänge ist eingestellt auf atomare Umwandlung in Nickel und Eisen. Schalten Sie zuerst 1, dann 2 und 3.“ Rutter gehorchte. Zwei Kollegen halfen ihm. Unthra beobachtete den Ball durch das Teleskop. Endlich sagte er: „Anstellen – jetzt!“ Sofort begannen die Röhren zu summen. Jede Staubpartikel, die sich auf die Kugel niedersenkte, wurde augenblicklich in Nickeleisen verwandelt – wenn sie nicht schon daraus bestand. Dieses Experiment mochte Wochen dauern. Sie mußten in Schichten arbeiten. Die Tage vergingen. Größer und größer wurde die anfangs so kleine Kugel. Laufend mußten sie den Abwehrstrahl verstärken. Nach vier Wochen hatte der Ball den Durchmesser von 5 Meilen erreicht. Wie ein gigantischer Schneeball hing die Riesenkugel im Weltraum. „Mehr oder weniger ist dies die Geburt eines Planeten“, erklärte Unthra befriedigt. „Diese 5 Meilen genügen. Wir bringen ihn jetzt in seine zukünftige Umlaufbahn und geben ihm die richtige Geschwindigkeit. – Rutter! Mutationsstrahl abstellen, ebenso den Düsenabwehrstrahl!“ Vorsichtig berechnend, übernahm Unthra selbst die Kontrolle über den Bugenergiestrahler und lenkte den Strom auf den neuen Planeten. 55
Ein Bruchteil zuviel oder zuwenig – und ALPHA verschwände im All – oder stürzte auf die Erde. Die pure Energie trieb den gigantischen Ball vor sich her. Das Schiff wurde von dem Rückstoß in die entgegengesetzte Richtung gedrückt. Den hinter ihnen liegenden Mond als Reflektionsspiegel benutzend, hielten sie das Gleichgewicht. Unthra schaltete ab und starrte erneut durch das Teleskop. Der Planet – sein Planet – drehte sich schweigend durch den Raum, entfernte sich immer mehr und war bald seinen Blicken entschwunden. Er warf einen Blick auf die Instrumente, atmete erleichtert auf und sagte: „Es ist uns gelungen, Gentlemen; es ist uns gelungen!“ Die Spur eines Lächelns überflog seine Züge. „ALPHA wurde geboren – der Kosmos besorgt das Weitere. Jetzt auf zu der Stelle, an der OMEGA entstehen soll!“ Nun raste das Schiff mit steigender Geschwindigkeit auf jenen Punkt im Weltraum zu, der genau 5 Millionen Meilen entfernt war. Sobald man das Ziel erreicht hatte, begann sich die ganze Prozedur zu wiederholen. Wieder verging ein Monat. Dann aber waren es zwei Zwergplaneten, die auf genau berechneter Bahn und mit gleichbleibender Geschwindigkeit durch den Raum eilten. In fünf Jahren, vielleicht auch etwas früher, mochten sie die gewünschte Größe haben – und das „Unternehmen Auswanderung“ konnte beginnen. „Den Radioberichten nach“, sagte Rutter, als sie sich schon auf dem Rückflug befanden, „sind auf der Erde keine Störungen zu bemerken. Die zwei neuen Planeten in unserem System werden nichts ausmachen.“ „Sagen Sie das nicht“, gab Unthra zur Antwort. „Schon diese kleinen Fünfmeilenkugeln verursachen gewisse Störungen in56
nerhalb des Gleichgewichtes unseres Sonnensystems. Das haben wir ja alles berechnet und einkalkuliert.“ „Das erinnert mich an ein anderes Problem“, warf Rutter ein. „Da diese beiden Planeten einen stark magnetisierten Kern haben und einen dauernden kosmischen Regen auf sich herabziehen, wird es doch bei dem gewünschten Durchmesser von 5000 Meilen nicht bleiben. Wie verhält sich das, Mr. Unthra?“ Unthra hatte seine Kursberechnungen beendet und wandte sich ihm zu. In seiner Stimme lag der leise Anflug von Hohn. „Sie reden wie ein Normala, mein Freund, und sollten sich deshalb schämen. Wenn diese Planeten eine Atmosphäre haben – und sei sie auch noch so dünn –, dann werden einfallende Meteoriten aufglühen und zum größten Teil verdampfen. Abgesehen davon, wird die magnetische Energie mit zunehmender Dicke der Oberflächenkruste abnehmen, da nicht alle herabfallenden Teile magnetischer Natur sind. Wir haben – wenn es soweit ist – Planeten von normaler Größe und entsprechender Gravitation. Genügt das?“ Rutter nickte. Er blickte tatsächlich ein wenig beschämt vor sich hin.
IN DEN WELTRAUM VERBANNT Nach seiner Rückkehr zur Erde konnte Unthra feststellen, daß Stevenson ihn würdig vertreten hatte. „Gut gemacht!“ bemerkte er beifällig und betrachtete gleichzeitig mißmutig die Berge von Post, die ihn erwarteten. „Sollte irgendwo etwas nicht stimmen, so muß rücksichtslos vorgegangen werden.“ „Jawohl, natürlich!“ Stevenson zögerte eine Sekunde. „Ich darf doch annehmen, daß das kosmische Experiment gelungen ist?“
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„Selbstverständlich! Ich unternehme nie etwas, von dessen Erfolg ich nicht überzeugt bin. In zwei Jahren werden die beiden Planeten am Nachthimmel sichtbar werden. Das macht aber nichts. Die Bevölkerung der Erde ist ja von dem – angeblichen Grund der Schöpfung von ALPHA und OMEGA unterrichtet worden.“ „Ganz recht. Ich möchte Sie jedoch auf die Tatsache aufmerksam machen, daß ein oder zwei Normalas Ihre hierauf bezüglichen Angaben bezweifeln.“ Unthra blätterte flüchtig ein Bündel Briefe durch. „Sehr interessant, Stevenson. Wer ist es, der meine Angaben zu bezweifeln wagt?“ „Normalas, wie ich schon sagte.“ Stevenson suchte zwischen einigen Papieren und zog endlich ein amtlich aussehendes Schreiben hervor. „Ihre Namen sind Dexter Carfax und Sylvia Grantham.“ „Wurde etwas gegen sie unternommen?“ „Nein. – Ich fürchtete, meine Kompetenzen zu überschreiten.“ „Sie haben sehr korrekt gehandelt!“ In Unthras Augen, war das Glitzern einer Schlange. „Gut, Stevenson – ich danke Ihnen! Ich werde diese beiden Namen nicht vergessen, wenn die Zeit des Handelns gekommen ist. Nun unterrichten Sie mich, bitte, über die Ereignisse während meiner Abwesenheit.“ Nach einer Stunde regelrechten Kreuzverhörs war Stevenson froh, entlassen zu werden, während Unthra rastlos weiterarbeitete, um gewisse Dinge nicht allzusehr zu verzögern. Dann begab er sich zu seiner Wohnung, wo ihn bereits eine Versammlung von 20 Wissenschaftlern erwartete. Er hatte sie dorthin gebeten, die besten, fähigsten Männer der Welt. „Die Tatsache, daß es uns gelungen ist, zwei künstliche Welten zu schaffen, befreit uns nicht von der Aufgabe, eine wissenschaftliche Planung unseres beabsichtigten ‚Goldenen Zeitalters’ 58
vorzunehmen. Der erste Schritt ist getan. Die anderen werden folgen. Dennoch müssen wir vorbereitet sein. Ich möchte Ihnen nur einen kurzen Überblick geben. Nachdem der größte Teil der Menschheit auf jene beiden Planeten gebracht worden ist, konzentrieren wir die irdische Macht hier in London – nur wissenschaftlich. Die anderen Städte der Erde überlassen wir der Intelligenzia. Es ist meine Idee, daß wir vollkommene Denker werden. Wir tun nichts anderes mehr als nur noch denken. Robotmaschinen werden alle Arbeit für uns verrichten; ihre Konstruktion müssen wir uns noch überlegen. Wir werden denken – und die Gedankenimpulse tun für uns die Arbeit.“ Unthra fuhr fort und erklärte, man müsse Roboter entwickeln, die ihnen die kleinsten und notwendigsten Lebensfunktionen abnehmen könnten. Der einzige, dem einige berechtigte Zweifel an Unthras Theorie kamen, war Rutter. Als seine rechte Hand konnte er sich schon einiges erlauben. „Während ich Ihre brillanten Pläne anerkenne, möchte ich doch darauf hinweisen, daß ich es für unverantwortlich halte, selbst keinen Finger mehr zu rühren. Alles den Maschinen zu überlassen –“ „Warum?“ unterbrach Unthra kurz und ungehalten. „Ich weiß nicht. Es ist schlecht zu erklären.“ Rutter sah gedankenvoll vor sich hin. „Ich meine, lebende Kreaturen sollten bis zu ihrem Tode Geist und Körper in vollendeter Zusammenarbeit gebrauchen. Erinnern Sie sich bitte an die alte Weisheit: Ein Glied, das nicht gebraucht wird, stirbt ab. – Ich habe wenig Interesse daran, eine lebende Leiche zu werden, eine intellektuelle Mumie –“ „Blödsinn!“ unterbrach Unthra erneut, diesmal zorniger. „Unsere Glieder werden nicht absterben. Wir werden sie trotz der Maschinen gebrauchen. Aber wir werden denken können – 59
und das Denken ist ja die Hauptsache bei einem vernünftigen Wesen. Die physikalische Seite eines Individuums ist Nebensache. Das Hirn ist alles.“ Rutter hob die Schultern und ließ sie hilflos wieder sinken. Von dieser Sekunde an wußte er, daß Unthra, dieser geniale Wissenschaftler, tief in seinem Gehirn den Wahnsinn sitzen hatte. Unthra war – wahnsinnig! Rutter sah sehr unglücklich aus. Er kannte die Macht des Verrückten. Unthra schien ihn vergessen zu haben. Er begann erneut, zu reden. Keiner wagte, ihm noch zu widersprechen. Am Tage nach dieser Aussprache begann man bereits mit den Zeichnungen und dem Bau der zu entwickelnden Maschinen. Zehntausende von Robotern sollten den Platz der Menschen einnehmen, die Unthra in den Weltraum zu verbannen gedachte. * So vergingen die Monate, ohne daß die gewöhnlichen Sterblichen – oder besser: Unsterblichen – etwas von der geheimen Tätigkeit Unthras erfahren hätten. In jenen Laboratorien arbeiteten nur Angehörige der Intelligenzia. Selbst der junge Dexter Carfax erfuhr nichts. Seine Vermutung jedoch, Unthra plane ein Attentat auf die gesamte Menschheit, blieb bestehen. * Zwei Jahre nach jenem Tage wurden am nächtlichen Himmel zwei blasse Sterne sichtbar: ALPHA und OMEGA. Langsam zogen sie dort oben ihre Bahn. Unthra wußte, daß seine Berechnungen richtig gewesen waren. Mit jeder Woche wurden die zwei glänzenden Punkte heller und größer. Als die 60
drei restlichen Jahre verflossen waren, standen sie in der halben Größe des Mondes am Firmament. Die Zeit war gekommen, das technische Wunder zu vollenden. Unthra startete mit seinen Wissenschaftlern erneut zu einem Flug in das Weltall. Mit funkelnden Augen starrte er auf die toten Weltkörper, die seine Schöpfung waren. Bald sollten sie Leben tragen – bald! Sauerstoff und Wasserstoff in fester Form wurden auf beiden Planeten gelagert. Man gab Krypton, Argon, Helium und Stickstoff bei. Mit Energiestrahlen wurde sodann das feste Gas in seine ursprüngliche Form verwandelt. Es entstand eine Atmosphäre – genau wie auf der Erde, nur eben dünner. Die kosmische Strahlung auf der Oberfläche war dadurch zwar stärker, verursachte aber keinerlei Verbrennungen. Alles verlief reibungslos und wie geplant. Die Schaffung kleiner Ozeane war nicht weiter schwierig, als man Wasserstoff und Sauerstoff unter gewissen Bedingungen zusammenbrachte. Die Natur selbst sorgte für den Ausgleich. Die Sonne war nahe genug, um Wasserdampf zu erzeugen. Es regnete, wie auf der Erde. Der Kreislauf des Wassers war gesichert. Alsdann pulverisierte man mit Ultraschwingung einen Teil der felsigen Oberfläche, schuf somit einen an Phosphor reichen Mutterboden, in den man den Samen verschiedener Pflanzengattungen versenkte. In sechs Wochen konnte die der Sonne zugewandte Seite beider Planeten einen Vegetationsteppich haben, der die Atmosphäre ständig entgiftete und das Leben ermöglichte. An dem Tage, da Unthra zur Erde zurückkam, hielt er eine Ansprache, die auf der ganzen Welt die größte Bestürzung hervorrief. „Ihr lebt seit fünf Jahren in dem Glauben, ich hätte jene beiden Planeten geschaffen, um eine Zuflucht für uns alle zu sichern, 61
wenn unsere Erde einst zu alt sein wird. Das wurde euch aber nur gesagt, um eure Neugier zu befriedigen. Heute sollt ihr die Wahrheit erfahren. Meine Kollegen und ich haben beschlossen, das Wunderwasser des Mars ein für allemal von der Erde zu verbannen. In dem Stadium unserer heutigen Zivilisation ist es eine Schande, wenn 75% der Menschheit Sklave einer Droge sind. Da jedoch der Entzug des Wassers für alle Süchtigen ein qualvolles Ende bedeutete, werden alle Menschen, die einmal davon tranken – wir kennen jeden Namen! –, zu den beiden Planeten ALPHA und OMEGA gebracht. Dort können sie ein neues Leben beginnen, ohne jemals wieder das Verlangen nach diesem Wasser zu verspüren oder beim Entzug desselben zu sterben. Ohne große Umstände werdet ihr wieder normale Sterbliche. Auch eure Kinder werden jenes Wunderwasser nur noch als eine Sage kennenlernen. Viele von euch werden sich gegen unsere Entscheidung auflehnen wollen. Sie werden bestreiten, süchtig zu sein, weil sie versteckte Vorräte haben. Es ist aber sinnlos. Alle Menschen sind uns bekannt, die davon tranken. Es wird keine Ausnahmen geben. Ob reich oder arm, jung oder alt, Normala oder Intelligenzia – wer süchtig ist, wird umgesiedelt. Die Verschiffung beginnt in einer Woche. Eine Liste entscheidet, wer nach ALPHA und wer nach OMEGA kommt. Raumschiffe bringen Werkzeuge und Material zum Häuserbau und genügend Mengen an Lebensmitteln zu der neuen Heimat, bis ihr euch selbst helfen könnt. Diejenigen, die nicht süchtig sind, bleiben auf der Erde, um dem wissenschaftlichen Fortschritt zu dienen. Dies ist die einzige Möglichkeit, um der Übervölkerung Herr zu werden. Jeder Versuch, dieser Entscheidung entgegenzutreten, zieht strenge Bestrafung nach sich. Das ist alles, Freunde!“
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* Unthra hatte die Katze aus dem Sack gelassen. Er wußte genau, daß es die größte politische Bombe war, die jemals in der Weltgeschichte platzte. Er hatte fünf Jahre Zeit gehabt, sich auf die unvermeidliche Reaktion vorzubereiten, überall war die Milizia mit ihren überlegenen Waffen auf der Hut, um jeden Widerstand im Keime zu ersticken. Man versuchte jedoch gar nicht erst, gegen die Macht des Wahnsinnigen – von dem keiner wußte, daß er ein solcher war – zu protestieren. Unthras Entschluß war unabwendbares Schicksal. Einer nach dem anderen erhielten sie ihre Emigrationspapiere, ausgestellt für ALPHA oder OMEGA, ganz nach dem Willen der Intelligenzia. Sehr bald stellte es sich heraus, daß die jüngeren Menschen, besonders aber die Männer, nach ALPHA geschickt wurden, während man die älteren, und hauptsächlich die Frauen, nach OMEGA bringen wollte. Die Emigration war nicht der Grund für die allgemeine Empörung, wohl aber die Tatsache, daß man die Familien rücksichtslos zu trennen beabsichtigte. Der Schlußsatz unter allen Papieren lautete stets: „Zwischen Erde, ALPHA und OMEGA liegt der Weltraum, der als ‚Grenze zwischen den Welten’ gilt. Ohne besondere Erlaubnis darf diese nicht überschritten werden.“ Am Tage vor Beginn der Aktion hielt Unthra eine zweite Rede, die von der ganzen Welt gehört wurde und besonders Carfax und Sylvia Grantham mit Überraschung erfüllte. „Die ersten hundert Schiffe stehen mit Ausrüstungsgegenständen startbereit. Wegen der Gefahr einer eventuell entstehenden Radioaktivität findet der Start aller Schiffe in der Wüste von Arizona statt. Der Transport nach dort ist für jeden Emigranten frei und gesichert. Alle anderen Raumhäfen sind gesperrt. 63
Jede der beiden Welten ALPHA und OMEGA benötigt ein Oberhaupt. Für ALPHA bestimme ich dazu Dexter Carfax; auf OMEGA wird Sylvia Grantham die künftigen Geschicke der dortigen Menschheit leiten. Für ihre entsprechenden Aufgabengebiete erhalten sie uneingeschränkte Vollmachten. So – das ist alles.“ Unthra schaltete das Mikrophon ab. Er lächelte seinen Kollegen, die ihn umstanden, mit teuflischem Grinsen zu. Man warf ihm überraschte Blicke zu. „Warum suchten Sie gerade diese beiden aus?“ fragte Rutter. „Sind sie besonders dazu geeignet?“ „Das weiß ich nicht, lieber Freund. Es ist mir auch egal. Es wäre mir sogar egal, wenn alle dort oben stürben. Ich habe ihnen die Chance zum Leben nur deshalb gegeben, weil manche von ihnen Verwandte unter der Intelligenzia haben. Was Carfax und Grantham angeht, so weiß ich genau, daß sie insgeheim gegen meine Pläne gearbeitet haben. Dafür mußte ich sie bestrafen. Ich bürdete ihnen einfach eine ungeheure Verantwortung auf.“ „Glauben Sie, daß Verantwortung eine Strafe ist?“ fragte Rutter erstaunt. „In diesem Falle – ja. Wenn sie irgendwie versagen, werden sich diejenigen, die sie leiten sollen, in reißende Wölfe verwandeln. Dieser Mann Carfax wird sich wahrscheinlich eher durchsetzen können als die Frau Grantham. Sie hat zwar ein gutes Allgemeinwissen, aber eine zu weiche Natur. Sie wird an ihrem zukünftigen Leben genau sowenig Freude haben wie Carfax.“ Er machte eine kurze Pause. Als niemand etwas entgegnete, sagte er: „Also, meine Herren, damit wäre alles klar. Wir treffen uns um 22 Uhr in Arizona.“ *
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Das erste Raumschiff donnerte am anderen Morgen, um 7 Uhr Ortszeit, mit heulenden Düsen in den grauen Dämmerhimmel und war bald verschwunden. Zehn Minuten später folgte das nächste – und sehr viele andere schlossen sich an. Als das hundertste startklar war, kam das erste schon wieder zurück. So hatte Unthra es berechnet – und so traf es auch ein. Wochen mochte es dauern, ehe alle zur Auswanderung verurteilten Menschen die Erde verlassen hatten. „Eigentlich überraschend“, bemerkte einer der Wissenschaftler zu Unthra, „daß sich die Umsiedler nicht an den Piloten vergreifen.“ Unthra lächelte hämisch. „Überraschend? Wieso? Jeder Pilot ist ein ausgesuchter Intelligenzia, ein geborener Feind des Pöbels. Was hätten sie davon, wenn sie ihn angriffen? Das Schiff geriete außer Kontrolle, sie stürzten auf die Erde, auf den Mond oder gar auf die neuen Planeten. Vielleicht rasten sie auch in die Unendlichkeit hinaus, bis sie verhungert wären. Nein, mein Freund! Sie wissen genau, daß ihr Leben von dem Manne abhängt, der das Schiff lenkt.“ Unthra sah auf seine Uhr, blickte hinter dem Feuerstrahl einer Rakete her und betrachtete noch einmal die schwarze Menge hin und her wogender Menschen, die auf ihren Abtransport warteten. „Wir haben genug gesehen“, sagte er kurz. „In London gibt es allerhand zu tun.“ * Drei Wochen später verließ das letzte Raumschiff ALPHA und kehrte zur Erde zurück. Seine flammenden Düsen zerstörten die letzte Brücke zu dem grünen Heimatplaneten, von dem sie gekommen waren. Viele waren auf der Erde zurückgeblieben, zu alt oder un65
tauglich für eine Fahrt in den Weltraum. – Unthra wollte sie gnadenlos beseitigen lassen. Dexter Carfax befahl als erstes, Häuser und Unterkünfte zu bauen. Das Material dazu war vorhanden, auch der Wille. Männer und Frauen, die nicht getrennt worden waren, nahmen sich von dem Baustoff, was sie benötigten. Sie errichteten sich ihre Wohnhäuser dort, wo es ihnen gefiel. Alle folgten ihrem Beispiel. Freunde fanden sich zusammen. Man bildete Gemeinschaften. Es dauerte nicht lange, und es lagen – verstreut über die Tagseite des Planeten – kleine Siedlungen in den schnell entstandenen Pflanzungen, vom Toten Ozean bis zum Terminator, jener Linie, hinter der die ewige Nacht begann. Die Sonne hing immer an der gleichen Stelle des Firmamentes. ALPHA kannte keinen Wechsel der Tageszeiten. Es herrschte ewiger Sommer auf der einen, ewige Nacht und Winter auf der anderen Seite. Carfax arbeitete genau so wie jeder andere. Er half, wo er konnte, und war jederzeit bereit, mit Rat und Tat die erste Not zu lindern. So verging die Zeit. Wochen verstrichen. Die Menschen achteten Carfax als ihren Herrscher. Sie unterstützten ihn und folgten willig seinen Anordnungen. Eines Tages versammelte Carfax seine besten Freunde, die er zu seinen Adjutanten ernannt hatte, in dem großen Gebäude, das das Hauptquartier darstellen sollte. „Wir stehen am Beginn einer neuen Zivilisation“, begann er seine Ansprache. „Sie hat ihre Vor- und ihre Nachteile. Ich für mein Teil ziehe unser jetziges Leben dem trostlosen Dasein unter der Herrschaft der Intelligenzia vor. Zwischen uns und ihnen besteht die ‚Grenze zwischen den Welten’. Ich muß gestehen, daß ich froh darüber bin.“ Er schwieg eine Weile und schien nachzudenken. Die Zuhörer betrachteten den jungen Mann, der sich als so zuverlässig 66
und gerecht erwiesen hatte, daß er – trotz seiner Jugend – alle Voraussetzungen erfüllte, um auch weiterhin Herrscher auf dem Planeten bleiben zu können. „Das einzige, was mir Sorge bereitet, ist – OMEGA“, bekannte er dann freimütig. Er erhob sich von seinem Sitz und schritt langsam zum Fenster. Er versank ganz in der Betrachtung des Bildes vor sich. Es war phantastisch. Unter dem purpurroten Himmel – entstanden durch die Zusammensetzung der Atmosphäre – lag eine weit auseinandergezogene Siedlung mit unregelmäßig angelegten Straßen. Der Horizont schien sehr nahe zu sein. Fast vermeinte man die Krümmung sehen zu können. Er hörte das Hämmern und Zimmern geschäftiger Menschen, Laute des Aufbaues und des unbeugsamen Lebenswillens. Sein Blick schweifte zum Himmel hinauf, mied den fast unerträglichen Glanz der Sonne, glitt uninteressiert über den Mond und die mächtige Erde hinweg und blieb auf OMEGA hängen. Nur fünf Millionen Meilen entfernt hing der Schwesterplanet. Er hatte die gleiche Umlaufgeschwindigkeit wie ALPHA und beschrieb auch dieselbe Kreisbahn. Daher stand er immer an der gleichen Stelle des Nordhorizontes. Wenn auf OMEGA Veränderungen stattgefunden hatten, so waren diese von ALPHA aus nicht sichtbar. Der Planet hatte eine orangerote Farbe. Die treibenden Wolken ahnte man mehr, als daß man sie sah. Das war alles. Einzelheiten der Oberfläche waren nicht zu erkennen. „Warum sollte OMEGA dich beunruhigen, Dexter?“ Carfax wandte sich vom Fenster ab. Fred Dickinson, sein bester Freund, hatte die Frage gestellt. „Wirklich, ich verstehe dich nicht“, fuhr er fort, Carfax einen fragenden Blick zuwerfend. „Unsere Sorge sollte ALPHA gelten. Wir haben damit wirklich genug zu tun. Es wird alles gut werden. Unthra hatte recht. Der Verlust des Wunderwassers 67
schadet uns nichts. Wir vermissen es gar nicht. Alle Lebensbedingungen sind ähnlich wie auf der Erde – selbst die Schwerkraft, obwohl dieser Planet kleiner ist.“ „Die Dichte ist dafür aber auch größer“, warf Carfax abwesend ein. „Klar, natürlich. Aber warum sollen wir uns deshalb Sorgen um OMEGA machen?“ „Weil dort das Mädchen, das ich heiraten wollte, mit der schwierigen Aufgabe betraut wurde, 50 Millionen Menschen in ein neues Leben zu führen – Menschen, die älter und schwächer sind als wir, meistens auch noch Frauen.“ Dickinson starrte ihn an. „Willst du damit sagen, daß Sylvia Grantham deine Freundin ist?“ „Mehr als das – meine Verlobte. Wir wollten heiraten. Unthras wahnsinnige Gesetze hinderten uns. Zur Hölle – könnte ich doch wenigstens mit ihr in Verbindung treten!“ Fred dachte nach. „Raumfahrt ist im Augenblick unmöglich, Dex. Wir haben zwar die Werkzeuge und das Material – aber uns fehlt das Geheimnis des Antriebes. Die Intelligenzia hat es. – Radio! Mensch, Dex – Radio! Wenn ich das Material zusammenbekomme, baue ich dir innerhalb 12 Stunden einen Weltraumsender mit Empfänger.“ Carfax schien kaum beeindruckt zu sein. „Daran habe ich auch schon gedacht. Wir können zweifellos ein Radio herstellen. Aber ob Sylvia das auch kann?“ „Warum nicht? Ich denke, sie ist wissenschaftlich gut durchgebildet?“ „Ja, aber – ach, du kennst Syl nicht. Sie ist so ruhig und still. Sie hält sich gerne im Hintergrund und verschwendet ihr Wissen nicht. Wie könnte sie jene Menschen leiten, wo ihr das gar nicht liegt! Manchmal habe ich Angst, daß sie Schluß gemacht hat.“ 68
„Schluß gemacht?“ „Ja, Selbstmord begangen –“ Fred zögerte eine Sekunde. „Ich will dir etwas sagen, Dex: Du denkst zuviel an jenes Mädchen, das nun auf OMEGA ist. Denke lieber an uns und an unsere Aufgabe, unterdrücke deine persönlichen Gefühle. Das ist hart, aber nötig.“ Carfax nickte langsam. „Schon gut, Fred! Deshalb ist es aber trotzdem kein Fehler, ein Radiogerät zu bauen. Willst du das in die Hand nehmen? Wir wünschen in jedem Falle Verbindung. Es kann nur zum Wohle unseres eigenen Planeten sein.“ „Gut – ich werde gleich nach der Konferenz damit beginnen.“ Carfax entsann sich der Männer und Frauen, die er hier zusammengerufen hatte. Mit einer Entschuldigung wandte er sich ihnen zu. „Verzeiht mir – aber ich habe euch sowieso nicht viel zu sagen. Wir müssen warten, bis alles Material gesichtet und überprüft worden ist. Wir stecken mitten in dieser Arbeit.“ „Wird die Nachtseite des Planeten unbewohnt bleiben?“ fragte eine der Frauen. „Vorerst – ja. Ich habe die Verhältnisse an Ort und Stelle geprüft. Die heißen Winde von der Tagseite mildern die Kälte zwar ein wenig, aber ohne besondere Hilfsmittel wäre das Leben dort noch sehr unangenehm. Später, wenn die Bevölkerungszahl ansteigt, wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als auch auf dieser Seite des Planeten Menschen anzusiedeln.“ „Sie meinen also, daß wir ewig hier bleiben werden?“ „Ich sehe vorerst keine andere Möglichkeit.“ Die Männer und Frauen der Versammlung warfen sich einige bezeichnende Blicke zu. Endlich machte sich Fred Dickinson zu ihrem Sprecher. 69
„Wir vertreten die Auffassung, Dex, daß wir nicht ewig hierbleiben werden“, sagte er. „Man hat uns allen übel mitgespielt, auch den Leidensgenossen auf OMEGA. Es ist unsere feste Absicht, es der verfluchten Intelligenzia eines Tages gründlich heimzuzahlen.“ Carfax schüttelte den Kopf. „Meine Gefühle sind die gleichen wie die euren. Dennoch lehne ich eure Absichten ab. Ich weiß, wie stark der Gegner ist. Die Intelligenzia vereinigt die fähigsten Wissenschaftler in sich und verfügt über eine ungeheure Macht, gegen die wir in den nächsten Jahrzehnten kaum etwas auszurichten vermögen. Unsere beste Politik ist, eine gesunde Zivilisation aufzubauen und darauf zu hoffen, daß unbezahlte Rechnungen immer eines Tages präsentiert werden – auch wenn wir es nicht mehr erleben sollten.“ Die Männer und Frauen nickten langsam vor sich hin, nicht etwa, weil sie unbedingt der gleichen Meinung wie Carfax waren, sondern mehr deshalb, weil ihnen keine andere Möglichkeit einfiel. Ohne das Geheimnis der Raumfahrt waren sie hilflos. Da waren der Brennstoff, die Spezialmethode, den furchtbaren Andruck beim Start zu mildern, die technischen Instrumente – Ach, es gab so vieles, was bisher nur das Privileg der Intelligenzia gewesen war. Nein, wenn sie die Raumfahrt erfinden wollten, dann mußten sie deren Geheimnisse selbst entdecken und entwickeln, wie damals die Pioniere auf der Erde. Die Konferenz war beendet. Jeder begab sich wieder in seine Zone zurück. Die Sonnenseite von ALPHA war in Zonen eingeteilt, die jeweils einem Adjutanten unterstanden. So versuchte Carfax, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. * Es dauerte einen ganzen Monat, bis alle Dinge, die man ihnen mitgegeben hatte, überprüft und sicher aufgestapelt waren. 70
Synthetische Verpflegung und Wassertabletten, Saatgut, Arzneimittel und medizinische Instrumente, Maschinenteile, wissenschaftliche Geräte und Ausrüstungen, – alles war vorhanden, um eine Zivilisation zu ermöglichen, aber nichts, um die Weltraumfahrt zu entwickeln. Fred Dickinson hatte den Bau seines ersten Sendegerätes beendet. Es bereitete keine Schwierigkeiten, die entsprechenden Empfänger überall auf ALPHA zu stationieren. Dagegen mißlang jeder Versuch, mit OMEGA in Verbindung zu treten. Carfax’ Meinung, daß dort ein furchtbares Chaos herrschen werde, schien sich zu bestätigen. „Versuche es immer wieder“, bat er Dickinson, den er zum Radio-Chefingenieur ernannt hatte. „Wir wissen nicht, wann sie dort soweit sind. Sobald sich etwas ereignet, benachrichtige mich.“ Nichts geschah. OMEGA gab keine Antwort, obwohl mehr als ein Jahr verging. Nur auf der Oberfläche zeigten sich gewisse Veränderungen. Kleine, weiße Quadrate entstanden dort, wo vorher die eintönige, orangefarbene Fläche gewesen war. Das konnten riesige Städte sein – Carfax wollte das jedoch nicht glauben. „Wie könnte eine Menschheit, die fast nur aus Frauen besteht, solche Städte bauen?“ fragte er seine Adjutanten bei einer Beratung. „Ich halte das für unmöglich.“ „Wieso?“ bemerkte eine Frau verwundert: „Sie glauben lediglich zu sehr daran, daß nur das männliche Geschlecht zu großen Taten befähigt ist, Mr. Carfax.“ „Diese Ungewißheit macht mich noch ganz krank“, murmelte Carfax, seine Hände zu Fäusten zusammenballend. „Mason, wann ist das Observatorium fertig?“ „In einem Monat. Der Bau des Hauptreflektors ist bereits in Angriff genommen worden.“ „Beeilen Sie sich, Mason!“ befahl Carfax. „Und Sie, Miß 71
Holroyd? Wie weit haben Sie die neuen Sozialgesetze ausgearbeitet?“ „Fast fertig. Richter Kenworthy überprüft sie bereits.“ Carfax nickte kurz. Im letzten Jahr hatte sich ihre Welt schnell entwickelt. Radiostationen, Fabriken, Siedlungen und riesige Farmen, deren Erträge unter der nie sinkenden Sonne ins Unwahrscheinliche stiegen, herrlich angelegte Naturparke, in denen sich die Menschen nach der Arbeit erholten, waren entstanden. Das Leben auf der Erde erschien ihnen oft wie ein böser Traum. * Die Linse des Reflektors war abgekühlt. Sie wurde poliert und eingebaut. Das Observatorium befand sich zwei Meilen jenseits des Terminators, also schon in der ewigen Nacht von ALPHA. – OMEGA hing dicht über dem Horizont. Das spielte jedoch keine Rolle, da die Atmosphäre nur dünn war. Carfax, Dickinson und Mason standen unter der gewaltigen Kuppel am Reflektor. „Sie werden überrascht sein“, sagte Mason, während Dexter Carfax sich in den Stuhl zwängte. „Sie werden Ihre Meinung ändern müssen, man könne Frauen nur an den Kochtopf stellen.“ Carfax gab keine Antwort. Er preßte seine Augen auf die Reflektionslinsen und – erblickte OMEGA, als sei der Planet nur wenige Meilen entfernt. Schon der erste Eindruck war überwältigend. Jene grauen Flecke waren Städte aus Stahl, mit Hochhäusern, wie es sie in London und New York gab. Terrassen, Parke, breite Straßen voller Verkehr, Bürgersteige und ab und zu in der Luft ein Flugzeug. Das Fernrohr war nicht stark genug, um auch die Menschen sichtbar werden zu lassen. Riesige Flächen waren 72
grün, also mit irdischen Pflanzen bedeckt, und die Wogen eines Ozeans unterbrachen die an sich schon abwechslungsreiche Landschaft. „Nun, überrascht?“ fragte Mason. „Das hätte ich nie gedacht!“ gab Carfax zu. Er nickte zu Fred Dickinson hinüber. „Sieh selbst! Was hältst du davon?“ Fred starrte durch die Linsen und gab keine Antwort. Erst nach einer Weile lehnte er sich zurück und kratzte sich nachdenklich den Kopf. „Sie sind uns um Jahrzehnte voraus. Wenn Sylvia Grantham dafür verantwortlich ist, Dex, dann hast du sie verdammt unterschätzt.“ „Kaum. Wenn du fünf Jahre mit einem Mädchen verlobt bist, dann kennst du es doch. Oder nicht? Syl hätte nie eine solche Stadt planen können.“ „Irgend jemand hat es aber getan“, bemerkte Mason weise. „Jedenfalls komme ich mir wie ein Höhlenmensch vor, wenn ich die Dinge auf OMEGA sehe.“ In Carfax’ Augen war ein gefährliches Leuchten. „Wir werden herausfinden, was dort vor sich geht. Jedenfalls haben sie bestimmt Radio! Wann hast du zum letztenmal versucht, Verbindung mit ihnen aufzunehmen, Fred?“ „Noch vor 12 Stunden. Wie stets – keine Antwort.“ „War überhaupt nichts im Empfänger zu hören?“ „Nur Störungen – eine ganze Menge sogar. Sie kamen wohl von der Sonne.“ „Genau das, was ich mir dachte. Hör zu!“ Carfax wurde plötzlich ernst. „Versuche es diesmal mit einer Richtstrahlwelle. Schirme sie ab! Ich hätte schon eher daran denken sollen. Eine alte Methode, die Raumfunker anwendeten, wenn sie vor lauter Störungen nichts mehr hören konnten.“ „Mensch – und so etwas macht mich zum Chefingenieur!“ 73
Carfax verlor keine Zeit. Er sprach Mason kurz seinen Dank aus und bat ihn, OMEGA ständig unter Beobachtung zu halten und in regelmäßigen Abständen Aufnahmen zu machen. Dann eilte er mit Fred Dickinson davon. Zehn Minuten später erreichten sie die Funkstation, wo ein reges Treiben herrschte. Hier war die Zentrale des neu entwickelten Nachrichtenwesens. Von hier aus gingen die Anordnungen über den Planeten ALPHA. In einer besonderen Abteilung befanden sich die Spezialgeräte der Weltraumsendestation. Fred zog die Tür hinter sich zu. Sie waren allein. „Den Richtstrahl einzustellen, ist kein Problem“, sagte er und begann sogleich mit seiner Arbeit. Dann sprach er einige Worte in ein Mikrophon und schaltete es danach wieder ab. „Der Strahlenabwehrschild wird von der Kraftstation erzeugt und auch von dort aus gelegt. Wir brauchen also jetzt nur noch auf das Zeichen zu warten.“ Carfax nickte und harrte ungeduldig des vereinbarten Signals. Plötzlich glühte eine rote Lampe auf. Mit geübten Fingern glitt Fred über die Einstellungsknöpfe. Er wartete, bis die Röhren sich erwärmt hatten, und legte dann einen kleinen Schalthebel um. „ALPHA ruft OMEGA! – Bitte kommen! – ALPHA ruft OMEGA! – Antworten Sie bitte!“ Die Erregung drohte Carfax zu übermannen, während er auf den kleinen Lautsprecher starrte. Kein Ton kam daraus hervor. Er schwieg, als sei er ohne Strom. „Die Störungen sind wenigstens verschwunden“, sagte Fred. „Vorher hörte es sich an, als trommelten zehn wild gewordene Schlagzeuger auf ihren Instrumenten herum.“ „Ist der Lautsprecher in Ordnung?“ „Natürlich! Beobachte nur den Strommesser.“ Carfax prüfte ihn und nickte. Der Sender war in Ordnung, auch der Empfänger. Sollte es auf OMEGA eine Funkstation geben, dann mußten sie diese Sendung hören können. 74
„OMEGA ruft ALPHA! – Viele Grüße! – Was wollt ihr?“ Fred starrte Carfax verständnislos an, während dieser vor Freude einen Satz machte. „Wir haben es geschafft! Warum, zum Teufel, hast du nicht sofort an den Abwehrschild gedacht, Fred? Na, egal jetzt! Rufe zurück und sage, ich wünschte Sylvia Grantham zu sprechen.“ Fred gehorchte. Die Antwort war überraschend. „Botschaft verstanden. Die Controllix wird benachrichtigt. Bleiben Sie bitte auf Empfang.“ Sie sahen sich an. „Controllix? Das hört sich an wie eine weibliche Form für Kontrolleur, Diktator oder ähnliches. – Mir scheint, Dex, du hast dich in deiner Verlobten mächtig versehen.“ „Die kleine und ruhige Syl?“ Carfax seufzte tief auf. „Diese Aufregung macht mich ganz schwach.“ Die Zeit verging – 20 Minuten. Dann ertönte aus dem Lautsprecher die Stimme Sylvia Granthams. Sie war verändert. Dex hätte sie kaum wiedererkannt. „Hier spricht Sylvia Grantham. Wie man mir mitteilt, hat Dexter Carfax eine Nachricht für mich.“ Carfax zog das Mikrophon ein wenig zu sich herüber. „Syl! – Gott sei Dank! Endlich höre ich deine Stimme wieder! – Es ist doch deine Stimme? Sie ist irgendwie verändert, härter geworden. Nun, das ist ja egal! Wir versuchen schon seit einem Jahr, mit euch in Verbindung zu treten, Syl. Wie geht es dir?“ „Ausgezeichnet, Dex!“ In ihrer Stimme lag keinerlei Gefühlsbewegung. „Sicherlich konntet ihr das doch feststellen. Oder habt ihr noch keine Sternwarte erbaut?“ „Natürlich haben wir eine. Ich habe eure Städte und Landschaften gesehen. Gratuliere! Ich muß offen gestehen: Wir sind noch nicht soweit fortgeschritten.“ 75
„Das weiß ich. Wir haben ja auch Observatorien. – Eine Anhäufung serienmäßig hergestellter Hütten und den wahrscheinlich primitiven Versuch einer Verwaltung kann man wirklich kaum als Fortschritt bezeichnen.“ Carfax warf Fred einen verwirrten Blick zu. „Ich – äh – wir taten unser Bestes, Syl. Auf alle Fälle verstehe ich nicht, wie es dir gelungen ist, eine derartige Zivilisation zu schaffen. Wie hast du das mit den älteren Leuten nur geschafft?“ „Wir haben genügend Männer mittleren Alters. In der mitgebrachten Ausrüstung befanden sich Roboter und andere Hilfsmittel. Die Menschen hier haben geistige und körperliche Wunder vollbracht. Ich war über diese Tatsache sehr erstaunt. Das Wunder hat eine sehr natürliche Erklärung: die kosmische Strahlung!“ „Kosmische Strahlung? Was hat die denn damit zu tun?“ „Die Strahlung ist besonders stark, genau wie dort auf ALPHA. Der Wissenschaft ist es schon lange bekannt, daß die Strahlung aus dem Weltraum – unter gewissen Umständen – für die aktivere Tätigkeit des Gehirns ausschlaggebend ist.“ „Wir haben doch hier die gleiche Strahlung.“ „Allerdings. Ich verstehe nicht, warum es euch auf ALPHA nicht genau so wie uns auf OMEGA ergangen ist.“ Carfax dachte einige Sekunden nach. „Es gibt nur eine einzige Erklärung: Der Ionenschild auf OMEGA ist schwächer als der über ALPHA, eure Strahlung daher intensiver. Auf alle Fälle ist hier nichts von einer verstärkten Denkfähigkeit zu bemerken. Wir sind noch genau so normal wie früher. Na, wie dem auch sei: Wann treffen wir uns, Syl? Habt ihr schon an dem Raumfahrtproblem gearbeitet?“ „Gearbeitet? Wir haben es gelöst!“ „Gelöst? Warum kommst du dann nicht zu mir herüber?“ „Weil du auch nicht zu mir kommst. Es war bisher so, daß der Herr die Dame besucht – und nie umgekehrt.“ 76
„Wie soll ich denn kommen, wenn wir die Raumfahrt noch nicht entwickelt haben?“ „Guter Himmel – Dex! So rückständig seid ihr? Ich hätte nie gedacht, daß ich dir jemals geistig überlegen sein könnte. – Aber besuchen kann ich dich trotzdem nicht. Als Controllix habe ich dazu keine Zeit. Wir haben viel Arbeit mit unseren Vorbereitungen, die Intelligenzia für ihren Größenwahn eines Tages zu bestrafen.“ „Da haben wir dasselbe Ziel. – Wir werden allerdings mehr Zeit dazu benötigen, es zu erreichen.“ „Sehr wahrscheinlich. So, Dex, jetzt müssen wir aufhören. Die Zeit drängt. Wir werden uns dann später wieder mal unterhalten. Bis dahin – lebe wohl!“ „Syl – hörst du? Syl?“ Carfax fluchte. Die Verbindung war unterbrochen. Er stellte fest, daß Fred Dickinson ihn amüsiert angrinste. „Was gibt es denn so Komisches?“ fragte Dex wütend. „Wenn du mich fragst: Alles! – Ich kann nicht behaupten, daß deine Verlobte einen besonders stillen, bescheidenen Eindruck macht, wie du immer behauptet hast. Sie ist eine Frau voller Autorität, eine Herrscherin über ein Planetenreich. An eure Verlobung scheint sie sich auch nicht mehr zu erinnern.“ Carfax erhob sich. Seine Augenbrauen waren finster zusammengezogen. „Sie hat es vergessen. Es ist auch möglich, daß die verdammte Raumstrahlung die ganze Weiblichkeit aus ihr herausgeblasen hat. Egal, was nun wirklich ist – eines ist sicher: Ich bin nicht gewillt, daß sie einen Planeten regiert, der dem unsrigen überlegen ist. Fred, wir müssen alle Hebel und Kräfte in Bewegung setzen, damit wir den Vorsprung, den OMEGA vor ALPHA hat, einholen.“
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UNTHRA GREIFT ERNEUT EIN Auf der Erde hatte inzwischen Vance Unthra den phantastischen Plan seines krankhaft genialen Gehirns in die Tat umgesetzt. Im vergangenen Jahr hatte er alle diejenigen beseitigen lassen, die ihm unzuverlässig erschienen. Die übrigen, 3000 ausgesuchte Wissenschaftler, verschickte er in die stark gelichteten Städte der Erde, von wo aus sie – unter seiner Leitung – die Länder regierten. Aber es gab nicht viel zu regieren. Die Wissenschaftler hatten sich in ihre „Meditationsräume“ zurückgezogen, lagen auf ihren Ruhelagern, ließen sich von willigen Robotern bedienen und – dachten. Ja, sie taten nichts anderes als eben nur – denken. Roboter und automatische Maschinen verrichteten alle notwendige Arbeit. Für die wenigen Menschen, die der Verbannung und der Vernichtung entronnen waren, blieb nichts anderes übrig als das Nichtstun. Das war der Zustand, den Unthra als das „Wissenschaftliche Paradies“ gepriesen hatte. Maschinen regelten die Witterung und erzeugten die synthetischen Nahrungskonzentrate. Roboter brachten den Denkern das Essen, wuschen sie und halfen ihnen auch sonst bei jeder physischen Tätigkeit. Die Wissenschaftler vergaßen mit der Zeit völlig, daß sie einen Körper hatten. Nur ihr Geist lebte noch. Besonders konstruierte Apparate gaben ihnen jeden gewünschten Mentaleinfluß. So lebten sie dahin, als personifizierte Gehirne und lebende Leichname. Es gab nur einen einzigen Mann, der eine Ausnahme bildete – Unthra. Als Herrscher der Welt fühlte er sich veranlaßt, überall nach dem Rechten zu sehen und sich nicht völlig auf die automatische Maschinerie zu verlassen, obwohl diese zuverlässiger als die Menschen war.
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Einer der Roboter glitt an ihn heran und übermittelte ihm auf telepathischem Wege eine Nachricht. „Meldung vom Observatorium“, drangen die Schwingungen in Unthras Hirn. „Zwischen OMEGA und ALPHA ist die erste Nachrichtenverbindung hergestellt worden. Die Unterhaltung fand statt zwischen Dexter Carfax von ALPHA und Sylvia Grantham von OMEGA. Ich gebe jetzt den Wortlaut so wieder, wie er von Robot Nr. 1700 aufgenommen worden ist.“ Vance Unthra lag mit geschlossenen Augen zurückgelehnt in seinem Sessel. Was er nun hörte, war jene Unterhaltung zwischen Dexter und Sylvia. Als der Roboter geendet hatte, öffnete Unthra wieder die Augen. „Geh!“ sagte er. Die geniale Schöpfung aus Glaslinsen, magnetischen Metallplatten und Elektronengehirn schritt schwerfällig auf die Wand zu, wo noch mehrere andere Roboter bereitstanden. Langsam erhob sich Unthra. Aber schon diese Bewegung fiel ihm schwer. Er wunderte sich. Automatisch rief sein Gedankenimpuls einen der Roboter heran, der ihm behilflich war. – „Warum ist mein Körper so schwach und mein Geist so stark?“ fragte er sich. „Gib das Zeichen zum Aufwachen!“ befahl er dem Maschinenmenschen, während er langsam aufstand und in den großen Saal hinüberging. Dort richteten sich die erwachenden Kollegen soeben von ihren Ruhelagern hoch und starrten blinzelnd auf ihren Herrn und Meister. Dieser ließ sich in einem erhöht stehenden Sessel nieder. „Es tut mir leid, daß ich euch stören muß“, entschuldigte er sich. „Es ist etwas Wichtiges geschehen. Jene Normalas machen recht unerfreuliche Fortschritte, besonders auf OMEGA. Wahrscheinlich ist uns in bezug auf dessen atmosphärische 79
Zusammensetzung eine Fehlberechnung untergelaufen. Dadurch wurde die kosmische Strahlung stärker – was wiederum eine Erhöhung der Intelligenz der Menschen auf OMEGA zur Folge hatte, und zwar mehr, als uns lieb sein kann. Jedenfalls ist es eine feststehende Tatsache, daß unsere Existenz durch eine große Gefahr bedroht wird – heute noch nicht, auch noch nicht morgen – aber eines Tages.“ Unthra bemerkte das ungläubige Lächeln auf einigen Gesichtern und fuhr fort: „Die Menschen auf jenen beiden Planeten beabsichtigen, sich an uns zu rächen. Natürlich habe ich von Anfang an mit einer solchen Möglichkeit gerechnet. Ich nahm jedoch an, es könnte Jahrhunderte dauern, ehe sie stark genug seien, um für uns eine Gefahr zu bedeuten. Ich habe mich geirrt.“ Einer der Wissenschaftler raffte sich zu einer Entgegnung auf. „Wir hätten sie gleich ohne jede Bedenken alle vernichten sollen, Unthra. Dann wären wir heute alle Sorgen los.“ „Ich stimme Ihnen bei, mein Freund. Aber ich dachte immer daran, daß sich viele Verwandte der Intelligenzia unter den Normalas befanden. Man hätte uns das sehr übelgenommen; denn es gibt noch genug Menschen auf der Erde. Unser Friede wäre dahin gewesen. Wir dürfen also von uns aus nichts unternehmen, um jene beiden Planeten anzugreifen. – Es könnte jedoch möglich sein, daß zwischen ALPHA und OMEGA Streitigkeiten entstünden, die zu einem Kriege führten – zu einem Kriege, der für beide Völker vernichtend wäre, wenn sie die entsprechenden Waffen hätten.“ „Soweit ich orientiert bin“, warf Rutter ein, „sind die beiden jeweiligen Anführer, Carfax und Sylvia Grantham, Freunde, ja sogar verlobt miteinander. Warum sollten sie sich bekriegen?“ Unthra grinste teuflisch. „Dexter Carfax ist voller Neid, soweit ich der Unterhaltung 80
zwischen den beiden entnehmen konnte. Sylvia Grantham – auf der anderen Seite – ist von ihrer geistigen Überlegenheit mehr als überzeugt. Sie sonnt sich in ihrer Macht, während Carfax wütend ist, daß seine eigenen Fortschritte sich nicht mit denen seiner Verlobten messen können. Sie ist ihm um Jahrzehnte voraus – in jeder Beziehung. Ich habe daher die berechtigte Hoffnung, daß sein Neid sich sehr leicht in bitteren Haß verwandeln könnte.“ Die Wissenschaftler warteten schweigend ab. Unthra selbst dachte nach. Schließlich überzog ein Lächeln sein Gesicht. „Bringe mir aus dem Observatorium die Abhandlung über den ‚Großen Roten Fleck’ des Jupiter“, befahl er einem der Roboter. Dieser glitt lautlos davon. Die Wissenschaftler sanken auf ihr Lager zurück. Trotz allen Nachdenkens kamen sie nicht dahinter, was Unthra mit dem Roten Fleck des Jupiter im Sinne hatte. Der Roboter kam zurück, brachte das Schriftstück. Unthra nahm es und vertiefte sich in die Aufzeichnungen. Nach einer Weile richtete er sich auf und sagte: „Ihre Aufmerksamkeit, meine Herren! Es ist jetzt keine Zeit zum Schlafen!“ Seine Blicke überflogen die Männer und blieben auf einer Gruppe haften. „Ihr sechs dort – kommt her!“ Die sechs jüngeren Männer gehorchten. Sie erhoben sich und schritten schwerfällig auf ihn zu. Zwei Roboter brachten Stühle. „Es wird eine große Ehre für euch sein“, sagte Unthra, „wenn ich unser zukünftiges Schicksal in eure Hände lege. Von euch wird die Zerstörung von ALPHA und OMEGA abhängen, die so unerwartet eine Gefahr geworden sind. Ihr seid noch jung und habt genügend physische Kraft, um eine Zeitlang dies Leben hier vergessen zu können. Drei von euch werden nach ALPHA und drei nach OMEGA reisen.“ „Wir tun alles, was du uns befiehlst, Meister“, antwortete einer der Männer. 81
„So sei es denn. Ihr werdet auf der Nachtseite landen, damit man euch nicht bemerkt. Danach macht ihr euch an die Arbeit. Dies hier ist mein Plan, in dem der Rote Fleck des Planeten Jupiter eine große Rolle spielt.“ * Im Laufe der nächsten Monate machte das Leben auf ALPHA gute Fortschritte. Dex hatte nochmals versucht, mit Syl zusammenzutreffen, aber immer wieder eine Ablehnung erhalten. Ganz langsam entwickelte sich in seinem Innern ein bisher unbekanntes Gefühl. Er glaubte sich benachteiligt und von ihr verachtet. Aus der anfänglichen Empörung über Sylvias Verhalten wurde allmählich die Gewißheit, es könne ihm und seiner neugeschaffenen Welt von OMEGA einst eine Gefahr drohen. „Aber, Dex, das ist doch lächerlich!“ erklärte Fred Dickinson eines Tages, als er von diesen Befürchtungen hörte. „Dieses Mädchen hat dank der stärkeren Strahlung einen höheren Grad von Intelligenz erreicht. Deshalb muß sie doch nicht gleich eine Bedrohung bedeuten.“ „Syl ist nicht mehr jenes Mädchen, das mich einst heiraten wollte“, gab Dex zu bedenken. „Sie hat sich erschreckend geändert. Ich habe noch einige Male mit ihr gesprochen und war entsetzt über ihr unpersönliches Wesen.“ Er ballte die Fäuste und ging zum Fenster hinüber. Jenseits der Siedlung wuchs der undurchdringliche Dschungel, der nur mühsam mit einigen Straßen passierbar gemacht worden war. Ja, viele, viele Jahre waren sie hinter der Zivilisation von OMEGA zurück. „Raumfahrt“, murmelte Dex Carfax. „Wenn wir wenigstens das hätten! Ich flöge sofort nach OMEGA und bliebe so lange bei Syl, bis ich von der dortigen Strahlung genügend beeinflußt 82
worden wäre. Sie kennt das Geheimnis, weigert sich aber, es uns zu verraten. In der Politik könnte man das als einen ‚unfreundlichen Akt’ bezeichnen.“ Freds Gesicht wurde plötzlich ernst, als er sagte: „Dex, wenn du Raumschiffe und Waffen hättest – würdest du versuchen, Sylvia mit Gewalt zu entthronen?“ „Das wohl nicht. Ich könnte sie jedoch zwingen, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir haben als Schwesterwelten so vieles gemeinsam. Aber wie die Dinge nun mal sind, hege ich keine Zweifel, daß sie eines Tages ALPHA annektieren wird.“ „Vielleicht!“ stimmte Fred nachdenklich zu und blickte ebenfalls aus dem Fenster, „übrigens, Dex, es wäre gar nicht so unmöglich, daß wir sehr bald ein Raumschiff bauen könnten. Ich hörte von einigen Gerüchten, wonach ein junger Ingenieur unter uns sein soll, der das Geheimnis kennt. Er soll in den Laboratorien der Intelligenzia gearbeitet haben, in denen die Antriebsaggregate hergestellt wurden.“ Carfax wandte sich langsam um. „Willst du damit sagen, daß jemand, der das Geheimnis kennt, bisher geschwiegen hat? Hat er nicht gewußt, daß jeder sich melden sollte, der technische Kenntnisse hat?“ „Zwei seiner Freunde haben behauptet, er habe gefürchtet, sich lächerlich zu machen, falls er sich geirrt hätte. Es gibt solche Menschen, Dex.“ „Wo befindet er sich?“ verlangte Dex zu wissen. „Keine Ahnung. Seine Freunde arbeiten in der Funkstation.“ „Bringe sie zu mir!“ befahl Dex schnell. „Alles andere ist jetzt unwichtig. Es gibt nur eines: die Raumfahrt so schnell wie möglich zu entwickeln!“ „Ich werde mein möglichstes tun“, versprach Fred. Nach einer Stunde kehrte er zurück und brachte einen jungen Mann mit, der mit einem Overall bekleidet war. Carfax, an seinem Tisch sitzend, sah erwartungsvoll hoch. 83
„Der Mann selbst“, stellte Fred vor. „Ich konnte ihn überraschend schnell auftreiben.“ „Ihr Name?“ fragte Carfax. „Arthur Lennington. Aber ich habe keine Papiere. Sie gingen damals verloren.“ „Spielt keine Rolle“, winkte Carfax kurz ab. „Wie man mir berichtet, kennen Sie das Geheimnis des Antriebes für Weltraumraketen. Stimmt das?“ „Nur in gewissem Sinne: theoretisch vielleicht. Ich kenne die Praxis nicht. Zwar erinnere ich mich verschiedener Einzelheiten, bin mir aber nicht mehr so sicher. Deshalb hatte ich mich bisher noch nicht gemeldet.“ „Aha!“ Carfax schien nachdenklich geworden zu sein. „Ich nehme an, daß man Sie weggeschickt hatte, weil Sie ein Marswassertrinker waren?“ „Sehr richtig!“ „Hm – Mister Lennington, was ich noch sagen wollte: Alle wissenschaftlichen Kenntnisse hier auf ALPHA sind Allgemeingut. Das ist der einzige Weg, unsere Zukunft zu sichern.“ Lennington nickte und sah ein wenig zerknirscht vor sich hin. „Ich werde mein Bestes versuchen. Wenn ich alles niederschreiben könnte, ginge es vielleicht besser.“ „Sicherlich. Ich werde es mir dann ansehen. Wenn Ihre Angaben und Berechnungen richtig sind, ernenne ich Sie zum Chefingenieur für Raumfahrt.“ Lennington lächelte geschmeichelt. Dann nahm er Papier und Bleistift, das Carfax ihm hinschob, setzte sich an einen Tisch und begann mit seiner Arbeit. An der schnellen Linienführung und der Geschwindigkeit, mit der er Formeln und Gleichungen berechnete, erkannte Carfax, daß er einen Wissenschaftler von Format vor sich hatte. Selbst während der Arbeit vermochte er Fragen zu stellen. 84
„Darf ich fragen, ob Sie beabsichtigen, mit einer Raumflotte zur Erde zu fliegen und die Intelligenzia zu bestrafen?“ „Das wäre möglich. Vorerst haben wir andere, wichtigere Aufgaben.“ Der Agent Vance Unthras hob nicht einmal den Kopf. „Verstehe. Hm – es ist vielleicht nicht meine Aufgabe, hier etwas zu sagen – aber ich halte eine gute Raumflotte für unerläßlich, um einer etwaigen Bedrohung durch den Planeten OMEGA vorzubeugen.“ Carfax horchte auf und warf Fred Dickinson einen Blick zu. „Bedrohung?“ fragte er. Lennington beendete eine Formelzusammensetzung, ehe er antwortete. „Die Beunruhigung unter der Bevölkerung ist nicht gering. Sie können das nicht so gut wissen wie ich, weil Sie nicht unter den Menschen leben. Auch meine beiden Freunde erzählten mir bereits recht unerfreuliche Einzelheiten.“ Lennington sah auf und fuhr fort: „Ehrlich gesagt: Wir sind erschreckt über das, was sich auf OMEGA tut.“ „Warum?“ Carfax blieb ruhig. „Was wissen Sie überhaupt von OMEGA?“ „Die Zeitung, die Sie herausgeben lassen, bringt auch die Meldungen und Beobachtungen des Observatoriums. Ebenfalls brachten sie einen Kommentar über den Inhalt Ihrer Unterhaltungen mit jener Sylvia Grantharn, der ‚Controllix’. Unsere Menschen hier glauben nicht daran, daß wir friedlich in der Nachbarschaft eines Planeten leben können, deren Herrscherin so ehrgeizig und dazu noch so intelligent ist.“ „Daran habe ich auch schon gedacht“, murmelte Carfax. „Noch etwas“, sagte Lennington, indem er eine neue Zeichnung auf das Papier warf. „Die Gewißheit, daß die Macht auf dem anderen Planeten der unsrigen weit überlegen ist und dabei noch ständig steigt, gibt uns allein das Gefühl ständiger 85
Bedrohung. Wir leben im Schatten eines unschlagbaren Gegners.“ „Über die Möglichkeit einer Gefahr bin ich mir im klaren“, sagte Carfax. „Nur die Raumfahrt vermag alle unsere Probleme zu lösen.“ „Ich sehe nicht ein, wieso“, mischte Fred Dickinson sich in das Gespräch. „Wenn Sylvia Grantham uns so weit voraus ist – was könnte uns da die Raumfahrt noch helfen?“ „Wir könnten persönlich Fühlung aufnehmen“, erklärte Carfax. „Das macht viel aus. Wenigstens verzögern wir den etwaigen Konflikt, bis wir selbst entsprechende Waffen konstruiert haben.“ „Die Raumfahrt könnte uns dabei einen großen Dienst erweisen“, warf Lennington hin, indem er kritisch seine Zeichnung betrachtete. „Ich habe da noch einige interessante Dinge gehört, als ich unter der Intelligenzia arbeitete. Möglich, daß sie uns heute von Nutzen sind.“ „Was ist es?“ fragte Carfax und wartete geduldig. „Es betrifft den Planeten Jupiter. Sie waren in der Klasse der Normala und hatten nie Gelegenheit, durch einen der gigantischen Reflektoren einen Blick auf die Oberfläche dieses Riesenplaneten zu werfen. Wahrscheinlich haben Sie auch nie die Berichte lesen können, die man darüber schrieb?“ „Nie – leider“, bedauerte Carfax. „Dann wird es Sie vielleicht interessieren, daß Jupiter eine ungeheure Waffe hat, mit der man jeden Planeten – auch OMEGA – zerstören könnte. Ich will damit nicht sagen, daß man diese Waffe anwenden soll – aber ihr Besitz wäre sehr beruhigend.“ „Was ist das für eine Waffe?“ „Der Rote Fleck des Jupiter. Im 20. Jahrhundert nahm man an, es sei die einzige feste Stelle des sonst flüssigen Planeten, 86
ein Gebiet von etwa 8000 Meilen Durchmesser. Die Beobachtungen der Intelligenzia bewiesen jedoch, daß diese Annahme falsch war. Die Wahrheit ist genau umgekehrt: Jupiters Oberfläche ist fest, der Planet mit einer Atmosphäre von Ammoniak und Wasserstoff umgeben. Die weit entfernte Sonne spendet nur sehr wenig Licht und Wärme. Der Große Rote Fleck besteht aus einer flammenden Hölle dauernder Atomzertrümmerung, einer einmal ausgelösten Kettenreaktion, die den Planeten – infolge seiner riesigen Größe – nur langsam vernichten wird. Langsam zwar – aber unaufhaltsam!“ Carfax zog die Brauen zusammen. „Das nimmt man an?“ „Sollten die Instrumente lügen? Oder die Berichte? Dies war damals der neueste Bericht. Nur durch Zufall konnte ich ihn lesen. Es besteht auch Grund zu der Annahme, daß die atomare Kettenreaktion ausgelöst wurde, als der Asteroidengürtel entstand. Warum gerade dann? Auch hier fand man eine verblüffende Lösung. Jene Splitterstücke bildeten einst einen Planeten, der von intelligenten Lebewesen bewohnt war. Sie befaßten sich mit der Spaltung von Atomen, machten wohl einen Fehler und lösten eine unaufhaltbare Kettenreaktion aus. Ihr Planet war unrettbar verloren. Sie flohen also zum Jupiter, nahmen aber, wahrscheinlich versehentlich, etwas von dem sich in atomarer Auflösung befindlichen Stoff mit. Hier geschah nun das gleiche – aber der Jupiter ist groß. Es wird länger dauern. Was aus jenen Bewohnern geworden ist, wissen wir nicht.“ „Eine interessante Theorie“, meinte Carfax nachdenklich. „Was hat das nun mit einer Waffe zu tun?“ Lennington spreizte die Finger. „Ist das nicht ersichtlich? Finden Sie nur einen Stoff, der jenem aktiven Material widersteht. Bringen Sie ein wenig von dem Teufelszeug nach OMEGA – und in einem Jahr ist jener Planet“ – Er zeigte aus dem Fenster – „nur noch eine Wolke 87
radioaktiven Staubes. Oder Sie können – wenn Sie nicht so drastisch vorgehen wollen – die Controllix zwingen, sich Ihren Wünschen zu fügen. Eine solche Waffe gibt Ihnen die Macht dazu. Aber das ist Ihre Angelegenheit.“ Dabei reichte Lennington die fertigen Zeichnungen und Berechnungen Carfax hinüber, der sie entgegennahm. „Ich danke Ihnen, lieber Lennington. Nach Überprüfung Ihrer Vorschläge gebe ich Ihnen Bescheid.“ Lennington verbeugte sich leicht und verließ das Hauptquartier. Carfax saß über den Zeichnungen; aber er studierte sie kaum. Seine Gedanken waren bei dem, was er eben gehört hatte. „Was hältst du davon?“ fragte er endlich. „Möglich ist alles.“ Fred Dickson hob die Schultern. „Bis zum Jupiter ist bisher noch keiner geflogen. Die starke Anziehungskraft ist zu gefährlich. Warum sollte Lennington lügen? Welchen Grund hätte er dazu?“ „Es könnte sein, daß er die Tatsachen verwechselt“, vermutete Carfax. „Sollte er jedoch recht haben, dann wird sich Sylvia eines Tages alles zweimal überlegen, ehe sie handelt.“ „Warum bist du so ungerecht, Dex? Ich habe eure Unterhaltungen immer mitgehört und glaube sicher, daß du dich irrst. Sie hat bestimmt nicht die Absicht, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen. Ihr ganzes Sinnen und Trachten geht vielmehr darauf hin, einen Schlag gegen die Intelligenzia zu führen. Warum sollte sie uns angreifen?“ „Sie will nicht eine, sondern zwei Welten beherrschen. Für einen Machtgierigen bedeutet das allerhand – und sie ist größenwahnsinnig! So, nun wollen wir erst mal sehen, ob an den Raumfahrtformeln etwas dran ist. Die anderen Entscheidungen hängen ja doch davon ab. Gehen wir ins Laboratorium; vielleicht können wir ein Modell herstellen lassen.“ Carfax erhob sich. 88
„Übrigens, kennst du diesen Lennington?“ „Nicht besser als du. Er ist einer von uns, genau wie seine beiden Freunde. – Warum?“ „Ach, nichts. Ich dachte nur soeben, daß es sehr merkwürdig sei, daß er so viel weiß. Na, sei es, wie es sei – gehen wir lieber!“ * Etwa zu dieser Zeit weilte Sylvia Grantham in ihrem Hauptquartier, das sich schon rein äußerlich sehr von dem Dexters unterschied. Ihr Raum befand sich unterm Dach eines 300 Meter hohen Wolkenkratzers, in dem riesige Laboratorien und wissenschaftliche Einrichtungen untergebracht waren. Sylvia saß vor einem Tisch, von dem aus sie den ganzen Planeten mit Radio, Television und anderen technischen Mitteln kontrollieren konnte. Sie sah genau so aus, wie Dex sie von früher kannte; nur die Züge ihres Gesichts waren härter und schärfer geworden. Sie hatte viel ihres freundlichen Wesens verloren – und sicher auch ihre Liebe. Um sie herum waren die Männer und Frauen, die sie zu Offizieren der Regierung ernannt hatte. Vor ihr, von Wachen gehalten, standen drei junge Männer, die Augen scheu niedergeschlagen und vor Furcht bleich. Sie wußte im ersten Augenblick, daß dies keine Angehörige ihres Planetenstaates sein konnten. Auf OMEGA gab es nur Kinder, Frauen und ältere Männer, über 40 Jahren. „Ihr kamt also von ALPHA?“ fragte sie. „Ja, Controllix“, bestätigte der mittlere der Männer. „Wir flohen in einem Raumschiff, um euch zu warnen, Controllix.“ Die Blicke des Mädchens lagen prüfend auf den Gesichtern der drei. Wie sollte sie wissen, daß vor ihr die Agenten des teu89
flischen Unthra standen? Wie konnte sie ahnen, daß sie den Befehl hatten, sich möglichst schnell gefangennehmen zu lassen? „Um mich zu warnen?“ fragte Sylvia endlich. „Wovor? Vor der Erde?“ „Nein – vor ALPHA. Dexter Carfax plant eure restlose Vernichtung.“ Das Mädchen lachte laut auf. „Unsere Vernichtung? Mein Freund, du irrst dich. Die Zivilisation auf ALPHA ist derart rückständig, daß –“ „So glaubt ihr, Controllix. Er hat euch getäuscht. Die kosmische Strahlung hatte bei uns den gleichen Erfolg wie bei euch auf OMEGA. Seht uns an. Das ist die Verfassung, in der sich alle Männer bei uns befinden. Wir kamen in einem Raumschiff, das wir aus der entstehenden Flotte gestohlen haben. Carfax hat dich belogen, Controllix, um euch nicht mißtrauisch zu machen.“ „Aber warum denn?“ fragte Sylvia kurz. „Ganz klar. So schnell wie möglich möchte er OMEGA angreifen. Er ist der Auffassung, daß diese beiden Welten nicht nebeneinander existieren können. Der Schlag gegen die Intelligenzia muß gemeinsam geführt werden; aber nur einer kann das Kommando übernehmen. Das will Dexter Carfax keinem anderen gönnen, am wenigsten einer Frau.“ Sylvias Augen funkelten vor Wut. „Interessant! Und warum seid ihr drei geflüchtet?“ „Weil wir einen Krieg vermeiden möchten, der beide Planeten vernichten wird. Wir hoffen, daß eine Einigung zustande kommen kann.“ „Nun – so ganz unvorbereitet bin ich auch nicht. In kürzester Zeit wäre ich bereit, jeden Angreifer wirksam abzuwehren, falls man es wagen sollte, mich zu überfallen.“ „Er wird es tun“, sagte der Mann. „Aber ich glaube kaum, daß ihr ein Mittel gegen seine furchtbare Waffe haben werdet, die er anzuwenden gedenkt.“ 90
„Was sollte das für eine Waffe sein? Sein technisches Wissen ist nicht größer als das meine.“ „Das ist keine Frage der Intelligenz, Controllix, sondern nur des Gewissens. Durch Zufall kamen wir hinter seine Pläne. Er beabsichtigt, einen gewissen Stoff vom Jupiter zu holen, der eine unaufhaltsame Kettenreaktion auslöst. Der Große Rote Fleck ist ein Gebiet, das sich in ständiger atomarer Auflösung befindet.“ „Woher wissen Sie das?“ „Von Carfax selbst. Er ist bereits zweimal zum Jupiter geflogen, von der anderen Seite des ALPHA startend und landend.“ „Und ihr wollt behaupten, daß er unseren Planeten mit diesem – Stoff vernichten will? Wie will er diesen Stoff, der angeblich alles andere mit der Auflösung ansteckt, transportieren?“ „Keine Ahnung, aber er hat eine Methode! Wir kamen nur, um euch zu warnen. Wenn er wieder zum Jupiter fliegt, müßt ihr ihm folgen und ihn hindern. Nur so könnt ihr einen verhängnisvollen Konflikt vermeiden.“ „Mag sein.“ Das Mädchen lächelte hart. „Ich hoffe jedenfalls, daß ihr die Wahrheit gesprochen habt – wenigstens in eurem Interesse hoffe ich das. Ihr werdet eingesperrt, bis alles geklärt ist. Für mich seid ihr solange Fremde, Eindringlinge. – Führt sie ab!“ befahl sie dann. Die drei Männer verließen den Raum. Sylvia Grantham wandte sich an ihre Offiziere. „Es kann etwas Wahres an ihrer Geschichte sein“, sagte sie langsam. „Dexter Carfax kann sehr eifersüchtig und neidisch sein; ich kenne ihn. Aber die Flucht der drei Männer in einem Raumschiff erscheint mir fast unmöglich. Außerdem glaube ich kaum, daß Dexter mir die Entwicklung seiner Raumfahrt verheimlicht hätte.“ „Mir kommt diese ganze Geschichte sehr verdächtig vor“, 91
sagte einer der Offiziere. „Das beste wäre, Dexter Carfax zu bitten, hierherzukommen.“ Sylvia schüttelte den Kopf. „Es wäre ein großer Fehler, unseren Verdacht zu zeigen. Lügen die Männer, dann kann er nicht kommen, weil ihm das Raumschiff fehlt. Lügen sie nicht, wäre er gewarnt. Nein, wir halten von nun an ALPHA mit unseren Reflektoren unter ständiger Kontrolle. Sollte er wirklich mit einer Rakete starten, kann uns das nicht entgehen. Ich werde ihm folgen – und wir werden uns ‚zufällig’ treffen. So kann er nie Verdacht schöpfen, und wir erfahren seine Absichten.“ „Wie Sie wünschen, Controllix.“ Das Mädchen griff zum Visifon und wählte das Observatorium. „Meinen Glückwunsch, daß Sie jenes fremde Raumschiff entdeckt haben!“ sagte sie. „Es ist ab heute Ihre Hauptaufgabe, den Raum zwischen uns und Jupiter unter ständiger Beobachtung zu halten. Bei dem ersten Anzeichen dafür, daß sich dort ein Raumschiff befindet, bitte ich um sofortige Benachrichtigung.“ „Jawohl, Controllix.“ Das Mädchen schaltete ab und lehnte sich zurück. Ein hartes Lächeln lag auf ihren Zügen. Was sollte sie Dexter sagen, wenn sie ihm jemals begegnete?
DER FEUERSEE DES JUPITER Nach zwei Wochen angestrengter Versuche und Berechnungen wußte Carfax, daß die Angaben Lenningtons richtig waren. Gemeinsam mit Fred Dickinson war es ihm gelungen, ein kleines Raumschiff zu konstruieren und die ersten Flüge in die Stratosphäre mit Befriedigung durchzuführen. Das Problem der Raumfahrt war gelöst!
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Die Nachricht verbreitete sich schnell unter der Bevölkerung. Jedermann dachte tief in seinem Inneren nur an eines: Flug zur Erde und Rache an der Intelligenzia! – Es gab keinen Menschen, der an einen Krieg mit dem Schwesterplaneten OMEGA dachte. Carfax wußte das genau, hatte aber nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Erst wollte er zum Jupiter. Sein ganzes Trachten war darauf eingestellt, jenen Roten Fleck und seine Möglichkeiten kennenzulernen. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Fertigstellung der Rakete. Die Verwaltungsarbeiten überließ er seinen bewährten Adjutanten. Sechs Monate dauerte es, ehe das Raumschiff so vollendet war, daß er einen Probeflug in das All unternehmen konnte. Zum ersten Male durchbrach er die dunkle Grenze zwischen ALPHA und der Erde. Er war zufrieden. Nur eine Tatsache bereitete ihm Sorge. Obwohl die Strahlturbinen mächtig genug waren und der Brennstoff eine fast unerschöpfliche Energie erzeugte – würde er der riesigen Anziehungskraft des Jupiter widerstehen können und nicht auf seiner Oberfläche zerschellen? Er hatte getan, was getan werden konnte. Alles andere war jetzt nur noch Glücksache. Der Weltraum jenseits des Planetoidengürtels war so gut wie unerforscht. Dex war daher froh, als Fred Dickinson ihn bat, ihn begleiten zu dürfen. Ohne großes Aufsehen starteten sie. über das Ziel und den Zweck der Reise war nichts bekanntgegeben worden. Einmal im Weltraum, legten sie keinen besonderen Wert darauf, einen zu großen Umweg um OMEGA zu machen. Sie hielten es auch für unwahrscheinlich, daß man ihren Planeten ständig unter Beobachtung hatte. ALPHA versank im Raum, auch OMEGA, den sie in zwei Millionen Meilen Abstand passierten. Die beiden Globusse 93
wurden kleiner und kleiner, als sie die Geschwindigkeit erhöhten. Vor ihnen lag die Bahn des Mars um die Sonne. Es folgten Trümmer eines vor undenkbaren Zeiten zerplatzten Planeten. Endlich kam die Leere, die große Leere bis zum Jupiter. Carfax vermied es absichtlich, mit äußerster Beschleunigung zu fliegen. Das wäre zu anstrengend für sie gewesen. Anstrengungen lagen noch genügend vor ihnen. Die Automatik führte das Schiff auf dem berechneten Kurs. Sie hatten viel Zeit, um auszuruhen. Fred starrte durch die Astroluke in die Schwärze des unendlichen Raumes, Soeben hatten sie die Marsbahn durcheilt, ohne etwas von dem Planeten selbst zu sehen. Er befand sich jenseits der Sonne. Den Blick in Flugrichtung wendend, erkannte er einen hellen Fleck: Jupiter! Noch 380 Millionen Meilen. Die vielen glänzenden Punkte da vorne – das waren die Asteroiden. „Wie lange werden wir benötigen, um den Riesen unter den Planeten zu erreichen?“ fragte er. „Drei Wochen“, gab Dexter zur Antwort, einen Blick auf die Instrumente werfend. „Es ginge schneller, aber der Andruck ist auf die Dauer unangenehm. Wozu auch? Wir haben Zeit.“ „Das stimmt – die Ruhe tut uns gut.“ Fred blickte wieder hinaus auf die winzigen Lichtpünktchen, die immer näher kamen. „Sollen wir unter oder über dem Gürtel her? Denke daran, daß ein direkter Anflug sehr gefährlich wäre. Du kannst genau so gut mit einem Auto durch ein Minenfeld gondeln.“ Carfax nickte, veränderte den Kurs ein wenig und ließ die Automatik wieder einschnappen. Selbstgesteuert raste das Schiff durch den Weltraum. Es kannte seinen Weg, weil es das Ziel kannte. Bis in die Nähe des Jupiter hatten die Männer nichts zu tun. Sie schliefen, aßen, machten astronautische Beobachtungen und fotografierten den Kosmos. Sie diskutierten die Zukunft von 94
ALPHA und die Möglichkeiten eines Krieges mit der Erde. Ängstlich vermied Carfax das Thema OMEGA. Bevor er etwas entscheiden wollte, mußte er wissen, was es mit dem Roten Fleck des Jupiter auf sich hatte. Als sie in die Nähe der Planetentrümmer kamen, begannen die Alarmsirenen des Radarsuchers zu schrillen. Aber in der sicheren Entfernung von zwei Millionen Meilen schossen sie über die unzähligen Lichtpünktchen dahin, die einen Durchmesser von wenigen Metern bis zu vielen Meilen hatten. Einige winzige Außenseiter kamen in den Bereich des Energieabwehrschildes und wurden von den Strahlen zur Seite geschleudert. Endlich jedoch lag der Gürtel hinter ihnen. Vor dem Schiff war nichts mehr als leerer Raum bis zu dem jetzt schon als Kugel erkennbaren Jupiter. Er war sichtlich größer geworden. Wie drohend hing er im All. Die Rakete raste mit unverminderter Geschwindigkeit auf ihn zu, tage- und wochenlang. „Glaubst du an die Theorie der Intelligenzia?“ fragte Fred ziemlich unvermittelt. „Warum nicht? Man suchte stets schon nach einer plausiblen Erklärung für den scheinbar sinnlos großen Abstand des Jupiter vom Mars. Diese neue Theorie ist sehr einleuchtend. Unabhängig davon wurde ja schon immer behauptet, das Unglück sei zur Zeit der irdischen Sintflut geschehen, womit diese auch ihre Erklärung fand. Nun, das sind alles nur Vermutungen. Uns interessiert im Augenblick nur der Jupiter. Sieh nur – er ist schon näher gekommen!“ Durch die Instrumente und das Teleskop blickten sie auf die mächtige Kugel, deren Oberfläche durch dichte Wolkenbänke verborgen war. Die Pole waren ungewöhnlich abgeplattet, infolge der ungeheuer schnellen Rotation des Planeten. Die Wolken zogen nicht etwa gemächlich dahin, sondern rasten wie in einem Sturm um den Globus herum. Wenn die Instrumente nicht trogen, bestanden sie aus Ammoniak und Methan. Auf der 95
Oberfläche schienen unwirtliche Verhältnisse zu herrschen. Kein Lebewesen irdischer Herkunft vermochte dort zu existieren. Nie zuvor war ein Raumschiff derart nahe an den Jupiter herangekommen. Zwischen den Wolkenfetzen hindurch erhaschten sie ab und zu einen Blick auf die Oberfläche. Dort – ein glühendes Flammenmeer der offenen Hölle! Das war der Rote Fleck! „Ob unsere Maschinen das aushalten?“ brach Fred endlich das Schweigen. Sein Gesicht war sehr ernst. „Das ist ein Risiko, mit dem wir rechnen müssen. Du wußtest das schon, als wir starteten. Wenn sie nicht stark genug sind –“ Carfax zögerte. Er schob sein Kinn vor. „Nun – dann ist alles vorbei. Jedenfalls werden wir jetzt nicht mehr umkehren, ohne genau zu wissen, was sich dort unten befindet.“ Unten! Der Ausdruck war zutreffend. Schon begann sich die Gravitation bemerkbar zu machen. Längst waren die Antriebsdüsen abgestellt. Aus dem Bug des Schiffes schossen die violetten Strahlenbündel der Bremsdüsen. Bald füllte die mächtige Kugel den ganzen sichtbaren Raum aus. Immer noch fielen sie mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu. Der Fall wurde stetig langsamer. Näher und näher kamen die wirbelnden Wolkenmassen, deren Farbe ins Grünliche spielte. Fred saß an dem Radargerät und versuchte, die dichten Gasmassen mit den Strahlen zu durchdringen. „Diese verdammte Anziehungskraft!“ murmelte Carfax besorgt. „Sie scheint stärker zu sein, als jemals berechnet wurde. Wie ein Magnet!“ Fred sagte nichts. Er warf einen Blick zurück. Mehrere Lichtpünktchen standen eng beieinander. Das waren die inneren Planeten. Ein feiner Schleier – die Asteroiden. Der glitzernde Stern dort – das war die Sonne. Doch da –! Ach, es war wohl nur eine Sinnestäuschung. Er glaubte wirklich, für einen Mo96
ment einen silbernen, zigarrenförmigen Schatten gesehen zu haben. Da! Da war es wieder! „Ob das ein Raumschiff ist?“ fragte er Carfax und zeigte auf den Bildschirm. „Kaum. Vielleicht ein Meteor, Fred.“ Carfax sah gar nicht hin. „Wir haben keine Zeit jetzt. Passe lieber auf!“ Wie zur Bekräftigung seiner Worte sackten sie plötzlich in die Tiefe und fielen in das grüne Wolkenmeer des Jupiter. Die Strahlen der Suchscheinwerfer wurden reflektiert und blendeten mehr, als sie nützlich waren. Um sie herum war die Hölle eines noch nie erlebten Orkans. Die Ammoniakgase kondensierten an den Quarzluken. Die Tropfen froren zu Eis, ehe der Sturm sie wegwischen konnte. Der Höhenmesser zeigte 23 000 Fuß über der Oberfläche an. Die Windgeschwindigkeit betrug 210 Meilen je Stunde. An den Luken vorbei trieben die Wolken. Es war dunkel. Die Sonne hatte nicht mehr die Kraft, Licht oder Wärme zu spenden. Carfax ließ das Schiff bis auf 10 000 Fuß fallen. Dann ging er in einen Gleitflug über, indem er die Bauchdüsen auf der Unterseite in Tätigkeit setzte. Widerwillig gehorchte die kleine Rakete. Der Flug wurde langsamer und die Höhe geringer. „Der Gedanke, daß uns nur die dünne Hülle und das bißchen Glas von dem unvermeidlichen Tode trennt, macht mich ganz schwach“, stöhnte Fred. „Wollen wir nicht lieber die Raumanzüge anlegen? Nur ein Leck – und wir sind verloren.“ „Keine Zeit jetzt“, kam Carfax’ Antwort. „Hätten eher daran denken sollen. Achte auf deinen Radarschirm, damit wir nicht gegen ein Gebirge brummen. Ich nehme allerdings an, daß die starke Gravitation eine Bildung höherer Berge verhindert hat. Auf großen Planeten gibt es keine bemerkenswerten Erhebungen. Das ist das Gesetz der Masse.“ Fred starrte in den Nebel vor sich. Das Glas der Luke war 97
von außen mit einer dicken Schicht gefrorenen Ammoniaks bedeckt. Die Temperatur auf dem Jupiter schien weit unter Null zu liegen. „Jedes Lebewesen, das sich hier ansiedeln wollte, müßte verrückt sein“, knurrte er vor sich hin. „Von unserem Standpunkt aus gesehen, sicher“, meinte Carfax. „Vergiß jedoch nicht: Andere Lebewesen – andere Lebensbedingungen! Vielleicht hatte jener geplatzte Planet ebenfalls eine Ammoniakatmosphäre. Als sie dann zum Jupiter kamen, fanden sie es hier sehr gemütlich und an die Heimat erinnernd. Alles andere –“ „Hoch!“ brüllte Fred plötzlich. Auf dem Bildschirm erschien eine scharfe, dunkle Spitze. Das Schiff gehorchte und ging steil in die Höhe. Unter ihnen versank eine schneebedeckte Felsspitze im grünen Nebel. „Du meintest, hier gäbe es keine Berge!“ grinste Fred mühsam, als sie in 10 000 Fuß Höhe angelangt waren. „Im Vergleich zum Mount Everest war dies nur ein besserer Hügel“, verteidigte sich Carfax und blickte zu der Luke hinüber. „Wenn wir doch nur aus diesem giftigen Nebel herauskämen!“ „Gehe hinunter! Ich glaube kaum, daß die Wolken bis zur Oberfläche reichen.“ Obwohl das Unternehmen sehr gefährlich war, wagte Carfax es, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Er verringerte die Geschwindigkeit, ließ die Bauchdüsen fast voll arbeiten und sank so langsam in die Tiefe. Es war, als tauche ein U-Boot auf den Grund des Ozeans. Bei genau 2000 Fuß wurde es plötzlich klar. Der grüne Nebel war wie weggewischt. Fred schaltete die Scheinwerfer ein. Ihr grelles Licht fiel auf die Oberfläche des größten Planeten des Sonnensystems. Felsen, Spalten, Schluchten und Eis, doch keinerlei Spuren von Leben oder Vegetation! Unter ihnen lag eine tote Welt, eine 98
Welt des Grauens und der trostlosen, einsamen Leere. An Stelle eines feuerflüssigen Balles entdeckten sie einen vereisten, lebensfeindlichen Globus, der fern von der wärmespendenden Sonne seine weite Bahn durch das All zog. Auf den zwölf Monden mochte es ähnlich aussehen: Ammoniak und Methan, alles gefroren – vielleicht sogar die Atmosphäre. „Das ist ja ein miserabler Anblick“, stellte Fred fest, während sie Meile für Meile dahinglitten. „Wo ist der Rote Fleck?“ Nahezu drei Stunden später fanden sie ihn endlich. Ehe sie sich dessen überhaupt bewußt waren, schwebten sie über der Hölle eines sich langsam voranfressenden Atomfeuers. Es war, als hingen sie über einem Vulkan, der kein Ende nehmen wollte. Und doch war das kein vulkanisches Feuer; denn nicht die geringste Spur einer Wolke war zu entdecken. Nur eine flüssige rote Masse, in der selbst Felsen schwammen und sich langsam auflösten. „Wir kehren lieber um“, riet Fred mit unsicherer Stimme, in der ein leises Schwanken lag. „Der Rote Fleck bedeckt eine Fläche von etwa 60 000 Quadratmeilen. Der kleinste Defekt – und wir fallen in die Teufelsbrühe. Kehre um. Wir landen und sehen uns das Zeug von unten an.“ Mit dem Gefühl, das Schicksal nicht zu sehr herausfordern zu dürfen, gehorchte Carfax. Er zog eine weite Schleife und glitt in sanftem Gleitflug nach unten, sobald der feste Fels wieder sichtbar wurde. Mit gleicher Düsenkraft wären sie von der Erde aus in den Weltraum gebraust. Hier genügte sie, um sanft aufsetzen zu können. Eine halbe Meile von ihnen entfernt begann die Hölle. Sie stiegen in die druck- und strahlsicheren Raumanzüge, steckten Geräte und Waffen in die geräumigen Taschen und kletterten in die Luftdruckkammern. Die Tür schloß sich automatisch. Dann öffneten sie die Außenluke. Vor ihnen lag die wilde Landschaft des Jupiter. 99
Sobald sie ihren Fuß auf die Oberfläche des Planeten setzten, fühlten sie, wie ein furchtbares Gewicht sie in die Knie zwang. Hier draußen war die Schwerkraft viel mehr zu spüren als im Inneren des Schiffes, wo die Antigravitationsplatten einen Teil der Kraftstrahlen neutralisierten. Nur mit Mühe richtete sich Fred wieder hoch und stellte befriedigt fest; daß es Carfax auch nicht besser erging. „Das ist ja gräßlich!“ stöhnte er durch den Sprechfunk. „Hat es überhaupt Sinn, daß wir es versuchen?“ „Wir müssen – so kurz vor dem Ziel!“ Wie zwei Tiefseetaucher bewegten sich die beiden Männer schwerfällig auf jene Stelle zu, wo die Energie des Atoms einen Riesenplaneten langsam, aber sicher zerfraß. Für die halbe Meile benötigten sie beinahe eine Stunde. Dann standen sie endlich vor einem Felsen, hinter dem die Hölle des ewigen Feuers begann. Durch die Anzüge hindurch vermeinten sie die Hitze zu spüren. Carfax blickte vorsichtig über den Rand hinweg und warf einen Blick auf das „Ufer“ des flüssigen Magmasees. Er konnte deutlich sehen, daß es sich ihnen ganz langsam näherte. Dieses Atomfeuer war ein fressender Kreis, ein faszinierender, aber schrecklicher Anblick. „Kettenreaktion, die Folge nicht mehr kontrollierbarer Atomenergie“, stellte Carfax sachlich fest. „Felsen schmelzen sonst nicht so leicht. Lennington hatte also doch recht. Dies ist eine furchtbare Waffe!“ Fred sah ihn entsetzt an. Der Schein des Feuers brach sich an seinem durchsichtigen Helm. „Mensch – du wirst dies hier doch wohl nicht als Waffe mißbrauchen wollen? Willst du dich an der Natur versündigen? Willst du die Flüche der gesamten Menschheit auf dich vereinigen? Denke an jene, die einst diesen Brand entfachten! Sie sind tot. Ihr Volk wurde vernichtet. Ich möchte keinem 100
Feind ein solches Ende gönnen – am allerwenigsten Sylvia Grantham. – Wie wolltest du übrigens auch nur ein Gramm dieser radioaktiven Masse transportieren? Sie wird sofort jedes Element und damit jeden Behälter in pure Energie auflösen.“ Carfax gab keine Antwort. Fred, der auf den See blickte, verspürte plötzlich ein merkwürdiges Gefühl im Rücken. Er wandte sich um und bemerkte, daß sein Freund in die Richtung starrte, aus der sie eben gekommen waren. Er folgte seinem Blick und– zuckte zusammen. Dort kam ein Mensch auf sie zu. Es schien ein Mensch zu sein; denn die Gestalt trug einen Raumanzug. Der starke Strahl eines Scheinwerfers schwankte hin und her. „Was, zum Teufel –!?“ begann Fred und schwieg wieder. Instinktiv fühlte seine Hand nach dem Kolben der Strahlpistole. Es dauerte keine zehn Minuten, da war die Gestalt heran, Sie litt genau so unter der Gravitation wie die beiden Männer. Der rote Schein des Atomfeuers beleuchtete ein vor Anstrengung verzerrtes Gesicht und eine wirre Masse dunklen Haares. „Syl!“ schrie Carfax und schnappte nach Luft. „Du? – Bei allen Göttern des Weltalls: Wie kommst du denn hierher?“ Unwillkürlich griff er nach ihrer behandschuhten Hand, um sie zu begrüßen. Sie aber trat einen Schritt zurück. In den Helmen der Männer ertönte ihre Stimme, aufgefangen durch die kleinen Stabantennen. „Ich habe diese gefährliche Reise nicht gemacht, um dir die Hände zu schütteln. Ich wollte nur meinen Verdacht bestätigt sehen. Das ist geschehen.“ „Verdacht?“ wiederholte Carfax verständnislos. „Ja, man hat mich davon unterrichtet, daß ihr zum Jupiter wolltet, um den Roten Fleck zu untersuchen. Ihr wollt ihn als Terrorwaffe gegen mich anwenden. Ich weiß jetzt, daß jene Männer nicht gelogen haben. Dex, das war das letzte, was ich von dir erwartet hätte!“ 101
„Einen Moment, Syl“, sagte Carfax und griff nach der Schulter des Mädchens, sie trotz ihres Sträubens nicht mehr loslassend. „Ich glaube, da gibt es einiges zu klären. Gegen dich ist absolut nichts Böses geplant, niemals! Auch habe ich nie –“ „Warum bist du dann hier? Ausgerechnet noch an dem Ufer dieses teuflischen Atomsees? Erzähle mir nur nicht, daß du 400 Millionen Meilen geflogen bist, nur um die Landschaft hier zu bewundern.“ „Natürlich nicht.“ „Warum also kamst du hierher?“ Carfax preßte die Lippen fest aufeinander. Dann sagte er: „Ich habe das Gefühl, daß wir uns mißverstehen. Außerdem glaube ich, daß an deinen Informationen nicht alles seine Richtigkeit hat. Wir müssen uns aussprechen, Syl. Deine Rakete ist dort hinten?“ „Natürlich – keine fünfhundert Meter von der euren entfernt. Ich verfolge euch, seit ihr ALPHA verlassen habt.“ „Dann habe ich also doch richtig gesehen“, murmelte Fred vor sich hin. „Gehen wir zu den Raumschiffen“, sagte Carfax ruhig. „Dort können wir dann in Ruhe über alles reden.“ „Verschwende deine Zeit nicht mit Erklärungen“, unterbrach ihn das Mädchen. „Ich habe genug gesehen. Dein blinder Neid wird dich noch ins Verderben stürzen. Du hast mir nur ein rückständiges und primitives Lebensniveau vorgetäuscht, um deine wahre Stärke zu tarnen. Du kannst es nicht vertragen, daß eine Frau über die gleiche Intelligenz und Macht verfügt wie du.“ „Wovon, zum Teufel, redest du eigentlich?“ fragte Carfax befremdet. Das Mädchen schritt langsam rückwärts und bedrohte die Männer mit ihrer plötzlich in der Hand liegenden Strahlwaffe. „Du weißt sehr genau, wovon ich rede, Dex. Das ist das Ende unserer Unterhaltung. Wenn du versuchtest, zwischen unseren 102
beiden Planeten Unfriede zu stiften, dann mußt du auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. – Bleib stehen!“ befahl sie, als Carfax einen Schritt auf sie zumachen wollte. „Wir befinden uns in zwei verschiedenen Lagern, Dex. Wie du OMEGA mit diesem Teufelszeug zerstören willst, ist mir nicht klar. Aber man sagte mir, du habest dir bereits eine Methode ausgedacht. Ich kenne nun deine Pläne und werde wissen, was ich zu tun habe.“ Das Mädchen hatte sich inzwischen so weit zurückgezogen, daß ihre Stimme in den Helmen der Männer schon schwächer wurde. „Ich könnte euch für ewig hierlassen, indem ich euer Schiff zerstörte. Aber ich begehe keinen Mord; denn ich habe noch ein Gewissen. Aber ich versichere euch, daß ihr allerhand zu bedenken haben werdet, wenn ihr wieder auf ALPHA landet.“ Sie hob die Waffe. „Bleibt, wo ihr seid, bis ich in meinem Raumschiff bin,“ Sie wandte ihnen den Rücken zu und verschwand in der Dunkelheit. Fred lockerte den Griff um den Kolben seiner Pistole. Im äußersten Notfalle hätte er sie anwenden müssen. „Eines Tages werde ich alle Rätsel gelöst haben“, murmelte Carfax. „Wer erzählte ihr von unseren Absichten?“ Fred schwieg. Was sollte er auch sagen? „Sie sucht Streit, das ist alles!“ schnappte Carfax wütend. „Gut – wenn sie so fest davon überzeugt ist, daß ich diese teuflische Substanz gegen sie anwenden will – warum sollte ich sie enttäuschen? Wir werden schon einen Weg finden, das Zeug zu transportieren.“ „Nein, das werden wir nicht!“ Carfax starrte durch den Helm. „Was meinst du damit? Zu wem hältst du eigentlich?“ „Zu dir natürlich. Aber ich weiß genau, daß du niemals so 103
leichtfertig sein könntest, das ganze Sonnensystem in Gefahr zu bringen – selbst wenn es dir möglich wäre. Nein, mein Freund, hier stimmt etwas nicht. Ich habe das Gefühl, als habe man uns von dritter Seite aus eine heiße Suppe eingebrockt, als versuchte ein Dritter, die Menschen unserer beiden Planeten zu entzweien.“ Fred brach ab. Vor ihnen donnerten Strahlturbinen auf, verwandelten sich in ein stetig heller werdendes Heulen. Dann schoß die kleine Rakete Sylvias dicht über dem Boden auf sie zu. Sie duckten die Köpfe. Nur die Felsendeckung bewahrte sie vor den Flammen der Heckdüsen. „Das hat sie absichtlich getan!“ fluchte Carfax und beobachtete das Raumschiff, das niedrig und unsicher über den kochenden Feuersee dahinraste. „Kaum“, verteidigte Fred sie. „Sie wird Schwierigkeiten wegen der Schwerkraft haben. Sieh nur, wie tief sie fliegt!“ Erschrocken unterbrach er sich und griff nach Carfax’ Arm. Schweigend verfolgten sie die schwer kämpfende Rakete mit den Augen. Im roten Widerschein des Feuers war sie gut zu erkennen. Sie sackte ab und glitt auf die flammende Hölle zu. Schon glaubten die Männer sie aufschlagen zu sehen. Da – im letzten Augenblick – wurde ihr Flug wieder waagerecht. Sie stieg und verschwand mit einem letzten Aufheulen schräg nach oben in der Finsternis. „Verdammt knapp!“ keuchte Carfax erleichtert. „Sie ist nicht vertikal genug gestartet. Bei dieser Anziehungsgewalt ist das notwendig.“ Fred warf ihm einen lauernden Blick zu. „Und – wenn sie in jenen See gefallen wäre? Hätte das nicht alle Probleme gelöst?“ Carfax lächelte dünn. „Ich liebe Syl – aber ich hasse die Beherrscherin des Planeten OMEGA.“ 104
Er stieß Fred in die Seite und begann, im Schein seiner Lampe auf das in der Dunkelheit verborgene Raumschiff zuzuwandern. „Verdammte Geschichte! Was den Atomsee anbetrifft, so mag er bleiben, wo er ist. Um diesen Kampf auszufechten, gibt es andere Waffen.“ Er mied Freds grinsenden Blick und schlich mit müden, schweren Gliedern zu der Einsteigluke des Raumschiffes, das soeben aus der Finsternis auftauchte. Aufatmend saßen sie fünf Minuten später in ihren Polstersitzen. „Alles startklar?“ „Alles klar“, bestätigte Fred. „Sobald wir diese verfluchte Schwerkraft überwunden haben, werde ich ein fürstliches Mahl bereiten.“ „Aus Tabletten und Konzentraten“, grinste Carfax. Dann zündete er die Turbinen, ließ sie warmlaufen und leitete fünf Minuten später die Energie zu den Düsen. Das infernalische Heulen drang bis in den Kontrollraum. Unter normalen, irdischen Verhältnissen wären sie schon in der Stratosphäre verschwunden. Hier aber rührte sich die Rakete um keinen Millimeter. Es schien, als wolle Jupiter sie nicht mehr loslassen. Carfax schob das Kinn vor und verdoppelte die Energiezufuhr. Leicht schwebte das Raumschiff etwa fünfzig Fuß in die Höhe, stand unbeweglich und fiel dann sanft wieder auf die Oberfläche zurück. „Auf!“ brüllte Fred verzweifelt; denn sie trieben genau auf den kochenden See zu. „Um Himmels willen, Dex, hoch! Wir werden genau so hineingezogen wie Sylvia.“ Carfax riß den Hebel auf äußerste Energie. Mehr konnte er nicht tun. Wenn sie jetzt nicht von der Schwerkraft loskamen, konnte sie nichts mehr retten. Schwitzend starrte er auf den Höhenmesser. Der Zeiger stand nahezu auf Null. Trotz aller Strahlenenergie blieb er für eine 105
schreckliche Sekunde darauf stehen. Dann erst kletterte er langsam auf 15 Fuß – auf 20 – auf 30. Furchtbare Minuten! Dann versank die kochende Hölle unter ihnen. Die Nadel stieg auf 1000 und kletterte schneller. „Endlich!“ atmete Fred erleichtert auf. „Aber der Rote Fleck unter uns ist immer noch wie ein feuerspeiender Vulkankrater.“ Die Düsen arbeiteten unentwegt, wenn auch nicht mit der gewohnten Sicherheit. Die Schwerkraft zog mit aller Gewalt an dem kleinen Raumschiff und wollte ihr Opfer nicht entrinnen lassen. Aber es stieg höher und höher. Endlich umhüllten es die diesmal willkommenen grünen Wolkenfetzen der Ammoniakund Methanatmosphäre. Sie durchstießen die obersten Schichten des Gasgürtels. Der Schein von Jupiters Monden leuchtete zu ihnen herüber. Vor ihnen lag der Weltraum. Aber immer noch zog die Gravitation. Die Gefahr war noch nicht überwunden. Dann erhöhte sich ihre Geschwindigkeit. Sie kamen frei. Ungehindert rasten sie in die Leere des Alls. Der funkelnde Stern vor ihnen war die Sonne. Auf dem Radarschirm war noch ein anderes Lichtpünktchen: Sylvias Raumschiff. Nach einer Stunde voller Berechnungen und Kalkulationen war der Kurs bestimmt und die Automatik eingestellt. Die Beschleunigung entsprach der Erdgravitation. Sylvias Schiff war ihren Blicken entschwunden. Carfax warf einen Blick auf die Bildscheibe des Heckfernsehers, auf der die Wölbung des Riesenplaneten langsam abfiel. „Nie mehr Jupiter!“ schwor er und meinte es ernst. „Dabei war alles vergeblich“, grunzte Fred und brachte mehrere Verpflegungspäckchen. „Aber wir werden schon herausfinden, welche Intrige da gespielt wird.“ Gedankenvoll setzte sich Carfax an den Tisch. „Intrige? Ich weiß nicht. Lennington gab uns die Raumfahrt, alles was wir wollten.“ – Er machte eine winzige Pause. „Hm – er zeigte mir nie seine Papiere, da er sie angeblich verloren hatte. 106
Ob er und seine Freunde einen besonderen Grund hatten, uns das Geheimnis der Raumfahrt zu verraten?“ „Den hatte er sicher – nur war es kein Idealismus. Ich habe nie darüber nachgedacht, Dex. Heute aber finde ich es verdächtig, daß sie sich nicht schon im ersten Jahre meldeten. Es sieht so aus, als seien sie erst später nach ALPHA gekommen.“ „Von wo? Von OMEGA?“ „Kaum – aber von der Erde.“ Carfax aß plötzlich langsamer und starrte Fred an. „Sylvia kannte unsere Absichten“, sagte er. „Unsere drei konnten ihr es wohl kaum erzählt haben. Also sind auf OMEGA ebenfalls Agenten der Erde gelandet. Aber warum nur?“ „Sehr einfach: Krieg! Was käme der Intelligenzia gelegener als ein vernichtender Krieg zwischen ALPHA und OMEGA, zwei Welten voller rachebrütender Menschen?“ Carfax sprang auf und hätte den Tisch umgeworfen, wäre er nicht angeschraubt gewesen. „Das ist es! Diese Halunken! Sie müssen irgendwie erfahren haben, daß wir sie eines Tages bestrafen wollten. – Unser Funkgespräch mit Sylvia! Ja, das wird es sein! Einfach vernichten können und dürfen sie uns nicht, also sollten wir es selbst tun. Dann tragen sie nicht die Verantwortung. Aber sie sollen sich täuschen. Wir müssen Sylvia sofort warnen. Wenn wir gegen die Erde und die Intelligenzia eine Chance haben wollen, dann haben wir sie nur, wenn wir vereint kämpfen.“
DER FLUCH DER ENTFESSELTEN ATOME Sylvia Grantham legte die Strecke Jupiter – OMEGA in einem Rekordflug zurück. Sie landete auf dem Raumflughafen, ließ die kleine Rakete in die Halle bringen und eilte in ihr Haupt-
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quartier. Ihr Zorn hatte während der langen Fahrt den Höhepunkt erreicht. Eine Konferenz wurde sofort einberufen. Innerhalb einer Stunde war der Raum, von dem aus die Controllix den Planeten regierte, mit ihren Offizieren und Beauftragten angefüllt. „Es besteht kein Zweifel mehr“, erklärte Sylvia, „daß die Informationen der Wahrheit entsprachen. Ich überraschte Carfax auf dem Jupiter. Seine Ausreden waren lahm. Allerdings ist es mir noch ein Rätsel, wie er die Substanz hierherbringen will. Jedenfalls hat er diese Absicht. Ich will keinen Krieg. Aber wir müssen uns verteidigen. Bevor Carfax nach ALPHA zurückkommt, müssen wir den ersten Schlag bereits geführt haben.“ „Das dürfte nicht schwer sein“, bemerkte einer der Männer. „Ob uns das allerdings auch vor der furchtbaren Waffe des Roten Fleckes schützt?“ „Wohl kaum. Wenn jedoch Carfax auf ALPHA verheerende Zerstörungen vorfindet, wird er es sich überlegen, ob er Zeit genug hat, ein zweites Mal zum Jupiter zu fliegen, um jenes teuflische Atomfeuer zu holen.“ „Sie schlagen also vor, daß wir mit unseren wenigen Raumkreuzern –“ „Nein! Baut Startrampen für Fernraketen, die mit atomaren Sprengköpfen versehen sind. ALPHA ist nur 5 Millionen Meilen entfernt, also ein leichtes Ziel. In regelmäßigen Abständen abgefeuert, werden die Geschosse genügend Unheil anrichten, um Carfax zur Vernunft zu bringen.“ „In 12 Stunden werden die ersten Rampen schußbereit sein“, versprach der leitende Regierungsingenieur. Das Mädchen nickte; in ihren Augen lag Trauer. „Gerne tue ich das nicht“, sagte sie langsam. – Dann wurden ihre Augen wieder klar. „Carfax will es nicht anders!“ Sie winkte einem Manne zu. „Lassen Sie den Raum um ALPHA beobachten. Geben Sie 108
mir Nachricht, wenn Carfax zurückkehrt. Ich hoffe, daß er die Schwerkraft des Jupiter überwindet. Sie ist gewaltig.“ Zwölf Stunden später erhielt sie gleichzeitig drei Nachrichten. Die ersten sechs Rampen waren fertiggestellt, zwölf Raketenprojektile lagen bereit, und zwei Millionen Meilen von OMEGA entfernt raste ein Raumschiff in Richtung ALPHA durch das All. „Also kehrt Carfax zurück. Er hat es geschafft. Er wird gleichzeitig mit den ersten Atomgeschossen landen.“ Dann schaltete sie ein Mikrophon ein. „Übertragen Sie mir ein Fernsehbild von ALPHA auf meinen Radarschirm, und lassen Sie die ersten Geschosse abfeuern. Neue sind laufend herzustellen. Auf Befehl von mir Feuer sofort einstellen. Carfax wird verhandeln wollen.“ „Jawohl, Controllix!“ Wenige Sekunden später glühte der große Bildschirm an der Wand auf. Eine mächtige Kugel erschien auf ihm: ALPHA. Einige Wolken trieben in der Atmosphäre. Im übrigen war der Blick auf die Oberfläche deutlich und klar. In diesem Moment ertönte ein donnerndes Heulen in ihren Ohren, das sich zu einem fast unerträglichen Pfeifen steigerte. Sie warf einen Blick durch das Fenster. Ein langgestreckter Torpedo raste in den Himmel, einen rauchenden Feuerschweif hinter sich herziehend. Er wurde kleiner und verschwand. Zehn Sekunden später folgte der nächste, dann der dritte, vierte, fünfte und sechste. Sylvia wartete und starrte wieder auf den Bildschirm. Ein wenig rechts über dem orangefarbenen Globus hing ein glänzender Punkt: Carfax’ Raumschiff! „Du kommst früh genug, um die Explosionen gut beobachten zu können“, murmelte Sylvia unsicher. – In derselben Sekunde blitzte es auf dem Bildschirm auf. Die erste Fernrakete war auf 109
ALPHA detoniert Ein riesiger Rauchpilz breitete sich langsam aus. Zehn Sekunden später kam der zweite Atomblitz, dann der dritte, der vierte – bis der sechste den Angriff beschloß. Sylvia starrte auf die rauchende Oberfläche des schwer getroffenen Planeten. Von Carfax konnte sie nichts mehr entdecken. War er in der Hölle der entfesselten Energien umgekommen? Als Controllix hoffte sie das, nicht als Frau. Fünfzehn Minuten später. Der Blick auf die ALPHA-Oberfläche war immer noch durch die dichten Atomwolken verwehrt. Plötzlich glühte das Radiolicht auf Sylvias Kontrolltisch auf. Sie drückte einen Knopf. „Controllix – Was ist?“ „Radioverbindung für die Controllix – von Dexter Carfax.“ „Verbinden Sie mich!“ Eine Pause. Jetzt kam Carfax’ zornige Stimme. „Bist du das, Syl?“ „Ja!“ „Was, zum Teufel, fällt dir ein, Atomgeschosse auf ALPHA abzuschießen! Wieviel Unschuldige wirst du getötet haben?“ „Ich kann mir denken, daß sechs H-Bomben eine Menge Zerstörungen anrichten. Dazu waren sie ja auch gedacht. Immerhin ist meine Idee nicht so teuflisch wie die deine, meinen Planeten durch eine Kettenreaktion zu vernichten.“ „Um Himmels willen, Syl!“ In seiner Stimme war etwas, das Sylvia aufhorchen ließ. „Ich hatte nie diese Absicht. Man hat dich falsch unterrichtet – und mich auch.“ „Was tatest du dann auf Jupiter?“ „Ich kann dir das alles erklären. Ich komme zu dir. Hier wird so ziemlich alles zerstört sein, was wir mühevoll aufgebaut haben. Wir kommen sofort. Wir sind nicht auf ALPHA gelandet.“ „Du wirst mich erneut belügen, Dex!“ „Nun steige endlich mal von deinem hohen Roß herab und werde wieder ein Mensch, Syl! Höre, was ich dir sage: Die 110
Intelligenzia sind schuld. Sie haben den Konflikt zwischen unseren beiden Welten mit allen Raffinessen eingefädelt. Sie wollen verhüten, daß wir uns je an ihnen rächen können. Außerdem, Syl, könnte ich dich gar nicht angreifen. Wir haben keinerlei Waffen.“ „Hört sich alles ganz plausibel an“, flüsterte Sylvia leise. „Gut, ich warte mit weiteren Angriffen, bis wir miteinander gesprochen haben. Wann kannst du hier eintreffen?“ „In einer Stunde.“ Carfax hatte abgeschaltet. Sylvia saß nachdenklich an ihrem Tisch. Auf dem Bildschirm war außer einem rauchenden Globus nichts zu sehen. Es mochte Jahre dauern, ehe sich die Überlebenden wieder erholt und die Schäden beseitigt hatten. Sie dachte an die Toten und schloß die Augen. Doch sie raffte sich auf. „Ich darf nicht als Frau, sondern muß als Herrscherin und Politikerin urteilen. Ich handelte in Notwehr. – Das entschuldigt alles!“ Mit einer unwilligen Bewegung schaltete sie den Fernseher aus und griff zum Visifon. „Dexter Carfax wird in einer Stunde landen. Gebt ihm freies Geleit in mein Hauptquartier. Der Bau von Startrampen und Fernraketen wird uneingeschränkt fortgesetzt.“ „Jawohl, Controllix!“ Sylvia verließ den Raum, machte einen kurzen Spaziergang im Park und aß etwas. Dann wurde ihr gemeldet, daß Carfax und sein Begleiter eingetroffen seien. Man erwarte sie bereits ungeduldig in ihrem Zimmer. Carfax und Fred brachen bei ihrem Eintritt die Unterhaltung ab und sprangen auf. Dex eilte auf sie zu. „Syl! Endlich –!“ Sie schüttelte seine Hände ab und sagte kalt: „Dies ist ein offizielles Zusammentreffen. Vergiß das bitte nicht!“ 111
Er starrte ihr nach, während sie zu ihrem Tisch hinüberging. Ihr Gesicht war unbewegt. Von ihrer Uniform strahlte etwas Militärisch-Unpersönliches aus. „Die Strahlung hat dich wirklich verändert“, bemerkte Carfax bitter. „Du hast nichts mehr von jenem ruhigen und stillen Mädchen –“ „Kommen wir zur Sache!“ unterbrach sie ihn. „Nehmt Platz! Wer ist dein Begleiter? Ich sah ihn schon auf dem Jupiter bei dir.“ „Fred Dickinson, mein bester Freund und Ratgeber.“ Sie warf Fred einen prüfenden Blick zu und sah nun Carfax voll an. „Du sagtest etwas von Erklärungen?“ „Ehe ich damit beginne, gestatte mir eine Frage. Woher wußtest du, daß ich zum Jupiter wollte?“ „Von jenen drei Männern, die eines deiner Raumschiffe stahlen und von ALPHA flohen, weil sie –“ „Eines von meinen – was?“ unterbrach Carfax und sah das Mädchen verblüfft an. „Zu deiner Information: Auf ALPHA gibt es nur ein Raumschiff. Das ist das meinige. – Wie sahen die drei Männer aus?“ „Sieh sie dir selbst an!“ sagte Sylvia und sprach einige Worte ins Mikrophon. Es dauerte nur wenige Minuten, und die drei Agenten der Intelligenzia schritten – von Wachen begleitet – in den Saal. „Nun?“ fragte das Mädchen. „Diese Männer kamen nie von ALPHA“, stellte Carfax nüchtern fest. „Sie erinnern mich dagegen an drei andere Männer, die so plötzlich bei uns auftauchten und mir etwas von Raumfahrt und dem Roten Fleck erzählten.“ Carfax schilderte die Geschehnisse in allen Einzelheiten. Als er geendet hatte, wanderten die Blicke des Mädchens zu den drei Männern. 112
„Ich hatte geglaubt, ihr hättet die Wahrheit gesprochen. Also nur Krieg wolltet ihr stiften – Krieg, der uns alle vernichten sollte?“ „Ich glaube, daß jetzt alles klar ist“, sagte Carfax. „Unthra wollte uns auf diese Art vernichten, damit wir keine Gefahr für sein Reich des Wahnsinns werden könnten.“ Carfax sprang auf, schritt auf die Gefangenen zu und ergriff mit seiner harten Faust den mittleren. Mit einer leichten Bewegung schleuderte er ihn gegen die Wand, wo er in sich zusammensackte. „Allein deine physische Schwäche verrät dich schon!“ brüllte Dexter. „Sage die Wahrheit, oder ich erwürge dich, du Strolch! Hat Vanca Unthra dich gesandt – oder nicht? Antworte!“ Der Mann versuchte, sich dem Griff Carfax’ zu entwinden, hatte aber damit keinen Erfolg. Langsam umkrallten nervige Finger seine Kehle. „Ja“, stöhnte er, „Unthra hat uns geschickt. Wir führten nur seine Befehle aus.“ „Ihr und die drei Männer auf ALPHA?“ „Ja, auch jene. Es war Unthras Wunsch, daß ihr euch gegenseitig vernichten solltet – nicht der unsere.“ Sylvia zitterte am ganzen Körper. Sie befahl den Wachen, die Gefangenen wieder in ihre Zelle zu schließen. Carfax schritt langsam auf sie zu. „Nun – bist zu jetzt zufrieden?“ Sylvia lächelte bitter. „Unthra ist ein wahnsinniges Genie. Fast wäre sein Plan gelungen.“ Sie sah auf. „Ich habe deiner Welt viel Leid und Unrecht zugefügt, Dex.“ „Allerdings!“ „Ich werde dir alle meine Kräfte und unsere überlegenen technischen Hilfskräfte zur Verfügung stellen, um den Aufbau –“ „Danke, Syl, das ist unnötig. Wir helfen uns selbst. Mein 113
Volk wird dir sehr zürnen. Ich werde Mühe haben, ihm alles zu erklären.“ „Wir könnten behaupten, die Agenten Unthras seien für die Atomprojektile verantwortlich“, warf Fred Dickinson ein. „Eine gute Idee. Was meinst du, Syl?“ „Einverstanden.“ Sie sah Carfax lange nachdenklich an. „Dex, die kosmische Strahlung hat mich sehr verändert – auch meine Gefühle. Ich kann mir kaum noch vorstellen, daß wir jemals verlobt waren. Ich empfinde anders als damals, Dex.“ „Es ergeht mir so ähnlich“, erwiderte er gedehnt. „Meine Freundschaft für dich ist jedoch geblieben.“ „So wollen wir als Freunde scheiden und auch in Zukunft als Freunde zusammenarbeiten, Dex. Es tut mir leid, beides: sowohl mein vorheriges störrisches Verhalten wie auch – das plötzliche Versiegen meiner Liebe zu dir.“ Ein schweres Schweigen hing über den drei Menschen, ehe Carfax das Wort ergriff. „Wir kehren jetzt nach ALPHA zurück. Gebe Gott, daß noch nicht alles verloren ist!“ Keiner wußte, ob er sein Reich oder seine Liebe damit meinte. Sylvia starrte aus dem Fenster hinter ihnen her. In ihr war ein leeres Gefühl der Hoffnungslosigkeit, gepaart mit der Freude, daß Carfax nie ihr Feind gewesen war. Schon griff sie nach dem Visifon, drückte einen Knopf und wartete. Sie wollte den Befehl geben, den weiteren Bau von Abschußrampen und Ferngeschossen einzustellen. Da wurde heftig an der Tür geklopft. „Herein!“ rief sie ärgerlich. Zu ihrer Überraschung war es eine ältere Frau, die hastig die Schwelle überschritt. Das Gesicht war vor Furcht und Entsetzen verzerrt. Sylvia entsann sich, daß sie die Chefin für „öffentliche Sicherheit“ war. 114
„Verzeihung, Controllix – man bittet Sie, sofort zum Raumflugfeld zu kommen!“ „Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muß arbeiten.“ „Sie müssen Zeit haben, Controllix! Es ist ein einmaliges Phänomen. Zwei Hallen – auch die Ihre – sind brennend zusammengestürzt. Man kann sie nicht löschen. – Sogar die Erde scheint zu brennen!“ Sylvia fühlte einen eisigen Schreck in ihrem Herzen. „Die Erde brennt?“ „Ja, allerdings ein seltsames Brennen. Sogar Metall und Steine glühen auf und schmelzen. Es frißt sich unaufhaltsam weiter.“ Sylvia war aufgesprungen. Sie lief an der erstaunten Frau vorüber und eilte in den Lift. In größter Hast erreichte sie zehn Minuten später den Hafen. Sie durchbrach die Absperrung und starrte dann fassungslos auf den kreisrunden Vulkankrater, in dem es kochte und brodelte. Die Menschen um sie herum flüsterten erregt. Es gab keinen, der eine Erklärung fand. „Das Teufelsfeuer des Roten Flecks!“ murmelte Sylvia vor sich hin. „Er hat gelogen. Er hat mich belogen. Er kam nur her, um – Oh, dieser Schuft!“ „Controllix –?“ „Nichts, gar nichts! Wißt ihr, was das hier ist? Das ist eine atomare Kettenreaktion. Wir können nichts tun, um sie aufzuhalten. Unser Planet ist klein. Es wird nicht lange dauern, dann besteht er nur noch aus einer radioaktiven Staubwolke, die im Weltall vergehen wird.“ Sie wandte sich ab und ließ die fassungslosen Menschen stehen. Zehn Minuten später war sie wieder in ihrem Hauptquartier. Um nicht unnötig Zeit zu verschwenden, ließ sie sich mit allen verantwortlichen Stellen zugleich verbinden und hielt eine kurze Ansprache. Nachdem sie den Inhalt ihrer Unterredung mit Dexter Carfax erläutert hatte, fuhr sie folgendermaßen fort: 115
„Es ist nun offensichtlich, daß er mich belogen hat. Er fand einen Weg, diese verfallende Substanz zu transportieren, und legte sie auf den Boden von OMEGA. Nichts mehr kann nun die Vernichtung des Planeten aufhalten. Er hatte eine gute Ausrede, hierherkommen zu können. Als er uns verließ, die Friedenspalme noch in der Hand, vergaß er nicht, das tödliche Material auf OMEGA zu lassen. Der Beweis ist klar: Der Brand begann auf dem Flugfeld, von wo aus er startete. Ich ordne folgendes an: Ab sofort wird ein Pendelverkehr zur Venus eingerichtet, die Bevölkerung in Gruppen eingeteilt und dorthin geflogen. Venus ist der einzige Planet, der in Frage kommt. Alle noch vorhandenen Atomgeschosse werden nach ALPHA abgefeuert, bis es durch Vernichtung der Rampen unmöglich gemacht wird. Die Kettenreaktion schreitet nur langsam voran, aber dafür sicher und unaufhaltsam.“ Sie schaltete ab, nachdem sie noch befohlen hatte, sie laufend von dem Fortschreiten des Höllenfeuers zu unterrichten. Enttäuschung und furchtbarer Zorn erfüllten sie. Sie war entschlossen, ALPHA so lange zu beschießen, bis der ganze Planet durch die Gewalt der Atomexplosionen in Stücke gerissen wurde. Da fielen ihr die drei Gefangenen ein. So also hat Dex seine Leute in der Gewalt! dachte sie. Sie bekennen sich eines nie begangenen Verbrechens schuldig, um ihn vor jedem Verdacht zu bewahren. Sie mußten doch damit rechnen, daß ich sie töten lasse. Dann hörte sie voller Genugtuung das heulende Pfeifen des ersten Geschosses, das den Flug nach ALPHA angetreten hatte. * Draußen im Weltraum überholte das Raketengeschoß mit unerhörter Geschwindigkeit das kleine Schiff, das Carfax und Dickinson nach ALPHA zurückbrachte. Nur fünf Meilen von ihnen 116
entfernt glitt es lautlos vorbei, raste auf ihren Planeten zu und verschwand in dem Blitz einer gewaltigen Kernexplosion. „Das – das war – ein Atomgeschoß!“ stammelte Carfax. „Was soll denn das bedeuten? Was hat Sylvia vor?“ „Irgend etwas muß inzwischen geschehen sein. Es sei denn, die Rakete ging versehentlich los.“ „Verfluchter Zufall!“ fluchte Carfax und blickte auf ALPHA hinab. „So ein haargenauer Treffer kann nie ein Zufall sein!“ „Da kommt das nächste!“ schrie Fred entsetzt auf. Voller Schrecken sahen sie, wie das schlanke Projektil in die Atmosphäre eintauchte. Ein greller Flammenblitz und dann – Rauch! „Einer Frau kann man wirklich nicht trauen“, stellte Fred in bitterer Weisheit fest. „Dex, sie hat dich betrogen.“ „Ich habe sie doch davon überzeugt, daß Unthra seine Hand im Spiele hatte.“ „Das hast du allerdings. Den Erfolg siehst du ja.“ Carfax schaltete den Sender ein und wartete, bis die Röhren zu summen begannen. Lange mußte er rufen, ehe er eine kurze Antwort erhielt. „Hier OMEGA. Was wollen Sie? Schnell!“ „Gebt mir die Controllix – ebenfalls schnell!“ Eine Pause entstand, in der ein anderes Projektil an ihnen vorbeizog und in der undurchsichtigen Atmosphäre von ALPHA verschwand. Endlich kam Sylvias harte Stimme. „Was willst du, Dexter Carfax?“ Ihre unpersönliche Stimme ließ Carfax eine Sekunde zaudern. Jetzt schrie er: „Himmel und Hölle, was fällt dir ein! Bist du verrückt geworden, ALPHA erneut anzugreifen?“ „Du hast dein Ziel erreicht, Carfax, wenn du es genau wissen willst. Ich hatte dir geglaubt, als du mit deinem Märchen zu mir kamst. Aber du brachtest uns statt Frieden nur das höllische 117
Feuer der Vernichtung. Die Kettenreaktion wird OMEGA zerstören. Nichts kann das verhindern. Vorher jedoch werde ich ALPHA in Stücke zerschießen. Das kann auch kein Mensch mehr verhindern.“ Ein Knacken. Der Empfänger schwieg. Sylvia hatte abgeschaltet. Carfax versuchte, eine neue Verbindung herzustellen. Die Sendestation von OMEGA gab keine Antwort mehr. „Sie muß verrückt geworden sein“, stellte Carfax endlich entschieden fest. „Kettenreaktion? Was meint sie damit?“ „Keine Ahnung.“ Fred zuckte die Achseln. „Hört sich an wie eine Ausrede. – Es hat keinen Sinn, auf ALPHA zu landen. Da – ein neues Geschoß! Wenn das so weitergeht, platzt der ganze Planet in wenigen Tagen auseinander.“ „Du hast nur zu recht“, stöhnte Carfax. „Was sollen wir nur machen?“ „Was? Denke nach, Dex! Hier sind wir sicher. Wir befinden uns nicht in der Flugbahn der Atomtorpedos. Auf ALPHA zu landen, wäre Selbstmord. Entweder zerreißt uns eine Explosion – oder aber die wütende Volksmenge. Vergiß das nicht!“ „Ich weiß, Fred. Es ist jedoch unsere Pflicht –“ „Wir können sie nicht mehr retten, selbst wenn wir es wollten“, sagte Fred nüchtern. „Wir haben weder Bunker noch Raumschiffe. Sie sind alle verloren. Alle dort unten sind Opfer des Atomkrieges.“ „Wir haben auch keine Waffen, um OMEGA an der Zerstörung von ALPHA hindern zu können.“ Carfax starrte hinab auf den Planeten, dessen Zivilisation im furchtbaren Bombardement zugrunde ging. „Ja“, murmelte er endlich, „es hat keinen Sinn. Das Schicksal wird Sylvia Grantham eines Tages dafür bestrafen. – Fred, wohin sollen wir?“ „Es gibt nur einen Platz, Dex: die Venus!“ 118
„Eine gefährliche Welt! Unthra hat sein Ziel erreicht.“ Carfax lenkte das Raumschiff in einer weiten Schleife von ALPHA weg und richtete den Bug auf jenen hellen Punkt im schwarzen Weltall, der die Venus sein mußte. Dann erst vertiefte er sich in seine Berechnungen. Fred sann vor sich hin. „Ob sie die Wahrheit gesprochen hat? Ich meine – was die Kettenreaktion anbetrifft?“ „Nein! Es war nur eine Lüge!“ sagte Carfax und blickte kurz auf. „Eine Ausrede, wie du schon festgestellt hattest.“ „Was für einen Grund sollte sie denn dafür gehabt haben?“ „Keine Ahnung.“ Carfax’ Blick war inzwischen durch die Astroluke auf OMEGA gefallen, der nun sehr nahe gekommen war. Ihr Kurs führte dicht an dem feindlichen Planeten vorbei. Carfax stutzte. Seine Augen starrten voller Entsetzen auf die Kugel, die seitlich vor ihnen im Raum hing. Mitten auf der Oberfläche, in den grünen Flächen der fortgeschrittenen Zivilisation, glühte ein roter Fleck. „Ich habe ihn schon bemerkt“, sagte Fred, der durch das Teleskop schaute. „Er wächst ständig und hat die gleiche Färbung wie der Rote Fleck des Jupiter.“ „Laß mich an das Teleskop!“ befahl Carfax. Seine Augen schmerzten, so angestrengt wurden sie beim Anblick des wirklichkeitsgetreuen Bildes. Er vermeinte, direkt über dem brodelnden Flammensee frei werdender Energie zu schweben, und glaubte, die Hitze fühlen zu können. Es gab keinen Zweifel mehr, daß Sylvia die Wahrheit gesagt hatte. Dort unten wütete die gleiche entfesselte Gewalt, die den Jupiter langsam, aber unaufhaltsam vernichtete. Der Fluch eines schon längst ausgestorbenen Volkes! „Es breitet sich aber zehnmal so schnell aus“, stellte Carfax fest. „Wahrscheinlich, deshalb, weil die Dichte hier viel geringer 119
ist als die des Jupiter. Sylvia wird gedacht haben, wir seien die Urheber dieser Katastrophe.“ „Wie kommt denn die Substanz des Roten Fleckes vom Jupiter hierher? Wir haben sie doch nicht mitgebracht.“ Krampfhaft suchten sie nach einer Lösung. Carfax blickte zurück nach ALPHA, einem kleiner werdenden Rauchball, an dem es unaufhörlich aufblitzte. „Ich glaube“, sagte Fred plötzlich, „daß ich die Erklärung gefunden habe.“ „Dann bist du ein viel klügerer Mann als ich.“ „Ich hatte ja auch Zeit zum Denken, Dex. Ich habe den Fleck auf OMEGA schon gesehen, während du noch mit den Berechnungen zu tun hattest.“ Seine Stimme wurde ernst. „Denke an jenen Augenblick, da Sylvia vom Jupiter startete, absackte und fast in den Atomsee fiel.“ „Sie fiel schließlich doch nicht.“ „Nein. Wir waren auch zu weit entfernt, um feststellen zu können, wie nahe sie an die flüssige Feuermasse herangekommen war. Vielleicht erwischte sie nur einen winzigen Spritzer und nahm ihn mit auf ihre Reise. Möglich, daß der Zerfall im leeren Raum langsamer vor sich ging oder das Metall widerstandsfähiger war. Jedenfalls landete sie, ließ ihr Raumschiff achtlos stehen –“ „– und die Kettenreaktion war nicht mehr aufzuhalten?“ „Ja. Sie wird auch nicht eher aufhören, bis das letzte Atom zerstört worden ist. Auf dem Flugfeld begann es. Darum fiel ihr Verdacht auf uns.“ „Als wir OMEGA verließen, haben wir aber noch nichts festgestellt.“ „Wir haben nicht darauf geachtet.“ Dex betrachtete noch einmal den rauchenden Trümmerplaneten ALPHA und den sich langsam in rote Feuerglut verwandelnden OMEGA. 120
Nur wenige Tage noch – dann war auf beiden kein Leben mehr möglich. „Blicke nicht mehr zurück, Dex. Die neue Heimat liegt vor uns!“ „Ich denke an Syl. Was soll sie von mir halten? In welcher Gefahr befindet sie sich? Ich möchte am liebsten zu ihr eilen, ihr alles erklären und sie retten, ehe der Planet birst.“ „Deine Absicht ehrt dich zwar, aber vergiß sie lieber! Sie glaubte dir nie. Die Menschen lynchten dich. Außerdem hat sie Raumschiffe genug, um sich und ihre Menschen in Sicherheit zu bringen. Vielleicht treffen wir sie auf der Venus.“ Carfax warf einen letzten Blick auf die künstlichen Welten und seufzte auf. Menschen hatten sie erschaffen – Menschen hatten sie vernichtet. Wenige Tage noch, dann wirbelten die Trümmer als Meteore und Staub durch die Weiten des Weltalls. Er wandte sich um. In seine Augen fiel der helle Schein eines nahen Sternes – der Venus.
DIE GRÜNEN HÜGEL DER ERDE Nach achtstündigem Bombardement zerriß ALPHA in zwei Teile. Sie schwebten dicht beieinander weiter auf ihrer Bahn. Der magnetische Kern verhinderte ein völliges Auseinanderfallen. Trotzdem mochte es Jahre dauern, ehe aus den vielen Trümmern wieder eine kompakte Masse wurde. Selbst dann könnte ALPHA nie mehr Leben tragen. Die Atmosphäre war nämlich durch die atomaren Kernspaltungen der Fernraketen restlos verschwunden. Sylvia ließ das Feuer einstellen. Der Lärm der davonheulenden Raketen verstummte. Dafür ertönte ein anderes Geräusch: ein feines Zischen. Fast hatte sie ihr eigenes Schicksal verges-
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sen. Nun fiel es ihr wieder ein. Auch ihre Welt war dem Untergang geweiht. Sie hörte das entfernte Pfeifen startender Raumschiffe. Man verließ also OMEGA schon. Sie stand auf und ging zum Fenster. Sie erschrak. Das sah ja schlimmer aus, als sie gedacht hatte. Es ging schneller als auf dem Jupiter. Vor ihr dehnte sich der rote See absoluter Vernichtung, eine brodelnde und kochende Masse. Die wahre Natur dieser atomaren Auflösung war ihr nicht klar. Sie hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Ein Klopfen an der Tür schreckte sie auf. Ehe sie Antwort geben konnte, kam einer ihrer Offiziere herein. Seine Uniform war schmutzig und zerrissen. „Ja – was gibt es?“ „Controllix, die Stadt wird aufgefressen! Das Feuer frißt sie auf. Metall, Glas, Steine – alles wird zu flüssigem Feuer.“ „Ich weiß“, sagte die Frau, ging zu ihrem Tisch und ließ sich in den Sessel sinken. „Das war Carfax’ Werk. Darum zerstörte ich seine Welt.“ „Controllix, wir müssen von hier weg – so schnell wie möglich! Viele sind geflohen, ohne die Erlaubnis abzuwarten.“ „Ich weiß das!“ Die Züge des Mädchens wurden hart. „Ich werde jeden bestrafen, der seine Mitmenschen im Stich läßt. Die Raumschiffe müssen von der Venus wieder zurückkehren, sonst können nicht alle gerettet werden.“ „Ich lehne jede Verantwortung ab. Die Durchführung der Evakuierung –“ „Was soll das heißen?“ „In der Stadt herrscht Chaos. Jeder flüchtet, entweder in Raumschiffen zur Venus oder mit Fahrzeugen in andere Städte. Sie denken alle nur an ihre Rettung. Wir sollten das gleiche tun, Controllix!“ 122
„Mann! Könnt ihr nicht denken? Chaos ist das letzte, was wir gebrauchen können. Sie müssen –“ „Ich trete hiermit von meinem Posten zurück“, sagte der Offizier, wandte sich um und verließ den Raum. Sylvia blieb sitzen. Sie hörte von draußen den Lärm und das Schreien kämpfender Menschen. Ab und zu stieg ein mit Verzweifelten vollgepfropftes Schiff heulend in den roten Himmel und verschwand. Wenn alle Schiffe noch einige Male zurückkehrten, könnten alle Menschen gerettet werden. Raumschiffe gab es genug, aber jegliche Ordnung oder Organisation war dahin. Der Rote Fleck dehnte sich unaufhaltsam weiter aus. Sylvia versuchte ein Letztes. Sie sprach zu den Menschen ihres Planeten, zu den Piloten der Schiffe, die bereits auf dem Wege zur Venus waren. Sie befahl den Pendelverkehr und beruhigte die Bevölkerung, die nicht sofort fliehen konnte. Es gelang ihr tatsächlich, die Ruhe wiederherzustellen. Als das letzte Schiff OMEGA verließ, kehrte das erste von der Venus zurück. Sylvia blieb in ihrem Hauptquartier. Das Feuer der Vernichtung hatte sich nicht weiter in Richtung der Stadt gefressen, sondern zu beiden Seiten vorbei. Langsam, nur ganz langsam kroch die fortschreitende Auflösung auf ihren Amtssitz zu. Sie wollte bleiben, bis der letzte Mensch OMEGA verlassen hatte. Die Zeit verging. Sie wartete. Auf dem Dach stand eine kleine Rakete startbereit. Endlich – nach Tagen – war es soweit! Das Schiff mit den letzten Menschen des Planeten brauste in den Weltraum. OMEGA war frei! Sie war die letzte, die den Planeten verlassen wollte. Die Feuerhölle war jetzt schon in der Stadt. Lange dauerte es nicht mehr, dann stand ihr Hochhaus am Ufer des Atomsees. Sie erhob sich und warf einen letzten Blick auf die Dinge, die ihr Lebensinhalt geworden waren. Visifone, Radioverbin123
dungen, Television, Kontrolltafeln und Befehlsübermittler – bald war alles eine flammende Hölle! Dann eilte sie auf den Gang, lief die Treppe hinauf und atmete erleichtert auf, als sie das Dach erreichte und ihr kleines Schiff erblickte. Doch in diesem Augenblick stockte ihr Herzschlag. Vor der Rakete standen drei junge Männer, intelligent aussehend und mit einer kalten Entschlossenheit in den Augen. Sylvia starrte auf die Agenten Vance Unthras, die sie in der Aufregung der vergangenen Tage völlig vergessen hatte. „Wir erwarteten Sie, Controllix“, sagte der mittlere von ihnen. Es war der Mann, den Carfax geschlagen hatte. Sylvia zögerte. Sie wußte jedoch, daß es jetzt kein Zurück mehr gab. Ruhig, alle ihre Kräfte zusammennehmend, schritt sie langsam auf die Männer zu, die keinen Blick von ihr wandten. Erst als sie nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war, sah sie, daß der Sprecher eine Protonstrahlpistole in der Hand hielt. Er mußte sie aus dem Waffenschrank des Raumschiffes entwendet haben. „Was soll das bedeuten?“ fragte Sylvia. „Dies ist wohl kaum der Ort, um eine Diskussion zu führen. OMEGA ist –“ „Verloren? Ja, das wissen wir“, nickte der Mann. „Das Schmelzen der Gefängnismauern ermöglichte unsere Flucht. Um Haaresbreite übrigens. Wir hätten nicht gedacht, daß Dexter Carfax diesen Krieg gewinnen würde.“ „Gewinnen?“ „Was sonst? Er weiß jedenfalls, daß die Intelligenzia diese beiden Planeten in den Krieg stürzte.“ „So sagte er die Wahrheit?“ „Natürlich!“ „Und Sie – ihr seid die Agenten Vance Unthras?“ „Ja.“ Sie starrte die Männer voller Entsetzen an. 124
„Was – was habt ihr jetzt vor? Was wollt ihr von mir?“ „Wir hörten, daß Ihr Volk zur Venus geflohen ist und daß Sie ebenfalls dorthin wollen. Damit entstände bei Ihrem Temperament eine neue Gefahr für die Erde. Wir müssen das jedoch verhindern.“ „Wollt ihr mich – hier lassen?“ „Ja, wir kehren zur Erde zurück. Unser Auftrag ist erfüllt. Wir benutzen Ihr Raumschiff. Es hat Platz genug für uns. Die Controllix von OMEGA aber bleibt auf OMEGA! Die Menschen auf der Venus werden ihr Fehlen kaum so schnell feststellen. Ehe man zu Ihrer Rettung herbeieilen könnte, ist alles vorbei. Dexter Carfax wird bei dem Versuch, seinem Volke zu helfen, ebenfalls umgekommen sein. Für die Intelligenzia besteht also kein Grund zur Beunruhigung mehr.“ Sylvia hatte plötzlich ein Gefühl, als griffe eine stählerne Faust nach ihrem Herzen. Sie wollte schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Die Männer gönnten ihr keinen Blick mehr. Sie kletterten durch die Einstiegluke in das Innere der Rakete. Dumpf schloß sich die schwere Metallplatte hinter ihnen. Sylvia machte keine Bewegung. Sie war wie gelähmt. Ihre angstvoll aufgerissenen Augen blickten auf das Raumschiff, durch das jetzt ein leichtes Zittern ging. Plötzlich ein Aufheulen. Dann raste es in den Purpurhimmel einer untergehenden Welt hinauf. Das letzte Raumschiff hatte OMEGA verlassen. Sylvia verfolgte es mit den Blicken, bis es in der Weite des Firmamentes verschwunden war. Danach erst kam ihr die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage zu Bewußtsein. Sie eilte an den Rand des Daches, von wo aus sie einen Überblick über Stadt und Flugfeld hatte. So weit das Auge reichte – alles eine glühende Hölle. In wenigen Stunden – so rechnete sie sich aus – mußte 125
auch dieses Haus zusammenbrechen und die frei werdende Energie alles in kochenden Feuerschlamm verwandeln. Auf OMEGA gab es keine Rakete mehr. Niemand vermutete sie noch hier. Die Funkstation war schon längst im Atomsee versunken. Es gab für sie nur eine einzige Hoffnung: so lange vor dem herankriechenden Tod zu fliehen, bis kein Stück des Planeten mehr übrig war. Sie mußte laufen und laufen, bis sie nicht mehr konnte. Wenn kein Wunder geschah, wenn nicht zufällig doch noch ein Raumschiff kam, dann mußte sie mit dem letzten Stückchen OMEGA verbrennen. Danach zersprang der Planet sicherlich und begleitete als ein neuer Asteroidengürtel künftig die Erde. Vorher aber – müßte sie sterben! So war die Situation, als Sylvia das Gebäude verließ und ihre Wanderung begann. Hinter ihr lag die Hölle – und weit vor ihr, noch hinter der Rundung des Planeten, kam sie ihr entgegen. * Die Landung auf der Venus bereitete Carfax weiter keine Schwierigkeiten. Die Atmosphäre war so ähnlich wie die der Erde, nur wesentlich dichter. Wolken und Nebel verursachten eine ewige Feuchtigkeit. Leben gab es keines, statt dessen eine üppige Vegetation, die an die Tertiärzeit erinnerte. Langsam sank das Schiff nach unten. Die Strahlen der Düsen hielten es und verbrannten gleichzeitig den Dschungel unter sich zu einer Lichtung. Ein Ruck. Carfax stellte die Turbinen ab. Sie waren gelandet. Das Außenthermometer zeigte 40 Grad an. Für 720 Stunden blieb es so. Das war die Länge eines Venustages, infolge der Rotation dieses Planeten und seiner merkwürdigen Achsenstellung zur Sonne. 126
„Kein angenehmer Platz“, stellte Carfax fest. „Bäume, Sümpfe, Hitze und Regen – brrr!“ Er wischte sich mit den Hemdsärmeln über die Stirn. „Mag ja an ein türkisches Bad erinnern, Dex, ist mir jedoch noch lieber als ALPHA mit Atomexplosionen.“ „Na ja!“ „Wieso ‚na ja’? Wir haben glücklich –“ „Ich denke an das Essen. Mit unseren Vorräten kommen wir nicht weit. Die Bäume sehen nicht so aus, als könne man sie anknabbern. Dazu die Hitze!“ „Wir sind 30 Millionen Meilen näher an der Sonne.“ Die Männer schwiegen. Nun, da sie gerettet waren und alles hinter ihnen lag, konnten sie keine Entscheidung treffen, was als nächstes zu tun sei. Der Anblick der tropischen Urwelt allein schien ihre Willenskraft gelähmt zu haben. „Ich öffne die Luke“, schlug Fred vor. „Die Luft mag heiß sein, aber wir müssen mit unseren Reserven sparsam umgehen.“ Warm und stickig kam es herein; süß roch es nach Pflanzen und Blumen; faules Wasser stank. „Sollen wir einen Erkundigungsgang unternehmen?“ Fred stellte die Frage, während er in das grüne Schlingpflanzengewirr starrte. Er traf auf wenig Gegenliebe. „Wozu?“ kam Carfax’ müde Gegenfrage. „Es sieht überall gleich aus, bis auf die Ozeane. Wir könnten uns nur verirren. Bleiben wir lieber hier.“ „Und schwitzen uns zu Tode?“ „Draußen erst recht!“ Schweigen. Um sie herum kein Geräusch und keine Bewegung. Nicht mal ein Vogel oder ein Insekt. Ein Garten Eden, ohne jedes Lebewesen. Ein Glück, daß die Sonne von den Wolken verdeckt wurde! Sonst wären sie vor Hitze verbrannt. „Glaubst du immer noch, daß Sylvias Leute hierhergeflüchtet 127
sind?“ fragte Fred. Er zog sein Hemd dabei aus und warf es in eine Ecke der Kabine. „Ich sehe keine andere Möglichkeit.“ „Dann gibt es nur eines: Radar einstellen, das erste beste landende Raumschiff orten und dann nichts wie hin! Sie sind besser ausgerüstet als wir!“ „– und werden uns wie die Könige empfangen, weil sie annehmen, daß wir ihre Heimat vernichtet haben.“ „Hm – ja –!“ Fred dachte nach. „Wir müssen es riskieren. Hier allein sind wir so und so verloren. Wir werden sie überzeugen, daß wir unschuldig sind.“ Er machte eine kleine Pause und fuhr fort: „Ich nehme an, du willst Sylvia wiedersehen.“ „Ja, natürlich“, gab Carfax zu, ging zum Radargerät und schaltete es ein, ebenso das Radio. „Wollen wir endlich etwas essen?“ fragte der ewig hungrige Fred. „Du wirst mir doch verzeihen, wenn ich bis auf die Unterhosen alles ausziehe?“ Carfax zuckte mit den Schultern und blickte aus der Luke hinaus in den Dschungel. Fred mußte sich einschränken, sonst hatten sie in vier Wochen nichts mehr zu essen. „Ich glaube“, sagte Fred, während er die Verpflegung heranbrachte, „daß Sylvias Volk zum Mars geflogen ist. Entweder folgen wir ihm dorthin oder kehren zur Erde zurück und bitten Unthra, uns in seine erlesene Gemeinschaft aufzunehmen.“ „Liegt an dir“, antwortete Carfax. „Wenn du das willst, dann nimm dieses Schiff und verschwinde. Lieber sterbe ich hier, ehe ich mich der Gnade eines Wahnsinnigen anvertraue.“ „Hm – es war nur ein Scherz! Vergiß es!“ Sie aßen und tranken, lagen umher und schliefen. So vergingen viele Tage und schließlich Wochen. Dann kam die Venusnacht. Es kühlte ein wenig ab. Lange dauerte es, ehe der neue Venustag dämmerte. 128
Plötzlich schrillte die Alarmglocke des Radarsuchers. Die beiden Männer sprängen von ihren Lagern hoch und rasten zu dem Gerät. Carfax überprüfte die Anlage und las an den Instrumenten. „20 Meilen von hier“, sagte er langsam, „ist etwas gelandet.“ „Wollen wir hingehen?“ „Durch die Wildnis?“ „Besser als das Herumsitzen und Warten.“ „Stimmt auch! Die Strahlwaffen bahnen uns leicht einen Weg.“ „Stelle den Magnetisator an. Dann finden wir das Schiff notfalls mit dem Kompaß wieder.“ Sie packten Proviant und Wasserflaschen in Rucksäcke, nahmen jeder eine Strahlpistole und eine Tasche voller Batteriemagazine und schlossen die Außenluke. Vor ihnen lag der Urwald. Sich nach dem Kompaß richtend, dessen Nadel immer zum Schiff zeigte, drangen sie in die Wildnis ein. Nach einer Stunde hatten sie eine Meile zurückgelegt. Sie waren völlig erschöpft. Das hohe Gras, undurchdringliches Gewirr von Schlingpflanzen und stinkende Sümpfe beanspruchten ihre ganze Energie. Ihre fast nackten Körper waren mit Dornen und Stacheln gespickt. „Ob das einen Sinn hat?“ fragte Fred keuchend, nun auf einmal der Mutlosere. „Keine Ahnung. Die Rückkehr ist schlechter. Vor uns liegt wenigstens noch eine Chance.“ Nach der Pause stolperten sie weiter, ab und zu rastend und die Entfernung abschätzend. Es waren die furchtbarsten 20 Meilen ihres Lebens; darüber waren sich alle beide klar. Plötzlich hörten sie zum ersten Male ein Geräusch durch die Stille der unberührten Pflanzenwildnis: Maschinenlärm und das Reden von Menschen. Vor ihnen lag eine Lichtung. 129
Bis an die letzten Büsche schlichen sie heran und bogen sie vorsichtig zur Seite. Sie erblickten als erstes ein riesiges Raumschiff, aus dem man alle möglichen Geräte und entbehrlichen Instrumente ausgebaut hatte, um sie nun für andere Zwecke zu verwerten. Eine Gruppe älterer Männer und Frauen war damit beschäftigt, Bäume zu fällen und die Lichtung zu vergrößern. Zweifellos beabsichtigte man, hier eine kleine Siedlung zu errichten. „Sie sehen harmlos aus“, flüsterte Fred. „Komm!“ Ohne zu zögern, schritten sie auf die Menschen zu. Man stutzte erst einen Augenblick. Dann aber lief man ihnen entgegen und begrüßte sie. „Hallo!“ rief einer von ihnen. „Wo seid ihr denn gelandet?“ „Oh – so zwanzig Meilen von hier entfernt“, sagte Carfax und grinste leicht. „Dann könnt ihr gleich bei uns bleiben. Wir gehören zur südlichen Gruppe.“ „Aha! – Ja, natürlich“, stimmte Carfax bei und warf Fred einen Blick zu. „Möglich, daß ihr die Befehle nicht kennt. Sie kamen noch während des Fluges durch Funk.“ „Unser Gerät versagte“, log Carfax. „Dann will ich sie euch erklären“, begann der Mann. Die beiden Freunde hörten aufmerksam zu. Sie bewunderten im stillen das Organisationstalent Sylvia Granthams. „Darum arbeiten wir nicht alle auf einem Fleck, sondern jede Gruppe für sich“, endete der Alte. Carfax nickte. Wahrscheinlich, so dachte er, sind unsere Bärte daran schuld, daß man uns für Leute von OMEGA hält. Wir sehen mindestens zwanzig Jahre älter aus. „Wir verloren unsere Gruppe; da bleiben wir gleich bei euch“, sagte Fred gleichmütig. 130
„Ihr seid willkommen. Wir bauen zuerst einige Hütten. – Na, ihr werdet die Arbeit kennen und könnt uns helfen.“ Der Alte führte sie zu dem Raumschiff. Auf dem kurzen Weg stellte Carfax eine Frage, so ganz nebenbei. „Wo ist die Controllix?“ „Sie wollte OMEGA als letzte verlassen und muß bald eintreffen. Ich glaube, wir können auf der Venus gut leben – trotz allem.“ Von diesem Tage an gehörten Carfax und Dickinson zu der kleinen Gemeinschaft. Sie hatten ihre Namen geändert. Man hatte sie nicht gefragt, wo sie auf OMEGA gelebt hatten. Häuser entstanden, eine kleine Sendestation und ein Empfänger. Immer öfter meldete sich eine Gruppe. Die Verbindungen wurden regelmäßiger, und fester. Immer öfter tauchte auch die Frage auf: Wo ist die Controllix? Warum ist sie noch nicht gekommen? Schon vor Wochen war das letzte Raumschiff gelandet. OMEGA mußte längst geräumt sein. Die Controllix hatte es selbst bekanntgegeben. Wo blieb sie? Warum kam sie nicht? „Es gibt nur eine Möglichkeit“, sagte Carfax bei einer Besprechung. „Wir müssen zurück nach OMEGA, um sie zu suchen. Vielleicht wurde ihre Rakete defekt – oder gestohlen. Vielleicht konnte sie nicht starten. Ach, tausend Dinge können passiert sein. Jedenfalls ist es sinnlos, hier auf sie zu warten.“ „Ich kann nicht mehr fliegen“, gab der alte Mann zu bedenken. „Seit ich auf der Venus bin, fühle ich mich schwach und müde. Es ergeht den meisten von uns ähnlich. Auf OMEGA waren wir so voller Energie und Tatkraft.“ Carfax runzelte die Stirn. Ihm kam ein merkwürdiger Gedanke. Er sprach ihn nicht aus. „Mein Freund und ich werden das machen. Ist das Raumschiff startklar?“ „In wenigen Stunden. – Seid ihr auch stark und gesund?“ 131
„Wir sind ein wenig jünger als ihr“, lächelte Carfax. „Sind Lebensmittel und Wasser an Bord?“ „Genug für euch!“ Carfax nickte Fred zu. Sie gingen zum Schiff hinüber. „Merkst du, was mit den Leuten los ist?“ fragte er. „Natürlich.“ Fred wußte es. „Sie sind müde von der Hitze und der Arbeit. Außerdem sind sie schon ein wenig älter als wir.“ „Einige junge Frauen waren genau so schlapp. Ich will dir etwas sagen. Auf der Venus fehlt die starke kosmische Strahlung, die sie von OMEGA her gewohnt sind. Sie verlieren ihre Intelligenz und ihre physische Energie.“ Zwei Stunden später schloß Fred die Einstiegluke. Jetzt erst kam er dazu, auf Carfax’ Vermutungen zu antworten. „Warum sind denn wir nicht so schlapp wie diese Leute?“ „Weil wir nie so stark der Strahlung ausgesetzt waren.“ „Wenn Sylvia also herkäme, änderte auch sie sich?“ Carfax sah auf. „Ja, das ist möglich. Wenn wir sie nur erst mal gefunden hätten!“ Er zündete die Turbinen und leitete die Energie in die Düsen auf der Unterseite des langen Stahlzylinders. Langsam stieg das Schiff in die Höhe, emporgedrückt von der Kraft der Strahlen. Carfax legte den Hebel um. Die Heckdüsen flammten heulend auf. Das Schiff raste mit steigender Geschwindigkeit in den grauen Himmel der Venus hinauf. Endlich waren sie der Schwerkraft entronnen und schwebten frei im All. Die Venus versank hinter ihnen. Vor ihnen hing ein winziger roter Punkt. Das schien OMEGA zu sein! „Soweit ich feststellen kann“, sagte Carfax, nachdem er eine Weile durch das Teleskop geblickt hatte, „ist die Vernichtung bereits nahezu vollendet. Nur ein kleines Stück der Oberfläche scheint noch unberührt zu sein.“ 132
Die Geschwindigkeit des Schiffes stieg ständig. OMEGA sah so aus, als ob Eile geboten sei. Als sie bis auf 500 000 Meilen herangekommen waren, bot sich ihnen ein schauerlicher Anblick. Wie eine riesige Feuerkugel schwebte der Planet in der Schwärze des Alls. Die Nachtseite glühte wie Kohle. Die Tagseite war dunkelrot. Ja, sie war rot – bis auf ein winziges, rundes Fleckchen in der Polgegend. „Wenn Syl noch auf OMEGA sein sollte, dann kann sie nur dort sein!“ sagte Carfax und ließ das Schiff mit rasender Geschwindigkeit hinabfallen. Fred starrte auf den Globus. „Noch nichts zu sehen“, knurrte er, wobei ihm der Magen in die Speiseröhre zu rutschen schien. „Hoffentlich hat die Intelligenzia sie nicht –“ Er brach so plötzlich ab, daß Carfax von den Instrumenten aufsah. „Was ist?“ wollte er wissen. „Ich bin mir nicht sicher. Wir müssen näher kommen. – Ja, ein Mensch! Er liegt auf dem Felsenplateau und scheint tot zu sein. Er trägt Uniform. – Ja – die dunklen Haare! – Es ist Sylvia!“ Carfax hörte nicht mehr zu. Seine Hände glitten über die Kontrollinstrumente. Das Schiff näherte sich in einer Schleife dem noch unberührt gebliebenen Inselstück Erde. Die Geschwindigkeit wurde gedrosselt. Langsam fielen sie nach unten, bis sie endlich mit einem harten Ruck aufsetzten. Carfax ließ die Turbinen laufen, drückte einen Knopf und öffnete damit die Luke. „Bleibe hier! Ich bin gleich wieder da. Ich hole sie. Das Ufer des Atomsees ist noch etwa drei Meilen entfernt.“ Fred nickte. Er sah, daß Carfax zur Oberfläche hinabsprang und auf die reglose Gestalt zulief. Bei dieser angekommen, stutzte Carfax einen Moment. Er beugte sich hinab und fühlte den Puls. Dann nahm er die schlaffe Mädchengestalt auf seine Arme und kam zum Schiff zurück. Dabei warf er einen Blick um sich. Sie waren auf der letzten 133
Insel des Planeten gelandet. In Stunden war auch diese in dem flammenden See verschwunden – und OMEGA war vernichtet. Fred half ihm. Sie legten das Mädchen auf eines der Ruhebetten. „Bringe das Schiff hoch“, sagte Carfax, „oder wir gehen mit zum Teufel! Jeden Augenblick kann der Planet auseinanderplatzen.“ Die Luke schloß sich. Die Düsen heulten auf, und schräg brausten sie in das rettende Weltall hinein. Carfax bemühte sich um das bewußtlose Mädchen. Er massierte ihre Glieder und rieb die Stirn mit Brandy ein. Sie waren eine Million Meilen von OMEGA entfernt, da schlug sie die Augen auf. Zu Carfax’ Überraschung lächelte sie ihn dankbar an. „Du hast mich gerettet, Dex? Ich ließ mich durch deinen Bart täuschen.“ „Ja – ja“, stotterte er verblüfft. „Es war auch höchste Zeit. Bald ist OMEGA erledigt.“ „OMEGA ist schon erledigt!“ schrie Fred, der voller Takt aus der Astroluke gestiert hatte. „Dort!“ Carfax und das Mädchen folgten mit den Blicken seiner ausgestreckten Hand. Sie hatten Gelegenheit, den schauerlichschönen Anblick einer sterbenden Welt zu erleben. OMEGA zerbrach in unzählige rotglühende Fragmente, die in alle Richtungen davonflogen. Aber nur für wenige Sekunden. Dann fielen sie wieder zurück und folgten, eng beieinander, wieder der alten Bahn. In diesem Moment ging durch das Raumschiff ein harter Ruck. Es war, als sei es in einen kosmischen Sturm geraten. Mühsam brachte Fred es wieder ins Gleichgewicht. „Wechsel der Balance“, erklärte Carfax. „Für wenige Sekunden war das Gleichgewicht unseres Sonnensystems – wenigstens des inneren – gestört. Als ALPHA auseinanderbrach, geschah 134
nichts Derartiges. Wahrscheinlich bildete OMEGA das Gegengewicht. Jetzt, wo beide Planeten auseinandergeplatzt sind –“ Er stockte und sah auf das Mädchen. „Wie erging es dir? Warum bist du nicht früh genug geflohen?“ Sie erzählte ihm alles und schloß: „– und so lief ich immer weiter. Hinter mir der Tod. Der Augenblick kam, wo ich auf der Felseninsel stand. Um mich herum war das entsetzliche Zischen sich in Hitze zersetzender Materie. Es kam immer näher. Dann verlor ich die Besinnung. – Dex, du hast viel für deinen Todfeind getan.“ „Ich wundere mich nur, daß mein Todfeind das zugibt.“ Sylvia lächelte. „Wir sind keine Feinde mehr, Dex – wenigstens ich nicht. Welch große Fehler habe ich gemacht! Wir wurden Opfer eines gemeinen, raffinierten Komplotts. Nur eines verstehe ich immer noch nicht. Wie kam die radioaktive Substanz vom Jupiter nach OMEGA?“ „Dafür gibt es nur eine Erklärung“, sagte er und erzählte ihr von Freds Vermutung. „Ja – das könnte sein“, murmelte das Mädchen nachdenklich. „Ich selbst brachte also den Tod vom Jupiter mit. Oh – welch eine gerechte Strafe! Wieviel Menschen habe ich durch meine Dummheit getötet! Ich kann das nie vergessen und werde nie mehr ruhig schlafen können.“ „So darfst du nicht reden!“ „Es ist nur die Wahrheit. Was geschieht nun, Dex?“ „Wir fliegen zur Venus, Syl. Dein Volk ist schon beim Aufbau. Man hat uns freundlich aufgenommen – allerdings ohne unsere Namen zu kennen. Nur du weißt, wer wir sind. Sage es ihnen. Sie werden uns lynchen!“ „Aber Dex – wir sind doch keine Feinde mehr! Ihr seid meine Retter. Behaltet eure neuen Namen. Wenn wir auf der Venus sind, werden unsere Beziehungen vielleicht wieder ein wenig 135
besser. Ich meine – die alten Beziehungen zwischen dir und mir, nicht wahr, Dex?“ Carfax lächelte. „Ich bin sicher, daß die Venus dich mächtig verändern wird, Syl. Sie ist nicht ohne Grund die Göttin der Liebe.“ Obwohl das Mädchen ihm einen fragenden Blick zuwarf, gab er keine weitere Erklärung. Wenn sie wüßte, daß die fehlende Strahlung ihre Intelligenz wieder in normale Bahnen lenkte, weigerte sie sich vielleicht, mit zur Venus zu kommen – obwohl ihr nichts anderes übrigblieb. * Das Raumschiff näherte sich der Venus. Es umkreiste den Planeten einmal und senkte sich auf die große Lichtung des Südlagers hinunter. Carfax schaute durch die Luke und erschrak. Der Anblick war nicht sehr erfreulich. Bäume waren umgestürzt, Häuser darunter begraben, die Straßen aufgerissen, als hätte es ein Erdbeben gegeben. „Was ist das?“ fragte Sylvia ängstlich, während Dex die Luke öffnete. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich verursachte OMEGAs Untergang hier ein schweres Erdbeben. Denke an den Stoß, den wir im Raumschiff erhielten.“ Die Menschen waren soeben dabei, ihre Toten zu begraben. Obwohl das inzwischen eingerichtete Radiosystem Erdbeben und schwere Zerstörungen von allen Teilen des Planeten gemeldet hatte, zeigten die Überlebenden ihre große Freude über die Rückkehr der Controllix. Nach nicht allzu langer Zeit bemerkte Sylvia, daß ihr großartiges Talent sie schmählich im Stich ließ. Sie vermochte sich einfach nicht an Dinge zu erinnern, die ihr auf OMEGA so 136
selbstverständlich gewesen waren. Es bereitete ihr schon Schwierigkeiten, nur Anordnungen zu geben. Die Leute indes schienen die Fähigkeit verloren zu haben, die Maschinen und Instrumente zu bedienen. Sie waren körperlich geschwächt. Viele starben plötzlich ohne jedes Anzeichen von Krankheit. „Ich verstehe das nicht“, sagte Sylvia einmal zu Carfax. „Sind wir alle krank, oder liegt das an der dichten Atmosphäre?“ „In gewissem Sinne – ja. Du und deine Leute, ihr seid wieder normal. Es wird bald so sein, daß alle Gefühle, die du damals auf der Erde hattest, nun wieder von dir Besitz ergreifen werden. Die Wirkung der kosmischen Strahlung von OMEGA wird vergehen.“ Sylvia warf ihm einen kurzen Blick zu. „So also ist das? In dem Falle müßte ich ja auch etwas spüren –“ „Bist du sicher, daß das nicht der Fall ist?“ Sylvia schwieg. Das Mädchen ging zu der offenen Tür und blickte hinaus auf die Urwaldlichtung. Männer und Frauen arbeiteten langsam, müde und lustlos. „Bist du sicher, daß du nichts fühlst?“ wiederholte Carfax. Er griff nach ihrer Schulter und drehte sie herum. Seine Blicke lagen zwingend in den ihren. „Kannst du noch die wissenschaftlichen Wunder vollbringen wie auf OMEGA? Bist du immer noch die kalte, berechnende Frau, die man die Controllix nannte? Ich glaube es nicht.“ „Nein – ich glaube es auch nicht. Ich weiß sogar schon nicht mehr, wie wir auf OMEGA die synthetische Verpflegung hergestellt haben. Ich kann mich einfach nicht mehr besinnen.“ Carfax lächelte. „Du wirst dich nie mehr darauf besinnen, Syl. Die Zeiten sind vorbei. Du bist wieder eine gewöhnliche, normale Frau, die mit dem Leben fertig werden muß, wie jede andere. So geht es 137
allen Menschen hier. Sie müssen ihre Probleme selber lösen, ohne sich auf deine Hilfe zu verlassen.“ „Aber Dex – ich kann sie doch nicht ihrem Schicksal überlassen. Ich schulde ihnen so viel. Sie haben mir vertraut. Ihre Zukunft liegt in meiner Hand. Sag’, was ich tun kann?“ Sie wandte sich um und schritt bis zu dem einfach gezimmerten Tisch in der Mitte des Raumes. Carfax folgte ihr. „Es gibt nur eines: Venus muß verlassen werden – nicht etwa, weil sie eine feuchte Sumpf- und Urwaldhölle ist, sondern weil uns hier die inzwischen so notwendig gewordene kosmische Strahlung fehlt. Wir sind nun mal daran gewöhnt. Hier müßten wir vorzeitig sterben. Auf der Erde ist die Strahlung gerade so, daß wir den goldenen Mittelweg beschreiten können, da wir das Lebenselixier des Mars nicht mehr brauchen. Wir sind nicht unsterblich, sind aber normal. Außerdem ist die Erde unser Heimatplanet. Ihre grünen Hügel und sanften Höhen, das gemäßigte Klima und die frischen, klaren Quellen –“ „Erde!“ Das Mädchen lachte bitter auf. „Du weißt genau so gut wie ich, daß wir nie dorthin zurückkehren können.“ „Bleiben wir hier, werden wir alle in wenigen Monaten alt oder tot sein. Die Instrumente bestätigen keinerlei kosmische Strahlung auf der Venus. Die ionisierte Schicht über der Atmosphäre ist 100%ig, sie läßt nichts durch. Nein, Syl, kein gesunder Mensch will sterben, wenn er noch eine Chance zum Leben hat.“ Sylvia sah ihn fragend an. „Wir werden die ‚Grenze zwischen den Welten’ überfliegen und versuchen, mit Unthra einen Kompromiß zu schließen.“ „Kompromiß? Mit Unthra? Nie!“ „Vielleicht ist es einfacher, als du denkst. Jedenfalls müssen wir es versuchen.“ Sylvia hatte nichts mehr einzuwenden.
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* Die Wolken der Venus versanken hinter ihnen im All. Das Schiff raste auf einen kleinen, grünen Lichtfleck zu, der freundlich blinkend vorm Bug der Rakete flimmerte: die Erde. „Wenn wir mit Unthra zu keiner Einigung kommen, werden unsere Leute sehr enttäuscht sein. Darum habe ich ihnen nichts von dem Zweck unserer Reise gesagt“, meinte Sylvia. „Wer weiß?“ murmelte Carfax. „Was hast du überhaupt vor, Dex? Willst du die Erlaubnis erhalten, auf die Erde zurückkehren zu können?“ „Ja, und zwar als Normala.“ „Wie schön! Wieder unter der Herrschaft der selbstgefälligen Intelligenzia, nicht wahr?“ „Mit einem Unterschied! Ich glaube nämlich, daß sie sich das faule Denkerdasein nicht mehr abgewöhnen können. Sie werden uns in Ruhe lassen. Sie leben ihr Leben, wir das unsere.“ „Möglich. – Was meinen Sie, Fred?“ „Mir ist das egal. Wenn ich nur noch erleben kann, daß Sie Dex Carfax heiraten! So ohne Machtkomplexe und Größenwahn sind Sie wirklich ein nettes, liebes Mädchen.“ Sie wurde rot und blickte angelegentlich zur Astroluke hinaus, obwohl nichts Besonderes zu bemerken war. Carfax grinste Fred zu. Dieser nickte. Die Beschleunigung wurde nach und nach auf Maximum gestellt. Carfax fühlte, wie er gegen die Polsterlehne gepreßt wurde. Fred und Sylvia lagen schon lange auf den Andruckmatratzen und vermochten nur mühsam zu atmen. Dieser anstrengende Zustand dauerte nicht lange. Als die notwendige Höchstgeschwindigkeit erreicht war, nahm Carfax die Energie von den Heckdüsen. In freiem Fall raste das Schiff auf die ferne Erde zu, die schnell größer und größer wurde. Schon konnte man den Mond erkennen. Die Bremsdüsen traten in Tätigkeit. Alles 139
wurde leicht und gewichtslos. Der unvorsichtige Fred versuchte vergeblich, sein umherschwebendes Taschenmesser einzufangen, mit dem er sich die Fingernägel gereinigt hatte. Die Geschwindigkeit wurde rapide gedrosselt. Sie fielen förmlich auf die Erde hinab. Noch 1000 Meilen. Es war, als sause man einen endlosen Schacht hinab, tiefer – immer tiefer. 500 Meilen. Bei 250 Meilen Höhe ging Carfax in Gleitflug über. Das Gefühl ständigen Fallens ließ ein wenig nach. Endlich tauchten sie in die dichte Wolkendecke ein. Sie erschien ihnen irgendwie vertraut. Dann waren sie durch. Unter ihnen lag das Meer. Der Karte nach mußte es der Südatlantik sein. Carfax flog eine Schleife und nahm Kurs auf die britischen Inseln. Wieder kam eine dichte Wolkendecke. Sie blieben oberhalb und gingen erst hinab, als sie über England waren. Unter ihnen mußte London liegen. Die Wolkenfetzen wurden lichter. Dann wurde es klar. Unter ihnen lagen die rollenden Wogen des Ozeans. Sie überprüften die Karten und Instrumente. Alles stimmte. Dort, wo England liegen mußte, war das Meer. Auch Europa war unter den Wassermassen begraben worden. Nichts war zu sehen als die blaugraue Dünung des stürmischen Atlantiks. „Ob an den Instrumenten etwas nicht in Ordnung ist?“ fragte Carfax. „Weitersuchen!“ kam Freds Stimme. Sie schwankte ein wenig. Sie flogen nach Norden, über Grönland hinweg nach Kanada. Die Landmassen hatten ihre Form verändert. Manches war abgesunken. Von den großen Städten war nichts mehr zu finden. Von den USA. war nur noch die Hälfte ihrer einstigen Fläche zu sehen. Der Golf von Mexiko tauchte auf – dann nichts mehr; nur Wasser. Südamerika war verschwunden, als hätte es nie existiert. Das Raumschiff raste ostwärts um die Erde. 140
Afrika und Australien waren noch da. Man konnte allerdings sehen, daß beide Erdteile eine gewisse Zeit überschwemmt worden waren. Asien bestand nur noch aus kleinen Inseln, die verstreut in einem ungeheuren Ozean lagen. Im Pazifik fanden sie einen neuen Kontinent vor. Er bestand jedoch nur aus kahlen Felsen und Klippen. Die neue Heimat? Von Städten, Menschen oder sonstigem Leben hatten sie keine Spur entdecken können. Die Erde war wie ein toter Planet. „Ich glaube“, sagte Fred mit belegter Stimme, „wir brauchen uns um Unthra keine Sorgen mehr zu machen.“ „Ich habe es fast erwartet“, sprach Carfax leise und eindringlich. „Deshalb wollte ich so schnell zur Erde. Als OMEGA und ALPHA zerplatzten, wurde das Gleichgewicht unseres Systems zu schnell verlagert. Eine zweite Sintflut verlöschte fast alles Leben auf der Erde. Kontinente versanken, ein neuer wurde geboren. Vielleicht versank damals Atlantis auch so in den Fluten, als der Planet zwischen Mars und Jupiter auseinanderfiel. Wer weiß das heute? Jedenfalls wird dieses Land da unten unsere neue, alte Heimat werden. Eine leere, tote – aber freie Welt!“ „Die wenigen Menschen, die dann hierherkommen, werden also der Beginn einer neuen und besseren Menschheit sein. Unter meinen Leuten befinden sich noch genügend junge Paare –“ „Hm – ja! Wir sind ja schließlich auch noch nicht alt“, lächelte Carfax. Sylvia wurde rot vor Verlegenheit. „Zurück zur Venus, damit wir ihnen die freudige Nachricht bringen können!“ rief Fred. „Ich glaube, ich habe jetzt Pilotendienst, oder nicht?“ Carfax stand auf und machte bereitwillig Platz. Dann legte er seinen Arm um das Mädchen und zog sie zu der Quarzluke, von wo aus sie einen letzten Blick auf die Welt unter sich werfen konnten. 141
„Im Interesse der Menschheit müßten wir eigentlich heiraten“, sagte er. „Auch in unserem eigenen“, verbesserte sie ihn lächelnd. „Wollen wir dem Himmel danken, daß er uns nach Tränen, Krieg, Tod und Verderben doch zusammengeführt hat. Unser Sieg war das Ende der Intelligenzia – obwohl sie sich ihr Grab selbst gegraben haben.“ Das Raumschiff flog aus den Wolken heraus und brauste in den dunklen Weltraum hinein. „Es ist zugleich das Ende der ‚Grenze zwischen den Welten’, Liebste. Zwischen den Sternen darf es in Zukunft nur Einigkeit, Freundschaft, Vertrauen und – vor allen Dingen – nur Frieden geben.“ Der helle Stern vor ihnen wurde immer größer. Er stand genau in der Mitte des gewölbten Bildschirmes. Es war die Venus. – Ende –
In 4 Wochen erscheint UTOPIA-Großband Nr. 5
Flucht in die Zukunft Beachten Sie bitte die Voranzeigen auf der letzten Seite!
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