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Kriminalr...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Schmieder, Meike Ich habe einen Mord gesehen
Kriminalroman
Krista und Georg Briggs Ehe ist zerbrochen, aber keiner der beiden bringt den Mut auf, ehrlich vor sich selbst und vor dem anderen zu sein; sie scheuen die Konsequenzen. So stellt sich – wie von selbst – gegenseitiges Mißtrauen und Belauern ein, peinigend für beide. Geringfügige Anlässe ziehen katastrophale Folgen nach sich. Im Juli 1975 ist Julie, die elfjährige Tochter, verschwunden …
Meike Schmieder
Ich habe einen Mord gesehen
Verlag Das Neue Berlin
2. Auflage © Verlag das Neue Berlin, Berlin • 1983 (1981) Lizenz-Nr.: 409–160/203/83 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 481 9 DDR 2,– M
1 Von der obersten Stufe ihrer hohen Standleiter bis zur untersten steigt sie langsam herunter und geht ein paar Schritte zurück, das Monumentalgemälde zu betrachten, das seit heute morgen ihr Bild wird. Jawoll, denkt sie, so und nicht anders! Endlich! Doch von dem Auftrieb, der sie trotz der Hitze auch heute zur Arbeit zwang, ist nichts geblieben. Krista sei ein Arbeitstier, meint nicht nur Georg Brigg, ihr Mann. Auf solche Behauptungen geht sie nicht ein, sie will nicht mehr darüber nachdenken, nicht davon sprechen; derartige Gedanken oder Gespräche fördern zuviel anderes herauf aus Schächten, die zugeschüttet bleiben sollen. Sie wird nie erfahren, von wem sie ihre Arbeitswut erbte. Ihre Eltern hat sie nicht gekannt, andere Verwandte suchten bisher nicht nach ihr. Ihrem Vater, Kurt Werniger, wurde 1940 das rechte Bein weggeschossen. Kurz vor Kriegsende starben er und seine Frau in Charlottenburg. Totgebombt. Krista, damals vier Monate alt, war schon evakuiert, bei der Mutter ihrer Mutter, auf dem Lande, in Pichelsberg. An Oma Pichelsberg erinnert sich Krista oft. An das straffgekämmte Schwarzhaar, an die mit Spucke blankgewienerten Stiefel, an das rauhe Lachen, mit dem Oma 6
Trauriges einfach weglachte, vor allem an Omas Bewegungen, immer fest und weit ausschreitend, auch im Haus. Sie glaubte noch heute Oma Pichelsbergs Gesicht zu sehen, wenn die das Wort „totgebombt“ aussprach wie einen Dreifachknall. Dachte Krista intensiv genug zurück, stieg ihr sogar der angenehm säuerliche Mandelgeruch von Omas Haut wieder in die Nase. Der brachte Erinnerungen an wohltuende Körperwärme, an Hamsterfahrten; „Kristakind“ mit Decke oder Tuch irgendwie um Omas magere Taille gebunden … Oma Pichelsberg starb im Januar 1950 an einer Lungenentzündung. Krista kam ins Waisenhaus. Nun geht sie noch zwei Schritte, drückt die Schultern gegen die Wand, die linker Hand den Raum begrenzt. Georg hat ihn ihr als Atelier überlassen. Später wurde es auch ihr Schlafzimmer. „Also weiter“, sagt sie, „man bloß keine Müdigkeit vorschützen.“ Aber ihre Schultern fallen vor, nachdem sie sich mit dem Rücken von der Wand abgestoßen hat. Sie reinigt die Pinsel und stellt sie zu den unbenutzten in den Blechtopf. Sie begreift nicht, warum ihr sogar das schwerfällt, warum ihre Handgelenke steif geworden sind, warum dem „Also weiter“ jeglicher Schwung fehlt. Einen Blick wirft sie zur Uhr, die nebenan im Wohnzimmer steht. Wendet den Kopf weg. Ruckt ihn sofort wieder hin. Starrt die Uhr an. „Zwei – schon zwei? – Mein Gott, dann kommt Julie in einer Stunde zurück? Dann habe ich zehn Stunden gearbeitet? Großer Gott, wirklich schon zwei?“ Sie fragt, als wäre jemand im Haus, der antworten könnte. Sie sagt: „Ich habe Julie versprochen, an der Anlegestelle zu sein – wenigstens das …“ Ihr ist, als bliebe jedes Wort in der stickigen Luft des Ateliers hängen und schwinge gleichmäßig hin und her 7
vor dem riesigen Bild – wie das Pendel der Standuhr in seinem Gehäuse. Verschwommen wird Krista Brigg bewußt, daß ihr Atelier zu eng ist, daß sie die Wirkung des Gemäldes nicht aus der richtigen Entfernung prüfen kann. Sie sagt mit müder Stimme: „Es war eben nicht für ein solches Monstrum gedacht. Das ist es. Doch, genau besehen, zu eng war es auch, bevor Kammer den Keilrahmen brachte, mir half, die Wand zu spannen für den Auftrag, fürs Monumentalgemälde, für diesen Schinken in Öl.“ Nein, so will sie es jetzt nicht mehr nennen. Das ist vorbei. Seit heute morgen wird es ihr Bild! Draußen, über gelblich verdorrtem Gras, im hinteren Garten, flimmert die heiße Luft. Im Atelier auf dem Fußboden stehen leere Obstsaftflaschen. Wackeln sie? Gegen vier Uhr morgens hatte Krista ein paar Kekse gegessen; Hunger scheint ihr den Magen durchzubohren. Sie redet sich ein, bei der Hitze habe kein Mensch Appetit. Die Chaise im Atelier, hüglig von zersprungenen Stahlfedern, gleitet sacht auf Krista zu. Auch der danebenstehende Stuhl (der so zerbrechlich wirkt, als dürfe man nur einen Hauch auf ihm ablegen), auf ihm befindet sich das Telefon – auch er gleitet, gleitet … Nichts gleitet. Krista wankt zur Chaise, möchte eine Zigarette rauchen, fragt sich, warum Kammer aus Rostock nicht angerufen habe, und schläft schon. Ehe sie Aschenbecher und Zigaretten langen kann, hat sie sich in die bequemste Schlaflage gebracht. Die höllische Hitze läßt keinen ruhigen Schlaf zu; ein Traum rebelliert: Eingeklemmt sitzt sie im überfüllten Zug, im überhitzten Abteil. Sie kann Peter Kammer nirgends sehen, nur seinen Fuß spürt sie, der sich hart gegen ihren drückt. Sie will Kammer fragen, ob er Eßbares habe. Sie fragt nicht, 8
weil sie ihn nicht sieht. Der Zug schwebt. In jeder Kurve quietscht er, daß die Ohren schmerzen. Krista schwitzt wie in der Sauna. An sie preßt sich ein Landwirt. Auch der schwitzt. Aus seinem grauen Haar laufen Tropfen, sehen aus wie Silberperlen. Auf den Knien hat er einen Korb, darin liegt eine tote Gans, schon gerupft, mit offenen Augen. War das ein Auftrag? fragt Krista. Der Landwirt nickt. Sie sagt, ich habe einen sehr großen Auftrag, wissen Sie. Wenn er mir abgenommen wird, werde ich Auftragsjäger wie andere auch. Die Gans wurde erschossen, ja? Wird mir das Gemälde abgekauft, bin ich auch vom Erbauten erbaut, für’s Konstruierte konstruiert. Rainer Jau sagt das immer von sich. Der schwebende Zug rast. Das ist ungeheuerlich. Er rast durch kurvenreiches Gebirge. Dunkelste Dunkelheit. Endloser Tunnel. Wissen Sie, warum Julie mich nicht angerufen hat? Sie telefoniert doch so gern. Ich kann nur so und nicht anders malen. Sein Thema darf man nicht verleugnen. In jede Arbeit ist es einzubringen, verstanden! Ob Auftrag oder nicht – wichtig ist, sich nicht selbst zu verleugnen. Wer verlangt das – ich bitte Sie. Der Zug rast mit gewaltigem Tempo. Mußten Sie die Gans erschießen? Es ist furchtbar dunkel. Ja. Julie fragt immer, rate mal Mutti, wer hier spricht. Immer, wenn sie mich anruft, fragt sie das. Die vielen, vielen Menschen. Diese Enge hier. Jeder hat Angst. Wir befinden uns auf abschüssiger Strecke im kurvenreichen Gebirge. Dauernd quietscht der Zug. Kaum auszuhalten. Oder sind Sie anderer Meinung, Herr Landwirt? Quetschen Sie sich nicht so an mich! Sie zerdrücken mich. Die Luft ist zu knapp geworden für den großen Auftrag. Ich kriege keine Luft, ich möchte zu Kammer, ich falle bei jedem Quietschen auf den Sitz zurück, so eingeklemmt ich auch bin … Krista stöhnt laut, reißt sich hoch auf der Chaise im Atelier. Der Kopf schmerzt. Es gelingt ihr nicht, die Augen zu öffnen. Sie sitzt schweißnaß, zusammengekauert. 9
Das Telefon auf dem zerbrechlichen Stuhl läutet. Läutet es schon lange? War das des Traumzuges Quietschen? Und alle Räder des Zuges rollen über meinen Traum. Irgendwo gelesen? Das Telefon läutet noch immer. Kammer, endlich doch Kammer? Oder Julie, endlich Julie? Krista tastet nach dem Hörer, die Augen noch geschlossen. Greift in die falsche Richtung. Gewaltsam versucht sie die Augen zu öffnen. Lidschlitzbreite. Sonderbares Lächeln zieht ihr den Mund schief. Ein winziger Teil des Traumes ist ihr eingefallen; es ist zum Lachen, denkt sie. Nie würde ich Kammer um Eßbares bitten, er finge sofort an, mich zu mästen. Ein anderer Traumteil schiebt sich dazu. Diese Angst! Mein Bild? Das Lächeln ist weg. Ihre Hand angelt sich den Telefonhörer. „Ja, Krista Brigg.“ Im Telefonhörer sind keuchende Atemzüge. „Julie?“ fragt Krista. Die keuchenden Atemgeräusche werden lauter. „Julekind?“ Keine Antwort. „Wer ist denn da?“ fragt Krista. Sie fragt nicht noch einmal: Julekind. Jetzt weiß sie, daß nicht Julie am anderen Ende der Leitung keuchend atmet; die würde sie sogar am Atmen erkennen. „Herrgott, wer ist da?“ Keine Antwort. Krista wagt nicht aufzulegen. Unerklärbares zwingt sie, sich das Gekeuche anzuhören. Dann – nach wie langer Zeit? – die Stimme einer Frau: „Ich habe Ihr Kind. Sie bekommen es lebend zurück, wenn Sie tun, was ich von Ihnen verlange. Vor allem keine Polizei. Ich warne Sie. Handeln Sie dagegen, 10
ist Ihr Mädel heute abend tot. So. Das wär’s fürs erste. Ich melde mich wieder.“ Leises Knacken. Gleich danach härteres Knacken. Stille. Die Leitung ist frei. Krista sitzt hellwach. Starrt das Telefon an. Legt behutsam den Hörer auf – als könnte Behutsamkeit das Geschehene ungeschehen machen oder in ihren Alptraum einfügen, aus dem sie nicht aufschrecken will. Langsam wendet sie den Kopf, schaut durch die offene Tür ins angrenzende Wohnzimmer. Ihr Blick tastet sich zum quadratischen Zifferblatt der alten Standuhr. Ein kurzer, heftiger Schmerz preßt sich zwischen Herzschläge. Die Uhr geht sekundengenau.
2 Ich laufe aus dem Haus. Draußen ist es noch heißer als drinnen; schon auf dem Gartenweg schlägt mir die Hitze wie eine unsichtbare Flamme entgegen. Ich renne, renne. Ich renne zur Kreuzung, ich muß zu Marlies Schaller. Heute morgen ging Julie diese, unsere Straße hinauf. Julies gelbes Kleid leuchtete und flatterte. Ihr Haar schimmerte silbrig in der Sonne, wenn Julie zwischen zwei Baumschatten sich befand. Ich hoffte, sie würde sich wenigstens einmal nach mir umdrehen – was sie sonst immer tut. Sie weiß, daß ich ihr jeden Morgen von der Veranda aus nachwinke. Sie hat sich nicht umgedreht. Welch einen großen Zorn können kleine Menschen empfinden! Diese Erfahrungen am eigenen Leibe … Dieses verdammte Erinnern. Großer Gott, laß mich damit zufrieden. 11
Ich renne unsere Straße hinauf. Die Straße ist endlos. Noch nie war die Straße so endlos. Viel schneller als Julie heute morgen renne ich jetzt, sehe, wie ihr Campingbeutel im Takt ihrer raschen Schritte auf dem schmalen Kinderrücken von einer Seite zur anderen sprang. Ich renne, als müßte ich um mein Leben rennen. Ein paar Menschen sind auf der Straße. Sie staunen mir nach. Das weiß ich, obwohl ich stur geradeaus schaue, stur aufs Ziel. Marlies Schaller, Julies beste Freundin, heißt mein Ziel. Sie muß heute morgen an der Kreuzung gestanden haben, ihr hat Julie freudig zugewinkt, den Arm ganz hochgereckt, als sie dann plötzlich so schnell loslief. Wie die Leute gaffen! Und die Straße nimmt kein Ende! Jaja, ich zog schon als Kind Blicke auf mich. Leider. Nichts hat sich daran geändert. Kammer sagt, das läge an meinem nicht eben gewöhnlich geschnittenen Gesicht, an den langen Beinen, den schönen Brüsten und und und. Jajaja, Kammer sagt immer, was man gern hört. Aber die Leute gaffen, weil ich so wahnsinnig schnell renne. Georgs Thermometer, das er vor Jahren an die Trauerbirke nagelte (er behauptet, es sei eine Trauerbirke), hatte heute vormittag schon vierunddreißig Grad im Schatten. Da müssen sich die Leute doch wundern, daß ich renne – renne, die ganze lange Straße hinauf. An solche Nebensächlichkeiten denke ich. Wenn es wahr ist, was das Biest am Telefon gesagt hat, werde ich verrückt. Es ist nicht wahr. Auf so Idiotisches falle ich nicht mehr ’rein. Julie ist bei Schallers. Das weiß ich. Aber bei Schallers lasse ich den Daumen nicht vom Klingelknopf, bis mir geöffnet wird. Marlies öffnet selbst. Sie ist elfjährig wie meine Julie. Elfjährig unbefangen lächelt sie mich an. Sie ist bezaubernd hübsch; ich habe sie schon dreimal porträtiert, weil sie so schön 12
ist. Das Wesen des Schönen ist schwerer als das des Häßlichen zu ergründen. Schönheiten sind uneinnehmbar, bis man sie vollkommen durchdringt. Das Gegenteil ist Irrglaube. Großer Gott, was alles denke ich. Vor meinen wirklichen Gedanken rücke ich damit aus. Atemlos stehe ich vor der kleinen Marlies. Ich japse und stoße im Stakkato meine Fragen auf sie nieder. Marlies sieht zu mir auf, still und genau. „Ist Julie bei dir?“ habe ich sie gefragt. Verwirrt schaut Marlies mich an. Warum? Was ist verwirrend an der Frage? Marlies schüttelt den Kopf, zaghaft, wie mir scheint. „Julie ist nicht bei dir?“ „Nein“, sagt sie so leise, daß ich es fast nicht hören kann. In meinen Ohren singt das Blut. „Seit wann bist du zu Haus?“ „Ich weiß nicht – so ab drei, glaube ich.“ „Und Julie? Ist sie noch woandershin gegangen?“ Marlies schweigt, die Lippen etwas geöffnet. Ich spüre meine Angst vor ihrer Antwort, möchte ihr den Mund zuhalten, schüttle ihre Schultern, wiederhole die Frage: „Ist Julie noch woandershin gegangen?“ „Ich weiß nicht. Wo war denn Julie heute?“ Diese Rückfrage! Ich wanke. Ich fürchte, ohnmächtig zu werden. Vielleicht wäre das gut. Georg würde nichts von meinem Wortbruch erfahren. Gott im Himmel – Georg. Aus meinem ausgetrockneten Mund taumeln heiß und ausgetrocknet die Worte, die ich im Rauschen der Ohren höre: „Ihr wart doch heute mit dem Dampfer in Ferch. Ferienspiele, weißt du?“ Natürlich weiß sie. „Aber Julie war nicht mit“, sagt Marlies. Das Blut weicht aus meinem Gesicht. Die Hände rutschen ab von den Schultern der Marlies Schaller. Ich drücke die Lippen so fest aufeinander, daß es weh tut. 13
Marlies ist sehr ernst geworden; ihr wird angst vor meiner Angst. Sie kennt mich so nicht; die Kleine hat mich bestimmt noch nie ängstlich gesehen. „Du mußt die Wahrheit sagen, Marlies. Verstehst du mich? Die Wahrheit. Julie ist … Julie ist nicht mit euch in Ferch gewesen?“ Marlies schüttelt den Kopf. „Ich sage doch die Wahrheit, Frau Brigg.“ „Nein, das ist unmöglich.“ „Doch“, sagt Marlies leise und geht einen Schritt zurück in den dunklen, kühlen Korridor. Ich lasse sie nicht weg. „Erzähle, bitte. Erzähle, wie das war.“ „Wir sind etwas später abgefahren, weil wir auf Sie und auf Julie gewartet haben. Sie hatten Julie doch versprochen …“ „Aber du hast Julie heute morgen gesehen“, falle ich ihr ins Wort. „Da drüben an der Kreuzung hast du gestanden. Julie hat dir zugewinkt und ist zu dir hingerannt. Ich habe das doch alles beobachtet, Kind.“ Marlies schweigt, sieht meine Füße an. Sie sind nackt. Das merke ich in diesem Moment. Nach einer Weile, den Blick noch immer nach unten, sagt Marlies: „Das ist aber nicht die Wahrheit – Frau Brigg. Ich habe Julie heute überhaupt nicht gesehen, auch heute morgen nicht. Ich habe nicht an der Kreuzung gestanden. Habe nur die Straße langgeguckt, und weil Julie nicht zu sehen war, dachte ich, sie wird schon auf dem Schiff sein, und bin gleich weitergegangen zur Anlegestelle. Aber Julie war nicht da, wirklich nicht.“ Marlies sieht mich wieder an. In ihrem Gesicht kenne ich mich aus. Das Kind hat mich nicht belogen. Mein Gott, hätte sie doch geschwindelt. Hätte sie gesagt, Julie versteckt sich bei uns, keiner wisse, wo … Ja, irgend so etwas hätte Marlies erzählen müssen. „Natürlich“, sagte ich – und weiß, wie blöd und plump 14
mein Geflunker dem Kind vorkommen muß. „Julie konnte nicht mitfahren. Mir lag daran, dir das … Verstehst du? Sonst nichts … Nichts.“ Wie ich nach Haus gekommen bin, weiß ich nicht. Hielt ich den gemessenen Schritt durch, oder rannte ich wieder, nachdem Marlies mich nicht mehr sehen konnte von ihrer Haustür aus? Gerannt werde ich sein. Vorwärtsgetrieben von der Hoffnung, Julie sei inzwischen hier. Das Haus ist schrecklich leer. Jedes mögliche und unmögliche Versteck habe ich durchsucht. Nichts. Ich stehe vor Georgs Steinsammlung, schaue aber nicht auf die Steine, sondern betrachte mich. Also – ich war losgelaufen, ohne mich umzuziehen. Ich habe den Jutekittel an, den mir Kammer mal von weit her mitgebracht hat. Er sagte: „Trag ihn, wenn es sehr heiß ist, bei der Arbeit, du wirst sehen, wie der kühlt. Außerdem kann man dich in einen Sack stecken, ohne deiner Schönheit Abbruch zu tun.“ Blödmann … Warum hast du nicht angerufen. Hältst doch sonst, was du versprichst. Schönheit. Blödmann. Daß ich nicht lache … Ich ziehe mich um, nehme, was mir aus dem Schrank entgegenfällt. Zufällig eine Bluse, die mir Kammer aus Keschlak mitbrachte; sie ist aus Seide und hat ein orientalisches Muster in der Primärfarbe Gelb. Der Grund ist braun. Das wäre unwichtig, wenn ich bei dieser Bluse nicht immer Kammer selbst vor mir sähe. Und an den Krach dächte, den es dieser Bluse wegen mit Georg gab. Ich ziehe eine meiner vielen Samthosen an – es trifft sich gut, daß es die braune ist. So bin ich gut angezogen. So merkt niemand, daß ich total durcheinander bin. Verfluchte höllische Hitze. Die habe ich nicht bedacht. 15
Egal. Ich renne schon wieder. Renne zu Frau Kühn. Sie ist Daniels Mutter und hat die Dampferfahrt mitgemacht. „Es war herrlich“, sagt Frau Kühn. Und: „Sie wollten doch auch mitkommen, mit Ihrer Julie.“ „Ja – das – das ging nicht.“ „Ist Ihre Julie krank?“ „Nein, ich glaube nicht.“ „Na, Sie werden schon einen Grund gehabt haben, Julie nicht mitzulassen.“ „Jaja. Danke. Auf Wiedersehen.“ Ich gehe und spüre im Rücken, wie Frau Kühn mir nachstarrt.
3 Vom Brot breche ich Brocken ab und verschlinge sie gierig, ausgehungert. So hat Oma Pichelsberg damals das Brot gebrochen. So gierig, ausgehungert haben wir es beide verschlungen. Von den Kanten bekam einen Oma, einen ich, im ehrlichen Wechsel. Wie oft hat sich Oma mit der Ehrlichkeit vertan, zu meinen Gunsten. Das habe ich nicht vergessen. Daran muß ich denken, sobald ich Brot breche. Sogar jetzt, derweil ich auf Julie warte. Es wird sich alles auf ganz natürliche Weise klären … Das habe ich mir immer wieder eingeredet, nachdem ich bei Fräulein Hecht, der Lehrerin, gewesen bin. Auch sie hat mich gefragt, ob Julie etwa krank sei. Ich wagte weder mit Ja noch mit Nein zu antworten, ich entschuldigte Julies und mein Fernbleiben. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, aber ich danke für die Nachricht. Man macht sich ja doch Sorgen“, hat sie gesagt. 16
Man macht sich ja doch Sorgen! Nein, ich will mir keine Sorgen machen, ich will keine Angst haben, auch vor Georg nicht, wenn er erst weiß, daß … Ich stehe gegen den Tisch gelehnt, kaue Brot, betrachte Georgs Rosen, die hitzematt die Köpfe hängenlassen. Heute morgen vergaß ich wieder die Rosen zu besprengen. Mir fällt ein, daß wir geschieden sein werden, noch bevor sie endgültig verblühen. Im Spätherbst muß ich sie gegen die Kälte mit Laub schützen. Mit Säcken, falls der Winter hart wird. Im Frühling dann werden sie gestutzt. „Und sind die Blumen abgeblüht, so brecht der Äpfel goldne Bälle; hin ist die Zeit der Schwärmerei – so schätzt nun endlich das Reelle“, zitiere ich in Gedanken Storm. So schätzt nun endlich das Reelle! Unwillkürlich muß ich lachen. Ist es reell, daß Georg mir jetzt großzügig alles überlassen will, daß wir ihm „wertlos“ geworden sind? Auch sein Haus! Er mag es nicht mehr, seitdem ich es verhunzt habe – wie er meint. Ich strich es azurblau vom Dach bis zum Keller. Fenster und Türen strich ich weiß. Weiß auch seine geliebte Sonnenveranda. Er war sieben Tage beruflich im Ausland. Als er zurückkam, sah, was ich angerichtet hatte, raste er. Gott, hat er getobt! Seinem Haus hatte ich den einmaligen Charakter genommen, es erinnerte nun überhaupt nicht mehr an Westernfilme. Na, so was. Ich hielt dagegen, es sähe nun wenigstens von draußen aus, als lebten wir im Himmel. Das leuchtete ihm nicht ein. Er meinte … Jaja, er meint und meint und meint. Dauernd meint er. Er meint, das Haus kann ich auch behalten, so verhunzt wie es ist. Und Julie, meint er, kann ebenfalls bei mir bleiben. Julekind, unser Leben wird sich ändern wie Landschaften nach Vulkanausbrüchen. Für alles muß ich dann 17
allein gradestehn. Für deinen und meinen Lebensunterhalt und so weiter. Mach dir keine Sorgen. (Man macht sich ja doch Sorgen, sagte Fräulein Hecht.) Das schaffe ich schon. Ich werde alle Bilder verkaufen. Sogar die, von denen ich mich niemals trennen wollte, weil sie mir zu lieb sind. Das ist sowieso bloß ein Berufstick von uns. Männer und Frauen, die Autos bauen, können sie auch nicht behalten. Vielleicht verkaufe ich das verhunzte Haus? Möglich. Ich würde lieber mitten in der Stadt wohnen; da könnte ich riechen, schmecken, fühlen, was alle riechen, schmecken, fühlen, die mitten in der Stadt wohnen. Genau besehen ist man hier draußen vom wirklichen Leben abgeschnitten. Und genau besehen ist es demütigend, daß Georg nun so leichtfertig von Julie und mir weggeht. Daß er fast nichts mitnehmen will. Seine Steinsammlung, die ja, natürlich. Die tier- oder menschenähnlichen Steine, gefunden auf Hiddensee. Soll er sie mitnehmen. Ich mag sie nicht sonderlich. Nur den sogenannten Hirtenstein. Der sieht aus, als hätte Constantin ihn bearbeitet, bis er an einen Hirten denken läßt. Er wird ihn mir nicht lassen, das weiß ich. Jaja, es ist genau besehen demütigend, daß Georg geht, noch ehe Julie auf eine Familie verzichten kann – in sechs oder sieben Jahren. Doch ich habe mir geschworen, das nicht mehr allzu genau zu besehen. Schließlich habe ich schlimmere Demütigungen erlebt. Seit ewig will ich sie vergessen. Es geht einfach nicht … Ich weiß genau, warum ich grade jetzt wieder daran denken muß. Aber zu wissen und sich dagegen wehren zu wollen nützt nichts. Damals war ich noch einige Jahre jünger als du, Julie. Und anstatt einer Familie das grausige Heim. Julie, du öffnest das Gartentor, knallst es zu, und es scheppert metallen – wie heute morgen. Du kommst übermütig mir zuwinkend den geraden Weg hinauf, der 18
deines Vaters rosenprächtigen Vorgarten in zwei akkurat bemessene Teile zerschneidet. So sehe ich dich, obwohl ich weiß, daß deine alten, von dir unsäglich geliebten Holzsandalen nicht auf den hellen Steinen klappern. Der Weg ist fürchterlich leer. Ich stehe und stehe, stiere buchstäblich Löcher in die Luft. Ich friere in der höllischen Hitze, als ich nicht nur höre, sondern begreife, daß im Atelier wieder das Telefon läutet. Den Atem halte ich an – als hätte jemand angeklopft, dem ich nicht öffnen will. Nun aber stürme ich ins Atelier, stoße mir das Knie an dem niedrigen Tisch im Wohnzimmer, auf dem sich Georgs Steinsammlung befindet. Ein Stein, der Hirtenstein, poltert mit dumpfem Geräusch zu Boden.
4 Bernhards hatten das Abendbrotgeschirr zur Seite gestellt. Es sollte noch gespült werden. Anni wollte das. Nichts Unsauberes durfte zurückbleiben. Vor dem Spülen aber rauchten sie gemeinsam, genüßlich. Schon der Gedanke an den wochenlangen Urlaub brachte Entspannung – zumal die Koffer gepackt und verstaut waren. Nach der Zigarette das Geschirrspülen, dann einen gemächlichen Spaziergang, danach schlafen gehen, das war ihr Plan. Radio oder Fernseher würden sie gar nicht erst anstellen. Gegen Mitternacht, bei abgeflautem Straßenverkehr, Wollten sie einigermaßen ausgeruht starten. Einigermaßen! Hinter Günter – seit einem halben Jahr Assistenzarzt – lag ein Rund-um-die-Uhr-Dienst von 24 Stunden. Doch der alte Wartburg war so gründlich überholt, daß man auf Weltreise mit ihm gehen könnte. Da sollte die Fahrt ins Erzgebirge wohl nicht 19
schwerfallen. Von der gemütlichen Sitzecke in der Wohnküche aus guckte Anni auf die Straße. „Der Feierabendtrubel nimmt ab“, sagte sie. Günter saß mit angelehntem Kopf, ließ langsam zu Ringen geformten Rauch zur Decke steigen, sah zu, wie sich Ringe in kleine Schwaden auflösten, sagte: „Hoffentlich auch die Hitze.“ „Bis Mitternacht bestimmt“, sagte Anni. Als sie die Zigarettenreste im Aschenbecher zerdrückten, klingelte auf dem Korridor das Diensttelefon. Anni legte ihre Hand auf Günters Arm: „Wir sind schon weg.“ Nach einer knappen Minute stand Günter wieder im Türrahmen. Er schien durch Anni hindurchzusehen. „Das war Krista“, sagte er. „Ich soll kommen. Da ist was mit Julie.“ Anni zog ein ärmelloses Kleid an, Günter seine alten Jeans. Er warf sich ein Hemd über, das er nicht zuknöpfte. Sie verließen wortlos die Wohnung. Auch während der kurzen Fahrt sprachen sie nicht. Beim Einbiegen in die Akazienstraße sahen sie Krista. Sie ging vor dem Gartenzaun hin und her, dann ein paar Schritte ihnen entgegen, dann zurück. Lief neben dem Wagen die wenigen Meter, bis Günter im Baumschatten parkte. Mit einem Blick erfaßte Anni Kristas ungewöhnliches Aussehen; das Gesicht verschwitzt, farbverschmiert, die Bluse schief geknöpft, die Samthosen hochgekrempelt, barfuß. Als sie Bernhards gegenüberstand, wurde sie steif am ganzen Körper. Ihre Zehen krümmten sich unter die Fußsohlen. Verwirrt klang ihr Flüstern: „Danke, daß ihr gekommen … Ich weiß keinen Rat mehr – Julie … Eine Frau hat mich angerufen – vor Minuten zum zweitenmal – dieselben Worte wie beim ersten Anruf … Ich kenne die Frau nicht – sie sagt, sie hat Julie, und Julie wird umgebracht – umgebracht, wenn ich ihre Forderungen nicht erfülle – aber – aber sie nennt überhaupt keine.“ 20
„Entführt, Julie?“ fragte Anni. Auch sie flüsterte unwillkürlich. „Das gibt es nicht, bei uns doch nicht“, sagte Günter. Seine Stimme war plötzlich belegt. Die Behauptung klang nicht überzeugt. Krista nickte. Nickte unablässig. In Annis Kopf schwirrten Gedanken. „Laß uns ins Haus gehen, hier draußen schmilzt man“, sagte Günter. „Alles, was sie fordert, ist, keine Polizei, wie üblich, wißt ihr? Keine Polizei“, sagte Krista. Bernhards zogen sie von der Straße weg, durchs Gartentor, zum Haus. Zwischen den beiden Hochgewachsenen wirkte Krista kindhaft klein. Auf der Veranda setzten sie sich in Korbsessel um den runden Tisch, dessen ziselierte Messingplatte Sonnenstrahlen reflektierte. Ein Stück der Straße, den Gartenweg, das Tor behielten sie im Blickfeld. „Versteht sich, daß wir versuchen zu helfen – aber wie?“ fragte Günter. „Du mußt möglichst detailliert alles schildern, was heute los war“, sagte Anni. „Ja“, stimmte Günter zu, „alles kann wichtig sein – vorausgesetzt, die Sache ist wirklich ernst, was ich bezweifle.“ Krista hatte die Hände vor dem Gesicht. Sie antwortete nicht. Anni fragte: „Wolltet ihr nicht eine Dampferfahrt machen, wolltest du nicht mit?“ Krista nickte, die Hände vor dem Gesicht. Anni sagte: „Vor Tagen war nämlich Julie bei mir und hat das erzählt. Ich weiß, sie sprach von heute. Ich dachte noch, also an unserem letzten Arbeitstag.“ In ihre Hände hinein sagte Krista: „Julie mußte allein fahren. Vor acht ist sie zur Anlegestelle gegangen, aber da ist sie gar nicht gewesen.“ Günter fragte, wann der erste dieser Anrufe kam. „Um halb fünf. Ich hatte versprochen, Julie von der Anlegestelle abzuholen. Ich hab’s verschlafen.“ 21
„Hast du nach dem Anruf irgendwas unternommen?“ „Ich war bei Marlies Schaller, bei Daniel Kühns Mutter und bei der Lehrerin. Alle sagen, Julie ist nicht nach Ferch mitgefahren, sie ist nicht zur Anlegestelle gekommen.“ „Kannst du wiederholen, was die Frau am Telefon gesagt hat“, fragte Günter. Krista wiederholte Wort für Wort, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. Bernhards wechselten Blicke. Ungläubige. Betont ruhig sagte Anni: „Du bist sehr vernünftig vorgegangen.“ Das war ehrlich, war Bewunderung; Anni wußte, wie leicht Krista die Fassung verlor. Günter fragte, in welcher Art Krista sich nach Julie erkundigt habe. „Das weiß ich nicht. Aber ich glaube – ich habe nichts verraten.“ „Hast du Georg benachrichtigt?“ Kristas Hände, schwer wie Blei, fielen vom Gesicht. Sie sah Günter an, als hätte er Entsetzliches gefragt. Nach einer Weile antwortete sie: „Natürlich nicht.“ Damit wußten Bernhards nichts anzufangen; doch sie beließen es so. „Ich kann mir nicht helfen, ich halte das alles für einen gemeinen Streich, egal, wer dahintersteckt.“ Er rieb sich die Stirn, hatte den Ellenbogen auf die Sessellehne gestützt, begann zu grübeln. Mögliches und Unmögliches zu erwägen, ähnlich wie Krista mögliche und unmögliche Verstecke im Haus durchsucht hatte. Die Stille wurde bedrückend. Anni schaute zum offenen Gartentor, durch das Julie kommen sollte. Unbedingt! Sehr bald! Sie hatten sich nicht auf Überrumpelndes, sondern auf die nächtliche Autofahrt in den Urlaub eingestellt. Auf die Urlaubswochen nach anstrengenden Arbeitsmonaten. Anni war Krankenschwester. Sie wollte keine Kol22
leginnen mehr sehen, außer Günter auch keine Ärzte. Nicht mehr bis in die Träume verfolgt werden von Schrecken und Strapazen der Tage – keine Patienten, keine Qualen, keine Sterbenden, keine Toten. Dann nach Wochen wollten sie wieder an die Arbeit gehen, sich auf die Genesenden freuen, auf den dankenden Ehemann, der seine gesundete Ehefrau abholt. Sie kannten die Wohltat solcher Wandlung. Sie wußten auch, daß der Krankenhausalltag sie zu bald wieder ergreifen, bis in jeden Nerv erschüttern würde, doch das lag momentan weit, sehr weit entfernt. Zum Greifen nah war dagegen der Urlaub, die Reise auf einen anderen, schöneren Planeten … Julie komm! „Sucht sie, bitte!“ sagte Krista. „Julie ist nicht entführt worden. Ich will das nicht glauben. Ich will nicht. Sie treibt sich einfach bloß ’rum.“ „Seit heute morgen acht Uhr?“ fragte Anni. Ohne vom Gartentor wegzusehen, spürte sie Günters Blick. In ihren Augen würde er keinen Rat finden. Sie wußte keinen. Krista schloß die Lider, hatte Annis Frage im Ohr. Dachte, wie kann man so flapsig sein, wenn Julie in Lebensgefahr ist. Teilnahmslosigkeit. Vielleicht begreifbar. Wer täglich so viel Elend sieht, stumpft eben ab. Außerdem haben Bernhards kein Kind. Wie sollten sie wissen, was in mir vorgeht … Aber sie wußten es. Sie fühlten mit Krista. Es war ablesbar vom Gesicht und von jeder Bewegung, mit der Krista ihre Erstarrung zu überspielen versuchte. Krista sollte nicht merken, daß man es ablesen konnte. „Na gut“, sagte Günter unvermittelt, „ich mache mich auf, Julie zu finden.“ Er stand neben Kristas Sessel, wedelte sich mit dem offenen Hemd Kühlung zu. Bemerkte Kulicke, der trotz der Hitze in seinem Garten arbeitete, fragte: „Wo spielt Julie am liebsten?“ Krista schüttelte den Kopf. 23
„War sie schon öfter so lange weg, daß du dich sorgen mußtest?“ „Nein.“ „Sind nur das Fräulein Hecht und diese Frau Kühn als Erwachsene mit nach Ferch gefahren?“ „Ich glaube … Ich glaube, ein junger Lehrer noch.“ „Weißt du, wo der wohnt?“ Krista überlegte. „Vergessen, wirklich, im Moment vergessen.“ „Und andere Freundinnen? Marlies Schaller ist doch nicht die einzige. Wo wohnen sie?“ Krista bemühte sich, ihm zu antworten. Sie kam nur auf einige Namen, auf wenige Adressen. Dann, unwirsch, fragte sie: „Was soll das überhaupt? Das Weib droht, Julie zu ermorden. Kein Mensch darf das erfahren.“ „Ich frage schon so, daß bei keinem Verdacht aufkommt.“ Kristas Zähne bissen auf die Unterlippe. Plötzlich laut, sagte Krista: „Und es ist auch nicht wahr, daß Julie sich rumtreibt. Das versuche ich mir einzureden – mein Gott, versteht ihr das denn nicht? Mein Gott, mein Gott … Sie hat sich noch nie rumgetrieben.“ In ihre Augen stiegen lange zurückgehaltene Tränen. Wieder, mit erlernter Ruhe, sagte Anni: „In Julies Alter wechselt manches Kind von gestern auf heute seine Gewohnheiten.“ „Jajaja! Denkst du, ich hielte Julie für ein Ausnahmeexemplar? Aber die Morddrohung, Julies Wegbleiben – und daß sie nicht nach Ferch mitfuhr, gar nicht bis zur Anlegestelle ging, ich muß das doch alles im Zusammenhang sehen.“ „Das sehen wir ebenso. Trotzdem …“ Anni stockte, wußte nicht weiter. Wandte Krista das Gesicht zu, sah Tränen auf farbverschmierter Haut Spuren ziehen. Günter sah es auch. 24
Abrupt drehte er sich weg, übersprang mit einem Satz die Holzstufen der Veranda, sagte, er wolle Julie suchen und werde sie finden. Seine Stimme schepperte. Anni überhörte es nicht. Mit Weinen und Heulen mußten sie täglich fertig werden, Kristas Tränen waren anders, zurrten die Kehlen zu. Günter ließ das Tor offen, stieg in seinen Wagen, startete. Der alte Wartburg wirbelte Straßenstaub hoch. Annis Gedanken liefen Günter nach, ohne zu wissen, wohin.
5 Anni ist still. Günter ist weg. war es falsch, ihn zu rufen? Ich weiß nicht, weiß überhaupt nichts mehr. Seine Fragen schnellten vor mir hoch wie Feuerwerkskugeln, die im Herabsinken zerplatzten, die ich fassen wollte, noch jetzt fassen möchte. Meine Hände sind feucht vom Schweiß, eiskalt und in den Gelenken steif. Alles ist taub. So taub, daß ich Anni, die neben mir sitzt, nicht mehr als vorhanden empfinde. So taub, daß ich den fast schon vergangenen Tag wieder erlebe. Anders aber. Ich sehe mich selbst, als könnte man aus dem verdammten Ich herausklettern und es betrachten wie einen Film, der nie endet. Da ist der frühe Morgen. Da ist Krista Brigg. Seit Stunden ändert sie ihr Auftragsgemälde zugunsten ihres Themas. Ich bin Krista Brigg. Zwei Pinsel habe ich quer im Mund, die Palette in der Linken, mit der Linken halte ich auch den Malstock. Auf ihn kann ich bei dem Monstrum nicht verzichten. Nebenan, im Wohnzimmer, springt und singt Julie. Ich 25
denke an die Dampferfahrt nach Ferch – und male weiter. Julie ruft: Mutti, komm, wir müssen los, sonst fahrn die ohne uns ab. Ich sage von ganz oben runter, ausweichend, es ist noch zu früh. Schon ist Julie bei mir, lehnt sich schräg gegen die Leiter, sagt, es ist gar nicht mehr zu früh. Weißte, ich bin nämlich gern die erste. Sie macht ihr wichtigtuerisches Gesichtchen, das mich immer wieder amüsiert. Ihre großen Augen werden dabei noch größer, sind blank und blau, wie die wunderschönen Augen ganz junger Kätzchen. Ich will diese Augen nicht ansehen – die ich ihr samt Geschlecht vererbt habe. Alles andere hat sie von Georg. Den klaren Gesichtsschnitt, den geraden, hohen Wuchs (bald wird sie größer sein als ich bin), das dichte, fast weißblonde Haar. Hiddenseer Haar, sagt Georg; es ist wahr. Julie ist erst elf, doch ihre Brust formt sich schon leicht zum Busen. Weil ich sie nicht ansehen will, sehe ich durchs Atelierfenster in den verwilderten Hinterhausgarten. Nun lege ich die Malutensilien auf die oberste Stufe der Leiter, die durch Julies ungeduldiges Gezappel etwas schaukelt. Endlich habe ich mich gefaßt. Julekind, ich bleibe hier. Ich konnte nicht wissen, daß ich heute arbeiten muß – sonst hätte ich dir die Dampferfahrt nicht versprochen. Julie stößt sich ab, die Leiter schwankt wieder. Julie entgegnet nichts. Ich spüre körperlich die Stille; sie ist sehr unangenehm – vorsichtig ausgedrückt. Ich nehme die Utensilien wieder auf, mische Farben, ziehe einen kraftvoll nach unten verlaufenden Strich. Zur gleichen Sekunde sagt Julie, na ja, mach dir man keine Sorgen, ich fahre nämlich viel lieber allein. Meine Hand rutscht seitlich, der Farbstrich bekommt einen Knick. Den sehe ich mir an und denke, der bleibt. Ich steige von der Leiter, nehme einen Geldschein aus der Brieftasche, gebe ihn Julie. Sie sieht erst den Schein an, dann mich. Sie sagt, ich habe noch Gespartes, das wird 26
schon reichen. Wie begehrlich das klingt! Kleines, geliebtes Biest! Unwillkürlich, oder weil ich wieder ihr Gesichtchen nicht sehen will, schaue ich den Schein an. Es ist kein Zehnmarkschein, es sind fünfzig Mark. Ich nehme den Schein nicht zurück. Laß es gut sein, Julekind. Schlimm genug, daß ich nicht mitfahren kann … Kauf dir Eis, Schokolade, Bockwürste, Schnitzel, Limonade – was du willst. Julie springt an mir hoch, drückt mich, betupft mein Gesicht mit zärtlichen Kinderküssen, steckt sich den Geldschein in die Kleidtasche, strahlt. Sie läuft ins Wohnzimmer, hievt sich den Campingbeutel auf den Rücken. Der Beutel ist prall gefüllt, möchte nicht wissen, was sie alles mitnimmt. Ich frage, wann wirst du zurück sein. Sie ruft, um drei, und läuft schon zur Tür. Gut, ich hole dich um drei ab. Bestimmt? fragt sie – mißtrauisch. Bestimmt! Prima, Mutti, von Ferch kann ich ja telefonieren, damit du genau weißt, wann wir ankommen. Ja, tu das, Julekind. Vom Atelier aus kann ich durchs Wohnzimmer, durch die Veranda über den Gartenweg bis zum Tor sehen. Georg hat einmal gesagt, wenn man sich das geschlossen denkt, wäre es eine stattliche Zimmerflucht. Leider kann ich mir das nicht geschlossen denken. Julies Holzsandalen knallen lustig. Das Gartentür fällt zu. Ich stehe auf der Veranda, will Julie nachwinken wie immer. Sie dreht sich nicht um. Kein einziges Mal. Jetzt wird mir, unklar noch, bewußt, wie enttäuscht sie ist. Ich denke, wenn ich mich beeile, ist es zu schaffen. Der Gedanke ist ein Heuchler. Abscheuliche Unaufrichtigkeit. Ich bin entschlossen hierzubleiben, zu arbeiten. Nicht umsonst soll mir heute gegen vier Uhr morgens die Idee fürs Monumentalgemälde den Schlaf zerrissen haben. Noch ist es nicht zu warm, noch ist die Luft klar wie die Idee in meinem Kopf. Die Luft duftet. Mir fällt ein, daß mein Auftraggeber, Rat des Bezirkes S., das Gemälde viel27
leicht nicht nimmt, so, wie es jetzt wird. Ich muß darüber lachen, als hätte den Schaden dann nicht ich, sondern er. Noch sehe ich Julie. Noch hoffe ich, sie wird sich wenigstens einmal umdrehen. Sie streckt den rechten Arm hoch, winkt in ihre Wegrichtung, rennt übermütig draufzu. Sicher hat sie Marlies Schaller gesehen, sage ich mir – und bin zufrieden. Nachbar Kulicke geht vorn am Gartenzaun vorbei, in der Hand eine leere Einkaufstasche. Drüben, auf der anderen Straßenseite, schiebt eine junge Frau mit dem Bauch ihren Kinderwagen vor sich her, schleckt an einer Eistüte. Morgenidylle. Ich vergesse – oder will vergessen, daß Julie sich nicht nach mir umgedreht, nicht mir, sondern nur Marlies zugewinkt hat. (In diesem Nur liegt Arroganz; ich weiß, doch ich habe so gedacht.) Das Telefon läutet. Julie kann das noch nicht sein. Auf dem Weg zur Anlegestelle kommt sie an keiner Telefonzelle vorbei, auch nicht an der Post. Globb ist am Apparat. Globb richtet mir aus, sie mußten Georg unvermutet nach Leipzig zu den Ringern schicken. Vor Mittwoch abend darf ich ihn nicht zurückerwarten. Sagt er wirklich Mittwoch abend? Ich frage nach. Ja, sagt Globb, der Kollege, der vorgesehen war, wurde plötzlich und unerwartet krank. Globb redet oft wie Todesanzeigen. Als Ersatz, verstehen Sie? fragt Globb. Warum fragt er das? Soll ich mir keine großen Hoffnungen machen? Ersatz, na ja. Globb sagt, mein Mann hätte mich selbst angerufen, aber er hatte zu spurten, um den Siebenuhrachtzug in Schöneweide zu kriegen. Ein Wagen war nicht mehr zur Verfügung. Ich fragte vorsichtshalber noch einmal, also Mittwoch abend – heute ist Montag. Ja, es tut mir leid, aber … Ich bedanke mich für die Benachrichtigung. Ich lege auf und sage laut, Gott sei Dank! Stundenlang habe ich das Gott-sei-Dank in mir. Ich habe besessen gearbeitet. 28
Das war heute los, Anni. Das ! Aber das kann ich nicht erklären oder, wie du verlangt hast, detailliert schildern. Zum erstenmal sah Anni Falten in Kristas Gesicht; spinnfädendünn umzogen sie von den Nasenflügeln aus den Mund – die geschwungenen, sensiblen Lippen. Indem Anni diese dünnen Halbbögen sah, mußte sie an die Patientin denken, die gestern gestorben war. Unaufhörlich und (wie Krista jetzt) unhörbar hatte die alte Frau während der letzten Tage geweint. Sie aß nichts mehr, sprach nicht mehr. Sprach auch nicht mehr von ihrem Sohn, der sie nie besuchte. Sie hatte nur den einen. Das Gesicht wischte sie niemals trocken. Minuten vor dem Sterben trocknete es von selbst. Nach und nach glätteten sich die zuvor tiefgekerbten Falten in spinnfädendünne, und ein unwirkliches Lächeln belebte das tote Gesicht. Die Wangen röteten sich. Anni hatte Günter geholt, derweil Dr. Mensch und ihre Kollegen taten, was nun getan werden mußte. „Die Oma … Exitus … Du mußt sie dir ansehen. Sie ist nicht mehr gelb, ihre Haut wird rosig“, hatte Anni gestammelt. „Bei der Anämie?“ hatte Günter gefragt. Auf der Veranda hockte die Erinnerung. Da fragte Anni, ob es Krista recht sei, wenn sie Georgs Rosen besprenge. Krista ruckte nur den Kopf zur Seite, drückte das Kinn auf die Schulter. Im Garten zottelte Anni den sorgfältig zusammengerollten Schlauch auseinander. Hantierte mit dem langen, störrischen Ungetüm. Drehte am Haus den Hahn auf. Das Wasser wühlte sich durch den Schlauch und schoß vorn heraus. Kleine, schnell versickernde Seen bildeten sich um die Rosenstöcke. Damals, als Georg die Rosen pflanzte, sagte er, das tue er Krista zuliebe. Anni wußte, Krista mag Sonnenblumen und vor allem Stiefmütterchen, die unverwüstlichen. Anni hatte ihm nicht widersprochen. 29
Doch sie dachte: einen so großen Vorgarten ganz mit Rosen in akkuraten Reihen bepflanzen –? Der Weisheit letzter Schluß ist das wohl auch nicht. Was soll es – Georg ist nun mal so. Ihr fiel die Sache mit dem Klubsessel ein, in dem nur Georg sitzen durfte, der dem Fernseher gegenüberstehen mußte, in exakt bemessener Entfernung. Zum Glück ist Günter anders. Ihm ist es gleichgültig, wo er sitzt, Hauptsache überhaupt – wenn er Stunden um Stunden, Tag und Nacht auf den Beinen war. Bei ihm gibt es unter den Dingen nichts Angestammtes wie bei Georg. Günter ist schon lange weg, dachte Anni. Wo sucht er und warum, wenn doch … Sie wehrte den Gedanken ab. Die Rosen waren besprengt. Da sie Krista nicht aus den Augen ließ, hatte sie beobachtet, was auf der Veranda geschah. Aus dem Chippendale-Schrank hatte Krista Wodka geholt und getrunken. Zuerst meinte Anni, vielleicht ganz gut so. Doch nun sah sie, daß die Flasche schon halb geleert war. Den Schlauch ließ Anni fallen, das Wasser sprudelte auf die weißlichen Steine des Gartenweges, und als der Hahn am Haus zugedreht war, streckte sich der rote Schlauch wie eine verendete Schlange. Krista starrte düster vor sich hin. Ihre Augen stritten um die Blickrichtung. „Trink nicht mehr“, bat Anni. „Bei der Hitze, und euer Schrank steht so dicht an der Verandatür … Das Zeug muß ja fast kochen.“ Krista antwortete nicht. Ihre Hände zitterten, obwohl sie die Flasche fest umklammerte. Anni setzte sich. Zeit verging. Endlich, lallend, begann Krista zu sprechen: „Ich muß dauernd an was denken, ich …“ „Woran mußt du denken?“ fragte Anni – sie bemerkte, daß auch ihre Stimme zu vibrieren begann. 30
„Weißt du“, lallte Krista, „gestern, spätabends, hatte ich mit Georg eine Aussprache …“ Sie lachte verächtlich, betrunken. „Aussprache … was für ein dickes Wort. Mit Georg kann man sich doch nicht aussprechen. Na, egal. Jedenfalls … Wir haben angenommen, Julie schläft schon. Aber jetzt denke ich, das ist absolut nicht sicher. Sie kann durchaus noch wach gewesen sein. Oder – vielleicht ist sie wach geworden. Wir waren nicht leise. Und da – ich muß dauernd dran denken, da ist es möglich … Sie hat alles gehört.“ „Und sie hätte es nicht hören dürfen?“ fragte Anni. Kristas Kopf pendelte. „Nein, wahrscheinlich hätte sie es noch nicht wissen dürfen … Weißt du, es ging um unsere Scheidung.“ Annis Herzschlag stockte. „Ihr laßt euch scheiden – ihr?“ „Jawoll. Und das ist gut so, sehr gut so. Aber gestern abend hat Georg – bei dieser sogenannten Aussprache – zum erstenmal gesagt, daß er mir alles – alles überlassen wird, weil alles für ihn wertlos geworden ist. Das verhunzte Haus, ich sowieso – und Julie … denk mal, sein Julchen! Sein Julchen auch …“ Anni brauchte Zeit. Nach einer Weile fragte sie: „Hast du Georg deswegen nicht benachrichtigt?“ „Deswegen. Ja, Mensch, ich habe eine Scheißangst vor dem Kerl. Er läßt mir Julie bestimmt nicht, wenn ich ihm erklären muß, daß ich des Auftrages wegen mein Versprechen – wie sagt man? – ach ja, mein Versprechen nicht eingehalten habe. Nämlich, jaja, ich höre ihn schon, einer sogenannten Mutter, die immer ihre Aufsichtspflicht verletzt … Na ja, bei der läßt man eben ein Kind nicht.“ „Sorge dich darum nicht“, versuchte Anni Krista zu beruhigen. „Ob du Julie behältst oder nicht, das entscheidet ein Gericht und nicht Georg. Und was kann er dir denn vorwerfen? Du hattest doch nicht die Auf31
sichtspflicht, du konntest Julie getrost der Lehrerin und dem Lehrer anvertrauen, und das hast du getan.“ „Ach, liebe Anni, ihr kennt Georg nicht. Er wird jedes Gericht überfahren“, sagte Krista mit schwerer Zunge. Anni schüttelte nur den Kopf. Sie fragte: „Hattest du heute morgen den Eindruck, Julie habe irgendwas mitgehört?“ „Heute morgen? Absolut nicht. Sie war doch bis zur letzten Minute in dem Glauben, ich würde mitfahren. Und denkst du wirklich, ich wäre zu Hause geblieben, wenn ich auch nur eine Spur dieses Eindrucks … hätte haben können?“ „Nein, denke ich selbstverständlich nicht. Es wäre aber möglich gewesen, daß du schon so mit dem Bild beschäftigt warst, daß du nicht darauf geachtet …“ „Ich habe Julie genau beobachtet. Nein, sie wußte nichts. Aber jetzt, jetzt erst – fürchte ich doch …“ „Unsinn“, sagte Anni schnell. „Noch was“, begann Krista mit schwerer Zunge von neuem. „Ich habe Julie fünfzig Mark mitgegeben. Irre, was? Ich wollte ihr zehn Mark geben … Einfach vertan, passiert eben. Ich nahm den Schein nicht zurück. Ich nahm fünfzig Mark nicht zurück. Wirklich irre. Ob ich mich – von meinem Versprechen loskaufen wollte? Ich weiß es nicht. Ich weiß bloß, daß es mir Spaß macht, Geld zu verschenken, wenn ich welches habe. Momentan hab’ ich – Auftragshonorar.“ „Klar, wir kennen dich doch“, sagte Anni. „Und Günter wird Julie finden. Georg erfährt nichts. Ich bin zuversichtlich.“ Es klang nicht zuversichtlich. Krista ließ die Flasche los, die schmalen, knochigen Hände flatterten zittrig über die Tischplatte. Anni mochte es nicht sehen. Sie fragte sich, wo Günter so lange Zeit suchen könne. Laut fragte sie Krista: „Darf ich mir das Auftragsgemälde anschauen?“ 32
„Das ist noch nicht fertig. Aber gehe nur, geh.“ „Kommst du mit ins Atelier?“ „Nein, hier bleibe ich sitzen, bis Julie wieder da ist.“ Krista trank den nächsten großen Schluck aus der Wodkaflasche. Anni wollte sie bitten, mit dem Trinken aufzuhören, sie brachte kein Wort heraus, sie ging ins Atelier. Es war ein Fluchtversuch – eine Flucht von wenigen Schritten. Vor dem Gemälde blieb Anni stehen. Sie schätzte es vier Meter lang, zwei Meter hoch – allein diese Ausmaße erschienen ihr erdrückend. Die gegenüberliegende Wand hing voller KristaBrigg-Gemälde, Porträts über Porträts – Pastell, Guasch, Tempera, Aquarell, Öl. Einige Linolschnitte. Anni kannte alle, auch die, die mit dem Rücken zum Raum an der Wand standen. An diese Wand stellte sich Anni, um das neue Gemälde aus der Entfernung zu betrachten, die das enge Atelier ermöglichte. Das neugestaltete Zentrum der Stadt S. zu malen, lautete Kristas Auftrag. Stadtbauarchitekt Peter Kammer war verantwortlich für die Neugestaltung gewesen. Seit zwei Jahren war das neue Zentrum fertig. Im vorigen Sommer hatte sie es mit Günter besichtigt. Auf dem breiten Gemälde fand sie es wieder; ellipsenförmig, verhangen von lilabläulichen Nebeln, weit an die Ränder des breiten Gemäldes gedrängt – Peter Kammers preisgekröntes Stadtzentrum … Die kastenartigen Hochhäuser, die neue Bibliothek, die neue Buchhandlung, die erhalten gebliebene Stadtmauerruine mit ihren schönbetürmten Toren – alles war da. Schattenhaft. In der Mitte des Bildes aber, dominierend auf dem betonierten Platz, auf dem kein Grashalm wachsen kann – wuchsen Bäume; sie trugen Blüten und gleichzeitig Früchte. Darüber ein anthrazitdunkler Himmel, 33
durchstrahlt von Sonnen, kalt wie Scheinwerferlicht. In den Sonnen viele Kinder, gleichgesichtig alle. Alle Julie ähnlich – beklemmend ähnlich. Sie spielten mit Disteln, sie fütterten Raubtiere, frei von Angst. Alte Leute saßen unter den Bäumen, sahen vergnügt aus. Sie saßen auf Bänken, die es im Kammerschen Stadtzentrum nicht gibt, und hielten Hagebuttensträuße in den Händen und schienen die Dornen nicht zu spüren, die tief eindrangen in ihre Haut. Und woher kam das Licht? Aus den Kindern selbst! Diese Leuchtkraft! Jedes Leuchten den dunklen Farbtönen ein Echo. Anni dachte, vielleicht kann so nur Krista malen. Um Gefahren zu zeigen, rennt sie offene Türen ein und bricht verschlossene auf. Heroische Gesten braucht sie nicht. Die Farben glänzen frisch. Das meiste hat sie also heute gemalt. Darum der Wortbruch. Man muß wohl erst das Bild sehen, um den Wortbruch zu verstehen. Es war eine gute Zeit, als Günter (wo bleibt er nur?) und ich den Zirkel besuchten, den Krista leitete. Wir haben gelernt. Genaues Sehen, Beobachten, „die Kunst ins Auge kneifen“, Farbwerte, Farbsymbole und mehr. Auch das: „Ein Bild, das deine Gedanken nicht stört, kannst du getrost vergessen!“ Nach Minuten, mit Mühe, zog Anni den Blick vom noch nicht vollendeten Bild weg. (Warum kommt Günter nicht zurück?) Auf der Veranda setzte Anni sich wieder in einen der Korbsessel. Eine Zeitlang schwieg sie, bemerkte, daß die Wodkaflasche leer war. „Na?“ fragte Krista und streckte die Arme über den Tisch. Der Kopf fiel auf ihre Arme. Anni sagte leise: „Es macht stumm – Krista. Und es stört die Gedanken.“ „Fange nicht an zu erklären, was du gesehen hast. Ich 34
weiß selbst, was ich verbrochen habe. Gib mir eine Zigarette … zünde sie an … Ich – ich bin nicht mehr fähig, eine …“ Im Atelier läutete das Telefon. „Gib mir was zu trinken, ich habe Durst“, murmelte Krista. Anni sagte: „Das Telefon.“ Krista wand sich in den Schultern, rutschte mit der Stirn über die Arme. „Ich nicht … Nie mehr gehe ich an – an dieses verdammte Telefon … Begreif doch endlich – Durst habe ich. Durst.“ Im Atelier nahm Anni den Hörer ab. „Ist Julie gekommen?“ „Günter, endlich! Nein, sie ist nicht gekommen.“ „Wo ist Krista?“ „Sitzt auf der Veranda und ist voll.“ „Betrunken?“ „Das ist gar kein Ausdruck.“ „Gut. Wieviel hat sie getrunken?“ „Eine ganze Flasche Wodka.“ „Bestens. Ich wollte dir eben raten, sie zum Trinken zu veranlassen. Georg hat ja immer was im Haus, und Krista trinkt selten, da ist zu hoffen und zu wünschen, daß sie alles vergißt, du verstehst, ich will sagen, daß sie vergißt, was heute passiert ist.“ „Sie vergißt nicht. Eben habe ich ein paar Worte mit ihr gesprochen, dann läutete das Telefon, und sie hat Angst vor dem Telefon, also hat sie nichts vergessen.“ „Dann mußt du ihr zusätzlich ein Beruhigungsmittel geben, auch so was hat Georg immer im Haus. Sieh im Medizinschrank nach, der im Bad links an der Wand hängt. Gib Krista ein oder zwei Tabletten.“ „Bist du nicht bei Troste! Sie hat doch getrunken.“ „Ja, ich kenne das Risiko, aber ich kenne auch Kristas Mentalität.“ 35
„Nein, ich gebe ihr nichts.“ „Du gibst ihr ein oder zwei Tabletten. Ich ordne das an! Und jetzt hör genau zu. Ich habe Julie nicht gefunden und bin zur Polizei gefahren.“ „Bist du verrückt?“ Vor Schreck versagte Annis Stimme. „Möglich“, antwortete Günter trocken. Er zählte auf, wo überall er gesucht hatte, nannte Parks, Spielplätze, Badestellen, Waldgebiete, Julies Freundinnen, den jungen Lehrer. Alles sei umsonst gewesen. Bestätigt war ihm, daß es sich verhält, wie Krista sagte – Julie ist gar nicht zur Anlegestelle gekommen. „Übrigens, der junge Lehrer ist aus dem Häuschen vor Aufregung; ihm als einzigem erklärte ich, warum ich Julie suche, und daß sie nirgends zu finden ist. Jetzt bin ich auf der PolizeiDienststelle. Ist Krista noch draußen?“ „Du bist zur Polizei gefahren“, sagte Anni wieder. Und: „Ja, sie ist auf der Veranda.“ „Na gut. Die Sache wird hier ernst genommen. Julie ist schon zu lange verschwunden. Zum Glück akzeptiert man mich als Vermittler, bis Georg hiersein kann. Er wird geholt. Krista darf nichts von der Polizeiaktion wissen, man kennt sie hier zwar nicht, aber man glaubt mir. Ich habe gesagt, daß Krista psychisch instabil ist, dieser Situation nicht gewachsen. Mich hat man natürlich mit Fragen behagelt, aber ich konnte ja nur die Anrufe wiedergeben, wie Krista sie schilderte. Noch eins. Hauptmann Prohaska hat den Verbandsvorsitzenden an der Strippe, der wird über Kristas Kollegen Auskunft geben können, hofft man. Ich erwähnte den Auftrag. Das Wort Beziehungstäter ist gefallen. Du weißt, was damit gemeint ist?“ „Nein.“ „Womöglich Neid oder andere Haßgefühle. Auch Sittlichkeitsdelikt wird nicht ausgeschlossen – alles noch ganz vage, versteht sich. Jetzt müßte ich wissen, wie Julie heute bekleidet war, denn …“ 36
„Sicher hat sie das Gelbe an, das sie vor Tagen zum Geburtstag bekam. Soll ich Krista fragen?“ „Frag sie irgendwie nebenher. Außerdem werden hier Fotos von Julie gebraucht. Wir haben gute Porträtfotos, die ich vor kurzem aufnahm. Weißt du, wo die sind?“ „In der Kammer, im blauen Schuhkarton.“ „Gut, die hole ich her, bevor ich zurückkomme. Das wäre es wohl zunächst. Hauptmann Prohaska mahnt schon, ich dürfe Kristas Telefon nicht zu lange blockieren. Nur das noch. Ich kriege ein Aufzeichnungsgerät mit, das ich anschließen muß, um einen eventuellen nächsten Anruf zu speichern. Also bis dann – oder weißt du was Neues, was wichtig sein könnte?“ „Mann, du redest wie ein Wasserfall … Du bist zur Polizei gefahren, ich begreife es nicht. Hast du die Morddrohung vergessen?“ „Stell keine überflüssigen Fragen. Natürlich sind die Morddrohungen einkalkuliert; clevere Männer hier, verlaß dich drauf. Und nichts Neues sonst – nein?“ „Doch. Krista hat Julie fünfzig Mark mitgegeben.“ Anni hörte Günter schlucken. Dann fragte er: „Noch was?“ „Ja, noch was. Es ist möglich, daß Julie gestern abend eine Auseinandersetzung ihrer Eltern belauscht hat. Es gab Krach. Briggs lassen sich scheiden.“ „Was sagst du?“ „Du hast richtig verstanden. Und Krista hat unheimlich Angst vor Georg. Angst, sie bekäme nach dem heutigen Ereignis Julie bei der Scheidung nicht zugesprochen. Für Krista wäre es sicherlich besser, wenn Georg nicht gleich herkäme.“ Pause. Schwer atmend stieß Günter dann die unheilvollen Worte aus: „Wird er eben hier auf der Dienststelle bleiben müssen, bis alles geklärt ist.“ Beide legten die Hörer auf, erst Günter, dann Anni. 37
Sie setzte sich auf die Chaise; unmittelbar nach diesem Gespräch konnte sie nicht zu Krista gehen. Der große Zeiger der Standuhr ruckte einige Male weiter, ehe es Anni gelang, sich zusammenzureißen, aufzustehen, zur Veranda zurückzugehen. Mit ausgestreckten Armen hing Krista noch immer über dem Tisch. „Es war Günter. Er sucht Julie und muß wissen, wie sie heute bekleidet war, er findet sie dann womöglich leichter.“ Anni sprach schnell, hatte ihre Stimme nicht in der Gewalt – aber das wollte sie nicht wahrhaben, selbst nicht hören. „Das Gelbe selbstverständlich. Und die Haare wegen der Hitze hochgebunden. Pferdeschwanz.“ Krista lallte nicht mehr. Anni stand reglos neben ihr. Sie wagte nicht weiterzufragen. Die Stille lastete. Nach einiger Zeit drehte Krista den Kopf seitlich, sah Anni an – bekam den Blick nur bis zu deren Mund – fragte leise: „Warum belügst du mich? Warum, hm? Günter hat nicht angerufen. Es war wieder das Weib, aber du traust dich nicht, mir das zu sagen.“ „Es war Günter!“ „Soso, es war Günter“, wiederholte Krista. „Und er wollte wissen, was Julie anhat – und davon bist du so kalkweiß geworden.“ Anni schwieg, ihr fiel keine Entgegnung ein. Krista stützte die Hände auf die Tischplatte, schob sich hoch, wankte ein paar Schritte rückwärts, fand Halt an der offenen Wohnzimmertür, blickte angestrengt zum Tor, sagte: „Na schön, ich will dir das glauben. Günter hat dir berichtet, wie er Julie gefunden hat. Tot … Nicht wahr, das stimmt, tot hat er sie gefunden. Du bist bloß zu feige, mir das beizubringen. Mein Gott, wie feige, ich sehe 38
dir alles an, alles. Weiß kannst du werden, sonst nichts. Bloß weiß. Na ja, ist sicher nicht leicht, mir das auszurichten, jajaja.“ Mit erzwungenem festem Ton sagte Anni: „Er hat Julie nicht gefunden, weder lebend noch tot. Bis zur Stunde hat er sie noch nicht gefunden, aber er wird mit ihr kommen, sie wird leben! Versuch doch mal, deine Angstvorstellungen zu zügeln.“ „Jaja, in Ordnung.“ Krista lächelte dünn, die Lippen zwischen den Zähnen. Bild des Jammers, dachte Anni, faßte sich wie unwillkürlich an die Stirn, fragte, ob Krista schmerzstillende Tabletten habe. Mit fahriger Geste wies Krista zum Badezimmer: „Da links, in Georgs Medizinschrank – wenn du Glück hast.“ Das „Wenn du Glück hast“ durchfuhr Anni; es fehlte nicht viel, daß sie in die Knie sackte. Kristas Kopf pendelte wieder, und das Wort „tot“ zwängte sich durch die nach innen gezogenen Lippen. „Nein!“ schrie Anni unbeherrscht. „Laß den Quatsch!“ Hinter sich schmetterte Anni die Tür des Badezimmers zu, lehnte sich an, schloß die Augen. Dachte, jetzt hat sie es geschafft, jetzt weiß ich nicht mehr weiter – und wenn sie zehn Flaschen Wodka saufen würde … Nach Minuten besann sie sich, warum sie ins Bad gegangen war. Im Medizinschrank fand sie nichts Brauchbares. Wahrscheinlich nahm Georg seine Vorräte täglich mit oder besaß keine. Eine Baldrianflasche war da, fast leer. Auf der Waschmaschine stand eine Steinguttasse. In sie goß Anni den Baldrianrest, füllte etwas Wasser nach. Wenigstens das muß sie trinken! Dieses beruflich-gewohnte Tun ließ Annis Gedanken klarer werden. Plötzlich – und sehr deutlich – erinnerte sie sich, daß Krista vor einiger Zeit schon wegen unvergleichbar Geringerem fast den Verstand verloren hatte. Da handelte es sich um Artikel über bildende Kunst. Unikate, ihr von einer Redakteurin anvertraut, der sie 39
unersetzlich waren. Krista hatte sie in einer Apotheke, in der sie Medikamente für Georg kaufte, liegengelassen. Einen halben Tag lang waren sie nicht wieder aufzutreiben gewesen. Auch da war Krista zu ihr gekommen – ein wimmerndes Häufchen Elend. Als Anni mit der Tasse aus dem Bad kam, stand Krista im Atelier am Telefon, steifbeinig, wacklig, den Hörer in der Hand. „Wen willst du anrufen?“ Krista zuckte die Schulter. „Was weiß ich … Georgs Chef? Ja – Herrn Globb.“ „Gute Idee“, sagte Anni, bemühte sich zu lächeln, sagte: „Aber trink das erst – bitte, ja?“ „Was ist das?“ „Ein kleiner Schnaps. Trinke ihn, davon wirst du ruhiger.“ „Ruhiger?“ Kristas Blicke strichen rechts und links an Annis Gesicht vorbei. „Ruhiger, ja, dann kannst du richtig nüchtern sprechen.“ „Will ich etwa ruhig sein? Denkst du, ich will ruhig sein?“ Verwirrt sah Krista aus. Nicht mehr betrunken. Anni hielt ihr die Tasse entgegen, drückte sich energisch Kristas Kopf gegen die Schulter und hob die Tasse langsam höher. Doch schneller, als zu erkennen war, packte Krista das Telefon und schlug es mit verzweifeltem Schrei auf Annis Hand. Tasse und Telefon knallten zu Boden. Die Tasse zerbrach. Umrahmt von ihren Scherben, stand das Telefon, unversehrt. Daneben lag der Hörer. In die alte, abgewetzte Brücke vor der Chaise sickerte die Flüssigkeit. Betäubender Baldriangestank. Anni sah ihren Handrist an. Kleine Bluttropfen traten heraus, wurden größer, vereinten sich, flossen zeitlupenlangsam in die Bucht zwischen Zeige- und Mittelfinger. 40
Es tat noch nicht weh. Trotzdem sah Anni einen Moment lang nichts – alles wurde schwarz vor ihren Augen. Krista ließ sich auf die Chaise fallen. Anni leckte das Blut ab, faltete ihr Taschentuch zum Dreieck, band es um, knotete und zog es fest mit Hilfe der Zähne. Das Taschentuch färbte sich auf einem Fleck rot. Unvermittelt sprang Krista auf, umhalste Anni, stammelte, das habe sie nicht gewollt. Anni wehrte ab, mit kümmerlichem Lächeln: „Kein Malheur. Ich sterbe nicht davon. Vergiß es.“ Krista ließ sie los, warf sich wieder auf die Chaise. Anni beobachtete Kristas Bewegungen, sah sie nur konturenhaft – als wären die lilabläulichen Nebel des Auftragsgemäldes um sie. Die Hand, der ganze rechte Arm begann zu schmerzen. Sie stellte das Telefon wieder auf den zierlichen Stuhl. „Warum wolltest du Globb anrufen?“ „Bloß so.“ „Was heißt bloß so? Du mußt einen Grund gehabt haben.“ „Klar … Kennst du den etwa nicht? Sitzen wir nicht wie angenagelt, dem Weib ausgeliefert? Ausgeliefertsein – natürlich, du weißt nicht, was das bedeutet.“ „Du darfst das Telefon nicht unnötig blockieren“, sagte Anni. „Unnötig, alles unnötig, ja?“ „Das bestimmt. Wie soll denn Globb helfen? Oder denkst du …“ Annis Stimme brach weg. Sich selbst von Globb abzulenken, fragte sie rasch: „Was machen deine Kollegen?“ „Verreist, verreist, samt und sonders. Die Breitmann nach Ungarn, Zörbel auf Studienreise in Kuba bis zum Herbst, Jau ist an der polnischen Ostseeküste. Die schieben einen Lenz, bloß ich Dussel arbeite.“ 41
Anni sagte nichts. Im stillen fragte sie sich, wo bei Krista die Wirkung des Wodkas geblieben sei. Normal ist ihr Gerede nicht, aber auch nicht mehr vom Alkohol beeinflußt. „Ach Gott, der Jau“, sagte Krista unvermittelt, „der hat bestimmt mit dem Auftrag gerechnet – und hat sich doch mir gegenüber nichts anmerken lassen. Kavalier alter Schule – junger Kavalier alter Schule, weißt du … Der wird sich in Polen wohl fühlen.“ Anni ging darauf nicht ein. „Ich finde es gut, daß du den Auftrag bekommen hast und nicht Jau“, sagte sie. „Was ist daran gut?“ fragte Krista und sah verwundert auf Annis verbundene Hand. „Jau hätte alles, wie man sagt, naturgetreu gemalt.“ „Eben! Seine Bilder stören keine Gedanken; meine wenigstens nicht.“ „Wie gut für ihn, jaja, das ist nun wirklich gut für ihn. Sieh mal, hätte ich heute morgen nicht diese verdammte Idee gehabt … Er wäre vielleicht nie darauf verfallen, den Schinken so zu malen. Und dann …“ Sie stockte. Sah noch immer verwundert Annis verbundene Hand an, den sich ausweitenden roten Fleck – hatte wieder das beängstigende Flackern in den Augen. Anni ging zum Fenster, hörte Krista deklamieren: „Es hallt in mir die Nacht, und ich war in meinem Wahn. Als ich heimkam und kein Aufruhr mehr in mir war, sah ich auf der Innenfläche meiner Hand – das Blut.“ Einen Moment schwieg sie. Dann: „Komisch, hm? Manchmal lerne ich Prosa auswendig wie in der Schule ein Gedicht. Ich will das gar nicht, es bleibt mir von allein im Gedächtnis. Komisch komisch.“ Wir werden sie wegbringen müssen, dachte Anni. Sie verkraftet das nicht. Und ich bin für so etwas nicht geschult, nicht, wenn es um Krista geht. Mir schwindelt, ich muß einen Schwächeanfall befürchten. Nur das nicht. Beiß die Zähne zusammen, Schwester Anni! 42
Widerlicher Baldriangestank. Ziehender Schmerz im Arm. Mist! Julie soll kommen! Wer sollte sie entführt haben, du meine Güte, wer … Was hat Günter erzählt – Sittlichkeitsdelikt, Beziehungstäter. Quatsch. Sittlichkeitsdelikt? Ich darf mir das nicht vorstellen – Julie ist reizend, aufreizend hübsch für solche Individuen –, nein, nicht so etwas denken. Vor mir der Hinterhausgarten, den sehe ich durchs staubige Atelierfenster. In diesem Garten spielt Julie am liebsten. Zumeist mit einer ganzen Kinderschar. Krista kann sie von hier aus beaufsichtigen während der Arbeit. Hier hinten dürfen sie laut sein, sich balgen, Höhlen bauen aus irgendwelchem Gehölz. Manchmal zerfetzen sie sich Hosen oder Röcke in Kristas dorniger Wildnis. Einmal kam ich dazu, als Krista einen Samtrock reparierte mit einem Mädchenhaar. Nach der Reparatur war der Riß nicht wiederzufinden. Vielleicht war Krista darüber noch glücklicher als Julies Freundin, die unbeeindruckt den Rock wieder anzog. Wo bleibt Günter? Es kann nicht so lange dauern, die Fotos zu suchen und hinzubringen. Er muß verrückt gewesen sein – zur Polizei zu fahren. Andererseits, was hätte er tun sollen, Krista sagen, Julie ist nirgends zu finden? Sie wäre sofort übergeschnappt. Sie wird noch überschnappen – ich fürchte, wir alle! Krista deklamiert Prosa. Wie hieß das? Kein Aufruhr mehr in mir war? Dem Gefühl nach müßte mein Arm dick wie ein Baum sein, dabei sind nur Rist und Handgelenk etwas geschwollen … Schritte? Anni schnellte herum, Krista schrie: „Julie!“ Nein. Es war Günter mit dem Gerät. Anni sah im Gegenlicht, das von der Veranda her einfiel, etwas Braunes, Eichkatzenwendiges, das sich plötzlich verkrümmt einkerbte in die Helligkeit, dann wieder 43
zu wanken begann und fast verschwand in Georgs Sessel, dem angestammten. Hat sie vergessen, daß nur Georg darin sitzen darf? Günter schloß das Gerät sofort an. Die Handhabung war ihm erklärt worden. Er befolgte sie gewissenhaft. Alles tat er gewissenhaft. Das wußte Anni. Sie sah ihm zu, und sie sah den Schweiß, der ihm aus dem Haar übers Gesicht lief. Das Gerät war angeschlossen, überprüft. Günter setzte sich auf die Chaise, zog das Hemd aus, warf es hinter sich, stützte die angewinkelten Arme auf die Knie, faltete die Hände, ließ den Kopf auf die gefalteten Hände sinken; Nacken, Rücken, Arme glänzten naß; er atmete schwer, als hätte er eine Tonne Kohlen geschaufelt. Er roch den Baldriangestank, sah die Scherben der Steinguttasse, fragte nichts. Anni setzte sich zu ihm und versteckte ihre verbundene Hand. Krista kauerte im Sessel. Die Zeit schien ebenso stillzustehen wie die stickige Backofenluft im Atelier. Bernhards kannten entnervendes Warten. Warten auf den Erfolg der Wiederbelebungsversuche durch technische Apparaturen. Warten auf das Verhalten der Hirnströme. Warten auf klinischen Tod. Warten auf Befunde. Warten auf Handelnkönnen. Das war es. Das Nichthandelnkönnen. Das Nichtstunkönnen. Nur warten. Als dann das Telefon läutete, zuckten Bernhards zusammen, sahen erschrocken einander an. Den Hörer hob Anni ans Ohr, linkshändig, benommen. Günter drückte den Knopf ein. Hauptmann Prohaska hatte ihn rot umrandet, damit Günter sich nicht irren könnte. 44
Da war es wieder – das keuchende Atmen, wie von Krista beschrieben, und das sonderbare Knacken. Dann eine Frauenstimme. Wenige Worte nur, unverständliche. Noch ein kurzes, seltsames Knackgeräusch – und Stille. Bernhards hörten der Stille zu, bis nach einiger Zeit ein weiteres Knackgeräusch folgte, das weichere, leisere. „Sie hat aufgelegt“, sagte Anni. Günter ging ins Wohnzimmer, strich sacht über Kristas zerzaustes, feuchtes Schwarzhaar, sagte, es habe sich niemand gemeldet. Sie reagierte nicht. Wieder im Atelier bei Anni, sagte Günter flüsternd: „Das Band muß ich jetzt gleich zu Prohaska bringen, obwohl wir nichts verstanden haben.“ „Nein“, entgegnete Anni, „ich bringe das Band weg, hin zu dem Hauptmann.“ „Und Krista? Soll sie allein bleiben?“ „Natürlich nicht. Du bleibst hier. Du mußt ja auch das nächste Band einsetzen.“ „Du kannst nicht fahren, du bist weiß wie ein Laken.“ „Ich kann! Ich fahre. Ich muß hier ’raus, sonst drehe ich durch.“ Von der Veranda aus sah Günter, wie sie das Band in den Wagen warf, sich ans Steuer setzte, losfuhr. Er ging zurück, vorbei an der reglos in Georgs Sessel hockenden Krista, ging ins Atelier, spannte das nächste Band ein, legte sich auf die Chaise, spürte unbändige Wut auf Julie, bis die Angst um sie wieder Oberhand gewann und den Zorn überdeckte. Er fragte sich, ob es sinnvoll wäre, mit Krista zu sprechen. Doch zugleich wußte er, daß ihm kein Gespräch mit ihr gelingen würde. Diese Art der Sprachlosigkeit, die Krista befallen hatte, war dem Assistenzarzt Bernhard nicht fremd; sie kann unbezwingbar sein. 45
Günter beschloß zu bleiben, wo er war. Er legte sich nur andersherum, den Kopf aufs Fußende; Krista sehen, beobachten zu können. Aber er mußte an seine Frau denken. Hatte er ihr vorhin den schwierigeren Part zugeschoben? Indem er grübelte, war ihm, als habe er einen Taschentuchverband um Annis Rechte gesehen – blutig. In dem Moment hätte er aufspringen und Anni nachlaufen mögen, von hier bis ans andere Ende der Kleinstadt. Er blieb liegen.
6 Wie er mich beobachtet. Staunt er nicht, daß ich in Georgs Sessel sitze? Keine Spur. Ach so, Günter denkt, ich bin betrunken. Er beobachtet auch den Gartenweg und spricht von der Bruthitze. Er will mich ablenken. Ich sehe ihn an und polke am Lederbezug. Weiß Günter, wie sehr diese vier Klubsessel mich erbosen, von Anfang an erbost haben, viel zu wuchtig für das kleine Zimmer? Auf Günters Hitzegefasel gehe ich nicht ein. Er schlägt ein anderes Thema an. Unsere Scheidung. Woher weißt du davon, Günter? Hat Anni dir die Geschichte erzählt? Wann denn? Ist Anni nicht mehr hier? Antworte. Ich rede mit dir. Erst später wird mir klar, daß folgendes Gespräch nie stattfand, daß Günter im Atelier auf meiner Chaise lag, beim Telefon – bei diesem verdammten Telefon. Das Gespräch, das nie stattfand, verlief so: Günter sagt, mit Blick aufs Gartentor, wahrscheinlich wäre es nicht mehr lange gut gegangen, mit dir und Georg. Das fragt er nicht. Das stellt er fest. Ich sage, genau besehen ging es fast noch nie gut mit Georg und mir. Ich spreche in Günters sympathisches 46
Gesicht, das er mir zuwendet, obwohl er dauernd beobachtet, was draußen geschieht. Wußtest du, daß wir erst zehn Jahre verheiratet sind? frage ich. Nein. Ich sage, Georg habe ich auf einer Ausstellung kennengelernt. Das hast du uns erzählt, vor Jahren schon, meint er. Macht nichts. Weißt du, ich habe Georg geliebt, wie man nur lieben kann. Den ganzen sentimentalen Schlamassel habe ich durchgemacht, blindlings, unvernünftig. Das Motto der Ausstellung hieß: Kunststudenten sehen Sportler – oder so ähnlich. Von mir hing kein besonderes Bild. Künstlerpech, hm? Georg sagt bei allem, was mir schiefgeht, Künstlerpech. Mensch, ich sage dir, ich habe sogar seinen Raucherhusten, das ständige Hüsteln geliebt. Und seine Lippen schmeckten scheußlich nach Nikotin. Das habe ich auch geliebt. Aber das Bild hing nun mal. Wir hatten Semesterferien. In der Ausstellung mußte ich fünf Tage präsent sein. Das Wort hat Georg sehr gern. Nach mir kam ein Student dran mit dem Präsentsein, auch fünf Tage, und so weiter. Ich hatte den letzten Tag runterzuschrubben – was meinst du, wer da in die Ausstellung kam? Starreporter Georg Brigg. Ich habe mich in eine Ecke verkrochen. Aber, jajaja, wie der Teufel es will, Sportreporter Georg Brigg bleibt ausgerechnet vor meinem Bild stehen und stiert drauf und geht und geht nicht weg. Er sieht sich um nach jemandem, den er fragen kann. Dazu war ich da, fünf Tage. Ich mußte aus meiner Ecke ’raus. Er hat mich gleich ’rangewinkt, ganz weltmännisch, weißt du. Er hat seinen Namen genannt, und ich Rindvieh sage, daß er der bekannte Reporter ist, mein Gott, das weiß doch jedes Kind. Nein, sah der Mensch gut aus. Wo wollte ich bloß hinsehen, damit er nicht merkt, wie ich ihn anhimmle. Du glaubst nicht, was er gesagt hat. Das linke Bein der Hochspringerin sei anatomisch falsch. Mit diesem Bein 47
wäre sie ein Krüppel. Das hat er gesagt, in unwiderlegbarem Ton. Ich fragte, ob er nicht wisse, daß darin eine Absicht liege. Er hat nicht gelacht. Er hat sogar gelächelt, mich angelächelt. Jaja, das war es, der unentrinnbare Zugriff seines Lächelns. Kein Vergleich mehr zu heute. Schade, daß du ihn damals nicht gekannt hast, sonst würdest du nämlich sofort verstehen, daß wir die nächste Nacht auf meiner Studentenbude verbrachten. Verbrachten ist kein Wort dafür, du weißt, was ich meine. Danach, wenn Georg nicht bei mir war, war ich unfähig, was zu tun. Scheißliebe! Günter läßt mich reden und reden und pafft. Wahrscheinlich geht die Pfeife nie aus. Na, ich will ihn in seiner Ruhe nicht stören, es sieht gemütlich aus, wenn ein Mann Pfeife pafft. Ich muß weiterreden – reden, reden, reden, bis alles vorbei ist. Etwa zwei Monate und zwei Wochen nach besagter Nacht ging ich zum Arzt. Untersuchung. Auskunft: Sie sind schwanger, Fräulein Werniger. Nein, ich bin nicht vor Glück zersprungen – ich war bloß ganz nahe dran. Es dauerte noch eine Weile, bis es Georg sah. Heiraten wir? habe ich ihn gefragt. Seine Antwort: Weiß ich, ob es von mir ist? Du – da war ich wieder auf der Erde. Als Julie ein viertel Jahr alt war, sagte Georg mal, er könne sich eventuell in dem Kind wiedererkennen. Julie war fast ein Jahr, als er bemerkte, sie habe Hiddenseer Haar, überhaupt alles von ihm, nur die Augen nicht. Georg sagte, wir heiraten. Ich bin in Heimen aufgewachsen. Günter sagt, das wisse er. Darum, mein Lieber, darum war ich einverstanden. Julie sollte alles haben, aber vor allem eine Familie. Bloß kein Heim oder so was. Wenn irgendwo eine einzige Verwandte von mir in Sicht gewesen wäre, hätte vielleicht noch alles anders kommen können. Aber wie sollte ich 48
denn mit der Kleinen fertig werden. Krippenplatz? Nicht bei mir, nicht bei meinem Heim-Trauma. Aber ich mußte weiterstudieren. Ja, mußte! Kein äußerer Zwang, du weißt schon … Man kann das alles gar nicht schildern, und ich will das auch nicht. Günter sieht mich an. Wie lieb er mich ansieht. Natürlich tat ich Georg nicht mehr schön. Meine überkandidelte Liebe war begraben, als wir heirateten. Und keine Blume aufs Hünengrab. Kurz nach Julies viertem Geburtstag habe ich durch einen wirklich idiotischen Zufall erfahren, daß Georg da oben an der Ostsee einen Jungen hat, fast auf den Tag so alt wie Julie. Günter fragt, durch wen ich das erfahren habe. Durch Georgs Eltern. Möglich, daß es gar kein Zufall war, sondern Absicht. Ich glaube nämlich, der Junge da oben ist ihr ein und alles. Bestimmt auch die dazugehörende Mutter. Das weiß ich aber nicht. Jedenfalls haben sie Julie immer genauso lieblos behandelt wie mich, obwohl sie sonst doch jeden bezaubert, nicht wahr? Ich bin zu ihnen sicherlich auch nicht besonders nett gewesen, mag ja sein. Jedenfalls, als ich das von dem vierjährigen Jungen wußte, habe ich meine Julie genommen und bin abgereist. Seitdem habe ich die alten Briggs nicht mehr gesehen. Kein Verlangen danach. Und Georg? Was heißt: und Georg. Du meinst, er hätte mir die Sache irgendwie erklärt? Nie! Und von dem Tag an lief überhaupt nichts mehr mit ihm und mir. Weißt du, damals die eine Demütigung, als ich selbst Kind war, Heimkind, die hätte fürs ganze Leben ausgereicht. Was war das? Erzähle. Nein. Vielleicht hilft es dir, wenn du einmal alles aussprichst. Nein … Aber dann auch noch die Demütigungen von 49
Georg. Und trotzdem meint er, ich habe ihn kaputtgemacht. Ich ihn. Jetzt bin ich still. Günter ist auch still. Aber ich muß weiterreden. Wenn nicht, knistert es in meinem Kopf, und er wird leichter, als Luft ist. Man kann das nicht ertragen. Nun fällt aber Georgs beruflicher Abstieg zusammen mit der Zeit, da Peter Kammer erschien, sagt Günter. Exakt, mein Lieber! Und mit meinem beruflichen Aufstieg. Möglicherweise ist das unsere Problematik – oder? Du warst damals schon bekannt. Ja? Günter fragt, liebst du Kammer, wie du damals Georg geliebt hast? Was du, glaube ich, zu Unrecht sentimentalen Schlamassel nennst. Ich muß unheimlich lachen. Heute, in der Rückschau, sage ich, ist es sentimentaler Kram gewesen, oder was du willst. Und Kammer? Liebe? Nee, Freundschaft. Kammer ist ein richtiger Kumpel. Ein richtiger und verheirateter Kumpel, konstatiert Günter. Ich bin still. Ich warte. Ich weiß nicht, auf was. Wie ich so warte und nicht weiß, auf was, sagt Günter, du denkst an Julie. Ich ziehe mir die Füße auf den Sessel, schaue irgendwohin und sage, sie wird gleich kommen. Ich denke an Georg, ich denke immerzu an Georg. Er ist in Leipzig. Man hat ihn zwar bloß als Ersatz dahingeschickt, aber es könnte doch ein neuer Anfang sein, hm? Ersatz, na ja, er meint, wenn er von mir frei ist, wird es wieder mit ihm aufwärtsgehen. Könnte sein. Günter stimmt mir zu. Er fragt, glaubst du, daß einer der Männer, die du in den vergangenen Jahren … Er spricht das nicht aus. Spießer. Er fragt, daß einer von denen sich an dir rächen will, durch die Entführung? Nennen wir es mal so, auch wenn noch gar nichts sicher ist. 50
Ich spreize die Beine vom Sessel, meine dreckigen Füße fast in sein hübsches Gesicht, und ich stecke die Hände in die Hosentaschen, damit sie nichts Unvernünftiges tun. Ich denke ernsthaft über seine Frage nach, ohne zu begreifen, warum er mich quält. Ich gebe zu, daß ich geflirtet habe. Oft sogar, ich flirte reichlich gern, aber ich gab keinem Mann Anlaß zur Rache. Außerdem hat eine Frau angerufen. Günter sagt, Männer haben zumeist Frauen. Ich verstehe nicht, worauf er hinauswill. Nun frage ich ihn, da ich mir im Moment nicht so sicher bin, ob er Arzt ist. Ja, antwortet er, Assistenzarzt. Eines Tages bist du ein bedeutender Professor, wetten? Und Georg steigt auch wieder auf. Das hoffe ich für ihn. Will Peter Kammer sich scheiden lassen? Wollt ihr heiraten? Du kannst ganz schön dumm fragen, sage ich und überlege, ob das, was mir gerade erinnerlich wird, einleuchten könnte. Paß auf, fange ich wieder an. Mit Kammer bin ich mal an einem bewachten Parkplatz vorbeigegangen. Ich frage ihn, was das kostet, ein Auto stundenlang bewachen zu lassen. Er wußte es nicht, er parkt seinen Wagen da, wo es überhaupt nichts kostet. Siehst du, genau wie ich, als ich noch einen Wagen hatte. Den überließ ich dann Georg, weil er ihn viel öfter brauchte, aber später mußte er ihn verkaufen. Na jedenfalls, ich ging auf die alte, vermummte Frau zu und frage sie. Sie sagt, fünfundsiebzig Pfennige. Ich bedanke mich freundlich für die Auskunft. Im selben Augenblick drückt Kammer mich impulsiv an sich. Ich kann dir nicht beschreiben, wie glücklich mich das gemacht hat. Ich wußte, daß es seine Körperwärme war, die ich spürte, indem er mich an sich drückte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die mich an Oma Pichelsberg erinnert hat, wie wohl die tat, in der Winterkälte, und wie viele 51
Jahre ich mich gerade nach dieser Erinnerung gesehnt hatte. Ich bin ziemlich anspruchslos, hm? frage ich Günter, weil ich sehe, daß er nichts verstanden hat. Ich muß weitererzählen, er soll den Unterschied ’rausfinden. Nach Wochen kam ich mit Georg am selben Platz vorbei, frage auch ihn, was das kostet und so fort. Ich habe keinen Wagen mehr, sagt er frostig. Na ja – es war eben kalt. Ich also wieder hin zum Bewacher. Diesmal war’s ein alter Mann, so’n kleiner dürrer, und er hatte eine schäbige Umhängetasche aus Stoff auf dem Bauch, die ihm jeder Dreikäsehoch hätte entreißen können. Ich zu ihm hin und dasselbe gefragt wie vor Wochen, als Kammer dabei war. Der dürre Alte sagt, fünfundsiebzig Fennich. Georg war aber nicht neben mir stehengeblieben, sondern hat einen Schritt zugelegt. Ich rufe ihm nach, fünfundsiebzig Fennich, Georg. Er lief, was das Zeug hält. Zu dem Alten sage ich, det is zu wenich. Sie bewachen stundenlang ungefähr zwanzig Autos. Etwa dreihunderttausend Mark Durchschnittswert. Und dafür kriegen Sie, wenn’s jut jeht, fünfzehn Mark? Det is ne Schande. Der Mann sagt, manchmal krieje ick ooch Trinkjeld, so’n kleenet. Lassen Se man, Fräuleinchen, det Jeschäft jeht janz jut. Der Mann sprach wirklich wie unser Nachbar Kulicke. Na jedenfalls, Georg war inzwischen um die nächste Ecke gebogen, obwohl er gar nicht um die nächste Ecke wollte. Ich mit langen Schritten hinterher. Und dann habe ich ihn – scheinbar ganz arglos – gefragt, was ist denn? Keine Antwort. Kein Arm um mich. Keine Wärme in der Kälte. Bloß Kälte. Günter pafft. Ich wundere mich über sein geduldiges Zuhören. Na gut, sagt Günter (weil ich nicht weiterrede), du kennst Georg nicht erst nach dieser Episode, die meiner Ansicht nach keine Demütigung war und auch kein Scheidungsgrund ist. Ich stimme ihm zu, unterbreche mich gleich, will nicht noch einmal Kammer erwähnen, will Günter nicht fragen, 52
ob er überhaupt weiß, was Freundschaft, Harmonie, Wärme und so fort bedeuten. Er begreift ja doch nicht, was ich zu erklären versuche. Ich sage bloß noch, wenn man aber Jahr für Jahr, Tag für Tag frieren muß und sich zerscheuert an so viel Sturheit … Günter fällt mir ins Wort. Und Kammer? Ist er immer so liebenswert? Ja und ja und ja. Er ist fadendünn und fadenlang, hat ein zerknautschtes Gesicht, aber er ist immer liebenswert. Und du, fragt Günter – listig, wie mir scheint –, bist du das Gegenstück zu Georg, dem Satan? Die Frage trifft mich wie ein Axthieb. Denn – einmal habe ich Georg wirklich Satan genannt. In einem November war mir ein Kätzchen zugelaufen, höchstens vier Wochen alt. Das kleine Tier hatte auf meiner flachen Hand Platz, so winzig war es, und hatte noch die wunderschönen blauen Augen, die bloß so ganz junge Kätzchen haben. Wenn man es an sich nahm, streichelte, schnurrte es vor Behagen, und ob du es glaubst oder nicht, sogar dieses kleine Körperchen gab schon Wärme. Na ja, jedenfalls hatte ich es sehr lieb. Ich habe es gezeichnet. Nachher zeige ich dir das Bild mal. Jedenfalls, zwei Tage war es bei mir, da nahm auch Georg es an sich, streichelte es, ich freute mich, wie es so schnurrte, und plötzlich, hastenichtgesehen, drehte Georg den weichen Katzenhals um und um und um. Ich schreie, brülle, du Satan! Tut mir leid, sagt er, ich bin nun mal allergisch gegen Katzen. Jetzt kann ich nicht mehr weiter. Günter schweigt. Vielleicht ist er auch ganz benommen. Irrtum, Günter gönnt mir bloß eine Atempause. Dann fragt er, ob ich das Gegenstück zu Georg, dem Satan, bin. Frage wiederholt. Nein, sage ich. Kein Gegenstück. Ich bin kein Engel und kein wandelnder Ölzweig. Ich mache zum Beispiel alles, was eine anständige Mutter nicht tut. Da wäre zu nennen, wenn Julie aus der Schule 53
kommt, möchte sie meistens spielen, statt sich auf Hausaufgaben konzentrieren zu müssen. Gut, Julekind, sage ich, du hast viele Stunden gearbeitet, warum solltest du danach nicht spielen dürfen. Sie ist glücklich, kommt aber erst spätabends wieder ’rein, todmüde vom Spiel. Ich müßte sie an die Hausaufgaben erinnern. Mache ich nicht. Oft kümmre ich mich nicht mal, ob sie sich wäscht, Zähne putzt und so das übliche tut. Essen, denn sie ist hungrig wie ein Wolf, und ab ins Bett. Kommt Georg, will er Julies Hausaufgaben überprüfen. Die haben wir heute ausnahmsweise mal vergessen, sage ich. Er holt Julie herunter und zwingt sie an die Aufgaben. Klar, die Aufgaben müssen gemacht werden. Aber Julie kann danach nicht wieder einschlafen. Ich lausche, sie rumort die halbe Nacht ’rum. Das ist, genau besehen, meine Schuld. – Oder was anderes. Ich soll nicht ‚denn‘ sagen, wenn es ‚dann‘ heißen muß, ich soll nicht ‚tausend‘ sagen, wenn ich bloß ‚viele‘ meine. ‚Bloß‘ soll ich natürlich auch nicht sagen, sondern ‚nur‘. Georg gibt mir dauernd gute Ratschläge, verbessert mich, ermahnt mich, ich soll mir das Berlinern abgewöhnen. Aber ich befolge das alles einfach nicht, obwohl ich doch weiß, daß er sich ärgert. Ich sage zu oft ‚Scheiße‘, wenn was schiefgeht. Neulich auch wieder. Das war so. Ich habe mal wieder ‚verdammte Scheiße‘ gesagt. Georg brüllt mich an, ob ich diesen Gassenjargon nicht zumindest in Julchens Gegenwart abstellen kann. War er etwa nicht im Recht? Natürlich war er. Aber jetzt passierte das: Julie sagt, Mensch Vati, nu hab dich man bloß nicht so. In der Schule sagen wir auch Scheiße, und der Lehrer von der Vierten ist ein Arschloch, das sagen wir auch. Georg raste wie ein Stier in der Arena, und ich mußte leider lachen. Das bedaure ich sehr. Warum schmunzelt Günter? Was habe ich angerichtet, daß er schmunzelt? Also Georg raste, und vor Wut hat er mich geohrfeigt. 54
Daraufhin hat ihn Julie mit ihren kleinen Fäusten geboxt. Aber davon sage ich nichts, das reißt mich nicht ’raus. Außerdem habe ich zurückgeschlagen – bloß, er war stärker. Günter schmunzelt nicht mehr. Ich muß wieder reden. So leicht werfe ich die Flinte nicht ins Korn, weil sie nichts im Korn zu suchen hat. Ja, und neulich, paß auf. Also wir saßen – o nein, Pardon, wir speisten … speisten im Interhotel. Alles stinkfein. Die Kellner jung und galant. Aber ein unbeschreiblicher Andrang. Draußen stehen die Leute Schlange. Die Ober eilen mit Grazie. Trotzdem schaffen sie die Arbeit nicht. Manchmal geht ihnen auch die Freundlichkeit aus. Georg und ich sind fertig mit dem Essen. Vollgespeist sozusagen. Georg will zahlen, wartet auf den Ober. Von überall wird gerufen. Die Ober haben auch bloß je zwei Hände und einen Kopf. Ich sehe mir das eine Weile an, dann staple ich unser benutztes Geschirr zusammen. Georg sagt, laß das! Da bin ich aber schon aufgestanden und trage den Geschirrstapel zur Durchreiche. Nu kann ich das leider nicht so geschickt wie die Kellner, und, was soll ich dir sagen, kurz vor der Durchreiche fällt mir der ganze Krempel ’runter. Alles poltert, alles klirrt. Mir war, als stürze die Decke ein. Und Leute lachen und andere sind irgendwie besorgt um mich oder ums Geschirr … weiß nicht genau, und der Geschäftsführer ist gleich bei mir, und ich brauche nicht für den Schaden aufzukommen, gibt er mir zu verstehen, und ich sage, mein Mann bezahlt, wir sind fertig mit dem Essen, wir sitzen da hinten am Fenster. Ich weiß wirklich nicht mehr, wie alles ablief – na, jedenfalls … Jedenfalls, mein Mann war nicht mehr da. Nun sage du mir, warum ich so was mache. Ich weiß doch, daß er das nicht leiden kann. Trotzdem! Nein, nein, ich bin überhaupt kein Ölzweig, ich bin ein weibli55
cher Mars – oder was in der Art. Immer auf Krieg aus. Ich bin zu spontan, sagt Georg. Ich handle, bevor ich denke, meint er. Warum kann ich mich bloß nicht umstellen? Oma Pichelsberg war auch unheimlich spontan. Wie sie uns beide durch die miese Nachkriegszeit gebracht hat – sehr spontan und ganz gut –, das werde ich nie vergessen. Na jedenfalls, es ist nicht richtig von mir, was zu tun, wofür Georg sich blamiert fühlt, und dabei noch Spaß oder Genugtuung zu haben. Dachte ich mir, sagt Günter. Hat er das wirklich gesagt? Woher will er das wissen. Ich bemerke, wie oft er auf seine Armbanduhr guckt, verstohlen, und sie mit Georgs Standuhr vergleicht; verstohlen. Mein lieber Günter, du darfst nicht annehmen, ich hätte vergessen, daß es spät ist, daß dieses Weib immer wieder anruft, daß Julie wegbleibt – denke das bloß nicht. Willst du noch mehr Beispiele hören? Also paß auf. Damals, wie ich das mit dem Jungen da oben erfahren hatte und Georg dann schon wieder monatelang zu Hause war, wollte ich mit ihm reden. Ganz vernünftig; erst denken, dann sprechen. Inzwischen hatten wir Winter, und ich bat ihn, sich endlich mit mir auszusprechen. Er ist ohne ein Wort aufgestanden und bei eisiger Kälte in den Garten gegangen. Hat Kulickes Schneeplastiken betrachtet, ewig. Übrigens macht Kulicke prima Schneeplastiken. Georg ist also ’raus, in dem leichten Pullover. Weiß nicht, wie lange … Jedenfalls, irgendwann kam er wieder ’rein. Mit Schüttelfrost. Am nächsten Tag natürlich krank. Fiebrige Erkältung. Nu ist es ja nicht schwer, ihn gesund zu pflegen, weil er geduldig und ausdauernd ist im Krankenbett. Warum aber habe ich ihn nicht noch einmal um die Aussprache gebeten? Jetzt war die Gelegenheit doch da, er konnte nicht wieder ausreißen. Nein, ich bat nicht noch einmal. 56
Und warum verheimliche ich nicht, wenn ich mit einem anderen … Das ist bösartig von mir, jawoll. Sieh mal, damals, als er angeblich nicht wußte, ob Julie von ihm ist – wo er doch wußte, daß ich mit keinem anderen was hatte –, da hat er gemeint, ich wäre nicht mehr unberührt gewesen. Nicht mehr – unberührt! Er spricht ja druckreif und ziemlich antiquiert, was er mir leider nicht beibringen kann. Warum habe ich da nicht gebeichtet, daß mich der Heimvater schon berührt hatte? Damals, in dem Heim in Charlottenburg. Ich war dreizehn. In der Nacht danach bin ich getürmt, trotz der Hunde, die auf „Faß zu“ abgerichtet waren, falls einer unerlaubt ins schöne Waisenhaus wollte. Vielleicht wäre Georg ganz anders zu mir gewesen, wenn ich das gebeichtet hätte. Komisch, komisch, dir kann ich alles erzählen. Ihm nicht. Aber ich weiß, es gibt Tausenderlei, was für meine Schuld ins Gewicht fällt. Schuld? Was heißt da noch Schuld? fragt Günter. Und sagt, ihr seid zu unterschiedlich, das konnte gar nicht gut gehen. Mir dröhnt und knistert der Kopf. Günter sagt, vielleicht bist du aber auch selbstgerecht. Verzeih, manches klang sehr selbstgerecht. Ja? Ach, du weißt nicht, was du redest, sage ich. Einmal las ich, „feucht und kühl leckt die Erinnerung meine Lippen“. Was für ein idiotischer Satz! Nein, mein lieber Günter, mir sind die Lippen trocken und heiß, zerbissen und aufgesprungen von Erinnerungen … Waren das nicht alles bloß Lappalien? Muß man darum eine Familie kaputtmachen? Darum sein Kind im Stich lassen, das dann keine Familie mehr hat? Günter sagt, das war doch schon kein Familienleben mehr. 57
Was soll ich ihm antworten? Günter fragt, bist du – nachdem du das von dem Jungen da oben wußtest – nicht nur bei Georg geblieben, weil er dich und Julie finanziell versorgte, du also alle deine Gemälde behalten durftest, keine Farbtube aus eigener Tasche bezahlen mußtest, weil du einigermaßen sorglos leben konntest? Was hat Günter gefragt? Ich denke darüber nach, ich sage, ja, das ist möglich. Mir ist schlecht. Günter fragt, ob ich mir mal überlegt habe, daß ich schon jahrelang meine ehelichen Pflichten nicht mehr erfüllte. Das jagt mir Schrecken ein. Kann das für Georg zu Buche schlagen? frage ich Günter. Kann Georg deswegen Julie für sich beanspruchen? Günter stopft sich wieder die Pfeife, zündet sie an; riesige dicke Qualmwolke. Durch die Wolke hindurch, die mir die Sicht auf Günter nimmt, fragt er, was ich von der Frau da oben wisse. Die hat nicht angerufen, die bestimmt nicht, antworte ich. Günter sagt, das sei keine Antwort. Da muß ich ihm zustimmen. Er ist still. Alles ist fürchterlich still. Damit es nicht so fürchterlich still ist, sage ich, die Frau da oben war damals Redaktionssekretärin bei Georg. Während sie mit dem Jungen schwanger war, hat sie in der Redaktion aufgehört und ist nach Norden gezogen. Sie heißt Maraike Müller. Nach der Geburt des Jungen ist sie Rettungsschwimmerin geworden. Im Winter geht sie putzen in Hotels oder Kurheimen; ich weiß das nicht so genau. Jedenfalls wollte sie ihn nicht heiraten, meinen Georg. Sie wollte ihn einfach nicht haben. Sie nimmt auch von meinem Georg kein Geld für den Jungen, und sie wohnt da, ich glaube, auf einer Insel, in einem Haus ohne Strom. Vielleicht lebt sie heute auch 58
ganz anders, möglich. Mir hat das alles mal eine ältere Kollegin Georgs erzählt, ohne daß ich gefragt habe. Jedenfalls ist von Eifersucht bei der Frau da oben bestimmt nichts drin. Sie will meinen Georg doch einfach nicht haben. Na gut, sagt Günter. Nach einer Weile fragt er, und deine Kollegen – auch nicht eifersüchtig? Meine Kollegen sind verreist, sage ich. Dann wieder Günter: Ich überlege, wer versuchen könnte, dich zu erpressen. Will mich denn jemand erpressen? Mich? Wer mir den Auftrag neidet, fragt Günter, anstatt zu antworten. Ich sage, du stellst vielleicht Fragen. Keiner hat ihn mir geneidet, jeder hat seine Aufträge. Na gut. Und was hatte es mit der Demütigung im Heim auf sich? Günter läßt nicht locker. Soll ich das auch noch freibuddeln? Ist doch schon alles egal. Also paß auf, fange ich wieder an, das war so. Der Heimvater ist oft mit mir in ein Versteck gegangen und hat mich dann wahnsinnig geprügelt; auf den nackten Hintern, mit seiner großen, harten Pranke. Danach hat er sich immer die Hände gerieben und ein bißchen geschielt. Damals wußte ich nicht, was das bedeutet … Na, jedenfalls waren wir dann einmal alle verlaust, und die Köpfe wurden uns mit Grauer Salbe eingerieben. Zwei Stunden später mußten wir duschen. Bis zu der Minute dachte ich, der Heimvater prügelt alle Mädchen heimlich, wie mich. Wir durften uns nämlich nie nackt ausziehen, wegen der Sünde. Darum sahen wir uns an diesem Vormittag zum erstenmal alle ganz nackt. Der Heimvater war nicht da. Die Heimmutter hatte das angeordnet. Graue Salbe ins Haar, beten, zwei Stunden die Salbe wirken lassen, und gleich nach dem Gebet vor Tisch duschen. Und was 59
habe ich entdeckt? Daß alle Hintern heil waren, bloß meiner war verstriemt. Glaubst du, daß man so was vergißt? Nee, mein Lieber, so was vernarbt zwar auf dem Hintern, aber … Verdammt, das soll sich nicht so dramatisch anhören, und ich will nicht weinen. Ich halte mir die Handballen vor die Augen, Günter kann das ja doch nicht nachempfinden; ich sage schnell, ach laß, sollst dir keine Mühe geben. Und jetzt hat Günter keine Fragen mehr. Er ist still. Ich bereue, ich hätte ihm kein Wort von dieser Scheißdemütigung erzählen dürfen. Er hält mich für selbstgerecht. Aber dieser Mister Edison hat ja nicht bloß die Glühlampe und vieles andere erfunden … Mister Edison und Companie haben doch auch die Sache mit dem Starkstrom für den elektrischen Stuhl ausgeknobelt – jaja, man muß alles bedenken. War Mister Edison selbstgerecht? In dem Augenblick springt Günter von meiner Chaise auf, läuft durchs Wohnzimmer, an mir vorbei, bemerkt mich gar nicht, sieht nicht meinen zerstückelten Kopf. Wie gut! Anni ist mit dem Wagen angekommen. Zu ihr läuft er hin. Er lag auf der Chaise, er war nicht bei mir, ich habe nichts erzählt. Nichts! Das ist ein bedeutsames Glück … Am Gartentor redet er mit Anni. Redet nur, redet, redet. Mich interessiert es nicht. Kein Mensch bat euch her. Kein Mensch.
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7 „Wie geht es Krista?“ fragte Anni, noch bevor sie ausgestiegen war. „Verhältnismäßig gut“, sagte Günter. „Sie hat sich in Georgs Sessel verkrümelt und führt Selbstgespräche; aber sie ist ruhig. Und wem hast du das Band gegeben?“ „Hauptmann Prohaska. Sie haben das Band abgespielt, auf ein anderes Gerät übertragen, und dann war jedes Wort zu verstehen.“ „Was ist gesagt worden?“ „Man wagt kaum, es zu wiederholen. Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg!“ „Aus der Ostsee?“ fragte Günter zurück. „Und so brutal formuliert?“ Anni nickte nur. Sie stützte die unverletzte Hand auf den niedrigen Zaun, an dem sie mit Günter stehenblieb. Von der Rechten hatte sie den Verband abgenommen. Die Wunde war kaum noch zu sehen mitten im Bluterguß, der sich über den Rist ausgebreitet hatte. Die Hand war geschwollen. Günter sagte: „Georgs Eltern wohnen auf Hiddensee.“ „Das war auch mein erster Gedanke, als ich das hörte. Ich habe das angegeben, aber Prohaska wußte es schon. Ich habe mit nichts hinter dem Berg gehalten. Krista äußerte mir gegenüber einmal, Julie sei ihrer Großeltern ungeliebte Enkelin. Das habe ich Hauptmann Prohaska gesagt.“ „Aber wie sollte Julie an die Ostsee kommen?“ „Frag mich nicht. Kann ich das wissen. Wenn man ’rausbekäme, zu wem sie heute morgen hinlief, wäre womöglich viel gewonnen, sagt Hauptmann Prohaska.“ „Aber damit sind sie bis jetzt noch keinen Schritt weiter, was?“ „Nein. Sie haben Verbindung mit der Küste aufgenommen. Genaues wurde mir nicht gesagt. Immerhin, 61
allmählich wird’s dunkel … Zur Zeit ist der Verbandsvorsitzende auf der Polizei, den werden sie nach Kristas Kollegen befragen, nehme ich an. Sie haben ja absolut nichts Greifbares. Ich hörte, daß fieberhaft nach Georg gesucht wird, der hat tagsüber in Leipzig gearbeitet. Man hat ihn gesehen und mit ihm gesprochen – wie ich hörte, war auch von einem Interview die Rede, nur, niemand kann sagen, wo er nach dem Abendessen geblieben ist.“ „Das hat uns gerade noch gefehlt“, sagte Günter. „Wir müssen zu Krista, auch wenn ich jetzt nicht mehr weiß, wie ich ihr noch in die Augen sehen soll.“ Günter hatte Anni selten, vielleicht noch nie so mutlos gesehen. „Das wird sich erübrigen“, versuchte er obenhin zu sagen, „sie ist ja nicht mehr ansprechbar.“ Sie gingen in den Garten. „Das wird sich nicht erübrigen. Wir müssen sie vorbereiten. Prohaska bat mich darum.“ „Worauf?“ Günter verhielt den Schritt, stand starr und mundoffen. Anni blieb stehen, sagte: „Wenn alle Befragungen und die ganzen Suchaktionen nichts bringen, wenn Georg nicht aufzutreiben ist, kommen sie her – zu Krista.“ „Menschenskinder!“ Günter stampfte mit dem Fuß auf. „Habe ich dem Hauptmann nicht deutlich genug erklärt, wie sinnlos das wäre?“ „Das hast du“, antwortete Anni müde, „aber Hauptmann Prohaska ist der Ansicht, daß sie möglicherweise gerade in der Verfassung einiges sagt, was sie normalerweise verschweigen würde. Ich habe mich auch bemüht, ihm das auszureden. Umsonst. Sie haben eben ihre eigenen Methoden und Erfahrungen. Was können wir dagegen tun – sag es mir.“ Sie gingen weiter aufs Haus zu. Noch einmal blieb Günter stehen. Er fauchte: „Dann sollen die Klugscheißer sehen, wie sie hier mit ihren Methoden und Erfahrungen zurechtkommen. Es fällt mir nicht im Traum 62
ein, Krista, wie sie es wünschen, vorzubereiten. Soll ich ihr sagen, daß ich die Polizei benachrichtigt habe? Also Kristas Hoffnungsrest zerstören?“ „Das nicht“, wehrte Anni leise ab. „Wenn ich das richtig mitgekriegt habe, werden sie sich nicht als Polizisten ausgeben.“ „Sondern?“ „Ich weiß es nicht.“ Günter steckte die Daumen in den Hosenbund, wiegte sich in den Knien – er war einem Wutausbruch nahe. Wut auf sich selbst; unverzeihbar schien es ihm jetzt, daß er Anni hatte fahren, mit dem Hauptmann hatte sprechen lassen. Doch er wußte, daß es ihm vorhin recht gewesen war, daß er sich gern auf die Chaise legte – ausgepumpt, erschöpft, nach Tag- und Nachtarbeit, nach unerwünschter, unvermuteter Aufregung, nach langem Suchen, nach der Vermißtenanzeige, nach der Unterredung mit Prohaska. „Na gut, wir müssen ’rein“, sagte Günter beherrscht, „Krista geht ja nicht ans Telefon.“ Aus Georgs Sessel blickte Krista ihnen entgegen. „Da seid ihr. Kamt ihr, um mir auf Wiedersehen zu sagen? Das ist lieb.“ Bernhards nickten, sie wußten keine Antwort. Beide bemerkten, daß Krista wieder fast wie üblich sprach; schüchtern, ausschließlich, dankbar. Günter sagte: „Bißchen wollen wir noch bei dir bleiben.“ „Und euer Urlaubsplatz?“ Anni lächelte. „Der geht uns nicht verloren, wir fahren doch zu Günters Eltern – ins Erzgebirge.“ Der Moment schien Günter Bernhard günstig, Krista erneut an das Geschehen zu erinnern. Lässig sagte er: „Sobald wir Julie gefunden haben, schwirren wir ab. Dann bist du uns los.“ Und Krista, nach einer Gedankenpause, antwortete mit dem Dunkelsatz: „Fahrt nur, sie ist nicht zu finden.“ 63
8 Der Verbandsvorsitzende Constantin Rosemann war zu Prohaska gekommen, sofort, ohne sich lange bitten zu lassen. Steht da wie eine knorrige Eiche, dachte Prohaska. (Er dachte zumeist in gängigen Vergleichen und wußte das.) Dreht mir den Rücken zu, wendet sich nicht um, hat tiefe Kerben im Nacken. „Herr Rosemann?“ „Ja. Das ist mein Name.“ Rosemann bewegte sich gemächlich. Nun konnte Prohaska ihn von vorn betrachten. Gebräuntes Gesicht, gebräunte Hände, tiefe Kerben auch oben auf den Handgelenken. Arbeitet sicher oft im Freien, dachte Prohaska. Hat Arme wie Keulen. Diesen Armen ist Schwerstarbeit anzusehen. Unwillkürlich denk’ ich mir schweres Handwerkszeug zu dem Mann und einen klobigen Stein, aus dem Constantin Rosemann eine Figur herausschlägt. Dieser erste Eindruck klemmte sich in Prohaskas Kopf fest. „Nehmen Sie bitte Platz.“ Verbandsvorsitzender Constantin Rosemann setzte sich auf die Kante des Sessels, breitbeinig, die Hände auf die Knie gestützt. „Ich will Ihnen gleich sagen, warum ich Sie herbestellen mußte. Sie haben Ihr Atelier bei der alten Mühle?“ „In der alten Mühle, das ist korrekter. Ein wenig Umfeld gehört dazu.“ „Heute haben Sie nicht dort gearbeitet?“ „Doch.“ „Als ich Sie anrief, waren Sie in Ihrer Stadtwohnung.“ „Zufällig. Ich wollte mir was gegen Hunger und Durst holen. Der Tag war heißer geworden, als ich morgens ahnte, ich hatte nicht genügend Proviant mit.“ „Demnach war es reiner Zufall, daß ich Sie per Telefon erreichen konnte.“ 64
„Reiner Zufall.“ „Herr Rosemann, kennen Sie Frau Brigg, die Kunstmalerin Krista Brigg?“ „Natürlich.“ „Gut?“ „Wie ist das gemeint?“ Prohaska sah ihn nur an. „Ich kenne sie als eine besessene Arbeiterin.“ „Daraus darf ich entnehmen, daß Sie Frau Brigg schätzen.“ „Natürlich.“ „Mehr nicht?“ „Reicht Ihnen das nicht?“ „Ich muß Ihnen sagen, daß sich Frau Brigg in einer makabren Situation befindet.“ „Wie das?“ „Sie haben noch nichts davon gehört?“ „Wovon?“ „Ein Bekannter der Frau Brigg bat mich, sie selbst nicht zu behelligen, da sie im hohen Maße empfindsam ist.“ „Natürlich ist sie das.“ „Wieso nennen Sie das natürlich?“ „Sehen Sie sich ihre Bilder an, dann wissen Sie es.“ Prohaska wartete. Rosemann schwieg. Saß unbeweglich, als wäre er selbst eine aus Stein geschlagene Figur. In dem flachen Gesicht zeigte sich keine Regung. Die kleinen, schmalen Augen, braun-grünlich irisierend, hielt er gesenkt. Unter den Augen dicke Wülste, im linken zuckte es, als krabble ein kleiner Wurm im Wulst. „Krista Briggs Tochter ist seit heute morgen vermißt“, sagte Prohaska. Mit einem Ruck hob Rosemann den Kopf. Sein Blick wischte über Prohaska hin, seine Lider flatterten. „Was heißt das?“ fragte er. „Habe ich mich undeutlich ausgedrückt?“ fragte Prohaska zurück. 65
Eine Zeitlang schwieg Rosemann. Dann, langsam, als hole er Wort für Wort aus Abgründen, sagte er: „Ich kenne das Mädchen, ich mag es gern. Sie ist in einem schwierigen Alter, zwölf, dreizehn, schätze ich – nicht mehr ganz Kind und noch nicht erwachsen. Kann es nicht sein, daß sie auf eigene Faust etwas unternahm – um sich zu beweisen?“ „Das ist, nach den Informationen, die uns vorliegen, leider kaum zu vermuten“, sagte Prohaska. „Wer legte Ihnen nahe, Krista nicht damit zu behelligen – weiß sie denn nichts?“ Den ersten Teil der Frage überhörte Prohaska. „Sie weiß, daß ihr Kind seit heute morgen verschwunden ist, aber nicht, daß wir benachrichtigt wurden.“ „Seit heute morgen? – Es wird dunkel.“ Das überging Prohaska wieder. Er sagte: „Ich habe Sie herbemüht, weil wir uns von Ihnen Auskünfte erhoffen, die vielleicht weiterhelfen.“ „Von mir?“ fragte Rosemann. Das Flattern seiner Lider nahm zu. „Frau Brigg arbeitet an einem, wie ich annehme, sehr lukrativen Auftragsgemälde.“ „Ja, das ist wahr“, bestätigte Rosemann. „Sie soll ein Stadtzentrum malen. Ich habe ernsthafte Zweifel, daß sie damit zurechtkommt. Vor etwa einer Woche war ich bei ihr – sie grundierte noch immer.“ „Aus welchem Grund gingen Sie zu ihr?“ fragte Prohaska. „Nicht aus einem, sondern aus zwei Gründen“, antwortete der still auf der Sesselkante sitzende Mann. „Ich besuche unsere Verbandsmitglieder ab und an. Nicht oft, aber in ziemlich regelmäßigen Zeitabständen. Selten habe ich bei den Verbandssitzungen alle beieinander, aber Probleme, hochgestochen gesagt Schaffensprobleme, gibt es ständig; freudige, betrübliche und was so dazwischenliegt. Das war der eine Grund. Der zweite, ich besuchte sie ganz gezielt, um mich nach dem Fortgang 66
ihrer Arbeit, an dem von Ihnen erwähnten Auftragsgemälde, zu erkundigen. Das Gemälde muß Ende nächsten Monats geliefert werden. Feierliche Einweihung eines neuen Gebäudes für den Rat des Bezirkes.“ „In welcher Verfassung trafen Sie Frau Brigg an?“ Rosemann lächelte schwermütig. „Sie haben keine Ahnung von unserem Beruf, was Ihnen nicht zu verübeln ist, ich habe auch keine Ahnung von Ihrem. Wenn ein Maler acht Wochen vor Liefertermin eines so monumentalen Bildes noch immer grundiert … Vor einem dreiviertel Jahr hatte Krista den Wettbewerb gewonnen, den Auftrag angenommen … Muß ich noch mehr dazu sagen?“ „War sie selbst nicht mehr vom Gelingen überzeugt?“ „Nein, das war sie nicht mehr. Vielleicht war sie es nie gewesen, das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich staunte damals, daß sie überhaupt am Wettbewerb teilgenommen hatte; soweit ich mich erinnere, war es das erstemal.“ „Das ist interessant“, sagte Prohaska und notierte etwas. Dann fragte er, wie die in Vau ansässigen Kollegen zu Frau Brigg stehen. „Ganz zufriedenstellend kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Ich habe den Eindruck, daß sie alle sich gut verstehen, bin mir aber sicher, daß dieser Eindruck trügen könnte.“ „Klingt diplomatisch“, sagte Hauptmann Prohaska, indem er sich wieder kurze Notizen machte. Dann fragte er, ob Rosemann eine Kollegin oder einen Kollegen wüßte, die oder der sich ebenfalls am Wettbewerb beteiligt und mit dem Gewinn fest gerechnet hatte. „Es beteiligten sich alle in Vau ansässigen Kollegen. Vielleicht, weil der Stadtbau-Architekt, der die Gesamtverantwortung für den Wieder- und Neuaufbau dieses Stadtzentrums trug, ebenfalls in Vau wohnt. Das ist eine naheliegende Vermutung von mir, mehr nicht. Auch eine Kollegin aus Pot nahm teil.“ „Deren Name bitte.“ 67
„Marion Diener.“ „Anschrift?“ Rosemann hatte sie im Gedächtnis. „Telefon?“ „Nein.“ „Ist sie anzutreffen?“ „Das weiß ich nicht, ich sah sie lange nicht.“ „Würden Sie Frau Marion Diener an der Stimme erkennen?“ Rosemann schüttelte den Kopf. „Sie ist stumm. Stumm und taub.“ Prohaska sah Rosemann an, als wolle er sich für die Frage entschuldigen. Aber er mußte weiterfragen. „Lebt Frau Diener mit einem Menschen zusammen, der …“ Rosemann fiel ihm ins Wort: „Sie lebt völlig zurückgezogen. Auch meine Besuche mag sie nicht. Selten, daß sie mir öffnet.“ „Arbeitet sie zur Zeit?“ „Sie arbeitet immer. Ich wüßte nicht, daß sie jemals Urlaub macht, und es gibt keine Feiertage für sie, ihre Produktion ist riesig.“ „Verkauft sie ihre Werke?“ „Ja.“ „Selbständig, trotz der Behinderung?“ „Ja, sie braucht keine Hilfe.“ Rätselhaft, dachte Prohaska; er sagte es nicht. Statt dessen fragte er: „Sie selbst malen auch?“ „Ich bin Bildhauer. Gemalt und gezeichnet habe ich nur während des Studiums.“ „Sie erwähnten vorhin den Architekten, der in Vau wohnt. Kennen Sie ihn?“ „Natürlich. Peter Kammer heißt er. Hochbegabter Bursche.“ „Hat er – Ihrer Meinung nach – dafür gesorgt, daß Frau Brigg den Auftrag bekam?“ 68
„Er war in der Jury. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ „Kennen Sie Herrn Brigg?“ „Kennen – das wäre übertrieben. Einmal war er zu Hause, als ich Krista besuchte, das liegt Jahre zurück. Damals schrieb er noch sehr viel für eine Sportzeitung, wenn ich mich recht erinnere.“ „Zeigte er Interesse für die Arbeit seiner Frau?“ „Das war nicht mein Eindruck, doch der kann täuschen, er war beschäftigt, er schrieb und wollte nicht gestört werden.“ „Sprach Frau Brigg über ihren Mann?“ „Nicht, daß ich wüßte. Sie sprach oft von der Tochter Julie. Sie hat Julie oft porträtiert.“ „Ihren Mann auch?“ „Soweit ich ihre Bilder kenne, nein. Eines ihrer Gemälde, ein Aquarell, stellt einen ertrinkenden Mann dar – aber er hat keine Ähnlichkeit mit Herrn Brigg. Doch … mit den Ähnlichkeiten ist das bei Krista schlechthin so eine Sache; sie verändert ihre Modelle, ohne sich von ihnen zu entfernen – schwer zu erklären.“ „Kam Ihnen mal zu Ohren, daß oder ob Briggs sich scheiden lassen wollen?“ „Nie.“ „Und wer hat Ihrer Ansicht nach mit ziemlicher Sicherheit mit dem Sieg im Wettbewerb gerechnet?“ „Was soll ich darauf antworten? Wahrscheinlich jeder und keiner, wie das bei allen Wettbewerben ist, ob im Sport oder anderen Berufen. Wer möchte nicht siegen, wenn er sich beteiligt, aber wer ist schon so vermessen, fest mit dem Sieg zu rechnen?“ Prohaska hatte längst bemerkt, daß er sich mit der Befragung des Bildhauers im Kreise drehte, und er wunderte sich, daß Rosemann von sich aus nicht mehr auf die vermißte Julie zu sprechen kam. Lauter, betonter als bisher, sagte er: „Herr Rosemann, wir brauchen Ihre Hilfe. Ich muß Sie bitten, nicht auszuweichen.“ 69
„Habe ich nicht alles beantwortet, so gut ich konnte?“ „Genau das will ich herauskriegen. Julie Brigg wird vermißt! Es besteht die Möglichkeit, daß sie entführt wurde. Es ist weiterhin möglich, daß eine ihrer Kolleginnen, einer ihrer Kollegen den Briggs einen äußerst makabren Streich spielen wollte. Jemand, der Frau Brigg den Auftrag nicht gönnte. Überlegen Sie jetzt bitte genau, ob Ihnen nicht doch die eine oder andere beziehungsweise der eine oder andere dafür in Frage zu kommen scheint!“ Rosemann überlegte. Das war ihm anzusehen. Doch es war nicht auszumachen, was er überlegte. Er ließ sich Zeit. Dann fragte er, und seine Lider flatterten wieder auffälliger: „Ich kann niemanden benennen, ich wüßte niemanden. Das ist meine ehrliche Überzeugung. Aber haben Sie auch erwogen, daß die Kleine einem Sittlichkeitsverbrecher zum Opfer gefallen sein könnte? Ist das nicht weitaus naheliegender, wenn ein Mädchen aussieht wie Julie Brigg?“ „Wir erwägen alles, was im Bereich des Möglichen liegt“, sagte Prohaska, schärfer im Ton, als ihm recht war. „Aber Sittlichkeitstäter telefonieren in den allerseltensten Fällen. Sie begehen das Verbrechen und haben nur noch das Bedürfnis, nicht entdeckt zu werden.“ „Wieso telefonieren … was ist …“ Rosemanns gebräuntes Gesicht war grau geworden. Prohaska fragte: „Sie selbst haben heute den ganzen Tag über gearbeitet?“ „Ja, von Morgendämmerung an, ich hätte noch weiter gearbeitet … aber inzwischen ist es dunkel.“ „Wo sind Ihre in Vau ansässigen Kollegen gegenwärtig?“ „Der Kollege Rainer Jau ist in Polen, an der Ostseeküste. Frau Heli Breitmann ist in Ungarn, auch Urlaub, und der Kollege Werner Zörbel hat endlich seine Stu70
dienreise nach Kuba bekommen, der ist schon einige Wochen weg und bleibt bis zum Herbst.“ „Sind die anderen, die Sie nannten, auch schon seit Wochen weg?“ „Frau Breitmann reiste vor ungefähr vierzehn Tagen – auf die Stunde genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Kollege Jau ist, glaube ich, vor einigen Tagen gefahren. Frau Brigg ist in der Stadt, und mehr wohnen nicht in Vau.“ „Sie nannten Frau Diener aus Pot. Hat sie sich als einzige an dem Wettbewerb beteiligt, als einzige, die nicht in Vau wohnhaft ist?“ „Ja.“ „Warten Sie bitte einen Moment, ich bin sofort wieder hier“, sagte Prohaska. Er verließ den Raum, warf einen schnellen, sich vergewissernden Blick auf das Gerät, dessen Spulen sich langsam drehten, um jede Stimme zu speichern, ließ sich den Apparat geben, den er brauchte, ging zurück. Den Apparat stellte er ein. Zwei Sekunden. Dann war es, als keuche jemand in Prohaskas Dienstzimmer hinein. Dann folgten die bissig, verzerrt klingenden Worte: Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg! Prohaska stellte den Apparat ab. Rosemann, mit den kleinen irisierenden Augen, sah ihn stier an, ohne Lidflattern. „Was ist das?“ fragte er tonlos, heiser. Prohaska musterte ihn. Rosemann griff sich mit beiden Händen an den Hals. Der Hauptmann fragte: „Ist Ihnen die Stimme bekannt?“ Nach einer Weile Rosemann: „Lassen Sie mich das noch einmal hören.“ Während die Wiederholung ablief, regte sich Rosemann nicht. Danach schien er nicht sprechen zu können. Endlich, noch heiser, tonlos, sagte er: „Das ist nicht echt!“ „Was meinen Sie mit ‚nicht echt‘?“ „Die Stimme ist verstellt.“ 71
„Ja, das glauben wir auch. Darum bitte ich Sie, sich das nochmals, etwas verändert, anzuhören.“ Prohaska fingerte an dem Apparat herum, stand zwischen dem und Constantin Rosemann – der rührte sich nicht, schien an Prohaskas Hantieren nicht interessiert. Und wieder die Worte. Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg! Nun klangen sie normaler, entzerrt; derselbe Satz in einer anderen Tonlage. Rosemann senkte den Kopf, bat: „Noch einmal.“ Seine Bitte wurde sofort erfüllt. Rosemann ließ sich gegen die Sessellehne zurückfallen, drückte das kräftig modellierte Kinn auf die muskulöse Brust, deren Haarpelz sich aus dem offenen Hemd herausschob. Prohaska ließ ihm Zeit; er wußte, daß außerhalb dieses Dienstzimmers alles getan wurde, das Kind zu finden, daß er über jedes Ergebnis unverzüglich informiert würde – und daß von den Auskünften des Mannes Rosemann enorm viel abhängen könnte. Doch Rosemann wuchtete sich mit plötzlichem Schwung aus dem Sessel, hob ein wenig die kräftigen Arme seitlich, sagte: „Es tut mit leid. Diese Stimme habe ich noch nie gehört, im ganzen Leben nicht.“ Enttäuscht und ungläubig sah Prohaska ihn an. Rosemann fragte: „Mit dem ‚Gör‘ soll Julie Brigg gemeint sein?“ Die Lippen bebten, und die Lider flatterten. „Lassen Sie mich gehen“, sagte Rosemann in sonderbarem Ton. „Ich kann Ihnen nicht helfen, von meinen Kollegen ist das niemand gewesen, dafür lege ich beide Hände ins Feuer.“ Prohaska beobachtete ihn schweigend, dachte, hoffentlich verbrennen die Hände nicht. „Mit einiger Menschenkenntnis müßten Sie mir mein Erregtsein ansehen“, sagte der Bildhauer – der Mann wie ein Baum. „Ins Schwarze getroffen“, sagte Prohaska. „Erregung 72
ist Ihnen anzusehen, bis dahin reicht meine Menschenkenntnis. Aber Ihre Erregung kann unterschiedliche Motive haben.“ „Hat sie, hat sie durchaus. Erstens kenne ich die Stimme nicht, zweitens ist mir um das Mädchen bange, das ich sehr gern habe, und drittens fürchte ich um Krista. Sie ist keine Mimose. Das nicht. Aber sie hat schon zu viele Querschläge einstecken müssen, um auch noch …“ „Sie wissen über Ihr Leben Bescheid?“ fiel ihm Prohaska ins Wort. „Ja, sie mußte mehrmals ihren Lebenslauf schreiben. Ein Exemplar hat unser Verband.“ Prohaska nickte. Das war ihm nicht neu. Doch damit hatte er den Übergang geschaffen, den er brauchte. „Ich nehme an, Sie wissen mehr über Frau Brigg, als in dem Lebenslauf steht.“ Rosemann wandte den Kopf ab. „Wenn Sie Klatsch hören wollen, sind Sie an der falschen Adresse.“ „Mitunter ist auch Klatsch aufschlußreich“, sagte Prohaska und fragte: „Wenn Sie schon nichts von einer geplanten Scheidung der Eheleute Brigg ahnten, dann können Sie mir vielleicht über Frau Briggs Beziehungen zu anderen Männern Auskunft geben? In dieser makabren Lage kann uns und ihr – wohlgemerkt, auch ihr – jeder Hinweis nützlich sein.“ Rosemann schwieg lange. Er schien mit sich zu ringen, wie seine breiten Hände, die er auf dem Rücken hielt, miteinander rangen. Hauptmann Prohaska entging nichts. „Möchten Sie hören“, fragte Rosemann mit etwas gefestigter, aber hochgeschraubter, fast weinerlicher Stimme, „daß ich Krista liebe?“ „Sofern es der Wahrheit entspricht …“, sagte Prohaska, ohne sich seine Verblüffung anmerken zu lassen. „Es entspricht der Wahrheit.“ Ruhig behauptete Prohaska: „Dann hatten Sie noch 73
einen dritten ‚gezielten‘ Grund, Frau Brigg vor einer Woche zu besuchen.“ „Darüber vermag ich mir selbst keine Rechenschaft zu geben. Ich will nicht verheimlichen, daß ich Krista öfter als andere Kollegen besuche. Es treibt mich zu ihr.“ „Wir erwähnten vorhin den Architekten Peter Kammer“, sagte Prohaska – scheinbar unbeeindruckt. „Wie ist sein Verhältnis zu Frau Brigg?“ „Das entzieht sich meiner Kenntnis. In irgendeiner Art hat wahrscheinlich jeder sie gern.“ „Und über Briggs Ehesituation wußten Sie wirklich nichts?“ „Nichts. Krista hat nie über ihre Ehe gesprochen.“ „Und Sie haben Frau Brigg diesbezüglich niemals befragt.“ „Niemals. Und ich lege Wert darauf, daß Krista auch nichts von meiner Zuneigung erfährt.“
9 Über Rostock war noch Nacht. Einen schmalen Streif, wie aus angelaufenem Silber, schickte der Morgen am östlichen Himmel voraus. Dünne Nebelfäden zogen Richtung Neptunwerft. In Asta Funkels Wohnung schrillte das Telefon. Verschlafen und sogleich wieder die Strapazen vergangener Tage spürend, griff Asta mit geschwollenen Fingern zum „Horcher“, klemmte ihn zwischen Kopfkissen und Ohr, gähnte aus tiefster Brust, sagte, noch im Gähnen: „Ja.“ Sie drehte sich auf den Rücken, die Augen geschlossen, das fleischige Gesicht gebräunt, die Wangen vom Schlaf gerötet. Hauptmann Wochel war am Apparat. Er beorderte sie ins Dienstgebäude. Es handle sich um Briggs – Hiddensee. Ihr Kopf lag wie ein Zentnergewicht im Kis74
sen. Sie sagte: „Okay“, legte den Hörer auf, wälzte sich zur anderen Seite. Die Uhr tickte laut, die Zeiger standen auf halb drei. Abfahrt zwo Uhr fünfzig. „Schid ok“, fluchte Asta. Dann war sie aus dem Bett. Waschen, Kämmen, Anziehen, das luftigste Kleid; die Hitze der Vortage war nicht vergessen. Vor dem Haus ging Asta auf und ab, noch ehe der Dienstwagen kam. Aus der Umhängetasche kramte sie ihre Frühstücksbrote, die sie nachlässig geschnitten, bestrichen, belegt, eingepackt hatte, ihren Ausweis riß sie mit heraus, er fiel aufs Pflaster. Sie kaute vor sich hin, die Brote schmeckten trocken, so ohne Kaffee. Ächzend nahm sie den Ausweis auf. In ihm stand ihr voller Name: Astrid-Maria Funkel. Vor 36 Jahren war sie auf Hiddensee geboren, zwei Tage zu früh. Keine Hebamme war dabei, kein Inselarzt. Mutter Katrina besorgte alles allein. Mutter Katrina hatte während der Schwangerschaft ein Buch gelesen, dessen sanfte Titelgestalt – AstridMaria – ihr mit jedem Tag mehr ans Herz wuchs, wie das Kind darunter auch. Das Kind, ein Mädchen, wie nach der Lektüre gewünscht, wurde Astrid-Maria getauft. Niemand erhob Einspruch, niemand wäre dagegen angekommen. „Dat is nu min Sach“, sagte Katrina Funkel, und der Vater des Mädchens, der Fischer Jürn Funkel, erledigte weisungsgemäß die Formalitäten. ‚Dat war nun sin Sach.‘ Zwei Jahre später kam Jürn Funkel in einer Sturmnacht auf See ums Leben. Sein Kind mit dem poetischen Namen aber gedieh. Kräftig, dicklich, burschikos. Noch nicht schulpflichtig, rannte es bei elf Grad Wassertemperatur gegen die „bannigsten Breckers“ an, rappelte sich hoch, sooft es umgestoßen wurde, japste und juchzte. Witwe Funkel konnte Astrid-Maria immer nur mit Gewalt von der See wegkriegen. Das Kind hätte sich sehr gern einmal erkäl75
tet, nachdem es heimlich vom Allheilmittel Grog gekostet hatte; es erkältete sich nie. Nach Jahren (neun war sie) schon mit wachem Verstand begabt, auch mit Gespür für Stimmiges, fand sie ihren Namen für sich ebenso unmöglich wie den Namen Carmen, mit dem sich ihre rotblonde, sommersprossige Cousine abfinden mußte. Astrid-Maria hielt nichts vom Sichabfinden. Eines Tages hatte sie die Lösung; sie zog ihren Namen zusammen. Asta ließ sie sich nennen. Nach und nach gewöhnten sich alle daran, die Nachbarn bald, die Mutter widerstrebend und wehmütig, aber allmählich doch. Asta war froh! Auf Asta konnte sie hören, sich gemeint fühlen, konnte – ohne verlacht zu werden – dick und immer störrischer werden. Asta paßte. Ein Kindheitserlebnis verankerte später ihren Berufswunsch, unumstößlich. „Ick wer Polizist!“ (Sie wird sich bald erinnern.) Jahre nach jenem Kindheitserlebnis sagte Asta Funkel anläßlich ihrer Wiederkehr: „Dat segg ick – ihr könnt alles von mir verlangen, aber keen Unterwürfigkeit. Sonst quittier vor dieset Moal ick den Dienst. Is dat klohr?“ Zu der Zeit hatte sie bereits studiert, lebte und arbeitete in Rostock, und ihre Laufbahn glich nach der praktischen Ausbildung dem wogenden Hoch und Tief des Meeres, mit dem sie aufgewachsen war. Vom überstürzten Avancieren (dank ungewöhnlicher Fähigkeiten) bis zur Versetzung (dank eigenwilligen Handelns, das einen nahen Fahndungserfolg zunichte machte). Der geforderten öffentlichen Selbstkritik kam sie nicht nach. Die innere setzte ihr zu. Asta wurde bald in den aufreibenden Dienst zurückgeholt, und im Verlauf der Jahre wiederholte sich alles – 76
als schriebe ein Asta-Funkel-Eigengesetz es so und nicht anders vor: Versetzung, Rückruf, Avancement, Aufstieg in den Leutnantsrang. – Das war sie jetzt, die 36 Jahre alte, 1,65 m große, 80 Kilo schwere Asta, die jeden duzte, ob mit oder ohne Genehmigung, die sich trotz unzählbarer, in gutem Hochdeutsch verfaßter Berichte die Mundart nicht nehmen läßt. Asta Funkel hatte ihre Schnitten trocken aufgegessen, das Pergamentpapier zusammengefaltet, in die Umhängetasche gesteckt, den Ausweis sicherer als zuvor untergebracht, als der Fahrer des Dienstwagens hielt, dicht an der Bordsteinkante; es gab ein schnurrendes Geräusch. „Moing“, sagte Asta, ruckelte sich auf dem noch kühlen Sitz zurecht und verschränkte die Arme unter dem großen Busen, von dem sie kürzlich gesagt hatte: „Ick kann hinkomm’, wo ick will, der ist immer schon vor mir da.“ Mit den verschränkten Armen schob sie ihn höher. Der Fahrer erwiderte maulfaul ihren Gruß. Dann schwieg er – zu keinem Gespräch bereit, mitten in der Nacht. Asta legte den Kopf aufs Sitzpolster, dachte an vielerlei, mit geschlossenen Augen. Sie schlief ein, kaum zwei Minuten, wurde vor der nächsten wach, als der Fahrer hart bremste. Sie sagte wieder nur „Moing“, schulterte ihre Tasche und ging. Den Fahrer hörte sie etwas brubbeln, dann zog er, mißgelaunt, wie es schien, den Wagenschlag unsanft zu. Bei diesem Knall, schon auf der Treppe zum Dienstgebäude, fiel Asta ein, daß sie geträumt hatte. Wann? Im Bett, während der zwei guten Schlafstunden, oder eben, im Wagen? Am Telefon hatte Wochel nur gesagt, sie werde gebraucht, dringlichst, sie müsse zu den alten Briggs nach Hiddensee. 77
Unwillkürlich verlangsamte sich Astas Schritt, indem sich der Traum ihr wieder herstellte. Nach einer stürmischen Nacht waren die Bernsteinsucher von Hiddensee unterwegs; in aller Herrgottsfrühe, wie gewöhnlich. Einzelgänger, jeder von jedem möglichst weit entfernt, um Streitereien der Funde wegen zu vermeiden. An diesem Morgen nun fand ein Mann statt Bernsteinbrocken eine Leiche. Parallel zur See lag sie, zwischen Wellen und Strand, vom seichten Wasser sanft geschaukelt. Der Entdecker vergewisserte sich, ob niemand ihn sehe, kniete nieder und stöberte hastig in den Taschen des Leichnams herum – der so nobel gekleidet war, daß er noch beim leichten Wellengeschaukel vornehm aussah. Unvermutet hob eine kräftiger anbrandende Woge ihn seitlich hoch, und der linke Arm, weit ausholend, patschte dem Plünderer mit toter Hand mitten ins Gesicht. Der Mann erhob sich, steckte Erbeutetes in seine Hosentaschen, die Knie schlotterten ihm – oder war es nur der Wind, der die Hosen durchnäßt in der Kniegegend peitschte? Plötzlich rannte und brüllte er los; unartikuliertes, tierisches Gebrüll. So stolperte und torkelte er heimwärts. Auf einem Windflüchter sitzend, hatte ein Kind das alles beobachtet. Es schüttete sich vor Lachen, daß sich die Zweige des Baumes bogen, als lachten auch sie. Asta Funkel blieb stehen. Hatte sie das wirklich geträumt? Hatte es sich nicht genauso begeben, vor knapp dreißig Jahren? Sie selbst war das Kind auf dem Windflüchter gewesen – und der Mann, den damals die tote Hand ohrfeigte, Hans Brigg, Georgs Vater. Noch ehe sie Oberleutnant Wochels Dienstzimmer betrat, war sie sicher, das nicht geträumt zu haben. 78
Kindheitserinnerung – in Astas Halbschlaf eingefallen unwillkürlich. Nicht unvermittelt. Wochel begann etwas umständlich. Es täte ihm leid, sie hätte viel Schlaf nötig und verdient nach den Einsätzen der vergangenen Tage, aber Hochsaison und Biennale … „Um wat geiht dat?“ unterbrach ihn Asta. Hauptmann Wochel erläuterte die Details. „… Also sind unauffindbar der Architekt Peter Kammer, der zur Biennale wollte, aber in keinem Hotel gemeldet ist – die Leitung der Biennale weiß nichts von seiner Ankunft, was bei dem Trubel allerdings nichts bedeuten muß –, und der Vater des vermißten Kindes, Georg Brigg. Das Kind wird seit zwanzig Stunden vermißt. Soviel wissen wir vorerst, dazu die Morddrohungen, drei an der Zahl, beim letzten Anruf die Worte: ‚Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg!‘ Mehr wissen wir noch nicht“, sagte Wochel. „Dat reicht“, entgegnete Asta. Wochel wischte sich die niedrige Stirn; sie war gefurcht. Zwischen dem dichten Haupthaar, weiß wie Schnee, und den schwarzen buschigen Brauen hatten sich vier dieser eng aufeinanderliegenden Furchen eingegraben, gerade, wie mit dem Lineal gezogen. „Wir hatten noch nie einen Fall von Kindesentführung“, sagte Wochel, als habe er sich der Schweißtropfen wegen zu entschuldigen, die schon wieder aus den Poren kamen. Er sprach schnell weiter: „Laufen neue Informationen ein, kriegen wir sie. In Vau kann man leider Gottes mit der Mutter des Kindes nicht sprechen, sie hat durchgedreht. Hier bei uns sind Kluge, Sanicher, Krips und Weintraut unterwegs, um den Architekten zu finden, der uns vielleicht weiterhelfen könnte.“ Hauptmann Wochel sah Asta an und schwieg einen Moment. Sie fragte nicht, was der Architekt mit der Sache zu tun habe. 79
„Und nu soll ick de ollen Briggs besuchen“, sagte sie. „Ja, ich bitte Sie darum, Genossin. Denn, wie gesagt, der Kindesvater unauffindbar, die Mutter unbefragbar … Die Großeltern des vermißten Kindes wohnen, wie Sie wissen, auf Hiddensee, sie sind Ihnen bekannt, denken wir außerdem an den widerwärtigen Hinweis: ‚Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg‘ … Also drängt sich der Verdacht auf, daß die Großeltern, wenn auch nicht mit im Spiel sind, so doch etwas wissen. Wir hoffen, Sie, einstige Schulkameradin Georg Briggs, kriegen was ’raus. Jedem Fremden gegenüber wären die beiden Alten doch verschlossen wie die Austern.“ „Kapiert, min Jung“, sagte Asta. „Aber mitten in de Nacht bei de ollen Briggs aufkreuzen?“ „Bis Sie auf der Insel sind, ist der Morgen voll da, und Sie wissen am besten, wie früh man da aufsteht.“ Asta sah Wochel groß an. Wie früh man da aufsteht, wiederholte sie in Gedanken – und das nicht geträumte Kindheitserlebnis drang erneut mit Macht auf sie ein. „Ihnen wird ein Hubschrauber zur Verfügung gestellt.“ Asta nickte. Sie konnte den Blick nicht wegziehen aus dem Gesicht des Hauptmanns. Ihn verwirrte das. Er fragte, ob sich Genossin Funkel der Aufgabe heute nicht gewachsen fühle – was verständlich wäre nach ihren Einsätzen der vergangenen Tage. „Ooch, laß dat man“, sagte Asta. „Seit zwei Stunden sind Suchboote um Rügen und Hiddensee auf Achse“, sagte Wochel. Seine zentimeterbreiten Brauen wirkten grau im kalten Licht der Leuchtröhren. Der Mann schien übernächtig. Er fragte, ob sich Genossin Funkel wirklich fit genug fühle. „Mach dir man darüber keine Sorgen.“ Während der Hubschrauber dröhnte, Asta durchrüttelte, sie sich die Einzelheiten einprägte, die Wochel ihr mit 80
auf den Weg gegeben hatte, war noch immer die unwillkürliche Erinnerung im Schlepp ihrer Gedanken. Über dieses Ereignis hatte sie nie gesprochen – keine Silbe, zu keinem Menschen. Geschwätzigkeit lag ihr von Kindheit an nicht, sie liebte Geheimnisse. Begebenheiten, um die nur sie wußte, hütete Asta wie andere Kinder ihre Spielsachen. Später verschwieg sie das Erlebnis in der Voraussicht, man würde lachen, wie sie damals gelacht hatte – ohne sich die Zeit zu vergegenwärtigen, der ersten Nachkriegsjahre mit aller Not, in der auch Familie Hans Brigg sich fand, und niemand, außer ihr, hatte Hans Briggs entsetztes Brüllen gehört. Bei dem Toten, entsann sich Asta, wurden keine Wertsachen gefunden, keine Uhr, kein Ring, keine Ausweispapiere. Ermittlungen hatten nichts erbracht; irgendwo wird er als Unbekannter begraben sein. Davon wußte Asta nichts, und davon wollte sie nichts wissen. Was alles geschah in jenen Jahren – kein Hahn krähte mehr danach. Eng eingeschlagen in eine Decke, die der Pilot ihr gegeben hatte (da sie frösteln würde, sobald der Hubschrauber die Sicherheitshöhe erreichte), saß sie da und grübelte. Der Pilot sprach von Zeit zu Zeit ins Mikrofon, das ihm muschelhell am Kinn zu kleben schien; sie hörte nicht hin. Ihre schmalen Lippen waren ein Strich. Sie wollte die Erinnerungen wegzwingen. Hiddensee kam in Sicht, die spillerige Insel. Vor fast siebenhundert Jahren aus Rügen herausgeschlagen, vor hundert Jahren vom „Meereszorn“ in zwei Stücke gerissen … Mit Steinen wurde sie damals zusammengeflickt, um dann … Asta kannte die Geschichte ihrer Insel, doch es gelang ihr nicht, sich darauf zu konzentrieren, Erinnerungen und Vorhaben wenigstens für Minuten auszuschalten. 81
Sie flogen am Gellenhaken Vorbei, befanden sich schon über Ummanz. Da lag Öhe. Und da war Seehof. Der Pilot sprach unentwegt. Sein ständig wiederholtes „Kommen“ ging Asta auf die Nerven. An der Rassower Bucht lag ein Boot für sie bereit. Asta entdeckte es, als der Hubschrauber niederging, fahrstuhlgleich, nur nicht so sanft. Unter den rotierenden Flügeln strampelten die Gräser in alle Richtungen, als wollten sie in alle Richtungen fliehen – die harten, festgewurzelten, die allem standhielten. Asta bedankte sich bei dem Piloten, einem frisch und ausgeruht wirkenden jungen Mann, der lachend antwortete: „Keine Ursache.“ Sie sprang hinaus und schulterte ihre Tasche. Das Boot raste mit ihr davon, im großen Bogen um Fährinsel. Möwen kreischten. Asta ging an Land. Aufgehende Sonne. Postkartenblauer Himmel. Heller Inselsand. Die See – heute glatt und blank wie ein gebügeltes Seidentuch. Das Meerwasser kristallklar. Weiße Häuser. Alles wie sonst. Nichts wie sonst. Die Heide blüht anders, duftet anders. Der Beton, der Astas Insel zur Errettung verschandelt, ist härter denn je. Salzkraut, des Meersenfs lila Blüten und Immortellen kitzeln Füße und Waden so lästig, wie Asta es selten empfand. Sie will es nicht wahrhaben, nicht beachten – sie sieht von weitem Frau Else Brigg, Georgs Mutter. „Tach ook, Mudder Brigg.“ „Tach ook“, sagt Else Brigg, ohne aufzusehen von Schippe und Besen, von den Zigarettenstummeln, die sie zusammenkehrt. Auch den Sand fegt sie von den Steinen. Manchmal weht ein plötzlicher Wind Staub auf. Der dreht sich um Else Briggs knochige Hüften und zieht dann, gleichsam verspielt, um die Hausecke. 82
Asta schaut Georgs Mutter zu. Am Abend saßen die Urlauber hier, erzählten, rauchten, warfen die Stummel vor die Bank. Wenn die Gäste ausgeschlafen aufstehen, muß alles wieder sauber sein; das kennt Asta. Frau Else Brigg trägt eine Kittelschürze, schwarz, mit weißen Punkten gemustert, weißgepaspelt Taschen und Revers. Das Haar ist eisgrau und dünn; auf der Mitte des Kopfes schimmert schon die Haut durch. Das Haar ist noch ungekämmt, hängt als struppiges Zöpfchen den halben Rücken herunter. Else Briggs Arme sind mager und runzlig wie ihr Gesicht. Vor Jahren war sie eine herbe Schönheit. Asta denkt, man sieht ihr dat noch an. Se muß in de Sechziger sein, se war nich mehr de Jüngste, als se Georg, dat erste, einzige Kind geborn hat. Frau Else Brigg schiebt das Zusammengekehrte mit langem Rutenbesen auf die Schippe, angelt einen Lappen aus der Kitteltasche, wischt die Bank ab, sagt: „So.“ Das ist ihre Art, zum Hinsetzen einzuladen. Auch das kennt Asta. Frau Else Brigg geht mit Schippe und Besen hinters Haus, geht durch die hintere Tür ins Haus, bleibt eine Zeitlang drin. Derweil Asta allein auf der Bank sitzt, ihren Plan durchdenkt, erkennt sie, daß Wochels Entscheidung richtig war. Eine, die mit den alten Briggs vertraut ist, die Hiddenseer Mundart spricht, soll wohl rauskriegen, was sie wissen muß. Fremden würde es kaum oder gar nicht gelingen. Die alte Frau Brigg kommt wieder. Das Haar ist gekämmt, von neuem geflochten, als putziger Knoten am Hinterkopf festgesteckt. Sie hat den zur Schürze gehörenden Gürtel umgebunden, eine Schleife geknüpft, die sie auf den Rücken dreht, dann setzt sie sich neben Asta und fragt, ob sie auch mal Urlaub mache – oder was. Asta nickt nur. Else Brigg weiß nicht, wie ihre Frage beantwortet ist. Sie guckt zu den winzigen Fenstern des 83
Obergeschosses hinauf, Fenster, die vom Rieddach halb verdeckt sind, und sagt: „De schloopen long.“ Es ist kurz nach fünf Uhr. Asta nickt wieder. Behäbig und dick sitzt sie neben der Alten, atmet die würzige Seeluft ein – obwohl sie heute nicht so frei durchatmen kann wie sonst auf ihrer Insel. Stille Minuten. Schließlich fragt Asta, ob Vater Brigg auch noch schläft. Da sagt Frau Else Brigg nichts. Sie blinzelt nur gegen die Sonne, gegen die sanft glitzernde See. Asta denkt sich ihr Teil. Auf der Insel ist man sparsam mit dem Wort. Briggs waren seit je mit allem sparsam. Nur als Georg studierte, war Geld verfügbar. Er bekam ein Stipendium wie alle, deren elterliches Einkommen unterhalb einer bestimmten Grenze lag. Doch Georg hatte mehr Geld. Weniger bemittelten Kommilitonen half er oft aus. Und zumeist tat er so, als habe niemand bei ihm Schulden. Nach und nach – sich ihres Auftrags bewußt – beginnt Asta von früheren Jahren zu erzählen. Wie schön das in der Kindheit alles war, wie gern sie mit Georg gespielt habe, daß man wohl nirgends so spielen konnte wie eben auf Hiddensee – vom Dornbusch bis zum Faulen Haken ein einziger Spielplatz, und dann erst an der Hucke und beim Leuchtturm. Wie wenige Menschen damals hier lebten, wie wenige als Gäste kamen, liebe Menschen; Dichter, Maler … Asta verfolgte die Wirkung ihrer Worte, und indem sie so wortreich ins Schwärmen gelangte, glitt ihr Arm, wie zufällig, über die Banklehne – berührte, scheinbar unbewußt, Else Briggs Rücken mit jener Zärtlichkeit, nach der Einsame sich sehnen. Ganz beiläufig fragte sie noch einmal, ob Vater Brigg heute überhaupt nicht aufstehen wolle. 84
Der werde schon lange auf sein, antwortete die alte Frau. Asta fragte, ob Vater Brigg etwa gar nicht zu Hause sei. Da sagte Frau Else wieder nichts. Blinzelte verschmitzt gegen Sonne und See. Asta sprach von Georg, aus dem ja nun wirklich was geworden sei, soviel sie wisse. Und sie fragte, wann der Georg mal wieder bei den Eltern Urlaub mache. Nein, Frau Brigg wußte das nicht. Asta fragte, ob Georg noch mit der Maraike Müller befreundet sei. Da ruckte Frau Else den Kopf nach links, weg von Asta, und begann ganz langsam zu sagen: „Kiek dat Glück, dat is siet ollen Tieden …“ Sie sprach nicht weiter, und Asta, die den Vers kannte, ergänzte: „… wandelbor.“ Die Alte nickte kaum merklich. Asta sagte, daß sie Maraike gut leiden mag. Frau Brigg nickte noch immer. Asta fragte, an welchem Ort Maraike in diesem Sommer arbeite, denn womöglich – sie, Asta, habe Urlaub – könne sie sich von der Rettungsschwimmerin Müller mal retten lassen. Asta lachte dazu, als mache sie einen Witz. Frau Brigg aber wußte nicht genau, wo Maraike Müller jetzt eingesetzt war; in Binz vielleicht oder woanders. Ob es Maraike gut gehe, erkundigte sich Asta, ohne besonderes Interesse an der Antwort zu zeigen. Aber Frau Brigg nickte kräftig, lächelte und sagte: „Jo, det Mäken geiht dat gut.“ Asta schwieg. Ein wenig bange wurde ihr, der „Mission“, von der Wochel gesprochen hatte, doch nicht gewachsen zu sein. War „Mudder Briggen“ wirklich so durchtrieben (wie Witwe Funkel der Tochter oft hatte weismachen wollen), und wo war Georgs Vater, der Frühaufsteher? Urlauberisch-behaglich – als stünden ihr Lichtjahre zur Verfügung – fragte Asta, ob denn Georg noch bei der Sportzeitung arbeitet, sie habe eigentlich nichts mehr von ihm gehört. 85
Frau Brigg rührte sich nicht. Asta sagte, dieser Tage könne Georg ja in Leipzig bei den Ringern zum Werner-Seelenbinder-Gedenkturnier sein. „Tjäh, da isser“, sagte Frau Brigg. Ob Georg den Eltern das geschrieben habe, fragte Asta und gähnte, um anzudeuten, wie unwichtig ihr die Antwort ist. „Nee, dat nu nich.“ So fragt man Leute aus, dachte Frau Else; jetzt war es ihrem verschmitzten Grienen anzusehen. Asta ließ sich nicht beeindrucken, sagte, wie sehr sie bedaure, Georgs Vater nicht angetroffen zu haben, da sie ihn nach so langer Zeit gern einmal wiedergesehen hätte – machte eine Pause, rekelte sich –, kam wieder auf die Kindheit zu sprechen, erinnerte Frau Else, daß sie damals, bei zu schlechtem Wetter, vor allem an Wintertagen, vor Weihnachten, mit Georg und Kerstin, mit Cousine Carmen und dem Jörg im Briggschen Haus gebastelt haben, was sie gar nicht vergessen könne. Dann, wie aus einem plötzlichen Einfall heraus, fragte Asta, ob sie noch einmal ins Haus gehen dürfe – dieser Erinnerungen wegen. Es war nicht zu erkennen, ob Frau Else etwas einwenden wollte. Sie saß ganz still – nur die Hände im Schoß faltete sie jetzt so fest, daß die Haut über den verdickten Knöcheln blank, glatt und weißlich sich spannte. So saß sie noch, als Asta wieder aus dem Haus kam. Asta sagte, nun werde sie baden gehen, am frühen Morgen, wenn die Urlauber noch in den Betten lägen, habe man wenigstens Platz zum Schwimmen – und Platz brauche sie dazu. Frau Else Brigg war verstummt. Erwiderte Astas Abschiedsgruß nicht, schien versteinert. Ein paarmal sah Asta sich um und winkte. Frau Else sah es nicht. Dann, hinter der leichten Wegbiegung, war 86
das Briggsche Haus mit Bank und Frau darauf Astas Blicken entschwunden. Sie konnte ihren Kurs ändern. Sie wollte zum Inselpolizisten, von da aus mit Wochel telefonieren. Dem Haus der Mutter näherte sie sich und dachte, min oll leiw Mudder, ick kümm onnermol. Dann blieb sie stehen, überlegte, machte kehrt. Astas Mutter war die leibhaftige Inselzeitung – die wußte alles. Durch sie war Asta jederzeit auf dem laufenden, was die Gewohnheiten der Dorffamilien betraf; wer heiratete, wer nicht, wer wen betrog und mit wem, wer geboren, wer gestorben war, wer im Frühjahr, wie üblich, sein Haus geweißt hatte und wer nicht, wer sich von Kopf bis Fuß neu eingekleidet hatte, wer noch immer die „ollen Plünnen“ trug, wer sich mit wem verkracht hatte und warum – Astas Mutter wußte alles und erzählte ohne Aufforderung, ohne zu beachten, ob sie die Tochter langweile, denn der Dorftratsch war Witwe Katrina Funkels Welt. An diesem Morgen hatte Asta Pech mit Witwe Funkels Welt. Immer häufiger in letzter Zeit plagte Frau Katrina irgendein Zipperlein, und gegen jedes half nach altbewährter Methode – Allheilmittel Grog. Man durfte nur mit der Menge des Rums nicht knausern. Witwe Funkel war nicht knauserig … Schon durch die angelehnte Haustür hörte Asta das Schnarchen der Mutter. Asta wollte weggehen. Sie konnte es nicht. In der Stube war Kneipengestank. Im wunderalten Ohrensessel – mehr liegend als sitzend – Katrina Funkel; zurückgelehnter Kopf, zahnloser, offener Mund. Neben dem Sessel auf dem Tisch ein geleerter Krug, die falschen grinsenden Zähne und ein – von Asche und Zigarettenresten überquellender Aschenbecher. „Ök dat noch“, sagte Asta. Daß ihre Mutter rauchte, war neu. Asta versuchte nicht, sie wachzurütteln. Katrina Funkel aber, ohne die Augen zu öffnen, sagte: 87
„Lat mi Döchting … Ick hat supen. Is nich min Schuld.“ In der nächsten Minute schnarchte sie wieder. Beklommenheit überfiel Asta. Ein kleines Holzbrett an der getünchten Wand zog Astas Blick auf sich. Sie las den kaum noch lesbaren Vers, als kenne sie ihn nicht von Kindheit an auswendig. Alls hett mi dat Leben geben, wat ick wünscht und wullt; dat dat Glück nich bei mi bleben, seegst du – is min Schuld. ? Das Fragezeichen – ziemlich kunstvoll draufgeschrieben – gab es bei Astas letztem Besuch noch nicht. Sie erkannte den dicken roten Filzstift wieder, den sie hier irgendwann einmal vergessen hatte. Mit ihm war (von Mutters Hand?) das Fragezeichen unter den Vers gesetzt. Im ersten Moment empfand Asta dieses Fragezeichen als hinterlistigen Vorwurf. Sie hätte das alte Brett mit dem roten Fragezeichen von der Wand reißen, hätte Mutter wachprügeln mögen damit. Im nächsten Moment grinsten die falschen Zähne nicht mehr. Für wen, um alles in der Welt, hätte Mutter die falschen Zähne im Mund behalten sollen? Für wen denn? Warum sollte sie nicht trinken, nicht rauchen – warum nicht, wenn es ihr doch die zu langen, zu einsamen Abende erträglicher machte? Da lag die Wirklichkeit (mit der Helle eines Blitzes wurde Asta von ihr getroffen): Der Dorftratsch interessierte Mutter gar nicht. Sie hörte sich alles an und erzählte es der Tochter, wenn die – ach, wie selten – kam. Wollte reden, erlebte aber nichts mehr, was des Erzählens wert gewesen wäre. „Hart is dat Schicksal to mi.“ Auch diese Litanei kannte Asta auswendig. Abends, wenn Mutter sich aus ihrer 88
also gar nicht existierenden Welt ausschloß, mußte Grog das harte Schicksal wegschwemmen, zu oft in letzter Zeit. Was hieß in letzter Zeit? In den vergangenen zehn Jahren war Mutter um zwanzig Jahre gealtert, war die Gluckenhafte geworden, die das Küken zurückgackerte – lautlos. Das Küken ging seit zehn Jahren seine eigenen Wege. Verstand sich drauf, die Glucke zurechtzuweisen, ruppig, herablassend – besserwisserisch. – Nichts hatte sie besser gewußt! Sonst kam Mutter ihr stark vor, jetzt zerbrechlich. Früher schien sie ihr kerngesund, jetzt auf eigentümliche Art krank. Ging es denn nie ohne Erbarmen ab, wenn man sich in die Lage eines anderen versetzte? Es schnürte ihr den Hals zu, wie sie die Mutter liebte. Asta hatte nicht mehr fragen wollen – doch sie fragte, ob Mutter nichts beobachtet habe, bei Briggs, gestern vielleicht. „Nee, nix. Lat mi goan, Döchting. Ick hat so de Krämpe hewt, do mußt ick supen.“ Asta fragte weiter, ob Briggs in diesem Sommer keine Urlauber haben. Sie sagte, das Haus sei menschenleer. Aber vor der Bank hätten Zigarettenstummel gelegen, die Frau Else hinter dem Haus in die Dunggrube warf. Asta hatte einige aufgesammelt. Davon sprach sie nicht. Katrina Funkel tat, als schliefe sie wieder ein. „Wat biste for ne miese Schauspeelerin“, sagte Asta und dachte, ich müßte sie ins Bett bringen, ich müßte ihr Essen besorgen, sie ißt zu selten, sie wird immer weniger. Doch dazu hat man keine Zeit. Und man will sich nicht unterkriegen lassen vom Gefühlsterror des Fragezeichens. Und man will sich ihre rabiate Betrübnis nicht ausmalen … Sie weiß, ich kam, um Auskünfte zu holen. Darum erfreut mein Kommen sie nicht. Asta ging leise hinaus. Die Dielen knarrten. Draußen war Seeluft, Sonne, Wärme. 89
Asta stapfte wütend, schwerfällig zum Inselpolizisten, dem ABV von Hiddensee. Jeder Schritt ein Tritt gegen sich selbst. „Nee, ick hat nich to Mudder geihn solln …“ Polizisten, Ärzte und wer weiß noch müssen so tun, als hätten sie keine eigenen Probleme. Sentimentales „Gedöhns“ … Also mit Wochel telefonieren, knapp und genau berichten. Brauche Order für Rügen. „Okay, min Jung?“ Maraike Müller. Rettungsschwimmerin. Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg! Der Weg wurde lang, der Sand war heiß. Jeder Schritt ein grober Tritt gegen vermißte Töchter – vor allem gegen die dicken, schweren Küken, die keine Glucke mehr brauchen … „Um dat geihts jetzt nich. Okay.“ Sechsmal schlugen die Uhren, da war die Kriminalistin Leutnant Astrid-Maria Funkel auf Rügen – und konnte nicht ahnen, was ihr bevorstand. Schon in Altefähr mußte sie warten. Unwillkürlich beobachtete sie ein sehr junges Mädchen, das eine Zigarette nach der anderen rauchte. Und wieder wurde Asta von einer Erkenntnis getroffen, deren Plötzlichkeit körperlichen Schmerz verursachte. Katrina Funkel hatte ihr Leben lang nicht geraucht. Katrina Funkel hat auch gestern abend nicht geraucht! Jemand mußte sie besucht haben! Warum aber waren Asta – die als besonders befähigt angesehen wurde – nicht sofort die Zigarettenreste aufgefallen? Nahm sie ernsthaft an, Mutter rauche neuerdings? Unmöglich. Die Hitze hat mir den Verstand zerschmort, dachte Asta Funkel. Doch jetzt konnte sie nicht zurück nach Hiddensee, jetzt mußte sie Maraike finden. 90
Nur die Zigarettenreste selbst, deren Besonderheit (nicht zerdrückt, nur zur Hälfte etwa aufgeraucht, dann in den Ascher geworfen, verglimmen lassen), ganz ähnlich denen, die vor Briggs Haus lagen. Nur diesen Anblick mußte sie sich einprägen.
10 In Vau schlugen die Uhren sechsmal. Von Julie Brigg gab es keine Spur. Gab es noch Hoffnung? Diese Frage bewegte und erregte die Kriminalisten weit mehr, als ihnen anzumerken war. Sie setzten sich in einem Raum zusammen, den Prohaska respektlos-treffend seine Spinnstube nannte. Diese Bezeichnung untergrub vorsätzlich die Ernsthaftigkeit, mit der gerade hier diskutiert wurde; hier erörterte man Möglichkeiten der Ursachen, des Hergangs eines Verbrechens, erwog Versionen, verwarf sie, erwähnte andere Eventualitäten, resümierte, verflocht Gedankenketten und Fakten. In diesem Raum rauchten die Köpfe der Findigsten. Prohaska wies den Weg zur „Spinnstube“. „Sehr schön“, sagte Major Armlang, indem er den Raum in Augenschein nahm. Der Major war in der Nacht, gegen ein Uhr aus Berlin kommend, in Vau eingetroffen. Ein schlanker, wendiger Mann, dessen Gesichtshaut an rotes, verwittertes Fahnentuch, dessen Augen – die hinter starken Brillengläsern unheimlich groß wirkten – an polierte Kastanien erinnerten. Die Farbe seines welligen Haares glich der seiner Augen. Major Armlang hatte Leutnant Ludwig (in Freundeskreisen LL genannt) und Kriminalmeister Pecha mitgebracht. Der Major schwang sich in den tiefsten Sessel, lud seine Genossen ein, ebenfalls Platz zu nehmen. 91
Prohaska begann. „Es ist heute nicht leicht, über Erfolge zu resümieren. Wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt.“ „Die leichten Wege sind nun mal nicht unsere Wege“, entgegnete Major Armlang. Prohaska sah auf seine Armbanduhr. „Das Kind ist nun seit zweiundzwanzig Stunden vermißt, seit zwölf Stunden ungefähr beschäftigt mich der Fall.“ Julie Brigg war ein Fall geworden. „Eine der drei Morddrohungen konnten Bernhards sichern. Mehr Fakten haben wir – genaugenommen – nicht.“ „In und um Vau, auf und um Hiddensee und Rügen wird das Kind gesucht, Hundertschaften sind im Einsatz – bis zur Minute vergeblich“, fügte Leutnant Ludwig seufzend an. Die Männer sahen übermüdet aus. „Fakt ist aber auch – im negativen Sinn –, daß wir mit der Mutter des Kindes nicht sprechen können und daß der Vater der Kleinen so unauffindbar ist wie sie selbst“, sagte Major Armlang. Hauptmann Prohaska nickte. „Trotz intensiver Suche, so melden die Genossen aus Leipzig.“ „Und Sie halten für sicher, daß der Vater mit Entführung und Morddrohung nichts zu tun hat?“ „Völlig sicher wird das erst sein, wenn wir den Fall geklärt haben“, antwortete Prohaska. Und den schweigsamen Pecha beschlichen Zweifel. „Immerhin“, sagte Prohaska, „war Georg Brigg schon nach Leipzig unterwegs, als Frau Brigg ihr Kind zum letztenmal sah.“ In Gedanken wiederholte Pecha „zum letztenmal“. „Tja, und Georg Brigg muß vormittags in Leipzig gewesen sein, also schon vormittags, denn zu der Zeit hat er den bekannten iranischen Ringer interviewt. Das Interview wurde gestern abend in der Spätausgabe der ‚Aktuellen Kamera‘ gesendet, ich habe es gesehen“, sagte Armlang. 92
„Und viele seiner Kollegen gaben an, mit ihm gesprochen zu haben. Kurz nach achtzehn Uhr aßen sie mit ihm gemeinsam Abendbrot“, sagte Leutnant Ludwig, „und …“ „Und er hatte kein Kind bei sich“, ergänzte Major Armlang. „Trotzdem würde ich diese Spur nicht fallenlassen, wir wissen, was Bernhards und auch Rosemann über den Zustand der Briggschen Ehe sagten. Daß Frau Brigg vielleicht ein Verhältnis mit dem Architekten Peter Kammer hat, kommt dazu.“ Noch einer, der sich nicht finden läßt, dachte Prohaska. Er sprach es nicht aus, alle wußten darum. Er begann wieder: „Ja, dieser Rosemann! Erst wußte er nichts von einem Verhältnis zwischen Frau Brigg und Herrn Kammer, wenig später glaubte er ‚es befürchten zu müssen‘. Erst wollte er sofort wieder gehen, dann wollte er bleiben, hier bei uns, bis man Genaues über den Verbleib der Kleinen wisse … Eine eigenartige Type, der Mann Rosemann. Und tatsächlich blieb er vor dem Haus, die ganze Nacht, bis vor einigen Stunden. Auch Frau Bernhard hat mir von diesem Verhältnis gesprochen – allerdings, verbürgen wollte sie sich dafür nicht, aber einiges deute doch darauf hin – ich erzählte das schon“, schloß Prohaska mit Blick auf Armlang. „Einverstanden. Klammern wir die gesamte Ehesituation der Briggs aus, bis uns Leipzig den Journalisten gefunden hat. Es geht um Briggs Kind. Ob und wieweit das alles miteinander in Verbindung zu bringen ist, wäre mir momentan noch zuviel Spekulation. Wir wollten spinnen, nicht spekulieren! Also das Kind! Daß die Kleine gekränkt war, wissen wir durch Bernhards. Frau Brigg gab selbst zu, daß ihre Tochter verletzt wirkte. Nehmen wir einmal an, das plötzliche Winken und Losrennen, als hätte Julie eine Freundin gesehen, war vorerst nur eine Trotzreaktion, die das Kind auf der Straße unvermutet 93
überkam. Julie Brigg sah sich nicht um, obwohl sie wußte, daß ihre Mutter immer zur Veranda kommt, der Tochter nachzuwinken, das könnte doch ein Anhaltspunkt dafür sein. Weiter. Aus jener Trotzreaktion heraus ist sie auch nicht zur Anlegestelle gegangen, hat sie die Dampferfahrt nicht mitgemacht. Wir dürfen nicht vergessen, die Kleine hat tagelang vorher damit angegeben, daß ihre Mutter nach Ferch mitfährt. Wir wissen durch Bernhards, daß Julie auf ihre Mutter stolz ist. Könnte es nicht sein, daß sie sich vor den anderen Kindern und vor den Lehrern und mitfahrenden Müttern blamiert gefühlt hätte, wenn sie nun doch allein käme?“ Kopfnicken rundum. Nur Pecha rührte sich nicht. Sein rundes Gesicht war blank vom Schweiß. Alle Männer an diesem Tisch in der „Spinnstube“ waren Väter. Doch Pecha hatte eine kleine Tochter, elfjährig, wie das vermißte Mädchen. Pechas Tochter war nicht nur elfjährig wie Julie – sie hieß zu allem auch noch Juliane. Und der Kriminalmeister wußte, wie oft sein Kind unbeaufsichtigt war. Er versank in Grübeleien, während Major Armlang wieder sprach: „Nehmen wir weiter an, Julie ist erst einmal nur so durch die Stadt geschlendert, schon ganz in ihrem Trotz befangen, und hat dabei ausgeknobelt, was sie noch anstellen könnte, damit ihre Mutter sie nie mehr so im Stich läßt. Bitte nicht vergessen – Stolz und Trotz!“ Aufzählend schnellten Armlangs Daumen und Zeigefinger hoch. „Was den Stolz angeht – welches Kind bekannter Eltern, in unserem Fall einer bekannten Mutter, hätte ihn nicht. Sie streiten es ab, doch das ändert nichts an der Tatsache. Also weiter mit dem Gedankenspiel. Julie selbst kam auf die Idee mit den Anrufen. Daß sie gern telefoniert, wissen wir auch durch Bernhards. Ebenso, daß sie leidenschaftlich gern vor dem Fernseher hockt. Wahrscheinlich sieht sie nicht nur unsere Sender, und drüben sind Morddrohungen per Telefon fast an der Tagesordnung. Kinder sind phanta94
siebegabt. Julie Brigg, wie sie geschildert wurde, soll es in hohem Maße sein. Weiter! Wir nehmen an, die Kleine suchte und fand irgendwen, der – aus welchen Gründen auch immer – bereit war, ihre Phantastereien in die Tat umzusetzen. Und derweil wir in der halben Republik nach ihr suchen, lacht sie sich eins ins Fäustchen, harrt quietschvergnügt der Dinge, die da kommen, ist mopsfidel, hat sich bei der Vermutlichen einquartiert – vielleicht bei jemandem, der Briggs nicht leiden kann – und kommt erst wieder zum Vorschein, wenn ihrer Meinung nach der Denkzettel, den sie ihrer Mutter verpassen will, ausreicht! Geld hat sie auch, sie kann sich sogar ein paar Tage lang selbst verpflegen, für ihren Unterhalt bezahlen. Das wäre eine der möglichen Versionen“, schloß Major Armlang, sah von einem zum anderen, sah in schweigende Gesichter. Nur Kriminalmeister Pecha sagte nach einer Pause: „Schön wär’s.“ „Und möglich“, stimmte Prohaska zu. „Aber es fällt mir schwer, das zu glauben … Ich kann lediglich von der Darstellung ausgehen, die Bernhards uns von dem Kind gaben, das einen ausgesprochen geraden Charakter haben soll. Ihre Version, Genosse Major, würde auf Infamie beruhen.“ Der Major nickte. Dann ließ er wieder Daumen und Zeigefinger hochschnellen. „Trotz und Stolz“, wiederholte er. „Zwei ungute Ratgeber, die oft auslösen, was nicht vorherzusehen war.“ Prohaska stützte das Kinn in die Hand. „Das bringt mich auf Rosemann zurück, der sich zwar im Alter des Mädchens verschätzt hat, um ein oder zwei Jahre, der aber anführte, was wir nicht übersehen dürfen. Rosemann wies darauf hin, daß sich Julie in einem schwierigen Alter befinde – nicht mehr ganz Kind und noch nicht erwachsen. Es wäre möglich, daß Julie auf eigene Faust irgend etwas unternehme, lediglich um sich zu 95
beweisen … So drückte er sich aus. Diesen Verdacht habe ich, ohne lange zu überlegen, nicht ernst genommen, weil ich vordringlich an die Morddrohungen dachte. Aber zu dem geraden Charakter, von dem Bernhards sprachen, würde das schon eher passen – natürlich, der erwähnte Trotz mit einbezogen.“ „Tja, zum geraden Charakter“, entgegnete Major Armlang, „aber nicht zu den Morddrohungen, die ja leider Fakt sind.“ „Beides läuft nicht zusammen“, warf Leutnant Ludwig ein. „Ich komme nicht los von dem lukrativen Auftrag, den Frau Brigg bekam, und nicht von den Kolleginnen und Kollegen. Bitte, noch einmal exakt, wer ist wo.“ „Was ich von Bernhards und von Rosemann weiß“, antwortete Prohaska, „Werner Zörbel, Maler, Grafiker und Bildhauer ist auf Studienreise in Kuba. Rainer Jau fuhr vor einigen Tagen nach Polen, und Heli Breitmann macht in Ungarn Urlaub. Außerdem hatte sich am Wettbewerb die in Pot wohnende Marion Diener beteiligt. Sie ist zu Hause. Sie wissen, ich habe die Diener selbst befragt … Das war eine beklemmende Angelegenheit mit Bleistift und Papier.“ „Kenne ich“, sagte der Major und fragte: „Ist sie taub und stumm geboren?“ „Nein, vor zehn Jahren, kurz nach Beendigung ihres Studiums, hatte sie einen Autounfall. Seitdem.“ „Erzählte Rosemann das?“ „Nein. Seit wann, sagte er nicht. Das weiß ich von Frau Diener. Es gibt einen Mann, mit dem sie lebt – und in dem Punkt hat Rosemann etwas Falsches gesagt, unwissentlich, wie er später behauptete. Sie lebt nicht allein. Auch den Eingang und die Annahme von Aufträgen wie den Verkauf ihrer Bilder – das alles erledigt dieser Mann für sie.“ „Schrieb sie, wo dieser Mann gegenwärtig ist?“ 96
„Nein, das wußte sie nicht. Aber sie und er – und ebenso Rosemann haben jeweils das beste Alibi, das sich denken läßt. Frau Diener in Pot und Herr Rosemann in Vau arbeiteten tagsüber im Freien, umlagert oder zumindest gesehen von vielen Kindern und Jugendlichen, auch von einigen Rentnern. Zur Zeit der Anrufe war auch Frau Dieners Lebensgefährte draußen – er sprach mit denen, die der Malerin zusahen. Rosemann unterhielt sich selbst mit seinen Zuschauern, wie er sie nennt. Und diese Zuschauer haben das bestätigt.“ Nach einer Pause sagte Major Armlang: „Es wird immer verrückter. Das Verrückteste, daß wir in solchem Fall nicht auskommen ohne massenhafte Befragungen. Die Gerüchte schießen ins Kraut … Erinnerst du dich, LL, damals, die Sache mit der kleinen Veronika Zack?“ Leutnant Ludwig nickte. Prohaska machte ein neugieriges Gesicht. Armlang erläuterte: „Wir sind damals wochenlang nicht aus den Klamotten gekommen. Die Eltern hatten ihr Kind als vermißt gemeldet, nachdem sie an einem Schulausflug hatte teilnehmen wollen, am Treffpunkt aber nie angelangt war. Verdammt viel Ähnlichkeit mit dem heutigen Fall. Können nur hoffen, daß er nicht ebenso tragisch ausgeht.“ Pause. Armlang wischte sich über die Nase. Dann sprach er weiter: „Auch damals suchten Hundertschaften. Hubschrauber wurden eingesetzt und so fort. Eines Tages blieb nichts übrig, als die Akte Veronika Zack vorläufig zu schließen. Einer der wenigen ungeklärten Fälle, aber einer zuviel. Ich will nicht ins Detail gehen. Nun, nach Jahren wurde die Leiche der Veronika Zack gefunden – bei Erdarbeiten in einem Gebiet, das zur Zeit des Mordes noch Wald war. Die Ermittlungen wurden wieder aufgenommen, hat nicht lange gedauert, bis wir den Sittlichkeitsverbrecher fassen konnten. Zugleich kamen neue Indizien ans Licht. Der Mörder war geständig. Übrigens schien er mir bei dem Geständnis, als erlöse er 97
sich selbst. Er gestand uns aber auch glaubhaft – und darum komme ich darauf –, daß er das Kind nicht umbringen wollte, ursprünglich nicht. Aber die nicht endenden, ihm immer bedrohlicher werdenden Gerüchte, die bis dahin vordrangen, wo er sich mit Veronika versteckt hielt, veranlaßten ihn, wie er es bezeichnete, zur gräßlichen Tat. Er sah keinen anderen Ausweg mehr – für sich.“ Pecha erhob sich, ging in der „Spinnstube“ auf und ab, fuhr sich erregt mit allen zehn Fingern durchs Haar. Hauptmann Prohaska sagte rasch: „Von der naheliegenden Möglichkeit eines Sittlichkeitsverbrechens sprach auch Rosemann, und Assoziationen drängen sich auf bei solcher Ähnlichkeit der Handschrift; aber der, von dem Sie sprachen, Genosse Major, sitzt doch bestimmt noch – oder?“ „Ja“, sagte Armlang, „natürlich.“ Dann, zu Pecha: „Bitte, nehmen Sie wieder Platz. Ihre Juliane ist im Kinderhort, täglich, bis Ihre Frau sie abholen kann.“ Pecha erwiderte nichts, nickte nicht, ging zu seinem Sessel zurück. Armlang fragte: „Also auch Rosemann hat von der Möglichkeit eines Sittlichkeitsverbrechens gesprochen?“ „Ja, er meinte, das sei naheliegend, wenn man aussieht wie Julie Brigg.“ „Mm … Haben Sie nachgeprüft, ob alle Kollegen, von denen Rosemann redete, sich auch wirklich dort befinden, wo er angab?“ „Rainer Jau ist noch nicht eingetroffen, wo er erwartet wird, aber sein Haus ist verriegelt und verschlossen, wie es eben sein sollte, wenn man auf Reisen geht.“ „Daß er noch nicht eingetroffen ist, will wahrscheinlich nichts bedeuten, aber wir müssen dranbleiben“, sagte Armlang und, etwas nachdenklich, „auch an Frau Diener.“ „Ein Glück, daß wir vorerst Rosemann los sind“, sagte Leutnant Ludwig, „der ging mir ganz schön auf den Docht, 98
dieser alte, verliebte Gockel.“ (Für den Fünfunddreißigjährigen war Rosemann, den er auf fast siebzig schätzte, ein Greis.) „Nicht lange, dann haben wir die Lehrer und Mütter wieder auf dem Hals, das ist in unserem Nest nicht zu vermeiden“, kündigte Prohaska an. Und Armlang wieder leise, wie zu sich selbst: „Gerüchte, Gerüchte, verflucht noch mal …“ Nebenan tickten Fernschreiber. Darüberhin korrigierte Major Armlang: „Rosemann war uns sehr nützlich. Das Wichtigste wissen wir schließlich durch ihn – daß nämlich jeder, aber auch jeder der Mitglieder des Verbandes, von dem Auftrag wußte, den Frau Brigg bekam. Rosemann hat uns einen Durchschlag der an alle verschickten Briefe gebracht, ebenso die schriftlichen Antworten derer, die sich beteiligen wollten. Bei einer Sitzung wurde intensiv über den Auftrag diskutiert. Das Sitzungsprotokoll bestätigt seine Angaben. Und er hatte keine Zeit, etwa das Protokoll zu fälschen. Dafür war er viel zu schnell wieder hier.“ „Die Zeit war zu kurz, und Rosemann würde ich das auch nicht zutrauen“, sagte Prohaska. „Verliebt ist er, das gab er selbst an – und man weiß, wie das zumeist ausgeht, wenn ein Alter in eine relativ junge Frau vernarrt ist –, doch das steht jetzt nicht zur Debatte.“ „Nein?“ fiel Armlang ihm ins Wort. Seine Augen sprachen … Hauptmann Prohaska sah weg. Sagte, scheinbar ablenkend von der schneidenden Frage, den sprechenden Augen: „Beneidenswert ist Rosemann der Verliebtheit wegen bestimmt nicht.“ Dann überschlugen sich die Ereignisse. Noch bevor mit dem „Spinnen“ recht begonnen war, mußte die behagliche Stube verlassen werden. Rostock meldete, Georg Briggs Mutter wisse vom Aufenthalt ihres Sohnes in Leipzig. Ein ungewöhnlicher 99
Tatbestand, da die Reise für Georg Brigg selbst unvorhersehbar gewesen sei und er zudem mit seinen Eltern kaum in Kontakt stehe. Rostock meldete auch, die Mutter der Kriminalistin Asta Funkel habe vermutlich einen Besucher oder eine Besucherin gehabt – eine zur Zeit noch undurchschaubare Angelegenheit, sofern sie etwas mit Julie Briggs Entführung zu tun hätte. Georg Briggs Eltern und Katrina Funkel wohnen auf Hiddensee. Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg! Prohaska, im Hinausgehen, massierte mit den Fingerspitzen die Stirn, als wollte er etwas ausradieren. Anni Bernhard hatte ihm gestern gesagt, Julie sei ihrer Großeltern ungeliebte Enkelin. „Einsatz der Suchboote verstärken!“ hörte Prohaska den Major befehlen.
11 Vor Stunden hatten Bernhards dem Sonnenaufgang zugesehen – zu erschöpft, um fasziniert zu sein. Günter hatte während der Nacht nicht schlafen können. Anni war manchmal eingenickt, für Minuten, die von wilden Träumen durchwühlt wurden. Wenn Günter allstündlich zur Telefonzelle ging, mit Prohaska Verbindung zu halten, saß Anni hellwach bei den Apparaten. Prohaska teilte Günter nur mit, was der unbedingt wissen sollte. Es war wenig. Und Prohaska fragte nur, was er unbedingt wissen wollte. Das war viel. Gegen Morgen erfuhr Günter, daß es von Julie keine Spur gäbe. Prohaskas Stimme klang nicht hoffnungsvoll. 100
Daß ein Major Armlang seit ein Uhr die Ermittlungen zentral leite, daß dieser Major mit zwei Leuten aus Berlin gekommen war, verschwieg Prohaska nicht. Günter nahm es gleichgültig auf, ihm war es einerlei, wer die gesamte Verantwortung trug; er sprach auch zu Anni nicht davon. Krista hatte die Nacht in Georgs Sessel verbracht. Sie rührte sich kaum, sie stellte keine Fragen, gab keine Antworten. Ihre großen Augen blickten starr; Bernhards beobachteten selten einen Lidschlag. Eine Zeitlang lauschten sie dem morgendlichen, eifrigen Vogelgezwitscher – schließlich überhörten sie auch das. Plötzlich stand ein Mann im Wohnzimmer. Bernhards konnten sich nicht erklären, von woher der Mensch gekommen war. Er stand still neben Georgs Sessel und sagte leise nur: „Krista – Krista.“ Mundoffen, wie gelähmt, sahen Bernhards ihn an. Endlich fand Günter ein paar Worte. „Was wollen Sie hier?“ Der Mann winkte mit kaum sichtbarer Geste ab. „Von wem kommen Sie?“ Stille. „Weisen Sie sich bitte aus“, sagte Anni. Wieder winkte der Mann ab. Dann flüsterte er: „Ich komme direkt von der Polizei.“ Im selben Moment sprang Krista aus dem Sessel, flüchtete wie gejagt ins Atelier, schlug hinter sich die Tür zu. Der Schlüssel knirschte rostig – er wurde selten benutzt. Bernhards rannten ihr nach – zunächst nur Reflexbewegungen der Füße. Dann klopften Bernhards mit den Fäusten gegen die verschlossene Tür, riefen, immer lauter, Krista solle ihnen öffnen, dürfe sich nicht aufregen. Irrtum. Mißverständnis. Nebenher erinnerte sich Günter an Prohaskas Zusicherung, das Briggsche Haus 101
werde ständig beobachtet, unauffällig. Vom Atelier her war kein Atemzug zu hören. Günter erwog, die Tür gewaltsam aufzustoßen. Als er sich umdrehte, Anlauf zu nehmen, den Arm schon angewinkelt – war der Mann verschwunden. Günter lief hinaus, ums Haus, durch den hinteren Garten. Niemand … Er kam zurück. Der Schlüssel zur Ateliertür knirschte wieder. Krista wankte heraus, schien Bernhards nicht wahrzunehmen, zitterte, rollte sich von neuem in Georgs Sessel zusammen. „Kanntest du den?“ fragte Anni, und ihre Stimme klang blechern. Krista antwortete nicht, nickte nicht, schüttelte nicht den Kopf, starrte vor sich hin – wie während der ganzen Nacht. Bernhards sahen einander ratlos an. Ihnen war zum Heulen. Anni wollte sagen, daß sie nun wirklich nicht länger durchhalte, doch als sie bemerkte, wie rasch Günter von dem Schreck sich erholte, in welchem Maße der ihn zu ermuntern schien, sagte sie es nicht. Günter ging noch einmal ums Haus, schaute in alle Richtungen, stöberte im Gebüsch des hinteren Gartens herum, das an einigen Stellen übermannshoch war, kroch in Julies „Höhle“, die sie sich mit anderen Kindern aus Ästen und Zweigen gebaut hatte, entdeckte nichts. Anni stand auf der Veranda. Vor ihr verhielt Günter den Schritt. „Das war kafkaesk – weiß Gott, das war gespenstisch.“ Anni, nach einer Weile, sagte: „Als man mit Krista noch sprechen konnte, war alles leicht – gemessen an diesem jetzt.“ Anni klammerte sich an den runden Tisch. Ihre Hände waren feucht, die Tischplatte war schon wieder warm, obwohl die Sonne noch nicht draufprallte. Günter sagte, er müsse wissen, ob der Kerl wirklich von 102
der Kripo kam, was er nicht glaube. „Ich muß Prohaska fragen.“ Darauf Anni, aus verwirrten Gedanken heraus: „Vielleicht war das der Telefonmörder.“ Sie fragte: „Hast du auf seine Stimme geachtet?“ „Nein. Im Moment weiß ich nicht mal, wie er ausgesehen hat.“ Dann, den Blick zwanghaft auf Anni gerichtet, sagte er: „Auf die Idee, das könnte der Anrufer gewesen sein … Natürlich kann ein Mann seine Stimme hochquetschen. Krista blieb gestern dabei, eine Frau habe angerufen … Mir fällt was anderes ein … Hatte Prohaska gesagt, wenn alle Suchaktionen nichts bringen, wenn Georg nicht aufzutreiben ist, müßten sie doch einen Kriminalisten zu Krista schicken?“ „Hat er gesagt. Wir sollten Krista drauf vorbereiten. Ich erinnere mich.“ „Ich muß wissen, was gespielt wird, ich muß wissen, wer das war. Die K soll doch nicht so tun, als wären wir zu unserem Vergnügen hiergeblieben. Auskünfte wollen sie haben noch und noch, Krista dürfen wir bewachen, damit kein weiteres Unglück passiert, aber uns lassen sie im Nebel stehen.“ „Wir haben klarstes Sommerwetter“, entgegnete Anni leise. Günter sah sie an. Sie war weiß. Ihr müder Spott hallte in ihm wider. Er beschloß zu bleiben. Schon im nächsten Moment könnte sie zusammenbrechen. Er kannte seine Frau, und er war nicht umsonst Arzt. Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte sie, bemüht, ihrer Stimme Kraft zu geben: „Melde Prohaska, was geschehen ist. Wir müssen wissen, wer das war, sonst finden wir überhaupt keine Ruhe mehr. Krista rührt sich nicht, spricht nicht – also was soll’s? Ich lege mich in ihrem Garten in den Schatten, ich werde schlafen, bis du wieder hier bist … Kein Nachtdienst hat mich so angestrengt …“ Günter nahm zwei Kissen aus den Korbsesseln. Anni 103
klammerte sich an ihn, wie sie sich an den Tisch geklammert hatte. Unter der Trauerbirke ließ sie sich fallen. Die Birke war dichtbelaubt, gab wohltuenden Schatten. Günter legte die beiden Kissen unter Annis Kopf. Sie wollte noch etwas sagen, doch da schlief sie schon. Günter ging vors Haus. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, glaubte an akustische Halluzinationen. Stand. Lauschte. Das Telefon läutete wirklich! Nach dieser endlosen, von Angst um Julie erfüllten aussichtslosen, entnervenden, vergeblich durchwachten Nacht – läutete das Telefon! Krista rührte sich nicht, als er vorbeistürzte ins Atelier. Er hoffte so inständig, es sei Julie, die sich, melde, daß er sich den Hörer ans Ohr preßte, und – schnaufend – sofort fragte: „Julie?“ „Wie bitte? Spreche ich mit Herrn Brigg?“ fragte ein Mann zurück. „Sagen Sie mir bitte zuerst, wer Sie sind!“ Günter drückte den rotumrandeten Knopf ins Gerät – fast hätte er es vor Aufregung vergessen. „Hier ist Peter Kammer. Ich würde gern Ihre Frau sprechen – des Gemäldes wegen.“ „Wo sind Sie, Herr Kammer?“ „Das interessiert Sie – Herr Brigg?“ „Brennend!“ „Nun, ich wollte eigentlich nach Rostock zur Biennale, aber ich bin auf Rügen gelandet. Kann ich Ihre Frau sprechen?“ „Natürlich, einen Moment noch. Sagen Sie mir doch bitte, wo genau Sie sind, wo da auf Rügen.“ „Auf einem Campingplatz bei Rambin.“ Mit der scheinbar wiedergewonnenen Ruhe – mit der Ruhe, die den Assistenzarzt auszeichnet, wenn er Patienten Mut macht – sagte Günter Bernhard: „Das freut mich für Sie. Rambin. Campingplatz. Herrlichstes Ur104
laubswetter. Verständlich, daß Sie die Biennale sausen ließen. Hätte ich auch getan.“ Peter Kammer lachte. Dann, stockend, als käme ihm Herr Brigg nicht geheuer vor, sagte er: „Ach, wissen Sie … Ich hatte wirklich die feste Absicht, die Biennale zu besuchen … Aber – kurz nach Vau stieg eine Anhalterin zu mir in den Wagen. Das Mädchen, achtzehn Jahre alt, blond und sehr hübsch … Also das Mädchen wollte nach Stralsund …“ Er brach ab. „Und Sie nach Rostock“, sagte Günter. „Na ja, Sie kennen sich in unserer Gegend aus … Wenn ich das Mädchen nach Stralsund bringen wollte, mußte ich irgendwie auf die Sechsundneunzig … Na ja, ich habe mich breitschlagen lassen – und bin schließlich in Rambin gelandet.“ „Mit dem blonden achtzehnjährigen Engel.“ Günter tat gutgelaunt. „Na, wie das Leben so ist.“ „Verstehe, verstehe vollkommen.“ „Kann ich jetzt Ihre Frau sprechen?“ „Selbstverständlich. Nur einen Moment noch, Herr Kammer. Hören Sie mir genau zu. Setzen Sie sich bitte sofort mit der nächstgelegenen Polizeistelle in Verbindung. Es ist sehr wichtig.“ „Wie? Mit der Polizei?“ „Ja. Noch einmal – ich bitte Sie dringlichst!“ „Und warum das?“ „Sie werden es dort erfahren, bestimmt. Ich bitte Sie, es zu tun … Und gestern haben Sie nicht hier angerufen, nein?“ „Pardon, nein, ich rief nicht an … Ich kam einfach nicht dazu. Aber aus welchem Grund soll ich mich jetzt noch auf der Polizei melden, ich bin doch in Kürze zurück in Vau.“ „Trotzdem. Bitte!“ „Ist denn was passiert?“ 105
„Das will ich am Telefon nicht beantworten, es ist auch besser, wenn wir uns per Telefon nicht zu lange unterhalten. Moment, ich sehe nach, ob Krista mit Ihnen sprechen möchte.“ Günter legte den Hörer auf die Chaise, ging ins Wohnzimmer, zu Krista, rüttelte sie sacht an der Schulter, sagte: „Kammer ist am Apparat, er will dich sprechen.“ Sie reagierte nicht. Ihre Augen starrten blicklos. Günter wartete einige Sekunden, wiederholte, was er gesagt hatte. Krista schien ihn nicht zu bemerken. Er ging zurück zum Telefon. „Tut mir leid, Krista möchte Sie, wie es scheint, zur Zeit nicht sprechen.“ „Etwa eifersüchtig? Krista? So kenne ich sie gar nicht. Erzählten Sie ihr, daß …“ „Nein, natürlich nicht. Also bitte, Sie setzen sich sofort mit der nächstgelegenen Polizeistelle in Verbindung, ja?“ „Ehrenwort!“ sagte Kammer. „Aber …“ Günter legte den Hörer sacht in die Gabel und wechselte das Band aus. Dann fiel er auf die Chaise, strich sich das lockige, feuchte Haar aus der Stirn, dachte – eine Minute später, und ich hätte den Anruf verpaßt. Der Gedanke war verwirrend – und riß ihn hoch. Günter sah durchs Atelierfenster in Kristas Garten. Anni schlief fest. Ich wecke sie nicht. Ich beeile mich, werde schnell wieder hier sein. Während der rasenden Fahrt zu Prohaska befiel ihn seltsame Dumpfheit. Er suggerierte sich, du darfst nicht den Kopf verlieren, du bist anderes, ganz anderes gewohnt. Bis Georg hier ist, hast du allein die Verantwortung. Sei kein Waschlappen. Laß dich von Anni nicht beschämen. Keine Ermahnung drang tief genug in ihn ein, um ihn 106
zu befreien von dieser überwachen, seltsamen Dumpfheit. So geht es in Annis Alpträumen zu, dachte er, wenn sie das Bett zerwühlt, im Schlaf aufschreit, wenn ich mich an sie drücken muß, damit sie mich im Unterbewußten wahrnimmt, damit die Schreckensbilder ihres Arbeitstages verblassen. Ich habe es im Ohr, wie sie im Traum dem Jungen nachschrie, der auf ihrer Station an Krebs starb. Nach jeder Spritze hatte er gehofft, wieder gesund zu werden. Bis vor wenigen Tagen hatte er in jeder schmerzfreien Stunde fürs Examen gearbeitet – mit furchtbarem Hoffen. Sein Hoffen auch durch Schwester Annis mutiges Lächeln gestützt, durch Schwester Annis ruhige Gespräche mit ihm. Gespräche über seine Zukunft – von der Schwester Anni wußte, diese Zukunft dauere noch eine Woche oder weniger lange. Das und ähnliches täglich. Und ich? Bin ich nicht so stark wie sie? Glaube ich etwa, daß es für Julie noch eine Zukunft gibt? Er raste bei Ampelrot über eine Kreuzung. Hauptmann Prohaska war da – der Stabile, Gelassene. Das Jungengesicht mit der Adlernase, die sanften Augen mit hartem Glanz. Vehement warf Günter das Band auf Prohaskas Tisch. „Peter Kammer hat angerufen. Da haben Sie mein Gespräch mit ihm“, sagte Günter und plumpste auf einen Stuhl, streckte die Beine breit und weit von sich. Das Band wurde sogleich abgehört. Prohaska fragte danach, ob Julie den Architekten Kammer kenne. „Ist anzunehmen“, antwortete Günter und gähnte mit geschlossenen Lippen, damit Prohaska es nicht sehe. 107
„Kennt sie ihn gut, mag sie ihn sehr?“ „Was wollen Sie denn noch alles von uns wissen. Wir gehen nicht ein und aus bei Briggs, wir wissen so genau nicht über Einzelheiten Bescheid. Wir haben unsere Arbeit.“ Prohaska beeilte sich, Günter Bernhard zu loben: „Sie haben das Gespräch mit Kammer hervorragend geführt. Besser hätten wir das auch nicht gemacht.“ „Na großartig“, sagte Günter. Er ließ den Kopf hängen. Prohaska rief jemanden zu sich, der Verbindung mit Rambin aufnehmen solle. Der Hauptmann gab genaue Anweisungen. Günter sah nicht, mit wem er sprach. Es war ihm gleichgültig. Er schloß die Lider, während Prohaska mit dem Jemand redete. Erstaunlich war ihm, daß er sich geborgen fühlte, sobald die gemütvolle Hauptmannsstimme im Raum murmelte; jeder Verantwortung (über die er noch im Wagen nachgedacht hatte) schien er jetzt enthoben zu sein. Doch der Jemand ging, und Prohaska wandte sich wieder an Günter Bernhard: „Gibt es sonst Neues?“ Günter zwang die schwer gewordenen Lider hoch, fragte zurück: „Warum hat uns die K einen Mann geschickt, zu Krista geschickt, meine ich.“ „Was hat die K?“ Plötzlich war Prohaskas Stimme nicht mehr murmelnd, nicht mehr gemütvoll – sondern laut und streng. Günter hob müde eine Hand und ließ sie fallen. „Kannten Sie den?“ fragte Prohaska. „Nein.“ „Können Sie ihn beschreiben?“ Mit Anstrengung schilderte Günter den gesamten Vorgang, sprach vom verweigerten Ausweis, von Kristas Reaktion, vom unerklärlichen Verschwinden des Fremden – als habe der sich in Luft aufgelöst. „Und wie er aussah – ja, wie sah er aus … Der Schädel fast kahl geschoren. Schmales Gesicht, faltig, grau der 108
Teint. Kleine Augen, wie zugewachsen. Großer Adamsapfel. Alter nicht zu schätzen, um die Vierzig, Fünfzig, oder älter. Er hatte, wenn ich nicht sehr irre, Jeans an, vielfach geflickte, trug auf nacktem Oberkörper eine offene boleroartige Weste, ärmellos. Arme hatte er wie ein Boxer. Mehr weiß ich nicht“, schloß Günter und wunderte sich im stillen, wieviel er mit einemmal über das Aussehen des Fremden wußte. „Und Sie haben tatsächlich geglaubt, der käme von uns?“ „Warum nicht? Möglich scheint mir jetzt alles.“ Prohaska schwieg, knabberte an seinem Daumennagel, der eingerissen war. Günter sagte: „Werfen Sie mir vor, daß ich versagt habe. Sie mußten es ja nicht miterleben.“ Prohaska warf Günter nichts vor. „Mir ist nur unfaßbar, daß Sie uns das nicht sofort gemeldet haben.“ „Hätte ich also nicht ans Telefon gehen sollen, als es endlich mal wieder läutete, nachdem wir eine – eine sehr lange – Nacht umsonst gewartet hatten?“ Die Antwort wartete Günter nicht ab. Er sagte: „Außerdem geht es meiner Frau nicht gut.“ „War sie auch während der ganzen Nacht wach?“ Günter schwieg. „Ist auch Ihre Frau jetzt über vierzig Stunden auf den Beinen wie Sie?“ „Aber nein – sie hat über vierzig Stunden geschlafen.“ „Bitte – nicht sarkastisch werden; wir haben doch alle genug um die Ohren.“ Günter nickte und schwieg. Der Hauptmann stellte ein Glas auf den Tisch, öffnete eine Flasche, goß orangefarbenes Getränk ein. „Trinken Sie. Sie sind total erschöpft.“ Prohaska hatte den gemütvollen Ton wiedergefunden, er sprach so leise, daß daneben noch das Säuseln der aufwärts perlenden Bläschen hörbar war. 109
Das Glas beschlug. Günter trank es in einem Zug aus. Er bemerkte nicht, daß inzwischen der Major eintrat. Prohaska stellte sie einander vor. Günter versuchte sich zu erheben. Der Major drückte ihn auf den Stuhl zurück. „Schon gut.“ Günter glaubte zu versinken, als dürfe er das jetzt, als wäre jetzt alles „schon gut“. Das Gespräch, das Getuschel zwischen Hauptmann und Major, rauschte über ihn hin, war wie eine Brandung, die man hört, aber nicht sieht. Er hing auf dem Stuhl, Details wurden nebensächlich. Mitunter versuchte er den Schlaf von sich zu stoßen, die Lider aufzureißen. Irgendwo – in der Ferne, glaubte er – tickten Fernschreiber, läuteten Telefone, waren unheimlich viele Schritte, laute, sanfte. Türen riß man auf, schlugen zu. Seine Schultern schmerzten, als lehne er gegen das Brett eines Fakirs. Das spürte er, und auch die Knie – sie mußten geschwollen sein. Dann drangen mit einemmal Worte deutlich in sein Bewußtsein vor. „So kann jeder aussehen.“ Und: „Die Kleidung stimmt nicht überein.“ Und: „Ich spiele auf diese Weise nicht länger mit, ich werde mit der Mutter des Kindes sprechen.“ Darauf antwortete Günter, die schweren Lider halb geöffnet: „Wenn Sie Krista vollends um den Verstand bringen wollen, versuchen Sie es, bitte, von mir aus.“ Irgendwer lachte … Oder? Zugleich kam die Stimme des Majors ganz nah: „Bedauerlich, daß Sie nur zehn Worte aufnehmen konnten.“ Günter sagte schläfrig: „Beim nächsten Mal nicht unter hundert. Wird gemacht.“ „Ihr Zynismus ist begreiflich. Nützt aber nichts und niemandem.“ Das war des Hauptmanns angenehmer Ton. Günter meinte zu lächeln. Ihm wurde um so wohliger, je stiller 110
alles zu werden schien. Als man ihn wachrütteln mußte, sprang er auf, torkelte, sagte: „Herrgott, ja, die Galle, die Zwölf.“ Niemand antwortete. Er aber glaubte deutlich zu hören, bei Briggs hat’s gebrannt, wir brauchten nicht einzugreifen, es ist vorüber. „Was ist vorüber?“ fragte Günter. Er sah Frauen und Männer in Prohaskas Zimmer, die eben noch nicht hier gewesen waren. Der Hauptmann sagte: „Sie sind uns unter der Hand eingeschlafen.“ „Das ist nicht wahr“, bestritt Günter. „Ich habe jedes Wort mitgekriegt, wenn auch – wenn vielleicht auch in Trance. Man hat gesagt, bei Briggs sei ein Brand ausgebrochen.“ „Ja“, sagte Prohaska, „davon ist vor einiger Zeit geredet worden, nicht jetzt.“ „Aber ich habe es jetzt eben gehört!“ Günter stampfte auf. „Irrtum, Herr Bernhard. Das hier sind Genossen“, er wies zu den Frauen und Männern, „die Briggs Haus beobachten, damit uns nichts entgeht. Die Genossen wurden jetzt abgelöst. Sie haben von dem Brand berichtet. Es war nur ein geringfügiger Brand gewesen. Ihre Frau löschte ihn allein. So brauchten weder wir noch die Feuerwehr einzugreifen, und das war gut, das hat weiteren Gerüchten vorgebeugt. Was sich da zusammengebraut hat, reicht ohnehin, ist zuviel, ließ sich aber nicht vermeiden in unserem Nest.“ Günter fand sich wieder zurecht, wußte wieder, wo er war, dachte, warum schwindeln die – Anni schläft, Anni kann gar keinen Brand gelöscht haben. Aus diesem Gedanken heraus fragte er: „Ich habe wirklich geschlafen?“ „Eine gute Viertelstunde.“ Günter schüttelte den Kopf, glaubte dem Hauptmann nicht. Der sagte: „Und wir hätten Sie auch jetzt nicht geweckt, doch die Sache 111
mit dem Fremden, der bei Frau Brigg eindrang, ist zu wichtig. Unsere Leute haben ihn nicht gesehen. Würden Sie bitte noch einmal ganz genau überlegen, wie er ins Haus gekommen und wohin er geflüchtet sein kann?“ Ist zu wichtig, wiederholte Günter in Gedanken – und erinnerte sich an Annis Fragen: ‚Vielleicht war das der Telefonmörder, hast du auf seine Stimme geachtet?‘ Nach einigem Überlegen sagte Günter: „Das Fenster im Bad ist eventuell offen oder nur angelehnt … Von da aus kann man in den hinteren Garten … Und von da aus womöglich in die angrenzenden Schrebergärten. Da befindet sich ja die ganze Kleingärtnersiedlung ‚Sonnenschein‘. Womöglich ist er …“ „Sie haben doch sofort nach ihm gesucht, nicht wahr?“ fragte Major Armlang. Günter blickte – etwas verlegen – in das gerötete Gesicht, in die braunen Augen, die hinter den Gläsern so riesig wirkten. Ihm wurde klar, daß er diesen Kriminalisten vorhin kaum angesehen hatte. „Sofort? Ja, ich denke schon, aber eine oder einige Schrecksekunden …“ „Ich weiß, was Sie meinen“, fiel ihm der Major ins Wort. „Uns geht es vordringlich um die Stimme, denn Ihre Beschreibung war exakt, aber so oder ungefähr so …“ Er unterbrach sich. Wandte sich Prohaska zu, sagte: „Bitte, das Band.“ Das Band lief. Günter hörte aufmerksam zu. Der eine Satz: Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg! ließ ihn blaß werden. Bisher wußte er nur durch Anni davon. Prohaska sagte: „Wir überspielen das Band jetzt verändert.“ Dieser Versuch wurde einige Male wiederholt. „Nein, ich erkenne keine Ähnlichkeit“, sagte Günter endlich. „Andererseits hat der Mann kaum gesprochen.“ „Wenn er durchs Fenster des Badezimmers kam und 112
ging, ist anzunehmen, daß er sich bei Briggs auskennt“, konstatierte Armlang. „Anzunehmen schon. Was ist nicht alles anzunehmen.“ Günters Stimme klang belegt. Seitdem er das Band gehört hatte, saß ihm ein Kloß in der Kehle. „Sie fahren jetzt zurück und …“ „Ja – darum möchte ich bitten“, unterbrach Günter den Hauptmann, „auf schnellstem Weg möchte ich zurück.“ „Nein, nicht auf schnellstem Weg“, sagte Prohaska. „Fahren Sie achtsamer als vorhin. Inzwischen ist der Straßenverkehr dichter geworden.“ Günter sah Prohaska sprachlos an. „Eine Frage noch“, sagte Major Armlang. „Kennen Sie Frau Breitmann?“ „Nein.“ „Herrn Jau?“ „Nein – das heißt, wenn er sich nicht sehr verändert hat, würde ich ihn wiedererkennen. Wir besuchten einmal eine Ausstellung seiner Radierungen, da hat Krista ihn uns gezeigt. Vorgestellt hat sie ihn nicht, damals dachten wir auch nicht, daß es nötig wäre.“ „Gut. Kennen Sie Herrn Zörbel?“ „Nein.“ „Und Herrn Rosemann?“ „Auch nicht.“ „Herrn Kammer?“ „Kennen ist übertrieben. Ich weiß, wie er aussieht.“ „Frau Marion Diener?“ „Nein. Ich weiß nur, daß Krista öfter den Namen erwähnt hat. Wenn ich mich recht besinne, zeigte sie uns auch einmal Reproduktionen von Bildern der Diener. Krista schätzt sie.“ „Danke, Herr Bernhard. Das wäre es vorerst. So leid es mir tut, in Ihren Urlaub können wir Sie noch nicht entlassen.“ 113
Im Dienstzimmer leuchtete eine Lampe rot auf. Armlang und Prohaska verständigten sich durch einen Blick. Die Männer und Frauen waren schon gegangen, ehe Günter sie richtig angesehen hatte. „Warten Sie noch!“ sagte der Major. Er und Armlang verließen eilig den Raum. Günter, sonst locker im schlanken, hochgewachsenen Körper, ging mit schweren Schritten vor den Fenstern auf und ab. Er wollte zu Anni. Armlang hatte ihm befohlen zu bleiben. Er wollte noch fragen, ob man Georg nicht auftreiben könne. Er nahm sich vor, nachher das zu fragen. Ewig würde man ihn wohl nicht hier allein lassen.
12 Gisela Rammert war froh gewesen, neben Rainer sitzen zu dürfen, der umsichtig seinen Wagen steuerte. Sie hatte weniger Hunger gehabt als Rainer, nur wenig von dem Frühstück gegessen, das sie liebevoll zubereitet hatte. Sie war satt, körperlich satt wie schon lange nicht mehr. Wenn sie an die vergangene Nacht dachte, rann ihr das, was sie Wonneschauer nannte, den Rücken hinunter, und momentan verspürte sie auch keine Müdigkeit. Sie betrachtete Rainers Profil, das sie imposant fand, besonders wenn er, wie an diesem Morgen, eine dunkelgetönte Brille auf der zweifach leicht gebuckelten Nase hatte. Die Sonnenbrille mußte er zwar oft zurechtrücken – wer wäre bei der Hitze nicht ins Schwitzen gekommen … nach dieser Nacht? Er benötigte sie auch nicht unbedingt, denn die Sonne schien von rechts oben, sie traf nicht sein Gesicht, man fuhr in nördliche Richtung, aber Rainer wußte, welch geheimnisträchtiges Fluidum die getönte Brille ihm verschaffte. 114
Das hatte für ihn hohen Stellenwert, Gisela dachte „Stellenwert“. Dieses Wort mochte Rainer sehr. Auch Gisela Rammert liebte sein Aussehen – und, wenn möglich, noch mehr seine Umgangsformen! Wer benahm sich heutzutage noch wie er? Wer küßte den Frauen, den Mädchen die Hand – und das so elegant wie er? Keiner! Gisela Rammert schaute nur ab und zu nach vorn. Sie konnte ihm jederzeit ihr volles Gesicht zuwenden, denn er hatte in der vergangenen Nacht geschworen, niemand würde merken, daß sie so viel älter sei als er. „Was sind schon zehn Jahre?“ hatte er lächelnd gefragt. Indem sie daran dachte, mußte auch sie unwillkürlich lächeln. Und sogar seine Reise hatte er ihretwegen verschoben um einen ganzen Tag. Und das „nötige Kleingeld“ (seine Worte) hatte er auf der Devisenstelle für sie besorgt; es würde sie keinen Pfennig kosten. Das wollte sie allerdings nicht zulassen, aber darüber konnte man später noch sprechen. Und gestern früh – besann sich Gisela Rammert weiter – ist er nicht mürrisch oder in seinem Entschluß schwankend geworden, als sie ihm sagen mußte, daß sie gerade am letzten Arbeitstag Spätdienst habe. Und heute morgen, im Bett, da er zartfühlend, wie er eben war, aber bestimmt zum Aufbruch mahnte, hatte sie gesagt: „Ich fange an, dich schrecklich zu lieben.“ Es verlangte sie, das zu wiederholen. Er würde sich ihre Hand an die Lippen ziehen, wie heute früh, und vielleicht gelänge es ihr, gleichsam im Zeitraffer, die vergangene Nacht nochmals auszukosten. Aber ganz ohne Skrupel hatte sie das im Bett nicht gesagt, und sie schämte sich, es im Auto zu wiederholen. In ihr kämpfte die Scheu mit dem Wunsch. Doch sie mußte diesen Kampf abbrechen – oder aufschieben, denn ein Polizeiauto überholte Rainers Wagen, brachte ihn durch Winken mit einer weißen Kelle zum Stoppen, 115
und Rainer sagte: „Gib bitte die Papiere, da aus dem Handschuhfach.“ Er lächelte Gisela zu, sagte: „Übliche Kontrolle, halte auch deinen Ausweis parat.“ Aus der Gesäßtasche angelte er seinen Personalausweis. Dann standen zwei Polizisten an seinem Wagen. Rainer kurbelte die Scheibe herunter, reichte die Papiere hinaus. Der größere der beiden Polizisten studierte Wagenpapiere und Ausweise. Auch der kleinere sah hinein. Sie wechselten einige Worte, die Rainer und Gisela nicht verstanden. Dann gab der größere Polizist dem kleineren die Papiere, bückte sich, streckte den Kopf in den Wagen, sagte: „Herr Jau, wir haben eine große Bitte. Sie fahren nach …?“ „Nach Dziwnów“, antworteten Rainer und Gisela wie aus einem Mund – nur klang der Ortsname bei Rainer perfekt polnisch, wogegen Gisela Schwierigkeiten mit der Aussprache hatte. „Ah ja“, sagte der größere, „Urlaub, was?“ „Natürlich Urlaub. Zeit wird’s. War selten so urlaubsreif“, antwortete Rainer Jau. Fräulein Rammert gluckste vor verhaltenem Lachen. „Trotzdem bitten wir Sie, Ihre Reise nach Dziwnów ganz kurz einmal zu unterbrechen. Nur für ein paar Fragen.“ „Fragen?“ „Ja – wir ermitteln in einer sehr dringlichen Sache. Auf der Dienststelle werden Sie erfahren, um was es geht, denn … so restlos bin ich selbst nicht informiert. Ich weiß nur, daß man sich von Ihnen Hinweise erhofft, die vielleicht weiterhelfen.“ „Ach so ist das. Ja, natürlich, wenn das …“ „Vielen Dank im voraus“, sagte freundlich der Polizist. Er ging zum Streifenwagen zurück. Fräulein Rammert sagte zu Rainer Jau: „Wir sind doch eben erst abgefahren.“ „Na und – wenn man unsere Hilfe braucht. Ich kann 116
mir zwar nicht denken, um was es geht, wie wir helfen sollen, aber – man wird sehen.“ Die Sonne knallte aufs Wagendach. Die Straße war baumlos. Rainer schlug das Steuer ein, der Motor lief. Rainer Jaus Wagen und das Polizeiauto wendeten zugleich. Inzwischen wartete Günter Bernhard noch immer, daß einer der Kriminalisten käme, ihm zu erlauben, in die Akazienstraße zurückzufahren. Die vergangene Nacht war ihm wie ein Jahr erschienen, jetzt schlichen Minuten wie Stunden – Günter glaubte zu explodieren. Endlich stieß Prohaska die Tür auf – das Jungengesicht beinah freudig erregt. „Rainer Jau ist da!“ Günter sah den Hauptmann an. Schluckte. Erst nach einer Weile, in der die Blicke beider Männer sich ineinander verhakten, fragte er: „Ja und?“ „Ja und! Ich fresse einen Besen, wenn der Mann uns nicht weiterbringen kann. Wir hoffen es alle.“ „Fressen Sie. Fressen Sie und hoffen Sie – bitte schön.“ „Herr Bernhard, Sie verstehen nicht, was ich meine.“ „Nee, da haben Sie recht. Aber gestatten Sie, daß ich lache.“ Günter sagte es kalt, enttäuscht, und es war Prohaska, der kurz auflachte. Aus diesem kurzen Auflachen sprang ein Funke. Günter verlor die Gewalt über sich, sprach so laut und hastig, daß seine Stimme kiekste: „Soll ich Krista die frohe Botschaft bringen, daß Jau da ist? Hatte ich nicht eindringlich genug beteuert, wie verzweifelt und angeschlagen, wie wenig belastbar sie ist? O-Mann-o-Mann! Ja – Krista wird vor Freude an sämtliche Decken springen, wenn ich ihr sage, Jau ist da. Mit Julie muß ich kommen. Stellen Sie sich nicht begriffsstutzig. Mit Julie! Das allein zählt.“ 117
Prohaska wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, aber Günter lief auf und ab im Raum. „Beruhigen Sie sich. Ich stelle mich nicht begriffsstutzig, und ich glaube es auch nicht zu sein. Natürlich sollen Sie Frau Brigg nichts davon sagen. Ich dachte aber, Sie sollten das erfahren. Sie würden begreifen, wie wichtig uns der Mann sein kann. Endlich können wir mit einem Kollegen der Frau Brigg sprechen, der – nach ihrer eigenen Angabe – mit dem Auftrag gerechnet hat. Wir halten ihn nicht für den Anrufer, das nicht, aber …“ „Ja, nur zu!“ brüllte Günter mitten in Prohaskas hart glänzende Augen. „Fressen und hoffen Sie …“ Er rannte hinaus, ließ die Tür offen. Dann rasselten seine Schritte die Treppen hinunter. Hauptmann Prohaska lauschte ihm einige Sekunden nach – verständnisvoll, kopfschüttelnd. Indem Günter vor Briggs Haus seinen Wagen parkte, sah er Anni und einen alten Mann auf der Veranda. Der Alte war Kulicke. Nachbar Kulicke mümmelte. Mit Kulickes Mümmelei hatte es seine Bewandtnis. Kulickes Gebißgeschichte – über die Günter zuerst herzhaft, später noch oft von neuem gelacht hatte – fiel ihm plötzlich wieder ein. „Meine Kiefer sind so scharf, det ick Se damit glatt de Hand abbeißen könnte, wenn ick det wollte. Allet beiß ick damit durch“, hatte Kulicke damals erzählt. Da hatte Günter gefragt: „Sie haben doch Zahnprothesen, warum tragen Sie die nicht?“ „Weil det so war. Eenmal hab ick mit mein Enkel ausset Fenster jekickt und mußte niesen. Wat soll ick Sie sagen, det Jebiß hat im Jarten jelegen. Mein Enkel hat sich halbtot jewiehert. Na jut. Nächsten Tach beiß ick so richtich kräftich, wie ick det jewohnt bin, in ne Schrippe rin. Wat soll ick Sie sagen – det Jebiß bleibt in de Schrippe stecken. Nu hat’s mir jelangt. Nu hab ick die 118
Dinger injemottet, und nu brauch ick se ooch nicht mehr.“ Diese Gebißgeschichte stürzte auf Günter ein, als er den Alten sah – und wieder mußte Günter lachen, daß ihm die Tränen aus den Augen sprangen. Der Zeitpunkt (den er kannte), in dem Erschöpftsein in Albernheit umschlug, war da. Eine Frau, die Günter ein Zeichen gegeben hatte, das er geflissentlich übersah, kam näher, strich nun, wie zufällig, an Günters altem Wartburg vorbei und flüsterte, ohne Günter anzusehen: „Was ist los? Sind Sie verrückt geworden?“ „Ja.“ „Hat man das Kind?“ „Nee.“ Günter wischte Schweiß und Tränen vom Gesicht und ging langsam – als betrete er zu dünnes Eis – den Gartenweg hinauf. Kulicke fuchtelte auf der Veranda mit den Armen, Anni wich ein wenig zurück. Kulicke verkniff die Augen und erkannte Günter. „Ach, Herr Doktor, jut det Sie komm’n“, mümmelte Kulicke. „Hier hat’s nämlich doll jebrannt; wissen Se det schon? Und keen Aas is jekomm’n, Ihre Frau zu helfen dabei. Se hat allet alleene jelöscht. Ick hab se eben jesagt, se soll vorsichtich sein. Ooch die kleene Frau. Da könn doch jiftje Jase entstanden sind. Riechen Se mal, wie det stinkt.“ Anni setzte sich auf eine der Holzstufen. „Und wissen Se, wat noch war? Ick hab det schon Ihre Frau erzählt. In de Nacht warn paar Kripos bei mir und ham jefracht, ob ick die Person kenne, zu die die Kleene von hier hinjerannt is. Aber ick hab keene Person jesehn, det schwör ick. Und ick weeß ooch nich, woher die Kripos wissen, det ick die eventuell – det muß ick betonen: eventuell – jesehn hab’n müßte.“ „Sie haben niemanden gesehen?“ fragte Günter. Bemüht, ernst zu bleiben. 119
„Neeee, ick schwört Sie.“ Kulicke unterstrich mit beiden Armen, beiden Fäusten das langgezogene Wort. „Und dabei bin ick weitsichtich.“ Günter sah Anni an, die auf der Holzstufe saß, die Ellenbogen auf die Knie, die Stirn in die Hände gestützt. Kulicke sagte: „Nu kannt ja sind, det ick nich so druff jeachtet habe. Det kann sind, aber jesehn hab ick keenen.“ „Auch Julie nicht?“ fragte Günter. „Det Julchen hab ick jesehn, se is janz lustig losjesprungen. Aber sonst hab ick keen jesehn, ick schwört Sie.“ „Na gut“, sagte Günter. „Ich komme nachher mal zu Ihnen rüber …“ Es dauerte, bis Kulicke begriff. „Ach so“, mümmelte er schließlich, und: „Na denn will ick jetzt man jehn.“ Günter sah ihm nach. Das Gesicht so abgewandt, fragte Günter: „Und was hat gebrannt?“ Anni nahm nicht die Hände von der Stirn. Sagte: „Guck es dir an.“ Er ging an Krista vorbei, die wieder in Georgs Sessel kauerte, teilnahmslos. Sie hatte ihr Auftragsgemälde verbrannt! Übriggeblieben war ein massiger Klumpen, von den Seiten her zur Mitte hin eingerollt, wie in sich selbst verkrampft. Die Chaise triefte noch. Der zerbrechlich wirkende Stuhl war nun wirklich zerbrochen, das Telefongehäuse geschmolzen. Das Aufzeichnungsgerät der Kriminalpolizei schien unversehrt, feuerfest. Es stand auf den nassen, schmierigen Dielen. Günter dachte benommen, nun könne kein Anruf mehr durchkommen. Und er dachte, also das war der sogenannte geringfügige Brand. Er ging zur Veranda zurück, setzte sich neben Anni. Fragte: „Wie kam es dazu?“ 120
Anni zuckte die Schultern. „Weiß nicht. Es gab einen wahnsinnigen Knall, davon bin ich aufgewacht. Die große Scheibe vom Atelierfenster war geplatzt. Splitter über Splitter haben im Gras verstreut gelegen. Vielleicht sind mir welche um die Ohren geflogen. Möglich. Ich war dann wie ein Automat. Habe den Gartenschlauch geholt, Wasser angestellt, bin durchs Wohnzimmer und habe gelöscht, was noch zu löschen war. Damit hatte sich die Sache erledigt.“ Günter schwieg. Dachte, typisch Anni – spricht davon wie von einem Sprung ins Bad. Er fragte: „Und die anderen Bilder?“ „Das läßt sich noch nicht erkennen, du warst ja drin – das Atelier ist voll von schwarzem Nebel. Soviel ich bisher sehen konnte, ist keines der anderen Bilder beschädigt, aber rußig werden wohl alle sein.“ Günter dachte an Julies Porträt und an das eine Bild, das er selbst gern gehabt hätte (Georg haßte es, das hatte er Günter gegenüber einmal geäußert), das Bild mit der nackten Frau, die unbeteiligt zuschaut, wie ihr Mann mit einem weißen Mond im Strom ertrinkt. Er fragte nicht danach. Er stützte den Kopf in die Hände und fragte sehr leise: „Warum hat sie das Gemälde verbrannt?“ Ebenso leise sagte Anni: „Krista meinte, sie mußte es tun. Es durfte nicht mehr vorhanden sein. Und dann noch, daß Georg nun getrost kommen könne. Da war was Drohendes in ihrem Ton. Das gefiel mir nicht. Aber was soll einem überhaupt gefallen. Das Gemälde, ja – daraus wäre was ganz Tolles entstanden. Sie muß gestern besessen daran gearbeitet haben. Und jetzt? Alles futsch.“ Spöttisch fügte sie an: „Exitus.“ Günter ließ Anni ausreden, wartete. Nach einiger Zeit fragte er verwundert: „Du hast sie zum Sprechen gebracht?“ „Zum Sprechen …“ Anni lachte müde. „Mehr konnte 121
ich aus ihr nicht herauskriegen. Aber das bißchen erklärte sie von allein, ich habe sie nicht darum gebeten.“ Es wurde still. Günter versank in Grübeleien. Dachte an seine Eltern im Erzgebirge, die sich seit Stunden die Augen wundsehen, ob der Wagen ihres Sohnes nicht endlich die bergige Straße heraufholpert. Dachte, und wenn Julie sich nur versteckt hält? ‚Ick habe keene Person jesehn, det schwör ick Sie.‘ Wahnsinn, alles Wahnsinn. Kinder verstecken sich, um rauszukriegen, wie sehr oder wie wenig man sich um sie sorgt. Aber Julie hat das nicht nötig. Sie kennt ihre Mutter. Und kein Kind würde das böse Spiel so weit überziehen. Morddrohungen … Gestatten Sie, daß ich lache, dachte er, als spräche er noch mit Prohaska. Nebenher wurde ihm bewußt, daß Anni aufgestanden war, hierhin, dorthin ging, ohne Hast. Das tat gut. Das tat so gut, daß der Schlaf schon wieder zugreifen wollte. Anni griff in sein lockiges, nasses Haar. „Wir können essen.“ Zugleich stieg ihm der Duft von Gebratenem in die Nase, und er verspürte mächtigen Hunger. Anni sagte: „Krista sitzt schon am Tisch im Garten, hinten.“ „Wie hast du das nun wieder geschafft?“ „Sie gehorcht wie dressiert. Da war nichts zu ‚schaffen‘.“ Es gab Spiegeleier, auf Schinken gebraten. Krista beharrte, sie habe keinen Appetit, Günter nahm ihren Teller, kippte ihn kurzerhand schräg, ließ ihre Portion auf seine rutschen. Er aß wie ausgehungert. Da glitt sogar über Kristas Gesicht der Anflug eines Lächelns. Ihr Gesicht war geschwollen, die Augen rot gerieben. „Vorhin hat Kammer angerufen“, sagte Günter beim Kauen, „er läßt dich grüßen. Er wird bald wieder hier sein, er …“ Krista drehte den Kopf dem zersprungenen Atelierfenster zu, aus dem noch schwärzliche Schwaden he122
rauszogen. Sie sagte nichts. Günter aß weiter. Auch Anni. Sie hatte Tisch und Stühle in den Garten getragen, Essen bereitet aus dem, was sie in Kristas Kühlschrank vorgefunden. Die Dreiergruppe im Baumschatten ergab ein friedliches Bild, wie von Hans Thoma gemalt. Täuschung. Von Bosch könnte es stammen.
13 Armlang überließ es Prohaska, sich bei Fräulein Rammert und Herrn Jau für die Hilfsbereitschaft zu bedanken; er wußte um des Hauptmanns freundliche Art. Als ihm Prohaskas Eloge zu überschwenglich wurde, bat er Rainer Jau zu sich, sagte, Fräulein Rammert möge sich ein paar Minuten gedulden, es werde nicht lange dauern. Er betrat mit dem Kunstmaler einen kahlen Raum. Getünchte Wände, ein Tisch, zwei Stühle, helle Übergardinen vor dem Fenster; zugezogen. Ein Aufzeichnungsgerät lief. Rainer Jau setzte sich, korrekte Haltung. Die Haltung des Majors wirkte dagegen leger, fast flegelhaft. Doch wie sich der wendige, gelenkige Mann einen Fuß auf den Oberschenkel zog, mehr lag als saß, sich angelegentlich seine Fingernägel betrachtete, machte ebendiese Haltung auf Jau Eindruck. Auch darum wußte Major Armlang, er benahm sich nicht von ungefähr gerade so. Und er spürte die Intensität, mit der Jau ihn betrachtete – als wolle der Kunstmaler ihn konterfeien. „Es geht um Ihre Kollegin Krista Brigg“, begann Armlang. „Um Krista? Wieso, hat sie was verbrochen?“ „Sie kennen Frau Brigg, nicht wahr?“ „Flüchtig. Man kriegt sie kaum zu Gesicht.“ 123
„Nur flüchtig, obwohl sie doch gemeinsam in dieser kleinen Stadt leben?“ „Erlauben Sie mir, daß ich Sie berichtige“, sagte Rainer Jau. „Wir leben in einer Kleinstadt, aber wir leben nicht gemeinsam. Das möchte ich doch hervorheben.“ „Ach du lieber Himmel, nein, so war das von mir auch nicht gemeint“, sagte Armlang belustigt. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Herr Major“, sagte Rainer Jau. (Den Namen des Majors hatte er nicht verstanden.) „Hat denn Krista was verbrochen?“ „Das wollen wir rauskriegen. Wir ermitteln.“ „Gegen Krista?“ Jau betonte den Namen, sah verdutzt aus. „Davon bitte später. Zuerst muß ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Sie hatten den Beginn Ihres Urlaubs für heute geplant, ja?“ Jau räusperte sich ausgiebig. „Ursprünglich nicht. Eigentlich wollte ich gestern früh abreisen. Aber ich wollte nicht versäumen, mich von einer alten Freundin zu verabschieden.“ „Meinen Sie damit Fräulein Rammert?“ fragte Armlang, da Jau nicht weitersprach. „Das ist korrekt. Von ihr wollte ich mich verabschieden. Ich kenne sie schon lange, sie sitzt hier in Vau auf der Post.“ „Am Schalter?“ „Ja.“ „Also Sie fuhren zu Fräulein Rammert, um sich zu verabschieden. Und dann?“ „Gisela ist mir gleich um den Hals gefallen, hat mir eröffnet, daß ihr Urlaub auch beginne, allerdings erst morgen, also heute, und daß sie heute, also gestern, noch Spätdienst habe.“ Jetzt sah der Major den Kunstmaler unverwandt an. Und der Kunstmaler erwiderte den Blick ebenso. 124
„Hatte Fräulein Rammert das gleiche Reiseziel wie Sie, oder wollte sie ihren Urlaub in Vau verbringen?“ „Nein, nein. Zufällig wollte sie auch nach oder in die Gegend von Dziwnów. Sie wollte mit der Bahn fahren. Einen Wagen besitzt sie nicht.“ Nachdem Jau vom Zufall gesprochen hatte, betrachtete Major Armlang wieder angelegentlich seine Fingernägel und schien mit dem kleinen Finger der Rechten unter dem kleinen Finger der Linken etwas hervorzukratzen. Rainer Jau redete nun schneller. Sehr schnell. „Kurz entschlossen sagte ich, daß ich sie im Wagen mitnehmen würde. Darauf kam sie mir wieder mit ihrem Spätdienst, sie scheint übertrieben gewissenhaft zu sein. Also, ich dachte – mir kann ja ein Tag Ruhe auch nicht schaden, ich könnte ihr Devisen besorgen und mich gründlich ausschlafen, was ich dann ja auch tat. Ich sagte ihr das, und sie war, versteht sich, außer Rand und Band vor Freude. Mir kam die Ruhe vor der Reise wirklich zupaß. Vielleicht sollte ich – in aller Bescheidenheit – noch sagen, daß ich bis zur letzten Minute an einer ganzen Serie von Kohlezeichnungen gearbeitet hatte, für eine meiner Ausstellungen, die im Oktober stattfindet.“ „Wo wird die Ausstellung sein?“ „In Berlin!“ sagte Rainer Jau stolz. „Gratuliere! Und wie schön, daß Fräulein Rammert zufällig auch nach Dziwnów zu reisen beabsichtigte. Hatte sie schon gepackt?“ „Wieso, was soll die Frage …?“ „Verzeihung, aber für uns ist alles wichtig, was gestern in Vau geschah. Hatte Fräulein Rammert schon gepackt?“ „Nein – nein, das machten wir gemeinsam, nach ihrem Dienstschluß.“ „Wann hatte sie Dienstschluß?“ „So etwa um zwanzig Uhr.“ „Dann packten Sie gemeinsam für Fräulein Rammert die Koffer.“ 125
Rainer Jau nickte, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, steckte die Zigarette nicht an. „Wie lange kann das Packen gedauert haben?“ Jau lachte mit der Zigarette zwischen den Lippen. Auch als er weitersprach, nahm er sie nicht heraus. Es hörte sich seltsam an. „Heiliges Kanonenrohr – da habe ich nun wirklich nicht auf die Uhr geschaut.“ „Klar“, sagte Armlang, „wer guckt schon bei allem auf die Uhr. Aber wenn Sie es mir so ungefähr sagen könnten, das genügt ja vollkommen.“ „Eine Stunde wird das gedauert haben, ja, ungefähr eine Stunde, länger wohl nicht.“ „Sehr schön. Und dann? – Ich bitte Sie, mir anzuvertrauen, was dann geschah?“ „Geschehen ist überhaupt nichts. Meine Freundin war müde. Dieser Dienst, Spätdienst. Und diese Hitze. Das Bett lockte – das ist geschehen.“ „Klar“, sagte der Major wieder. Er fragte: „Und Sie – auch müde?“ Rainer Jau lächelte arglos, sprechend. Mit dem arglosen, sprechenden Lächeln sagte er: „Zu müde nicht, Herr Major.“ „Verzeihung, ich wollte nicht indiskret sein. Aber schildern Sie mir bitte kurz, wie der gestrige Tag bei Ihnen verlief.“ „Gern. Erlauben Sie eine Gegenfrage: Sagten Sie nicht, es handle sich um meine Kollegin Krista Brigg?“ „Sagte ich, und so ist es auch. Trotzdem, bitte – wie verlief Ihr Tag gestern?“ „Ich habe, wie versprochen, die Devisen besorgt, und danach bin ich zurück in Giselas Wohnung. Es ist bei ihr zwar nicht gerade gemütlich, aber ich hatte auch keine Lust, mein Haus des einen Tages wegen wieder zu entsichern. Bißchen stöberte ich in Giselas Büchern herum, denn ich lese gern, aber sie hat lediglich Trivialliteratur, 126
also habe ich mich auf die Couch gelegt und köstlich geschlafen.“ „Bis Fräulein Rammert nach Haus kam?“ „Korrekt, bis dann.“ „Gingen Sie nicht irgendwann zum Essen?“ Rainer Jau mußte sich wieder räuspern. Bekam einen Hustenanfall. Das dauerte. Major Armlang sah ihm geduldig zu. Noch immer hustend, schüttelte Jau den Kopf und sagte: „Nein, Hunger hatte ich nicht.“ „Demnach waren Sie nur in der Stadt, als Sie Devisen besorgten.“ „Korrekt – so war es.“ „Sehr schön. Und als Sie dorthin gingen, sahen Sie jemanden, der Ihnen bekannt ist?“ „Nicht, daß ich wüßte …“ „Na, ich bitte Sie, in einer so kleinen Stadt kennt doch fast jeder jeden.“ „Zugegeben, aber … Nun ja, vielleicht sah ich den einen oder anderen Bekannten, aber ich hatte keine Lust auf Unterhaltungen.“ „Es müssen ja nicht gleich Unterhaltungen sein. Doch wahrscheinlich haben Sie einen Ihrer Bekannten begrüßt – zumindest gegrüßt. Auch nicht?“ Rainer Jau räusperte sich, hustete, schüttelte dem Kopf, sagte: „Auch nicht.“ „Jaaa – das kommt vor“, sagte der Major und dachte, jetzt müsse er wohl doch Fraktur reden mit dem Mann. „Dann habe ich nur noch eine Frage. Wie war das damals, ich glaube vor einem dreiviertel Jahr, mit dem Wettbewerb im Verband Bildender Künstler?“ Jau schien amüsiert. „Ach, da müßten Sie schon konkreter werden. Von welchem Wettbewerb ist die Rede? Sie wissen, hierzulande stürzt man ja von einem Wettbewerb in den anderen.“ Der Major erläuterte, von welchem Wettbewerb die Rede sei, sagte, daß es sich um das neugestaltete Stadt127
zentrum der Bezirksstadt S. handle, um den großen Auftrag, ein Monumentalgemälde zu schaffen. Er fragte: „Von diesem Wettbewerb wußten Sie doch – oder nicht?“ „Heiliges Kanonenrohr!“ wiederholte sich Rainer Jau. „Irgendwann habe ich davon gehört, aber interessiert hat mich das nun wirklich keinen Augenblick. Seit einem Jahr arbeite ich an den Kohlezeichnungen, die ich erwähnt habe. Daneben konnte ich anderes gar nicht annehmen.“ „Und darum beteiligten Sie sich auch gar nicht erst an diesem Wettbewerb.“ „Nein – nicht im Traum wäre mir das eingefallen.“ „Sehr schön. Sagten Sie vorhin, Sie kennen Frau Brigg nur flüchtig?“ „Nein, das sagte ich nicht. Aber besonders gut kenne ich sie nun auch wieder nicht. Ist etwa was mit dem Auftrag? Soviel mir nämlich bekannt wurde, hat sie den Wettbewerb gewonnen.“ „Mit dem Auftrag ist nichts“, sagte Armlang. „Noch eine Frage fällt mir ein. Sind Sie mit Frau Marion Diener befreundet? Ich stelle die Frage anders: Sind Sie mit Frau Diener so befreundet, daß es über ein kollegiales Verhältnis hinausgeht?“ „Davor bewahre mich – weiß Gott, wer. Die Kollegin Diener tut mir leid, wegen ihrer Behinderung. Aber mit ihr befreundet?“ Armlang schwieg. „Arbeitet sie viel?“ fragte er dann. „Das kann ich nicht beantworten.“ „Weil Sie es nicht wissen?“ Jau nickte. „Wissen Sie womöglich, ob sie jemanden hat, der ihr hilft, ihre Arbeiten, wie man sagt, an den Mann zu bringen? – Die Bilder zu verkaufen … Aufträge zu bekommen.“ 128
„Auch darüber weiß ich nichts. Es wird Sie gegen mich einnehmen – aber ehrlich, ich bin gehemmt gegenüber behinderten Menschen.“ „Da sind Sie leider nicht der einzige“, sagte Major Armlang. Er stand auf. Auch Jau erhob sich. Da winkte Armlang ab. „Ich bitte Sie höflichst, noch ein paar Minuten zu bleiben. Mein Genosse Kriminalmeister Pecha wird Ihnen Gesellschaft leisten. Lange wird es nicht mehr dauern, denn – in Dziwnów wartet man schon auf Sie … nicht wahr?“ Rainer Jau nickte, lächelte. Der Major verließ den kahlen Raum. Kriminalmeister Pecha kam.
14 Die Befragung des Rainer Jau hatte eine Viertelstunde gedauert. Fräulein Rammert mußte derweil nicht warten. Hauptmann Prohaska ging mit ihr in einen der „schönen“ Räume, in dem Prohaska selbst sich gern aufhielt. Grünlich tapezierte Wände, die Ruhe gaben, ein weicher, großer Teppich in passender Farbe, helle, fast weiße Polstermöbel, gute Reproduktionen guter Maler. Zartgrüne Übergardinen, zugezogen. Das Aufzeichnungsgerät lief wieder – denn jede Stimme, jede, mußte gespeichert werden. Fräulein Rammert sagte oft, daß sie nichts begreife. Das entsprach der Wahrheit und war verständlich. Bis zur letzten Minute hatte Fräulein Rammert gewissenhaft ihren Dienst getan (auch das „schwor“ sie mehrmals), alle Kollegen und Kolleginnen beurteilten ihre Arbeitsleistungen als hervorragend. Mehrmals war sie dafür ausgezeichnet worden. Nie war sie krank gewesen, seit Jahren nicht. Nie hatte sie den sogenannten SVK-Urlaub 129
sich erschmuggelt. Überstunden hatte sie gemacht, sobald es erforderlich war, und sogar bei den Sortierern hatte sie mitgeholfen, oft Nächte hindurch, in „Stoßzeiten“, vor den Festen. Sie war immer ein Vorbild gewesen, ohne Fehl und Tadel durchs Leben gegangen, nie hatte sie auch nur einen Pfennig unterschlagen – statt dessen mitunter aus eigener Tasche zugebuttert, sobald ihr doch mal eine Fahrlässigkeit unterlaufen war – auch das schwor sie – und sie selbst nannte es Fahrlässigkeit, versuchte nicht, mit dem Trubel sich herauszureden, der oft wochenlang anhielt und nervte. Nein, Fräulein Rammert konnte nicht begreifen, warum der nette Hauptmann ihr Fragen stellte, warum man sie nicht im Wagen oder irgendwo in der Nähe des Dienstgebäudes hatte warten lassen. Ganz in der Nähe befand sich ein Café, dahin hätte man sie gehen lassen sollen, falls Rainers Antworten wirklich gebraucht wurden – doch auch daran glaubte sie nicht. Hauptmann Prohaska erklärte ihr, in der Stadt sei allem Anschein nach etwas Schlimmes passiert, und – sie möge begreifen– genaugenommen könnten die Aussagen eines jeden Bürgers von Vau wichtig sein, aber das lasse sich schwerlich machen. Fräulein Rammert begriff nichts. Fräulein Rammert sagte: „Ich finde den ganzen Zirkus entwürdigend.“ Ihr war flau im Magen. Ihre Nerven hielten nicht stand. Die vergangene Nacht war, wie sie nun wußte, für sie zu strapaziös, der Rainer war zu wild gewesen. „Können Sie sich erinnern, wann Herr Jau zu Ihnen kam?“ fragte der nette Hauptmann Prohaska. Schon ließen sich die Tränen nicht mehr zurückhalten, mit ihnen lief ihr Wimperntusche übers Gesicht (Rainer hatte ihr geraten, sich so hübsch wie möglich zu machen), sie begann zu schluchzen, schniefte, wickelte hilflos das naßgeschneuzte Taschentuch um einen Finger, wickelte 130
es wieder ab, zerknüllte es in der schwitzenden Hand. Dann antwortete sie: „Rainer ist gestern früh gekommen. Ich wollte gerade los, zum Dienst.“ „Sind Sie zu spät gekommen?“ Fräulein Rammert sah ihn entrüstet an. „Keine Sekunde bin ich zu spät gekommen. So was gibt’s bei mir nicht. Um sieben fange ich in dieser Woche an, und Punkt sieben war ich an meinem Platz.“ „Das war nicht böse gemeint, Fräulein Rammert, ich dachte nur so … Wenn man eben aus dem Haus will, und ausgerechnet in dem Moment kommt Besuch …“ Mit bockigem Schwung warf Fräulein Rammert den Kopf herum und hoch. „Ich bin nicht zu spät gekommen. Sie können ja nachfragen, wenn Sie mir nicht glauben.“ „Warum sollte ich Ihnen nicht glauben? Ich bin bereit, Ihnen alles zu glauben. Sie haben eine absolut ehrliche Ausstrahlung.“ Das freute Fräulein Rammert, sie wischte die Wimperntusche ins Taschentuch und versuchte nicht mehr zu weinen. „Wollte Herr Jau Sie zur Post fahren?“ „Wo denken Sie hin? Nein. Er wollte sich von mir verabschieden, weil er nach Polen reist. Wir kennen uns schon ewig.“ „Aha. Das war lieb von ihm, nicht?“ „Ja, das war lieb von ihm.“ „Und Sie, Fräulein Rammert, erzählen mir jetzt bitte – ganz unkonventionell –, was dann geschah.“ „Warum?“ „Das erklärte ich doch schon“, sagte Prohaska freundlich, geduldig. „Für uns ist alles wichtig, was gestern in Vau geschah.“ Fräulein Rammert sah Prohaska stupide an. Sagte: „Erst mal ist bei uns gar nichts geschehen – ich mußte ja gleich weg, zum Dienst.“ „Was sagte Herr Jau denn dazu?“ 131
Erneuter Tränensturz. Verschämtes Lächeln auch. „Er hat gefragt, altes Mädchen, dauernd rabottern, wann machst du mal Pause, machst mal richtig Urlaub?“ „Und Sie?“ „Ich habe ihm gesagt, ab morgen habe ich Ferien. In diesem Jahr bin ich mal prima dran, Ferien mitten im Sommer, das ist eine Auszeichnung für mich.“ „Und Herr Jau?“ „Warum fragen Sie dauernd nach ihm, möchte ich wissen.“ Prohaska sah sie mit langem Blick an. „Von mir aus“, sagte Fräulein Rammert. „Er meinte, daß sei wirklich echt prima, weil wir, wenn ich will, zusammen verreisen könnten … Ich habe dann noch einmal gesagt, daß ich ja erst ab morgen Ferien habe, und er – er war da im Handumdrehen einverstanden. Er hat gesagt, das mache nichts aus, dann würde er eben den einen Tag noch abwarten.“ „Aha, Sie hatten beide dasselbe Reiseziel.“ „Nein, eigentlich nicht. Ich hatte einen Ferienplatz in Plau am See, und ich wollte auch erst morgen los.“ „Nach Plau am See.“ „Ja – habe ich doch eben gesagt.“ „Und Herr Jau?“ „Herr Jau, Herr Jau … Was soll das denn bloß? Herr Jau hat mich eingeladen, mit ihm an die polnische Ostseeküste zu fahren. Hätten Sie das abgelehnt?“ „Wahrscheinlich nicht.“ Prohaska sagte es freundlich, überzeugend. „Oder ist das etwa gesetzwidrig?“ fragte Fräulein Rammert. „Keineswegs. Und genügend Geld hatten Sie auch für diese Reise.“ „Na, für Plau hätt’s gereicht. Ich hatte ja meine MaiPrämie gespart, extra dafür. Aber Rainer war so spendabel, er hat mir Devisen besorgt von seinem Geld. Natür132
lich hätte ich später meinen Anteil dazugegeben, aber im Moment fand ich das enorm lieb von ihm. Wer macht so was schon.“ „In der Tat! Das war enorm lieb von ihm. Erzählen Sie doch bitte noch ein bißchen mehr. Wie ging es dann weiter am gestrigen Tag?“ „Ich begreife nichts“, wiederholte Fräulein Rammert. Dann sagte sie: „Ich bin zum Dienst gegangen. Rainer wollte sich ausschlafen. Abends wollten wir meine Sachen packen, und danach gleich ab die Post. Das hört sich ulkig an, weil ich bei der Post bin, aber Rainer hat das wortwörtlich so gesagt.“ „Am Abend sind Sie aber nicht mehr gefahren“, sagte Hauptmann Prohaska, nachdem er gebührend über „ab die Post“ gelächelt hatte. „Das hat an mir gelegen. Ich war hundemüde. Diese Hitze bei uns auf der Post. Wir haben uns alle ein tüchtiges Gewitter gewünscht. Es kam aber kein Gewitter. Keine Wolke am Himmel, genau wie heute. Und ich hatte noch dazu Spätdienst.“ Pummlig und kurzbeinig saß sie im weißlichen Sessel, die Füße reichten nicht bis auf den Teppich. Doch, sie war hübsch anzusehen. „Also schliefen Sie sich erst einmal richtig aus“, resümierte Prohaska. Fräulein Rammert nickte sacht und beugte den Kopf so tief, daß ihr der nette Hauptmann nicht ins Gesicht sehen konnte. „Das war vernünftig von Ihnen“, sagte Prohaska und fragte: „Kennen Sie den Herrn Kunstmaler schon lange?“ „Einige Jahre. Er war mein Kunde auf der Post.“ Jetzt schien Fräulein Rammert gesprächig, beinah geschwätzig zu werden. Sie erzählte drauflos: „Er ist mir gleich aufgefallen. Sein Aussehen und seine Umgangsformen, die besonders. Sie können mir glauben, in den ganzen Jahren habe ich bei meinem Schalterdienst kei133
nen Mann kennengelernt, wenigstens keinen jungen Mann, der sich so tadellos benimmt wie er, der so galant ist, sogar zu einer einfachen Frau am Postschalter. Ich war immer richtig glücklich, wenn er reinkam. Weil man so was in unserer Zeit zu selten erlebt, so was …“ Sie wußte nicht weiter. Hauptmann Prohaska fragte: „Hat er Sie auch mal zu sich eingeladen, sein Haus zu besichtigen, oder …“ „Nein. – Das wollen wir uns für später aufheben, hat er immer gesagt.“ „Schade. Ich hätte von Ihnen gern gewußt, ob er ein Tonbandgerät hat.“ „Warum hätten Sie das gern gewußt?“ „Nur so.“ „Ich weiß das nicht. Wozu sollte er ein Tonbandgerät brauchen? Mein Freund ist Maler, Kunstmaler, das wissen Sie doch.“ „Ja, natürlich, ich kenne sogar einige Aquarelle von ihm.“ Fräulein Rammert richtete sich stolz auf. „Na bitte.“ „Und Sie? Haben Sie ein Tonbandgerät?“ „Um Gottes willen, so was Teures … Nein, ich habe nur …“ Sie stockte, sah Prohaska an, die Augen noch immer tuscheverschmiert. „Was haben Sie nur?“ „Ach, nichts. Mir war was eingefallen. Das gehört nicht hierher.“ „Trotzdem, sagen Sie mir, was Ihnen eingefallen ist, ja?“ „Es war wirklich nichts …“ Prohaska sah auf ihre Hände, die das Taschentuch zerknüllten. Er wiederholte: „Bitte, was fiel Ihnen ein. Es ist ja nicht gesagt, daß das für mich wichtig wäre.“ „Daß ich einen alten Kassettenrecorder habe, das ist mir eingefallen, weiter nichts.“ „Ach sooo … Und der funktioniert noch?“ 134
„Möglich. Ich habe ihn lange nicht mehr gebraucht. Der nutzt Ihnen bestimmt nichts.“ „Aber irgendwann haben Sie ihn mal gebraucht.“ „Ein einziges Mal. Das war folgendermaßen. Ich mußte eine Rede vor meinen Kollegen halten. Die hat mir eine Menge Arbeit gemacht, ich wollte nämlich frei sprechen, wissen Sie, was ich sagen will?“ Prohaska nickte. „Das sollte nicht abgelesen klingen, wissen Sie. Aber ich bin damit nicht hingekommen. Und da habe ich gerade zur richtigen Zeit in einem An-und-Verkauf-Geschäft den alten Kassettenrecorder entdeckt. Der war billig. Der Verkäufer hat mir erklärt, wie man mit dem Ding umgeht, und zu Hause habe ich dann darauf immer meine Rede geprobt.“ „Das würde mir auch so gehen, wenn ich vor Kollegen frei sprechen müßte“, log Hauptmann Prohaska. „Haben Sie Ihre Redeproben dann später gelöscht?“ Sie lachte, stob Luft durch die schon angeschwollene Nase, an der sie immer wieder herumrieb, und sagte: „Nein, ich weiß gar nicht, wie man die löschen kann.“ „Fein!“ sagte Prohaska. Schien intensiv nachzudenken, fragte dann – sehr nett: „Würden Sie uns diesen Recorder mal für ganz kurze Zeit zur Verfügung stellen?“ „Den Recorder ja, aber nicht das Band. Weil da noch mein Redegestammel drauf ist. Dazu kriegen Sie mich nun bestimmt nicht.“ „Gut, also nur den Recorder.“ „Muß ich den herholen? Das ist weit von hier bis zu mir.“ „Selbstverständlich nicht. Wir fahren Sie hin, wozu sind denn unsere Wagen da.“ „Mir wäre aber lieber, wenn Herr … Wenn Rainer …“ „Den sehen Sie ja gleich wieder. Und danach, wie hatte Herr Jau gesagt? Ab die Post. Auf zum Bade. Es lockt der See … wie hieß das noch … Man vergißt aber auch wirklich alles.“ 135
Fräulein Rammert freute sich über Prohaskas Charme. Sie hätte nie gedacht, daß ein Kriminaler so charmant sein kann. Leutnant Ludwig kam herein. Ihm folgte Major Armlang. Darauf hatte Prohaska gewartet. „Einen Augenblick, Genosse Hauptmann.“ Prohaska stand auf. „Sie haben es gehört“, sagte er zu Fräulein Rammert, „einen Augenblick, wir fahren dann sofort los.“ Ihr wurde mulmig. Sehr mulmig. Sie dachte, warum muß Rainer woanders sein, warum darf er nicht mit zu mir? Ich begreife nichts. Entwürdigend ist das alles. Wirklich.
15 Sie waren wieder in der „Spinnstube“ – ein anderer Raum war nicht frei. „Warum lügt Jau uns so unverschämt an“, sagte Armlang. Er setzte sich nicht. Wie ein angriffswütiger Stier stand er da; den Kopf vorgeschoben, die Hände auf die Hüften gestützt. „Ja, warum wohl“, sagte Leutnant Ludwig. „Dieses überdimensionale Warum. Erst gibt er an, Krista Brigg nur flüchtig zu kennen, einige Minuten später will er das nicht gesagt haben. Er meint, Fräulein Rammert habe auch in die Gegend von Dziwnów oder direkt dahin reisen wollen – sie erklärt, daß sie einen Ferienplatz in Plau am See hatte, daß er sie überredete.“ „Ich weiß nicht, wieso, aber ihr glaube ich“, sagte Prohaska. Armlang nickte. „Ich auch.“ „Das schärfste ist ja die Sache mit dem Wettbewerb“, sagte Ludwig. Und Armlang: „Wir hätten ihm gleich seinen Brief an 136
Rosemann unter die Nase reiben können – aber wir werden ihm den Gefallen nicht tun, vorerst noch nicht.“ „Und wie er sich für den Wettbewerb interessierte, wie gern er den Auftrag hätte haben wollen, das geht ja nicht nur aus seinem Brief, sondern auch aus dem Sitzungsprotokoll hervor“, sagte Prohaska. „Trotzdem – Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Noch haben wir keine schlüssigen Beweise.“ „Gelogen hat er auch, was seinen Aufenthalt in der Stadt angeht. Wie Sie berichteten, Genosse Prohaska, ist der Ober vom ‚Löwen‘ glaubwürdig. Uns will Jau weismachen, nur einmal in der Stadt gewesen zu sein, nämlich um Devisen zu besorgen, dabei hat er von halb zwölf bis nach vierzehn Uhr im ‚Löwen‘ ’rumgehangen, hat dort gegessen, ein Bier und drei Schnäpse getrunken, und …“, Armlang blieb scheinbar ruhig, „und uns erzählt er, den ganzen Tag über auf Fräulein Rammerts Couch geschlafen zu haben. Fast drei Stunden im ‚Löwen‘ – das vergißt man doch nicht, von einem Tag zum anderen.“ „Wenn uns nur dieser Recorder was Greifbares an die Hand gibt …“, fing Leutnant Ludwig fast beschwörend an. „Ich verspreche mir nicht viel davon“, unterbrach ihn Armlang unwirsch. „Ein Versuch mehr … Natürlich, wir brauchen auch ihn; aber – Donner und Doria – wo ist das Kind?“ „Wenn der Recorder auch nur noch den kleinsten Anhalt liefern würde …“, das war wieder Ludwig. „Dann“, setzte Armlang fort, „könnt ihr sicher sein, wird der mich kennenlernen!“ Nach einer Atempause sagte er zu Ludwig: „Sie bleiben hier, unterstützen Sie Genossen Pecha. Vielleicht widerspricht sich Jau noch öfter. Bringen Sie ihn auf Trab, zum Reden. Ich fahre mit dem Genossen Prohaska in die Wohnung der Rammert. Zum Glück ist sie einverstanden, was den Recorder angeht.“ 137
Armlang stockte wieder, sah mit angehaltenem Atem von einem zum anderen. Sagte: „Und wenn Jau das Kind in seinem Haus, in diesem verriegelten, verrammelten Haus – das er für einen Tag nicht entsichern wollte – versteckt hält … Oder da sogar …“ Den Satz konnte Armlang nicht zu Ende sprechen. Sein Gesicht färbte sich noch dunkler. Seine Stirnadern traten dick hervor. „Nein. Anders.“ Armlang stieß jedes Wort einzeln aus. „Sie, Prohaska, fahren allein mit zur Rammert. Ich lasse Jaus Haus durchsuchen. Die Anordnung zu kriegen wird leicht sein, nicht wahr?“ „Natürlich“, sagte Prohaska, „der Staatsanwalt ist auf dem laufenden.“ „Sollte es bei Jau schnell gehen, komme ich zur Rammert nach. Umgekehrt, kommen Sie zu Jau hin. Anderenfalls treffen wir uns hier wieder.“ Armlang sprach im Befehlston, er schien wieder ruhiger geworden zu sein, durch seine Überlegungen, durchs Formulieren der Ordern; doch der Anschein trog, Hautfarbe und Stirnadern sagten anderes über seine innere Verfassung aus. „Alles klar?“ fragte er wie obenhin. „Alles klar!“ antwortete Prohaska. Auch jetzt durfte Fräulein Rammert neben dem Fahrer sitzen – ein auffallend hübscher, aber ihr viel zu junger Bursche. Überhaupt interessierte sie sich im Augenblick für nichts als für Rainer. Sie gab rasch auf, sie glaubte schon nicht mehr, daß aus der Reise an die polnische Küste etwas würde; ihr war und blieb alles unbegreifbar. Sie hörte ihr Herz. Immer ist es so, dachte sie, hat man schon mal einen beglückenden Tag oder eine beglückende Nacht erlebt, kriegt man hinterher bestimmt eins auf den Deckel. Fräulein Rammerts Wohnung war klein und reinlich. Ein Zimmer, eine Küche, ein winziger Korridor. Sie war nicht zu modern und nicht zu altmodisch eingerichtet. Schlicht und gemütlich, dachte Prohaska. Er besann 138
sich, daß Jau gesagt hatte, es sei nicht besonders gemütlich bei ihr. Nun, dachte er weiter, das ist Ansichtssache. Über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten, doch es wird über nichts so viel gestritten wie über Geschmack – in jeder Hinsicht. Prohaska besann sich auch, daß Rainer Jau meinte, Fräulein Rammert besitze nur Trivialliteratur. Mal sehen, was der Mann Jau darunter versteht, dachte Prohaska. Schon auf der Treppe hatte er Fräulein Rammert gefragt, ob sie den Recorder leicht finden werde oder lange suchen müsse. Wieder leise schluchzend, hatte Fräulein Rammert geantwortet: „Der steht im Bücherregal, seit damals steht der im Bücherregal. Ich habe nicht viel Platz, was wegzustellen.“ Nun waren sie in der kleinen Wohnung. Mit einem flüchtig scheinenden Rundumschauen hatte sich Prohaska einen Überblick verschafft. Zugleich hatte Fräulein Rammert gesagt: „Ach – der steht ja ganz anders da …“ „Wie anders?“ fragte Prohaska. „Der stand doch immer mit dem Griff nach hinten, und …“ „Vielleicht haben Sie ihn beim Säubern mal umgedreht?“ fragte Prohaska – wie nebenher. Fräulein Rammert schüttelte den Kopf. Der Hauptmann sagte: „Gestatten Sie bitte.“ Fräulein Rammert nickte. Dann bestürzt – die rechte Hand knallte gegen die rechte Wange –, sagte sie: „Der ist ja ganz sauber … So sauber war der ja noch nie, nicht mal, wie ich ihn gekauft habe, war der so sauber.“ Prohaska tat, als achte er nicht auf ihr Bestürztsein. Sagte: „Spulen Sie bitte selbst das Band zurück.“ Fräulein Rammert schüttelte wieder den Kopf, energischer als zuvor; die Dauerwellen-Locken flogen ihr ins Gesicht, sie sagte: „Ich weiß gar nicht mehr, wie das gemacht wird, ich habe den ja seit damals nie mehr benutzt … Wer hat den bloß so sauber gemacht?“ 139
Prohaska lachte. „Das ist doch unwichtig. Gestatten Sie mir, das Band zurückzuspulen?“ „Muß man das, um es herauszunehmen? Ich habe Ihnen nämlich nur den Kassettenrecorder versprochen, nicht das Band. Und dabei bleibe ich.“ „So genau kenne ich mich damit auch nicht aus“, log Prohaska wieder – um Fräulein Rammert nicht noch mehr aufzuregen. „Ich versuche es einfach“, sagte er und drückte, als müsse er es ausprobieren, mal diese, mal jene Taste. Dann ließ er das Band zurücklaufen, hörte dem leisen Surren zu, drückte die Taste für die Wiedergabe. Musik erklang. Fräulein Rammert starrte fassungslos den Recorder an. Ja, sie war fassungslos, obwohl ihr schon in der Schule und auch im Beruflichen vorzügliche Auffassungsgabe bescheinigt worden war. Prohaska setzte sich. „Das ist Bach“, sagte er. „Das ist das zweite der sechs Brandenburgischen Konzerte von Bach. Phantastisch. Oder finden Sie nicht?“ Fräulein Rammert fand gar nichts. Sie mußte sich ebenfalls setzen. „Man nimmt an, Bach hat diese sechs Konzerte dem Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg gewidmet“, flüsterte der Hauptmann, „daher die Bezeichnung.“ Er stellte lauter, nahm die Hand zurück, lehnte sich an, schloß scheinbar die Augen, als wäre Fräulein Rammerts Zimmerchen ein Konzertsaal und Prohaska hergekommen, um Bach zu genießen. Unter den fast geschlossenen Lidern hervor las er, was auf den Buchrücken stand. (Einige Bücher waren beim Herausnehmen des Recorders umgefallen.) Prohaska las die Autorennamen Feuchtwanger, Tucholsky, Fallada, Dreiser, Gorki. Trivialliteratur? dachte er. Und, nein, man sollte wirklich über Geschmack nicht streiten … Er stellte den Recorder ab, fragte Fräulein Rammert, wann sie diese 140
Musik aufgenommen habe. Sie zuckte die rechte Schulter. „Es wäre schon gut, wenn ich das wüßte“, sagte Prohaska. „Aber vielleicht haben Sie den Zeitpunkt vergessen?“ „Das hätte ich nicht vergessen“, antwortete sie betrübt. „Ich habe den Kassettenrecorder nach meiner Rede nie mehr angestellt. Und meine Rede, das liegt schon über zwei Jahre zurück. Außerdem würde ich so langweilige Musik nicht aufnehmen, die gibt mir nichts, auch wenn es zehnmal Bach ist. Und Sie mich für einen Kunstbanausen halten.“ „Durchaus nicht! Wenn ich mir zum Beispiel Ihre Bücher ansehe … Gehören Sie Ihnen – oder ausgeliehen?“ „Das sind meine.“ „Drehen wir das Band doch einmal um“, sagte Prohaska nett. „Möglicherweise ist Ihre Rede auf der anderen Bandseite. Würden Sie es bitte umdrehen.“ „Ich weiß doch nicht, wie man das macht. Und ich will auch nicht, daß Sie sich mein Gestammel von damals anhören, wenn das auf einer anderen Seite sein sollte.“ „Das wäre nun wirklich nicht das schlimmste“, versuchte Prohaska sie zu überzeugen. „Solange man auswendig lernt, stammelt man eben, bis man es intus hat. Denken Sie, mir würde es anders gehen?“ Er nahm die Kassette heraus, wendete sie, setzte sie von neuem ein, sah, daß er nicht zurückzuspulen brauche, drückte die Wiedergabetaste. Lauschte. Sagte: „Nichts. Die andere Seite des Bandes ist leer.“ Er machte eine Pause. Fragte schließlich: „Und wer den Recorder gesäubert hat, können Sie sich nicht erklären?“ Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht Herr Jau?“ „Ach, nein, der ist doch nicht so pingelig.“ „In Ordnung, Fräulein Rammert. Lassen wir es erst 141
genug sein. Ich habe noch ein paar andere Fragen, ganz kurz. Hat Herr Jau zu Ihnen von einem großen Auftrag gesprochen? Oder von einem Wettbewerb besonderer Art?“ „Herr Jau ist doch kein Angeber“, sagte Fräulein Rammert. „Von Kohlezeichnungen für eine seiner Ausstellungen hat er gestern früh erzählt. Nur Kohlezeichnungen … Das hat er erzählt, weil er mir erklären wollte, warum er sich vor der Reise noch einen Tag ausruhen möchte.“ „Von seiner Kollegin Krista Brigg hat er aber manchmal geredet?“ „Nein, wieso?“ „Kennen Sie Krista Brigg?“ Wieder zuckte sie die Schultern. „Kennen? Nein. Mir fiel mal eine Kundin auf, weil sie so anders aussah, als man hier in Vau aussieht, ich meine, sie war anders angezogen. Meine Kollegin hat gesagt, das ist die Malerin Krista Brigg gewesen. Ob das gestimmt hat, weiß ich nicht und auch nicht mehr.“ „Kam Frau Brigg oft zur Post?“ „Kann ich nicht sagen. Ich habe ja nicht dauernd Dienst.“ „Wissen Sie etwas über Herrn Georg Brigg?“ „Ja, ich glaube, der war früher mal Reporter oder so was. Früher hat er öfter Telegramme aufgegeben … Jetzt schon lange nicht mehr.“ „Und Sie sahen Frau Krista Brigg nur das eine Mal, ja? Entschuldigung, bitte …“ Die Türglocke läutete. Major Armlang kam. Er bat den Hauptmann zu sich hinaus. Sagte, man habe mehr als zwei Dutzend Skizzen vom Stadtzentrum S. bei Rainer Jau gefunden. „Doch beteiligen wollte sich Herr Kunstmalermeister nicht – was?“ Drei Leute von der Spurensicherung gingen zu Fräulein Rammert in die Wohnung. Einer der drei befaßte 142
sich sogleich mit dem Telefon, fragte – er hatte eine mädchenhafte Stimme – wann Fräulein Rammert zuletzt telefoniert habe. Sie sagte, das sei mindestens eine Woche her. „Das ist ein Diensttelefon; ich benutze es nicht oft.“ Major Armlang hatte mitgehört, war inzwischen über den Zustand des Recorders durch Prohaska informiert. Er fragte Fräulein Rammert, ob Herr Jau bei ihr zu Mittag gegessen habe, gestern. „Nein, glaube nicht … Aber es war genügend da, ich habe ihm das noch im Kühlschrank gezeigt, eh’ ich zum Dienst gegangen bin, und wo Kartoffeln sind, habe ich ihm auch gezeigt, und auch den Reis im Kochbeutel, wenn er keine Lust haben sollte zum Kartoffelschälen … Ich habe ihn gar nicht gefragt, aber gegessen hat er bestimmt nichts davon, ist ja noch alles da.“ Obwohl sie nur noch leise sprechen konnte und den Mann beobachtete, der ihr Telefon bepinselte, gab sie die Antwort mit einiger Bravour, als müßte dem armen Rainer das helfen. „Den Recorder leihen wir uns für kurze Zeit aus“, sagte Armlang, „dazu hatten Sie sich ja bereit erklärt.“ Ein Mann der Spurensicherung ließ Recorder und das dazu gehörende Kabel in eine Plastiktüte gleiten. „Sie kriegen ihn selbstverständlich wieder.“ Fräulein Rammert erhob keinen Einspruch mehr wegen des Bandes. Auch Armlang sah sich die Buchtitel, die Autorennamen an. Dann verständigte er sich mit Prohaska wieder durch einen Blick. Zu Fräulein Rammert sagte Armlang: „Halten Sie sich uns bitte noch zur Verfügung. Wir müssen ein Protokoll anfertigen, das Sie unterschreiben. Wäre nicht nötig gewesen, wenn wir mehr Leute hätten, aber alles, was Beine hat, ist im Einsatz. So müssen Sie auf der Dienststelle wiederholen, was Sie dem Genossen Hauptmann hier sagten.“ „Wir verstehen uns, ja?“ fragte Prohaska. 143
Fräulein Rammert nickte abwesend. „Gut möglich“, sagte der Hauptmann, „daß Sie schon ab morgen Ihren Ferienplatz in Plau am See nutzen können.“ Und noch netter, aufmunternd, fügte er an: „Übrigens, Plau am See ist sehr schön.“ „Gemütlich haben Sie es“, sagte Armlang – und er meinte das ehrlich. Doch ihm selbst klang es wie Hohn. Fräulein Rammert sah nicht hin, als die Männer ihre Wohnung verließen. „Wir geben Ihnen bald Bescheid“, sagte jemand. Dann fiel die Korridortür zu. Fräulein Rammerts Knie knickten ein. Sie saß kerzengerade auf der Couch, wußte, daß sie nichts begriffen hatte und nichts begreifen würde. Glaubte, keinen Gedanken mehr fassen zu können – aber in ihrem Kopf wirbelten Erinnerungen hoch. In der Couch hing noch der süße Duft von Rainers Haarwasser. Auf dieser Couch hatten sie die himmlische Nacht erlebt. Auf dieser Couch hatte Rainer ihr gesagt, sie würde wohl noch in jedem Mann einen Sexsturm entfachen. Er hatte sie mit zärtlichen Händen an sich gezogen, und sie hatte sich ihm „hingegeben“. Fräulein Rammert versuchte nachzuzählen, wie oft sie sich ihm hingegeben hatte. Sie verzählte sich immer wieder – sie kam mit ihren Fingern beim Zählen nicht zurecht. Plötzlich drang neben dem süßen Geruch des Haarwassers eine Erinnerung in sie ein – vielleicht wäre sie umgekippt, wenn sie sich nicht hätte auf die Couch zurückfallen lassen können. Sie erinnerte sich, daß ihr gestern kurz vor Dienstschluß irgendwer irgendwas von einem ermordeten Kind erzählte. Sie hatte – auch das begriff sie heute nicht mehr – mit keinem Wort nachgefragt. Oder wußte nur kein Mensch Genaues? Zu der Zeit war sie längst mit jedem Gedanken bei Rainer und bei der großen bevorstehenden Reise, beim Kofferpacken gewesen. Sie hatte sich zusammenreißen müssen, damit ihr bei der Tagesabrechnung kein Fehler unterlief. 144
Jetzt blickte sie verwirrt aufs Kreuzstichmuster ihrer Tischdecke, bemerkte, daß die bauchige Vase nicht wieder dahin gestellt worden war, wo sie stehen mußte. Prohaska hatte sie zur Seite geschoben, als er sich mit dem Kassettenrecorder beschäftigte, der auf einmal langweilige Musik von sich gab … Sie wollte das mit der Vase in Ordnung bringen, fühlte sich aber zu kraftlos, um aufzustehen. Langsam begann sie ein Selbstgespräch: „Denkt ihr etwa, Rainer … Nein! Nein! Das ist ja die größte Schweinerei, die sich überhaupt denken läßt. Rainer bringt doch kein Kind um! Wie kommen die darauf. Aber die sind bestimmt auf so was aus. Darum das alles. Ist das eine gemeine Schweinerei! Wirklich, und wenn die bloß so einen gemeinen Verdacht hätten … Schon für den Verdacht allein müßte man die Rothaut bestrafen! Oder?“ Mit der Rothaut meinte Fräulein Rammert Major Armlang, der ihr äußerst unsympathisch war. Dagegen war der Hauptmann nett. Auch seinen Namen hatte sie sich sofort gemerkt – denn sie dachte an einen Roman, den sie in ihrer Jugend mehrmals las. Da kam ein Mädchen vor, das auch Prohaska hieß. Eleonore Prohaska! Es war, als Mann verkleidet, in einen Krieg gezogen (in welchen, wußte Fräulein Rammert nicht mehr), hatte sich in einen Leutnant verliebt und – sterbend – ihm zugeflüstert: „Herr Leutnant, ich bin ein Mädchen!“ Das fand sie herzergreifend, das konnte Fräulein Rammert nie vergessen.
16 „Natürlich auch bei Jau keine Spur von dem Kind, nicht wahr?“ fragte Hauptmann Prohaska den Major während der Rückfahrt zum Dienstgebäude. 145
„Nein. Doch natürlich kommt mir überhaupt nichts mehr vor, nachdem ich beide, Jau und die Rammert, gehört habe, sonst hätte ich mir keine Anordnung geholt, Jaus Haus zu durchsuchen.“ Die Antwort des Majors klang abwehrend. Er blickte dann auch aus dem Wagenfenster, um zu verdeutlichen, daß er in seinen Überlegungen nicht gestört werden wollte. Der Hauptmann sagte trotzdem: „Die Trivialliteratur bei der Rammert haben Sie auch gesehen.“ Der Major nickte und schwieg. „Hat Jau ein Tonbandgerät?“ fragte Prohaska. „Hat er.“ „Und das Band, das einliegt – oder die Bänder?“ „Musik. Etwas Barock – von wem, weiß ich nicht, ich kenne mich darin nicht so aus. Und viel Rock.“ „Bei Fräulein Rammert auch Barockmusik. Bach. Obwohl sie ihre Rede von vor zwei Jahren draufgesprochen …“ „Ja, ich weiß“, wehrte Armlang wieder ab. Nach einer Weile drehte er sich zu Prohaska. „Diese Knackgeräusche, die wir aus dem von Bernhards festgehaltenen Gespräch haben und von denen auch Frau Brigg gesprochen hat, wie Bernhards sagten, die kamen weder von einem Tonbandgerät, noch war es das bei Telefonaten häufig auftretende Knacken. Aber vom Recorder könnten sie durchaus sein. Übrigens, das sagte ich Ihnen noch nicht – in Jaus Wagen wurden nasse, fast noch nasse Handschuhe gefunden.“ „Der Wagen steht bei uns“, sagte Prohaska und fragte: „Konnte Jau sehen, daß man an seinem Wagen …“ Ein Für-wie-doof-halten-Sie-uns-Blick des Majors brachte den Hauptmann zum Schweigen. Der Dienstwagen bog in den großen quadratischen Hof ein. In der Tür stand Leutnant Ludwig. „Bernhard hat vor Minuten wieder angerufen. Frau Briggs Telefon ist hinüber“, sagte er. „Es muß doch ein ganz schöner Brand gewesen sein.“ 146
„Was macht Jau?“ fragte Armlang. „Der spricht nicht mit jedem. Mit uns jedenfalls nicht, nachdem er zurückgebracht wurde, also nach der Durchsuchung seines Hauses.“ „Das kriegen wir“, sagte Armlang, „der soll sich keinen Fleck ins Hemd machen, was wurde denn schon durchsucht.“ „Noch was?“ fragte Prohaska. „Aus Leipzig wurde die Aufnahme einer Befragung bei Verwandten von Georg Brigg überspielt. Entfernte Verwandte, solche um sechs Ecken.“ „Höre ich mir an, ehe ich wieder zu Jau gehe. Und einen starken Kaffee brauche ich auch.“ Der Major knöpfte drei Knöpfe seines Hemdes auf. Der Kaffee wurde gebracht. Das Band eingesetzt, das Gerät angeschaltet. „Der Brigge Georsch bei uns? Nee, der dut niemals zu uns kommen, der nich. Den ham mir seid Jahrn nich mehr zu Gesicht gegricht. Der hat doch mit unsereenem nischt im Sinn. Also das könn Se nu wirklich glom. Seit Jahr und Dach sin mir mit dem nich mehr gut. Der gricht doch de Gusche nich uff. Das eenzche, was der kann, das ist doch, anständsche Leite vergraulen. Weeß Knäppchen, das kanner, mehr nich.“ „Ich nehme an, das kann man ‚glom‘ “, sagte Leutnant Ludwig. „Stellen Sie ab! Aber die sollen auch an diesen Verwandten dranbleiben, die Leipziger“, sagte Armlang. „Das tun sie. Da sind noch mehr Aufnahmen, von Kollegen des Georg Brigg, aber nichts Hilfreiches für uns dabei. Die krempeln halb Leipzig um.“ „Dann will ich davon im Moment nichts weiter hören. Ist Leutnant Schanz hier?“ „Ja, der hat sehr eingehend mit dem Chefredakteur gesprochen. Drüben liegt das Protokoll. Wollen Sie es 147
lesen, Genosse Major? Die Stimme haben wir gesichert. Wollen Sie hören?“ fragte Ludwig. „Nein, berichten Sie – aber bitte, kurz, wenn nichts bei rausgekommen ist.“ „Es ist nichts dabei herausgekommen. Der Chefredakteur zeigt sich fest von der Zuverlässigkeit des Reporters Brigg überzeugt. Daß Brigg aber nach dem, wie Globb meint, ausgezeichneten Interview mit dem iranischen Ringer von der Bildfläche verschwand, daß er über den ersten Hauptkampf keine Reportage durchgab, ist auch dem Chefredakteur rätselhaft.“ „Und Rätselraten ist mein Lieblingssport“, sagte Armlang trocken, ironisch. Danach: „Also auf zu Jau. Ich bitte Sie, alle mitzukommen.“ Sie gingen über den langen Korridor. Prohaska fragte Ludwig, ob Rostock nichts Neues meldete. „Neues wohl“, antwortete der Leutnant, „aber auch nichts Erfreuliches. Die Großeltern des vermißten Kindes sind total verstockt. Der Großvater war morgens weg, ist inzwischen wieder auf Hiddensee. Doch den Mund machen die beiden Alten nicht auf. Die Genossin Funkel, jetzt im Bereich Rügen, hat sich noch nicht wieder gemeldet. Daß sich der Architekt Kammer in Rambin mit der Polizei in Verbindung setzte, wissen Sie.“ Prohaska nickte. Ludwig sagte: „Kammer ist unterwegs nach Vau.“ Sie kamen vorbei an Eltern und Lehrern, die von neuem auf Nachricht warteten. Man konnte ihnen keine Auskünfte geben. Keine Auskünfte sind den Gerüchten bekömmlichste Nahrung. Das wußten sie. Doch sollten sie sagen, das Kind sei noch immer vermißt, es bestehe kaum noch Hoffnung, es zu finden, lebend? Armlang versuchte, die Fragenden – auch die fragenden Augen – zu beschwichtigen. Es war sinnlos. Er sah es ein. Er sagte: „Schanz soll den Laborbericht bringen, sobald der vorliegt.“ Dann stieß er die Tür des kahlen 148
Raumes auf, in dem Pecha schweigend beim schweigenden Jau saß. Stühle wurden hereingetragen. Die Kriminalisten nahmen Platz. Jau schien offensichtlich irritiert, mit einemmal von vier Kriminalisten umgeben zu sein. „Warum haben Sie gelogen – Herr Jau?“ Armlangs Frage knallte. Konziliant fragte Rainer Jau nach einer Pause zurück, warum er hätte lügen sollen. „Das wollen wir wissen. Exakt das Warum“, sagte Armlang. Jau entgegnete: „Sie können mich steinigen, ich habe nicht gelogen.“ „Gesteinigt wird hier nicht“, sagte der Major, „nur gefragt. Fräulein Rammert wollte also wie Sie nach Dziwnów?“ „Das wollte sie.“ „Sie bleiben dabei.“ „Ja. Ich war kaum in der Wohnung, da hat sie mir gesagt, daß sie nach Polen, in die Gegend von Dziwnów, reist.“ „Das hat sie nicht.“ Rainer Jau lächelte. „Waren Sie dabei, Herr Major?“ „Fräulein Rammert hat einen Ferienplatz in Plau am See. Dorthin wollte sie.“ „Dann hat sie mich beschwindelt“, sagte Jau mit ehrlichstem Gesicht. „Mir hat sie gesagt, sie fährt nach Dziwnów, mit der Bahn.“ „Hatten Sie das irgendwann vorher mit ihr abgesprochen?“ „Nein. Ich habe doch vorhin schon gesagt, es war reiner Zufall.“ „Warum denken Sie sich so eine Zufallsgeschichte aus. Nehmen Sie wirklich an, wir kaufen Sie ihnen ab.“ „Ich habe mir keineswegs was ausgedacht. Aber gerade Sie müßten doch wissen, daß unser ganzes Leben aus 149
Zufällen besteht. Das fängt mehr oder weniger schon mit unserer Geburt an.“ „Sie kommen vom Thema ab.“ „Angefangen haben Sie damit, Herr Major.“ Jau zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch zur Decke. Dann war Stille. Armlang, der Jau gegenüber am Tisch saß, stieß plötzlich das Kinn vor, preßte sich die Fäuste gegen den Brustknochen, fragte: „Sie lieben Barockmusik, ja?“ „Mitunter höre ich sie ganz gern. Bei mir ist das Stimmungssache, wissen Sie?“ „Ja, so was kenne ich. In Ihrem Tonbandgerät liegt aber ein ganzes Band voller Rock ’n’ Roll auf.“ Rainer Jau mußte lachen, schüttelte sich vor Lachen. Fragte endlich: „Strafbar, in meinem Alter, Opa?“ „Von welchem Sender kam die Bach-Musik, die Sie gestern auf Fräulein Rammerts Kassettenrecorder aufnahmen?“ „Waaas habe ich?“ „Bitte, keine Rückfragen. Sie wissen, was Sie taten – und ich spreche deutlich genug.“ „Sie sprechen sogar sehr deutlich“, sagte Jau. Das klang wie ein Kompliment. „Und ich weiß auch genau, was ich tat, da haben Sie recht. Giselas Kassettenrecorder habe ich überhaupt nicht angefaßt.“ Der Major nickte. „Sososo.“ Leutnant Ludwig und Hauptmann Prohaska wechselten rasche Blicke, wie im Vorbeistreifen. Unwillkürlich sah der Major zur Tür. Er wartete auf den Laborbefund. Rainer Jau sagte, ohne sein selbstsicheres, konziliantes Lächeln zu verlieren: „Über meinen langweiligen Tagesablauf Ihnen zu berichten, hatte ich vorhin schon die Ehre, Herr Major. Bevor man mein Haus auf den Kopf stellte. Auch daß spätabends das Bett lockte – wissen Sie. Ja …“ Er stockte. Schwieg. Sagte dann auf höfliche Art dreist: „Ich hab’ die Dame durch und durch gebumst, Opa.“ 150
Nun stockte den Kriminalisten der Atem. ,Ich hab’ die Dame durch und durch gebumst, Opa.‘ ,Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg.‘ Wozu waren die Sprachanalytiker noch am Werk, Wort- und Silbenabstände zu prüfen? Rainer Jau deutete die betroffenen Gesichter falsch. Er fragte: „Habe ich Sie etwa beleidigt, Herr Major?“ „Womit?“ fragte Armlang ruhig. „Weil Sie Opa sagten? Mann, das kann mich nicht beleidigen, ich bin Opa. Und es freut mich, das zu sein.“ „Na ja, ich dachte, Sie könnten sich unter bumsen vielleicht nichts mehr vorstellen.“ „Kommen wir noch einmal zum gestrigen Tag. Sie besorgten Devisen für Fräulein Rammert und haben danach deren Wohnung nicht mehr verlassen. Das stimmt, ja?“ Etwas hilflos geworden, sah Jau jetzt von einem zum anderen, sagte aber noch mit Bravour: „Das stimmt!“ „Sie waren nicht zum Mittagessen in einem Lokal?“ Jau verneinte mit Kopfschütteln. „Es ist nicht zu Ihren Gunsten, Herr Jau, daß Sie fortgesetzt lügen.“ Der Major wartete eine Entgegnung ab. Die blieb aus. Er sagte: „Sie waren im ‚Löwen‘. Dort haben Sie zu Mittag gegessen, ein Bier und drei Schnäpse getrunken.“ „Hätte ich das nicht dürfen?“ fragte Jau – bemüht, seine zunehmende Verwirrung zu überspielen. Er blies dem Major den Rauch seines letzten Zigarettenzuges ins Gesicht, bevor er die Zigarette ausdrückte. Armlang war dadurch nicht zu beeindrucken. Fragte: „Waren Sie nun, oder waren Sie nicht?“ „Nein“, kam prompt die Antwort. „Sie waren, mein Herr“, sagte Armlang. „Wir haben den Ober befragt.“ „Typisch, daß dem Kneiper geglaubt wird, einem Künstler dagegen nicht, wirklich typisch.“ 151
„Für wen oder für was?“ Jau winkte lässig ab. „Keine Antwort? Sehr aufschlußreich. Doch halten wir erst einmal fest, Sie waren Ihrer eben gemachten Aussage zufolge nicht im ‚Löwen‘.“ Hauptmann Prohaska mischte sich ein: „Sie haben aber auch von dem Angebot Ihrer Freundin, sich aus Ihrem Kühlschrank zu bedienen, keinen Gebrauch gemacht.“ Jau brubbelte: „Diese Mondkuh.“ Laut sagte er: „Nennen Sie die Rammert nicht meine Freundin. Ich habe Fräulein Rammert als Freundin nicht nötig.“ „Aha. Also sagen wir: Ihre Beischläferin. Und Ihre Beifahrerin – zumindest bis kurz nach Vau.“ An der Tür nahm Pecha die Laboranalyse in Empfang und reichte sie Prohaska, der überflog sie im Weitergeben. Auch Armlang tat, als genüge ihm ein Blick auf die Ausführungen. Er las das Wesentliche. Er dachte, wenn jetzt nur rasch die Stimmanalyse käme. Sobald wir mit der Stimme klarsehen, haben wir den Entführer oder die Entführerin! Haben wir sie, kriegen wir das Kind – lebend oder … Er fragte Rainer: „Haben Sie gestern Ihren Wagen gewaschen?“ „Wo denken Sie hin?“ fragte Jau zurück, anscheinend durch den Wahrheitsgehalt seiner Antwort von neuem in gute Stimmung versetzt. „Seit Tagen habe ich den nicht mehr gewaschen, das hätte doch keinen Zweck bei dem Staub auf allen Straßen.“ „Richtig, das hätte keinen Zweck gehabt“, stimmte der Major zu. Seine Fäuste hatten sich geballt, es wurde ihm nicht bewußt. Er atmete tief durch. Faßte sich. Fragte: „Und das Gerät war auch nicht in Ihren Händen?“ „Welches Gerät?“ „Fräulein Rammerts Kassettenrecorder.“ „Wozu … Wozu sollte ich das alte Ding – in Händen gehabt …“ 152
Jetzt fängt er an zu schwimmen, dachte Prohaska. Armlang sagte: „Warum haben Sie den Recorder gereinigt?“ „Vielleicht, weil er dreckig war.“ Jau stöhnte scheinbar gelangweilt. „Aha“, sagte Armlang zunächst nur. Dann fragte er: „Wie macht man das, ein Gerät reinigen, ohne es anzufassen?“ Jau schwieg. Zündete sich die nächste Zigarette an. Da sagte ihm der Major auf den Kopf zu: „Sie haben den Recorder gestern mit Fitwasser gereinigt, Recorder und Kabel.“ Jau versuchte zu lachen. Es gelang ihm nicht, wie er wünschte. Armlang fragte: „Waschen Sie Ihren Wagen auch mit Fitwasser?“ „Nein, dafür habe ich Spezialmittel.“ „Sehr schön“, sagte Armlang. Brauchte eine Pause. Fragte danach: „Und nun erklären Sie uns bitte, wie es möglich ist, daß sowohl Fräulein Rammerts Recorder, ihr Telefon und die in Ihrem Wagen gefundenen, fast noch nassen Handschuhe, exakt dieselben Fitwasserspuren aufweisen. Sollte Fräulein Rammert ihren Recorder, ihr Telefon gereinigt und dabei Ihre Handschuhe benutzt haben?“ „Warum sollte sie nicht?“ fragte Jau zurück. „In der Nacht oder wann?“ Armlangs Stimme war schneidend geworden. Jau schwieg, rauchte hastig. „Schade für Sie, daß Ihnen unsere Leute von der Spurensicherung um einige Längen voraus sind“, sagte Armlang. „Am gestrigen Tage wurden Ihre Handschuhe fitwassergetränkt. Fräulein Rammerts Recorder und Telefon fitwassergereinigt. Sie trugen bei der Reinigung die Handschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. So gewieft sind Sie immerhin, nicht wahr?“ Jau schwieg weiter. Armlang drehte sich zu Pecha um. „Bitte, Genosse Kriminalmeister.“ 153
Pecha ging und kam zurück mit den Handschuhen und dem Recorder. Armlang legte beides vor Jau auf den Tisch. Jau fragte, und er tat wieder, als säße er noch hoch zu Roß: „Was wollen Sie mir denn damit beweisen?“ Bevor Armlang antworten konnte, kam Leutnant Schanz, legte vor Armlang etwas hin, das einer Akte ähnlich sah. Armlang las. Dann ging er zum Waschbecken, schlug sich Wasser ins Gesicht. Nur allmählich wurde das Wasser kalt. Er trocknete sich Gesicht und Hände. Er nahm die Akte hoch, knallte sie auf den Tisch zurück, stützte sich mit ganzem Körpergewicht darauf: Fixierte Jaus Gesicht, bis der den Kopf senkte. Was einer Akte ähnelte, kam von den Sprachanalytikern. Sie bescheinigten, daß der letzte bei Krista Brigg aufgenommene Anruf mit den Worten: Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg! mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Rainer Jau gesprochen wurde. „Silben- und Wortabstände von Jaus Sprechweise lassen kaum noch Zweifel zu. Auch durch Veränderungen der Sprachhöhe ist kein anderes Timbre zu erreichen als das, welches Rainer Jau eigen ist.“ Während Armlang unbeweglich dastand, die Faust auf der Analyse, fragte Prohaska, als gäbe es da wirklich noch einen Ausweg für den Kunstmaler: „Könnte vielleicht Fräulein Rammert einige – so besondere – Privatgespräche geführt haben?“ „Möglich, sie sitzt doch den ganzen Tag am Telefon“, antwortete Rainer Jau unverfroren. „Ist das Ihr Ernst?“ fragte Prohaska. „Lassen wir das bitte einen Moment ruhen“, sagte Armlang, als Jau nichts entgegnete. „Sie, Herr Jau, haben gelogen, als Sie behaupteten, nur einmal, nämlich um Devisen zu besorgen, Fräulein Rammerts Wohnung verlassen zu haben. Sie waren gestern etwa drei Stunden im ‚Löwen‘, was uns Ober und Geschäftsführer bestätig154
ten. Sie logen in Sachen Handschuhe, Recorder und Telefon. Logen Sie auch, als Sie behaupteten, beim Gang durch die Stadt keinen Bekannten getroffen zu haben?“ „Ich sage nichts mehr. Mir wird ja doch nicht geglaubt, und wenn ich hundert Wahrheiten aufzähle. Ich will einen Anwalt, einen Pflichtverteidiger oder wie das hier gehandhabt wird.“ Leutnant Ludwig fragte: „Bleiben Sie auch dabei, daß Fräulein Rammert wie Sie, zufällig, nach Dziwnów reisen wollte?“ Jau nickte schwach. Prononciert, langsam, sich beherrschend, die Faust noch immer aufgestützt, ohne Jau auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, sagte der Major: „Herr Kunstmaler, ich habe Ihre Widersprüche und Ihre Gehirnschnörkel satt. Nicht Fräulein Rammert, die, wie man weiß, gerade in der Zeit zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr den dichtesten Arbeitsandrang zu bewältigen hat, führte in dieser Zeit so besondere Privatgespräche – was Ihnen Hauptmann Prohaska eben anbot –, sondern Sie und allein Sie stehen unter dem dringenden Verdacht, Ihre Kollegin Krista Brigg in abscheulichster Weise mit Anrufen … na, sagen wir, belästigt zu haben.“ Armlang ging einen Kreis um Tisch und Rainer Jau, sagte: „Eigentlich schade, daß Sie die Anrufe löschen mußten, um Bach aufzunehmen, was doch gar nicht Ihrer Liebe für Rock ’n’ Roll nahekommt. Sie hatten Ihre Stimme so perfekt als Frauenstimme verstellt – nicht wahr?“ Keine Antwort. „Damit hätten Sie Furore machen können“, fügte Armlang an. Jau sah nicht hoch. Der Major sagte: „Aber wissen Sie, mit verstellter Stimme ist das ebenso heikel wie mit verstellter Handschrift … Für Fachleute kaum ein Problem, dem Urheber auf die Schliche zu kommen.“ Arm155
lang sprach auf Jaus gebeugten Kopf, Jau rührte sich nicht; die lang gewordene Zigarettenasche fiel ab. „Es traf sich für Sie ganz gut“, sprach Armlang weiter, „daß Fräulein Rammert ein Diensttelefon hat, was allerdings nicht für Morddrohungen vorgesehen ist. Doch von Ihrem Haus aus hätten Sie die Abscheulichkeit gar nicht veranstalten können, da Sie, trotz gewisser Wohlhabenheit, bis jetzt noch keinen Telefonanschluß bekamen.“ Schweigen. Großes, allgemeines Schweigen. Danach fing wieder Major Armlang an: „Und jetzt zur Sache. Wie war das mit dem Wettbewerb, an dem Sie absolut kein Interesse zeigten?“ Es wurde Jau nicht bewußt, daß er die Hände knetete, daß ihm die Sonnenbrille gleich von der Nasenspitze fallen mußte, daß er schnell und heftig atmete, daß ihm das durchgeschwitzte hellblaue Hemd auf der Haut klebte. Er hob nicht den Kopf, er sagte leise: „Ich hatte kein Interesse, was geht mich so ein Auftrag an, ich schwimme im Geld, wenn Sie es genau wissen wollen.“ „Ja, das wollten wir genau wissen“, sagte Armlang, „und wer viel hat, der viel will, das ist uns auch bekannt. Wenn Sie aber gerade an diesem Auftrag kein Interesse gehabt hätten, warum fertigten Sie dann über zwei Dutzend Skizzen von ebendiesem Stadtzentrum an?“ „Die sind Jahre alt.“ „Wie viele Jahre sind die alt?“ „Fünf oder sechs – oder noch älter.“ „Herr Jau, Sie lügen doch schon wieder. Daß die Skizzen nicht so alt sind, haben unsere Experten festgestellt. Denen war das eine relativ leichte Arbeit. Vor allem aber sah vor fünf oder sechs Jahren oder vor noch längerer Zeit dieses Stadtzentrum noch ganz anders aus. Es wurden die Arbeiten der Neugestaltung erst vor zwei Jahren abgeschlossen.“ „Na und, was soll das beweisen?“ fragte Jau. Die Kriminalisten sahen einander verdutzt an. 156
„Die Frage nach dem Beweis ist zumeist das beste Gleitmittel ins Geständnis“, sagte Prohaska. Er gab Pecha ein Zeichen. Der verließ den Raum, kam kurz danach zurück, gab Armlang Papiere. „Das sind Beweise, Herr Kunstmaler!“ sagte Armlang schneidend. Er legte Jau das Sitzungsprotokoll und Jaus handgeschriebenen, an Rosemann gerichteten Brief hin. Rainer Jau verlor den letzten Rest seiner lange aufrechten Haltung. Armlang sagte: „Sie, mein Herr, waren an diesem Auftrag interessiert wie kaum ein anderer Ihrer Kollegen. Das geht einwandfrei aus diesen Schriftstücken hervor. Oder wollen Sie auch die verleugnen?“ „Rosemann ist ein Stück Scheiße.“ Jau schien nur noch flüstern zu können, als habe es ihm die Stimme zerschlagen. „Jedenfalls haben Sie Frau Brigg diesen Auftrag nicht gegönnt, geben Sie es zu.“ „Jaja, gebe ich zu, weil die sich ihre Aufträge aus den Betten holt. Darum.“ „Wir sind nicht so schlecht informiert, wie Sie glauben“, sagte Prohaska, als er sah, daß Armlang seinen Hals massierte und annahm, Armlang könne im Moment nicht weiter. „Es war der erste Wettbewerb, an dem Frau Brigg sich beteiligte, somit der erste Auftrag, den sie annahm. Und Sie haben die Stirn, uns zu erzählen, sie hole sich ihre Aufträge – Sie benutzten den Plural – aus den Betten?“ Armlangs Halsschlagader pulsierte rasend. Schanz und Ludwig sahen es. So leise, im Flüsterton, Jau gesprochen hatte, so laut und schneidend stellte der Major seine nächste, die entscheidende Frage – er brüllte fast: „Herr Jau – haben Sie Ihre Kollegin Brigg angerufen?“ Jau schüttelte matt den Kopf. Schweißtropfen rannen ihm übers Gesicht. 157
„Herr Jau – haben Sie Frau Brigg bedroht, die elfjährige Tochter Julie zu ermorden?“ Pecha sah auf, sah genau hin. Jau schüttelte den Kopf wie zuvor. Und jetzt versank seine gespielte Souveränität, stetig, wie ein Eisenbolzen im Moor. Armlang beobachtete ihn dabei. Ohne Nachsicht brüllte Armlang: „Wo haben Sie das Kind versteckt?“ „Ich habe kein Kind versteckt.“ „Wo ist das Kind?“ Jau war beim Brüllen des Majors zusammengezuckt, nahm die Brille ab, wischte sich das Gesicht, antwortete nicht. „Lebt das Kind?“ „Weiß nicht.“ Jaus Stimme war kaum noch zu hören. „Sie können getrost flüstern, Ihre Stimme brauchen wir nicht mehr“, sagte der Major, etwas gemäßigter. „Jedes Wort, das Sie hier sprachen, haben wir aufgezeichnet.“ „Das dürfen Sie gar nicht, das ist nicht zulässig“, piepste Jau mit ungewollt hochgeschraubtem Ton. „O doch, mein lieber Freund. Wenn es um ein Menschenleben geht, und erst recht um das Leben eines Kindes, dann ist uns alles erlaubt, was wir für nötig erachten. Und das war nötig!“ Wieder hatte der Major den Kunstmaler angebrüllt. Dann, mit gleicher Stimmstärke: „Wer außer Ihnen, der vor Neid auf Frau Brigg platzte, sollte sie in einer so gemeinen Weise bedroht haben?“ „Vielleicht ihr Mann. Die Ehe stimmt doch schon lange nicht mehr.“ „Sie haben ein Malheur nach dem anderen“, warf Prohaska wieder ein. „Briggs kennen Sie nur flüchtig, aber über Briggs Ehe wissen Sie genau Bescheid.“ „Richtig, Genosse Hauptmann“, sagte Armlang. „Ein Malheur nach dem anderen. Unverschämt genug, Jau, 158
daß Sie nun auch noch den Vater verdächtigen, nachdem Sie schon Fräulein Rammert alles in die Schuhe zu schieben versuchten. Aber wir haben nicht nur aufgezeichnet, was Sie hier von sich gaben. Unsere Sprachanalytiker leisteten saubere Arbeit. Natürlich konnten Sie nicht ahnen, daß Ihre gemeinen Anrufe polizeilich gesichert sind, daß sich die vergleichenden Analysen wie von selbst ergaben.“ Jau sah irritiert den kahlen Fußboden an, seine Blicke tasteten sich von einer Diele zur anderen. Armlang wiederholte laut, erbarmungslos: „Wo ist das Kind?“ Jau hob mühsam den Kopf, daß alle seine zusammengekniffenen Lippen sähen, als Zeichen, daß er von jetzt ab wirklich nicht mehr reden werde. „Lebt das Kind?“ Armlang schrie die Frage. Keiner seiner Genossen hatte ihn je so schreien gehört. Jau schwieg mit verkniffenem Mund. Hauptmann Prohaska erhob sich, stellte sich dicht vor den Maler, sagte: „Herr Jau, beantworten Sie jetzt die Fragen des Majors? Momentan ist die Sache mit dem Recorder nicht vordringlich, auch die mit Ihren Handschuhen, Fitwasser und so weiter – alles momentan nicht vordringlich. Sagen Sie uns, wo das Kind ist und ob es lebt – danach werden wir Ihnen etwas Ruhe lassen.“ Stille. Alle warteten auf Antwort. Jau sprach nicht mehr, sagte auch dem „gemütvollen“ Prohaska nichts. „Menschenskind, packen Sie endlich aus“, sagte laut Major Armlang. „Für Ihre Tat haben wir genügend Beweise, darum braucht Ihnen nicht bange zu sein. Sagen Sie, wo das Kind ist. Sagen Sie, ob es lebt.“ Jau schwieg verbissen. „Fünf Minuten Pause“, sagte der Major. Die Männer gingen hinaus. Nur Pecha mußte bleiben. 159
Pecha, nach einer Weile, bemerkte verwundert, daß der Maler Tränen aus den Augen wischte.
17 Bis zu den Fußknöcheln versank Asta Funkel in glutheißem Sand. Die leichten Schuhe hatte sie ausgezogen, mit verschnürten Riemchen baumelten sie an der Umhängetasche. Den Sand direkt unter den Sohlen zu haben – von Kindheit an gewöhnt – war ihr nicht so lästig, als wenn er bei jedem Schritt in den Sandalen drückte. Asta blieb stehen, hielt die Hand über die Brauen, schaute zum Meer. Vorbei schlenderte ein Paar. Die Frau, dicker noch als Asta, aber wabblig im Fleisch, der Mann drahtdünn und kleiner als sie. Asta fing einen Gesprächsfetzen auf. „Ne richtige Hitzeperiode ist das. Im Radio haben sie gesagt, das ist ein Amazonenhoch.“ Der Drahtdünne verbesserte: „Das heißt nicht Amazonenhoch, sondern Amazorenhoch.“ In Asta kicherte es. Das Paar war vorüber, sie verstand nichts mehr. Wollte auch nicht. Ihr Phlegma war aufgebraucht. Heute schien alles verhext. Von einem Seebad zum anderen hatte man sie gehetzt. Die Zentrale der Rettungsschwimmer mußte nach zwei „Ausfällen“ um und um disponieren, zu guter Letzt wußte auch in der Zentrale niemand mehr, wen man wo eingesetzt hatte. Asta war nun am Altenkirchener Strand. Die Luft flimmerte, auch noch hoch über dem Sand, wie klares zitterndes Zellophan. Unzählbar viele Kinder – Legionen, dachte Asta – umwirbelten sie, bauten niedrige Burgen aus nassem, 160
große aus feuchtem Sand, tollten und tosten im Wasser, tauchten ihre Spielzeugeimer ein, brachten „gefangenes Meer“ zum Strand, bespritzten sich gegenseitig, quiekten und quietschten, jauchzten und juchzten, planschten und plärrten. Asta wäre ausgerückt, wäre ihr nicht versichert worden, hier sei Maraike Müller bestimmt. „Wat is mi daun“, sagte Asta vor sich hin. Maraikes Kamerad in Altenkirchen aber hatte ihr gesagt, hier finde sie die Gesuchte; also mußte sie bleiben. Maraikes Kamerad saß auf hohem Turm. Schaute durchs Fernglas. Jetzt legte er es zur Seite, nahm zwei Flaggen, schwenkte sie wie ein Matrose. Asta wußte mit der Flaggensprache nichts anzufangen, wandte sich wieder dem Meer zu und sah endlich die Frau, der sie seit Stunden nachjagte. Sie schwamm wie ein Fisch. Nun, im seichten Wasser, richtete sie sich auf, kam leichtfüßig und braungebrannt zum Strand – an jeder Hand ein zappelndes, hüpfendes Kind – etwa vierjährig beide. In Asta regte sich leise Bewunderung und Neid. Die ist mindestens zehn Zentimeter größer als ich, aber schmal wie Schilf. Da meinte Asta noch mehr als vorher zu schwitzen, ihre übergewichtigen Pfunde zu spüren. Sie nahm sich wieder einmal vor abzuspecken und verfluchte im stillen das Hoch – einerlei, ob es von den Azoren kam oder nicht. Maraike Müller ging zur Betreuerin, sprach mit der, gab den Kindern einen leichten Klaps auf die Pos, worüber beide lachten, zog die Badekappe – weiß mit rotem Kreuz – vom Kopf, schüttelte ihr kurzes braunes Haar und redete weiter mit der Betreuerin, belustigt, wie es schien, und unbekümmert, obwohl ihr Kamerad auf dem Turm gestikulierte. Eine Weile sah sich Asta das mit an. Besann sich darauf, was sie über Maraike Müller wußte. Einen elfjähri161
gen Jungen hatte die Schlanke, Braungebrannte, dessen Vater Georg Brigg war. Daß sie von Georg Brigg kein Geld für den Jungen nahm und nimmt, daß sie Georg nicht heiraten wollte und will, das alles hatte Astas Mutter erzählt. Manchmal, auch das wußte Asta von Witwe Katrina, besucht Maraike mit dem elfjährigen Hinrich Georgs Eltern. Einige Artikel hatte sie für die „Ostseezeitung“ über Nautisches geschrieben; zwei oder drei hatte Asta, ohne Kenntnis, aber mit Interesse, gelesen. Durch ein Fernoder Abendstudium (da war Astas Mutter nicht sicher) hatte Maraike es zum Nautiker gebracht, war angestellt bei der Küstenwacht, nahm in der Hochsaison ihren Urlaub – Hinrich hatte dann Schulferien – und arbeitete in diesen Monaten als Rettungsschwimmerin beim Roten Kreuz. Einmal, auf Hiddensee, war Asta ihr begegnet, mit den alten Briggs und Sohn Hinrich. Das lag einige Jahre zurück. Heute morgen, bei Frau Else Brigg, hatte Asta aufgeschnitten, von wegen, sie habe Maraike schon immer gut leiden können … Asta brauchte nicht nur eine Begegnung, brauchte möglichst tiefgehende Unterhaltungen, bis sie die Behauptung wagte, sie möge einen Menschen gut leiden. Voreiliges lag ihr nicht. Maraikes Kamerad auf dem Turm gestikulierte wieder. Maraike winkte ab; wie … ja doch … ich verstehe … Sie redete aber weiter, lachte weiter mit der Betreuerin. Astas Geduld riß. Durch den heißen Sand stapfte die Kriminalistin zur Rettungsschwimmerin und unterbrach sie: „Frau Müller, ich muß Sie sprechen, dringend.“ Maraike tippte lässig mit der Rechten gegen die Schläfe, sagte zur Betreuerin: „Tschüs, bis später“, und zu Asta: „Sind Sie nicht bei der Kripo?“ „Das bin ich.“ 162
„Und müssen mich sprechen? Dienstlich?“ „Einige Auskünfte bitte, ja. Wo sind wir ungestört?“ „Dort, denke ich – hoffe ich“, sagte Maraike und wies zum Turm. Asta glaubte, sie müsse den Turm besteigen, der Magen drehte sich ihr um, obwohl sie schwindelfrei war. Maraike ging wieder neiderregend leichtfüßig. Neben ihr japste Asta. Dann waren sie angelangt am umzäunten Turm. „Sekunde“, sagte Maraike Müller und lief die Treppe des Turmes hinauf, sprach mit ihrem Kameraden, war wirklich nach wenigen Sekunden wieder bei Asta und wies auf eine Bank im Schatten, die nur Bänkchen genannt werden konnte – laienhaft zusammengezimmert; ein schmales, unbehobeltes Brett auf zwei kurzgesägten Baumstämmen. „Setzen Sie sich“, sagte Maraike, „Luxus ist hier nicht.“ Auf dem Bänkchen hatte nur Asta Platz. Maraike kreuzte die Beine, ließ sich auf den gekreuzten Beinen nieder, sah fragend zu Asta hoch. Die begann: „War der Großvater Ihres Hinrichs gestern bei Ihnen?“ „Von gestern bis heute morgen war er hier. Vorher ging kein Schiff mehr nach Hiddensee“, antwortete die Müller sogleich bereitwillig und ausführlich. „Ist er allein gekommen?“ „Nein, er brachte mir seine Enkelin.“ Unwillkürlich ging Asta der Mund auf. Ein Lächeln umspielte Maraikes Lippen. „Julie Brigg?“ fragte Asta etwas ungläubig nach. „Ja, Julie, seine Enkelin.“ „Und wo … Und warum …“ Asta stockte. Dachte, verflucht, jetzt komm ick int Schleudern. Fing neu an: „Und wo ist Julie?“ „Wo sie im Augenblick ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Sie macht zusammen mit meinem Hinrich eine Ostseerundfahrt.“ 163
„Wie ist es dazu gekommen? Erklären Sie mir …“ „Einfach so“, sagte die lächelnde Maraike. Sie griff in den trockenen, heißen Sand, nahm eine Faust voll davon auf, hielt sie über den Rist der Rechten, ließ den Sand draufrieseln, gleichmäßig, wie aus einer Eieruhr. Sie sah dem dünnen Sandfaden zu, sagte: „Georg hatte Julie mit einem Kollegen nach Hiddensee bringen lassen. Großvater Brigg nahm das nächste Schiff und brachte Julie zu mir. Das war alles. Nur – es ging dann kein Schiff mehr nach Hiddensee zurück, darum mußte der Großvater bis heute morgen bei mir bleiben. Wir haben zu viert in meinem Campingwagen geschlafen.“ Maraike lächelte noch mehr, sah zu Asta Funkel auf, sagte: „Frei nach dem Motto, Raum ist in der kleinsten Hütte. Es war wirklich eng. Großvater auf Hinrichs Liege, ich mit beiden Rangen auf meiner. Die Kinder haben geschlafen – ich kaum. Macht aber nichts. Mitten in der Nacht war mir, als weinte Julie. Doch das muß ein Irrtum gewesen sein. Sie schlief fest. Sie hatte sich übrigens bald auf den Fußboden des Wagens gelegt.“ Asta stellte keine Fragen. Da erzählte Maraike weiter: „Mit dem Campingwagen bin ich im Urlaub fast immer unterwegs. Es gibt Tage, da wird man von einem Einsatzort zum anderen gescheucht, wir haben zuwenig Rettungsschwimmer.“ Asta mußte achtgeben, nicht im Wohlklang von Maraikes Stimme zu versinken. Ihr fiel ein, daß sie noch mehr über Frau Müller wußte. Sie sei kein Kind von Traurigkeit, hatte Astas Mutter irgendwann einmal gesagt. Ziemlich oft veranstalte sie Feste in ihrer Neubauwohnung. Oft gehe sie feiern zu Freunden – und sie habe massenhaft Freunde. Aber nie trinke sie Alkoholisches, und nie rauche sie. So sei Maraike noch immer klar im Kopf, wenn sich andere schon unter die Tische getrunken hätten. Asta dachte, vielleicht daher der Wohlklang der Stimme? Daher vielleicht auch diese ge164
lassene Heiterkeit, die von Maraike ausging – von deren Wesen, Bewegungen, von der Frau überhaupt. Mit diesen Gedanken erinnerte sich Asta plötzlich auch wieder, warum sie heute jeder Stimme besondere Aufmerksamkeit gab. Für Minuten war ihr das entfallen. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Über Telefon hatte sie sich mehrmals den einzigen gesicherten Anruf angehört. Wochel und Genossen behaupteten steif und fest, es handle sich dabei um eine Frauenstimme. Asta hatte keinem widersprochen. Daß es aber nicht Maraikes angenehme Stimme war, hätte sie, Asta, im Moment ebenso steif und fest behauptet. Grüblerisch sah sie auf den Handrist der Rettungsschwimmerin, auf dem sich immer von neuem kleine Sandhaufen bildeten. Asta fragte: „Sagten Sie, Georg Brigg habe seine Tochter Julie von einem seiner Kollegen nach Hiddensee bringen lassen?“ „Das sagte ich, und das stimmt auch, ich lüge nicht. Warum sollte ich?“ „Kennen Sie diesen Kollegen?“ „Von früher, ja. Hinrichs Großvater hat erzählt, der Mann hat sich als Werner Fielitz vorgestellt. Und ein Werner Fielitz war schon in der Sportredaktion, als ich noch zu dem Verein gehörte.“ Asta sah zu den eifrig bauenden, spielenden, sich balgenden Kindern hin. Stimmt nicht, dachte sie. Georg Brigg kann Julie nicht weggeschickt haben, auch mit keinem Fielitz. Georg war schon im Zug nach Leipzig, als Julie aus dem Haus ging und dann spurlos verschwand. „Und Sie haben sich keine Gedanken darüber gemacht“, fragte Asta, mit Blick auf die Kleinen, Eifrigen, „mit welcher Begründung Georg Brigg seine Tochter nach Hiddensee schickte?“ Maraike war ernst geworden. Sie ließ auch nicht mehr 165
Sand aus der Faust rinnen. Sie sagte: „Nein … Was Georg angeht, sein Tun oder Unterlassen – darüber mache ich mir keine Gedanken, da versuche ich nichts zu erforschen, auch keine Beweggründe.“ Asta schwieg. Maraike sagte: „Georg hatte immer für alles eine Begründung zur Hand. Daran wird sich nichts geändert haben. Warum sollte ich also fragen? Sicherlich wäre ich daraus ohnehin nicht klug geworden.“ „Ich muß Sie jetzt etwas Privates fragen.“ „Bitte.“ „Wie steht Georg Brigg zu seinem Sohn?“ „Wie er zu – meinem – Sohn steht? Einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten, kommt Georg, Hinrich zu beschenken. Mein Junge hat kaum Beziehungen zu seinem Vater, aber – Kinder sind eben so – Geschenke nimmt er gern.“ „Und Sie, wenn Georg Brigg kommt?“ „Wenn es sich einrichten läßt, weiche ich ihm aus. Wir haben uns nichts zu sagen. Alles ist längst klar.“ Asta nickte. Letzteres wußte sie. Jetzt kam es ihr auch im Schatten nicht mehr kühler vor. Ihr Atmen war Pusten. Maraike sagte: „Geben Sie Ihr Taschentuch, wir haben einen großen Eimer mit Wasser hier, frisch aus der See.“ Asta sah zu. Dann nahm sie das nasse Tuch, legte es aufs Gesicht, wischte auch die Achselhöhlen aus und fuhr sich mit dem Tuch zwischen die Brüste. „Das tut gut!“ Maraike spülte Astas Taschentuch aus, gab es ihr zurück, goß das Wasser weg. Asta sah zum Turm hinauf. Zum Glück, dachte sie, hat der nichts gesehn. Der guckt durch sein Fernglas, beobachtet die Lütten. Sie fragte: „War die Kleine lustig, als sie kam?“ „Lustig? Wissen Sie, ich kannte das Mädchen bis gestern nicht. Als sie noch Baby war, hat mir Georg mal ein 166
Foto von ihr gezeigt. Danach nie wieder. Ehrlich gesagt, es hat mich auch nicht interessiert. Aber Ihre Frage … Nein, sie war nicht lustig. Ich dachte bei mir, ganz ihr Vater, nicht nur im Aussehen, auch so einsilbig wie er. Nur sehr viel schönere Augen hat sie.“ Asta sagte: „Julie ist aber ein lustiges Kind. Auch gesprächig und aufgeweckt.“ „So?“ „Ob sie nicht doch in der Nacht geweint hat?“ „Sie schlief wirklich ganz fest, ich habe mich überzeugt.“ Asta dachte, hast du ’ne Ahnung, wie sich so ’ne Lütte verstellen kann. „Aber am Tage“, sagte Maraike, „nein, sie war nicht lustig, und wirkte auch nicht aufgeweckt. Nicht, was man sich darunter vorstellt.“ „War sie verstört?“ Maraike hob die Hände, ließ sie auf die nackten Schenkel fallen. „Und heute?“ fragte Asta. „Hinrich hat sich Mühe gegeben, sie in fröhliche Stimmung zu bringen.“ Sie lächelte wieder. „Er hat mein Temperament – und er ist glücklich, plötzlich eine Halbschwester zu haben. Er hat zu mir gesagt …“ Jetzt mußte Maraike wirklich lachen, und ihre gutstehenden Zähne waren zu sehen. „Er hat zu mir gesagt, Mann, ich habe eine Halbschwester. Die muß uns der liebe Gott nach Rügen gespuckt haben.“ Asta brach das Thema ab. Es war ihr unangenehm, daß sie nicht mitlachen konnte. Sie fragte, ob die Beziehungen zwischen dem Großvater und der Enkelin gut seien; sie fragte so, als wisse sie darüber nichts. Maraike dachte nach. Dann antwortete sie: „Wie soll ich das erklären … Beziehungen. Ich weiß das nicht. Wenn Sie fragen, wie er sich ihr gegenüber verhält, müßte ich sagen, eigentlich verhält er sich gar nicht zu ihr. Zu Hinrich ist er jedenfalls anders, ganz und gar anders.“ 167
Und, als hätte sie nicht schon einmal gefragt, wiederholte Asta: „Wo ist Julie jetzt?“ Ebenso, als wäre Maraike nicht schon einmal gefragt worden, antwortete sie: „Auf einer Ostseerundfahrt.“ Asta verkniff die Augen, sagte langsam, eindringlich: „Ich kann das nicht glauben.“ „Ja, meinen Sie, ich hätte Julie geschlachtet?“ fragte Frau Müller mit ihrem hübschen Lächeln. „Das nicht.“ „Sie trauen mir auch gar nichts zu“, sagte Maraike, fast übermütig. Asta wunderte sich, daß sogar Makabres angenehm klang, wenn die Rettungsschwimmerin es aussprach. Sie fragte: „Mit welchem Kahn ist die Kleine unterwegs?“ „Mit der ‚Binz‘, Schiff der Weißen Flotte.“ Asta schnappte nach Luft. Fragte: „Kann ich die über Funk, Bordfunk oder so was, erreichen?“ „Freilich.“ „Gibt’s da auch eine Passagierliste?“ „Aber immer. Das muß sein.“ „War das Schiff nicht ausgebucht, schon eh’ Julie ankam?“ „Proppig war das ausgebucht. Die Karte für Hinrich hatte ich längst, und weil ich kaum Zeit habe, mich um den Jungen zu kümmern, kam mir das gelegen. Dann brachte der Großvater die Kleine. Na ja, es ließ sich dann doch noch einrichten. Die Mannschaft der ‚Binz‘ kennt mich gut. Julie durfte mitfahren.“ „Sagen Sie mal, wollte die Kleine nicht mit ihrer Mutter telefonieren?“ „Davon hat sie nichts gesagt.“ „Sie hatte ziemlich viel Taschengeld bei sich“, sagte Asta Funkel. Maraike sah erstaunt auf, sagte: „Auch davon ist mir nichts bekannt. Ich habe sie auch nicht danach gefragt – freilich nicht. Die Rundfahrt heute hat sie jedenfalls umsonst.“ 168
Langsam, ruhig scheinbar, bat Asta: „Zeigen Sie mir, wo ich Kontakt kriege mit der ‚Binz‘?“ Maraike stand aus ihrem Schneidersitz auf. „Dort“, sagte sie und wies in eine Richtung, in der viele hohe Häuser sich dicht aneinanderdrängten. „Soll ich Sie hinbringen? Kommen Sie, ich will nur …“ Sie zeigte zum Turm. Zugleich rief ihr Kamerad herunter: „’raus Raike! Nimm’s Boot!“ „Danke, ich finde das schon“, sagte Asta noch. Maraike hörte nicht mehr. Asta sah sie nicht mehr. Erst als der Kamerad vom Turm rutschte, zum Rettungsboot lief, entdeckte Asta sie wieder. Asta war benommen. Zuerst dachte sie, es handle sich um ein abgekartetes Spiel zwischen Maraike Müller und deren Kameraden vom Turm. Bestürzt, dick und steif stand sie da. Dann bildeten sich am Ufer schon Menschentrauben – einem womöglich dramatischen Vorgang zuzusehen. Schwer atmend stieg Asta auf die Bank im Schatten, auf der sie gesessen hatte. Die Bank ächzte im morschen Holz. Doch so erhöht, sah Asta die Absperrung wieder, die den Nichtschwimmern zur Warnung ausgelegt war; im weiten Halbkreis schaukelte sie sacht und glich einer Kette aus bunten Glasperlen. Um die Glasperlenkette herum jagte das Boot mit Maraike und ihrem Kameraden. Asta beobachtete – die fleischige Hand wieder über den Brauen – vor allem Maraike. Sie und der Kamerad zogen sich Taucherbrillen vor die Augen. Hochaufschäumende Bugwellen an den Flanken des Bootes. Dann entdeckte Asta ein winziges, leeres Schlauchboot; es trieb sacht dahin, blinkte in der Sonne blank und rot – wie ein Signal. Maraike sprang aus dem Rettungsboot, tauchte weg, tauchte in weiter Entfernung wieder auf, schnappte nach Luft, verschwand von neuem unter der Wasseroberfläche und so wieder und wieder. 169
Unfallstelle. Menschen glotzten. Ich nu nich mehr, dachte Asta, ick hab min eigen Unfallstelle. Wie eine Momentaufnahme ging es durch Astas Sinn: Es könnten Julie und Hinrich gewesen sein, im signalhaft blinkenden Boot – etwa darum die Hast? Sie tat den Gedanken als Quatsch ab. Er verwischte sich ihr. Sie hopste von der Bank, mußte sich eingestehen, eine gute Meinung von dieser Maraike bekommen zu haben – ohne häufige, tiefschürfende Gespräche, ohne viele Begegnungen. Es wurde ihr auch nicht leicht, sich von Maraikes Rettungsversuchen abzuwenden – doch sie stapfte entschlossen durch den losen, heißen Sand. Auf der Straße, auf einem Grasstreifen, knüpfte sie die Riemchen ihrer Sandalen auseinander, zog sie an, schulterte ihre Umhängetasche und ging zu den hohen, dichtgedrängten Häusern, die Maraike ihr gezeigt hatte. Kein Blick zurück.
18 Hauptmann Wochel und dessen Vorgesetzter erfuhren es nach Asta Funkel als erste. Wochel fragte, ob das wahr sei. Es kam ihm selbst behämmert vor, doch er fragte noch: „Und lebt?“ Die Funkel lachte. „Wat hast denn du gedacht, min Jung?“ Sie sagte, wenn man sich mit den Tugenden und Untugenden der Leute auskenne, sei eben alles nur ein Kinderspiel. Von wegen Kinderspiel! dachte Wochel – doch er kannte Asta, die Tiefstaplerin, die wieder einmal den richtigen Riecher gehabt hatte. Das Gespräch über Bordfunk hatte Asta Wort für Wort mitstenografiert. Sie sagte: „Ick les di dat mal vor.“ Wochel ließ sich auf seinen Polsterstuhl fallen; in den 170
zentimeterbreiten schwarzen Brauen glitzerte es. Entspannt aber saß Wochel. Astas Zettel raschelten. Dann las sie. Wochels Vorgesetzter hörte mit. „Also dat geht nu los.“ Hallo Julchen. Kind, daß ich dich höre! Wie geht es dir? Mir? Ach – ganz gut, bloß … Was ist bloß? Ich will eigentlich gar nich hier sein. Wenn es dir doch aber gut geht, Kind, warum willst du dann nicht … Ich kann das nicht so sagen. Bloß – ich will lieber bei Mutti sein. Kommste ja. Kommste. Ich bringe dich hin. Wer sind Sie denn? Ich bin Asta Funkel. Kannst ruhig Tante Asta sagen, wie du willst. Prima! Ja, ich sage Tante Asta. Ich habe nämlich keine Tante. Und Tante Maraike will auch nicht, daß ich Tante sage. Bloß so, bloß Maraike. Ja Kind, das ist heutzutage modern, weißte? Das ist modern? Und du Tante Asta, bist nicht so modern, und du bringst mich zu Mutti zurück? Das mach’ ich, Kind. Ich hol’ dich in Altenkirchen ab und bringe dich zu deiner Mutti. Ehrenhand? Große Ehrenhand! Aber nun sag mir mal, wie bist du denn nach Rügen und zu Tante Maraike gekommen? (Julchen lacht.) Das war erst alles ganz ulkig, Tante Asta. Weißt du, bei uns in Vau, wie ich zum Dampfer gehen wollte, war auf einmal Vati da. Oben an der Kreuzung Akazienstraße–Lindenweg, gleich am Bahnhof. Weißt du, ich wollte doch eigentlich gestern die Dampferfahrt nach Ferch machen. Aber Vati hat gesagt, nun nicht mehr, nun soll ich was viel Schöneres haben. 171
Und was war das Schönere? Na, das hier. Vati hat mich mitgenommen zum Bahnhof bei uns in Vau. Weißt du, da war Herr Fielitz. Der hat gesagt, daß er nach Stralsund fährt und dann mit einem Schiff nach Hiddensee. Wolltest du denn nach Hiddensee lieber als nach Ferch? Nöh – aber … Wir müssen doch gehorchen, wenn Vati was sagt. Wer – wir? Na ich und Mutti, bloß, darüber soll ich nicht reden, sagt Mutti. Und Herr Fielitz hat in Stralsund seinen Wagen abgestellt bei Leuten. Da haben wir uns so’n bißchen ausgeruht. Mit Vati? Nöh, der war doch nicht mit, der mußte doch nach Leipzig. Herr Fielitz ist denn mit mir nach Hiddensee gefahrn, mit so’n Schiff, das heißt „Swantje“. Herr Fielitz macht Urlaub auf Hiddensee. Er hat mich zu Großvater und Großmutter gebracht, die wohnen nämlich da. Vati wollte, daß ich bei Großvater abgeliefert werde. Und Vati hat Herrn Fielitz einen Brief gegeben, den Großvater haben sollte. Herr Fielitz hat das auch so gemacht, wie Vati ihm gesagt hat. Bloß, ich habe das gar nicht gewollt. Okay, Julchen, das kommt nun alles wieder in Ordnung. Du mußt mir noch sagen, warum du deine Mutti nicht angerufen hast, du telefonierst doch gern, nicht? Vati hat gesagt, er telefoniert mit Mutti, er sagt Bescheid, damit sie sich nicht Sorgen macht, und von Hiddensee oder von Rügen aus kann man auch gar nicht telefonieren, darum wird er Mutti Bescheid sagen. Julchen, ich hab’ da noch ’ne Frage. Raucht der Herr Fielitz viel? Und wie! Aber im Wagen war das nicht so schlimm, 172
da hat er ja das Verdeck zurückgeschoben. Bloß bei den Leuten in Stralsund, da war das ganz schön schlimm. Kannst du dich erinnern, ob er de Zigaretten ausgedrückt hat? Was du alles fragst, Tante Asta. Nöh, das weiß ich nicht, wie er das mit den Zigaretten gemacht hat. In Ordnung, Kind, ist auch nicht so wichtig. Aber wenn ich dich nun richtig verstehe, willst du nicht bei Maraike und Hinrich bleiben – oder doch! Nöh. Die sind beide ganz lieb, aber – na ja, ich kann doch mit Mutti wieder herfahren, zu den beiden, mit Mutti zusammen – aber erst … Ja, Kind, ich verspreche dir, daß du heute abend wieder bei deiner Mutti bist. Was meinst du, Kind, wollen wir fliegen? Fliegen? Ja, da sind wir ganz schnell in Vau. Au fein, ich bin noch nie geflogen, im ganzen Leben nicht. Das wird schön werden. Und dann bist du heute abend wieder zu Hause. „So, dat war es“, sagte Asta Funkel. „De Lütte muß den Hörer einfach fallen gelassen haben. Ick hab noch gehört, wie se ganz uffgeregt gerufen hat: ‚Hinrich, ich fliege, du, ich fliege zu Mutti.‘ “ Wochel hätte auch am liebsten den Hörer einfach fallen gelassen. Er fragte, was Hinrich darauf gesagt habe. „Keen Ahnung. Da war dat Gespräch weg. Wird wohl een uffgelegt hab’n.“ Wochel lachte. In Gedanken umarmte er Asta. Sagte, das Vorgehen sei zwar geplant gewesen – doch daß sie das schaffen würde … „Nu mach man keen Gedöhns.“ Tiefstaplerin, dachte Wochel wieder. Doch er wußte, zu dieser Stunde funkelte der ganze Funkelkopf. 173
Dieser Funkelkopf sagte: „Und nu brauch ick wat zum Fliegen, für sechzehn Uhr. Klock vier will ick mit de Lütte starten.“ „Ei verdammt, das wird schwer“, sagte Wochels Vorgesetzter, der alles mitgehört hatte. „Na, een Hubschrauber, dat soll wohl sind, min Jung. Unterwegs will ich de Lütte dann ook noch mal fragen von wegen Vati gehorchen, okay?“ Wochel versprach ihr den Hubschrauber. In diesem Augenblick hätte er Asta Funkel eine ganze Hubschrauberstaffel versprochen.
19 In Vau entschied Armlang, was Wochel und sein Vorgesetzter schon für Hiddensee und Rügen angeordnet hatte. Einsatz aller Hundertschaften, Spürhunde und Suchboote abblasen. Bevor Wochels Meldung in Vau eingetroffen war, hatte Günter Bernhard von einer Zelle aus mit Armlang telefoniert. Günter sagte, sie hielten es mit Krista nicht länger aus. „Ihr Zustand wird von Stunde zu Stunde, fast von Minute zu Minute beängstigender. Mal rast sie, dann wieder totales Erstarrtsein, totale Sprachlosigkeit. Wenn Sie das Wohnzimmer sehen würden … Krista ist dermaßen von der Ermordung der Kleinen überzeugt, daß sie selbst nicht mehr leben will. Bisher haben wir vieles verhindern können. Wie lange noch, wissen wir nicht. Meine Frau hat Beruhigungstabletten geholt, die einen Gaul umhauen würden. Bei Krista schlagen sie nicht an. Sie ist kein Mensch mehr – nur noch ein schlotterndes 174
Etwas, seitdem sie durch diesen Fremden weiß, daß die Polizei eingeschaltet ist. Das war das …“ „Das war kein Fremder“, unterbrach Armlang Günters Redefluß. „Das war der Vorsitzende des Verbandes, Rosemann. Ein unglücklich Verliebter.“ „Na, besten Dank für die Liebe“, sagte Günter. „Der hat ihr wahrhaftig einen Bärendienst erwiesen. Krista wird ihn nicht erkannt haben, sie hörte nur das Wort Polizei, nehme ich an.“ „Sie haben recht, Herr Bernhard, aber das ist nun mal geschehen. Rosemann, als er gestern zum Genossen Prohaska kam, trug nicht die von Ihnen beschriebene Kleidung, hatte zudem, wegen der Hitze, eine Baskenmütze auf. Niemand sah den kahlgeschorenen Schädel, darum …“ „O-Mann-o-Mann! Na gut, aber was machen wir mit Krista? Wir wollten sie von hier wegbringen. Unmöglich. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen. Sie hat noch enorme Kräfte, obwohl sie nicht schläft, nichts ißt. Sie wissen, daß sie ihr Gemälde verbrannt hat?“ „Ja, leider. Und wir wissen es, wenn ich nicht irre, durch Sie.“ Armlang schlug vor, einen seiner Leute ins Briggsche Haus zu schicken, einen, der die Malerin bändigen könnte. „Nein, schicken Sie niemanden. Das würde alles noch schlimmer machen. Aber jetzt wissen Sie Bescheid, wie die Lage hier ist. Ich rufe Sie wieder an.“ Günter, in der Telefonzelle, hatte den Hörer aufgeknallt. Kurz danach, Günter konnte noch nicht wieder bei Anni und Krista sein, kam die Meldung aus Rostock durch. Zu der Zeit hatte Armlang unzählbare Lagebesprechungen hinter sich, Verbindung gehalten mit Berlin, seiner Dienststelle. 175
Alles war aufreibende, präzise Arbeit des Verstandes gewesen; Einsätze leiten, anordnen, koordinieren, absetzen, neu formulieren. Meldungen entgegennehmen, weiterleiten – und immer wieder erneuten Lagebesprechungen vorstehen. Plötzlich aber, nach der aus Rostock kommenden Meldung, schienen alle Strapazen vergessen. Der Bericht aus Rostock raste wie das berühmte Lauffeuer durch die K in Vau. Allgemeines Aufatmen. Nicht nur beim schweigsamen Pecha. Warum dennoch bei allen ein ungutes Gefühl, Mißtrauen, Zweifel haftenblieben, warum sich nach aufregendsten Nacht- und Tagestunden kein Entspanntsein wohltuend einstellte, wurde keinem klar. Man sprach nicht darüber. Man ließ sich nichts anmerken. Über solche Gefühle lachte man. Sonst nichts. Zu Prohaska sagte Major Armlang: „Sie haben gehört, was Herr Bernhard von Frau Brigg berichtet. Jetzt muß sie ohne Verzug wissen, daß ihr Kind lebt und bald wieder bei ihr sein wird. Ich verstehe die Frau, wie ich selten jemanden verstand – aber was ist zu tun?“ Schweigen. Niemand wußte Rat. Leutnant Ludwig sagte: „Sobald sie weiß … ist doch anzunehmen.“ „Wie es ihr sagen, das ist die Frage, sie ist nicht mehr zurechnungsfähig“, sagte Armlang. Prohaska entgegnete: „Fest steht, daß Georg Brigg seine Tochter nach Hiddensee verfrachten ließ, das scheint mir gegenwärtig das beträchtlichste Ermittlungsergebnis. Und ebenso fest steht, daß er keine Morddrohungen machte. Zur Zeit der Anrufe war er auf jeden Fall in Leipzig, ständig in Gesellschaft von seinen Kollegen, von Leuten des Funks und Fernsehens. Leipzig hat das x-mal bestätigt. Und alle wurden getrennt befragt, Absprachen können wir ausschließen.“ „Daß das Kind gefunden wurde, ist das Wichtigste. Aber wie gehen wir bei Frau Brigg vor. Wir können nicht 176
warten, bis der Ehemann auftaucht und seiner Frau alles gesteht“, sagte Armlang. „Und was die Morddrohungen anbelangt – da wird nicht mehr viel Arbeit nötig sein. Es muß aber verhindert werden, daß in letzter Minute Frau Brigg sich noch was antut.“ Er ging vom Fenster zur Wand und zurück, mehrmals. Seine Schritte wurden langsamer. Er blieb stehen. Es wurde still. Bis Armlang sagte: „Ich hätte eine Idee. Man gibt nur Bernhards Bescheid, versucht, sie allein zu sprechen. Sie sind mit Frau Brigg am besten vertraut, ihnen wird sie glauben. Bernhards müssen ihr sagen, daß Julie lebt, gefunden wurde, meinetwegen … noch kurze Zeit bei uns bleiben müsse – oder in ärztlicher Untersuchung … etwas in der Art.“ Er sah in Gesichter, sah keine Zustimmung, keine Ablehnung. Armlang sprach weiter: „Am besten, Genosse Hauptmann, Sie nehmen das selbst in die Hand, dem Günter Bernhard sind Sie gut bekannt. Sollte es sich nicht umgehen lassen, geben Sie sich als Arzt aus – ich meine, falls Frau Brigg doch zuhört. Ich will, daß die Frau geschont wird, soweit das überhaupt noch möglich ist, nachdem sie weiß, daß die Polizei eingeschaltet wurde.“ Wieder einige Schritte zwischen Fenster und Wand. Dann sagte Armlang: „Ich vermute, Frau Brigg hat schon in ihrer Ehe genug wegstecken müssen. Die Furcht vor ihrem Mann deutet darauf hin. Normal – was man so normal nennt – wäre, daß sie schon nach der ersten Morddrohung versucht hätte, sich mit ihrem Mann in Verbindung zu setzen, ihn irgendwie zu erreichen. Aber nein, sie hat Furcht. Jetzt die Angst um das Kind und ihr Schuldgefühl, das ihr nicht auszureden ist. Nehmen Sie einen neutralen Wagen, Genosse Hauptmann. Ihnen würde auch der Arzt geglaubt werden.“ Das war entschieden. Prohaska fühlte sich nicht geschmeichelt. Vielleicht hatte er Bedenken. „Und – wo Julie gefunden wurde …“ 177
„Nein, nichts davon. Das könnte sogar Bernhards irritieren – weil es zu absurd ist. Sprechen Sie von einer unserer fähigsten Kolleginnen … aber mehr bitte nicht“, antwortete der Major. Und: „Mit Jau fangen wir inzwischen schon an. Sie kommen dann dazu. Abgemacht?“ „Abgemacht.“ Anni brachte das Wohnzimmer wieder einigermaßen in Ordnung, fegte Scherben zusammen, trug sie weg, gruppierte Georgs Steinsammlung neu auf dem niedrigen Tisch. Schließlich lag auch das kleine Schild mit der Aufschrift BITTE NICHT BERÜHREN wieder dort, wohin es gehörte. Vor Jahren hatte Krista es in Antiqua gezeichnet und – nicht ohne Ironie – zwischen die Steine gestellt; womit Georg sehr zufrieden gewesen war. Krista sah Anni mit abwesendem Blick zu, ließ sich von Günter in den hinteren Garten führen, ging behutsam, wie eine Somnambule, neben ihm her. Ihre Raserei war noch einmal überstanden, Krista schien willenlos. Günter sagte, sie solle sich in den Schatten setzen. Sie gehorchte. Als Anni im Wohnzimmer fertig war, kam sie nach, setzte sich zu den beiden. Prohaska sah schon vom Tor aus, daß sich niemand auf der Sonnenveranda befand. Er mußte in den Garten. Günter bemerkte ihn, stand auf, gab sich ruhig, schlenderte zu Prohaska hin. Prohaska sprach leise. „Nein! – Wirklich?“ Es hatte aus Günter herausgeschrien! Prohaska bat, die gute Botschaft schonend an Frau Brigg weiterzugeben. Er möchte sich bitte was einfallen lassen, denn Julie werde erst am frühen Abend zurück sein, und er, Prohaska, habe im Augenblick wahrlich keine Zeit. 178
Günter stand wie angeschmiedet, brachte kein Wort, keine Frage heraus. Schüttelte den Kopf, begann zu lachen oder zu weinen – er vermochte es selbst nicht mehr zu unterscheiden. Zaghaft, furchtsam nun auch sie, kam Anni. Bernhards, nachdem sie sich besprochen hatten, erzählten Krista gemeinsam, daß Julie lebe! Sie sei wirklich entführt gewesen, man wisse noch nicht, von wem – aber das wäre jetzt ohne Bedeutung, in kurzer Zeit würde sie wieder hier sein, gesund, unverletzt. Krista blickte irgendwohin, reagierte nicht, als habe sie kein Wort verstanden. In der Glut des Sommertages war es, als erstarre sie nach und nach zu Eis. Endlich rührte sie sich, nickte unentwegt, im Gegensatz zu ihrem vom Flüstern bis zum Schrei gesteigerten „Nein-nein-nein-nein-nein“. Plötzlich streckte sie die Hände gegen Anni und Günter, sagte: „Hier – hier – mit meinen Armen muß ich sie halten, bevor ich … Nein – nein – nein! Denkst du, ich hätte dein ‚Nein‘ nicht gehört. Du hast geschrien.“ Sie stand abrupt auf. Sie sagte: „Warum müht ihr euch so … An Märchen glaube ich nicht mehr. Leider. Schon lange nicht … Sehr lange nicht … Seit Oma Pichelsbergs Zeiten … Oma erzählte mir Märchen … wie Wahrheiten.“ Bernhards wußten nichts zu entgegnen. Sie beteuerten, es sei Wahrheit! Kein Märchen. Krista wandte sich von ihnen ab. Ging durch ihren verwilderten Garten, vorbei an den Hecken. Sie verkroch sich in Julies Höhle. Anni wollte zu ihr. „Bleib hier“, sagte Günter. „Es ist wirklich sinnloses Mühen. Laß sie allein sein. Sie will es so.“
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20 Von Bernhards war Prohaska zurück, als Armlang das Verhör des Kunstmalers Rainer Jau begann. Der Einsatz aller, die das Briggsche Haus beobachteten – eventuell verdächtige Personenbewegung über Sprechfunk zu melden –, wurde aufgehoben. Julie würde in wenigen Stunden wieder zu Hause sein! Weiteren Gerüchten mußte der Boden entzogen werden; das war gut und wichtig – auch für Krista Brigg, die durch Rosemanns unbedachte Äußerung von den Aktivitäten der Polizei wußte. Neue Meldungen aus Leipzig besagten, Georg Brigg bleibe unauffindbar. Nun, das fiel in den familiären Bereich, in den sich die Kriminalpolizei ungebeten nicht einzuschalten hatte. Für jede Angelegenheit der zerbrechenden Ehe waren Briggs allein zuständig. Georg Brigg betreffende Nachforschungen hatten zur Zeit sekundäre Bedeutung. Primär war Jaus Geständnis – auch wenn die Leipziger Kriminalisten nicht aufsteckten; sie suchten weiter nach Georg Brigg. Unablässig. In Vau aber betraten Major Armlang, Hauptmann Prohaska, Leutnant Ludwig und Leutnant Schanz den kahlen Raum, darin Jau nicht nur fünf Minuten, sondern eine lange Stunde hatte ausharren müssen. Hilfesuchend sah er Pecha an, der bei ihm geblieben war. Pecha beachtete es nicht. Erhob sich halb beim Eintreten seiner Vorgesetzten. Wie sie, wußte auch Pecha, daß es jetzt nur noch um Jaus unwiderlegbares Geständnis gehe. Die großen braunen Augen des Majors kamen dem Kunstmaler näher; so nah, daß er unwillkürlich sich zurücklehnte. „Nun, wie ist das – sind Sie jetzt willens, die Morddrohungen einzugestehen?“ fragte der Major – ein wenig verändert im Tonfall. (Ganz konnte er seine „Vorabfreude“ nicht verleugnen.) „Zeit genug, alles noch mal gut zu durchdenken, war gegeben – oder nicht?“ 180
Rainer Jau richtete sich auf, schob die Hände zwischen die Knie, sagte, so als bedenke er jedes Wort: „Ich habe – mit Morddrohungen – nichts zu – tun.“ „Ach ja, ich erinnere mich“, sagte Armlang, „erst wollten Sie Fräulein Rammert belasten, was meiner Ansicht nach, gelinde ausgedrückt, schofel war, und als Sie merkten, wir steigen darauf nicht ein, erwähnten Sie den Vater des Kindes.“ Jau antwortete: „Und dabei bleibe ich. Er hat weiß Gott genug Motive, seiner Frau mal einen gehörigen Schreck einzujagen.“ Das mußte Armlang erst hinunterwürgen, ehe er weiterdenken konnte. Derweil sagte er nur: „Den lieben Gott wollen wir mal ganz weit draußen lassen, Herr Jau. Sie wissen doch, Gott kann nur allmächtig oder lieb sein.“ Mit diesem Ausspruch schien Jau nichts anfangen zu können. Er sah dem Major recht dümmlich auf die Lippen. Armlang und auch die anderen Kriminalisten merkten, daß Jau nun wirklich nicht mehr fähig war, seine Überlegungen zu steuern. Er senkte den Kopf und sagte unwirsch, als müsse er gerade jetzt aufbegehren: „Sprüche, Sprücheklopfen, das kann man hier.“ „Auch!“ sagte trocken der Major. Die Tür wurde geöffnet. Ein Mann kam herein. Pecha erhob sich zu ganzer Länge. Der Mann mutete unscheinbar an. Auffällig war lediglich, daß er, im Gegensatz zu den anderen, mit vollständigem Anzug bekleidet war, trotz der schwülen Hitze eine festgebundene Krawatte – blau und silber gestreift – zum weißen Oberhemd trug. Major Armlang nickte dem Mann zu. Prohaska, mit Handgesten auf den einen, dann auf den anderen weisend, sagte: „Doktor German, Staatsanwalt. Und das, Kunstmaler Rainer Jau.“ Jau hatte wohl nur „Staatsanwalt“ verstanden. Er stierte. Der Staatsanwalt setzte sich ans Fenster und bedeutete dem Major weiterzumachen, 181
Als hätte es keine Unterbrechung gegeben, sagte Armlang: „Sie bleiben also dabei, Julies Vater selbst habe seiner Frau mit der Ermordung des eigenen Kindes gedroht.“ Jau antwortete nicht. „Nehmen Sie wirklich an, wir ließen uns einen solchen Bären aufbinden?“ fragte der Major. Er rückte noch dichter an Jau heran. „Wenn Ihr Gewissen rein wäre, Herr Jau, wären Sie doch nicht von einem Widerspruch in den nächsten gepurzelt.“ Jaus gesenkter Kopf pendelte. Leise, kaum noch vernehmbar, fragte Rainer Jau: „Was heißt hier Widerspruch?“ „Dasselbe wie überall“, sagte der Major. „Ihre Widersprüche habe ich vorhin schon aufgezählt. Wir haben nicht soviel Zeit, Ihnen alles dreimal vorzukauen. Also versuchen wir, Ihr Gewissen wenigstens etwas zu reinigen.“ Jau vermied es, Armlangs Augen zu begegnen. Armlang aber, als kenne er den wahren Sachverhalt noch nicht – um Jaus Geständnis ringend –, begann wieder: „Erstens ist es für Sie ungünstig, was Sie behaupten. Denn Georg Brigg war zu der Zeit, da seine Frau jene Anrufe bekam, in Leipzig. Arbeitete dort und war fortwährend mit seinen Kollegen zusammen. Was Sie natürlich nicht ahnten. Zweitens konnten unsere Experten die Stimme des Anrufers exakt definieren. Sie fanden heraus – zusätzlich zum hiebund stichfesten Alibi –, daß der Vater des Kindes die Morddrohungen nicht gesprochen hat.“ „Warum nicht?“ fragte Rainer Jau heiser. „Auf die Frage haben wir gewartet“, sagte Armlang. „Ich verrate es Ihnen, Herr Jau!“ Jeder sah den Kunstmaler an. Der Major lächelte, seine rötliche Haut legte sich vom Jochbogen bis zum Unterkiefer in viele Falten. „Es ist eine ganz verzwickte Sache mit der Mundart, 182
Herr Jau.“ Armlang wechselte den Platz, setzte sich direkt vor dem Kunstmaler auf die Tischkante. „Aber uns helfen ausgerechnet solche Verzwicktheiten manchmal weiter“, begann der Major wieder – etwas umständlich diesmal. Bewußt! „Sehen Sie, der Vater des Kindes, Georg Brigg, wurde auf Hiddensee geboren. Vielleicht ist Ihnen das bekannt, falls Sie Briggs doch nicht nur flüchtig kennen. Georg Brigg hat sich aus beruflichen Gründen, nehme ich an, seine Mundart abgewöhnt. Nur eine ganz leichte Sprachmelodie ist geblieben.“ „Und was wollen Sie mir damit beweisen?“ fragte Jau verblüfft. „Alles!“ sagte der Major. Pause. Im Raum war es totenstill, als atme niemand mehr. Jau fragte nicht weiter, er rührte sich nicht. Der Major sagte: „Die Menschen von der Küste können sich das unverkennbare, weichrollende R nicht abgewöhnen.“ Rainer Jau keuchte. Erregt? Wieder atemlose Stille im Raum. Jeder lauschte diesem Keuchen, das die Stille durchbrach. Nach einiger Zeit ging Armlang hinaus; er hatte sich schwungvoll vom Tisch abgestoßen, seine Schritte waren lang und eilig. Er kam zurück und sagte zu seinen Genossen: „Exakt!“ Dann, zu Jau: „Ja, mein lieber Herr Kunstmaler, das hatte uns gefehlt. Diese Winzigkeit. Immerhin, ein Pluspunkt für Sie. Kaltblütig sind Sie nicht zu Werke gegangen. Ein Profi sind Sie wahrscheinlich nicht.“ Rainer Jau versuchte sich zu entspannen. Was der Major soeben gesagt hatte, tat ihm wohl, offenbar. Doch er starrte vor sich hin, das Entspannen gelang nicht vollkommen. Er dachte: Bluff, alles Bluff. Mir kann keiner was beweisen, dafür habe ich gesorgt – ihr Schweine. 183
Armlang beobachtete ihn. Nach einer Weile sagte er: „Nun, auf Freundchen. Rücken Sie endlich mit der Wahrheit heraus. Geben Sie sich einen Stoß, dann kriegen Sie auch wieder Luft.“ Jau schwieg, bemühte sich, ruhiger zu atmen. „Wüßten wir die Wahrheit nicht, würden wir anders, ganz anders mit Ihnen reden. Das dürfen Sie glauben“, sagte Armlang. Jau glaubte es. Er nickte. Jeder Blick war auf ihn gerichtet. Die Übergardinen wehten ins Zimmer. Wind kam auf, Nordwind, der Abkühlung erhoffen ließ. Das Gardinengewedel störte im Moment sehr. Pecha stand auf und schloß das Fenster. Sekunden vergingen, fast eine Minute. Jau schien die Sprache verloren zu haben. Der Major gab ein Zeichen, das Pecha auffing und nach draußen weitergab. Unmittelbar danach, sehr forsch, kam ein junger Mann ins Zimmer und stellte ein Aufzeichnungsgerät vor den Major hin. Der drückte eine Taste ein. Der Raum füllte sich mit Georg Briggs Stimme: „Verehrte Hörerinnen und Hörer! Vom WernerSeelenbinder-Gedenkturnier zu Leipzig meldet sich für Sie Georg Brigg, Reporter des ‚Sportmagazins‘. Bei mir am Mikrofon sitzt der bekannte iranische Ringer, dessen Name jedem Sportfreund ein Begriff ist. Ihn frage ich zuerst, ob er eine angenehme Reise hatte und wie er mit der Organisation hier in der Halle zufrieden ist.“ Das war nur die Einleitung des Interviews (davon auch Globb gesprochen und das Armlang sogar im Fernsehen, in der Spätausgabe der ‚Aktuellen Kamera‘, gesehen hatte, da es auch von einem Fernsehteam aus Adlershof aufgenommen war). Nach dieser Einleitung aber schaltete Armlang das Gerät aus. Er fragte Rainer Jau, ob er das weichrollende R vernommen habe. Der rührte sich nicht. Pecha versuchte stimmlos Briggs R nachzuahmen. 184
„Also nicht?“ fragte Armlang. „Dann weiter.“ Wieder drückte er eine Taste ins Aufzeichnungsgerät. Und jetzt mußte der Kunstmaler seine eigene, in die Höhe gedrechselte Stimme hören. Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg! Pause. Das Gerät lief. Dann kamen aus diesem Gerät dieselben Worte – nun baritonal: Holen Sie sich das Gör aus der Ostsee, Frau Brigg! Jau wollte sich auf die Technik konzentrieren, die das „Wunder“ der Stimmregulierung zustande brachte. Das vermochte er nicht. Er saß wie hypnotisiert. Und, als gäbe es nie Ruhe, nie ein Ende, wiederholte die baritonale Stimme diesen Satz. Die dunklen Schweißflecke auf Jaus blauem Hemd breiteten sich aus. Schweiß rann dem Mann, der seine Stimme wiedererkannte, wie Regen über die heiße Haut. Angestrengt wollte er das Zittern seiner Hände unterdrücken, das sich nicht unterdrücken ließ. Das Gerät wurde nicht ausgeschaltet. Im Raum war es so still, daß leises Surren des Bandes zu hören war. Dann (unwillkürlich öffneten sich Jaus aufgesprungene Lippen) hörte er vom Band: „Ich hab’ die Dame durch und durch gebumst, Opa!“ Jau wurde rot vor Angst. Er glaubte, alle sechs Augenpaare wären auf ihn gerichtet, wie Flammenwerfer. Konfus dachte er, das bemerkt ja ein Laie, wie die Wortabstände sich gleichen. Zum erstenmal im Leben wurde ihm bewußt, daß seine Stimme den Stimmen seiner Brüder ähnlich war. Ein Gedanke raste in seinem wirren Kopf umher – und verlor sich wieder wie nie gedacht. Nein, seine Brüder lebten seit …zig Jahren in Südamerika, und die hier wissen das – die hier wissen alles. Zugleich wiederholte das Band unablässig (gnadenlos, fand Jau): „Ich hab’ die Dame durch und durch gebumst, Opa.“ 185
„Machen Sie Schluß, Schluß, Schluß – bitte!“ flehte verzweifelt, kraftlos Rainer Jau. „Wie Sie wünschen, mein Herr“, sagte Armlang, stellte das Gerät ab. Wieder Stille. Wieder verging Zeit. „Na“, sagte Prohaska herausfordernd. Stockend und so leise, daß alle lauschen mußten, begann Rainer Jau endlich: „Ja, gestern morgen, als ich Devisen besorgen wollte, da habe ich Georg Brigg am Bahnhof gesehen … Er hat mit einem Mann gesprochen – ich habe alle begrüßt, denn ich kenne, ich kenne sie flüchtig. Da hab’ ich mitgekriegt, wie Georg Brigg seinem Kollegen – ich glaube, der heißt Wieritz –, wie Brigg den Wieritz gebeten hat, das Mädchen – ja, die Julie – nach Hiddensee mitzunehmen. Ich hab’ auch gesehen, daß er dem einen Brief gab, der Brigg. Für wen der bestimmt war, weiß ich nicht – geht mich nichts an. Brigg hat Grüße für seine Eltern … und so. Und er hat verlangt, daß der Wieritz oder wie der heißt und der Vater von Georg Brigg alles wunschgemäß und schnell erledigen. Das mußte – das Ganze mußte hopphopp gehen, weil der Wieritz … weil der vor dem Bahnhof gehalten hat mit dem Wagen, und der ist dann abgedampft. Das Mädchen im Wagen. Das ist alles, was ich weiß.“ Schweigen. Der Staatsanwalt fragte: „Und Sie, Herr Jau, was taten Sie dann?“ „Ach, das will ich noch sagen“, sagte Jau, „ich habe noch beobachtet, daß Georg Brigg zu einem Mann eingestiegen ist, den ich – den ich aber wirklich nicht kenne. Die sind auch rasch abgefahren, in die Gegenrichtung. Brigg hatte mir gesagt, er will per Anhalter nach Leipzig.“ „Und Sie, was taten Sie dann, Herr Jau?“ wiederholte der Staatsanwalt. Doch Jau schien anzunehmen, genug gesagt zu haben. Er konnte nicht mehr. Nicht mehr den186
ken, nicht mehr sprechen, sich nicht mehr an alles erinnern. Doch: „Weiter bitte“, sagte Major Armlang. „Der Genosse Staatsanwalt stellte eine Frage.“ „Hab’ ich schon beantwortet. Devisen besorgt.“ „Wie kann Herr Brigg in Vau gewesen sein, als er schon längst per Bahn nach Leipzig unterwegs war?“ fragte Leutnant Ludwig. Jau dachte, er habe das soeben erklärt. Jau schwieg verbissen. Es wurde dunkel um ihn. Irgendwann hörte er sich reden. Ihm war, als spreche er aus klaftertiefer Gruft, aus der es kein Entrinnen gab. Sein Gesicht aber verzog sich zu einem weinerlichen Lächeln. „Sie wissen eben doch nicht alles“, sagte er – so weinerlich, wie er lächelte. „Wir schon“, entgegnete Armlang. Stand auf, ging locker, wendig einmal um Jau herum. Setzte sich wieder auf die Tischkante. Sagte: „Aber von Ihnen wollen wir es hören. Von Ihnen – verstehen Sie? Klar, verstehen Sie das.“ Nach einer Gedankenpause sagte Rainer Jau: „Georg Brigg … Er hat den Zug in Schöneweide – er hat den Frühzug verpaßt und ist mit der S-Bahn zurück nach Vau.“ „Ja, so kann es gewesen sein“, bestätigte der Major. „Nun sagen Sie uns noch, warum Sie Frau Brigg nachmittags anriefen, ihr so fieses, hundsgemeines Zeug erzählten.“ „Hab’ ich nicht.“ „Mensch, hören Sie doch auf zu leugnen!“ rief Armlang; auch seine Geduld war begrenzt. „Von Ihren blöden Lügen haben wir jetzt die Nase gestrichen voll. Habe ich Ihnen etwa nicht aufgezählt, vorhin, wie oft Sie sich widersprochen, wie oft Sie uns belogen haben?“ „Sie haben sich doch eben selbst wiedererkannt“, hielt Hauptmann Prohaska dem Kunstmaler vor, „als wir das 187
Band abspielten. Sie konnten es nicht verbergen, daß Sie sich wiedererkannten. Vor uns jedenfalls nicht.“ „Sowohl bei dem abscheulichen ‚Holen Sie sich das Gör …‘ und so weiter als auch bei Ihrem ‚Ich hab‘ die Dame durch und durch …‘ und so weiter“, fügte Leutnant Schanz an. Und Prohaska: „Für uns gibt es keinen Irrtum mehr. Was Sie taten, ist abscheulich genug. Ihre fortwährenden Widersprüche sind Ihnen nicht eben dienlich – die waren in sich schon kriminell. Also verschlechtern Sie Ihre Lage nicht noch mehr. Ein vollkommenes, offenes Geständnis kann noch von Nutzen für Sie sein. Aber nur das!“ Jau schwieg. Jau zündete sich eine Zigarette an. Jau trank das Wasserglas leer, das gefüllt vor ihm stand. Jaus Fingerspitzen bebten. Die Zigarette blieb ihm zwischen den Lippen kleben, er riß ein Stückchen Haut mit ab, indem er die Zigarette aus dem Mund nahm. Jau keuchte aufgeregt. Endlich sagte er: „Von mir aus – wenn Sie wollen –, ich nehme alles auf mich.“ „Ach nein“, sagte Doktor German, „nicht weil wir es so wollen, sondern weil Sie es waren!“ „Ja, jaaa – weil ich es war.“ Rainer Jau dachte, er brülle. Prohaska, Schanz und Ludwig setzten sich anders. Pecha legte ein Bein über das andere und atmete auf, hörbar. Armlang, an die Tischkante gelehnt, fragte: „Und warum das alles, Herr Jau?“ Staatsanwalt Dr. German stand auf von seinem Platz am Fenster, kam zum Tisch, stützte die Hände auf, wiederholte Armlangs Frage: „Warum das alles, Herr Jau?“ „Weil ich das Weib hasse“, antwortete der Kunstmaler. Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Wenn mir solche Aufträge von einem Weib weggeschnappt werden, sehe ich rot, kriege ich Schaum vor den Mund … dann …“ 188
„Dann sinnen Sie auf Rache“, sagte Prohaska. „Weil solche Aufträge für mich existenzwichtig sind“, verteidigte sich Jau. „Für Frau Brigg nicht?“ fragte Dr. German. „Nein! Sie hat einen Ernährer, sie hat Aufträge nicht nötig.“ „Sie sprechen schon wieder in der Mehrzahl. Es war aber zum erstenmal, daß Frau Brigg einen Auftrag annahm, sich darum bewarb. Glauben Sie nicht, daß auch sie existenzwichtige Gründe hat – womit nicht nur das Geldverdienen gemeint ist?“ fragte Prohaska. Rainer Jau quälte sich um jedes Wort, das er noch sagen wollte: „Das ist mir doch egal. Aber jetzt hat sie Blut geleckt, jetzt wird es so weitergehen mit Aufträgen für sie … Und ich bin bestimmt nicht der einzige, der ihr den Auftrag, die Tausender, neidete. Das weiß ich definitiv.“ „Fangen Sie nicht wieder damit an“, sagte Armlang. „Nichts ist momentan so wichtig, wie uns Ihr Geständnis war.“ „Ich habe nichts ge…“ „Nein, bitte, nicht noch einmal die ganze Show“, sagte Armlang. „Bei uns gibt’s eine Herde von Neidhammeln“, begann Jau doch wieder. „Und vor allem die Weiber … Und vor allem die Brigg, die kenne ich. Mit Kammer schlafen und die Aufträge kriegen, und jetzt hat …“ „Eine Sekunde, Herr Jau“, unterbrach ihn Staatsanwalt Dr. German. „Wir lassen es nicht zu, daß Sie eine Frau miesmachen, der Sie das Ungeheuerlichste antaten! Ich werde mich hüten, hier ein Plädoyer zu halten. Nur eine ganz persönliche Meinung. Was Sie taten, war Terror, psychischer Terror – und er ist die gräßlichste Fratze jeglicher Rache. Auch die Fratze eines sogenannten Mutes. Den Begriff Mut aber kann man in Ihrem Fall ersatzlos streichen. 189
Wissen Sie, wie viele Menschen wir verdächtigen mußten und daß die halbe Republik nach dem Kind suchte, dessen Verbleib Sie kannten?“ Jau saß zusammengesunken auf dem Stuhl. Dr. German sagte: „Ich weiß, es gehört nicht hierher. Dennoch interessiert es mich, wie Ihre Kindheit war.“ Nach einer Weile, in der alle gespannt auf Jaus Antwort lauerten, sagte er mit mürbem Ton: „Normal natürlich. Eltern, Schule, Abi, Studium, Beruf – normal.“ „Und was wissen Sie über das bisherige Leben der Frau, die von Ihnen bis zur Selbstzerstörung terrorisiert wurde?“ „Nichts“, gab Rainer Jau zu. „Dachte ich mir“, sagte Dr. German. „Sie werden es erfahren. Wir haben Erkundigungen eingeholt, wir wissen, was Frau Brigg bisher durchmachen mußte. Doch das alles ist dann Sache des Gerichts.“ Prohaska reichte Jau das Protokoll: „Durchlesen und unterschreiben.“ Rainer Jau las nicht. Er unterschrieb tränenblind. Routiniert, wie er seine Bilder signierte. Danach fragte er hauchend: „Bin ich etwa verhaftet – wegen eines Scherzes?“ „Scherz?“ fragte Armlang. „Sie haben noch die Stirn, das einen Scherz zu nennen?“ Jau beugte wieder tief den Kopf. Leutnant Schanz erhob sich. Fragte: „Woher wußten Sie eigentlich, ob Herr Brigg seine Frau angerufen hat oder nicht?“ „Ich hab’ doch gemerkt, wie die Brigg reagierte“, antwortete Jau. „Schon bei der ersten Morddrohung, nicht wahr?“ Jau schwieg und bewegte sich nicht. Die Kriminalisten gingen hinaus. Nur Pecha, der Kriminalmeister, mußte noch einige Minuten bleiben. Staatsanwalt German, schon die Hand auf der Türklinke, drehte sich noch einmal um. Fragte: „Wissen Sie, was das Infamste Ihres Scherzes gewesen ist?“ 190
Jau sah nicht auf. Dr. German sagte: „Daß Sie keine Forderungen stellten!“ Jau stierte die Dielen an. Fragte: „Wieso?“ „Denken Sie nach …“, sagte Dr. German. Dann verließ auch er den kahlen Raum.
21 Sie spricht wenig, genüßlich wenig. Gestern abend und während der Nacht redeten Sie viel, Frau Otti. Sie hatten, wir hatten Redestoff in Mengen. Wenn ich es recht bedenke, konnte sie den Zeitpunkt ihres Erscheinens, dann ihres Angebotes nicht günstiger wählen, als sie es tat. Ich mußte zu lange auf Anerkennungen warten. Arbeiten wurden mir zugeteilt, die ich in meiner eigenen Jungsteinzeit von Volontären ausführen ließ. Frau Otti nannte es anders. Ich sei über Jahre in der Versenkung verschwunden gewesen. Sie hat mich gefragt, wodurch ich so absinken konnte im Beruflichen, da ich doch einst der Sportreporter gewesen sei. Was hätte ich darauf antworten sollen? „Das ist ein weites Feld“, sagte ich. Sie entgegnete, ich solle nicht den überstrapazierten Fontane strapazieren. Wie auch immer. Sie hörte mittags mein Interview mit dem Ringer und kam am frühen Abend in die Halle – mich aus der Versenkung zu holen, Wir waren schon weit von Leipzig, in ihrem Haus, als sie mich wieder fragte: „Haben Sie, Herr Brigg, noch nie daran gedacht, einen Sportlerroman zu schreiben?“ Ich war unehrlich, indem ich antwortete, schon oft, jedoch, mir wurde jeglicher Mut genommen. Unehrlich war mein „Schon oft“. Das übrige stimmt. Nein, ich hatte noch nie daran gedacht. Das ist die Ihnen verschwiegene Wahrheit, Frau Otti. Ich fürchte, sie ist Ottilie getauft. 191
Sie fragte nicht, wer oder was mir den Mut nahm. Sie hat Takt. Frau Otti sagte, es bestehe durchaus Bedarf für einen guten Sportlerroman. Und Sie, Herr Brigg, sollten ihn schreiben. Ich wollte einwenden, daß ich nicht wüßte, ob mein Atem lang genug für einen ganzen Roman ist. Ich wendete gar nichts ein. „Mann, habe doch etwas mehr Mut“, hatte mir Krista oft geraten. O ja, sie hat leicht raten. Wer gerade Erfolg hat wie du, hat es leicht, Mut zu haben, meine Schöne. Jedoch, wenn einem nichts mehr gelingen will, vielmehr, wenn einem fast täglich gesagt wird, „das ist ja schon wieder mißlungen, das können wir so nicht gebrauchen, schreiben Sie es neu oder lassen Sie das vom Kollegen X überarbeiten“, dann verliert sich jegliches Selbstvertrauen. Von alldem habe ich Frau Otti nicht gesprochen. Sie muß es nicht wissen. Sie will einen Sportlerroman – und ich werde ihn schreiben. Ich dachte sogleich an meine Eltern. Bei ihnen kann ich sorglos leben, bis er zustande gebracht ist. Noch befürchte ich zu träumen. Noch befürchte ich, Frau Otti sagt sogleich, das alles ist nicht wahr; eine Verlegerlaune, mehr nicht. Sie sagte gestern abend – oder schon in halber Nacht? –, ein Exposé müsse ich abliefern, das sei selbstverständlich. Und auch eine Stilprobe, denn ein Roman habe eben andere Gesetze als Reportagen. Ich war einverstanden. Mit allem. Ich beginne ein neues Leben. Frau Otti sagte, ich verspreche, Sie zu fördern, wenn Exposé und Stilprobe mich überzeugen. Sie fuhr fort, aber daran hege sie kaum Zweifel. Ich hege Zweifel, Frau Otti. Von denen müssen Sie aber nichts wissen. Sie versprach auch, wenn ihr Exposé und Stilprobe gefallen, werde sie dafür sorgen, daß ich für einige Monate eine Art Stipendium bekäme. Sie hoffe das durchsetzen zu können. „Dann schreiben Sie finanziell unabhängig“, ergänzte sie. 192
Vielleicht hätte ich ihr verraten sollen daß ich mich nach Hiddensee zu meinen Eltern zurückziehe, daß ich dort das Geld vom Verlag nicht benötige. Ich habe es nicht verraten. Soll sie doch durchsetzen, was immer sie will. Alles wurde besprochen gestern abend und heute nacht. Ich glaube, es war morgens gegen zwei Uhr, als wir einander angenehme Ruhe wünschten. Ich fand keine Ruhe. Jetzt sage ich ihr: „Ich werde aber auch mein eigenes Leben in den Roman hineinweben.“ „Das erwarte ich“, antwortet sie nur. Sie muß sich auf den Gegenverkehr konzentrieren. Minuten vergehen, in denen wir kein Wort sprechen. Jetzt setzt Frau Otti zu einer längeren Rede an. Das sehe ich, so gut kenne ich sie nun schon. Sie sagt: „Wichtig ist die künstlerische Grundidee. Wollen Sie das Leben eines Sportlers gestalten, um das dann alles gruppiert wird, oder gehen Sie aus von Tatsachenberichten, historischen Zusammenhängen, Ihren Erfahrungen als Sportreporter?“ Ich sage: „Letzteres“ und „Danke!“ Wofür aber bedanke ich mich. Verlangt sie doch viel von mir. Jedoch im Ernst, es gab keinen geeigneteren Augenblick, mich aus der Misere zu befreien. Gewiß, ich war daran, es selbst zu tun, vorher. Jedoch, es wäre nur ein anderes Leben geworden, kein neues, wie es nun vor mir liegt. In meine himmelhoch fliegenden Gedanken hinein fragt Frau Otti, ob meine Frau noch die preisgekrönte Dogge besitze. „Nein“, antworte ich, „die hatte sie im ersten Jahr unserer Ehe. Ich bat sie, den Hund zu verkaufen. Ich bin zu meinem eigenen Bedauern gegen Haustiere allergisch. Zudem bindet ein Haustier den Besitzer. Damals wäre es mir lieb gewesen, wenn meine Frau mich auf meinen vielen Reisen begleitet hätte; jedoch sie war stets und ständig beschäftigt.“ Erkundigt sich Frau Otti jetzt nach dem Zustand unserer Ehe? Sie tut es nicht. Wie gesagt, sie hat Takt! 193
„Sie werden lachen, damals, als die Dogge Ihrer Frau den Preis bekam, habe ich zum erstenmal von der Kunstmalerin Krista Brigg gehört“, sagt Frau Otti. Ich lache. Ich tue ihr den Gefallen. Mir wäre jedoch lieber, sie würde keinerlei Preise erwähnen. Nun fährt sie wieder vollkommen konzentriert. Ich kann sie unmerklich fixieren, nochmals, wie schon gestern. Korpulent ist sie. Schlanke sind mir angenehmer. Ich will nicht an Maraike denken. Ich will nicht! Frau Otti ist fabelhaft proportioniert. In ihrem Gesicht ist alles klein. Äuglein hellgrau, dicht und dunkel die Wimpern. Zierlich das Näschen, das Mündchen. Ihr Kinn eben recht – nicht fliehend, nicht zu energisch. Sie hat schöne, weiche Hände. Das entdeckte ich schon heute nacht, als sie mich in ihrem Haus bewirtete. Wenn sie den Tisch deckte, tanzten ihre Hände – so graziös ist Frau Otti. Kristas Hände packen hart zu, sind schmal und knochig. Ihre Kleckserei fordert Händen und Armen Kraft ab. Dadurch wurden sie so. Oh, schöne Krista, auch du wirst dich wiederfinden im Sportlerroman, in den ich mein eigenes Leben verwebe. Gestern sagte Frau Otti gesprächsweise, „die Konflikte werden im Menschen ausgetragen“. Wie sehr sie im Recht ist. Im Menschen! Meine Schöne, du wirst lesen, was in mir vorging, damals, als ich dich ehrlich wollte, du aber sagtest, „heute nicht und nie mehr“. Hast du auf dem Monde gelebt? Fielst du aus den Wolken, als du von Hinrich und Maraike hörtest? Nein, das war Vorwand. Dich habe ich durchschaut. Nun werde ich Gelegenheit haben, dir in einem Roman auch das zu sagen, was ich nicht sagen konnte in den lächerlichen Aussprachen, die du stets wolltest. Wie ein Mann mitsamt seinen Talenten zum Erliegen kommt – muß er mit einer Frau wie dir leben und weiß, daß es ihr bitter ernst ist mit dem albernen „Heute nicht und nie mehr“. Oh, wie du deine, zugegeben, sehr schönen Augen aufreißen wirst, wenn du das alles lesen mußt! 194
Dachtest du, ich könnte nie von dir lassen? Ach, so schön bist du nun auch wieder nicht. Ich hatte zwischenzeitlich Schönere – meine Schöne. Jedoch, du sollst büßen, sollst sühnen – oder wie du Bibelfeste es nennen magst. Alles ist sühnbar! Alles, was du mir angetan! Ich habe über hundert Beweise für deine Unfähigkeit, Julchen zu erziehen. Zum Sammler von Beweisen bin ich geworden. Viele meiner Beweise sind versehen mit Datum und Stundenangabe. Das ahnst, du natürlich nicht. Noch heute weiß ich, wie es war, als mir zum erstenmal eine Reportage mißlang. Ich mußte einsehen, daß sie mißlungen war. Das genau nach deinem „Heute nicht und nie mehr“. Einen Tag danach. Ich habe nichts vergessen. Wenn du von dir behauptest, du hättest ein Gedächtnis wie ein Elefant, dann behaupte ich das auch von mir. Als ich dann wußte, wie ernst es dir war mit deinem als Vorwand benutzten „Heute nicht und nie mehr“, mißlang mir alles. Ich verzagte an eigener Kraft. Frau Otti frage ich: „Von wem stammt das Wort, ‚das schlimmste Gift, an eigener Kraft verzagen‘?“ Frau Otti schaut nach vorn. Sie fragt: „Von Marx?“ „Ich weiß es nicht, darum fragte ich.“ Natürlich weiß ich. Von Heine ist es, Frau Otti, aber ich werde Sie nicht belehren. Sie nicht! „Wie kamen Sie darauf?“ fragt Frau Otti. „Es ging mir durch den Kopf. Mir geht so vieles durch den Kopf.“ Mir fällt ein, daß ich Kristas Gassenjargon nicht mehr ertragen muß, mit dem sie Julchen auch schon infizierte. Es wird ein Genuß sein zu leben, uff min söten Lännekin! Sie aber, großer Meister Globb, der so begeistert tat von meinem Interview mit dem Iraner, der plötzlich wieder wußte, daß er jahrelang einen Könner von For195
mat erniedrigte – Sie bekommen den Mund nicht mehr zu, wenn sie meinen ersten und letzten Zweizeiler hören: „So, Meister Globb, ich pfeif auf diesen Job!“ Mich als Ersatz wegschicken, mich nun sogar als Notnagel im Außendienst benutzen, das, Meister Globb, war der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Das sage ich Ihnen nicht heute und nicht morgen, aber in meinem Roman werden Sie es lesen. Selbstredend ist es gewagt, alles hinzuwerfen, freischaffend zu werden. Jedoch – mit dem Polster, das mir die Eltern geben? Zudem: „Wer nichts wagt, der nichts gewinnt“ – Maraikes Motto. Von ihr zu schreiben wird schwer, von ihr und von Hinrich. Muß auch nicht sein. Niemand verlangt das von mir. Was wird Maraike gedacht haben, als … „Gleich muß ich abbiegen, wenn ich Sie nach Vau fahren soll“, platzt Frau Otti in meine Gedanken. Und sie fragt mich: „Oder erst nach Berlin, zur Redaktion?“ „Nein, danke. Das erledige ich alles morgen.“ „Gut. Dann muß ich an der nächsten Ausfahrt von der Autobahn ’runter. Haben Sie morgen vieles auf der Redaktion zu erledigen?“ „Mit Sicherheit nicht.“ „Aber Sie bleiben dort, bei festem Lohn und Brot, wie man sagt.“ „Ich werde sehen, wie sich alles vereinbaren läßt. Der Roman ist mir jetzt – brennt mir jetzt, wie man sagt, auf den Nägeln.“ Mehr verrate ich ihr nicht. Alles muß sie nicht wissen. Das von meinen Eltern, von Hiddensee, eben nicht. Frau Otti sagt: „Ich fahre Sie gern bis vor Ihr Haus. Aber dann wird sofort gewendet, denn ich will in Berlin allerlei besorgen.“ „Sie können mich auch in Berlin absetzen, ich fahre dann mit der S-Bahn nach Vau. Bin es gewohnt. Das macht mir nichts aus.“ 196
„So war das nicht gemeint“, entgegnete Frau Otti. „Ich wollte damit nur sagen, daß ich leider keine Zeit habe, Ihre Frau kennenzulernen. Aber dafür werden sich bestimmt noch Gelegenheiten ergeben, hoffe ich. Denn – ich möchte sie unbedingt kennenlernen.“ „Bestimmt ergeben sich Gelegenheiten.“ Das habe ich gesagt. „Und morgen treffen wir uns wo? Im ‚Bräu‘, oder kommen Sie in den Verlag?“ „Wir treffen uns, wo es Ihnen am liebsten ist.“ „Dann im ‚Bräu‘.“ „Wann?“ „Um zwölf? Zum Essen? Wir besprechen dabei, was noch zu besprechen ist, ja?“ „Ja, sehr gern.“ Frau Otti biegt wirklich ab. Was sagte sie eben? „Vielleicht können wir morgen gemeinsam die Idee schon ausspinnen?“ So etwa sagte sie. Ich habe es im Ohr. Aber in Minuten bin ich bei Krista. Ich kann Frau Otti geistig nicht mehr folgen. Ich bin traumatisiert. Frau Otti sagt: „Sie sind mit Ihren Gedanken schon voraus, schon bei der Familie.“ „Ja, verzeihen Sie bitte.“ „Nichts zu verzeihen. Wäre doch böse, wenn es sich anders verhielte.“ Ich kann darauf gar nichts sagen. Frau Otti hat recht. Ich bin mit den Gedanken bei Krista. Mehr jedoch bei Maraike. Sie, meines Sohnes Mutter. Sie, die Patente, Lebenstüchtige. Sie brauchte ich in der auf mich zukommenden Situation. Ich wäre ein Narr, würde ich darauf bauen. Ich bin kein Narr!
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22 „Im Januar neunzehnhundertfünfundvierzig wurde ich geboren. In Charlottenburg. Am Morgen, nachdem eine der grauenvollsten Bombennächte vorüber war. Das hat mit mir nichts zu tun; es wurde mir berichtet. Ich, Krista Brigg, bin dreißig Jahre alt. Ich war neun Tage alt, als man mich zur Mutter meiner Mutter nach Pichelsberg evakuierte. Mir ist, als könnte ich mich meiner Oma Pichelsberg erinnern, vom ersten Lebensjahr an, was – wie ich weiß – nicht möglich ist. Als ich ungefähr vier war, an einem Wintertag, befand sich Oma Pichelsberg mit mir auf einer der vielen Hamsterfahrten, die damals zum Überleben notwendig waren. Im unvorstellbar vollen Zug betätschelte mich ein Mann, weil er mich ‚goldig‘ fand. In diesem Alter sind die meisten Kinder ‚goldig‘. Oma Pichelsberg, als der Mann nicht von mir abließ, schlug ihm auf die Hände. Das ist das einzige Mal, da ich die Mutter meiner Mutter schlagen sah, soweit ich mich besinne – und ich besinne mich ihrer gut. Sie hatte trotz Hunger und Kälte, trotz ihrer Magerkeit sehr viel Körperwärme und gab mir immer genügend davon ab – vielleicht alle, die sie hatte. Ich fror nie. Nach Oma Pichelsbergs Tod wurde ich in ein Waisenhaus gebracht. Meine Eltern waren – wenige Monate nach meiner Evakuierung zur Oma – durch Bomben ums Leben gekommen. In jenem Waisenhaus – auch Heim genannt – bin ich oft, ich glaube täglich, geschlagen worden. Wann ich mir vornahm, mein eigenes Kind niemals zu schlagen, weiß ich heute nicht mehr. Aber ich weiß, daß ich es nie schlug und niemals schlagen werde.“ Vor dem Haus hielt ein Wagen. Die Frau hinter dem Steuer reichte Georg Brigg, der ausgestiegen war, die Hand und lachte. 198
Georg Brigg lachte auch. Dann fuhr die Frau davon. Als Georg durch den Vordergarten ging, über den schnurgeraden Weg, sah er bedauernd seine Rosen an, deren Köpfe ermattet herunterhingen. Die Erde zwischen den Rosenstöcken war aufgebrochen wie die Oberfläche alter Gemälde. Verärgerung stand in Georgs Miene, kam in seinen Gesten zum Ausdruck – schwanden aber rasch. Auf der weißen Sommerveranda saßen Anni und Günter. Saßen dort, seitdem es stürmisch geworden war. Vor kurzer Zeit hatte sich der Sturm gelegt. In Kristas Garten war die Trauerbirke von ihm gepeitscht worden. Krista war auch während des Sturmes in ihrem Garten geblieben. Durch das geborstene Fenster ihres Ateliers sah sie Georgs Rückkehr. Wer ihn bis vors Haus gefahren hatte, warum er schon am Dienstag – und nicht, wie Globb gesagt hatte, erst am Mittwochabend – kam, wußte sie nicht. (Sie konnte später – bei ehrlichstem Bemühen – auch nicht mehr sagen, was sie beim Anblick ihres Mannes empfand.) Krista beobachtete, daß Günter Bernhard ihrem Mann entgegenging, wahrscheinlich, um mit ihm zu reden; vielleicht fiel ihm erst in diesem Moment ein, daß er Prohaska, der die frohe Botschaft gebracht, nichts gefragt hatte. Georg wehrte Günter ab. Freundlicher begrüßte er Anni, doch auch sie ließ er nicht zu Wort kommen. Er sprach irgendwas von einer freudigen Nachricht. Georg Brigg betrat das Wohnzimmer. Zur gleichen Zeit stieg Krista durchs Atelierfenster, schritt über den schlüpfrigen, glatten Fußboden, den Hitze, Wind und Sturm nicht trockneten. Im Wohnzimmer, neben der Steinsammlung, blieb Krista stehen. Sie wagte nicht, den Blick in Georgs Gesicht zu heben. 199
Georg nickte dorthin, wo Krista stand. Das war sein Gruß. In seinen Sessel ließ Georg sich fallen, ohne erschöpft zu wirken. Was Krista zerschlagen hatte, bemerkte er wohl nicht, Anni hatte gut aufgeräumt. Georg sagte: „Der Sturm wird Wetterwechsel bringen, der Wind hat gedreht, das wird uns endlich Regen bescheren – was wünschenswert ist. Dann brauchst du nicht mehr die Rosen morgens und abends zu besprengen. Dann kommen auch die ohne dich aus – der Himmel nimmt dir ab, was du offensichtlich nicht schaffst.“ Krista griff unbewußt Georgs größten Stein seiner geliebten Sammlung, als müsse sie sich an irgend etwas festhalten. Daß es der Hirtenstein war, Georgs Lieblingsstein, den auch sie mochte, bemerkte sie nicht. (Mit einiger Phantasie betrachtet, ließ er an einen Hirten denken; breitrandiger Hut, weit ausschwingender Mantel.) Georg sah den Stein in Kristas Händen. „Bitte nicht berühren“, sagte er mit ungutem Lächeln. „Du hast mir das Schildchen auf meine Sammlung gestellt. Das hat noch immer seine Geltung.“ Krista legte den Hirtenstein wieder an seinen Platz. Anni und Günter gingen vor der Sonnenveranda auf und ab. Anzunehmen ist, daß sie Briggs nicht stören wollten, da sie hörten, daß Belangloses gesprochen wurde. Günter hatte seinen Arm um Annis Schulter. Krista sah nur Georg. Seitdem Julie spurlos verschwunden war, mehr noch, seitdem sich die „frohe Botschaft“ nicht erfüllte, fröstelte sie. Keine Hitze wäre dagegen angekommen. Jetzt, da Georg in seinem Sessel saß, nur von den Rosen und vom Schild Bitte nicht berühren sprach, war ihr, als verbrenne sie selbst. Georg beugte sich rückwärts über die Sessellehne, schaute ins rauchgeschwärzte Atelier, auf das einstige Gemälde, das als häßlicher, von den Seiten her zusammenge200
rollter Klumpen auf schmierigem Boden lag, schaute auf andere verrußte Bilder, lächelte mokant, fragte, was passiert sei. In Kristas Ohren sang das Blut. Sie sah Georgs Gesicht. Sie sagte stimmlos: „Julie.“ Nur das. Nur den Namen. „Ja, bitte – was ist mit Julchen?“ fragte Georg. – Und er stand auf, fragte, ob der Wodka im Kühlschrank stehe. Er ging in die Küche, lächelte euphorisch. Krista hatte ihn so noch nicht gesehen. Sie stützte sich auf den Hirtenstein. Wollte nicht umsinken, nicht fallen. Georg, ohne sie zu beachten, kam aus der Küche mit einem gefüllten Glas in der Hand, setzte sich wieder in seinen Sessel. Trank. Wischte sich den Mund. Fragte, was Bernhards hier zu suchen haben, heute, zu dieser Stunde. Noch einmal, unhörbar leise, sagte Krista: „Julie …“ Georg hatte sie gehört. „Solltest du dich wegen Julchen gesorgt haben?“ fragte Georg, mit diesem euphorischen Klang in der Stimme. „Du, das kann ich dir beim besten Willen nicht glauben. Übrigens, ich schreibe einen Roman. Darin wirst du Julchen wiederfinden.“ Krista drückte den Hirtenstein an sich. Sie dachte, jetzt nicht schreien! „Sieh, meine Schöne“, sagte Georg frohgestimmt, als strafe er seine Worte Lügen. „Während unserer leider sehr langen Ehe bat ich dich vielmals, deine Mutterpflichten nicht zu vernachlässigen, nicht in so haarsträubender Weise, wie du es stets tatest. Meine Bitten und Ermahnungen fruchteten nicht. Nun gab ich dir gestern, mit der Dampferfahrt nach Ferch, die mitzumachen du Julchen versprochen hattest, die letzte Chance, mir zu beweisen, daß du doch noch ein Faserchen Ehrgefühl im Leibe hast. Zu meinem Bedauern ließest du 201
auch diese letzte Chance vorübergehen. Du nütztest sie nicht, wie ich mich zufällig überzeugen konnte. Ehrenwort, es war nicht meine Absicht, dich zu überprüfen, es war purer Zufall.“ Er drehte das leere Glas, sah auf die hellgraue Scheibe des Fernsehers. Fragte: „Hat dein lieber Kollege Jau, der Geschwätzige, nichts ausgeplaudert? Er war doch dabei. Er wußte doch alles.“ Krista wollte fragen, wobei? Sie stand in Flammen. „Ja, meine Schöne, auch wenn der liebe Jau dir nichts gesagt haben sollte – es war endgültig deine letzte Chance gewesen. Ich kann nicht länger zusehen, wie Julchen vor die Hunde geht. Du hast dich gestern benommen wie seit Jahren schon. Wenn ich dagegen Maraike erwähnen darf – sie hat meinen Sohn Hinrich bestens erzogen, ohne meine Ermahnungen, ohne meine Hilfe, weder eine finanzielle noch irgendwie geartete Hilfe mußte ich ihr zukommen lassen. Jedoch, ich will das gar nicht alles wieder hervorzerren. Du erhältst das Haus, ich habe es dir versprochen, und auf mich ist Verlaß. Aber Julchen kann ich dir nicht überantworten. Julchen bleibt bei mir. Julchen wird nicht zurückkommen! Sie ist schon in Sicherheit – vor dir …“ Kristas Hände blieben gespreizt. Sie hörte etwas zu Boden poltern. Das Singen und Rauschen in ihren Ohren verging mit dem still werdenden Blut. Das Feuer, das sie gespürt hatte, war erloschen unter den Schlägen auf Georgs Kopf mit dem Hirtenstein. Anni und Günter stürzten ins Zimmer. „Er stirbt, er …“, schrie Anni. Sie versuchte, Georg aufrecht zu setzen. Sah einen dünnen Blutfaden an seinem Mund, einen an seinem Ohr. 202
Georg kippte seitlich. „Krankenwagen!“ stöhnte Anni. Günter rannte hinaus. Anni, ohne zu wissen, warum, wollte Kulicke holen. Sie stolperte, lag draußen in Georgs Rosen, blieb liegen. Flüsterte zur aufgebrochenen Erde hin: „Es war Mord … Ich habe zugesehen. Ich habe einen …“ Sie lag verkrümmt. Wimmerte. Auch noch, als Günter sie zu seinem Wagen trug, sie ins Krankenhaus zu fahren. Anni bekam auf Günters Station eine Spritze, die dem Embryo und ihr nicht schadete, die ihr Schlaf brachte. Sie war seit zehn Wochen schwanger. „Ja, ich gestehe, der zertrümmerte Schädel war mir sonderbar vertraut. Ich sah ihn sacht aufwärts und abwärts schweben, als zwei Männer Georg auf einer Trage über den Gartenweg hinausbrachten zum Krankenwagen. In mir ist alles still und warm geworden. Nein, genauer kann ich das nicht beschreiben. Ja, es ist möglich, sogar sehr wahrscheinlich, daß ich auf Georgs Kopf noch einschlug, als er schon tot war. Ich schlug auf ihn ein, blindlings unvernünftig – wie ich diesen Mann einmal liebte. Vier Monate. Doch das, glaube ich, liegt ein Jahrhundert zurück.“ Dämmerung fiel in Vau ein, als der Polizeihubschrauber landete. Anni und Günter Bernhard sahen ihm vom Balkon des Hauses, in dem sie wohnten. Sie wußten, wen der Hubschrauber zurückbrachte. Für Günter stellte sich eine neue Aufgabe. Er mochte nicht abwägen, ob sie erdrückender sein würde als die vorangegangene. In seinem Wagen fuhr er zum Landeplatz. Den Eltern im Erzgebirge war telegrafiert worden: „Urlaubsbeginn ungewiß.“
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Wolfgang Kienast Das Ende einer Weihnachtsfeier Kriminalroman DIE Reihe etwa 220 Seiten, etwa 2,– Mark
Leseprobe Kaps verließ den „Löwen“ um halb fünf und fühlte sich ziemlich müde. Zu Hause setzte er sich vor den Fernseher, schlief aber schon nach wenigen Minuten ein. Sehr spät erwachte er von dem Rauschen der hellen Mattscheibe. Programmschluß. Er stand mühsam auf und bereitete sich das Bett auf der Couch. Um fünf mußte er sowieso ’raus. Er ließ die Lampe an, damit er nicht verschlief. Durch das Licht schlief er unruhig und bekam Alpträume. Morgens machte er sich einen starken Kaffee. Vielerlei ging ihm durch den Kopf. Er hoffte, daß er keinen Restalkohol im Blut hatte oder wenigstens nicht in eine Kontrolle geriet. Er wünschte, der Chef möge ihn in Ruhe lassen, und dann grübelte er, wie er zu Geld käme. Das Gehalt mußte schon überwiesen sein, es war am Dreißigsten fällig und schon immer etwas früher auf dem Konto. Außerdem war Weihnachten gewesen und Jahresabschluß. Er hatte die Bankleute vorläufig beruhigen können. Vorläufig. So was ging nicht endlos. Sein Büro lag in einem Barackentrakt neben der Autohochstraße. Er konnte die Hotels sehen und den Hauptbahnhof. Alles war schön, groß und eindrucksvoll, aber es interessierte ihn längst nicht mehr. Mittags weichte er einen Brühwürfel in warmem Wasser auf. Er fühlte sich hungrig und betäubte das mit Zigaretten. Ihn störte wahrhaftig den ganzen Tag niemand. Erst kurz vor Fei-
erabend kam Naujoks, der Bauleiter V von Boxberg, herein. „Du kennst doch Günter Berg, was?“ fragte er. Robert Kaps sah ihn mißtrauisch an. „Weshalb soll ich ihn besonders kennen und weshalb nicht?“ „Hehe“, sagte Naujoks. „Überall dasselbe. Als ob Berg zu kennen allein schon anrüchig wäre.“ „Warum soll das anrüchig sein?“ Kaps kannte Günter Berg sehr gut, aber warum sollte er das zugeben. „Es ist anrüchig. Berg sitzt.“ Robert Kaps hatte den ganzen Tag nur Kaffee und Würfelbrühe zu sich genommen. Ihm schwindelte vor Schwäche. „Berg hat seine Frau umgebracht. Im Suff.“ Langsam wurde Kaps wieder klar im Kopf. Seine Frau umgebracht. Im Suff. Berg, der Idiot. Kaps drehte eine Zigarette zwischen den Fingern und steckte sie gedankenlos in den Mund. Er schnipste sein Rowenta-Feuerzeug an. „Das ist verkehrt herum“, sagte Naujoks. Kaps schmeckte es selbst. Vergnatzt brach er den Filter ab und zündete die Zigarette wieder an. Es war seine letzte. „Gibt wohl nur noch kaputte Ehen“, knurrte er. „Umgebracht. Im Suff.“ „Na, na“, schränkte Naujoks ein. Er selber dünkte sich glücklich verheiratet, weil es in seiner Ehe keine drängenden Probleme gab. „Oben stehen sie jetzt alle kopf, weil im Zusammenhang mit Berg allerhand auf sie zukommt.“ Das glaube ich, dachte Kaps böse. Die Nachricht steigerte seine Hilflosigkeit beträchtlich. „Wie ist das passiert?“ „Es wird viel erzählt. Eigentlich ist Berg kein Säufer. Trinkt viel und verträgt noch mehr, als er trinkt. Nicht abhängig. Ich habe erlebt, daß er wochenlang nur Milch und Tee getrunken hat. Muß völlig fertig gewesen sein an diesem Tage.“
„Welchem Tage?“ „Freitag vor Weihnachten.“ Kaps saß verloren da, und die Zigarette verqualmte zwischen seinen Fingern. Vor acht Tagen? „Ich begreife das nicht.“ „Wer begreift das schon“, sagte Naujoks bereits im Gehen. Er machte offensichtlich eine Tournee, um allen von dem Mord zu erzählen. Denn bisher hatte wahrscheinlich niemand davon gewußt. Berg hat durchgedreht, dachte Kaps. Völlig fertig, jawohl. Oder seine Frau hatte durchgedreht wie Gisela Kaps kurz nach Weihnachten. Ihm fiel wieder das Silvesterarrangement ein, das er in den Müllcontainer geschmissen hatte. Jeder machte es auf seine Weise. Aber die Folgen von Bergs Tat waren verheerend. Er stand auf und ging hinaus. Er ging links den Gang hinauf und blieb vor der fünften Tür stehen. Dort klopfte er an. „Ist der Chef zu sprechen?“ fragte er. Die Sekretärin des Chefs war etwa fünfzig Jahre alt und hieß Marietta. Sie war immer noch attraktiv und erzählte sehr gern, daß ihr Vater Italiener gewesen wäre und Dallapiccola geheißen hatte. Alle nannten Marietta deshalb nur Piccodallalla. „Der Chef sitzt drin und hat die Brille auf der Stirn.“ Mehr brauchte sie nicht zu sagen, die Brille war ein Signal, eine Warnung. „Trotzdem.“ „Bitte“, sagte sie gleichgültig. „Laß die Tür auf, damit du besser rausfliegst.“ Kaps hatte keine Angst. Er wußte ein Zauberwort, das den Chef sofort beruhigte. Kalisch war massig wie ein Berg Baumwolle. Wenn man ein bißchen draufdrückte, sank er zusammen. Er hatte viele cholerische Anfälle, aber nur bei denen, bei denen er sich das leisten konnte. Jetzt saß er in seinem überhitzten Büro und schwitzte. „’raus“, grollte er dumpf.
„Dauert nur einen Moment.“ Kalisch betrachtete seine Armbanduhr. „Drei Minuten.“ „Weniger. Wollte dir nur sagen, daß ich einen Dienstreiseauftrag nach Nauen brauche. Mit eigenem Pkw.“ „Du bist verrückt, Nauen. In Nauen ist alles in Ordnung.“ „Meine Sache. Ich muß hin. Mit eigenem Wagen.“ Kalisch griff schon nach dem Block und wollte ein Formular ausfüllen. Dann hielt er ein und starrte Kaps mit kleinen, trüben Augen an. „Es ist mein Schicksal, von aller Welt beschwindelt zu werden. Sag die Wahrheit, stinkt es in Nauen?“ „Nicht mehr als immer. Ich muß hin, ehe es stinkt.“ Kalisch nickte und schrieb den Auftrag aus. Er verließ sich auf niemand außer auf Kaps. Kaps war sein bester Mann und hätte eigentlich auf Kalischs Stuhl gehört, doch dann wäre er aus dem Verkehr gezogen gewesen. Es gibt Leitungskader, die sich ein Betrieb nicht leisten kann.