Zu spät - ich liebe ihn
Debbie Macomber
Julia 1224 3 – 1/97
Gescannt von almutK.
1. KAPITEL
Die Frau trieb ihn i...
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Zu spät - ich liebe ihn
Debbie Macomber
Julia 1224 3 – 1/97
Gescannt von almutK.
1. KAPITEL
Die Frau trieb ihn in den Wahnsinn. Christian O'Halloran hatte in letzter Zeit oft über Mariah Douglas nachgedacht, und ihm waren zahlreiche gute Gründe eingefallen, sie zu feuern. Leider musste er seinen sturen Bruder noch davon überzeugen, denn Sawyer war der Ansicht, dass Mariah alles richtig machte. Christian dagegen fand, dass sie alles falsch machte. Er verstand nicht, wie sein Bruder so blind sein konnte, was ihre gemeinsame Sekretärin betraf. Normalerweise legte Christian auf seine Meinung großen Wert, denn sowohl Sawyer als auch Charles besaßen eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. In Mariah hatten sich seine älteren Brüder allerdings getäuscht, und nicht nur das: Sie warfen ihm vor, unfair und unfreundlich zu sein. Mariah machte zwar einen liebenswürdigen, bescheidenen und sehr fleißigen Eindruck, aber Christian hatte sie durchschaut. Ständig vergaß sie, ihm Nachrichten zu übermitteln, verlegte wichtige Unterlagen und verhielt sich wie ein Trampel. Da ihr so etwas jedoch nie passierte, wenn Sawyer im Büro war, schloss Christian daraus, dass sie es auf ihn abgesehen hatte. Er glaubte nicht, dass sie absichtlich etwas tun würde, das der Fir ma schadete, aber deshalb war sie nicht weniger gefährlich. Die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach nicht. Ja, das brachte es auf den Punkt. Christian nickte zufrieden. Er saß an seinem Schreibtisch in dem Wohnwagen, in dem sich das Büro von Midnight Sons befand, und überlegte, was ihn eigentlich so an Mariah störte - abgesehen von ihrer Tollpatschigkeit natürlich. Wahrscheinlich würde er es nie herausfinden. An ihrem Aussehen konnte es nicht liegen, denn sie war ziemlich attraktiv: mittelgroß, schlank mit mittellangem rotem Haar und braunen Augen. Im Grunde war sie sogar ziemlich hübsch, nicht gerade der Typ, nach dem sich die Männer umdrehten, aber nett anzusehen. Duke Porter, einer der Piloten, schien jedenfalls der Meinung zu sein. Christian presste die Lippen zusammen, als er sich daran erinnerte, wie er Mariah und Duke vor kurzem engumschlungen im Büro ertappt hatte. Es brachte ihn auf die Palme, dass die beiden ausgerechnet während der Arbeitszeit herumgeknutscht hatten. Sollten sie das doch gefälligst in ihrer Freizeit tun! Als er Sawyer überredet hatte, Frauen nach Hard Luck zu holen, hatte er etwas ganz anderes vor Augen gehabt. Ihr Plan hatte rein geschäftlichen Zwecken gedient, denn die Firma hatte zu der Zeit einen Piloten nach dem anderen verloren. Und er, Christian, hatte gehofft, die Männer zum Bleiben bewegen zu können, wenn mehr Frauen im Ort lebten. Statt das Problem zu lösen, hatte er aber nur neue geschaffen, und eins davon war Mariah Douglas. Abbey Sutherland war die erste, die in Hard Luck eingetroffen war. Entgegen seiner sonstigen ausgeglichenen Art hatte Sawyer sich Hals über Kopf in sie verliebt und sich nach knapp vier Wochen mit ihr verlobt. Christian war davon überzeugt, dass Sawyer nicht nur sein Herz an Abbey verloren hatte. Sein Verstand funktionierte seitdem nämlich nicht mehr einwandfrei. Und Charles war es mit Lanni Caldwell nicht anders ergangen. Die beiden hatten sich noch im Sommer verlobt und waren nach der Hochzeit im April zusammengezogen. Anscheinend war er, Christian, der letzte von ihnen, der noch im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte war. Kurz nachdem er Mariah und Duke in flagranti ertappt hatte, hatte er mit Charles gesprochen. Er hatte gehofft, sein ältester Bruder könnte Sawyer davon überzeugen, dass es höchste Zeit war, Mariah zu entlassen. Sie hatte ein Jahr für sie gearbeitet und damit den Vertrag erfüllt. Christian war von der Reaktion seines Bruders enttäuscht, denn Charles überließ die
Entscheidung Sawyer und ihm. Da Sawyer allerdings keine Probleme mit Mariah hatte, wollte er sie auf unbestimmte Dauer weiterbeschäftigen. Immer wenn Christian das Thema ansprach, erinnerte Sawyer ihn daran, dass er Mariah eingestellt hatte. Dabei war nicht sie Christians erste Wahl gewesen, sondern Allison Reynolds. Selbst jetzt noch geriet sein Blut in Wallung, wenn Christian an die aufregende Blondine dachte. Er hatte sie in Seattle kennengelernt und sich sofort in sie verknallt. Es hatte ihn harte Arbeit gekostet, sie dazu zu bringen, es wenigstens in Hard Luck zu versuchen. Allison kam tatsächlich, doch nachdem sie sich die Stadt und ihre Unterkunft angeschaut hatte, reiste sie umgehend wieder ab. Leider war er zu der Zeit nicht in Hard Luck, so dass er sie nicht dazu überreden konnte, noch ein wenig länger zu bleib en. Nachdem sie abgereist war, war er so frustriert, dass er zu der ersten Bewerbungsmappe griff, die ihm in die Finger kam. Es war die von Mariah Douglas gewesen. Diese Entscheidung hatte er bitter bereut, denn Allison Reynolds hatte die gleiche Wirkung auf ihn ausgeübt wie Abbey auf Sawyer und Lanni auf Charles. „Christian, kann ich Sie einen Moment sprechen?" Wie immer kam Mariah etwas schüchtern auf ihn zu, als würde sie damit rechnen, dass er sie jeden Moment anfiel. Christian schaute zu ihr auf. Sie hatte fast ein halbes Jahr gebraucht, um ihn endlich mit seinem Vornamen anzureden, siezte ihn jedoch weiterhin. Er seufzte schwer. Leider war Sawyer an diesem Tag mit Abbey und den Kindern nach Fairbanks geflogen, so dass er nicht dazu beitragen konnte, den Schaden zu begrenzen. „Ja", sagte er ungeduldig. „Sawyer hat mich vor seiner Abreise gebeten, mit Ihnen zu sprechen ..." Sie biss sich auf die Lippe und blickte ihn an, als wäre er ein Unmensch. Christian hielt sich zwar für rücksichtsvoll und intelligent, doch Mariah schien ihn mit anderen Augen zu sehen. „Worüber sollen Sie mit mir sprechen?" erkundigte er sich eine Spur freundlicher. „Ich arbeite jetzt seit einem Jahr bei Midnight Sons." „Ich weiß." „Ich würde gern eine Woche Urlaub nehmen." Er straffte sich unwillkürlich. Eine Woche ohne Mariah! Eine Woche würde er seine Ruhe haben! „Ich treffe mich mit einer Freundin in Anchorage", erklärte Mariah. „Wann?" Je eher sie fliegt, desto besser, dachte er. Dies war die Gelegenheit, Sawyer zu beweisen, dass sie keine Sekretärin brauchten. Ihm war es natürlich lieber, eine neue einzustellen, zum Beispiel eine Frau wie Allison. „Wenn es geht, würde ich gern die nächste Woche freinehmen", erwiderte Mariah. „Anfang August ist die ideale Jahreszeit, um sich Alaska anzuschauen." „Das passt mir gut." Christian war so außer sich vor Freude, dass er sie am liebsten bei den Schultern gepackt und auf beide Wangen geküsst hätte. Sie zögerte und blieb vor seinem Schreibtisch stehen. „Gibt es noch etwas?" erkundigte er sich. „Ja." Ihre Augen blitzten kurz auf. „Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Es ist sehr kurzfristig, aber ich habe erst gestern abend beschlossen, mich mit Tracy in Anchorage zu treffen, und..." „Tracy Santiago?" Tracy Santiago war Anwältin und kurz nach Mariahs Ankunft in Hard Luck von deren Eltern engagiert worden. Sie war nach Hard Luck gekommen, um sich ein Bild von Mariahs Wohnverhältnissen zu machen und Mariahs Vertrag mit Midnight Sons zu überprüfen. Offenbar hatte sie sich während ihres Aufenthalts mit Mariah angefreundet.
Wenn er Glück hatte, überredete sie Mariah dazu, nach Seattle zurückzukehren. Er wünschte sich jedenfalls, dass Mariah verschwand. „Ich fliege am Samstag", erklärte sie. „Gut." „Am Samstag darauf komme ich zurück." „Gut." Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. „Ich wollte es Ihnen nur sagen." „Fliegen Sie vo n Fairbanks?" fragte er. „Ja." Sie nickte begeistert. „Duke bringt mich nach Anchorage." Natürlich war Duke ganz scharf darauf, mit ihr allein zu sein. Allerdings lag es auf der Hand, dass es nur Probleme gab, wenn einer der Piloten sich mit der Sekretärin einließ. Christian wusste zwar nicht, warum, aber es passte ihm nicht, dass Duke sie nach Fairbanks brachte. „Nächsten Samstag hat Duke keine Zeit", erklärte Christian schnell. Ihm würde schon eine Aufgabe für Duke einfallen. „Ich habe doch im Flugplan nachgesehen. Duke war für Samstag nicht eingetragen, und er hat mir versprochen, mich hinzufliegen." „Dann schlage ich vor, dass Sie noch einmal nachsehen", entgegnete er schroff. „Einer der anderen Piloten muss für ihn einspringen." „Na gut", meinte sie wenig erfreut. Kaum hatte er sich in seine Arbeit vertieft, kam Mariah wieder zu ihm. „Ja?" erkundigte er sich ungeduldig, rief sich aber gleich ins Gedächtnis, dass er bald seine Ruhe hatte. Der Gedanke daran heiterte ihn sofort auf. „Ich habe gerade einen Blick in den Flugplan geworfen. Nur einer der Piloten hat am Samstag Zeit, und ..." „Gut." Christian war es egal, wer sie nach Fairbanks brachte, solange es nicht Duke war. „Aber..." „Mariah, ich habe Wichtigeres im Kopf, als Ihre Reisepläne zu diskutieren", unterbrach er sie unwirsch. „Irgendjemand wird Sie schon nach Fairbanks bringen, damit Sie Ihren Anschlussflug nach Anchorage bekommen." „Ich weiß", erwiderte sie genauso ungeduldig. „Dieser Jemand sind Sie." Der Mann ist wirklich unmöglich, dachte Mariah, als sie am Nachmittag das Büro von Midnight Sons verließ. Sie konnte es ihm partout nicht recht machen. Am liebsten hätte sie Christian O'Halloran ins Gesicht gesagt, dass er sich diesen Job sonstwo hin stecken konnte. Genau das hätte sie auch getan, wenn sie nicht so in ihn verliebt gewesen wäre. Mariah wusste gar nicht, wann es passiert war - vielleicht schon bei ihrer ersten Begegnung mit Christian. Er war in Seattle gewesen und hatte mit vielen Frauen Bewerbungsgespräche geführt, um mehrere Positionen in Hard Luck zu besetzen. Sie hatte sich gleich als Sekretärin beworben, obwohl sie als Schadenssachverständige für einen Versicherungskonzern gearbeitet und kaum über Büroerfahrung verfügt hatte. Das Vorstellungsgespräch war ziemlich kurz. Christian stellte ihr eine Menge Fragen, schien aber mit den Gedanken ganz wo anders zu sein. Danach war sie ziemlich frustriert, weil sie glaubte, er hätte sich bereits für eine andere Bewerberin ent schieden. Als sie kurz darauf erfuhr, dass sie den Job doch bekommen hatte, und es ihren Freundinnen erzählte, konnte niemand verstehen, dass sie in eine Kleinstadt nördlich des Polarkreises gehen wollte. Falls sie es tue, um sich dem Einfluss ihrer Familie zu entziehen, so sagten sie, gebe es doch andere Orte, die weitaus geeigneter seien. Als sie dann ihre Eltern über ihre Pläne informierte, befürchteten die das Schlimmste. Mariah konnte ihnen einfach nicht begreiflich machen, dass sie es aus Abenteuerlust tat und um ein anderes Leben kennenzulernen. Sie hatte geahnt, dass sie Alaska liebenlernen würde, und sie hatte recht behalten. Ihre Freundinnen hatten sie unbarmherzig aufgezogen. Mariah musste immer noch lächeln, wenn sie an eine Bemerkung ihrer Freundin Rochelle dachte: „Soweit ich weiß, sind deine
Chancen, einen Mann zu finden, ganz gut, aber die Typen da oben sind ziemlich seltsam." Allerdings war sie nicht nach Alaska gekommen, um sich dort einen Ehemann zu angeln, sondern um endlich ihr eigenes Leben zu leben, fernab von ihrer Familie. Zum ersten Mal konnte sie Entscheidungen treffen, ohne dass ihre Mutter oder eine ihrer Tanten sich einmischte und ihr alles abnahm. Zwei Ereignisse hatten Mariahs Leben in Hard Luck maßgeblich beeinflusst. Erstens - und das war das wichtigste - hatte sie sich Hals über Kopf verliebt. Das Problem war nur, dass das Objekt ihrer Zuneigung Christian O'Halloran war, denn er schien sie nicht einmal zu mögen. Er hielt sie für einen Tollpatsch, was sie ihm nicht einmal verübeln konnte. Ihre ständigen Missgeschicke rührten jedoch daher, dass er sie so nervös machte. Immer wenn er in ihrer Nähe war, verhielt sie sich ungeschickt. Und nun dachte er auch noch, dass sie in Duke verliebt sei. Er musste blind sein. Das zweite Ereignis hatte sie ihrer Familie zu verdanken. Eigentlich hätte ihr klar sein müssen, dass ihre Eltern sich nicht so schnell mit ihrer Entscheidung abfinden würden. Kaum hatte sie den Vertrag mit Midnight Sons unterschrieben, hatten ihre Eltern eine Anwältin engagiert. Ihre Befürchtungen, dass Tracy Santiagos Bemühungen sie womöglich den Job kosteten, hatten sich aber als unbegründet erwiesen, und Mariah und Tracy waren inzwischen gute Freundinnen. Seit Mariah in Hard Luck lebte, hatten sich viele Dinge ereignet. Es hatte einen Todesfall und mehrere Hochzeiten gege ben, und Hard Luck Lodge, das Hotel, war wiedereröffnet wor den. Bald würden auch zwei Kinder geboren werden, denn Abbey O'Halloran und Karen Caldwell waren schwanger. In ihrem letzten Brief hatte Mariah Tracy ausführlich vom Leben in Hard Luck berichtet. Sawyer und Charles O'Halloran hatten sich Hals über Kopf verliebt und waren mittlerweile beide verheiratet. Kurz darauf hatte Pete Livengood, der Inhaber des Lebensmittelladens, Dotty Harlow das Jawort gegeben, die im Gesundheitszentrum arbeitete. Schließlich waren Mitch Harris, der Sicherheitsbeamte, und Bethany Ross, die neue Lehrerin, vor den Traualtar getreten. Einige Frauen waren also in Hard Luck geblieben, während andere gleich nach ihrer Ankunft wieder abgereist waren. Ihre Familie hatte Mariah prophezeit, dass sie es keine sechs Monate in Alaska aushalten würde, doch im Gegensatz zu Tracy hatten sie sie unterschätzt. Als Mariah auf dem Weg zu ihrem Blockhaus am Hotel vorbeikam, trat Karen Caldwell auf die Veranda. Sie war im vierten Monat schwanger und strahlte vor Glück. „Hallo, Mariah", grüßte sie fröhlich. „Ich habe gehört, dass du verreisen willst. Wohin fliegst du denn?" Mariah hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sich I einem Ort wie Hard Luck alles herumsprach, obwohl die Einwohner gegenseitig ihre Privatsphäre respektierten. Es war daher kein Klatsch, sondern echtes Interesse. Das Hard Luck Cafe, las von Ben Hamilton geleitet wurde und das fast alle Einwohner mindestens einmal in der Woche besuchten, war die wichtigste Nachrichtenbörse des Ortes. Mariah ging zu Karen auf die Veranda. Das Hotel, das früher den O'Hallorans gehört hatte, wurde nun von Karens Mann Matt geleitet, der es auch renoviert hatte. „Woher weißt du das?" fragte sie neugierig. „Von Matt. Er hat es von Ben erfahren, der es wiederum von John Henderson wusste." Das erklärte natürlich alles, denn John Henderson war Duke Porters bester Freund. Wahrscheinlich hatte Duke ihm gegenüber erwähnt, dass er sie nach Fairbanks fliegen wollte. „Ich treffe mich mit Tracy Santiago in Anchorage", erklärte Mariah. „Mittlerweile lebe ich schon ein Jahr und Alaska, und ich dachte, es ist höchste Zeit, mal ein bisschen Tourist zu spielen." „Ich wünsche dir jedenfalls viel Spaß", meinte Karen. „Aber lass dich nicht von den
Lichtern der Großstadt blenden." „Keine Angst. Mein Zuhause ist hier." Und das stimmte auch. Mariah hatte keine Lust, nach Seattle zurückzukehren. Obwohl sie ihren Vertrag erfüllt hatte, wollte sie in Hard Luck bleiben. Das Blockhaus und die neun Hektar Land gehörten jetzt ihr. Sie hatte erreicht, was sie wollte. Das einzige, was sie nun noch an Alaska band, war die Liebe zu Hard Luck und seinen Einwohnern. Besonders zu Christian. Christian betrat das Hard Luck Cafe und setzte sich auf einen Barhocker am Tresen. Ben Hamilton war gerade dabei, das Abendgericht auf die Tafel zu schreiben - Elchschmorbraten mit Preiselbeersoße und Kartoffelmus -, und Christian hatte den Blick auf die Tafel gerichtet. „Ist es nicht noch ein bisschen zu früh zum Essen?" fragte Ben. „Natürlich." Es war erst halb fünf, und normalerweise aß Christian frühestens um sechs. „Du hast erst vor drei Stunden Mittag gegessen", erinnerte ihn Ben. Das wusste Christian selbst. Er war nicht ins Cafe gekommen, um zu essen, sondern um Ben sein Herz auszuschütten. Obwohl Sawyer erst einen Tag fort war, war Christian bereits am Ende seiner Kräfte, denn er musste nicht nur mit der zusätzlichen Arbeit, sondern auch mit Mariah fertig werden. Sawyer machte mit Abbey und den Kindern einen Kurzurlaub in Fairbanks, um sich dort mit Freunden zu treffen. Christian mochte gar nicht daran denken, was passierte, wenn sein Bruder noch länger wegblieb. „Beschäftigt dich etwas?" erkundigte sich Ben, während er sich an den Tresen lehnte. „Ja." „Dann lass dir gesagt sein, was ich vor kurzem auch Matt gesagt habe: Wenn du einen Rat von mir willst, musst du dafür bezahlen." „Verdammt, wovon redest du eigentlich?" „Bist du hergekommen, um zu essen oder zu reden?" entgegnete Ben. Seit er seine Aktion für Stammgäste ins Leben gerufen hatte, war Ben offenbar etwas wunderlich geworden. Daher überraschte es Christian, dass er ihm noch nichts für den Platz an der Bar berechnete. „Also gut, wie wär's mit einem Kaffee?" meinte er schließlich. „Kommt sofort." Christian drehte einen Becher um, damit Ben ihm einschenken konnte. Dabei dachte er unwillkürlich daran, dass Mariah ihm seit einem Jahr fast jeden Morgen Kaffee kochte. Er wusste nicht, wie oft er ihr gesagt hatte, dass er seinen Kaffee schwarz trank. Manchmal tat sie ihm Zucker hinein, manchmal Sahne, manchmal sogar beides. Die Tage, an denen sie es richtig ge macht hatte, konnte er an einer Hand abzählen. „Hast du ein Problem?" fragte Ben. Christian schüttelte den Kopf. Plötzlich hatte er keine Lust mehr, über seine Probleme zu sprechen, zumal Ben sicher für Mariah Partei ergreifen würde. „Also heraus damit", forderte Ben ihn auf. „Was kostet das?" „Gar nichts, ich will nur meinen Kaffee loswerden." Christian verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass er vermutlich mehr Kaffee ausschenkte als die Lokale in Anchorage, die rund um die Uhr geöffnet waren. „Wenn dich etwas bedrückt, spuck es aus", drängte Ben. „Ach, es ist nichts." Ben lachte ungläubig. „Ich schätze, es geht um Mariah." Christian funkelte ihn an. „Wie kommst du denn darauf?" Ben zuckte lässig die Schultern. „Wenn du so ein Gesicht machst, geht es meistens um sie. Schließlich beklagst du dich schon seit einem Jahr über sie." „Und es hat auch nichts genützt", erwiderte Christian mür risch. „Alle halten sie für eine
Heilige. Stimmt vielleicht etwas mit mir nicht?" fügte er mehr zu sich selbst hinzu. „Sie ist ein Schatz, Chris." „Das sehe ich anders. Wir kommen einfach nicht miteinander klar." „Hast du dir schon mal Gedanken gemacht, warum das so ist?" „Allerdings", meinte Christian. „Ich habe mal einen Artikel in einem dieser Flugmagazine gelesen. Es muss schon ein paar Jahre her sein. Es war ein Bericht über einen Mann, der von einem Ende der USA zum anderen gewandert ist. Er hat Monate dafür gebraucht und wurde von vielen Leuten gefragt, was er am schlimmsten gefunden habe." Ben runzelte die Stirn. „Sprechen wir immer noch von Mariah?" „Ja. Der Verfasser des Artikels, der den Mann interviewt hat, vermutete, dass es die Hitze in der Wüste oder die Kälte in den Bergen war." „Und war es das?" fragte Ben neugierig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein." „Bist du sicher, dass wir immer noch von Mariah sprechen?" Christian überhörte seine Frage. „Der Mann musste lange nachdenken. Schließlich sagte er, das schlimmste sei für ihn der Sand in seinen Schuhen gewesen." „Der Sand in seinen Schuhen?" „Genau. Und darum geht es auch zwischen Mariah und mir. Es sind die kleinen Dinge, die mich verrückt machen", erklärte Christian auf Bens fragenden Blick hin. „Die Tatsache, dass sie mir jeden Morgen meinen Kaffee verdirbt oder ständig Dinge verlegt ... Es ärgert mich einfach." Er machte eine Pause, bevor er widerwillig hinzufügte: „Sicher ist sie eine kompetente Sekretärin, aber nicht, wenn sie für mich arbeitet." „Sawyer scheint keine Probleme mit ihr zu haben", erinnerte ihn Ben. Im selben Moment wurde die Tür geöffnet. Christian drehte sich um und stellte fest, dass Duke hereinkam. Als Duke ihn sah, kniff er die Augen zusammen. „Was soll das?" Er schwenkte den Zettel, den Christian ihm in sein Fach gelegt hatte. „Ich fliege Mariah am Samstag nach Fairbanks", informierte Christian ihn ruhig. Da er der Boss war, erwartete er keinen Widerspruch. „Ich habe es ihr aber angeboten", sagte Duke. „Das weiß ich. Allerdings brauche ich dich für ... wichtigere Aufgaben." „Von wegen. Du weißt genau, dass es nur ein Vorwand ist. Ich kann auch nächste Woche noch nach Barrow fliegen, und ganz plötzlich fällt dir ein, dass es Samstag sein muss." Christian war natürlich nicht besonders stolz auf sein Verhalten, doch er wollte nicht, dass Duke und Mariah ihre Romanze während der Arbeitszeit vorantrieben. Was sie in ihrer Freizeit ma chten, war ihre Sache. „Du denkst anscheinend, dass ich in sie verliebt sei", erklärte Duke wütend. Christian umklammerte unwillkürlich seinen Becher. Er wollte sich darauf nicht einlassen. „Bist du es denn?" erkundigte Ben sich eifrig. „Nein. Ich habe eine Freundin in Fairbanks, die ich besuchen wollte." „Du hast eine Freundin in Fairbanks?" wiederholte Ben. „Seit wann?" „Seit eben." Christian war sich nicht sicher, ob er ihm glauben sollte. „Und was war neulich? Da hast du Mariah geküsst." Ben schaute ihn aus großen Augen an. „Du hast gesehen, wie Duke und Mariah sich geküsst haben?" „Ja, verdammt!" Allein der Gedanke daran, wie er die beiden im Büro ertappt hatte, brachte Christian auf die Palme. „Und zwar am helllichten Tag." Duke ballte die Hände zu Fäusten. „Ich habe Mariah nicht geküsst." „Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen." Duke verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den andern. „Da es dir offenbar so wichtig ist, sage ich es noch einmal: Ich habe Mariah nicht geküßt."
Christian funkelte ihn an. Das war eine unverschämte Lüge! Nun senkte Duke den Blick. „Sie hat mich geküsst."
2. KAPITEL
Am Samstag war Mariah schon vor der verabredeten Zeit am Flugplatz, weil sie es nicht erwarten konnte, Tracy wiederzusehen und mit ihr Pläne für die gemeinsame Urlaubswoche zu schmieden. Sie wollten auf jeden Fall eine Gletschertour machen und einige andere Sehenswürdigkeiten in und um Anchorage besichtigen. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf. Das war ja kein vielversprechender Start in die Ferien! „Sind Sie startklar?" Christian ging an Mariah vorbei auf die zweisitzige Luscom zu. Es war die kleinste Maschine in der Flotte und die, die am wenigsten benutzt wurde. Mariah hob ihren Koffer hoch und eilte hinter ihm her. „Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe machen", sagte sie, während sie den Griff mit beiden Händen umklammerte. Sie hatte keine Ahnung, warum Christian darauf bestanden hatte, sie selbst nach Fairbanks zu bringen, wo er es doch offensichtlich als Zumutung betrachtete. Da der Koffer sehr schwer war, konnte sie nicht mit ihm Schritt halten. Als Christian es endlich merkte, drehte er sich um, kam zurück und nahm ihn ihr ab. „Was haben Sie eigentlich eingepackt? Steine?" Mariah zog es vor, darauf nicht zu antworten. Nachdem er ihr ins Flugzeug geholfen hatte, verstaute er den Koffer und kam zu ihr ins Cockpit. Dort war es so eng, dass ihre Schultern sich berührten, als er die Schalter betätigte und den Motor anließ. Mariah schnallte sich an und schaute besorgt zum dunklen Himmel, der ziemlich bedrohlich wirkte. Dabei fragte sie sich, ob sie Christian sagen sollte, dass sie nicht besonders gern flog. Vor allem in kleinen Flugzeugen hatte sie immer Angst. Um ihm jedoch keinen Anlass zu weiteren Reibereien zu geben, hielt sie lieber den Mund. Christian nahm Funkkontakt mit Fairbanks auf und notierte sich die Wettermeldungen. „Kann es sein, dass wir in ein Gewitter fliegen?" fragte sie, sobald die Maschine auf die unbefestigte Start- und Landebahn zurollte. Wider Erwarten tat er ihre Besorgnis nicht ab. „Laut Auskunft des Fluglotsen müssten wir es eigentlich überfliegen. Keine Angst, ich bringe Sie rechtzeitig nach Fairbanks." Oder auch nicht, dachte Mariah beklommen, während das Flugzeug beschleunigte und schließlich abhob. Als es in der Luft war, entspannte sie sich ein wenig. Der Flug würde ungefähr eine Stunde dauern, je nach Windstärke und -richtung. Nach wenigen Minuten flogen sie durch die dunklen Wolken. Die Sichtweite war gleich Null, aber das war vermutlich gut so. Mariah schloss die Augen und versuchte, gleichmäßig ein- und auszuatmen. „Wenn Ihnen übel wird, sagen Sie mir Bescheid", meinte Christian. „Mir geht es gut." „Sie haben die Augen zugemacht." „Ich weiß." Krampfhaft umklammerte sie den Sitz. „Warum?" „Weil ich nichts sehen will!" entgegnete sie scharf. Er lachte leise und schien sich über ihr Unbehagen zu amüsieren. „Ich habe schon seit einem Jahr keine Bruchlandung mehr gemacht", neckte er sie. „Also ist langsam mal wieder eine fällig." Plötzlich neigte das Flugzeug sich bedenklich zu einer Seite, dann zur anderen. „Bitte hören Sie auf damit!" bettelte Mariah. „Das mache ich doch nicht mit Absicht." Als sie die Augen wieder öffnete, stellte sie fest, dass er offenbar Schwierigkeiten hatte, die Maschine unter Kontrolle zu behalten. „Ich versuche, höher zu fliegen. Keine Angst, es ist alles in Ordnung."
Als das Flugzeug sich erneut nach rechts neigte, musste sie einen Aufschrei unterdrücken. Obwohl sie schon öfter in kleinen Maschinen geflogen war, seit sie in Hard Luck wohnte, machte es sie immer noch nervös - besonders jetzt, da sie sich einer Gewitterfront näherten. „Ist alles o.k.?" fragte Christian nach einer Weile. „Konzentrieren Sie sich aufs Fliegen", rief Mariah, um das Motorengeräusch zu übertönen. „Sie sind kreidebleich." „Machen Sie sich um mich keine Sorgen." „Ich bin allerdings nicht in der Lage, die Maschine zu steuern und Sie wiederzubeleben." „Wenn ich in Ohnmacht falle ..." Wieder schloss sie die Augen. „... ist das kein Grund zur Besorgnis." Als das Flugzeug erneut bedrohlich schlingerte, stöhnte sie auf und barg das Gesicht in den Händen. „Gleich haben Sie es überstanden", sagte Christian sanft und tätschelte ihr den Arm. „Vertrauen Sie mir." Normalerweise war er ungeduldig, kurz angebunden oder sogar wütend, wenn er mit ihr sprach, so dass sie sich jedesmal fragte, was sie nun schon wieder verbrochen hatte. Doch aus irgend einem unerfindlichen Grund zeigte er sich an diesem Tag, an dem es am meisten brauchte, von einer ganz anderen Seite. Sie spürte, dass das Flugzeug sich jetzt im Steigflug befand. Gleich würden sie über den Wolken fliegen, und es wäre überstanden, genau wie Christian versprochen hatte. „Sie können die Augen aufmachen", erklärte er schließlich. Mariah spreizte die Finger und blinzelte hindurch. Draußen war strahlender Sonnenschein. Sie atmete erleichtert auf. Eine Zeitlang schwiegen sie beide. „Weiß Ihr Freund, dass Sie nicht gern fliegen?" erkundigte Christian sich dann. „Mein Freund?" wiederholte sie verblüfft, bis ihr einfiel, dass er sie ja mit Duke zusammen gesehen hatte. „Er war verdammt sauer, als ich ihm gesagt habe, dass er Sie nicht nach Fairbanks bringt", meinte er mit einem missbilligenden Unterton. Sie schaute demonstrativ aus dem Seitenfenster. „Duke ist nicht mein Freund." „Das hat er auch behauptet." Er schien ihr kein Wort zu glauben. „Es ist die Wahrheit." „Duke hat mir erzählt, dass Sie ihn geküsst haben." „Das habe ich auch ... gewissermaßen." Nun musste er lachen. „Sie haben anscheinend vergessen, dass ich Sie beide auf frischer Tat ertappt habe - engumschlungen." „So war es nicht", widersprach sie hitzig. „Ich hatte gerade mit Tracy telefoniert..." „Während der Arbeitszeit?" „Ja." Sollte er ihr doch das Gehalt kürzen! „Und weiter?" „Tracy und Duke verstehen sich nicht." Wieder lachte er. „Das ist noch milde ausgedrückt." „Tracy hatte die Idee, dass ich Duke einen Kuss von ihr geben sollte. Genau das habe ich gemacht. Es war nur Spaß." Christian antwortete darauf nicht. „Glauben Sie mir jetzt?" Für sie war es wichtig, dass er ihr glaubte, denn trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten legte sie viel Wert auf gegenseitiges Vertrauen - ob auf beruflicher oder privater Ebene. „Ja", räumte er schließlich ein. „Aber eines sollten Sie wissen, falls Sie irgendwelche Gefühle für Duke hegen. Er hat eine Freundin in Fairbanks. Und er hat mir geschworen, dass er immer nur eine Frau zur Zeit hat."
„Es ist mir egal, wie viele Freundinnen Duke hat." Allerdings war Mariah überrascht, denn sie hörte zum ersten Mal, dass Duke eine Freundin hatte. Andererseits war es unwahrscheinlich, dass er mit ihr über seine Privatangelegenheiten sprach. Kurz darauf erreichten sie Fairbanks. Sobald die Maschine wieder durch die Wolken flog, versteifte Mariah sich unwillkürlich. „He, haben Sie etwa schon wieder Angst?" fragte Christian. „Allerdings." Es hatte ja doch keinen Sinn, es abzustreiten. Mariah schloss wieder die Augen und umklammerte den Sitz. „Keine Sorge, wir landen gleich." Dann nahm er Verbindung mit dem Tower auf und bediente die entsprechenden Instrumente. Tatsächlich verlief die Landung ohne Komplikationen, und er ließ die Maschine auf den Hangar zurollen, wo ein Firmentransporter von Midnight Sons stand. Keiner von ihnen machte Anstalten, das Flugzeug zu verlassen. „Das war gar nicht so schlecht, oder?" Christian betrachtete Mariah eingehend, und dabei knisterte es förmlich vor Spannung. Sie war sich seiner Nähe plötzlich überdeutlich bewusst, Und ihm schien es umgekehrt genauso zu gehen. „Stimmt. So schlecht war der Flug gar nicht", sagte sie etwas atemlos. „Vielen Dank." Sie wollte die Tür öffnen, war jedoch unfähig, sich zu bewegen. Er beugte sich zu ihr herüber, so dass seine Lippen fast ihre berührten. Mariah wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr stockte der Atem. Schließlich streifte Christian ganz sanft ihren Mund. Obwohl es nur eine flüchtige Berührung war, übte sie auf Mariah eine verheerendere Wirkung aus, als ein leidenschaftlicher Kuss es getan hätte. Plötzlich zuckte Christian zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Noch immer genoss sie das herrliche Gefühl, das er in ihr ge weckt hatte. Genau danach hatte sie sich schon lange gesehnt. Als er im nächsten Moment die Tür öffnete, wurde es durch den Luftzug sofort kühler im Flugzeug. Ihr fiel auf, dass er es mit einemmal ziemlich eilig hatte. Sobald sie in dem Transporter saßen und auf den Terminal zufuhren, räusperte sich Christian. „Ich möchte nicht, dass Sie das, was gerade passiert ist, überbewerten", erklärte er schroff. „Das werde ich nicht." „Ich wollte es nicht tun. Es ... Na ja, es ist einfach passiert." Das durfte doch nicht wahr sein! Was für sie der perfekteste Augenblick in ihrem Leben gewesen war, tat ihm leid. Wie hatte er bloß so dumm sein können? Christian hatte keine Ahnung, was in ihn gefahren war, als er Mariah geküsst hatte. Obwohl es bereits vier Tage her war, dachte er noch immer darüber nach, was im Flugzeug passiert war. Vermutlich war es eine ganz spontane Reaktion gewesen. Trotzdem konnte er es sich nicht erklären. Seit Mariah für Midnight Sons arbeitete, war es ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, sie zu küssen. Nach dem Flug dagegen hatte er der Versuchung nicht widerstehen können. Damit hatte er alles nur noch komplizierter gemacht, aber das hatte er sich selbst zuzuschreiben. Er hatte zwar versucht, das Ganze abzutun, doch lediglich ein Blinder hätte das Funkeln in Mariahs Augen nicht bemerkt. Das war das Schlimme mit den Frauen. Man brauchte sie nur ein- oder zweimal zu küssen, und schon glaubten sie, es hätte etwas zu bedeuten. Eins wollte er allerdings klarstellen: Er war nicht an Mariah Douglas interessiert. Er mochte sie nicht einmal. Wenn er eine Gelegenheit gehabt hätte, sie loszuwerden, hätte er sie sofort ergriffen. „Du siehst so deprimiert aus", stellte Sawyer fest, als er an Christians Schreibtisch vorbei
zu seinem ging. „Mir geht es gut!" entgegnete Christian schroff. Er würde seinem Bruder auf keinen Fall von diesem dämlichen Kuss erzählen. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass du Mariah vermisst." Christian lachte laut. „Hast du gemerkt, wie reibungslos alles läuft, seit sie nicht da ist?" Wenn es ihm gelang, ihn davon zu überzeugen, würde Sawyer vielleicht endlich zur Vernunft kommen und einsehen, dass sie keine Sekretärin brauchten. „Es ist ziemlich hektisch", wandte er ein. „Na ja, es ist mehr los als sonst", räumte Christian ein. „Aber ist dir nicht aufgefallen, wie ruhig es ist? Und es gab keine größerenProbleme." „Stimmt." „Wir brauchen Mariah nicht." Sawyer warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Was soll das heißen, wir brauche n sie nicht? Wir kommen zwar auch ohne sie klar, aber es ist verdammt stressig, weil wir immer mehr Aufträge bekommen. Dass alles glattgeht, liegt daran, dass sie alles im Griff hat. Ich kann es jedenfalls kaum erwarten, bis sie wieder da ist.“ Christian fluchte leise. Auch er wartete gespannt auf ihre Rückkehr, allerdings aus einem ganz anderen Grund. „Erzähl doch Abbey und den Kindern, dass wir Mariah nicht brauchen", fuhr Sawyer fort. „Ich bin diese Woche jeden Abend zu spät zum Essen nach Hause gekommen. Ich habe keine Lust, so hart zu arbeiten. Schließlich habe ich eine Familie, die ich ab und zu mal sehen möchte." Im nächsten Moment klingelte das Telefon, und er wandte sich wütend an Christian, der gerade etwas ausrechnete. „Da du soviel Zeit hast, kannst du ja rangehen." Christian warf ihm einen finsteren Blick zu, bevor er zum Hö rer griff. "Duke hat eine Freundin?" fragte Tracy Santiago. Sie saß mit Mariah auf der Terrasse des Kenai Hotels, und beide genossen den herrlichen Sonnenschein. „Du machst wohl Witze. Welche Frau würde es mit diesem Chauvi länger als fünf Minuten aushalten? " „Keine Ahnung. Ich habe nur wiederholt, was Christian mir erzählt hat. Aber es ist schon komisch", fügte Mariah nachdenk lich hinzu. „Duke hat nie etwas davon erwähnt." Tracy drehte sich zur Sonne und murmelte etwas, das Mariah nicht verstand. „So schlimm ist Duke nun auch wieder nicht." Tracy setzte sich auf und nahm einen Schluck von ihrem Drink. „Der Kerl ist eine einzige Nervensäge. Lass uns lieber das Thema wechseln, ja? Allein der Gedanke an ihn treibt meinen Blutdruck hoch." Mariah lehnte sich in ihrem Liegestuhl zurück. Wie Tracy war sie ziemlich erschöpft, denn sie hatten vier Tage mit Sightseeing verbracht und waren pausenlos unterwegs gewesen. Jetzt wollte Mariah sich entspannen und nicht an Hard Luck denken - schon gar nicht an Christian. Sie wollte ihren Urlaub in vollen Zügen genießen. „Ist das ein Leben!" Tracy schloss die Augen und lächelte. „Daran könnte ich mich glatt gewöhnen." Mariah musste ebenfalls lächeln. Obwohl Tracy und sie sich meistens schrieben, kannte sie sie mittlerweile sehr gut. Tracy würde es nicht einmal eine Woche ertragen, an irgendeinem Swimmingpool faul in der Sonne zu liegen, denn sie war ein richtiges Arbeitstier. „Du überraschs t mich", erklärte sie unvermittelt. „Ich?" fragte Mariah. „Warum das?" „Na ja, als deine Eltern sich mit mir in Verbindung gesetzt ha ben, haben sie dich als zartes und unbedarftes Wesen beschrieben." „So sehen sie mich leider auch", gestand Mariah traurig. Genau deswegen hatte sie Seattle auch verlassen. Ihre Eltern hielten sie für hilflos und unfähig, und wenn sie noch länger in
ihrer Nähe geblieben wäre, hätte sie es vermutlich irgendwann selbst geglaubt. „Es gefällt dir in Hard Luck, stimmt's?" „Und ob. Das letzte Jahr war das ..." Mariah zögerte, weil sie nicht wusste, wie sie ihr Leben in Alaska beschreiben sollte. Sie war stolz auf sich, weil sie es geschafft hatte, es unter derart extremen Bedingungen so lange dort auszuhalten besonders im Winter, wenn es bis zu vierzig Grad kalt wurde, Natürlich hatte es auch Zeiten gegeben, in denen sie sich einsam Befühlt hatte. Doch im Großen und Ganzen hatte sie sehr viel mehr Selbstvertrauen als vorher, so dass sie sich nun zutraute, mit. allen Schwierigkeiten fertig zu werden. Sie hatte gelernt, auf ihr Urteilsvermögen zu vertrauen und auf ihre Erfolge stolz zu sein Ihr merkwürdiges Verhältnis zu Christian stellte sie allerdings nach wie vor vor ein Rätsel, obwohl sie sich Immer starker zu ihm hingezogen fühlte. Leider schien er ihre Gefühle nicht tu erwidern. Oder vielleicht doch? Der Kuss hatte ihr Hoffnung gemacht. „Ich bewundere deinen Entschluss, in Hard Luck zu bleiben." Tracy wirkte auf einmal sehr nachdenklich. „Du hast dein Leben selbst in die Hand genommen und scheust kein Risiko." Ihr Lob machte Mariah richtig verlegen. ,,Die anderen Frauen haben doch dasselbe getan Abbey, Karen und Lanni, Bethany Ross und Sally Henderson." „Du bist mit ihnen befreundet, stimmt's?" „Es ist, als würden sie zu me iner Familie gehören", erwiderte Mariah. Doch zu den Frauen, die neu in Hard Luck waren, hatte sie ein viel besseres Verhältnis. Zwischen ihnen bestand ein enges Zusammengehörigkeitsgefühl, und sie halfen sich gegenseitig, wo sie konnten. Im Winter, wenn es nur wenige Stunden am Tag hell war und das Wetter auf die Stimmung schlug, brachten die Frauen Leben in die Gemeinde. Mariah kannte sie zwar erst seit einem Jahr, fühlte sich aber enger mit ihnen verbunden als mit ihren alten Freundinnen. „Was vermisst du am meisten?" fragte Tracy als nächstes. Mariah dachte einen Moment nach. Natürlich gab es Dinge, die ihr fehlten, denn in Hard Luck gab es weder Kinos noch Pizzalieferanten, noch Einkaufszentren ... „Was ich am meisten vermisse?" wiederholte sie langsam. „Lass mich mal überlegen, Tracy..." „Das sagt doch schon alles", meinte Tracy, und es klang beinah wehmütig. Christian legte den Krimi zur Seite, den er gerade las, und atmete tief durch. Obwohl das Buch von seinem Lieblingsautor stammte, konnte er sich nicht konzentrieren. Am nächsten Abend würde Mariah zurückkommen, und er hatte Angst vor dem Wiedersehen. Er war sicher, dass sie dem Kuss trotz seiner Warnung eine tiefere Bedeutung beimaß. Die ganze Woche hatte er vergeblich versucht, nicht an sie zu denken. Seltsamerweise hatte er in letzter Zeit auch öfter an Allison Reynolds gedacht und sich dabei ertappt, wie er sie mit Mariah verglich. Bei der Vorstellung an die klassisch schöne Blondine begann sein Herz zu rasen. Seit sie nach Seattle zurückgekehrt war, hatte er sie nicht mehr angerufen. Sie hatten sich dort kennengelernt, als er die Bewerbungsgespräche geführt hatte, und waren ein paarmal miteinander essen gegangen. Nun stand ihm wieder eine Geschäftsreise nach Washington bevor. Noch am Morgen ha tte er mit Sawyer darüber gesprochen. Normalerweise wechselten sie sich ab, wenn sie Ersatzteile besorgten, aber da Abbey schwanger war und die Schule bald wieder anfing, hatte Sawyer keine große Lust, Hard Luck zu verlassen. Bei Christian war genau das Gegenteil der Fall. Zum einen wollte Christian die Gelegenheit nutzen, seine Mut ter zu besuchen, die in Vancouver in Kanada lebte. Zu Ellen hatte er eine besonders enge Beziehung, was unter anderem daran lag, dass Charles und Sawyer sowohl äußerlich als auch in ihrer Art mehr ihrem verstorbenen Vater ähnelten. Als Kind hatte Christian anderthalb Jahre mit seiner Mutter in England gelebt. Seine Eltern hatten sich eine Zeitlang getrennt, weil ihre Ehe nicht besonders gut gewesen war. Er war
damals erst zehn gewesen und hatte es kaum verstanden. Allerdings merkte er, dass seine Mutter furchtbar unglücklich war. Er sah sie oft weinen und versuchte dann, sie zu trösten. Als sie ihm irgendwann sagte, sie würde Alaska verlassen, war ihm sofort klar, dass er mit ihr gehen würde. Er dachte, dass sie ihn brauche, und das stimmte auch. Es fiel ihm sehr schwer, sich von seinem Vater und von seinen Brüdern zu verabschieden, und er vermisste sie mehr, als er es für möglich gehalten hätte. Zuerst genoss er das Leben in England, aber schon bald begann er, seine Heimat und sein früheres Leben zu vermissen. Ellen ging es anscheinend genauso. Schließlich waren sie nach Hard Luck zurückgekehrt, und eine Zeitlang hatten seine Eltern sich sogar verstanden. Christian hatte nie begriffen, was ihr Glück zerstört hatte, doch er wusste, dass Catherine Fletcher in gewisser Weise dafür verantwortlich gewesen war. Auch sie war mittlerweile gestorben. Ellen hatte einige Jahre zuvor wieder geheiratet und hatte einen wundervollen Mann, der ihre Leidenschaft für Literatur teilte. Obwohl sie im vorigen Jahr zweimal in Hard Luck gewesen war, wollte Christian sie und ihren Mann Frank nun in Vancouver besuchen. Da sie ihre beiden neuen Enkelkinder sofort ins Herz geschlossen hatte, wollte er Scott und Susan mitnehmen. Die beiden hatten so noch einmal etwas Abwechslung vor Schulbeginn und Abbey und Sawyer etwas Zeit für sich. Spontan beschloss er, bei Allison Reynolds vorbeizuschauen, wenn er in Seattle war. Der Gedanke daran, abends mit ihr aus zugehen, heiterte ihn sofort auf. Zufrieden mit sich und der Welt, griff Christian wieder zu seinem Krimi und las weiter. Plötzlich fiel ihm ein, dass er Allison nicht einfach so überrumpeln konnte. Es war ihr gegenüber nicht fair, und vielleicht hatte sie auch schon etwas vor. Am besten war es wohl, wenn er sie gleich anrief. Also legte er das Buch wieder beiseite, suchte ihre Nummer heraus und griff zum Hörer. Nach dem dritten Klingeln nahm Allison ab. „Hallo." Ihre Stimme klang so ... samtig. Ja, das war der passende Aus druck dafür. Allein der Klang ihrer Stimme konnte einem Mann den Kopf verdrehen. „Allison, hier ist Christian O'Halloran." „Christian!" rief Allison erfreut. „Bist du etwa in Seattle? Ich habe gerade neulich an dich gedacht." „Tatsächlich?" Ist das Leben nicht schön? dachte Christian. „Und? Bist du in Seattle?" „Noch nicht, aber bald." „Wann?" Er konnte es gar nicht fassen, dass sie so begeistert klang. „Das weiß ich noch nicht. Ich wollte mich eigentlich nach dir richten, last du diesen Monat irgendwann Zeit?" „Wann immer du willst", sagte sie verführerisch. Sofort klopfte sein Herz schneller. Dies war die Gelegenheit, Mariah zu vergessen. Am frühen Samstag abend flog Christian nach Fairbanks, um Mariah abzuholen. Die ganze Woche hatte er sich davor gefürchtet, doch nun wurde ihm bewusst, dass er dem Wiedersehen gelassen entgegensah. Das hatte er Allison zu verdanken, denn die Vorstellung, bereits in einer Woche mit ihr zusammenzusein, nachte ihn richtig euphorisch. Während er am Flugsteig auf Mariah wartete, stellte er überrascht fest, dass er sich darauf freute, sie wiederzusehen. Sawyer hatte recht behalten. Im Büro war es ohne sie ziemlich hektisch zugegangen. Vermutlich hatte er, Christian, sich schon an ihre Gegenwart gewöhnt, und er musste sich eingestehen, dass er sie ein paarmal sogar vermisst hatte. Gegenüber der Tür zu dem Flugsteig befand sich ein Geschenkeshop. Da er den Zeitpunkt
für günstig hielt, sich mit Mariah zu versöhnen, ging Christian hinein. Sobald er die kleine Jadefigur sah, wusste er, dass es das ideale Begrüßungsgeschenk war. Sie war kaum größer als ein Bauklotz und stellte einen Bären dar, der einen Lachs im Maul hatte. Nachdem er sie bezahlt hatte, steckte er sie in seine Jackentasche. Das Flugzeug landete pünktlich, und kurz darauf kamen die ersten Passagiere durch die Tür. Schließlich erschien auch Mariah und schaute sich suchend um. Sie war mit Paketen beladen und wirkte erholt, was durch ihre leichte Bräune noch unterstrichen wurde. Als sie Christian entdeckte, zögerte sie. Christian ging auf sie zu und lächelte jungenhaft. „Willkommen zu Hause." „Hallo. Ich war nicht sicher, ob Sie mich abholen würden." Er überhörte ihre Bemerkung geflissentlich. „Wie war Ihr Urlaub?" „Phantastisch. Tracy und ich hatten eine schöne Zeit miteinander." Sie verlagerte die Pakete auf ihren Armen. „Ich habe für alle ein kleines Geschenk mitgebracht - sogar für Sie." „Das ist komisch. Ich habe nämlich auch ein Geschenk für Sie. Damit wollte ich Ihnen zu verstehen geben, dass ich froh bin, Sie wiederzuhaben." Nachdem er ihr einige Pakete abgenommen hatte, gingen sie zusammen zum Gepäckband. „Sie haben ein Geschenk für mich?" wiederholte Mariah erstaunt. Christian überlegte, ob er ihr die Figur gleich geben sollte. Schließlich hatte er in den letzten zwölf Monaten alles darange setzt, Mariah das Leben schwerzumachen. Nun tat es ihm leid. Sie war gar nicht so übel. Es war nur schade, dass er ein Jahr ge braucht hatte, um sich an die Zusammenarbeit mit ihr zu gewöhnen. „Haben Sie schon etwas gegessen?" erkundigte er sich. „Gegessen?" Mariah musterte ihn verblüfft. „Nein. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?" Er lachte leise. „Und ob." Sobald ihr Koffer angekommen war, gingen sie zum Transporter. Nachdem Christian ihr Gepäck verladen hatte, stiegen sie ein, und er fuhr los. Für sie beide war es ein neuer Anfang. Natürlich ging Mariah ihm immer noch auf die Nerven, aber er hatte keine Lust mehr, einen aussichtslosen Kampf zu führen. Fast alle hielten sie für einen wunderbaren Menschen, Sawyer eingeschlossen. Christian fand, dass er ihr gegenüber jetzt wesentlich toleranter war. Die Woche ohne sie und die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Allison hatten wahre Wunder gewirkt. „Sie gehen mit mir essen?" fragte Mariah, als er auf den Parkplatz seines Lieblingsrestaurants, des Sourdough Cafe, fuhr. Die Einrichtung war zwar nicht überwältigend, das Essen dafür umso besser. „Na klar", meinte er, bevor er aus dem Wagen stieg. Im Restaurant setzten sie sich einander gegenüber in eine Nische. Christian musste sich eingestehen, dass Mariah eine amüsante Begleiterin war, denn sie erzählte von ihren Erlebnissen in Anchorage und zeigte ihm ihre Fotos, die sie am Vortag hatte entwickeln und vergrößern lassen. Die interessantesten Aufnahmen stammten von ihrer Bootsfahrt zu den Gletschern im Prinz William Sound. Mariah hatte nicht nur das tiefe Blau des Eises, das in der Sonne glitzerte, künstlerisch eingefangen, sondern auch beeindruckende Fotos von Walen, Robben und Meeresvögeln gemacht. „Das sind ganz tolle Aufnahmen", sagte er begeistert. Sie errötete vor Freude. „Na ja, ich bin eine Art Hobbyfotografin." Obwohl er seit einem Jahr mit ihr zusammenarbeitete, hatte er davon nichts gewusst. Im nächsten Moment kam die Kellnerin an ihren Tisch, und sie widmeten sich ihrem Essen - Roastbeefsandwiches aus Sauerteigbrötchen. Erst als Christian den Transporter auf den Parkplatz am Flughafen lenkte, fiel ihm ein, dass er immer noch das Geschenk für Mariah in der Tasche hatte. „Vielen Dank für die Einladung zum Essen", sagte Mariah beinah schüchtern.
„Es wäre schön, wenn wir noch einmal von vorn anfangen sonnten." Er hoffte, dass sie seinen Worten keine tiefere Bedeutung beimaß. „Ja, das wäre es." „Ich habe keine Ahnung, warum wir so einen schlechten Start hatten." „Ich auch nicht", gestand sie. „Diese letzte Woche ... Als Sie weg waren ..." Er zögerte, weil er nichts Falsches sagen wollte. „Ja?" erkundigte sie sieh leise. „Es war irgendwie ... komisch." Dass sie jetzt nicht triumphierte, sprach eindeutig für sie. „Ich habe Hard Luck und meine Freundinnen vermisst. Sie auch." Natürlich wollte er auf keinen Fall zugeben, dass er sie auch vermisst hatte. Er nahm die kleine Plastiktüte aus seiner Jackentasche und gab sie ihr. „Das habe ich in dem Geschenkeshop im Flughafen entdeckt. Ich habe sofort an Sie gedacht." „Ist die schön!" sagte Mariah ehrfurchtsvoll, nachdem sie vorsichtig das Geschenkpapier entfernt hatte. „Vielen, vielen Dank. Ich habe für Sie einen Seidenschal gekauft - nichts Besonderes. Ich habe mal gelesen, dass Piloten früher damit ihre Schutzbrillen abgewischt haben, weil die Cockpits offen waren und Öl hineingespritzt ist ..." Sie verstummte abrupt und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Jadefigur zu. I„Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich mich in den letzten Monaten so dumm angestellt habe", gestand Christian. „Erst als Sie weg waren, ist mir klargeworden, was Sie leisten. Sie haben enorme Fortschritte gemacht, Mariah." Als sie zu ihm aufschaute, standen Tränen in den Augen. Tränen ... „Natürlich hatten wir unsere Probleme, aber ich habe festge stellt, dass Sie eine hervorragende Sekretärin sind", fuhr er fort. „Sie sind für Midnight Sons unentbehrlich geworden." Nun liefen ihr die Tränen über die Wangen. Dass sie so gerührt war, hatte er nicht erwartet, und er hätte sie am liebsten darauf hingewiesen. Doch im Moment beschäftigte ihn etwas ganz anderes, denn ganz plötzlich verspürte er das Be dürfnis, Mariah Douglas wieder zu küssen.
3. KAPITEL
Gleich würde Christian sie küssen. Als Mariah den verlangenden Ausdruck in seinen blauen Augen sah, verstärkte sie unwillkür lich den Griff um die Jadefigur. Endlich zahlte ihre Geduld sich aus. Mariah schloss die Augen und wartete darauf, dass er sie berührte. Sie hatte so lange davon geträumt, von Christian zart, aber auch leidenschaftlich geküsst zu werden. Nun ging ihr Traum in Erfüllung. Als jedoch nichts passierte, öffnete sie nervös die Augen und schaute ihn an. Verblüfft und beschämt zugleich, stellte sie fest, dass er mit finsterer Miene das Lenkrad des Transporters umklammerte. Mariah schluckte und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Wenn Christian sie nicht küssen wollte, dann eben nicht. Sie würde sich nicht damit abfinden, dass er so feige war. Allerdings musste sie zugeben, dass er in der letzten Woche enorme Fortschritte gemacht hatte. Er hatte sich für sein kindisches Benehmen ihr gegenüber entschuldigt und ein Geschenk für sie gekauft. Damit musste sie sich erst einmal begnügen. Als sie kurz darauf im Flugzeug saßen, waren sie zuerst beide etwas befangen, doch als sie in Hard Luck landeten, plauderten sie schon wieder so angeregt miteinander, als hätten sie viele gemeinsame Freunde und Interessen. Sobald die Maschine zum Stehen gekommen war, lud Christian Mariahs Gepäck in den Firmentransporter. „Es ist schön, wieder zu Hause zu sein", flüsterte Mariah und seufzte tief. Obwohl ihr Urlaub herrlich gewesen war, freute sie sich bereits wieder auf den Alltag. Christian bestand darauf, sie zu ihrem kleinen Blockhaus zu bringen, das außerhalb der Stadt lag. Als er das Gepäck auslud und ins Haus brachte, ließ er den Motor laufen. Kaum hatte er die Schwelle betreten, blieb er abrupt stehen. „Stimmt etwas nicht?" fragte Mariah, die ihm gefolgt war. „Ich bin nur überrascht, das ist alles", erwiderte er, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte. „Überrascht?" „Das haben Sie großartig gemacht." Bevor sie nachhaken konnte, was er damit meinte, fuhr er fort: „Hier ist es jetzt richtig gemütlich." „Das hier ist ja auch mein Zuhause." Es hatte sie viel Mühe gekostet, eine wohnliche Atmosphäre in dem kleinen Blockhaus zu schaffen. Zuerst hatte sie die klobigen Möbel entfernt, die sie bei ihrer Ankunft vorgefunden hatte, und nach und nach durch schönere Stücke ersetzt. In Anbetracht der Tatsache, dass sie in der Arktis lebte, war das gar nicht so einfach gewesen. Ihr Bett hatte sie sich per Schiff und Lkw aus Seattle nachschicken lassen. Außerdem hatte sie Matt ein paar Stühle abgekauft und per Katalog Stoff, einen kleinen Tisch und eine Öllampe bestellt. Da sie ein gutes Farbempfinden und ein Auge fürs Detail hatte, war das Ergebnis ihrer Bemühungen wirklich zufriedenstellend. Christian stellte ihren Koffer in der Mitte des Raumes auf dem grünrot gemusterten Teppich ab, den sie vor einem halben Jahr in Fairbanks erstanden hatte. Den farblich dazu passenden Quilt, der auf ihrem Bett lag, hatte sie sich bei der Gelegenheit auch gegönnt. „Nochmals vielen Dank", sagte sie. „Es war ein sehr netter Abend. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass Sie mich vom Flughafen abgeholt und zum Essen eingeladen haben." Christian zuckte sichtlich verlegen die Schultern. „Wir sehen uns dann Montag morgen", erwiderte er ein wenig schroff. „Montag morgen", wiederholte Mariah. Bevor er hinausging, blieb er noch einmal vor ihr stehen und küsste sie flüchtig auf die Lippen. Erst als er draußen war, schien ihm bewusst zu werden, was er gerade getan hatte. Wieder blieb er stehen und schüttelte den Kopf. Dann stieg er in den Transporter und fuhr
weg. Als Mariah am Montag morgen das Büro betrat, herrschte dort ein einziges Chaos. Zwei Telefone klingelten gleichzeitig, und es waren schon mehrere Faxe angekommen. Christian blätterte in den Akten und fragte sie nach einer Rechnung. Mariah lächelte in sich hinein, als sie die entsprechende Akte heraussuchte, die Anrufe entgegennahm und sich die Faxe durchsah. Es war ein schönes Gefühl, zu wissen, dass sie ge braucht wurde. „Willkommen zu Hause", begrüßte Sawyer sie zwei Stunden später, als sie zum ersten Mal eine ruhige Minute hatte. „War es die ganze Woche so hektisch?" Bis jetzt hatte Mariah es nicht einmal geschafft, ihren Pullover auszuziehen. Das Tele fon klingelte pausenlos, die Piloten kamen und gingen, und alle wollten etwas von ihr. Zu allem Überfluss tobte Christian immer noch wegen der Rechnung, weil ihm einige wichtige Unterlagen dazu fehlten. Sie versuchte, ihn zu beschwichtigen, indem sie ihm die betreffenden Dokumente heraussuchte. „Wir sind zwar ganz gut zurechtgekommen", erwiderte Sawyer, „aber trotzdem sind wir froh, dass Sie wieder da sind." „Das kann man wohl sagen", bestätigte Christian, die Hand auf der Sprechmuschel, woraufhin sein Bruder erst ihm, dann Mariah einen vielsagenden Blick zuwarf. Mariah setzte sich an den Computer und schaltete ihn ein. Inzwischen hatte Christian sein Telefonat beendet und kam an ihren Schreibtisch. „Sie müssen einige Reisevorbereitungen für mich treffen", erklärte er. „Natürlich." Er wollte verreisen? Überrascht griff sie zu Stift und Notizblock. „Ich werde erst meine Mutter in Vancouver besuchen und dann in Seattle Zwischenstation machen." „Kein Problem. Wie lange sind Sie weg?" Sie nahm den kleinen Kalender, der auf ihrem Schreibtisch lag, und wartete darauf, dass Christian ihr die Daten nannte. „Sagen wir, zehn Tage von Freitag an ..." Er zeigte auf die laufende Woche. „Also bis Sonntag nächster Woche. Bitte reservieren Sie mir ein Zimmer in unserem Stammhotel in Seattle. Übrigens werden Scott und Susan mich nach Vancouver begleiten. Ich möchte Montag oder Dienstag nach Seattle fliegen und kehre über Vancouver nach Hause zurück." „Ich kümmere mich heute nachmittag darum", versprach sie. „Wenn Sie schon dabei sind ... Könnten Sie mir ein paar Fünf-Sterne-Restaurants aufschreiben?" bat er. Mariah machte sich eine Notiz. „Ich kenne ein paar sehr gute Restaurants in der Innenstadt, die bei Geschäftsleuten sehr beliebt sind." Bestimmt konnte Tracy ihr auch einige gute Tips geben. „Ich habe eigentlich nicht an Geschäftsessen gedacht", erklärte er sachlich. „Ich will mich mit einer Freundin treffen - einer guten Freundin." Wenige Minuten später - sie telefonierte gerade mit einer Fluggesellschaft - hörte Mariah, wie die beiden Brüder sich miteinander unterhielten. „Du willst dich mit einer Freundin treffen?" erkundigte sich Sawyer. „Ja, mit Allison Reynolds." Selbst aus der Entfernung konnte sie sehen, wie Christians Augen funkelten. „Vielleicht erinnerst du dich noch an sie." Mariah war, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. Natürlich wusste sie, wer Allison Reyno lds war: ihre Vorgängerin. „Du willst dich mit Allison treffen?" Sawyer sprach leise, weil er offenbar befürchtete, Mariah könnte ihn hören. „Ja", erwiderte Christian geistesabwesend, da er gerade ein Fax las. „Ich habe neulich mit ihr telefoniert und ihr versprochen, mich mit ihr in Verbindung zu setzen, sobald ich in Seattle bin. Vielleicht kann ich sie ja davon überzeugen, es noch einmal mit Hard Luck zu versuchen. "
Sawyer warf ihr einen Blick zu. „Hältst du das für klug?" „Sicher", entgegnete Christian genauso leise, nachdem er das Fax auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. „Sie ist schön, witzig und charmant. Wir können von Glück reden, wenn sie für uns arbeitet. Lass uns später darüber sprechen, ja?" Sawyer runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Mariah traute ihren Ohren kaum. Christian hatte tatsächlich vor, sie durch Allison Reynolds zu ersetzen! Und zu allem Überfluss erwartete er auch noch von ihr, dass sie ihn dabei unterstützte, indem sie die Reisevorbereitungen für ihn traf! „Soll ich mein Ba rbie-Haus auch einpacken, Mom?" rief Susan aus ihrem Zimmer. Abbey nahm ein Handtuch aus dem Wäschetrockner, faltete es zusammen und legte es auf die Waschmaschine. „Nein, Schatz. Ihr könnt jeder nur einen Koffer mitnehmen. Also musst du deine Barbie-Sache n hierlassen." „Dir ist hoffentlich klar, dass meine Mutter die beiden nach Strich und Faden verwöhnen wird", meinte Sawyer, der an der Tür zum Waschraum lehnte. „Ich weiß. Wenn Scott und Susan wiederkommen, gehen sie uns bestimmt furchtbar auf die Nerven. " „Dafür haben wir eine ganze Woche für uns." Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch. „Hoffentlich verwöhnst du dann mich." Abbey küsste ihn und schmiegte sich an ihn. „Mal sehen, was ich tun kann." Sofort begannen seine Auge n zu funkeln. „Wenn die Kinder nicht da sind, tanzen Barbie und Ken auf dem Tisch." „Also wirklich, Sawyer!" Er lachte leise und legte ihr die Arme um die Taille. „Schade, dass Christian auch verreist. Allzuviel Freizeit werde ich nicht haben." „Das schaffen wir schon", versicherte sie. „Unsere zweiten Flitterwochen." Sawyer lächelte anzüglich. „Und dabei habe ich mich von den ersten immer noch nicht ganz erholt." „Daran bist du selbst schuld." Im nächsten Moment steckte Scott den Kopf zur Tür herein. „Mom, Dad, ihr denkt doch daran, Ea gle Catcher zu füttern, nicht?" Ihr Sohn schien nicht sicher zu sein, ob er ihnen seinen über alles geliebten Freund anvertrauen konnte - selbst wenn es nur für zehn Tage war. Außerdem hatte der Husky vorher Sawyer gehört. „Wir denken dran", versprach Abbey. „Es ist sehr wichtig, Mom. Es ist erst das zweite Mal, dass wir voneinander getrennt sind, und Eagle Catcher vermisst mich bestimmt. Ich hab' lange mit ihm geredet, aber ich glaub', er hat mich nicht verstanden." „Wir werden es nicht vergessen", erklärte Sawyer ernst. „Prima." Sichtlich erleichtert, verschwand der Junge wieder. Liebevoll streichelte Sawyer Abbeys runden Bauch. „Es ist gut, dass wir noch etwas Zeit für uns haben. Wenn das Baby da ist, wird sich alles ändern." Ihr war klar, dass er recht hatte. Allerdings würden sich die Dinge zum Positiven ändern. Bis jetzt hatte die Schwangerschaft ihr weder körperlich noch seelisch zu schaffen gemacht, denn sie hatte weder an morgendlicher Übelkeit noch an drastischen Stimmungsumschwüngen gelitten. Obwo hl Abbey ihre beiden Kinder über alles liebte, waren ihre ersten beiden Schwangerschaften sehr strapaziös gewesen. Mit Sawyer dagegen, ihrem zweiten Ehemann, war alles anders. Sie wusste, dass er sie liebte und alles für sie tun würde. „Mom!" brüllte Susan aus dem Flur. „Soll ich meine Bibel einpacken?" Seufzend lehnte Abbey die Stirn an Sawyers Schulter. „Ich glaube, ich muss den beiden beim Packen helfen." An Susan ge wandt, rief sie: „Ich komme gleich."
„Ich mache hier weiter", erbot sich Sawyer und bückte sich, um die restlichen Handtücher aus dem Trockner zu nehmen. „Sawyer." Als er sich aufrichtete und umdrehte, zog sie ihn an sich und küsste ihn so verlangend, wie sie es normalerweise nur im Schlafzimmer taten. Sawyer stöhnte auf und umfasste ihr Handgelenk, als Abbey sich schließlich von ihm löste. „Was sollte das?" Sie lächelte kokett. „Das war nur ein Vorgeschmack auf das, was später kommt." „Wann?" Zärtlich strich sie ihm über die Wange. „Sobald die Kinder weg sind, werden wir da weitermachen, wo wir gerade aufgehört haben." Bevor sie den Waschraum verließ, sah sie, dass er einen Blick auf seine Armbanduhr warf. Offenbar zählte er schon die Stunden, bis sie allein waren. Allison Reynolds war genauso schön, wie Christian sie in Erinne rung hatte - eigentlich noch schöner. Als er mit ihr das Fünf-Sterne-Restaurant betrat, drehten sich alle nach ihr um. Erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr eine schöne Begleiterin das Image eines Mannes aufpolieren und sein Selbstwertgefühl steigern konnte. Das Bewusstsein, dass alle männlichen Gäste ihn beneideten, ließ ihn jeglichen Zweifel verdrängen, dass es sich lediglich um oberflächliche Werte handelte. Sofort nachdem er in dem Hotel in Seattle eingetroffen war, hatte er Allison angerufen. Außerdem hatte er Mariah angerufen, weil er einige geschäftliche Dinge mit ihr klären musste. Vielleicht hatte er es sich bloß eingebildet, aber sie war ausge sprochen kühl gewesen. Doch egal, um welches Problem es sich handelte, Sawyer würde sich schon drum kümmern. Er, Christian, hatte sich jedenfalls ein paar freie Tage verdient. Natürlich war ihm klar, dass seine geschäftlichen Aktivitäten nicht der eigentliche Grund waren, warum er nach Seattle gekommen war. „Ich habe einen Tisch für sieben Uhr reserviert", sagte Christian zum Oberkellner. Allison lächelte ihn so süß an, dass es ihm schwerfiel, den Blick von ihr zu wenden. Den anderen Männern schien es genauso zu gehen, denn ihr Kleid war ziemlich aufreizend: kurz, tief ausge schnitten und enganliegend. Da er derjenige war, der sie zum Essen eingeladen hatte, passte ihm das überhaupt nicht. „Hier entlang bitte." Der Kellner nahm zwei Speisekarten und führte Christian und Allison zu ihrem Tisch. Das Restaurant war eines von denen, die Mariah ihm empfohlen hatte, und Christian war ihr insgeheim dankbar für den Tip. Die schummrige Be leuchtung kam ihm denkbar gelegen, und der Blick auf die Elliott Bay war ausgesprochen romantisch: Die Lichter der Häuser am Ufer spiegelten sich im Wasser, und in der Ferne war eine Fähre zu sehen. „Toll ist es hier", meinte Allison, sobald sie am Tisch saßen. „Es war ein Tip von meiner Sekretärin." Auf keinen Fall wollte Christian ihr von Mariah erzählen. Die Geschichten über sie waren zwar sehr amüsant, aber er hatte keine Lust, den ganzen Abend an Mariah zu denken. Trotzdem fragte er sich immer wieder, warum sie am Telefon so unfreundlich gewesen war. Allison hielt sich die Speisekarte vors Dekollete und beugte sich vor. „Ich bin ja so froh, dass du eine Nachfolgerin für mich gefunden hast. Ich könnte es kaum länger als einen Tag in dieser Einöde ertragen." Hard Luck sollte eine Einöde sein? Seiner Meinung nach war es der schönste Platz auf Erden und geradezu paradiesisch im Vergleich zu einer Großstadt, selbst einer so schönen wie Seattle. Die Luft war verschmutzt, ständig herrschte Verkehrschaos, und nachts konnte er nicht schlafen, weil es so laut war - sowohl draußen als auch im Hotel. Kein Wunder, dass er
plötzlich müde und enttäuscht war. Schließlich zwang sich Christian, an etwas anderes zu denken. „Was möchtest du essen?" fragte er, während er die Speisekarte studierte. Er entschied sich spontan für Räucherlachs, eines seiner Lieblingsgerichte. Allison schaute ihn mit ihren großen blauen Augen an. „Ich muss auf die Kalorien achten." Anscheinend wartete sie darauf, dass er ihr sagte, sie sei perfekt und brauche keine Diät zu machen. Doch er verzichtete darauf, weil er noch nie verstanden hatte, warum Frauen so viel Aufhebens um ihr Gewicht machten. Offenbar glaubten sie, dass Männer es für ein faszinierendes Gesprächsthema hielten. Er fand es jedenfalls langweilig und war außerdem der Meinung, dass Allison es nicht nötig hatte, nach Komplimenten zu fischen. „Ich nehme einen Salat", verkündete sie zuckersüß, „aber ohne Dressing. Du ahns t ja nicht, wieviel Fett Salatdressing enthält. Neulich hat mir jemand erzählt, dass es sogar noch mehr Kalorien hat als Eis. Kannst du dir das vorstellen?" Christian lächelte nachsichtig. Kurz darauf kam der Kellner, und sie brauchte geschlagene fünf Minuten, um ihre Bestellung aufzugeben. Christian war noch nie einer Frau begegnet, die Gurkenscheiben als Beilage verlangt hatte. Doch das war noch nicht alles: Die Radieschen sollten eine bestimmte Form haben und durften nur die Hälfte des Salats bedecken. Es erstaunte ihn, dass der Kellner ihre Wünsche entgegennahm, ohne eine Miene zu verziehen. Während Allison ihre Anweisungen gab, dachte Christian an sein Essen mit Mariah im Sourdough Cafe. Mariah hatte weder Salat verlangt noch alberne Debatten über Fett und Kalorien ge führt. Leider gestaltete sich der weitere Verlauf des Gesprächs ge nauso langweilig, denn nun ließ Allison sich lang und breit über die Farbe ihres Nagellacks aus. Als Christian das Thema wechselte, sprach sie nach kurzer Zeit wieder von sich und erzählte ihm von einer CellulitisCreme, die neu auf dem Markt war. Für ihn war es fast ein Spiel, mitzuverfolgen, wie sie das The ma immer wieder geschickt auf sich lenkte. Nicht einmal erkundigte sie sich nach den Leuten, die sie während ihres kurzen Aufenthalts in Hard Luck kennengelernt hatte. „Übrigens habe ich jetzt einen neuen Job", verkündete sie nebenbei. „Das ist schon mein zweiter innerhalb eines Jahres." Als er nickte, fuhr sie fort: „Als ich dich kennengelernt habe, habe ich für Pierce gearbeitet. Er ist ein Freund von meinem Exfreund Cary. Nach meiner Rückkehr aus Hawaii und meiner Reise nach Hard Luck hat Pierce mir gesagt, er brauche jemanden, auf den er sich verlassen könne. Anscheinend hat es ihm nicht gepasst, dass ich Urlaub genommen hatte." Sie machte einen Schmollmund. „Der Urlaub war nicht einmal bezahlt." „Wie lange hast du denn für Pierce gearbeitet?" „Ungefähr einen Monat." „Einen Monat. Da hattest du noch keinen Anspruch auf Urlaub." „Das hat Pierce auch gesagt, aber er hat richtig getobt. Männer gibt es! Ich habe einen vollen Monat für ihn gearbeitet, aber seine Leistungen waren total mickrig." Von da an fiel es Christian zunehmend schwerer, ihren Aus führungen zu folgen. Allison erwähnte ein paar Namen, die er nicht kannte und die ihn auch gar nicht interessierten. Komisch, dass er sie nicht früher durchschaut hatte. Die Frau war überhaupt nicht scharf darauf, zu arbeiten. Sie war auf „Leistungen" aus, und damit meinte sie nicht nur bezahlten Urlaub. Sie suchte jemanden, der sie aushielt. Als sie mit dem Essen fertig waren und das Restaurant verließen, bemerkte Christian wieder die neidischen Blicke der anderen. Diesmal steigerte es allerdings nicht sein Selbstwertgefühl. Der Räucherlachs und der Wein hatten zwar vorzüglich ge schmeckt, aber im nachhinein hätte er lieber bei Ben oder im Sourdough Cafe gegessen. Und was seine Begleitung betraf, so
war er ziemlich ernüchtert, so schwer es ihm auch fiel, das zuzugeben. Als er Allison später vor ihrem Apartment absetze n wollte, strich sie ihm mit ihren langen Fingernägeln spielerisch über den Oberschenkel. „Hast du Lust, auf einen Schlummertrunk mit raufzukommen?" Der Ausdruck in ihren Augen ließ keinen Zweifel daran, dass es nicht nur eine Einladung auf einen Drink war. „Heute nicht." Dann half Christian ihr aus dem Wagen und brachte sie zur Tür. „Wann sehe ich dich wieder?" fragte Allison mit ihrer samtweichen Stimme. Leider hatte er den Fehler gemacht, sie über seinen Terminplan zu informieren. „Ich rufe dich an." Daraufhin warf sie ihm einen sorgfältig einstudierten traurigen Blick zu. „Wenn du mich nicht anrufst, bin ich sehr traurig, Chris." Christian konnte gar nicht schnell genug vor ihr fliehen. Auf keinen Fall wollte er noch einmal einen Abend mit einer Frau wie Allison Reynolds verbringen. Zurück in seinem Hotelzimmer, setzte er sich aufs Bett. Noch immer konnte er es nicht fassen, dass er sie nicht eher durchschaut hatte. Da er ziemlich unruhig und wütend war, griff er zum Telefon und wählte Sawyers Privatnummer. „Hallo." Sawyer klang ziemlich ungeduldig. „Ich bin's." „Christian? Was ist los? Du klingst so komisch." „Mir geht es gut", erwiderte Christian, fragte sich jedoch gleich, ob das stimmte. Er war selten so enttäuscht gewesen, was natürlich nicht nur an Allison gelegen hatte, sondern auch an seiner Blindheit. „Du erinnerst dich noch an Allison, oder?" „Natürlich erinnere ich mich noch an sie. Hör mal, wenn du mich angerufen hast, um ein Loblied auf sie zu singen, hast du einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt erwischt. Du hast anscheinend vergessen, dass Abbey und ich gerade unsere zweiten Flitterwochen verleben. Würde es dir etwas ausmachen, ein anderes mal über die Sexgöttin zu sprechen?" „Allison ist keine Göttin, das kannst du mir glauben." „Ich habe nicht dich gemeint, Schatz", sagte Sawyer an Abbey gewandt, „sondern eine andere Sexgöttin. Die kann dir allerdings nicht das Wasser reichen." „Ich erzähle es dir, wenn ich wieder zu Hause bin", versprach Christian und legte lachend auf. Vor einem Jahr war er ganz verrückt nach Allison gewesen. Hatte sie sich so verändert oder er? Jedenfalls war sie ganz anders, als er sie in Erinnerung hatte. Vor einem Jahr war er überglücklich gewesen, als sie sich end lich dazu bereit erklärt hatte, es in Hard Luck zu versuchen. Leider war er jedoch geschäftlich verreist, als sie dann kam. Er war fest davon überzeugt, dass irgendjemand sie vor den Kopf gestoßen haben musste. Als er erfuhr, dass sie bereits am nächsten Tag nach Seattle zurückgekehrt war, war er außer sich vor Wut. Doch er konnte nichts tun, solange er unterwegs war. Später hatte er einen halbherzigen Versuch unternommen, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, aber da er sehr beschäftigt ge wesen war, hatte er das Ganze schließlich im Sande verlaufen lassen. Zwölf Monate lang war er davon überzeugt gewesen, dass die Einwohner von Hard Luck Allison völlig falsch eingeschätzt hatten. Er hatte angenommen, die anderen Frauen wären neidisch auf sie gewesen, weil sie so schön war, und hätten alles versucht, um sie zu vergraulen. Erst an diesem Abend war ihm klargeworden, warum sie abgereist war. Eine eitle, selbstsüchtige Frau wie sie könnte es kaum länger als einen Tag in einer Stadt wie Hard Luck aushalten. Das hatte Allison selbst gesagt, obwohl sie etwas ganz anderes gemeint hatte. Und sie war genau einen Tag geblieben. Mariah war noch nie so elend zumute gewesen. Obwohl nicht einmal eine Riesenportion Pizza sie in dieser Situation trösten konnte, ging sie ins Hard Luck Cafe.
Christian war jetzt in Seattle und ging mit der schönen, weltgewandten Allison Reynolds aus. Natürlich ahnte er nicht, dass Mariah es wusste. Sie war Allison zwar nie begegnet, aber von den Frauen, die sie kennengelernt hatten, hatte sie alles Wissenswerte über die Blondine erfahren. Genau in diesem Moment saßen Christian und Allison in einem Restaurant mit Meeresblick, das zu den exklusivsten des Landes zählte. Mariah wollte gar nicht darüber nachdenken, was die beiden nach dem Essen machten. Wahrscheinlich gingen sie erst tanzen, fuhren dann irgendwohin, um den Sternenhimmel zu betrachten, und küssten sich. Der Gedanke daran, dass eine andere Frau in Christians Armen lag, war so schmerzlich, dass Mariah ihn schnell verdrängte. Sie wollte auch nicht darüber nachgrübeln, wie Christians Beziehung zu Allison sich auf ihren Job bei Midnight Sons auswirkte. Christian würde fast alles tun, um Allison dazu zu bewegen, nach Hard Luck zurückzukehren. Allison war Sekretärin, und das war sie, Mariah, auch. Wenn er die Wahl hätte, würde er Allison jederzeit vorziehen. Und um des lieben Friedens willen würde Sawyer sich schließlich damit einverstanden erklären, sie, Mariah, zu entlassen. „Was kann ich für Sie tun?" fragte Ben. Sie setzte sich an den Tisch, der in unmittelbarer Nähe des Tresens stand. „Haben Sie noch Pizza?" „Die mit den vier Käsesorten und den anderen Belägen?" Bevor sie antworten konnte, fuhr er fort: „Ich glaube, ich habe noch ein paar in der Kühltruhe. Normalerweise backe ich sie erst auf besonderen Wunsch hin." „Würden Sie das als besonderen Wunsch betrachten? Das hier ist ein Essensnotfall." „Ein Essensnotfall", wiederholte Ben grinsend. „Das gefällt mir." Mit der Hand deutete er auf ein imaginäres Schild und las: „,Hard Luck Cafe, spezialisiert auf Essensnotfälle'." Dann wurde er wieder ernst. „Vielleicht hätte ich damit mehr Erfolg als mit meiner wechselnden Tageskarte für Stammgäste." „Könnten Sie mir die Pizza intravenös verabreichen?" versuchte sie zu scherzen. Er zog einen Stuhl hervor und setzte sich zu ihr an den Tisch. „Wo liegt das Problem, junge Frau?" Mariah wusste, dass viele Männer aus Hard Luck Ben regelmäßig ihr Herz ausschütteten, denn er war ein guter Zuhörer und ein treuer Freund. Obwohl auch sie ihn mochte und ihm vertraute, wollte sie nicht mit ihm über Christian sprechen. Schließlich war er mit den O'Hallorans befreundet. „Es ist nichts, was man nicht mit einer Pizza beheben könnte", versicherte sie daher. „Bin schon unterwegs." Ben stand auf und tätschelte ihr freundschaftlich die Schulter. „Möchten Sie noch etwas dazu bestellen?" „Eine Diätsoda." Sie war sich durchaus der Ironie bewusst, denn immerhin war die Pizza eine richtige Kalorienbombe. „Es kann eine Weile dauern", meinte er auf dem Weg in die Küche. „Ich muss erst den Ofen vorheizen." „Das macht nichts." Auf einigen der Tische stand noch benutztes Geschirr, und da Mariah zu nervös war, um untätig herumzusitzen, begann sie, die Tische abzuräumen. „Danke", sagte Ben, als sie zu ihm ihn die Küche kam. „Das wollte ich eigentlich längst getan haben." „Brauchen Sie sonst noch Hilfe?" erkundigte sie sich. „Nein, danke." Als sie jedoch den zweiten Tisch abräumte, stellte sie fest, dass einige der Serviettenständer leer waren, und wies ihn darauf hin. „Das wollte ich auch machen, aber ich bin noch nicht dazu gekommen", erklärte er.
„Ich mache es für Sie", bot sie an. „In letzter Zeit fühle ich mich ziemlich schlapp", gestand Ben. „Ich sollte mir lieber nicht mehr diese Late- night- Talkshows ansehen." „Sie brauchen nicht zufällig eine Aushilfe, oder?" erkundigte Mariah sich hoffnungsvoll. „Jemanden, der bedient, Geschirr spült, die Serviettenständer auffüllt und so weiter." „Ist das Ihr Ernst?" Und ob es ihr Ernst war. Wenn alles nach Plan verlief, würde ihr Chef Allison nach Hard Luck locken und sie, Mariah, entlassen. „Ja, es ist mein voller Ernst", sagte sie zu Ben. „Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach und wollte Christian eigentlich bitten, mir ein paar von den Bewerbungen zu geben, die er letztes Jahr bekommen hat." „Ich dachte, das Geschäft läuft nicht so gut." Mariah versuchte, es so taktvoll wie möglich auszudrücken. Sie hatte gehört, dass er in letzter Zeit nicht mehr so viele Kunden hatte und daher die Aktion mit der wechselnden Tageskarte für Stammkunden ins Leben gerufen hatte. „So schlecht sieht es gar nicht aus." Er lehnte sich gegen den Tresen. „Allerdings stehe ich 365 Tage im Jahr auf der Matte. Wer will es mir da verdenken, dass ich ab und zu mal ausspannen möchte. Haben Sie denn jemanden im Auge?" Mariah nickte. „Wen?" „Mich", erwiderte sie, ohne zu zögern. „Sie?" Ihre Lippen bebten, als sie weitersprach. „Christian ist in Seattle, und er ... er hat sich mit Allison Reynolds getroffen." „Ich weiß nicht, was er an dieser Frau findet, aber Sie können sicher sein, dass Ihr Job bei Midnight Sons nicht in Gefahr ist. Sawyer wird auf keinen Fall zulassen, dass Christian eine andere Sekretärin für Sie einstellt." „Mir ist schon lange klar, dass Christian mich loswerden will", wandte sie ein. „Dazu möchte ich nichts sagen. Nur soviel: Seit Ihrem Urlaub denkt er darüber etwas anders." „Wie schön!" meinte sie mit einem sarkastischen Unterton. „Trotzdem würde er alles tun, um Allison hierherzubringen. Sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf." Ben fuhr sich übers Kinn. „Ich weiß leider nicht, was ich Ihnen raten soll." „Wenn Sie mich nicht einstellen, dann vielleicht Pete Livengood", beeilte sie sich zu sagen. „Er könnte bestimmt jemanden gebrauchen, der die Ware auspackt und einsortiert." „Überstürzen Sie nichts. Sawyer ist immer auf Ihrer Seite ge wesen, egal, wie oft Christian sich beschwert hat." Damit hatte er ihr durch die Blume gesagt, dass Christian sich sehr oft über sie beschwert hatte. „Ich schiebe schnell die Pizza in den Ofen. Bin gleich wieder da", verkündete Ben, bevor er in die Küche eilte. Während er in der Küche hantierte, überlegte Mariah, dass sie sich genausogut um eine Stelle im Verwaltungsdienst bewerben konnte. Wenn sie jedoch einen Job bekam, würde sie nicht in Hard Luck bleiben können. „Sind Sie sicher, dass Sie in einem Restaurant arbeiten möchten?" erkundigte sich Ben, sobald er wieder zurück war. „Ganz sicher." So wie sie die Dinge sah, würde sie bald keine Wahl mehr haben. „Wenn Sie irgendwann nicht mehr bei Midnight Sons arbeiten möchten, bekommen Sie einen Job bei mir."
4. KAPITEL
Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und ihr traten die Tränen in die Augen. Mariah riss sich zusammen und beendete ihr Kündigungsschreiben. Jedes Wort bedeutete das Ende ihrer Träume und Hoffnungen. Nachdem sie den Brief ausgedruckt hatte, musste sie sich einen Moment sammeln, bevor sie ihn unterzeichnete. Erst als sie einigermaßen die Fassung wiedergewonnen hatte, ging sie damit zu Sawyer. „Was ist das?" Sawyer blickte von seinem Computerbildschirm zu ihr auf. „Ich kündige." „Sie kündigen?" wiederholte er entgeistert. Mariah nickte, dann sagte sie gezwungen fröhlich: „Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, für Sie zu arbeiten, aber wie Christian ganz richtig bemerkt hat, ist mein Vertrag ausgelaufen. Ich habe mich verpflichtet, ein Jahr für Midnight Sons zu arbeiten, und nun möchte ich etwas anderes machen." „Ist es wegen des Geldes? Sind Sie mit unseren sozialen Leistungen nicht zufrieden?" „Nein. Sie sind sehr großzügig zu mir gewesen." „Aber ..." Er wusste anscheinend nicht, was er sagen sollte, so verblüfft war er. Doch es ließ sich nicht ändern. Sie hatte ihre Entscheidung bereits getroffen. „Würden Sie mir dann bitte erklären, warum Sie uns verlassen wollen?" fragte er. „Und das ausgerechnet jetzt?" „Erstens habe ich die Zeichen erkannt", erwiderte sie, so ruhig sie konnte. „Ich habe gehört, wie Christian Ihnen erzählt hat, dass er Allison Reynolds wieder nach Hard Luck holen will. Es gibt einfach nicht genug Arbeit für zwei Sekretärinnen. Und er wollte von Anfang an Allison haben. Ich ... ich habe bekommen, was ich wollte: das Blockhaus und die neun Hektar Land." „Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass mein Bruder Allison Reynolds einstellt", beharrte Sawyer. „Ich verspreche Ihnen, dass Ihr Job nicht in Gefahr ist." Offenbar war er außer sich vor Wut auf seinen Bruder, denn seine Augen funkelten. „Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen, aber Sie wissen ge nausogut wie ich, dass Christian ..." „Das werde ich nicht zulassen, Mariah." Er machte es ihr viel schwerer, als sie erwartet hatte. Sie war davon ausgegangen, dass er erst einige halbherzige Einwände ge gen ihre Kündigung erheben und sie dann gehen lassen würde. Dass er so heftig dagegen protestierte, überraschte sie. „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Sawyer, aber ich möchte Sie und Christian nicht gegeneinander aufbringen. Sie wissen genausogut wie ich, dass er lieber mit Allison zusammenarbeiten würde." „Warum warten Sie nicht so lange, bis Christian wieder zurück ist?" schlug er vor. „Es besteht kein Grund, voreilige Schlüsse zu ziehen. Ich habe erst gestern abend mit ihm telefo niert, und er hat kein Wort davon gesagt, dass er Allison mit nach Hard Luck bringen möchte." Er dachte einen Moment nach, bevor er hinzufügte: „Allerdings habe ich ihn gar nicht richtig aus reden lassen." „Es ist zu spät, Sawyer. Ich habe bereits einen neuen Job." Nun wirkte er richtig schockiert. „Wer ... wo ... wann?" „Im Hard Luck Cafe. Ich werde für Ben arbeiten." „Seit wann braucht Ben Hamilton denn eine Sekretärin?" Das klang so, als hätte Ben sie abgeworben. „Er braucht auch keine Sekretärin", erwiderte Mariah hastig, „sondern eine Küchenhilfe." „Haben Sie eine Ausbildung als Köchin gemacht?" „Ich werde nicht kochen, sondern bedienen, Geschirr spülen und so weiter. Ben hat das Cafe all die Jahre allein geführt. Es ist höchste Zeit, dass er ein bisschen kürzer tritt."
„Ben!" Sawyer sprach den Namen seines alten Freundes aus, als wäre Ben zum Verräter geworden. „Ich habe ihn gebeten, mich einzustellen", betonte sie, um kein böses Blut zwischen Ben und den O'Hallorans zu schaffen. Nachdem Sawyer ihren Brief noch einmal gelesen hatte, runzelte er die Stirn. „Sind Sie ganz sicher, dass Sie wirklich kündigen wollen?" Mariah wusste nicht, ob sie sicher war. Den Schilderungen der anderen zufolge war Allison Reynolds eine echte Schönheit, und Christian schien völlig in sie vernarrt zu sein. Sie, Mariah, hatte also keine Chance mehr, sein Herz zu erobern. Obwohl es ihr sehr schwer fiel, ihren Job - und Christian - aufzugeben, hatte sie keine Wahl. Sawyer durfte auf keinen Fall erfahren, wie weh es ihr tat. „Ich bin ganz sicher", erklärte sie daher sachlich. Er musterte sie eindringlich. „Dann gibt es wohl nicht mehr viel zu sagen." Was soll das heißen: Mariah hat gekünd igt?" rief Christian ins Telefon. „Sie hat mir heute morgen ihre Kündigung gegeben", erklärte Sawyer wenig erfreut. „Das kann sie doch nicht tun!" „Warum nicht?" entgegnete Sawyer ungeduldig. „Wir leben schließlich in einem freien Land. Wenn sie keine Lust hat, für uns zu arbeiten, können wir sie auch nicht dazu zwingen." Christian stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu ge hen. Dabei fiel das Telefon scheppernd vom Nachttisch. Einen Moment lang dachte er, die Verbindung wäre unterbrochen. „Bist du noch da, Sawyer?" „Ja. Was ist passiert?" „Nichts. Ich habe das Telefon runterfallen lassen." Christian fuhr sich durch das dunkelblonde Haar und zuckte zusammen, weil er plötzlich einen schmerzhaften Stich verspürte. „Warum hast du nicht versucht, sie zur Vernunft zu bringen?" „Ich habe endlos auf sie eingeredet und versucht, sie umzustimmen. Es ist alles deine Schuld, Christian. Du hast mir in keiner Weise geholfen." „Verdammt, wie hätte ich dir aus dieser Entfernung helfen sollen?" Allmählich wurde Christian wütend. Für ihn ergab das alles keinen Sinn. Sawyer hätte doch klar sein müssen, wie dringend sie Mariah brauchten. Sicher, noch vor kurzem hätte er, Christian, sie am liebsten durch jemand anders ersetzt, aber er hatte seine Meinung geändert - vor allem nachdem er Allison wiedergesehen hatte ... „Ich sitze hier ganz allein mit den Problemen", erklärte Sawyer schroff. „Wenn ich mich recht erinnere, warst du letztes Jahr um diese Zeit auch in Seattle und bist mit deiner Titelblattschönheit ausgegange n, während ich mit dem Chaos fertig werden musste, das du angerichtet hattest. Jetzt geht alles wieder von vorn los." „Hör mir mal zu ..." Sawyer ließ Christian nicht ausreden. „Wer hatte denn die glorreiche Idee, Frauen nach Hard Luck zu holen?" „Wenn ich die Idee nicht gehabt hätte, hättest du Abbey niemals kennengelernt", erinnerte Christian ihn triumphierend. Sawyer seufzte tief. „Stimmt", erwiderte er versöhnlich. Ich werde selbst mit Maria h reden," Christian war fest davon überzeugt, dass Mariah auf ihn hören würde. Immerhin verstanden sie sich seit einiger Zeit viel besser. „Gut, aber vorher solltest du vielleicht wissen, dass sie deinetwegen gekündigt hat." „Meinetwegen?" Nun verstand Christian überhaupt nichts „Sie glaubt offenbar, dass du Allison mit nach Hard Luck bringst. Deshalb hat den Platz für sie geräumt." "Du machst wohl Witze! Wie kommt sie denn darauf?"
„Denk mal scharf nach", meinte Sawyer frustriert. „Du hast selbst dafür gesorgt." „Ich? Inwiefern?" „Du hast zu mir gesagt, dass du Allison dazu überreden willst, es noch einmal mit Hard Luck zu versuchen." Hatte er das tatsächlich getan? Christian presste sich die Hand gegen die Stirn. „Sie kommt aber nicht." Es folgte angespanntes Schweigen. „Den Eindruck hatte ich allerdings nicht", erwiderte Sawyer schließlich. „Und anscheinend hat Mariah unser Gespräch mitgehört." Christian fluchte leise. „Sie ist der Meinung, dass es hier nicht genügend Arbeit für zwei Sekretärinnen gibt." „Am besten rede ich mit ihr", murmelte Christian. „Ich werde es schon wieder geradebiegen. „Zu spät", informierte Sawyer ihn. „Sie hat bereits einen neuen Job. Sie und Ben hatten die Idee ..." „Mariah und Ben?" „Genau. Sie will als Aushilfe bei ihm anfangen." „Ist das dein Ernst?" „Und ob." Lass mich mit mir reden." Christian war klar, dass das nicht gutgehen konnte. Anscheinend hatte Ben vergessen, wie unge schickt Mariah war. Sie stolp erte sogar über ihre eigenen Füße. „Sie ist nicht mehr hier", sagte Sawyer. „Ich habe das Gefühl, dass wir die beste Sekretärin verlieren werden, die wir je hatten. Und du bist schuld daran, Christian." Christian hielt es für besser, seinen Bruder lieber nicht darauf hinzuweisen, dass sie die einzige Sekretärin war, die sie je gehabt hatten. Als Bethany an die Hintertür des Hard Luck Cafe klopfte, ant wortete niemand. Nachdem sie es noch einmal versucht hatte, drehte sie den Knauf. Da die Tür unverschlossen war, ging Be thany hinein. „Ben?" rief sie. Wieder antwortete niemand. Unter der Tür zur Treppe, die zu Bens Wohnung führte, fiel Licht hindurch. Sie öffnete die Tür, blickte nach oben und rief wieder seinen Namen. Dann ging sie hinauf. Bestimmt war Ben wieder in seinem Sessel eingeschlafen. Und tatsächlich lag er auf dem Sessel, die Fernsehzeitung auf dem Schoß. Er hatte den Kopf zurückgelehnt und schnarchte leise. „Ben." Bethany umfasste seine Hand. Sofort öffnete er die Augen und blinzelte ein paarmal. „Betha ny? Wie spät ist es?" „Neun." „Neun", wiederholte er. „Das ist ja noch früh." „Ich weiß." Gähnend setzte er sich auf und griff dann zur Fernbedienung, um den Fernseher abzuschalten. „Ich bin wohl eingeschlafen. Schätze, ich werde langsam alt." Sie nahm auf dem Sofa Platz. „Du doch nicht, Ben." Ben war sichtlich geschmeichelt. „Schön, dich zu sehen. Was verschafft mir die Ehre?" Bethany streifte ihre Schuhe ab und winkelte die Beine an. „Mitch fährt gerade Streife, und Chrissie übernachtet heute bei einer Freundin. Sie weiß überhaupt nichts mit sich anzufangen, wenn Susan O'Halloran verreist ist. Die beiden hängen so aneinander, dass Chrissie gar nicht mehr ohne sie leben kann. Deshalb ermuntern wir sie dazu, auch andere Freundschaften zu schließen." „Hast du dich schon auf die Schule vorbereitet?" fragte er. „Ja. Nein", verbesserte sie sich schnell. Gleich darauf platzte sie heraus: „Ich bin
schwanger." Unwillkürlich ließ er die Beine vom Sessel gleiten. „Schwanger!" „Mitch und ich waren darüber genauso überrascht ... na ja, fast." Beinah hätte sie über seine verblüffte Miene gelacht. „Aber ihr seid doch erst seit ein paar Wochen verheiratet." „Ich weiß. So schnell wollten wir auch kein Kind bekommen. Es ist einfach passiert." Seine Augen funkelten. „Ungeplante Schwangerschaften sind manchmal die besten." Bethany wusste, dass er auf ihre Geburt anspielte. Bevor Ben in den Vietnamkrieg gezogen war, hatte er eine kurze Affäre mit ihrer Mutter gehabt. Da sie sich gestritten hatten, hatte er jedoch nie erfahren, dass Marilyn schwanger war. Erst als ihre Mutter schwer an Krebs erkrankte - Bethany ging zu der Zeit aufs College -, erzählte sie ihr, dass Peter Ross nicht ihr leiblicher Vater war. Da Bethany ihren leiblichen Vater unbedingt kennenlernen wollte, stellte sie mit Hilfe des Roten Kreuzes Nachforschungen an und spürte Ben in Hard Luck auf. In der Hoffnung, ihn dadurch besser kennenzulernen, hatte sie sich kurz darauf um die Stelle an der Schule beworben, die gerade frei war. Sie hatte zwar nie vorgehabt, Ben mit der Wahrheit zu konfrontieren, aber im nachhinein war sie sehr erleichtert - und glücklich -, dass sie es getan hatte. Außer Mitch wusste niemand, dass sie Bens Tochter war. Allerdings wunderte sie sich darüber, dass es noch niemand gemerkt hatte, zumal sie sich in vielerlei Hinsicht ähnlich waren. Ben war sehr stolz auf sie und kümmerte sich rührend um sie, und Bethany ging es mit ihm genauso. „Ein Baby." Ben strahlte übers ganze Gesicht. „Und was sagt Mitch dazu?" „Als ich es ihm erzählt habe, war er völlig perplex, aber er hat sich ziemlich schnell an den Gedanken gewöhnt. Das Baby soll im Mai zur Welt kommen, also kurz vor den Ferien. Wir haben es Chrissie auch gesagt, und sie war ganz aus dem Häuschen. Sicher wird sie eine wunderbare große Schwester sein." „Hast du es schon deinen Eltern erzählt?" „Ja. Sie freuen sich riesig." „Ich freue mich auch für dich, mein Schatz." „Na ja, ich muss es auch erst einmal richtig verarbeiten. Ich habe mich noch gar nicht daran gewöhnt, Ehefrau und Stiefmutter zu sein, und nun werde ich obendrein Mutter." Er lachte leise. „Für mich war es bestimmt schwieriger, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich eine Tochter habe. In meinem Alter! Aber dass du schwanger bist, ist eine tolle Überraschung." Bethany lehnte sich zurück. „Und nun zu dir. Was ist dran an dem Gerücht, dass du eine Aushilfe einstellen willst?" „Es stimmt." Je öfter Ben daran dachte, dass Mariah bei ihm anfangen würde, desto zufriedener war er mit seiner Entscheidung. „Mariah Douglas wird für mich arbeiten." „Sie ist doch Sekretärin bei Midnight Sons." „Sie war es. Soweit ich weiß, hat sie dort bereits gekündigt. Sawyer ist jetzt wütend auf mich, aber ich kann nichts dafür, denn es war ihre Idee. Ich habe versucht, sie davon abzubringen, doch sie wollte partout nicht bei den O'Hallorans bleiben." „Christian wird sich jedenfalls freuen", meinte Bethany. „Er hat von Anfang an nach einer Möglichkeit gesucht, Mariah loszuwerden." „Anscheinend hat er seine Meinung inzwischen geändert." „Das ist typisch." Bethany schüttelte den Kopf. „Männer wissen nie, was sie wollen." So eilig hatte Christian es noch nie gehabt, nach Hard Luck zurückzukommen. In den letzten Tagen hatte er ein halbes dutzend mal mit Sawyer telefoniert und war danach umso frustrierter und verwirrter gewesen. Soweit er wusste, hatte Sawyer nicht darauf bestanden, dass Mariah die Kündigungsfrist
einhielt. Die beste Sekretärin, die sie je gehabt hatten, wie er es ausgedrückt hatte, war also weg. Scott und Susan konnten es auch nicht abwarten, nach Hause zu kommen. Christian flog mit ihnen im Linienflugzeug von Vancouver nach Fairbanks, wo Ralph Ferris sie abholte. Komischerweise kam Christian die Strecke von Fairbanks nach Hard Luck viel länger vor, obwohl sie wesentlich kürzer war. Als sie schließlich landeten, hatte er sich genau zurechtgelegt, was er zu Mariah sagen wollte. Sawyer und Abbey warteten auf dem Flugplatz, um Scott und' Susan abzuholen. Nachdem die beiden aus der Maschine ausge stiegen waren, rannten sie auf ihre Eltern zu und erzählten begeistert von ihrem Besuch bei Grandma Ellen und Grandpa Frank. Christian wartete ungeduldig, bis er Sawyer einen Moment allein sprechen konnte. "Wo ist sie?" fragte er unvermittelt. Sawyer blinzelte verwirrt. „Ach, du meinst Mariah." „Allerdings." „Im Cafe, schätze ich. Sie arbeitet jetzt jeden Tag dort." Seinem scharfen Unterton nach zu urteilen, gab Sawyer ihm immer noch die Schuld an allem. Christian beschloss, später in Ruhe mit ihm darüber zu reden. „Und wer ist im Büro?" Sawyer war hoffentlich nicht so verantwortungslos, das Büro unbesetzt zu lassen. Da sie seit dem letzten Jahr eine Zuwachsrate von dreißig Prozent hatten, reichte es nicht, wenn lediglich der Anrufbeantworter eingeschaltet war. „Lanni hat sich bereit erklärt, so lange einzuspringen, aber sie hat selbst genug um die Ohren. Ich habe gesagt, dass du bald eine Nachfolgerin für Mariah findest." „Ich?" entgegnete Christian wütend. Kaum verreiste er für ein paar Tage, vermasselte sein Bruder alles und sagte ihm dann ganz seelenruhig, er müsste alles wieder geradebiegen. „Ja, du." Sawyer funkelte ihn an. „Falls du dich daran erinnerst, hast du fast vier Wochen lang Bewerbungsgespräche ge führt. Ich weiß nicht einmal, wo du die Lebensläufe abgelegt hast." „Nicht ich habe sie abgelegt, sondern Mariah." „Dann frag sie. Wir müssen eine Nachfolgerin für sie finden, und zwar schnell. Lanni hat nämlich Besseres zu tun, als bei uns Telefondienst zu machen." „Du hättest es erst mit mir besprechen können", wandte Christian ein. „Wenn du hiergewesen wärst, hätte ich es auch getan", meinte Sawyer abfällig. Christian war klar, dass er bei seinem Bruder nichts erreichte, wenn dieser so schlecht gelaunt war. Sawyer gab ihm die Schuld daran, dass Mariah plötzlich beschlossen hatte, Kellnerin zu werden, und das war unfair. Nachdem Christian sein Gepäck nach Hause gebracht hatte, machte er sich auf den Weg zum Hard Luck Cafe. Als er es betrat, fiel ihm als erstes auf, dass auf allen Tischen eine Decke lag und eine Vase mit wilden Blumen stand. Auf die Tafel, auf der Ben immer das Tagesgericht notierte, hatte jemand gelbe Gänseblümchen gezeichnet. An einem der Tische saß Ralph Ferris und studierte die Speisekarte, die offenbar auch neu war. Auf Christians Nicken hin nickte er zurück. Wie immer ging Christian an den Tresen und zog einen Barhocker hervor. Verblüfft stellte er fest, dass die Hocker neu gepolstert und bezogen worden waren. Mariah hatte wirklich ganze Arbeit geleistet! Sie war gerade dabei, Kaffee zu kochen, und hatte ihn anscheinend noch nicht bemerkt. „Möchten Sie Kaffee?" rief sie an Ralph gewandt. „Ja, bitte", erwiderte Ralph. Die volle Kaffeekanne in der Hand, drehte Mariah sich um. Als sie Christian am Tresen sitzen sah, erschrak sie so, dass ihr die Kanne aus der Hand fiel und am Boden zerschepperte. „O nein!" Da Mariah rechtzeitig zur Seite gesprungen war, hatte sie sich zumindest nicht
mit dem Kaffee verbrüht. Obwohl es Christian schwerfiel, die Fassung zu wahren, blieb er sitzen und schüttelte nur den Kopf. Ben tat ihm leid. Er hatte ja nicht ahnen können, worauf er sich einließ, als er Mariah eingestellt hatte. Im nächsten Moment schaute Ben von der Küche herein. „Was ist hier los?" „Ich ... ich habe die Kaffeekanne fallen lassen." Christian rechnete damit, dass Ben sie jetzt anschrie. Er war nämlich ziemlich ungeduldig, und Mariah Douglas konnte einen Mann zur Weißglut bringen. Nach spätestens einer Woche, so schätzte Christian, würde Ben Sawyer und ihn anflehen, sie wieder einzustellen. „Das macht nichts", meinte er, während er zum Wischmop griff. „Ich habe jede Menge Kaffeekannen. Sie haben sich doch nicht verbrüht, oder?" „Nein, mir ist nichts passiert." Sie schaute zu Christian und kniff dabei die Augen zusammen, als würde sie ihm die Schuld für ihr Missgeschick geben. Obwohl er nichts getan hatte, hatten es alle auf ihn abgesehen. „Ihr Kaffee kommt gleich", sagte sie zu Ralph. „Kein Problem", versicherte der Pilot. Dann faltete er die Zeitung auseinander, die er dabeihatte, und begann zu lesen. „Ich nehme auch eine Tasse, wenn Sie soweit sind." Christian drehte einen Becher um. Vielleicht riskierte er damit sein Leben, aber er musste das Risiko auf sich nehmen. Mariah füllte eine neue Kanne, und als sie ihm einschenkte, merkte er, dass ihre Hand leicht zitterte. „Wann sind Sie zurückgekommen?" fragte sie im Plauderton. Er fiel darauf nicht herein. Da sie die Reise für ihn gebucht hatte, wusste sie es ganz genau. „Heute nachmittag." Nun nahm sie einen Bestellblock aus ihrer Schürzentasche. „Was möchten Sie essen?" „Ein Stück Apfelkuchen bitte." Sie gab die Bestellung an Ben weiter, der nur wenige Minuten später mit einem großen Stück Apfelkuchen aus der Küche kam. Als er Christian den Teller hinstellte, blickte er ihn misstrauisch an, als würde er mit einem Streit rechnen. Christian dachte selbstgefällig, dass er kein Wort zu sagen brauchte. In spätestens einer Woche würde Ben am Ende seiner Geduld sein und einsehen, dass Mariah nicht die geborene Kellnerin war. „Wie läuft es?" fragte Christian ihn und deutete dabei mit einem Nicken auf Mariah, die gerade Ralph das Essen servierte. Der Pilot hatte offenbar das Tagesgericht genommen: ein Sandwich mit Fleischkäse und dazu eine Rindfleischsuppe. „Mit Mariah?" Ben lächelte breit. „Toll. Einfach toll." Er deutete auf die liebevoll dekorierten Tische. „So schön hat es hier noch nie ausgesehen, stimmt's? Das habe ich ihr zu verdanken." Nachdem Christian ein Stück von seinem Apfelkuchen gegessen hatte, zog er erstaunt die Augenbrauen hoch. „Schmeckt aus gezeichnet." „Den hat Mariah gebacken." „Mariah?" „Nach einem Rezept von ihrer Großmutter. Es ist der beste Apfelkuchen, den ich je gegessen habe. Von mir aus kann sie das Backen ganz übernehmen." Christian war ziemlich durcheinander. „Bist du sicher, dass wir von ein und derselben Person sprechen?" Ben lachte leise. „Ganz sicher." Sobald er wieder in der Küche war, kam Mariah mit einem Sahnekännc hen. „Ich ... ich habe ganz vergessen, dass Sie Ihren Kaffee mit Sahne trinken." Christian machte sich nicht die Mühe, sie über ihren Irrtum aufzuklären. „Haben Sie einen Moment Zeit?" erkundigte er sich statt dessen.
Sie zögerte. „Gleich kommen die Leute zum Abendessen", sagte sie schließlich. Das war eine faule Ausrede, denn es war noch nicht einmal vier. „Ich würde mich freuen, wenn Sie sich ein paar Minuten zu mir setzen könnten." „Also gut", meinte sie wenig begeistert, bevor sie um den Tresen kam und sich auf einen Hocker neben Christian setzte. „Allison ist nicht mit mir nach Hard Luck gekommen", erklärte er, um in diesem Punkt gleich reinen Tisch zu machen. Dass es nicht besonders klug gewesen war, in ihrer Gegenwart von Allison zu sprechen, sah er durchaus ein. Jetzt wollte er sie zurückhaben. Da sie sich mittlerweile besser verstanden, wäre es sehr schade gewesen, das Ganze so plötzlich zu beenden. Verdammt, noch vor drei Wochen hätte er laut gejubelt, wenn Mariah die Firma verlassen hätte. Doch nun war alles anders. Sie sah ihm in die Augen. „Sawyer hat mir schon erzählt, dass sie nicht kommt." „Und warum haben Sie dann gekündigt?" „Wir beide sind einfach nicht miteinander klargekommen." „Es ist doch besser geworden, finden Sie nicht?" „Schon möglich. Aber Sie ..." Wieder zögerte sie. „Ja?" drängte Christian. „Sie wollten eine andere Sekretärin." „Mittlerweile nicht mehr." Allmählich wurde er ungeduldig. Er spielte mit dem Gedanken zuzugeben, dass er einen Fehler ge macht hatte, und sich bei ihr zu entschuldigen, doch er konnte sich nicht dazu überwinden. „Jetzt arbeite ich für Ben", erklärte sie mit einem bedauernden Unterton. „Schmeckt Ihnen der Kuchen?" Obwohl er plötzlich keinen Bissen mehr hinunterbrachte, nickte er. Dann schob er den Teller zurück. „Sie haben sich also entschieden?" „Ja." Mariah schaute ihn hoffnungsvoll an. Erwartete sie etwa, dass er sie anflehte? Auf keinen Fall würde er vor ihr zu Kreuze kriechen! Wenn sie nicht für Midnight Sons arbeiten wollte, sollte es ihm recht sein. Er hatte stapelweise Be werbungen von Frauen, die ganz scharf darauf waren, nach Alaska zu ziehen. Vor einem Jahr hatte er diese Frauen selbst kennengelernt. „Also gut." Christian stand auf und legte das Geld für den Kuchen und den Kaffee auf den Tresen. „Es tut uns leid, dass Sie gegangen sind, aber was soll's. Sie waren ein Jahr bei uns, und es hat Spaß gemacht." „Ja", erwiderte sie wenig überzeugt. Anschließend ging Christian zum Wohnwagen. Das Gespräch war nicht annähernd so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht hätte er noch ein, zwei Tage warten sollen. Es war taktisch nicht besonders klug gewesen, gleich ins Caf6 zu laufen. Allerdings hatte er ja noch andere Möglichkeiten, und genau die wollte er jetzt nutzen. Im Büro öffnete er die oberste Schublade des Aktenschranks, um die Akte mit den Bewerbungen zu suchen, die er im vorigen Jahr erhalten hatte. Nach einer Weile hatte er gefunden, was er brauchte - auch ohne Mariahs Hilfe. Die kostbare Akte in der Hand, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Nachdem er die ersten drei Bewerbungen gelesen hatte, hatte er schon wesentlich besserer Laune. Viele Frauen waren scharf auf diesen Job gewesen. „Ramona Cummings", sagte er laut. Natürlich erinnerte er sich noch an das Gespräch mit der dunk elhaarigen Schönen. Vergnügt wählte er die Nummer. Der Anschluss bestand offenbar nicht mehr. Also blätterte Christian die zweite Bewerbung durch. „Rosey Stone." An das Gesicht konnte er sich nicht mehr erinnern, aber vielleicht half es ihm auf die Sprünge, wenn er ihre Stimme hörte. Wieder wählte er und wartete einen Moment.
Die Stimme war sanft und weiblich. „Hier ist Christian O'Halloran aus Hard Luck in Alaska. Kann ich bitte Rosey Stone sprechen?" „Am Apparat." Sie klang überrascht und ein wenig außer Atem. Ihm gefiel es, wenn Frauen ein wenig eingeschüchtert und außer Atem klangen. Das fing wirklich gut an! „Sie haben sich letztes Jahr als Sekretärin bei unserer Firma beworben." „Ja ... ja, ich erinnere mich!" erwiderte sie aufgeregt. „Wir haben gerade eine freie Position, die wir Ihnen anbieten." Es ist tatsächlich ein Kinderspiel, Mariah zu ersetzen, dachte er selbstgefällig. „Bieten Sie immer noch dieselben Leistungen wie letztes Jahr?" fragte Rosey. „Ah ... ja, das Blockhaus. Es ist eigentlich nichts Besonderes", fügte er mit einem Anflug von schlechtem Gewissen hinzu. „Mein Vater hat es vor über dreißig Jahren gebaut, und es gibt dort weder Strom noch sanitäre Anlagen." „Das soll wohl ein Witz sein!" Christian hatte keine Ahnung, was in ihn gefahren war. Warum hatte er ihr das auf die Nase binden müssen? „Auch sonst entbehrt es jeglichen Komforts", fuhr er fort und fragte sich gleichzeitig, ob er krank war. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?" „Nein. Sie können den Job haben, wenn Sie ihn noch wo llen." „Nein, danke", informierte sie ihn spitz, bevor sie den Hörer aufknallte. „Das habe ich mir gedacht", meinte er seufzend, bevor er ebenfalls auflegte. Verdammt, er wollte Mariah zurückhaben!
5. KAPITEL
Am frühen Montag morgen setzte Christian sich an seinen Schreibtisch im Büro. Da er so schnell wie möglich eine Nachfolgerin für Mariah finden wollte, griff er wieder zu der Akte mit den Bewerbungen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und las verschiedene Lebensläufe. Einige Bewerberinnen waren überqualifiziert, während andere wenig oder gar keine Büroerfahrung hatten und offenbar nur abenteuerlustig waren. Doch weder er noch Sawyer hatte Zeit, jemanden einzuarbeiten. Etwas frustriert legte Christian schließlich die Akte beiseite und nahm sich vor, später noch einmal einen Blick hineinzuwerfen. Natürlich hoffte er, Mariah würde irgendwann einsehen, dass sie keine begnadete Kellnerin war, und zu ihrem alten Job zurückkehren. Nachdem sie erfahren hatte, dass Allison Reynolds nicht nach Hard Luck kommen würde, bestand kein Grund mehr, so stur zu sein. Sawyer, der eine halbe Stunde später kam, war offenbar überrascht, seinen Bruder so früh im Büro anzutreffen. „Ich habe versucht, eine Nachfolgerin für Mariah zu finden", erklärte Christian. Dass bisher noch keine geeignete Kandidatin dabeigewesen war, verschwieg er wohlweislich genauso wie die Tatsache, dass er das Ganze hinauszögerte, in der Hoffnung, Mariah würde ihre Meinung ändern. „Gut", entgegnete Sawyer scharf. „Hast du Lust, mir dabei zu helfen?" Christian hielt es für besser, der Form halber weiterzumachen. „Vielleicht sollten wir diesmal eine ältere Frau mit mehr Lebenserfahrung nehmen." „Einverstanden. " Das klang so, als wäre es Sawyer ziemlich egal. „Sie muss gewissenhaft sein. Wie viele Anschläge sie pro Minute schafft, ist nicht so wichtig." Christian machte sich eine Notiz. „Klingt gut", murmelte Sawyer, der gerade die Kaffeemaschine auffüllte. Vorher war der Kaffee immer fertig gewesen, wenn sie das Büro betreten hatten - dank Mariah. Sie waren zwar durchaus in der Lage, sich selbst Kaffee zu kochen, aber es war ein netter Zug von Mariah gewesen. Das wurde Christian allerdings erst in diesem Moment richtig bewusst. Eigentlich hatte Mariah ihnen in vielerlei Hinsicht das Leben angenehmer gemacht. „Sie sollte die richtige Einstellung haben", fuhr er fort. „Stimmt", meinte Sawyer wenig überzeugt. „Ich kann keine Sekretärin gebrauchen, die wissen will, was wir für sie tun können. Sie muss etwas für uns tun, denn schließlich zahlen wir ihr Gehalt." Christian notierte diesen Punkt auf seiner Liste, die er mit Sawyers Hilfe durch weitere Eigenschaften ergänzte. Die neue Sekretärin sollte professionell arbeiten und pünktlich sein, außerdem loyal, verantwortungsbewusst und freundlich und ve rbindlich am Telefon. Als Christian die Liste anschließend noch einmal durchging, stellte er fest, dass Mariah abgesehen von ihrem Alter - über all diese Eigenschaften verfügte. Das beunruhigte ihn. Wie hatte er nur so blind sein können? Sie war die perfekte Kandidatin für den Job, und er merkte es erst jetzt. Zwölf Monate lang hatte er sich gewünscht, dass sie endlich gehen würde, und nun, da sie gegangen war, wollte er sie zurückhaben. Irgend etwas stimmte nicht, und er hatte das ungute Gefühl, dass es mit ihm zu tun hatte. „Hast du schon jemanden gefunden?" fragte Sawyer knapp zehn Minuten später. „Nein!" entgegnete Christian wütend. „Wie denn auch?" „Sieh dir die Bewerbungen an. Je eher wir jemanden bekommen, desto besser. Lanni kann schließlich nicht ewig einspringen."
„Das ist mir auch klar." „Charles war eigentlich dagegen, dass Lanni für uns arbeitet", erklärte Sawyer, „aber sie war der Meinung, dass es ihr nicht schadet, wenn sie ein paar Tage nicht schreibt. Sie kommt heute nachmittag." Christian konnte nicht verstehen, warum Sawyer es plötzlich so eilig hatte. Obwohl er alle Bewerbungen bereits zum zweiten Mal durchgegangen war, hatte er keine geeignete Bewerberin ge funden. So dringend war es nun wirklich nicht. Den restlichen Vormittag arbeiteten sie in friedlichem Einvernehmen. Die Piloten schauten wie immer vorbei, bevor sie zum Hangar gingen und abflogen. „Wer soll jetzt den Flugplan machen?" fragte Sawyer. Vorher hatte Mariah sich darum gekümmert. „Diese Woche machst du es, nächste Woche ich", schlug Christian vor. „Ach, nächste Woche willst du es machen?" wiederholte Sawyer sarkastisch. „Sieh zu, dass du bis dahin eine Nachfolgerin für Mariah gefunden hast." Christian hielt es für äußerst unwahrscheinlich, eine Frau zu finden, die sofort ihre Zelte abbrach und in die Arktis zog. So etwas ließ sich nicht überstürzen. Duke Porter war der letzte der Piloten, der an diesem Vormit tag im Büro vorbeischaute. Als er hereinkam, funkelte er Christian wütend an. „Mariah arbeitet jetzt bei Ben." „Ja, ich weiß." Christian musterte ihn nachdenklich. Mariah hatte zwar beteuert, zwischen Duke und ihr sei nichts, aber trotzdem ... „Und warum, wenn ich fragen darf?" „Da musst du sie schon fragen." Christian hätte es selbst gern gewusst. „Ich frage aber dich", meinte Duke vorwurfsvoll. Offenbar gab auch er ihm die ganze Schuld. „Ich weiß es nicht. Ich habe zwar eine Vermutung, aber darüber möchte ich nicht reden." „Ohne Mariah ist es hier nicht mehr dasselbe", beklagte sich Duke und legte sein Klemmbrett auf den Tisch. „An bestimmte Dinge gewöhnt man sich einfach." „Wie meinst du das?" erkundigte sich Sawyer. „Na ja, es ist so ruhig hier, irgendwie ... langweilig." „Langweilig", wiederholte Sawyer. „Ja, langweilig", betonte Duke. „Es war immer sehr amüsant, Mariah dabei zu beobachten, wie sie hinter Christians Rücken diese herrlichen Grimassen geschnitten hat." „Sie hat was getan?" fragte Christian wütend. Doch dann fand er es ziemlich komisch. Es war typisch Mariah, und er konnte es ihr nicht verdenken, so, wie er sich ihr gegenüber aufgeführt hatte. „Wer könnte es ihr verübeln?" meinte Duke. „Ich meine nicht nur, dass sie Grimassen geschnitten hat, sondern auch, dass sie gekündigt hat." Dann wandte er sich an Christian. „Jeder wusste doch, dass du bloß nach einem Vorwand gesucht hast, sie zu feuern. Aber ohne sie ist es hier, als ... als hätte jemand das Licht heruntergedreht." Christian war klar, dass Duke recht hatte. „Und? Bist du sauer auf sie, weil sie gegangen ist?" drängte Duke. „Nein", gestand Christian widerstrebend. Duke war offenbar überrascht, dass Christian gleich klein beigegeben hatte. „Willst du sie zurückholen?" Christian hoffte es zwar, doch eine Garantie gab es dafür nicht. Wenn er Glück hatte, würde Mariah einsehen, dass Kellnern nichts für sie war. Sie verfügte über viele Talente, die sie im Cafe bloß vergeudete. Allerdings musste er zugeben, dass ihr Apfelkuchen sehr lecker war. Nachdem Duke gegangen war, dachte Christian über seine Worte nach. Natürlich würde er nicht vor Mariah zu Kreuze krie chen, um sie zurückzugewinnen, doch er war durchaus bereit, einige Zugeständnisse zu machen.
„Kommst du ein paar Minuten allein zurecht?" fragte er schließlich Sawyer. „Ich möchte kurz zum Cafe gehen." Sawyer warf ihm einen merkwürdigen Blick zu und nickte dann. „Bleib aber nicht so lange weg." „Nein." Als Christian auf die andere Straßenseite ging, stellte er fest, dass es kühler geworden war. Obwohl es erst August und der Sommer - zumindest auf dem Kalender - noch nicht vorbei war, merkte man, dass es bald Herbst wurde. Bald würden die Tage sehr schnell immer kürzer werden, und es war durchaus möglich, dass es bereits im September schneite und die Flüsse zufroren. Der Wind war so stark, dass Christian Mühe hatte, die Tür hinter sich zu schließen, als er das Hard Luck Cafe betrat. Ben stand hinter dem Tresen, aber es war kein Gast da, denn die Frühstückszeit war vorbei, und zum Mittagessen war es noch zu früh. Er lächelte Christian freundlich an. „Was kann ich an diesem schönen Tag für dich tun?" „Wie wär's mit Kaffee und einem Doughnut?" Nachdem Christian sich auf einen Barhocker gesetzt hatte, schaute er sich um. Er fragte sich, wo Mariah war, wollte sich jedoch keine Blöße ge ben, indem er sich nach ihr erkundigte. „Sie ist in der Küche und backt Apfelkuchen", erklärte Ben, der offenbar genau wusste, warum Christian gekommen war. Christian tat so, als wüsste er nicht, wovon Ben redete. „Soll ich sie rufen?" meinte Ben. „Nein", erwiderte Christian automatisch, was er gleich darauf bedauerte. „Sie erregt ziemlich viel Aufsehen hier", erzählte Ben, während er ihm Kaffee einschenkte. Dann tat er ein paar Doughnuts auf einen Teller, den er ihm hinstellte. „Meinst du, wegen ihres Apfelkuchens?" „Nein, nicht deswegen, obwohl er wirklich toll schmeckt. Es ist ihretwegen. Das Geschäft läuft viel besser, seit sie für mich arbeitet. Die Jungs interessieren sich auch nicht für meinen Elchschmorbraten mit Preiselbeersauce." Auf den Gedanken war Christian noch gar nicht gekommen. Obwohl Mariah bereits seit einem Jahr in Hard Luck lebte, hatte sich bisher keiner der Männer besonders für sie interessiert. Christian hatte das nie verstanden. Er hätte oft alles darum gege ben, wenn sie sich in einen seiner Piloten verliebt hätte, aber das war leider nie eingetroffen. Genausowenig verstand er, was die sen Wandel hervorgerufen hatte. „Wer denn?" fragte er. Verdammt, er würde nicht zulassen, dass ein Haufen liebeskranker Piloten ihr auf die Nerven ging! Wenn die Männer bei Ben etwas essen wollten, war das in Ordnung, aber sobald sie mehr wollten, würden sie es mit ihm zu tun bekommen. Da er Mariah nach Alaska geholt hatte, war er auch für sie verantwortlich, solange sie in Hard Luck wohnte. Also musste er sie vor den Piloten beschützen. Außerdem bezweifelte er immer noch, dass zwischen Duke und ihr nichts lief, denn Duke hatte sich ziemlich merkwürdig verhalten. Sie. brauchte einen guten Freund, der wie ein Bruder zu ihr war. „Bill Landgrin zum Beispiel", erwiderte Ben. Christian wurde sofort hellhörig, denn der Pipelinearbeiter war ein notorischer Unruhestifter, und er konnte ihn nicht aus stehen. Die Vorstellung, dass Mariah mit Männern wie Bill Umgang hatte, gefiel ihm überhaupt nicht. „Und Ralph Ferris ist mit ihr ausgegangen." Ben warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie ihnen nicht zuhörte. „Ralph Ferris?" Nun verstand Christian gar nichts mehr. Ralph hatte sie in den letzten zwölf Monaten fast jeden Tag gesehen. Wenn er an ihr interessiert gewesen wäre, hätte er längst mit ihr ausgehen können. Dass er ihr jetzt nachlief, ergab überhaupt keinen Sinn, zumal Duke ein Auge auf sie geworfen hatte. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. „Du siehst nicht gerade erfreut aus." „Das bin ich auch nicht", gestand Christian. Nur leider konnte er nichts dagegen tun.
„Es geht dich auch nichts an." Christian begegnete ruhig Bens Blick. Da er schon seit Jahren mit Ben befreundet war, wollte er nicht, dass eine Frau zwischen ihnen stand. „Ich möchte Mariah zurückhaben", erklärte er. Daraufhin lachte Ben. „Das war mir in dem Moment klar, als du reingekommen bist. Vielleicht überrascht es dich, aber ich habe sie nicht an den Backofen gekettet. Sie kann jederzeit ge hen, wenn ihr der Sinn danach steht." „Gut. Aber vergiss nicht, wo ich ... wo wir stehen." „Meiner Meinung nach hättet ihr sie nicht gehen lassen dür fen." Ben runzelte die Stirn, als könnte er ihre Entscheidung nicht nachvollziehen. Darauf wusste Christian keine Antwort. Mariah war gerade beim Kuchenbacken, als sie der Unterhaltung zwischen Christian und Ben lauschte. Sie versuchte, jedes Wort mitzubekommen, denn sie wollte wissen, ob Christian sie vermisste und überhaupt einen Gedanken an sie verschwendet hatte. Allerdings konnte sie das, was Ben sagte, viel besser verstehen. Er erzählte Christian gerade, dass Bill Landgrin ein Auge auf sie geworfen habe. Natürlich wäre sie nie auf die Idee gekommen, mit Bill auszugehen, denn er war ein notorischer Casanova. Außerdem gab es nur einen Mann, für den sie sich interessierte, und der saß nur wenige Meter von ihr entfernt und redete über sie. Im nächsten Moment klingelte das Telefon, und sie hörte, wie Ben hinging und den Hörer abnahm. Sekunden später rief er: „Mariah, ein Ferngespräch für Sie." Nachdem Mariah sich die mehlbestäubten Hände an der Schürze abgewischt hatte, eilte sie zu dem anderen Apparat, der an der Wand hing, und nahm ab. „Mariah hier." Gleich darauf legte Ben auf. „Mariah, hier ist Tracy. Was ist eigentlich los?" „Was soll los sein?" Ihre Freundin klang so aufgeregt. „Ich habe bei Midnight Sons angerufen, und Sawyer hat ge sagt, dass du nicht mehr dort arbeitest. Dann hat er mir die Nummer vom Hard Luck Cafe gegeben." „Ich habe gekündigt", erwiderte Mariah. „Was hat Christian denn nun schon wieder getan?" fragte Tracy. Mariah gefiel es natürlich, dass ihre Freundin sofort annahm, Christian wäre an allem schuld. „Wie kommst du darauf, dass er etwas getan hat?" „Ich kenne ihn. Er hat alles darangesetzt, dir das Leben schwer zu machen." „Das stimmt nicht", verteidigte Mariah ihn sofort. „Ich habe ein Jahr bei Midnight Sons gearbeitet und fand, dass es nun an der Zeit ist, mal etwas anderes zu machen." „In Anchorage hast du kein Wort darüber verloren." „Ich ... ich habe mich erst nach meiner Rückkehr dazu ent schieden." „Irgend etwas muss passiert sein", drängte Tracy. „Das war sicher kein spontaner Entschluss, ich kenne dich doch. Bestimmt hat Christian O'Halloran dich dazu gebracht." „Niemand hat mich dazu gebracht", beharrte Mariah. „Ich arbeite jetzt bei Ben." Dass Ben sie vermutlich nicht lange beschäftigen konnte, verschwieg sie wohlweislich. Obwohl ihr Apfelkuchen reißenden Absatz fand, ließen ihre Fähigkeiten als Kellnerin sehr zu wünschen übrig. Bisher war Ben sehr nachsichtig mit ihr gewesen, doch sie hatte bereits zwei Kaffeekannen kaputtgemacht. Er hatte sich sogar geweigert, ihr das Geld dafür vom Gehalt abzuziehen. Enttäuscht hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie keine begnadete Kellnerin war, denn sie brachte ständig Bestellungen durcheinander und stellte sich ziemlich ungeschickt an. Erst an diesem Morgen hatte sie Keith Campbell seine pochierten Eier über den Schoß gekippt. Obwohl sie es nicht absichtlich getan hatte, war Keith gelinde gesagt verärgert gewesen. Mariah hatte sich bei ihm entschuldige n wollen, aber er hatte sie überhaupt nicht zu Wort kommen lassen und war wütend aus dem Cafe gestürmt. Ben war darüber auch nicht
besonders traurig gewesen und hatte ihr versichert, es sei kein großer Verlust für ihn, Keith als Kunden zu verlieren. „Ich musste die Firma verlassen", gestand sie schließlich traurig. „Das habe ich mir gedacht", meinte Tracy mitfühlend. „Soll ich die O'Hallorans verklagen?" „Mit welcher Begründung?" konterte Mariah. Die O'Hallorans waren ihr gegenüber immer sehr fair gewesen. Sie hatten ihr das Blockhaus und das Grundstück überschrieben und ihr damit dabei geholfen, sich von dem Einfluss ihrer Familie zu befreien. „Irgendetwas würde uns schon einfallen." Tracy war ein streitbarer Mensch und daher eine gute Anwältin. Doch gerade wegen ihrer herausfordernden Art hatte sie auch solche Probleme mit Duke. Er provozierte sie ganz bewusst, indem er völlig unsinnige Dinge zu ihr sagte, und sie ging jedesmal darauf ein. „Ich würde die O'Hallorans niemals verklagen", erklärte Mariah entschieden. „Christian steckt aber dahinter, und ich ..." „Bitte hör mir zu, Tracy", unterbrach Mariah sie. „Ich bin rundum glücklich, und die Firma wird auch ohne mich weiterbestehen." Die Frage war allerdings, ob sie ohne die O'Hallorans, oder besser gesagt, Christian O'Halloran weiterleben konnte. Mariah plauderte noch eine Weile mit Tracy und versuchte dabei, sowohl ihr als auch sich selbst einzureden, dass sie glücklich war. Sobald sie ihr klargemacht hatte, dass es ihr Wunsch gewesen wäre, den Job zu wechseln, war Tracy etwas beruhigt. „Versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du etwas brauchst", bat sie dann. „Ich werde für dich tun, was ich kann - beruflich und privat." Mariah versprach es ihr, obwohl sie bezweifelte, dass sie je einen Anwalt brauchen würde. Bethany stand in dem leeren Klassenzimmer und schaute sich um. In wenigen Tagen würden ihre Schüler wieder an den Tischen sitzen. Plötzlich verspürte sie einen Anflug von Stolz. Sie liebte ihren Job, und sie liebte Alaska. Sie hatte Ben zwar nie gefragt, was ihn nach Hard Luck verschlagen hatte, glaubte es aber zu verstehen. Die Landschaft war einfach atemberaubend schön, vor allem wenn die Tundra in voller Blüte stand und die klare Luft vom Duft der wilden Blumen und der Fichten erfüllt war. Der Winter stellte natürlich eine Herausforderung dar, der nicht jeder gewachsen war, denn es war monatelang bitter kalt, und die Sonne schien nur wenige Stunden am Tag. Bethany dachte daran, dass der Frühling in der Arktis viel mehr bedeutete als Sonne und das Erwachen der Natur. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie ihren ersten Frühling in Hard Luck empfunden hatte. Als sie die ersten Sonnenstrahlen genossen hatte, war ihr klar geworden, dass sie den Winter überstanden hatte. Sie verspürte seitdem eine ganz neue innere Stärke, das Bewusstsein, dass sie mit ihrer Liebe und ihrer Entschlusskraft alles erreichen konnte. Bethany lächelte unwillkürlich, als sie an Ben dachte und daran, wie sie ihn gefunden hatte. Dieser Mann hatte ihr das Leben geschenkt, und ihm hatte sie vieles zu verdanken. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre sie Mitch und Chrissie niemals begegnet. „Du siehst aber nachdenklich aus." Mitch stand auf der Türschwelle, die Arme vor der Brust verschränkt. Groß und muskulös, sah er in seiner Uniform noch attraktiver aus, und sein Anblick machte Bethany sehr stolz. „Ich habe gerade an Ben gedacht", sagte sie. „Du machst dir Sorgen um ihn, stimmt's?" „Ich glaube schon. Als ich ihn neulich besucht habe, sah er nicht gut aus." „Du hast ihn ja auch geweckt, Schatz." „Ich weiß." Sie hatte noch eine Stunde mit Ben geplaudert und gelacht, bevor sie schließlich nach Hause gegangen war. Erst als sie an dem Abend ins Bett gegangen war, hatte sie noch einmal über ihre
Begegnung nachgedacht. Irgend etwas stimmte nicht mit Ben, aber sie hatte nicht sagen können, was es war. „Ich wollte dich zum Mittagessen einladen", erklärte Mitch. „Chrissie ist nämlich bei Susan. Gleich kannst du dich selbst davon überzeugen, dass Ben so mürrisch wie immer ist." „Gern." Bethany lächelte. „Liebe geht bekanntlich durch den Magen." Als Christian am selben Abend das Hard Luck Cafe aufsuchte, um dort zu essen, ging ihm durch den Kopf, dass seine Absichten wohl ziemlich leicht zu durchschauen waren. Das Tagesgericht, gegrillte Elchrippchen, zählte nämlich nicht gerade zu seinen Lieblingsspeisen. Außerdem gefiel ihm der Gedanke nicht, dass die Hälfte der Einwohner von Hard Luck zusah, wenn er sich zum Narren machte. Doch er hatte keine Wahl. Irgendwie musste er Mariah dazu bringen, wieder für Midnight Sons zu arbeiten. Er hatte keinen besonders guten Tag gehabt. Sawyer lag ihm wegen der Nachfolgerin für Mariah immer noch in den Ohren, das Telefon hatte ununterbrochen geklingelt, und die Piloten hatten sich ständig wegen irgend etwas beklagt. Alles schien schiefzulaufen. Christian dachte unwillkürlich daran, dass Mariah ihm sogar dann das Leben schwer machte, wenn sie nicht im Büro war. Als er das Cafe betrat, stellte er entsetzt fest, wie voll es war. Lediglich in einer Ecke war noch ein Tisch frei. Christian nahm sofort daran Platz, bevor ihm jemand anders den Stuhl vor der Nase wegschnappte. „Ich komme gleich", sagte Mariah im Vorbeigehen. Erst nach ein paar Sekunden schien sie zu merken, dass er es war. Sie drehte sich um und lächelte ihn an. „Hallo, Christian." „Mariah." Beinah wäre er aufgesprungen, um ihr seine Hilfe anzubieten. Sie war hier seiner Meinung nach völlig fehl am Platz, allein unter so vielen Männern. Er wünschte sich, sie könnte bei ihm sein. „Mariah, was macht meine Bestellung?" „Noch einen Kaffee, Mariah." „Mariah, haben Sie meinen Apfelkuchen vergessen?" Als Christian es nicht länger ertragen konnte, stand er auf und eilte ihr nach in die Küche, wo Ben im Eiltempo das Essen auf die Teller füllte. „Hörst du nicht, was da draußen los ist?" fragte Christian. „Natürlich höre ich es." Ben lachte leise. „Ich höre, wie die Kasse klingelt. Habe ich dir nicht gesagt, dass der Laden wieder läuft, seitdem Mariah für mich arbeitet?" „Sie gönnen ihr nicht einmal eine Verschnaufpause." „Ben, ich brauche ..." Mariah stürmte in die Küche und blieb abrupt stehen, als sie Christian sah. „... noch mehr Brötchen", ergänzte sie leise. „Ich möchte mit Ihnen reden." „Ich kann jetzt nicht." Sie warf einen Blick über die Schulter. „Da draußen sitzen eine Menge hungriger Gäste, die alle sofort ihr Essen haben wollen." Dann schaute sie zum Tresen, wo Ben die Brötchen hingestellt hatte. „Es tut mir leid, Christian, aber es ist unmöglich." „Sie machen sich kaputt", warf er ihr vor, denn mittlerweile war er mit seiner Geduld am Ende. Er wollte ihr ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnte. Sie musste von hier weg, egal, was es ihn kostete. „Sie hat jetzt keine Zeit zum Reden", mischte Ben sich ein. „Anscheinend hast du vergessen, dass sie jetzt für mich arbeitet. Wenn du ihr etwas zu sagen hast, dann tu es, wenn sie Dienstschluss hat." „Also gut", gab Christian nach. „Ich bringe Sie dann nach Hause." „Das geht auch nicht." Verlegen biss sie sich auf die Lippe. „Ralph hat mir schon angeboten, mich nach Hause zu bringen." „Ralph", wiederholte Christian bitter. Ralph Ferris war nicht nur einer seiner Mitarbeiter,
sondern auch ein Freund von ihm - zumindest bisher. Während er aß, beobachtete Christian, wie Mariah von einem Tisch zum anderen eilte und dabei immer entnervter wirkte. Er hatte ihre Fähigkeiten als Kellnerin tatsächlich nicht unter schätzt, denn sie machte einen Fehler nach dem anderen. Was ihn allerdings wunderte, war, dass keiner der Gäste sich beschwerte. Die meisten wiesen sie nicht einmal auf ihren Irrtum hin und aßen sogar das, was sie nicht bestellt hatten. Sobald Ben in der Küche fertig war, stellte er sich an die Kasse und nahm sichtlich zufrieden das Geld entgegen, wenn jemand bezahlte. Christian hatte eigentlich abwarten und später Ralph bitten wollen, ihn Mariah nach Hause bringen zu lassen. Doch nach einer Stunde konnte er nicht mehr untätig herumsitzen. Dass die Männer ganz ungeniert mit ihr flirteten, brachte ihn auf die Palme. Daher bezahlte er und verließ mit finsterer Miene das Cafe. Als er zu Hause ankam, war seine Laune noch nicht besser. Frustriert setzte er sich vor den Fernseher. Da er eine Satellitenschüssel hatte, hatte er genug Programme zur Auswahl. Es war jedoch nichts dabei, das ihn interessierte. Schließlich schaltete er entnervt ab und griff zu dem Roman, den er in der letzten Woche angefangen hatte. Nachdem er zehn Seiten gelesen hatte, stellte er fest, dass er sich an kein einziges Wort mehr erinnerte. Also legte er das Buch wieder weg und ging nervös im Wohnzimmer auf und ab, wobei er ständig auf die Uhr sah. Ben machte um acht zu. Da sie noch Geschirr spülen und saubermachen musste, würde es ungefähr noch eine Stunde länger dauern, bis Ralph Mariah nach Hause brachte. Beim Gedanken daran presste Christian unwillkürlich die Lippen zusammen. Dann rief er sich jedoch ins Gedächtnis, dass er keinerlei Ansprüche auf sie hatte und auch gar nicht haben wollte. Er fühlte sich lediglich für sie verantwortlich, wie er sich zum wiederholten Male sagte genauso, wie man sich für eine kleine Schwester verantwortlich fühlte. Mariah brauchte jemanden, der ihr sagte, wo es langging. Sobald er sich das klargemacht hatte, ging es ihm schon wesentlich besser. Christian war sich allerdings nicht sicher, was er ihr sagen sollte. Auf keinen Fall durfte er sie unter Druck setzen. Wenn sie zugab, dass sie ihre Arbeit bei Midnight Sons vermisste, konnte er ihr vorschlagen, zu ihnen zurückzukommen. Um sie umzustimmen, musste er sicher einige Zugeständnisse machen. Die Frage war nur, welche! Schließlich ging Christian nach draußen auf die Veranda und schaute zu Sawyers Haus hinüber, das auf der anderen Straßenseite lag. Scott und Eagle Catcher spielten im Garten. Scott warf einen Stock, den der Husky apportierte, während Susan und Chrissie auf der Verandatreppe saßen und mit Puppen spielten. Da sich der Fernseher im Fenster spiegelte, nahm Christian an, dass Sawyer und Abbey auf dem Sofa saßen und Nachrichten sahen. Sawyer war innerhalb kurzer Zeit sehr häuslich geworden, ein echter Familienmensch. Obwohl Christian sich für ihn freute, konnte er sich ein solches Leben nicht vorstellen. Sein Leben gefiel ihm so, wie es war, und eines war sicher: Er wollte nicht mit einer Frau zusammenleben, die versuchte, ihn zu verändern. Er seufzte leise, als er die Verandastufen hinunterging, und schob die Hände in die Hosentaschen. Hoffentlich wussten Sawyer und Charles seinen Einsatz zu schätzen. Vielleicht schaffte er es ja, ihre Sekretärin zurückzubekommen. Und wenn nicht ... Darüber würde er sich Gedanken machen, nachdem er mit Mariah gesprochen hatte. „Wohin gehst du, Onkel Christian?" Scott eilte hinter ihm her, wie immer dicht gefolgt von Eagle Catcher. „Ich gehe spazieren." Christian hoffte, dass der Junge den Wink verstehen würde.
„Jemand spielt Indianer", meinte er. „Wirklich?" „Ja, sie machen Rauchzeichen." Scott blieb stehen und stützte die Hände in die Hüften. „Aber sie machen es ganz falsch. Da." Er zeigte in die Ferne, wo die Blockhäuser standen. „Siehst du den Rauch?" „Rauch?" Als Christian sich umdrehte und die Rauchsäule sah, begann sein Herz zu rasen. „Das sind keine Rauchsignale", rief er. „Es brennt."
6. Kapitel Feuer. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als Mariah gegen die Panik ankämpfte, die sie zu überwältigen drohte. Zuerst versuchte sie, das Feuer zu bekämpfen, doch mit ihren kläglichen Bemühungen schien sie alles nur noch schlimmer zu machen. Die Flammen schlugen aus dem Ofenrohr und züngelten bereits an den alten Holzbalken. Innerhalb kürzester Zeit war das Blockhaus voller Qualm, so dass Mariah hustete und nach Atem rang. Schnell schnappte sie sich die Sachen, die in ihrer Reichweite lagen, und stürzte nach draußen. Endlich bekam sie Luft. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, bekam sie wieder einen Hustenanfall. Da sie keine Zeit verlieren durfte, atmete sie schnell noch einmal tief ein, bevor sie ins Haus zurücklief, um ihre Brieftasche und ihren Pass zu holen. Da sie wegen des dichten Qualms kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, tastete sie hilflos umher. Sie musste nicht nur ihre Papiere finden, sondern auch den kostbarsten Gegenstand, den sie besaß: den kleinen Jadebären. Ihr Verstand schien plötzlich nicht mehr zu funktionieren. Wo hatte sie bloß ihre Brieftasche hingelegt? Und wo war der Bär? Auf ihrem Nachttisch? „Mariah." Wie aus weiter Ferne drang die Stimme an ihr Ohr, während Mariah immer schwächer wurde. Sie bekam keine Luft mehr, aber sie wollte nicht eher aufgeben, als bis sie ihre Brieftasche und den Jadebären gefunden hatte. „Mariah." Die Stimme klang ängstlich und kam immer näher. „Hier." Mariah fühlte sich so schwach. Erst als sie ein Paar Männerschuhe erkannte, merkte sie, dass sie auf dem Boden lag. „O nein!" Im nächsten Moment wurde sie hochgehoben und nach draußen getragen. Endlich konnte sie wieder durchatmen! Sie hustete wieder, und sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte, stürzte sie zurück zum Haus. „Mariah, sind Sie verrückt geworden?" Christian hielt sie zurück, indem er ihre Taille umfasste. „Sie können da nic ht hinein." „Aber..." „Da ist nichts, für das es sich zu sterben lohnt, verdammt!" Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen ihn - vergeblich. Er war viel stärker als sie. Schließlich drehte er sie zu sich herum. „Nun hören Sie schon auf, Mariah!" Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in ihre Schultern. Die Hitze, die das Feuer ausstrahlte, war fast uner träglich. „Meine Brieftasche, der Bär ..." „Was für ein Bär?" In der Ferne hörte Mariah die Sirene. „Meine Brieftasche und Ihr Geschenk ..." Obwohl sie gerade alles verloren hatte, dachte sie nur an die beiden Gegenstände, die ihr am wichtigsten waren. Es fiel ihr zunehmend schwerer, einen klaren Kopf zu behalten. Das alles ergab keinen Sinn. „Soll das heißen, Sie haben wegen Ihrer Brieftasche Kopf und Kragen riskiert?" rief Christian. Wieder versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien. „Lassen Sie mich los!" „Auf keinen Fall", entgegnete er unsanft. „Das könnte Ihnen so passen." Im nächsten Moment kam der Feuerwehrwagen mit quietschenden Bremsen vor dem Blockhaus zum Stehen. Sekunden später sprangen sechs Männer heraus und begannen, den Schlauch abzurollen.
Mariah erkannte Sawyer, Mitch Harris und Marvin Gold, die alle Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr waren. Sie wollte ihnen zurufen, dass sie sich beeilen sollten, aber ihr war klar, dass es bereits zu spät war. Sie hatte alles verloren. Christian legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie von der Hütte weg, die mittlerweile lichterloh brannte. Mariah wurde eiskalt, als sie beobachtete, wie alles, was sie besaß, in Flammen aufging - abgesehen von den paar Sachen, die sie gerettet hatte. Dann kam Dotty Livengood auf sie zu. Sie war offenbar den ganzen Weg von zu Hause gelaufen, denn sie war völlig außer Atem. „Ist mit Mariah alles in Ordnung?" fragte sie Christian. „Keine Ahnung." „Ich möchte sie mir mal ansehen." „Mariah." Christian legte ihr beide Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich um. „Haben Sie sich verbrannt?" Obwohl sie seine Worte hörte, nahm Mariah sie nicht richtig wahr. Ihr war, als würde sie unter einer Glasglocke stehen. Daher brauchte sie eine Weile, um die Bedeutung seiner Frage zu erfassen. War sie verletzt? Hatte sie sich verbrannt. Sie hatte keine Schmerzen, zumindest keine körperlichen. Das einzige, was sie verspürte, war ein Gefühl des Verlusts. „Ihre Hände." Selbst aus der emotionalen Distanz schien es ihr, als wäre Christian wütend. „Sieht so aus, als hätte sie Brand blasen an den Fingern." „Bestimmt hat sie versucht, das Feuer zu löschen." Dottys Stimme klang sanft und irgendwie tröstlich. „Ich fasse es nicht", murmelte Christian. „Ich musste sie förmlich aus dem Haus schleifen. Sie war auf der Suche nach ihrer Brieftasche und so einer albernen Figur, die ich ihr geschenkt habe. Für ein Stück Jade, das vierzig Dollar gekostet hat, hat sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt." Er schäumte förmlich vor Wut. „Beruhige dich doch, Christian", sagte Dotty energisch. „Wie denn? Sie hätte sterben können! Wenn ich nicht rechtzeitig hiergewesen wäre, hätte sie niemand mehr retten können." „Atme ein paarmal tief durch", riet sie ihm ruhig. „Ihr habt beide einen Schock erlitten, aber jetzt seid ihr in Sicherheit." „Sie war bereit zu sterben, nur um ihre Brieftasche und eine Figur zu retten!" Er steigerte sich regelrecht in seine Wut hinein. Schließlich begann er, nervös auf und ab zu gehen. Erst jetzt verstand Mariah allmählich, was passiert war. Sie wusste nicht genau, wodurch das Feuer ausgebrochen war. Da es kalt im Haus gewesen war, hatte sie Feuer im Ofen geschürt. Es war schon lange her, seit sie ihn das letzte Mal benutzt hatte, und der Kamin war vermutlich verstopft gewesen, weil das Rohr plötzlich geglüht hatte. Die trockenen Balken der Wand dahinter hatten sofort Feuer gefangen, und dann die Gardinen. Die Flammen hatten sich so schnell ausgebreitet, dass sie sie nicht mehr hatte löschen können. „Bring sie zur Klinik", wies Dotty Christian an. „Ich werde mich gleich um die Verbrennungen kümmern." Nach und nach trafen einige andere Leute aus Hard Luck ein, Erwachsene und Kinder, die Mariah mitfühlend betrachteten. „Fahr schon", sagte Dotty zu Christian. Als er Mariah wegführte, drehte sie sich nur noch einmal um, um einen letzten Blick auf das zu werfen, was einmal ihr Haus gewesen war. Dotty kam etwas später in die Klinik. „Man hat leider nichts retten können", erzählte sie traurig. Mariah fühlte sich wie ausgelaugt und konnte sich kaum auf den Beinen halten. „Du hast einen ganz schönen Schock erlitten", meinte Dotty sanft. Christian ging nervös auf und ab. „Als ich sie gefunden habe, lag sie auf dem Boden. Wenn ich auch nur eine Minute später gekommen wäre, wäre sie vielleicht schon tot
gewesen." „Sie hat dir einen ganz schönen Schrecken eingejagt." „Die Frau hat wirklich keinen Grips im Kopf. So wichtig kann eine Brieftasche wohl kaum sein, oder?" Wütend fuhr er sich über den Nacken. „Sie hätte nicht einmal in dem Blockhaus wohnen dürfen. Es ist dort viel zu gefährlich. Aber stur, wie sie ist, hat sie darauf bestanden ..." „Christian!" „Sie sollte lieber nach Seattle zurückkehren!" brauste er auf. „Ich würde ihr sogar das Flugticket bezahlen. Da muss sie wenigstens kein Feuer löschen und keine liebestollen Männer abwehren." Sie sollte nach Seattle zurückkehren. Als die Worte allmählich in ihr Bewusstsein drangen, schluchzte Mariah auf. Christian hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, was er für sie empfand, aber dass er ausgerechnet jetzt so grausam zu ihr war, war mehr, als sie ertragen konnte. „Christian O'Halloran, wie kannst du nur so etwas Gemeines sagen!" fuhr Dotty ihn an. „Du gehst jetzt besser und lässt Mariah in Ruhe." Mariah beobachtete, wie er wütend die Klinik verließ. Dann lehnte sie den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Bemüht, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, konzentrierte sie sich auf ihre schmerzenden Hände. Nachdem Mariahs Wunden versorgt und ihre Hände verbunden waren, kamen Abbey und Lanni O'Halloran sowie Karen Caldwell und Bethany Harris vorbei, um nach Mariah zu sehen. „Ist alles in Ordnung?" Abbey setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. „Mir geht es gut", versicherte Mariah, obwohl das nicht stimmte. Sie fühlte sich so elend, dass ihr wieder die Tränen in die Augen traten. Sie hatte alles verloren, wofür sie die letzten zwölf Monate gearbeitet hatte. Der Mann, den sie heimlich liebte, war außer sich vor Wut auf sie. Und nun waren auch noch ihre Hände bandagiert, so dass sie nicht arbeiten konnte. Verzweifelt fragte sie sich, wo sie nun wohnen sollte. „Wenn ich klug bin, tue ich, was Christian gesagt hat", sagte sie leise und rang sich ein Lächeln ab. „Was hat Christian gesagt?" Bethany warf Dotty einen Blick zu. „Er hat ihr geraten, nach Seattle zurückzukehren." Dotty verzog missbilligend den Mund. „Irgend jemand sollte mal ein ernstes Wort mit dem jungen Mann sprechen." „Er hat was vorgeschlagen?" meinte Lanni wütend. „Wie kann er es wagen!" rief Karen. „Immer mit der Ruhe." Abbey strich Mariah sanft über den Rücken. „Wir sollten ihn nicht vorschnell verurteilen. Ich habe mich nämlich gerade mit ihm unterhalten, und wisst ihr was? So habe ich ihn noch nie erlebt." Kein Wunder, dachte Mariah. „Er hat sich zu Tode erschreckt. Denkt mal darüber nach, was das bedeutet. Er hätte Mariah beinah verloren." „Und warum wirft er ihr dann ausgerechnet jetzt solche Dinge an den Kopf?" hielt Lanni dagegen. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Männer herauslassen, was sie am meisten fürchten, statt es in sich hineinzufressen. Frauen tun das nicht so oft." „Du nimmst ihn doch nur in Schutz", protestierte Bethany. „Nein", beharrte Abbey. „Ich glaube, dass er sich bei Mariah entschuldigt, sobald ihm klargeworden ist, was er gesagt hat. Er möchte genausowenig, dass sie nach Seattle zurückkehrt, wie er dort leben möchte." „Und wenn er sich nicht bei ihr entschuldigt, werden wir ein bisschen nachhelfen",
ergänzte Karen. Dotty lachte leise. „Mittlerweile tut der Junge mir fast leid." „Siehst du, Mariah, schon ist das Problem gelöst", versicherte Abbey. „Also ..." Karen stand mitten im Raum, die Hände in die Hüften gestemmt. „Bis das Blockhaus wieder aufgebaut ist, musst du irgendwo wohnen. Bestimmt wird es nicht lange dauern, weil ja jetzt überall in Hard Luck gebaut wird." „Wieder aufbauen ... Ja. Ich ... ich weiß nicht, was ich tun soll", flüsterte Mariah. Sie war so froh, dass sie ihre Freundinnen hatte, denn die Zukunft erschien ihr mit einemmal ziemlich düster. „Mach dir darüber keine Sorgen", tröstete Karen sie. „Du kannst solange bei Matt und mir im Hotel wohnen." „Im Hotel ..." Mariah war klar, dass sie wie ein Papagei alles wiederholte, doch im Moment konnte sie nicht einmal die banalsten Entscheidungen treffen. „Wir kümmern uns um alles", versprach Abbey. Mariah bezweifelte allerdings, dass irgend jemand ihr helfen konnte. Ihr Leben war ein einziger Trümmerhaufen. „Gehst du auch zum Tanz am Tag der Arbeit?" fragte Ben, als Christian ein paar Tage nach dem Feuer zum Frühstück ins Cafe kam. „Zum Tanz?" Der Tag der Arbeit, in den USA der erste Montag im September, wurde in Hard Luck immer mit einer kleinen Feier begangen. Wegen der Probleme im Büro und des Chaos nach dem Feuer hatte Christian bisher jedoch kaum daran gedacht. „Ich glaube schon", meinte er wenig begeistert. Da er bisher immer an den Veranstaltungen teilgenommen hatte, vermutete er, dass es in diesem Jahr auch nichts anderes sei. „Kommst du mit, Mariah?" Als Christian Mariahs Namen hörte, verkrampfte er sich unwillkürlich. Immer wenn er an das Feuer dachte, wurde er so wütend, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Diese Närrin! Beinah wäre sie in den Flammen ums Leben gekommen! Bei der Vorstellung daran lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken. Er wandte den Blick ab, damit Ben nicht merkte, wie sehr ihn das Ganze mitgenommen hatte. „Und? Was macht sie?" erkundigte sich Christian, während er Seine Pfannk uchen mit der Gabel zerteilte. „Soweit ich weiß, wohnt sie jetzt im Hotel." Christian nickte. Das hatte er auch schon gehört. „Sie kann nicht arbeiten, weil ihre Hände noch verbunden sind. Sie hat deswegen ein schlechtes Gewissen", fügte Ben hinzu, „aber ich habe dieses Cafe fast zwanzig Jahre allein geführt. Ich habe ihr gesagt, dass ich allein zurechtkomme, bis ihre Brand wunden verheilt sind." „Waren die Verbrennungen schlimm?" „Nein. Dotty meint, in einer Woche sei sie wieder in Ordnung." Erleichtert nahm Christian das zur Kenntnis. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass du alle Frauen in der Stadt auf die Palme gebracht hast." Ben lachte leise, als er zum anderen Ende des Tresens ging, um Duke und Ralph Kaffee nachzuschenken. „Sieht so aus", murmelte Christian. Er war nicht gerade stolz darauf, die Beherrschung verloren zu haben, aber er war so wütend auf Mariah gewesen, dass die Worte ihm so herausgerutscht waren. Noch nie in seinem Leben hatte er solche Angst gehabt. Erst in der letzten Nacht war er schweißgebadet und zitternd aufgewacht, weil er von dem Feuer geträumt hatte. Doch im Traum hatte er Mariah nicht gefunden. Sein Herz raste, und da er nicht wieder einschlafen konnte, zog er sich an und ging zu dem ausgebrannten Blockhaus. Dort stand er bis zum Sonnenaufgang, dankbar, dass sie nicht in den Flammen umgekommen
war. Sie lebt. Obwohl er die Worte ständig wiederholt hatte, konnte er nicht vergessen, dass Mariah beinah ums Leben gekommen wäre. „Was willst du jetzt tun?" erkundigte sich Ben. „Was kann ich denn tun? Ich schätze, ich muss mich bei ihr entschuldigen." Christian warf einen verstohlenen Blick zu den beiden Piloten. Sawyer konnte ihn zur Zeit nicht gebrauchen. Er hatte ihm immer noch nicht verziehen, dass Mariah gegangen war, und dass Christian noch keine Nachfolgerin für sie gefunden hatte, hatte die Situation nicht gerade verbessert. Und zu allem Überfluss machte Sawyer ihm nun offenbar einen Vorwurf daraus, dass er Mariah im Blockhaus hatte wohnen lassen. Von wegen lassen, dachte Christian ironisch. „Gut." Ben seufzte schwer, als hätte er sich darüber bereits den Kopf zerbrochen. Nachdem Christian die Rechnung bezahlt hatte, eilte er zurück ins Büro. Sawyer nahm die Anrufe entgegen und überließ es ihm, sich um die Piloten und deren Terminplan zu kümmern. Christian hatte zwar wie so oft in letzter Zeit überhaupt keine Lust, stürzte sich aber in die Arbeit. Als es irgendwann am Vormittag etwas ruhiger wurde, machte er sich auf den Weg zum Hotel, um mit Mariah zu sprechen. Unterwegs legte er sich zurecht, was er ihr sagen wollte. Da er so in Gedanken versunken war, merkte er gar nicht, dass Mariah auf der Hollywoodschaukel auf der Veranda saß. „Karen und Matt sind nicht da", erklärte sie, als er die Verandastufen hochgehen wollte. Er blieb abrupt stehen und betrachtete erst ihre bandagierten Hände, bevor er ihr in die Augen schaute. Als er den traurigen Ausdruck darin sah, hätte er sie am liebsten in die Arme genommen und getröstet. Doch ihm war klar, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, und das konnte er ihr nicht verdenken. Sie hatte sich das Haar aus dem Gesicht frisiert und trug ein schlichtes hellgrünes Sommerkleid, das ihr sehr gut stand. Da er es nicht kannte, fragte er sich, ob eine ihrer Freundinnen es ihr geliehen hatte. Jedenfalls hatte sie noch nie so schön ausgesehen. „Ich bin nicht hier, um Karen oder Matt zu besuchen", sagte er, während er die Stufen hochging. Obwohl es in den letzten Tagen ziemlich kühl gewesen war, war es ungewöhnlich warm für Ende August. In der Ferne zwitscherten die Vögel, und die Schaukel bewegte sich sanft hin und her. Christian konnte den Blick nicht von Mariah wenden. Sie schaute ihn ausdruckslos an und machte einen verwirrten und verlorenen Eindruck - genau wie an dem Abend, als das Feuer ausgebrochen war. „Ich bin gekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen", platzte er heraus, um es endlich hinter sich zu bringen. „Was ich zu Ihnen gesagt habe, habe ich nicht so gemeint. Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie Alaska verlassen." „Aber Sie hätten nichts dagegen, wenn ich Hard Luck verlassen würde", erwiderte sie ausdruckslos. „Nein, so habe ich es nicht gemeint. Ich möchte auch nicht, dass Sie Hard Luck verlassen." Sie machte es ihm verdammt schwer, aber vermutlich hatte er es nicht besser verdient. „Hier." Er nahm den Jadebären aus seiner Jackentasche. Am letzten Morgen hatte er nach Sonnenaufgang stundenlang zwischen den verkohlten Balken und der Asche danach gesucht. Ihre Brieftasche hatte er allerdings nicht gefunden. Ihre Augen leuchteten auf. „Sie haben meinen Bären gefunden!" Das war das erste Mal, dass Mariah Gefühle zeigte. Ihre Lippen bebten, und er sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. Als er ihr die Figur reichte, presste sie sie an die Brust. „Danke, Christian." Betont gleichgültig zuckte er die Schultern. „Keine Ursache." Als sie ihn weiterhin anschaute, wandte er den Blick ab. Nicht etwa, weil er sie nicht attraktiv fand - er fühlte sich sogar immer mehr zu ihr hingezogen -, sondern weil es Gefühle in ihm weckte, die er die ganze Zeit verdrängt hatte. Immer wenn er sie ansah, verspürte er
den Wunsch, sie wieder zu küssen. Charles hatte ihm erzählt, dass er Lanni nicht mehr angesehen habe, nachdem er erfahren habe, dass sie Catherine Fletchers Enkelin sei. Aber das hier ist etwas anderes, sagte sich Christian. Ihm war klar, was er für Mariah empfand. Sie brauchte einen guten Freund, der ihr half und ihr sagte, wo es langging. Er war anders als seine Brüder, denn Sawyer und Charles trugen das Herz auf der Zunge. Er dagegen ... Sicher, er hatte Mariah geküsst, doch das war purer Zufall gewesen. Trotzdem konnte Christian sich noch genau daran erinnern, wie es damals gewesen war. Er hatte vergeblich versucht, es zu verdrängen. Verdammt, vielleicht war er seinen Brüdern doch ähnlicher, als er angenommen hatte! Spontan setzte er sich zu Mariah auf die Hollywoodschaukel, denn sie sollte merken, wie ernst es ihm mit seiner Entschuldigung war. „Es tut mir leid. Ich weiß einfach nicht, was in mich gefahren war." Das war zwar keine Entschuldigung^ aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. „Es ist nur ... Sie hätten in den Flammen umkommen können." Er spürte, wie er wieder wütend wurde. „Wenn Sie nie wieder mit mir reden wollen, nehme ich es Ihnen nicht übel. Allerdings hoffe ich, dass es nicht der Fall ist." „Ich verstehe Sie, Christian." „Wirklich?" „Ja, ich vergebe Ihnen." Mariah lächelte, als würde sie die me lodramatischen Worte komisch finden. „Sie waren wütend auf mich und völlig außer sich." Nun war ihm leichter ums Herz. Als sie ihn anlächelte, stellte Christian nicht zum ersten Mal fest, dass sie viel attraktiver war als Allison Reynolds, obwohl sie nicht deren klassische Schönheit besaß. Versonnen betrachtete er ihre sanft geschwungenen Lippen, die gewisse Erinnerungen in ihm weckten. Dann räusperte er sich und wandte schnell den Blick ab. „Vielen Dank, dass Sie den Bären gesucht haben." „Das war das mindeste, was ich tun konnte." Wieder zuckte er die Schultern und lächelte schief. Sein Herz klopfte wie das eines liebeskranken Teena gers. „Mariah", flüsterte er, bevor er sie an sich zog, um sie verlangend zu küssen. Sie ließ es geschehen und erwiderte den Kuss mit derselben Leidenschaft. Christian atmete schwer. Ihre ersten Küsse waren flüchtig ge wesen, doch diesmal ergriff er von ihrem Mund Besitz. Er stöhnte auf, als er merkte, wie sie darauf reagierte, und strich ihr über den Rücken. Plötzlich hörte er ein Geräusch und löste sich langsam von ihr. Ein Transporter kam die unbefestigte Straße entlang und ließ eine Staubwolke hinter sich. Christian wollte nicht, dass die halbe Stadt zusah, wenn er Mariah küsste. „Ben vermisst dich", sagte er rau. Es fiel ihm sehr schwer, nicht gleich wieder seine Lippen auf ihre zu pressen. Mariah senkte den Blick und lächelte. „Das verstehe ich gar nicht. Als Kellnerin bin ich noch schlechter als als Sekretärin." „Das stimmt nicht." Er war sich durchaus der Ironie der Situation bewusst. Nun verteidigte er sie schon, während er sie noch vor wenigen Wochen am liebsten losgeworden wäre. „Es ist sowieso müßig, jetzt darüber zu reden." Ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen, und Christian war sich nicht sicher, ob es Traurigkeit, Bedauern oder Sorge war. „Bald wirst du wieder arbeiten können." Natürlich hoffte er, dass sie für Midnight Sons arbeiten würde. Im nächsten Moment fuhr wieder ein Transporter vorbei. Christian hatte gar nicht gewusst, dass auf dieser Straße so viel Verkehr war. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Wenn er noch länger wegbliebe, würde Sawyer ihm die Hölle heiß machen. Christian spielte mit dem Gedanken, Mariah zu sagen, dass er sie zurückhaben wollte, doch er wollte sie nicht unter Druck setzen. Außerdem wollte er nicht den Eindruck erwecken, dass er Privates und Berufliches nicht voneinander trennen konnte. Dazu kam, dass er sich bereits
eine Abfuhr geholt hatte. Das reichte ihm erst einmal. Er wollte es langsam angehen lassen und ihr das Gefühl vermitteln, dass sie sie vermissten, oder besser gesagt, dass er sie vermisste. „Ich muss jetzt los", erklärte er schließlich. „Ich weiß. Es war schön, dass du vorbeigeschaut hast." Spontan beugte er sich vor, um sie ein letztes Mal zu küssen. Es kostete ihn große Überwindung, es bei einem flüchtigen Abschiedskuss bewenden zu lassen. Als er kurz darauf das Büro betrat, warf Sawyer ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Wo warst du so lange?" fragte er, schien aber keine Antwort zu erwarten. Nachdem Christian von ihm die Gesprächsnotizen entgegengenommen hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, um die Anrufe zu erledigen. Er hatte schon die Hand auf dem Hörer, als Sawyer sich wieder an ihn wandte. „Ich will dich ja nicht nerven, aber wann können wir mit einer neuen Sekretärin rechnen?" „Bald." Kaum hatte Christian das Wort ausgesprochen, wurde ihm bewusst, dass er seinen Bruder damit scho n zu oft vertröstet hatte. „Das erzählst du mir, seit Mariah weg ist", entgegnete Sawyer ungeduldig. „Entweder stellst du ganz schnell eine Nachfolgerin für sie ein, oder ich nehme die Sache in die Hand." Dass er ihm ein Ultimatum stellte, passte Christian überhaupt nicht. „Jetzt hör mir mal zu, Sawyer. Ich lasse mich von dir nicht unter Druck setzen." „Ach ja? Mir scheint, dass du bisher noch gar nichts unternommen hast, um Ersatz für Mariah zu finden." Sawyer funkelte ihn wütend an. „Allmählich glaube ich, du willst gar keine neue Sekretärin einstellen." „Stimmt." Sawyer war sichtlich verblüfft. „Und warum nicht, wenn ich fragen darf?" „Weil ich Mariah dazu überreden werde, zu uns zurückzukehren." Sawyer seufzte resigniert. „Das habe ich bereits versucht." „Aber ich bin für alles verantwortlich, nicht du." „Da gebe ich dir recht." „Ich wollte es ihr vorhin sagen, aber ..." „Du bist also bei ihr gewesen." Sawyer musterte ihn neugierig. „Ja. Ich habe mich bei ihr entschuldigt, und sie hat meine Ent schuldigung angenommen." Christian machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Ben hat mich gefragt, ob ich zu dem Tanz am Tag der Arbeit komme. Ich werde wohl Mariah bitten, mit mir hinzugehen, damit sie wieder gut auf mich zu sprechen ist." Natürlich hatte er dabei auch Hintergedanken, denn er wollte verhindern, dass ein anderer ihr zu nahe kam. Wenn er mit ihr zu der Veranstaltung ging, gab er allen Männern zu verstehen, dass Mariah für sie tabu war. Sawyers Miene hellte sich sofort auf. „Gute Idee. Frauen mö gen es, wenn man mit ihnen ausgeht." „Das dachte ich auch." Christian war sehr mit sich zufrieden, denn alles lief genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Bald würde Mariah wieder bei ihnen arbeiten. Da er allerdings nicht übereifrig erscheinen wollte, wartete er bis zum nächsten Abend, bevor er sie wieder besuchte. Er wollte ihr ein kleines Geschenk mitbringen, doch das war leichter ge sagt als getan. Als er den Blick durchs Büro schweifen ließ, entdeckte er die neuste Ausgabe der Aviation News auf Sawyers Schreibtisch. Er klemmte sie sich unter den Arm, in der Annahme, die Lektüre würde Mariah an die guten Seiten ihrer Arbeit bei Midnight Sons erinnern und sie in die richtige Stimmung versetzen. Fröhlich vor sich hin summend, ging Christian die unbefestigte Straße entlang. Da es ziemlich kühl war, war er froh, ein Sweatshirt übergezogen zu haben. Wenn er Glück hatte, waren Karen und Matt nicht da. Er hatte zwar nicht vor, Mariah zu küssen, aber wenn es sie überkam ...
Als er in die Straße einbog, in der das Hotel lag, sah er, dass Bill Landgrins Transporter vor dem Gebäude parkte. Christian blieb abrupt stehen und ging dann schneller. Mariah saß wieder auf der Hollywoodschaukel, als hätte sie die ganze Zeit dort auf ihn gewartet. Sie sah genauso hübsch aus wie am Vortag, wirkte jedoch wesentlich fröhlicher. Bill lehnte mit gekreuzten Beinen lässig am Verandageländer, und es schien, als wollte er den ganzen Abend dort verbringen. Als Christian die Pforte öffnete und auf die Veranda zuging, schaute Mariah ihn an. Dem Ausdruck in ihren Augen nach zu urteilen, freute sie sich offenbar über seinen Besuch. Landgrin drehte sich um und funkelte ihn wütend an. „Was machst du denn hier?" fragte er. „Ich wollte Mariah besuchen." „Das tue ich auch", erwiderte der Pipelinearbeiter nicht besonders freundlich. „Du kannst wie alle anderen warten, bis du dran bist." „Der Kerl, der mich dazu bringen würde, zu gehen, müsste schon etwas kräftiger sein als du", erklärte Christian trügerisch ruhig. Es passte ihm nicht, wenn Bill Mariah auf den Leib rückte, und das sollte er ruhig merken. „Bill. Christian. Bitte." Doch keiner der beiden achtete auf sie. Obwohl Christian ein friedfertiger Mensch war, gab es nur wenige Männer, die ihn so auf die Palme brachten wie Bill. „Du hast deine Chance bei Mariah gehabt", behauptete Bill. Christian wusste zwar nicht, was Bill damit meinte, aber eines war sicher: Er wollte nicht, dass Bill um Mariah herumscharwenzelte. „Sie hat ein Jahr für dich gearbeitet", fügte Bill hinzu. „Was hat das damit zu tun?" Christian hatte nicht die geringste Lust, darüber zu diskutieren. „Du hättest jederzeit mit ihr ausgehen können, hast es aber nicht getan. Deshalb ist sie jetzt Freiwild für uns." Aus den Augenwinkeln sah Christian, wie Mariah aufstand. „Hört endlich auf damit. Ihr redet von mir, als wäre ich eine Jagdtrophäe. Freiwild!" Christian hatte sie noch nie so aufgebracht erlebt. „Bill wird sich bei dir entschuldigen." Er deutete auf seinen Rivalen. „Los, entschuldige dich bei ihr." „Was soll das heißen? " rief sie. „Und was ist mit dir?" Christian warf ihr einen flüchtigen Blick zu. „Ich? Was habe ich denn getan?" „Na, wieviel Zeit hat sie dir gegeben?" murmelte Bill und lachte schadenfroh. Christian wandte sich wieder ihm zu. „Okay, ich werde sagen, was ich zu sagen habe, und dann gehe ich." „Ich war zuerst hier", erinnerte ihn Bill. „Also gut." Christian hob beschwichtigend die Hände. Dann ging er zu Mariah und gab ihr die Zeitschrift. „Ich dachte, du würdest das hier vielleicht gern lesen." „Danke", erwiderte sie steif. „Und ..." Er räusperte sich verlegen. Es war wirklich nicht einfach, zumal Landgrin alles mitbekam. „Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, mit mir zu dem Tanz am Tag der Arbeit zu gehen." „Von wegen!" brüllte Landgrin. „Genau deswege n bin ich hier." Ein zufriedenes Lächeln umspielte Christians Lippen. „Ich habe sie zuerst gefragt." „Und ich war zuerst hier." „Bill. Christian." Wieder ignorierten sie Mariah. „Sie wird mit mir gehen." Christian warf ihr einen flüchtigen Blick zu. „O nein. Wenn jemand mit ihr dahingeht, dann ich." „Nur über meine Leiche." Christian war bereit, vor ihr zu Kreuze zu kriechen, nur damit
Bill von der Bildfläche verschwand. „Ich werde mit keinem von euch zu dem Tanz gehen", verkündete Mariah entschieden. „Duke Porter hat mich vor zwei Tagen gefragt, und ich habe bereits zugesagt." Dann drehte sie sich um und ging ins Haus.
7. KAPITEL
Ausgerechnet Duke Porter! Das gefiel Christian überhaupt nicht. Während er den Coolen mimte, damit Mariah nicht merkte, wie sehr er sich für sie interessierte, hatte Duke sie hinter seinem Rücken eingeladen. Das war wirklich der Gipfel! Schließlich kam Christian jedoch zu dem Ergebnis, dass er im Grunde gar nicht sauer auf Duke war. Das Ganze war eigentlich ziemlich komisch, denn Duke hatte es ihm - und Bill gezeigt. Mariah ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, und es beunruhigte ihn, dass er ihr gegenüber so besitzergreifend war. Auf Duke war er zumindest nicht eifersüchtig, denn der war gar nicht an ihr interessiert. Jedenfalls hatte Duke das in letzter Zeit ständig behauptet, und mittlerweile glaubte Christian ihm. Bei Bill sahen die Dinge allerdings ganz anders aus. Allein beim Gedanken daran, dass der Pipelinearbeiter es auf Mariah abgesehen hatte, wurde Christian ganz anders. Was ihn am meisten ärgerte, war, dass sie sein Gerede nicht durchschaute. Er hatte ihr eigentlich mehr Grips zugetraut. In den letzten Wochen hatte sich seine Beziehung zu ihr völlig verändert, und ihm war nicht ganz klar, worin dieser Unterschied bestand. Wenn ihn etwas beschäftigte, übernahm Christian normalerweise einen Auftrag, um sich irgendwie abzulenken. Daher beschloss er an diesem Morgen, an Dukes Stelle die Post nach Fairbanks zu bringen. In der Hoffnung, dass Duke damit einverstanden war, hinterließ er ihm eine Nachricht und brach früh auf. Obwohl es erst Ende August war, war es ziemlich kalt und neblig, und sobald die Maschine in der Luft war, bildeten sich Eiskristalle auf den Flügeln. Unterwegs musste Christian ständig an Mariah denken. Natürlich wollte er, dass sie wieder für Midnight Sons arbeitete, aber was ihm viel mehr zu schaffen machte, war die Tatsache, dass sich so viele Männer für sie interessierten. Er hatte zwar kein Auge auf sie geworfen, doch er wollte nicht, dass sie einen Fehler machte. Mariah war lieb und natürlich, ein bisschen naiv und viel zu gutgläubig. Manchmal fragte er sich, ob sie noch alle Tassen im Schrank hatte, und manchmal wunderte er sich darüber, wie klug und einfühlsam sie war. Nachdem er die Postsäcke in Fairbanks abgeladen und die neuen verladen hatte, flog er direkt nach Hard Luck zurück. Eine Stunde später setzte er auf der unbefestigten Start- und Landebahn auf. Als er kurz darauf das Büro betrat, wartete Duke dort auf ihn und funkelte ihn wütend an. „Du hast mich wieder nicht fliegen lassen, weil ich mit Mariah zu dem Tanz gehe, stimmt's?" Christian war völlig verblüfft. Bevor er jedoch auf Dukes Wutausbruch reagierte, zog er erst seine schwarze Jacke aus, deren Rücken das Logo von Midnight Sons zierte. „Nein, natürlich nicht. Hast du meine Nachricht denn nicht gelesen?" „Das erklärt überhaupt nichts. Du hast einfach meinen Flug übernommen. Du bist wütend, weil Mariah mit mir zu dem Tanz geht." „Wo ist Sawyer?" Christian wollte Dukes Vorwürfe nicht unter den Tisch kehren, doch er musste wissen, wo sein Bruder steckte. Wenn das Büro unterbesetzt war, konnte er nicht ein fach im Cafe herumhängen. „Er ist vor ein paar Minuten weggegangen und kommt gleich wieder. Und jetzt beantworte gefälligst meine Frage." Christian atmete einmal tief durch. „Du kannst es nicht, und wir wissen beide, warum", entgegnete Duke mühsam beherrscht. „Ich arbeite schon länger hier, als gut für mich ist, und bisher habe ich dich und Sawyer immer für fair gehalten - bisher wohlgemerkt." Er ging zu Christians Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier herunter. „Hiermit kündige ich fristlos."
„Du kündigst?" „Ja." Duke musterte ihn kalt. Dann nahm er seine Lederjacke und verließ hocherhobenen Hauptes das Büro. Kaum war er weg, kam Sawyer herein. „Was ist mit Duke los? Er war fuchsteufelswild." Christian ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken. „Er hat gerade gekündigt." „Was?" tobte Sawyer. „Er hat gekündigt? Warum? Duke war fast von Anfang an bei uns." „Ich weiß." Christian stützte resigniert die Ellbogen auf den Tisch. In letzter Zeit richtete er nichts als Unheil an. Seinetwegen hatte die Firma Mariah verloren, und nun war er auch noch allein dafür verantwortlich, dass Duke gekündigt hatte. Sawyer kam zu ihm, um das Kündigungsschreiben zu lesen. Es war kurz und bündig. Christian konnte sich lebhaft vorstellen, wie Duke den Brief mit einem Finger in den Computer ge tippt und dabei leise vor sich hin geflucht hatte. „Was ist passiert?" Christian hielt es für besser, eine knappe Erklärung abzuge ben, als erst weit auszuholen. „Er ist sauer auf mich, weil ich heute morgen die Post weggebracht habe." Müde fuhr er sich übers Gesicht. „Ich habe es nicht getan, um ihn zu bestrafen, aber das glaubt er mir nicht." „Bestrafen?" wiederholte Sawyer verwirrt. „Duke hat Mariah zum Tanz eingeladen und denkt, dass ich ihn deswegen ..." „Was, zum Teufel, hat das damit zu tun?" „Gar nichts." Christian war ebenfalls drauf und dran, die Geduld zu verlieren. „Was interessiert es mich, wenn Duke mit Mariah am Tag der Arbeit tanzen geht? Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, und deshalb habe ich den Postflug übernommen. Woher sollte ich wissen, dass Duke es so persönlich nimmt?" „Ich glaube es einfach nicht!" Sawyer ging wütend auf und ab. „Vor über einem Jahr haben wir Frauen nach Hard Luck ge holt, und bisher ist alles ziemlich glatt gelaufen. Einige sind gleich wieder abgereist, andere sind hiergeblieben. Hard Luck erlebt einen richtigen Aufschwung. Überall wird gebaut, das Hotel ist wieder eröffnet, und John und Sally sind in ihren Wohnwagen gezogen. Für all das ist Midnight Sons verantwortlich, und jetzt geht die Firma den Bach runter - genau zu dem Zeitpunkt, da es uns eigentlich besser denn je gehen müsste. Kannst du mir freundlicherweise erklären, warum?" „Du übertreibst, Sawyer." „Wohl kaum." Sawyer steigerte sich richtig in seine Wut hinein. „In den letzten beiden Wochen sind mehr Beschwerden bei uns eingegangen als in den letzten beiden Jahren." Das lag daran, dass Mariah nicht mehr bei ihnen arbeitete. „Zu allem Überfluss hat Duke auch noch gekündigt, und er ist nicht der einzige, der unzufrieden ist. Es würde mich nicht überraschen, wenn Ralph auch demnächst kündigt. Vielleicht verlieren wir Ted auch." Da die Piloten seit Jahren befreundet waren, nahm Christian an, dass Duke recht hatte. „Ich werde mit ihm reden", versprach er. „Duke ist sauer auf mich. Das hat nichts mit der Firma zu tun. Ich gebe ihm ein paar Stunden, damit er sich beruhigt, und dann gehe ich zu ihm." Sawyer schien kaum versöhnliche r gestimmt. „Du kümmerst dich also darum?" „Ich werde mein Bestes tun." Er musste raus aus dem Büro und seinem Ärger Luft machen. Deshalb ging Sawyer zur Bücherei. Sie war in dem Holzhaus untergebracht, das einmal seinem Großvater gehört hatte. Abbey saß gerade hinter dem Schreibtisch und war damit beschäftigt, ihre Kartei auf den neusten Stand zu bringen. Als er hereinkam, schaute sie auf und lächelte ihn an. „O je", meinte sie. „Sieht aus, als wäre heute nicht dein Tag." „Duke hat gekündigt." Fast hätte er über den schockierten Ausdruck in ihren Augen gelacht. „Duke? Warum?
Was ist passiert?" „Es ist wegen Christian." Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätte Sawyer sich über Christians Zustand amüsiert. Er hatte die Symptome erkannt, denn er hatte sie im letzten Jahr gehabt. Christian war dabei, sich zu verlieben. „Und was hat er diesmal angestellt?" fragte Abbey entnervt. Anscheinend verlor auch sie allmählich die Geduld, was ihren Schwager betraf. „Er hat Duke nicht fliegen lassen und die Post selbst nach Fairbanks gebracht. Christian behauptet, er habe Zeit zum Nachdenken gebraucht. Duke dagegen betrachtet es als eine Art Strafe, weil er Mariah gebeten hat, mit ihm zum Tanz zu ge hen." „Und war es das?" Sawyer setzte sich auf einen Stuhl an dem Lesetisch, einer Neuanschaffung der Bibliothek. „Keine Ahnung. Ich glaube nicht. Christian ist vielleicht nicht besonders feinfühlig, aber er würde die Piloten niemals absichtlich vor den Kopf stoßen oder bewusst der Firma schaden." „Du weißt, was mit ihm los ist, stimmt's?" „Ich habe einen Verdacht." Abbey lächelte, und er betrachtete sie wie gebannt. Sie wurde von Tag zu Tag schöner besonders jetzt, da sie ein Kind von ihm erwartete. „Christian ist verliebt." Sawyer lachte leise. „War ich denn so schlecht?" „Allerdings." „Ach, komm schon. Weißt du, was das eigentliche Problem ist? Christian ist der jüngste von uns dreien, und ..." „Genau", fiel sie ihm ins Wort, „und Charles und du seid seine Vorbilder." Sie schüttelte den Kopf. „Der arme Junge hat keinen Ahnung, wie er sich einer Frau gegenüber verhalten soll." „Was stimmt denn mit Charles und mir nicht?" erkundigte sich Sawyer. „Soll ich das etwa erklären?" Abbey verdrehte die Augen. „Charles hat es in Kauf genommen, dass Lanni für immer aus seinem Leben verschwindet - nur wegen einer alten Familienfehde. Und was dich betrifft ... Dein Heiratsantrag war eine einzige Beleidigung." „Ich war verzweifelt", verteidigte er sich. „Genau das meine ich ja. Bei den Vorbildern ist es doch kein Wunder, dass Christian sich über seine Gefühle nicht klarwerden kann." „Ich habe vielleicht keine schönen Worte gemacht, wie es in diesen Büchern üblich ist ..." Er zeigte auf die Regale mit den Liebesromanen. „... aber ich habe meine Botschaft rübergebracht, oder?" Lächelnd tätschelte sie ihren runden Bauch. „Allerdings." Obwohl Sawyer schon vor einem Jahr gewusst hatte, dass er Abbey und die Kinder liebte, waren seine Gefühle für sie jetzt viel stärker. Im nachhinein fand er, dass sein Leben ohne sie ziemlich leer gewesen war. Erst ihre Liebe hatte seinem Leben einen Sinn gegeben, einen Grund, morgens aufzustehen, und er bemühte sich, Abbey ein guter Ehemann und den Kindern ein guter Vater zu sein - der beste von allen. „Vielleicht sollten wir Christian helfen", schlug Abbey vor. „Es darf natürlich nicht so offensichtlich sein." „Christian will bestimmt nicht, dass wir uns in seine Angelegenheiten einmischen." Nun wirkte sie enttäuscht. „Bist du sicher?" „Es würde nichts bringen, Schatz", erklärte Sawyer. „Er muss schon allein damit klarkommen, genau wie Charles." „Und du!" „Und ich", bestätigte er lächelnd. Abbey biss sich auf die Lippe. „Bei Charles hat es Wochen ge dauert. Erinnerst du dich
noch daran?" Das würde er so schnell nicht vergessen. Sein Bruder war wie ein verwundeter Bär herumgerannt und ziemlich aggressiv gewesen. „Ich frage mich nur ..." meinte Sawyer nachdenklich. „Was?" Er schüttelte den Kopf. „Ob die Firma es überlebt, wenn Christian sich verliebt." Als Christian die Schlafbaracke betrat, saß Duke niedergeschlagen auf seinem Bett. Er schaute auf, doch als er sah, wer hereingekommen war, wandte er den Blick ab. „Hast du einen Moment Zeit?" fragte Christian. Duke sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. „Ich glaube schon." Dann stand er auf, ging zu seinem Spind und begann, seine Sachen in einen Matchbeutel zu stopfen. „Ich würde gern mit dir über deine Kündigung reden." „Mir war klar, dass du nicht übers Wetter plaudern willst." Duke hatte ihm den Rücken zugewandt, und Christian fiel es verdammt schwer, die richtigen Worte zu finden. Er war ja bereit, sich bei ihm zu entschuldigen, aber wofür? „Ich hätte dir sagen müssen, warum ich deinen Flug heute morgen übernommen habe", meinte er schließlich. „Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, und das kann ich am besten, wenn ich fliege." Selbst für ihn klang das nach einer fadenscheinigen Ausrede, doch er hätte schwören können, dass er Duke nicht hatte bestrafen wollen, weil dieser sich mit Mariah verabredet hatte. Plötzlich drehte Duke sich um. „Sehe ich etwa wie eine Sekretärin aus?" „Nein", erwiderte Christian verblüfft. „Warum fragst du?" „Was glaubst du, was ich heute morgen gemacht habe? Ich habe zweieinhalb Stunden lang Anrufe entgegengenommen, Ak ten herausgesucht und Botengänge gemacht." „Das hättest du nic ht zu tun brauchen." „Sawyer hätte es allein aber nicht geschafft, weil er so viel um die Ohren hatte. Hätte ich das Klingeln des Telefons denn einfach ignorieren sollen? Ich bin ins Büro gekommen, um mich zu beschweren, weil du meinen Flug übernommen hattest, und im nächsten Moment hatte ich irgend so eine Ziege aus Anchorage an der Strippe. Sie hat behauptet, dass sie in einem Reisebüro arbeite und all diese Flüge bei uns gebucht habe. Allerdings konnte ich in den Unterlagen nichts darüber finden." „War ihr Name zufällig Penny Ferguson?" „Genau." Duke betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Christian stöhnte und fuhr sich über die Stirn. Wenn er Penny am Telefon gehabt hätte, wäre er auch verzweifelt, denn sie war ziemlich anspruchsvoll und schwierig. „Tut mir leid", sagte er. „Ich hatte nie vor, dich mit Mrs. Ferguson verhandeln zu lassen." „Heißt das, sie ist verheiratet?" Duke schüttelte den Kopf. „Mein Beileid an Mr. Ferguson. Die Frau hat mich an diese Freundin von Mariah erinnert." Da Duke Mariahs Namen erwähnt hatte, räusperte sich Christian. Jetzt oder nie, dachte er. „Da wir gerade von Mariah sprechen ..." „Was ist eigentlich mit euch beiden?" fragte Duke neugierig. „Nichts", erwiderte Christian schnell - vermutlich zu schnell. Duke runzelte die Stirn und zuckte dann die Schultern. „Was soll ich dazu noch sagen?" Er drehte sich wieder um, um ein Hemd in seinen Matchbeutel zu stopfen. „Was deine Kündigung betrifft", begann Christian vorsichtig, „so hoffe ich, dass du es dir noch einmal überlegst. Du bist unentbehrlich für uns und wahrscheinlich einer der besten Piloten in ganz Alaska." Es konnte nicht schaden, wenn er ihm etwas Honig um den Bart schmierte, obwohl es auch der Wahrheit entsprach. Duke antwortete nicht. „Ich habe einen Blick in die Akten geworfen und festgestellt, dass dir mal wieder eine Gehaltserhöhung zusteht."
Duke wandte sich zu ihm um. „Und was bietest du?" Christian dachte daran, dass die Firma in den letzten zwölf Monaten wesentlich mehr Umsatz gemacht hatte. „Zwanzig Prozent mehr Grundgehalt." „Verdammt! Mariah meinte, du würdest dich auf höchstens zehn Prozent einlassen." Kaum hatte Duke die Worte ausge sprochen, wurde er rot. Christian zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Du hast mit Mariah darüber gesprochen?" „Ja, und sie hat versucht, mich zum Bleiben zu überreden. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich mich in die nächste Maschine nach Fairbanks gesetzt." Duke tat seinen Matchbeutel in den Spind und schlug die Tür zu. „Ich war ziemlich wütend, als ich heute morgen aus dem Büro gestürmt bin. Danach habe ich im Hotel vorbeigeschaut und mich ziemlich lange mit Mariah unterhalten." Christian hätte diese Unterhaltung zu gern belauscht. „Sie ist dir gegenüber sehr loyal", fuhr Duke fort, „aber ich bin nicht sicher, ob du es verdient hast." Das hatte Christian auch nicht. Aus mehreren riesigen Lautsprechern, die strategisch günstig auf dem polierten Holzfußboden aufgestellt waren, erklang laute Musik. Es war der Tag der Arbeit, der erste Montag im September, und die Schulturnhalle war so voll wie schon lange nicht mehr. Zu dem Büfett, das auf den Tischen an der Seite aufgebaut war, hatte jeder etwas beigesteuert. So gab es verschiedene Salate, zahlreiche Schmorbraten und die köstlichsten Desserts. Um neun war noch so vie l da, dass jeder sich einen Nachschlag holen konnte. Mariah hatte vier Apfelkuchen gebacken, allerdings mit Karens Hilfe. Ihre Hände waren noch immer bandagiert, doch Dotty hatte ihr gesagt, dass die Verbände bald entfernt werden konnten. Duke war den ganzen Abend nicht von Mariahs Seite gewichen und sehr aufmerksam gewesen, und nach dem Essen hatten sie ein paarmal miteinander getanzt. Die Kinder liefen aufgekratzt durch die Turnhalle, und einige hatten sogar Schuhe und Strümpfe ausgezogen, um besser schlittern zu können. Da Mariah Christian bisher noch nicht gesehen hatte, fragte sie sich, ob er sich überhaupt auf dem Tanz blicken lassen würde. Naiverweise hatte sie sich danach gesehnt, ihn zu sehen, und davon geträumt, dass er sie in den Armen hielt, mit ihr tanzte und sie küsste ... Schließlich sagte sie sich, dass ihre Phantasie mit ihr durchging. Mariah konnte es einfach nicht lassen, ständig an ihren ehe maligen Chef zu denken und sich auszumalen, was er wohl tun würde. Seine Küsse waren phantastisch gewesen, aber ihm hatten sie offenbar nichts bedeutet. Abgesehen vom letzten Mal, hatte er danach nämlich immer ziemlich zerknirscht gewirkt, als wäre er wütend auf sich selbst. Da sie neue Schuhe trug und ihre Füße etwas weh taten, ließ sie den nächsten Tanz aus, während Duke mit Angie Hughes tanzte. „Hallo, Mariah." „Christian ... Hallo." Mariah hatte Christian gar nicht kommen hören. Sie freute sich so darüber, ihn zu sehen, dass ihr Herz schneller klopfte. „Amüsierst du dich gut?" Er setzte sich auf den Stuhl neben ihr. „Bestens." Ihr Puls raste förmlich. Christian schwieg einen Moment. „Ich glaube, ich bin dir zu Dank verpflichtet", sagte er dann. Mariah schaute ihn erstaunt an. Wenn er in ihrer Nähe war, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, zumal der Duft seines After-shaves ihr zu Kopf stieg. Ihrer Meinung nach war es unfair, dass Christian eine solche Wirkung auf sie ausübte, ihre Gefühle jedoch nicht erwiderte. „Duke hat mir erzählt, dass du ihn zum Bleiben überredet hast", fügte er hinzu. Betont lässig zuckte sie die Schultern. „Ich weiß das zu schätzen." Verlegen fuhr er sich durchs Haar. „Ich weiß nicht, woran es
liegt, aber in letzter Zeit habe ich mir anscheinend viele Feinde gemacht." „Das stimmt nicht", protestierte sie. „Duke war nicht auf dich wütend, sondern auf Mrs. Ferguson." Er lächelte, weil sie ihn wie so oft verteidigte. „Hast du schon gegessen?" Unwillkürlich musste Mariah daran denken, dass sie sich schon wie ihre Mutter verhielt, die Essen als Allheilmittel für Probleme jeglicher Art betrachtete. „Dottys gegrillter Lachs ist einfach köstlich." Kaum hatte Mariah die Worte ausgesprochen, bereute sie es, denn Frauen wie Allison Reynolds schwärmten bestimmt nicht von den Speisen auf dem Büfett. „Ja, vorhin", sagte Christian. Mariah hatte das Gefühl, dass alle Gäste sie neugierig und erwartungsvoll beobachteten, und fühlte sich ausgesprochen unwohl. „Möchtest du tanzen?" Sie war so überrascht, als hätte Christian ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ihr Traum war wahr geworden! „Ja, sehr gern." Dass ihre Füße weh taten, hatte sie plötzlich vergessen. In diesem Moment wäre sie sogar über Scherben gegangen, nur um in Christians Armen liegen zu können. Christian stand auf, zögerte dann jedoch. Er hatte seine Meinung geändert. Sie kannte diesen Ausdruck in seinen Augen. „Meinst du, dass Duke etwas dagegen hat?" Er schaute sich in der Turnhalle um. „Ganz bestimmt nicht. Er tanzt nämlich gerade mit Angie Hughes." Gerade hatte eine Ballade eingesetzt, ein melancholischer Song über unglücklich Liebende. Christian umfasste Mariahs Taille, zog sie aber nicht zu eng an sich. „Was machen deine Hände?" erkundigte er sich besorgt. „Es sieht schon viel besser aus. Dotty meinte, die Verbände können bald abgemacht werden." Mariah barg den Kopf an seiner Brust. Ihr schien es ganz na türlich, so in seinen Armen zu liegen. „Fühlst du dich wohl im Hotel?" Er stellte ja eine Menge Fragen. Ihr wäre es lieber gewesen, die Augen zu schließen und sich ganz der Musik hinzugeben -und dem Traum. „Karen und Matt sind sehr nett zu mir. Ich ... ich weiß nicht, was ich ohne ihre Hilfe getan hätte. Alle sind so gut zu mir." Fast alle Einwohner von Hard Luck hatten bei ihr vorbeige schaut und ihr alles Gute gewünscht. Sie hatte zwar noch keine Pläne für den Wiederaufbau ihres Blockhauses geschmiedet, aber die Unterstützung ihrer Freunde und der Gemeinde hatte ihr gut getan. „Wenn du irgend etwas brauchst..." „Ich brauche nichts", erklärte Mariah schnell. Da er den Wink offenbar nicht verstanden hatte, summte sie nun leise mit. „Ein schöner Song, nicht?" fragte Christian als nächstes. Sie stöhnte entnervt. „Halt endlich den Mund, Christian." Unwillkürlich verspannte er sich, doch dann lachte er leise. So frech war sie wohl noch nie zu ihm gewesen, aber es war ihr egal. Das hier war ihr Traum, und sie wollte nicht, dass Christian ihn zerstörte. Wenn er unbedingt Smalltalk machen wollte, sollte er ihr wenigstens sagen, wie bezaubernd sie aussah. Nicht wegen Duke hatte sie sich so schick gemacht und ihr neues, sündhaft teures Parfüm benutzt. Sie hätte sich denken können, dass Christian sich ganz anders verhalten würde, als sie es sich ausgemalt hatte. Resigniert schüttelte sie den Kopf und lächelte in sich hinein. „Worüber amüsierst du dich so?" erkundigte er sich. „Du solltest doch nicht reden."
Er bog ein wenig den Kopf zurück, um ihr in die Augen schauen zu können. „Das hier ist mein Traum", erklärte Mariah, ohne nachzudenken. „Dein Traum?" „Ist schon gut." „Nein, sag es mir." Mit seinem ewigen Gerede verdarb er alles. „Sei still, und halt mich fest", bat sie. Sie spürte, wie er unmerklich seinen Griff verstärkte. „Soll ich dich auch küssen?" „Ja", flüsterte sie, „aber nicht hier." „Gehört das auch zu deinem Traum?" „Ja." „Hast du einen bestimmten Ort im Sinn?" fragte er. „Zum Küssen, meine ich." Mariah kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, denn im nächsten Moment gesellten sich Lanni und Charles zu ihnen. „Wo hast du denn ganzen Abend gesteckt, Christian?" erkundigte sich Charles. „Ich war hier." Christian versuchte, Mariah mit sich zu ziehen, aber die Tanzfläche war so voll, dass es nicht ging. „Die Farbe steht dir sehr gut, Mariah", bemerkte Lanni. „Danke." Mariah warf Christian einen verzweifelten Blick zu. „Hör mal..." „Wir wollen nicht unhöflich sein", fiel Christia n seinem Bruder ins Wort, „aber ihr habt uns in einem Traum gestört." „In einem Traum?" wiederholte Charles verblüfft. Offenbar hielt er es für einen Scherz. „Genau." Mariah wusste nicht, was in sie gefahren war, doch die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. „Christian wollte mich gerade küssen, und das geht nicht, wenn wir andauernd gestört werden." Nun musste Charles lachen. Als Lanni ihn anfunkelte, wurde er sofort wieder ernst. „Tut mir leid." „Ist es besser so?" flüsterte Christian Mariah zu und lächelte sie an. Nachdem Lanni und Charles sich taktvoll zurückgezogen hatten, war Mariah plötzlich ernüchtert. „Ich fasse es einfach nicht, was ich eben gesagt habe - über den Traum." Christian blinzelte ihr zu. „Und ich fasse es nicht, was ich ge tan habe." Dann neigte er langsam den Kopf, um sie zu küssen. Sobald seine Lippen ihre berührten, schmolz sie förmlich dahin. Schließlich löste er sich widerstrebend von ihr. Ihr war klar, dass er weitergemacht hätte, wenn sie woanders gewesen wären. Als Mariah die Augen wieder öffnete, stellte sie fest, dass er sie verblüfft betrachtete. In diesem Moment hörte die Musik auf. Christian ließ die Arme sinken und trat einen Schritt zurück. „Danke für den Tanz", sagte er, als er Mariah zurück zu ihrem Stuhl begleitete. Nun kam Duke auf sie zu. „Du versuchst also, mir meine Frau auszuspannen", scherzte er. Christian schien ziemlich unbehaglich zumute zu sein. „Hast du etwas dagegen, wenn ich mich einen Augenblick mit Mariah unterhalte?" „Bist du sicher, dass du dich nur mit ihr unterhalten willst?" meinte Duke, bevor er sie wieder allein ließ. Christian seufzte resigniert. „Ja." „Vielleicht fragt mich mal jemand, was ich dazu zu sagen habe", warf Mariah leise ein. Sie setzte sich hin, um die Schuhe auszuziehen. Da ihre Füße leicht geschwollen waren, dauerte es eine Weile. Christian ließ sie solange allein und kam nach wenigen Minuten mit zwei Gläsern Bowle zurück. Nachdem er neben ihr Platz genommen hatte, räusperte er sich. „Ich habe mich vorhin bei dir bedankt, weil es ein schwerer Verlust für Midnight Sons ge wesen wäre, wenn wir
Duke verloren hätten." Er leerte sein Glas in einem Zug und fixierte einen Punkt auf der anderen Seite der Turnhalle. „Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte." Christian warf ihr einen flüchtigen Blick zu. „Wärst du bereit, uns noch einmal zu helfen?" „Wie?" „Ich habe Duke eine Gehaltserhöhung von zwanzig Prozent angeboten, wenn er bei uns bleibt. Dir würde ich dasselbe Ange bot machen, wenn du dich bereit erklärst, wieder für uns zu arbeiten." Dass er versuchte, sie auf diese Weise zu bestechen, verletzte sie. „Hast du mich deswegen geküsst?" entgegnete sie mühsam beherrscht. „Nein." Jetzt schaute er ihr in die Augen. „Der Kuss hatte damit nichts zu tun, das schwöre ich dir. Tut mir leid, Mariah, ich habe es vermasselt. Du musst mich für einen Volltrottel halten. Vergiss einfach, was ich eben gesagt habe." Er stand auf und wollte weggehen, doch Mariah hielt ihn zurück. „Christian." Als er sich zu ihr umdrehte, lag in seinen Augen ein so hoffnungsvoller Ausdruck, dass sie beinah gelacht hätte. „Ich habe noch keine langfristigen Pläne gemacht. Nach dem Brand ist meine Zukunft ziemlich ungewiss." Sie atmete einmal tief durch, bevor sie fortfuhr: „Ich werde wieder bei Midnight Sons arbeiten, aber unter zwei Bedingungen." „Und die wären?" „Erstens muss Ben sich damit einverstanden erklären, weil ich offiziell noch bei ihm angestellt bin." „Kein Problem", versicherte Christian. „Ben ist ein guter Freund von uns, und er weiß, dass Sawyer und ich ohne dich aufgeschmissen sind." Mariah lächelte, denn ihr war klar, dass Ben sie sofort gehen lassen würde. Er hatte sich zwar über ihre Hilfe gefreut, doch sie war alles andere als eine gute Kellnerin. „Zweitens"; fügte sie hinzu, „bin ich nur dann bereit, für euch zu arbeiten ..." „Phantastisch!" „Lass mich bitte ausreden. Ich werde für euch arbeiten, aber nur so lange, bis du eine Nachfolgerin für mich gefunden hast."
8. KAPITEL
Als Christian am Dienstag morgen das Büro von Midnight Sons betrat, duftete es dort nach frischgebrühtem Kaffee. „Guten Morgen, Christian", begrüßte Mariah ihn fröhlich. Beinah hätte Christian erleichtert aufgeseufzt. Endlich würde sein Leben wieder in geregelten Bahnen verlaufen. Mariah war wieder da! Am liebsten hätte er sie geküsst natürlich nur, um ihr zu zeigen, wie dankbar er ihr war. „Möchtest du Kaffee?" Ohne seine Antwort abzuwarten, schenkte sie ihm eine Tasse ein. „Ja, bitte." Er stellte fest, dass ihre Hände jetzt mit einer leichten Mullbinde umwickelt waren, die ihre Finger freiließ. Als er sich an seinen Schreibtisch setzte, widerstand er der Versuchung, die Füße hochzulegen und sich entspannt zurückzulehnen. Womöglich würde Mariah es falsch verstehen, und er wollte sie auf keinen Fall in Rage bringen. „Hier." Sie stellte ihm den Becher auf den Schreibtisch. Christian lächelte sie anerkennend an. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, verzog er jedoch das Gesicht. Sie hatte tatsächlich Milch und Zucker in den Kaffee getan! Doch selbst wenn sie Meerrettich hineingetan hätte, hätte er sich nicht beklagt. In zehn oder zwanzig Jahren würde sie vielleicht begreifen, dass er seinen Kaffee am liebsten schwarz trank. Mariah war wieder da, und das war im Moment das einzig Wichtige. Der Vormittag verging wie im Flug, und erst als Christian irgendwann auf die Uhr schaute, merkte er, wie spät es war. „Ich gehe zum Essen ins Cafe", sagte er zu Sawyer. „Okay", meinte Sawyer geistesabwesend. „Vergiss nicht, dass ich heute meinen freien Nachmittag habe. Ich fliege nachher mit Abbey nach Fairbanks. Sie muss zur Ultraschalluntersuchung." „Das habe ich nicht vergessen." Christian lächelte in sich hinein. Sein Bruder war wirklich ein sehr fürsorglicher Vater. Ben stand gerade in der Küche und briet Frikadellen für Hamburger, als Christian das Cafe betrat. „Mach bitte noch einen Hamburger für mich", rief er, als er sich an den Tresen setzte. „Möchtest du Pommes dazu?" rief Ben zurück. Christian schüttelte den Kopf. „Hast du frischen Kartoffelsalat?" „Heute nicht. Wie wär's mit Makkaroni?" „Auch gut." Heute war Christian alles recht. Kurz darauf kam Charles herein und nahm neben ihm Platz. „Bist du allein hier?" Christian blickte demonstrativ zu dem leeren Barhocker auf der anderen Seite. „Sieht ganz so aus. Warum fragst du?" Charles zuckte die Schultern, bevor er eine Speisekarte vom Tresen nahm. „Ich dachte, du würdest mit Mariah essen", meinte er geistesabwesend, während er die Auswahl studierte, die er vermutlich in- und auswendig kannte. „Wie kommst du denn darauf?" „Na ja, schließlich hast du sie mitten in der Turnhalle geküsst. Ich dachte, ihr beide wärt jetzt unzertrennlich." Ben ging an ihnen vorbei zu einem Paar mittleren Alters, das an einem Tisch weiter hinten saß. „Ich komme gleich, Charles." „In Ordnung." „Mariah und ich sind nicht unzertrennlich", erklärte Christian ruhig. Der Kuss hatte nichts zu bedeuten. Er war drauf und dran, seinem Bruder zu sagen, dass er nur auf Mariahs Spielchen einge gangen war. Doch er verzichtete darauf, weil er das Thema nicht vertiefen wollte.
Charles zog die Augenbrauen hoch. „Wenn du meinst." Christian konnte beim besten Willen nicht verstehen, dass sein eigener Bruder, auf dessen Meinung er großen Wert legte, nicht in der Lage war, zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Zum Glück brachte Ben ihm im nächsten Moment den Hamburger und die Makkaroni. Nachdem er Charles' Bestellung ent gegengenommen hatte, verschwand er wieder in der Küche. „Ich habe heute morgen mit Mom telefoniert", erzählte Charles. Normalerweise hörten sie nicht so oft von ihrer Mutter. Christian bemühte sich zwar, regelmäßigen Kontakt zu ihr zu halten, und hatte sie einige Wochen zuvor auch besucht, aber Ellen lebte jetzt ihr eigenes Leben. Da sie gern reiste, war sie oft mit ihrem zweiten Mann unterwegs. Bücher spielten nach wie vor eine sehr wichtige Rolle in ihrem Leben, zumal Frank mehrere Buchhand lungen besaß. „Sie hat etwas Merkwürdiges gesagt", fuhr Charles nachdenk lich fort. „Erst hat sie mir erzählt, wie sehr sie sich über Scotts und Susans Besuch gefreut habe. Dann hat sie aus heiterem Himmel erklärt, dass wir drei ihre Verbindung zum Leben seien." Christian runzelte die Stirn. „Ihre Verbindung zum Leben?" „Ja. Sie meinte, nun, da Sawyer und ich verheiratet seien und Abbey ein Kind erwarte, sei sie uns gegenüber unbefangener und rufe uns öfter an. Anscheinend hatte sie vorher Angst davor, sich zu sehr in unser Leben einzumischen." „Dazu hatte sie keinen Grund." „Das habe ich ihr auch gesagt, aber sie meinte, dass sie sich in den letzten Jahren bemüht habe, uns unsere eigenen Wege gehen zu lassen. Offen gestanden verstehe ich das nicht. Ich dachte, sie hätte sich bewusst dazu entschieden, auf Distanz zu bleiben. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich hatte immer den Eindruck, dass wir sie zu sehr an ihre unglückliche Zeit in Hard Luck erinnern." „Sie hatte auch glückliche Zeiten hier." „Vielleicht", räumte Charles ein. „Allerdings dachte ich immer, sie wäre froh über die räumliche Trennung, weil sie mittlerweile ihr eigenes Leben lebt." „Ja und nein." Da Christian ihr am nächsten stand, konnte er sich am besten in seine Mutter hineinversetzen. Charles lächelte. „Als ich ihr gesagt habe, wie ich es sehe, hat sie mir einen richtigen Vortrag gehalten. Sie hat betont, dass wir, ihre Söhne, ihre Vergangenheit seien, die Gegenwart mit ihr teilen und ihre Zukunft bestimmten." „Scheint so, als wärt ihr zwei miteinander ins reine gekommen." „Stimmt, obwohl mir gar nicht klar war, dass wir irgendwelche Probleme hatten." „Das hattet ihr auch nicht", versicherte Christian. „Ihr musstet nur ... gewisse Dinge klären." Charles schwieg eine Weile. „Sie hat ihn geliebt", erklärte er schließlich. „Wen? Dad?" Charles nickte. „Eine Zeitlang war ich mir nicht so sicher, aber mittlerweile ist mir klar, wieviel er ihr bedeutet hat. Es war keine perfekte Ehe, doch sie haben sich auf ihre Art geliebt." „Keine Ehe ist perfekt", murmelte Christian, bevor er in seinen Hamburger biss. Er überließ diesen ganzen Romantikkram lieber seinen Brüdern, denn er war erst einunddreißig und hatte nicht die Absicht, in absehbarer Zeit eine Familie zu gründen. „Dazu kann ich nichts sagen." Charles strahlte übers ganze Gesicht. „Allerdings bin ich in meiner Ehe verdammt glücklich." „Ihr seid ja auch noch nicht lange verheiratet." „Mir kommt es so vor, als wären wir schon immer zusammengewesen. Ich bin so glücklich wie lange nicht mehr, Chris."
Obwohl Christian sich für seinen Bruder freute, rief er sich ins Gedächtnis, dass die Ehe nicht sein Ding war. Im nächsten Moment brachte Ben das Putensandwich, das Charles bestellt hatte. „Bitte sehr. Jetzt kann ich erst mal eine Verschnaufpause einlegen." Er nahm sich einen Barhocker und setzte sich gegenüber von ihnen an den Tresen. „Ich habe mehr zu tun als ein einhändiger Pianist." „Vermisst du Mariah?" fragte Christian, der fast ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber hatte. „Natürlich vermisse ich sie. Was glaubst du denn? Sie hat zwar andauernd die Bestellungen durcheinandergebracht und ab und zu etwas fallen lassen, aber sie hat mir sehr geholfen. Und meine Gäste waren begeistert von ihr, ganz zu schweigen von ihrem Apfelkuchen. Sobald ich dazu komme, werde ich wieder eine Aushilfe einstellen." „Gut", meinte Charles, bevor er von seinem Sandwich abbiss. „Das hättest du schon längst tun sollen." Sobald Christian seinen Hamburger und die Makkaroni gegessen hatte, nahm Ben den Teller weg und stellte ihn auf den Stapel mit dem benutzten Geschirr hinter dem Tresen. „Übrigens habt ihr ganz schön die Gerüchteküche angeheizt. Die Gäste haben den ganzen Morgen von dir und Mariah geredet." Er lachte leise. „Stimmt es, dass du sie vor den Augen der halben Stadt geküsst hast?" Christian ging nicht auf seine Frage ein. „Was haben die Leute gesagt?" „Na ja, sie sind offenbar der Meinung, dass ihr so gut wie verheiratet seid." Charles schien sich köstlich zu amüsieren. „Das hast du nun davon, Bruderherz. Wenn du nicht willst, dass die Leute über euch tratschen, solltest du nicht mehr mit Mariah tanzen - vor allem, wenn du eine Rolle in ihren Träumen spielst." „Das ist Unsinn", sagte Christian zu Ben. „Mariah und ich sind ... gute Freunde, mehr nicht." „Sawyer und ich sind Brüder und gute Freunde, aber ich küsse ihn nicht", meinte Charles. „Sehr witzig." Christian wollte sich nicht auf ein Wortgefecht mit Charles und Ben einlassen. Sollten die beiden doch ihren Spaß haben und sich ihren Teil denken. Er stand auf, überflog die Rechnung und knallte das Geld auf den Tresen. Beim Hinausgehen wäre er beinah mit Bill Landgrin zusammengestoßen. Bill hatte sich auf dem Tanz nicht blicken lassen, und dafür war Christian ihm dankbar. „Hallo, Bill", grüßte er. Er mochte ihn zwar nicht, aber das war kein Grund, unhöflich zu sein. Bill nickte kurz. „Ich habe gehört, dass du Mariah nun doch heiraten willst." „Was?" rief Christian entgeistert. Allmählich hatte er es satt, sich ständig rechtfertigen zu müssen. „Wer hat dir das erzählt?" Er bedachte Charles und Ben mit einem vorwurfsvollen Blick. „Die beiden jedenfalls nicht." „Wer dann?" „Fast jeder, mit dem ich heute morgen gesproche n habe. Alle haben gesehen, wie du Mariah geküsst hast." „Dass ich sie geküsst habe, bedeutet noch lange nicht, dass ich sie heiraten werde!" „Jeder weiß doch, was sie für dich empfindet", hielt Bill dage gen. „Von wegen." Christian hatte keine Lust, sich das länger anzuhören. Da Mariah mit Duke zum Tanz gegangen war, konnte es wohl kaum stimmen. „Und warum, glaubst du, haben die Junggesellen in Hard Luck ihr nicht die Tür eingerannt?" konterte Bill. „Wir wussten, dass es keinen Sinn hat, weil sie von Anfang an ein Auge auf dich geworfen hatte. Sie war zwar nett zu uns, aber uns war klar, dass wir keine Chance hatten."
„Und warum hast du sie gefragt, ob sie mit dir zum Tanz gehen will?" „Weil sie bei euch gekündigt hatte. Ich dachte, sie wäre es end gültig leid, sich nach dir zu verzehren. Allerdings habe ich mich geirrt. Sie ist immer noch in dich verknallt, die Arme." Seine letzten Worte überhörte Christian geflissentlich. „Zwischen Mariah und mir läuft nichts." „Ich habe aber etwas anderes gehört." „Und ich sage dir, dass es nicht stimmt." „Dann kann es dir ja egal sein, wenn wir ihr nachlaufen." Ruhig begegnete Bill seinem Blick. Christian wollte ihm klarmachen, dass er sich für Mariah einfach verantwortlich fühlte, doch im letzten Moment überlegte er es sich anders. Schließlich wollte er Bill nicht in seiner Meinung bestärken. „Natürlich", murmelte er. „Wozu braucht ihr meine Erlaub nis?" Er beschloss, bei Gelegenheit ein ernstes Wort mit ihr zu reden, was die sogenannten begehrten Junggesellen von Hard Luck betraf. Sobald er sich von Bill loseisen konnte, kehrte er ins Büro zurück. Als er den Wohnwagen betrat, war Mariah nirgends zu sehen. Duke, der gerade die Post in Fairbanks abgeholt hatte, saß auf der Ecke ihres Schreibtischs und füllte die entsprechenden Formulare aus. „Na, wie ist es, Mariah wiederzuhaben?" Christian lachte. „Wie eine Begnadigung." Duke legte sein Klemmbrett beiseite. „Wollt ihr es bald offiziell bekanntgeben, Mariah und du?" „Bekanntgeben?" Jetzt riss Christian endgültig der Geduldsfa den. „Ich wünschte, du und die anderen würdet es endlich kapie ren. Zwischen Mariah und mir läuft nichts. Da war nie etwas, und es wird auch nie etwas sein." „Wirklich nicht?" hakte Duke sichtlich verblüfft nach. „Nein, absolut nicht." Erleichtert stellte Christian fest, dass Mariah genau in diesem Moment aus dem Hinterzimmer kam. „Frag sie doch selbst." „Was soll er mich fragen?" Sie blickte erstaunt von einem zum anderen. „Anscheinend ist ein Gerücht über uns beide in Umlauf." „Also, wenn zwische n euch tatsächlich nichts läuft, warum habt ihr euch dann vor der ganzen Stadt geküsst?" erkundigte sich Duke. Wenn ich es noch einmal erklären muss, schreie ich, dachte Christian. „Es war nicht so, wie es den Anschein hatte." Duke strich sich nachdenklich über den Bart. „Für mich sah es aber ziemlich eindeutig aus." „Sag es ihm, Mariah", drängte Christian. Sie schaute ihn verständnislos an. „Mariah, für mich hört der Spaß auf. Los, sag es ihm." „Was soll ich ihm sagen?" „Die Wahrheit. Dass zwischen uns nic hts läuft. Dass wir nur Freunde sind." Daraufhin wandte Mariah sich an Duke. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ein Wort herausbrachte. „Zwischen Christian und mir läuft nichts. Wir sind ... nur gute Freunde." „Damit ist mein Plädoyer abgeschlossen", sagte Christian erleichtert. Am liebsten hätte Mariah ihm den Kaffee ins Gesicht geschüttet, aber leider traute sie sich nicht. Christian O'Halloran war so ein ungehobelter Klotz! Leider musste sie auch den ganzen Nachmittag auf engstem Raum mit ihm zusammenarbeiten. Es kostete sie große Mühe, ihre Wut im Zaum zu halten. Einmal knallte sie eine Schublade zu. Als er sie erstaunt ansah, lächelte sie nur. Wie konnte sie bloß so feige sein! Doch genau das war ja ihr Problem: Christian hatte ihre Gutmütigkeit von Anfang an ausgenutzt.
Und sie hatte sich ausnutzen lassen. „Ich kann verstehen, dass du wütend bist", meinte er. Mariah lehnte sich zurück und betrachtete ihn eingehend. „Wirklich?" „Na klar. Ich rege mich schließlich genauso darüber auf. Die ganze Stadt redet über uns. Es ist unfair!" Frustriert presste sie die Lippen zusammen. „Es muss doch einen Weg geben, diese Gerüchte zu zerstreuen", fuhr er fort. „Du gibst dir anscheinend große Mühe", entgegnete sie zuckersüß. Jetzt lehnte er sich ebenfalls in seinem Stuhl zurück. „Ich habe nachgedacht." „Zweifellos ein sehr schmerzhafter Prozess", murmelte sie sarkastisch. Christian achtete überhaupt nicht darauf. „Bestimmt ist dir das alles genauso peinlich wie mir." Er schwieg einen Moment und lachte dann gezwunge n. „Bill Landgrin hat sogar behauptet, dass du schon seit Monaten in mich verliebt seist. Kannst du dir das vorstellen? So ein Blödsinn!" „Allerdings." Sie beschloss, sich so schnell wie möglich auf ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen. „Er hat mich gefragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er mit dir ausgehe. Ich konnte ihm schlecht sagen, dass es mir tatsächlich nicht in den Kram passt." „Stört es dich denn?" „Hm ... ja." „Magst du Bill nicht?" „Das schon, aber ich traue ihm nicht." Seine Augen wurden plötzlich dunkel. „Du solltest ihm gegenüber auch vorsichtig sein." Mariah wusste natürlich, was für ein Typ Bill Landgrin war. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, mit ihm auszugehen, aber das würde sie Christian natürlich nicht auf die Nase binden. „Duke ist zehnmal mehr wert als ein Kerl wie Landgrin." Mariah verzichtete auf eine Bemerkung. „Ralph ist auch ein anständiger Kerl." Christian kaute gedankenverloren auf seinem Bleistift. „Willst du damit andeuten, dass ich mit Duke oder Ralph ausgehen soll?" Wie konnte er nur so unverschämt sein! „Na klar", meinte er fröhlich, „warum nicht?" „Zufällig fühle ich mich zu keinem von ihnen hingezogen." Er warf den Bleistift auf seinen Schreibtisch. „Hm, du hast recht, dass könnte ein Problem sein." Plötzlich hellte seine Miene sich auf. „Weißt du was? Ich werde mich selbst darum kümmern. " „Gut." Mariah hatte zwar keine Ahnung, was ihm vorschwebte, aber es würde sicher amüsant werden. Sie hielt sich zwar für einen ausgeglichenen Menschen, doch wenn er ihr noch mehr solcher merkwürdigen Ratschläge erteilte, würde sie sich in eine männermordende Furie verwandeln. Und ihr erstes Opfer würde der jüngste der Brüder O'Halloran sein! „Ich muss kurz nach Hause. Bin gleich wieder da." Christian stand auf und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte und sie unbekümmert anlächelte. „Ich habe nämlich eine großartige Idee." „Darauf wette ich", sagte sie leise. Wie versprochen, kam er nach fünf Minuten wieder und schwenkte eine kleines schwarzes Notizbuch in der Hand. „Was ist das?" fragte sie neugierig. Seine Augen funkelten. „Na was wohl? Darin stehen die Tele fonnummern meiner Verflossenen."
Es schien tatsächlich amüsant zu werden! Mariah verschränk te die Arme vor der Brust und wartete. „Was hast du damit vor?" „Ich will mich verabreden, was sonst? Es gibt einige Frauen in Fairbanks, die sich noch an mich erinnern werden." „Verabreden?" „Ja." Christian begann, in dem Buch zu blättern. „Da du keine Lust hast, mit Duke oder Ralph auszugehen ..." „Duke und Ralph sind nicht die einzigen Junggesellen in Hard Luck." „Stimmt." Er nahm den Hörer ab und klemmte ihn sich zwischen Kopf und Schulter, während er die erste Nummer wählte. „Aber es gibt viele Mittel und Wege, dem Gerücht den Nährboden zu entziehen." Entnervt verdrehte sie die Augen. „Hallo, Ruthie?" Christian legte die Füße auf den Schreibtisch und grinste anmaßend. „Hier ist Christian." Mariah beobachtete, wie sein Grinsen langsam verschwand. „Christian O'Halloran aus Hard Luck. Erinnerst du dich an mich?" Nun grinste er wieder. „Ja, genau der. Wie geht es dir? ... Toll!" Plötzlich wirkte er schockiert. „Verheiratet? Seit wann denn das?" Er schaute zu Mariah und zuckte die Schultern. „Herzlichen Glückwunsch. ... Ja, natürlich, du hättest mir eine Einladung schicken sollen. ... Hast du? Tut mir leid, wir hatten in den letzten Monaten ziemlich viel zu tun.... Was, schon vor einem Jahr? Hör mal, ich will dich nicht länger aufhalten ... Du bist schwanger? Oh ... toll. Wir hören wieder voneinander, ja?" Mariah drehte sich um, damit er nicht merkte, wie sie mit dem Lachen kämpfte. „Ruthie kann ich von der Liste streichen", erklärte er. „Aber das ist kein Grund zur Verzweiflung. Ich habe genug andere Nummern." „Das glaube ich dir." Da im nächsten Moment das Telefon auf ihr em Schreibtisch klingelte, nahm sie ab. Während sie sprach, beobachtete sie, wie Christian wieder zum Hörer griff und wählte. Sie bekam zwar nicht mit, was er sagte, aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, verlief das Gespräch ähnlich wie das erste. Nachdem sie die Informationen des Anrufers entgegenge nommen hatte, legte sie auf. „Carol ist auch mit einem anderen zusammen." Er blätterte weiter und murmelte vor sich hin. Dabei verwarf er einen Namen nach dem anderen. Tanya? Nein, soweit er wusste, war sie nach Kalifornien gezogen. Was war mit Tiffany? Nein, mit ihr war er im Streit auseinandergegangen. Sandra? Die hatte er im Grunde nie gemocht. Gail? Als er es bei ihr versuchte, stimmte die Nummer nicht mehr. „Ich bin anscheinend überall abgeschrieben", sagte er mehr zu sich selbst. „Ruthie ist verheiratet. Verdammt, wir hatten viel Spaß miteinander. Wie die Zeit vergeht!" Wieder griff er zum Hörer, um einen neuen Versuch zu starten. Mariah wollte zwar nicht lauschen, doch sie konnte einfach nicht anders. „Hallo, Pam", grüßte er fröhlich, „hier ist Christian O'Halloran aus Hard Luck. ... Was, zwei Jahre ist es schon her?" Er klang schockiert. „So lange? Wie geht es dir?" Es vergingen fünf Minuten, in denen Christian überhaupt nicht zu Wort kam. „Das tut mir leid", erklärte er schließlich hastig. „Verheiratet und schon nach drei Monaten wieder geschieden ..." Er schloss die Augen und wartete, wobei er ungeduldig mit den Fingern auf den Schreibtisch trommelte. „Pam, ich bin im Büro und habe nicht viel Zeit. Ich rufe dich wieder an. Tut mir wirklich leid, dass du solche Probleme hattest." Dann knallte er den Hörer auf die Gabel. Langsam wandte er sich Mariah zu. „Seit ich Pam das letzte Mal gesehen habe, hat sie geheiratet und sich scheiden lassen."
„Sieht so aus, als würde es doch nicht klappen", erwiderte sie nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. Ihr konnte es nur recht sein, wenn er niemanden fand, mit dem er ausgehen konnte. „Vickie!" rief er plötzlich triumphierend. „Sie war ganz verrückt nach mir." „Ach ja?" „Bestimmt hat sie Zeit." Dass die Frau, die angeblich so in ihn verliebt gewesen war, nicht seine erste Wahl war, entging Mariah nicht. Allerdings überraschte es sie auch nicht weiter. Als Christian erneut wählte, fiel ihr auf, dass er inzwischen nicht mehr so selbstgefällig grinste. Offenbar hatte Vickie doch keine Zeit, denn er sprach einige Sätze, die ziemlich monoton klangen. „Ich habe eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen", erklärte er, nachdem er aufgelegt hatte. Er wirkte etwas entmutigt. „Ich frage mich, ob sie auch verheiratet ist." Wie sich herausstellte, war sie es nicht, denn eine Stunde später rief Vickie zurück. Christian blühte sichtlich auf. „Hallo, Vickie. Wie geht's?" Diesmal versuchte Mariah, nicht hinzuhören, denn es hätte sie zu sehr an ihre eigene Situation erinnert. „Samstag abend?" Er klang sehr zufrieden. „Essen und dann ins Kino? Klar, du kannst dir einen Film aussuchen. Ich freue mich darauf." Es folgte eine kurze Pause, dann sagte er: „Ich bin gegen sechs in Fairbanks. Bis Samstag also." Sobald er aufgelegt hatte, schaute sie in seine Richtung. Christian hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und wieder dieses selbstgefällige Grinsen aufgesetzt. „Unsere Probleme sind gelöst." Er schwieg bedeutungsvoll, als würde er von ihr erwarten, dass sie sich für seine Selbstaufopferung bedankte. „Wunderbar", meinte sie ironisch. „Verstehst du es denn nicht?" entgegnete er ungeduldig. „Wenn die Leute in Hard Luck erfahren, dass ich mich mit einer anderen Frau treffe, hört das Getratsche auf." „Tatsächlich?" Offenbar hatte er überhaupt keinen Grips im Kopf. „Und wie sollen die Leute es mitbekommen, wenn du dich in Fairbanks mit Vickie triffst? Oder war es Pam? Nein, Carol." Christian lächelte gezwungen. „Vickie. Die Leute werden es schon erfahren, weil ich es ihnen sage." „Perfekt." „Das klingt nicht gerade begeistert." „Du irrst dich. Ich bin entzückt!" Als Mariah einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, stellte sie fest, dass es Zeit war, zu gehen - und das in vielerlei Hinsicht. Sie nahm ihren Pullover und lächelte Christian zu. „Bis morgen früh." Sie musste sich sehr beherrschen, um nicht die Tür hinter sich zuzuknallen. Christian fragte sich, warum er nicht eher an Vickie gedacht hatte. Er hatte sich immer prima mit ihr verstanden. Ob sie noch in der Bank arbeitete? Erst als er begonnen hatte, seine Verflossenen anzurufen, war ihm klargeworden, dass er schon lange nichts mehr von ihnen ge hört hatte. Er steckte das kleine schwarze Notizbuch in seine Hemdtasche und runzelte die Stirn. Mariah hatte das Büro gar nicht schnell genug verlassen können. Und es schien ihr nicht gepasst zu haben, dass er sich ans Telefon gehängt hatte, um sich bei seinen Ex-freundinnen zu melden. Es war über ein Jahr her. Er war alles andere als ein Casanova gewesen. Nein, er war wie alle anderen Junggesellen in Hard Luck ab und zu nach Fairbanks geflogen, um sich dort zu amüsieren.
Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Ungefähr vor einem Jahr hatten Sawyer und er ihre Aktion ins Leben ge rufen, um Frauen nach Hard Luck zu holen. Das erklärte natürlich alles. Nachdem Christian seinen Computer und das Licht ausge schaltet hatte, ging er nach Hause. Unterwegs kam ihm seine, achtjährige Nichte Susan auf dem Fahrrad entgegen. Sie bremste so abrupt, dass sie auf der unbefestigten Straße rutschte. „Hast du es schon gehört?" rief sie aufgeregt. „Was?" erkundigte er sich. „Mom und Sawyer - ich meine, Dad - sind gerade aus Fairbanks zurückgekommen. Sie waren beim Arzt." Sawyer hatte ihm gegenüber erwähnt, dass er mit Abbey zur Ultraschalluntersuchung gehen wollte. Komisch, dass sie sich im Büro verpasst hatten. Allerdings war Sawyer auch nicht dazu verpflichtet, sich bei ihm abzumelden. „Mom bekommt ein Mädchen!" „Ein Mädchen", wiederholte Christian lächelnd. Ellen würde sich darüber sehr freuen. „Sie haben sogar Aufnahmen von dem Baby. Ich fahr' jetzt zu Chrissie und erzähl' es ihr. Bethany bekommt auch ein Baby." „Sie haben Aufnahmen von dem Baby?" Die musste er unbedingt sehen. „Na ja ..." Susan biss sich auf die Lippe. „Wie ein Foto sieht es nicht gerade aus. Alles ist verschwommen." „Ein Mädchen", wiederholte er. „Das hat der Arzt gesagt." „Das ist toll!" „Dad findet das auch", meinte sie lachend, „aber ich glaub', über einen Jungen hätte er sic h genauso gefreut." „Mein Bruder ist eben nicht so anspruchsvoll." Sie wollte wieder aufs Fahrrad steigen, schaffte es jedoch nicht auf Anhieb. Deshalb half Christian ihr, indem er das Rad solange festhielt. „Danke, Onkel Christian", sagte sie und strahlte übers ganze Gesicht. „Gern geschehen." Dann fuhr sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit davon. Offenbar konnte sie es nicht erwarten, Chrissie die Neuigkeit zu erzählen. Mitch und Bethany erwarten also auch Familienzuwachs, dachte Christian, als er weiterging. Kurz darauf kam Scott ihm entgegen. „Hast du Susan gesehen?" fragte er aufgeregt. „Warum fragst du?" „Sie hat mein Fahrrad geklaut." „Sie wollte ihrer Freundin erzählen, dass eure Mom ein Mädchen bekommt." „Vielleicht irrt der Arzt sich ja", murmelte Scott. „Dachtest du, du bekommst einen Bruder?" Der Junge zuckte die Schultern. „Ich finde, wir haben schon genug Mädchen in der Familie. Ich hab' Mom mal gefragt, ob es ein Junge wird, wenn sie wieder schwanger wird. Weißt du, was sie gesagt hat?" Christian schüttelte den Kopf. „Sie hat gesagt, dass sie nichts versprechen kann. Dann meinte sie, dass Lanni und Charles vielleicht einen Jungen bekommen - oder Mariah, wenn du sie heiratest."
9. KAPITEL
Christian hatte den Eindruck, dass seine Begleitung den Abend nicht so genoss wie er. Sie waren essen und anschließend ins Kino gegangen und saßen nun in einem Imbiss. Vickie schwieg beharrlich, während er bester Laune war. „Habe ich dir schon erzählt, wie Mariah den Aktenschrank umgeworfen hat?" Jetzt konnte er darüber lachen, aber damals hatte er es überhaupt nicht komisch gefunden. Mariah hatte versucht, den Schrank allein zu verrücken, nur um ihn zu ärgern. Als er trotzdem geholfen hatte, war sie gestolpert, und der Schrank war umgekippt - genau auf seinen Fuß. Christian hatte eine Woche gehumpelt. Lachend erzählte er Vickie die Geschichte, doch sie rang sich nur ein Lächeln ab. Nun wurde er ebenfalls ernst und stellte seinen Becher auf den Tisch. Sie schaute ihm nicht im mindesten amüsiert in die Augen. „Ist dir eigentlich klar, dass du den ganzen Abend von einer anderen Frau geredet hast?" „Von wem denn?" Jetzt übertrieb sie aber. Die Anekdote mit dem Aktenschrank hatte er ihr doch nur erzählt, um sie zum La chen zu bringen. „Zuerst hast du von dem Brand in Mariahs Blockhaus gesprochen und dann ..." „Ich wollte dir berichten, was in Hard Luck passiert ist", verteidigte er sich. „Habe ich dir nicht auch gesagt, dass Sawyer verheiratet ist und Abbey ein Kind erwartet? Und von Charles und Lanni habe ich dir auch erzählt, stimmt's?" „Sicher, nebenbei." Vickie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Christian hatte ihr langes blondes Haar immer geliebt. „Dann war da noch die Geschichte mit Mariahs Koffer, der auf dem Flugplatz aufgegangen ist..." „Du machst aus einer Mücke einen Elefanten." Er konnte sich nicht entsinnen, dass Vickie je eifersüchtig gewesen war. Andererseits kannte er sie nicht so gut. „Ich habe seit über einem Jahr nichts mehr von dir gehört, und ganz plötzlich gehst du mit mir aus. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass da etwas faul ist." „Inwiefern?" „So als ob du dir etwas beweisen wolltest und mich dazu benutzt." „Unsinn", entgegnete er wütend. „Es gibt einen simplen Grund dafür, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe. Du hast doch bestimmt davon gehört, dass wir einige Frauen nach Hard Luck geholt haben, nicht?" „Natürlich habe ich davon gehört. Schließlich war es damals Gesprächsthema Nummer eins." Sie verschränkte die Arme vor der Brust und verzog missbilligend den Mund. „Das ist wirklich das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Sind die Frauen hier in Fairbanks euch denn nicht mehr gut genug?" Da er sich nicht aufs Glatteis begeben wollte, überging er ihre Frage geflissentlich. „Es erklärt jedenfalls, warum ich mich nicht bei dir gemeldet habe." „Ich wäre nach Hard Luck gezogen, wenn du mir einen Grund dafür gegeben hättest", erklärte sie und warf ihm dabei einen vielsagenden Blick zu. Christian schluckte, denn er fühlte sich zunehmend unwohler. „Es gibt noch genug Junggesellen in Hard Luck. Du kannst jederzeit dorthin ziehen." Wütend funkelte sie ihn an. „Ich rede nicht von den anderen Männern, sondern von dir." „Von mir?" Plötzlich wurde ihm so heiß, dass er zu ersticken glaubte. „An dem Knaben, der das Cafe führt, bin ich bestimmt nicht interessiert." „Ben", kam er ihr zu Hilfe. „Warum nicht? Er ist ein prima Kerl." „Also wirklich, O'Halloran!" Nun warf Vickie ihre blonde Mähne, die er gerade noch bewundert hatte, schwungvoll zurück. „Sag mir endlich, warum du so plötzlich das Bedürfnis verspürt hast, mich zu sehen - vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ihr so viele Frauen nach Hard Luck geholt habt", fügte sie herausfordernd hinzu.
Sicher war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, ihr zu gestehen, dass er es getan hatte, um den Gerüchten über Mariah und ihn die Grundlage zu entziehen. „Ich hatte ihn letzter Zeit viel um die Ohren", erwiderte Christian daher, „und ... Na ja, ich dachte, ich könnte ein paar alte Freundschaften wieder auffrischen." „Es wäre gar nicht so schlimm, wenn ich mich nicht so darauf gefreut hätte, dich wiederzusehen." Wütend knallte sie ihre Handtasche auf den Tisch. „Du rufst die gute alte Vickie an und hast dann nichts Besseres zu tun, als den ganzen Abend von einer anderen Frau zu reden." „Ich weiß nicht, was du meinst." Vickie warf ihm einen verächtlichen Blick zu und stand auf. „Was tust du?" erkundigte er sich verblüfft. „Ich gehe." „Ich bringe dich nach Hause." Anscheinend fand sie seine Gesellschaft nicht besonders angenehm, doch dass sie ohne ihn ge hen wollte, war wirklich der Gipfel! „Nein, danke", entgegnete sie steif. Christian bezahlte schnell den Kaffee, bevor er ihr nacheilte. „Was habe ich denn so Schreckliches getan?" Es war ihm peinlich, ihr hinterherzujammern. Noch nie hatte er mit einer Frau so einen Ärger gehabt. Vickie hatte sich in diesem einen Jahr ganz schön verändert. Allerdings hatte er das Gefühl, dass auch er eine Entwicklung durchgemacht hatte. „Was du getan hast?" wiederholte sie, sobald sie draußen war. „Hör mal, du bist ein netter Typ, aber was immer zwischen uns war, ist vorbei. Wahrscheinlich musste ich dich einfach noch mal sehen, um mir zu beweisen, dass ich darüber hinweg bin. Es ist ziemlich offensichtlich, dass du ganz verrückt nach dieser Mariah bist." Wie immer wollte er alles abstreiten, doch sie ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. „Ich weiß zwar nicht, was du dir beweisen wolltest, aber ich lasse mich nicht gern ausnutzen." „Du brauchst gar nicht so auf dem hohen Ross zu sitzen. Wenn du nicht mehr mit mir ausgehen willst, okay. Aber lass mich dich wenigstens nach Hause bringen." Vickie willigte schließlich ein. Als er kurz darauf vor dem Apartmenthaus stoppte, in dem sie wohnte, wandte sie sich ihm zu. „Ich hoffe, dass du deine Probleme mit Mariah klärst." Christian hatte keine Lust, darauf zu antworten. Er war weder „verrückt" nach Mariah noch sonst etwas, doch es war pure Zeitverschwendung, es Vickie zu erklären. „Eins musst du mir versprechen", bat sie. „Klar." „Schick mir eine Einladung zu deiner Hochzeit. Ich möchte die Frau gern kennenlernen, die dich eingefangen hat." Jetzt reichte es ihm. „Ich werde Mariah nicht heiraten!" Am liebsten hätte er es herausgeschrien. Er würde Mariah nicht heiraten - oder doch? Sicher, er fand sie attraktiv und hatte sie geküsst. Allerdings bedeutete das noch lange nicht, dass er sie auch heiraten würde. Er hatte zwar das Bedürfnis, sie zu beschützen, doch das lag daran, dass er sich für sie verantwortlich fühlte. Oder nicht? Verdammt, er hätte es selbst gern gewußt! Vickie lachte leise und tätschelte ihm die Wange. „Für meinen Geschmack protestierst du viel zu heftig. Also denk dran: Ich möchte zu deiner Hochzeit eingeladen werden." Am Montag morgen suchte Mariah als erstes die Akte mit den Bewerbungen heraus, die Christian im Vorjahr erhalten hatte. Als er etwas später das Büro betrat, war sie gerade dabei, die Unterlagen zu sichten. „Morgen", meinte er kurz angebunden, ohne sie anzusehen. „Morgen", erwiderte sie genauso kühl.
Der Kaffee war zwar fertig, aber sie hatte keine Lust, ihm welchen einzuschenken. Sollte Christian ihn sich gefälligst selbst holen! Stattdessen setzte er sich jedoch an seinen Schreibtisch und schaltete den Computer ein. „Wie war dein Abend mit Vickie?" konnte sie nicht umhin zu fragen. Sie verstand selbst nicht, warum sie so masochistisch war. Und selbst wenn er sich nicht amüsiert hätte, würde er es ihr bestimmt nicht auf die Nase binden. „Gut", entgegnete er mürrisch. „Ist Ralph schon hiergewesen?" „Nein." Überrascht sah er sie an. „Ist etwas?" „Nein", versicherte sie zuckersüß. Da sie ihm keinen Grund zur Klage geben wollte, bemühte sie sich, zufrieden dreinzuschauen, wann immer er einen Blick in ihre Richtung warf. Allerdings kam das nicht sehr oft vor. Christian starrte wie gebannt auf seinen Monitor. „Wo ist Ted?" fragte er schließlich unvermittelt, ohne den Blick abzuwenden. „Keine Ahnung." „Ich sehe mal in der Schlafbaracke nach, ob er da ist." „Ich dachte, du wolltest wissen, wo Ralph ist." „Nein, ich muss mit Ted sprechen." Er sprang auf und stürmte aus dem Büro. Da er die Datei nicht geschlossen hatte, stand Mariah auf, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Christian hatte sich offenbar den Flugplan für die laufende Woche angesehen. Für den Postflug nach Fairbanks wurden die Piloten im turnusmäßigen Wechsel eingesetzt. Ralph war für die Vorwoche eingeteilt gewesen und Ted für die laufende Woche. Kurz darauf erschien Ted im Büro. „Ich soll Ihnen von Christian ausrichten, dass er heute morgen nach Fairbanks fliegt." Mariah machte sich eine Notiz. „Danke, Ted." Christian hatte offenbar großes Interesse daran, nach Fair banks zu kommen. Das konnte nur eines bedeuten. Er würde Vickie wiedersehen. Karen Caldwell summte leise vor sich hin, als sie die umlaufende Bordüre unten an den frischgestrichenen Wänden im Kinderzimmer anbrachte. Seit einigen Tagen verspürte sie ein richtiges Hochgefühl. Das Zimmer einzurichten, Babysachen zu kaufen und Bücher über Kinderpflege zu lesen machten ihr erst richtig bewusst, dass sie bald Mutter wurde. „Karen", rief Matt aus der Empfangshalle. „Ich bin hier." Als Karen aufstand, wurde ihr so schwindelig, dass sie sich gleich wieder setzen musste. Er hatte es anscheinend gesehen, denn er kam sofort angelaufen. „Was ist los, Schatz?" Sie lächelte ihn liebevoll an. „Nichts. Es geht mir gut. Ich glaube, ich bin nur zu schnell aufgestanden." „Bist du sicher?" erkundigte er sich besorgt. „Und was ist mit dem Baby?" „Das passiert jedem ab und zu, nicht nur Schwangeren." „Bist du wirklich sicher?" wiederholte er ungläubig. „Ganz sicher." Matt schien immer noch nicht überzeugt. „Mir wäre es lieber, wenn Dotty dich einmal gründlich untersuchen würde." „Na gut", willigte sie ein, „aber erst nach dem Mittagessen." In letzter Zeit hatte sie einen guten Appetit, was vermutlich daran lag, dass sie in den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft wegen ihrer ständigen morgendlichen Übelkeit abgenommen hatte. „Eigentlich fühle ich mich wunderbar", erklärte sie, während sie Matt in die Küche folgte. „Du siehst auch wundervoll aus." Als er sie ansah, verriet der Ausdruck in seinen Augen, wie sehr er sie liebte.
Karen bereitete Käsesandwiches zu, während Matt eine Do sensuppe warm machte. „Ich habe das Gefühl, dass Mariah bald aus Hard Luck weggeht", meinte er. Daran hatte sie auch schon gedacht. „Das ist Christians Schuld. Er scheint völlig übergeschnappt zu sein." „Auf jeden Fall ist er stur wie ein Esel." „Wem sagst du das", neckte sie ihn. Er stellte sich hinter sie und legte die Hände auf ihren Bauch. „Wie kommt es, dass Abbey eine Ultraschalluntersuchung hatte und du nicht?" „Mein Arzt meinte, es wäre erst nötig, wenn man älter als fünfunddreißig ist. Außerdem möchte ich noch nicht wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird." „Sawyer hat uns heute im Cafe die Aufnahme gezeigt. Man konnte zwar kaum etwas erkennen, aber er war sehr stolz darauf", meinte er ein wenig wehmütig. „Möchtest du auch eine Aufnahme haben, die du den anderen zeigen kannst?" erkundigte sie sich mitfühlend. „Das wäre nicht schlecht." „Ich kann ja bei der Untersuchung meinen Arzt fragen. Aber ich möchte erst bei der Geburt erfahren, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Einverstanden?" „Einverstanden." Matt verteilte kleine Küsse auf ihrem Nacken. Plötzlich musste Karen gähnen. In letzter Zeit wurde sie gegen Mittag immer so müde, dass sie sich nach dem Essen für eine oder zwei Stunden hinlegte. Auch das lag vermutlich daran, dass die ersten Monate der Schwangerschaft sie körperlich so mitgenommen hatten. „Ich wünschte, ich könnte etwas für Mariah tun", sagte sie, als sie die Teller mit den Sandwiches auf den Tisch stellte. Matt füllte gerade die Suppe auf. „Was willst du für sie tun? Sie muss ihre Entscheidungen allein treffen - genau wie Christian." „Vielleicht könntest du mal mit Christian reden." Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Auf keinen Fall. Wenn jemand das Recht hat, ihm irgendwelche Ratschläge zu ge ben, dann sind es seine Brüder. Als ich versucht habe, Lanni mit Charles zu verkuppeln ..." „Du hast versuc ht, die beiden miteinander zu verkuppeln? Wann?" „Das war vor ungefähr einem Jahr. Es hat allerdings nicht funktioniert, und Lanni war furchtbar sauer auf mich. Man sollte sich in die Angelegenheiten anderer nicht einmischen." „Was können wir dann tun?" fragte Karen, der Mariah leid tat. „Gar nichts." „Aber..." „Ich weiß, Schatz, aber es geht uns nichts an. Weder Christian noch Mariah würde es gern sehen, wenn wir uns in ihre Angele genheiten einmischen würden." Traurig musste sie sich eingestehen, dass Matt recht hatte. Als Christian von seinem Flug nach Fairbanks zurückkehrte und das Büro betrat, merkte er sofort, dass Mariah sich über irgend etwas geärgert hatte. An diesem Morgen hatte er unbedingt nachdenken müssen. Deswegen hatte er den Flug übernommen. Mariah war zwar schon vorher ziemlich kühl gewesen, doch jetzt führte sie sich auf wie eine Bärenmutter, die ihre Jungen beschützen wollte. Ein Blick in ihre Richtung genügte, und Christian wusste, dass er das Weite suchen musste, wenn er ungescho ren davonkommen wollte. „Ich bin wieder da", verkündete er unnötigerweise. Statt zu antworten, sah sie ihn an, als wollte sie ihn mit ihren Blicken durchbohren. Er beschloss, ihre schlechte Laune zu ignorieren, und versuchte es noch einmal. „Wo ist Sawyer?" Sein älterer Bruder konnte nämlich besser mit Frauen umgehen, und Christian konnte seine Hilfe gut gebrauchen. Er seufzte resigniert. Erst Vickie und nun Mariah ... Er
mochte gar nicht daran denken, dass es seine Idee gewesen war, Frauen nach Hard Luck zu holen. „Sawyer ist nicht da", erwiderte Mariah kurz angebunden. „Hat er zufällig gesagt, wohin er geht?" erkundigte er sich vorsichtig. „Ja." Offenbar hatte sie vergessen, dass er ihr Chef war. Dass er ihr praktisch die Füße geküsst hatte, um sie dazu zu bewegen, wieder für Midnight Sons zu arbeiten, gab ihr noch lange nicht das Recht, so anmaßend zu sein. „Würdest du mir freundlicherweise mitteilen, wo mein Bruder ist?" fragte Christian schroff. „Ja. Er wollte zum Mittagessen nach Hause gehen." „Danke", entgegnete er kühl. Als er sich an seinen Schreibtisch setzte, stellte er fest, dass darauf einige Bewerbungen lagen - dieselben, die er in der letzten Woche ein dutzendmal gelesen und wieder beiseite gelegt hatte. „Was hat das zu bedeuten?" fragte er in eine m Tonfall, der besagte, dass ihm irgendwann die Geduld ausging. „Ich hatte den Eindruck, dass du es nicht besonders eilig hast, eine Nachfolgerin für mich zu finden", sagte Mariah sachlich. „Deshalb habe ich mir erlaubt, selbst einige Bewerberinnen anzurufen." Christian wollte protestieren, doch dann rief er sich ins Gedächtnis, dass sie recht hatte. Er hatte es tatsächlich nicht eilig, eine Nachfolgerin für sie einzustellen. Er hatte nämlich keine Lust, eine neue Sekretärin einzuarbeiten - das redete er sich zumindest ein. Vielleicht war es Mariah gegenüber nicht fair, doch er hatte gehofft, dass sie sich irgendwann bereit erklären würde, bei Midnight Sons zu bleiben. „Wie es scheint, hast du ein paar geeignete Kandidatinnen ge funden." Er deutete auf die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. „Ich habe die Frauen alle angerufen. Libby Bozeman hat die Stelle genommen. Sie kommt Freitag in einer Woche. Ich habe den Vertrag aufgesetzt und ihn ihr gefaxt." „Du hast sie eingestellt?" Mariah versteifte sich unwillkürlich. „Ja. Wie ich bereits sagte, hattest du es offenbar nicht besonders eilig. Deshalb habe ich die Sache selbst in die Hand genommen." „Weiß Sawyer davon?" „Ja, und er war damit einverstanden, Libby zu nehmen." „Verstehe." Christian wusste, wann er sich geschlagen geben musste. Er sah die Unterlagen durch, bis er Libbys Bewerbung gefunden hatte. Als er das Formular durchlas, fiel ihm auf, wie naiv Sawyer und er an die Sache herangegangen waren. Er hatte nur die wichtigsten Angaben erbeten und nicht einmal Zeugnisse verlangt. „Sie scheint für die Stelle geeignet zu sein." Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, mit Libby ein Vorstellungsgespräch geführt zu haben. „Ich habe heute vormittag mit mehreren Bewerberinnen tele foniert", informierte Mariah ihn kühl. „Mrs. Bozeman erschien mir am Qualifiziertesten." „Sie ist verheiratet?" „Nein, sie war es - bis vor kurzem." „War sie letztes Jahr noch verheiratet, als ich das Vorstellungsgespräch mit ihr geführt habe?" fragte er neugierig. „Anscheinend." „Ach so." Jetzt erinnerte er sich an Libby, und wenn sein Gedächtnis ihm keinen Streich spielte, war sie sehr qualifiziert. Libby Bozeman war eine schlanke, attraktive Frau in den Vierzigern, die wusste, was sie wollte. Eine nüchterne Frau. Mariah hatte eine gute Wahl getroffen. „Wenn du nichts dagegen hast, lasse ich ihr ein Flugticket schicken", sagte sie.
„Natürlich nicht." Einen Moment lang schwiegen sie beide. Dann erkundigte sich Christian: „Und was ist mit dir? Wohin willst du gehen?" Er fragte sich, wie Ben darüber denken mochte, Mariah wieder einzustellen. Allerdings bezweifelte Christian, dass sie es nach ihrem unrühmlichen Debüt noch einmal als Kellnerin versuchen wollte. „Wohin ich gehen will?" wiederholte sie leise, als würde sie zum ersten Mal darüber nachdenken. Dann fuhr sie mit stockender Stimme fort: „Irgendwohin, wo ich dich nie wiedersehen muss, Christian O'Halloran. " Als Christian am späten Nachmittag nach Hause ging, war er sehr niedergeschlagen. Mariah wollte wieder weggehen. Doch diesmal würde sie nicht nur kündigen, sondern Hard Luck ver lassen und damit auch ihn. Unwillkürlich dachte er an Libby Bozeman. Er war davon überzeugt, dass sie eine gute Kraft war, aber er wollte Mariah, verdammt! Zumindest hatte Mariah sich bereit erklärt, noch so lange zu bleiben, bis sie Libby eingearbeitet hatte. Selbst Sawyer schien es für das beste zu halten, sie gehen zu lassen. Sobald sie allein gewesen waren, hatte Christian ihn daraufhin angesprochen. Sawyer hatte nur die Schultern gezuckt und erklärt, sie könnten sie schließlich nicht zum Bleiben zwingen. Als er zu Hause ankam, sah Christian, dass Scott und Ronny Gold in Scotts Vorgarten mit Eagle Catcher spielten. Traurig setzte er sich auf die oberste Stufe seiner Veranda, um den Jungen zuzuschauen. Scott und Ronny warfen abwechselnd den Stock, und der Husky holte ihn zurück. Christian hatte keine Ahnung, wie lange er dort saß. Es war bald Zeit zum Abendessen, aber er hatte weder Lust zu kochen, noch war er in der Stimmung, ins Cafe zu gehen. Eigentlich hatte er gar keinen Hunger. Irgendwann steckte Susan den Kopf zur Haustür hinaus und rief etwas, das er nicht verstehen konnte. Daraufhin lief Ronny nach Hause, während Scott mit Eagle Catcher dablieb. Christian beneidete Sawyer. Für seinen Bruder war alles ganz einfach gewesen. Abbey war mit den Kindern nach Hard Luck gekommen, und einen Monat später hatten sie beschlossen zu heiraten. „Hallo, Onkel Christian." Christian war so in Gedanken versunken, dass er Scotts Kommen gar nicht bemerkt hatte. Jetzt stand sein zehnjähriger Neffe vor seinem Zaun. „Hallo, Scott." „Was ist los? Du siehst so komisch aus." Christian wusste nicht, wie er einem Kind erklären sollte, was in ihm vorging. Er konnte es sich ja nicht einmal selbst erklären. Nun kam Scott in den Garten und setzte sich zu ihm auf die Stufe darunter. „Hat das vielleicht damit zu tun, dass Mariah weggeht?" Offenbar hatte Sawyer es Abbey gegenüber erwähnt. „Ja, das könnte man so sagen", meinte Christia n. „Soll ich dir einen Tipp geben? Ich kenne mich gut mit Romantik aus." „Du?" „Klar. Sawyer hab' ich auch geholfen, bevor er meiner Mom einen Heiratsantrag gemacht hat. Ich hab' gesagt, er soll ihr diese Badeperlen kaufen, die sich im Wasser auflösen." Christian tätschelte Scott die Schulter. So einfach würde es mit Mariah nicht sein. Er würde die Situation keinesfalls verbessern, wenn er ihr Badeperlen schenkte. „Matt Caldwell hat mich auch gefragt, wie er Karen zurückerobern kann." „Das hat Matt getan?" fragte Christian überrascht. Bisher hatte er immer angenommen, Matt hätte sich ganz schnell mit seiner schwangeren Frau versöhnt. Kurz nachdem Karen
nach Hard Luck gekommen war, hatten die beiden nämlich wieder geheiratet. Man konnte kaum glauben, dass sie einmal geschieden gewesen waren, weil sie so glücklich wirkten. „Matt hat mir sogar ein Eis spendiert", berichtete Scott stolz. „Mein Tipp war wohl ziemlich gut, denn er und Karen haben kurz danach geheiratet." „Das freut mich für dich." Scott lehnte sich zurück. „Wenn du einen Tipp brauchst, helf ich dir auch." „Das ist nett von dir, aber bei Mariah und mir liegen die Dinge etwas anders." Scott drehte sich zu ihm um. „Wie denn?" „Ich mag Mariah." „Aber du bist nicht sicher, ob du sie auch liebst." „Stimmt", bestätigte Christian, überrascht über die Einsicht seines Neffen. „Ich weiß, was du meinst", erwiderte Scott altklug. „Es ist genau wie bei mir und Chrissie Harris." „Was ist denn mit dir und Chrissie?" „Na ja ..." Nun stützte Scott die Ellbogen auf die oberste Stufe. „Sie ist Susans beste Freundin und manchmal eine echte Nervensäge." Der Junge hatte offenbar Ahnung, was Frauen betraf. „Aber ich mag sie", fügte er hinzu und seufzte tief. Christian konnte es nicht fassen. Scott hatte ihm aus der Seele gesprochen, denn Mariah hatte ihn in den letzten Monaten in den Wahnsinn getrieben. „Manchmal, wenn ich Chrissie ansehe, denke ich, sie hat die schönsten Augen von allen." Christian ging es mit Mariah genauso. Sie hatte sehr schöne, ausdrucksvolle Augen und lange Wimpern. „Manchmal glaub' ich sogar, dass Chrissie das schönste Mädchen auf der Welt ist - sogar mit ihren Sommersprossen." Auch das beschrieb seine Gefühle für Mariah. Christian rief sich den Abend ins Gedächtnis, als er mit Allison Reynolds ausgegangen war. Obwohl sie einfach umwerfend aussah, hatte er sie oberflächlich und ein bisschen ordinär gefunden. Mariah dagegen war attraktiv und natürlich. „Mariah hat zwar keine Sommersprossen, aber ich weiß, was du meinst", sagte er. Scott grinste. „Das dachte ich mir." Dann wurde er wieder ernst. „Ich mag Chrissie auch deswegen, weil sie Susans beste Freundin ist. Ich weiß nicht, ob es Susan in Hard Luck so gut gefallen würde, wenn sie Chrissie nicht hätte." Christian musste an die Frauen denken, die bisher nach Hard Luck gekommen waren. Einige waren geblieben, und einige waren bald wieder abgereist. Mariah hatte es trotz der schweren Bedingungen ausgehalten. Er hatte sie von Anfang an falsch eingeschätzt und geglaubt, sie wäre eine der ersten, die ihre Koffer packen würde. „Ich glaub', irgendwann heirate ich Chrissie Harris", erklärte Scott. Christian zuckte zusammen, denn bisher hatte er sich immer unbehaglich gefühlt, wenn jemand von Heiraten gesprochen hatte. „Meinst du nicht, dass du noch ein bisschen zu jung bist, um von solchen Dingen zu reden?" „Das stimmt, aber Mom und Dad reden ja auch schon davon, dass ich mal aufs College gehen soll." Christian tätschelte Scott wieder die Schulter. Er war stolz darauf, ihn zum Neffen zu haben. „Aber wenn ich Chrissie nicht heirate, dann ein Mädchen, das genauso ist wie sie." „Scott!" brüllte Susan von der gegenüberliegenden Veranda. „Essen!" „Du solltest jetzt lieber gehen." „Ja. Mom hat heute mein Lieblingsessen gemacht: Fleischkäse. Sie hat das Rezept mal aus der Zeitung ausgeschnitten. Es ist von einer Lady, die den Lesern immer Tipps gegeben hat, und wirklich gut."
„Dann lass deine Familie nicht warten." Christian hatte zwar nicht viel Ahnung von Frauen, doch er hätte sich gehütet, zu spät zum Essen zu kommen. „Hab' ich dir nun geholfen?" fragte Scott. „Ja, das hast du. Vielleicht solltest du auch irgendwann mal für eine Zeitung schreiben und den Lesern Ratschläge geben." Scott nickte nachdenklich. „Könnte sein. Tante Lanni will ir gendwann eine Zeitung in Hard Luck rausbringen. Bestimmt lässt sie mich dann schreiben. Wir sind ja verwandt." „Wenn du möchtest, lege ich ein gutes Wort für dich ein." Nun strahlte der Junge übers ganze Gesicht. „Das war' toll!" Dann stand er auf und lief weg. Ein Kummerkasten für Leute mit Liebeskummer von Scott O'Halloran, dem Experten aus Hard Luck. Christian lächelte beim Gedanken daran und stand ebenfalls auf. Er hatte schon die Hand am Türknauf, als ihm etwas durch den Kopf ging, das Scott gesagt hatte. Scott wollte ein Mädchen wie Chrissie heiraten. Eine Frau wie Mariah. Genau das wollte Christian: eine Frau wie Mariah. Mariah hatte sich noch nicht entschieden, was sie tun oder wohin sie gehen sollte, nachdem sie Libby Bozeman eingearbeitet hatte. Bei der Vorstellung daran, Hard Luck zu verlassen, wurde sie furchtbar traurig. Doch sie hatte keine Wahl, wenn sie Christian O'Halloran aus dem Weg gehen wollte. Sie brauchte nur an diesen sturen, begriffsstutzigen Kerl zu denken, und schon wurde sie wieder wütend - so wütend, dass sie nicht ruhig dasitzen konnte. Daher beschloss sie, nach dem Abendessen einen Spaziergang zu machen. Die Sonne ging zwar gerade unter, aber das hielt sie nicht davon ab. „Ich bin bald wieder zurück", sagte sie zu Matt und Karen, die eng aneinandergekuschelt auf der Hollywoodschaukel saßen. Obwohl Mariah die beiden sehr gern hatte und ihnen ihr Glück von Herzen gönnte, konnte sie ihren Anblick gerade jetzt kaum ertragen. Sie zog den Rollkragen ihres Pullovers hoch und ging zehn Minuten in flottem Tempo, bis sie ein wenig außer Atem war. Da es schneller dunkel wurde, als sie erwartet hatte, nahm sie schließlich eine Abkürzung, die hinter dem Hard Luck Cafe entlangführte. Ben war offenbar gerade nach draußen gegangen, den die Küchentür stand offen, und das Licht fiel auf den Weg. Mariah war allerdings nicht in der Stimmung, mit irgend jemandem zu plaudern, so dass sie mit gesenktem Kopf weiterging. Als sie ein gedämpftes Geräusch hörte, blieb sie kurz stehen und warf einen Blick über die Schulter. Zuerst konnte sie nichts erkennen, doch dann entdeckte sie einen Schatten neben den Mülleimern. Es sah aus wie ein großes Tier, das auf dem Boden hockte. Sie zögerte einen Moment, weil sie nicht wusste, ob sie näher herangehen sollte. Lanni hatte ihr nämlich von ihrer Begegnung mit einem Bären in der Tundra erzählt, und Mariah hatte bereits beim Zuhören eine Gänsehaut bekommen. Schließlich sagte sie sich, dass es lächerlich war, einfach wegzulaufen. Wenn es sich bei dem Schatten tatsächlich um einen Bären handelte, interessierte dieser sich wohl mehr für den Inhalt der Mülleimer als für sie. Als sie jedoch In den Lichtkegel trat, sah sie, dass es kein Tier war, sondern ein Mensch. „Ben?" flüsterte sie. „Ben!" Aber Ben rührte sich nicht.
10. Kapitel „Ben." Mariah kniete sich hin und presste einen Finger an seine Halsschlagader. Ben hatte jedoch keinen Puls mehr. Ihr Puls dagegen beschleunigte sich, als ihr klar wurde, dass Ben vermutlich einen Herzinfarkt erlitten hatte. Mariah ließ ihn für einen Moment allein, um in die Küche zu laufen und Hilfe zu holen. Sie wählte Mitch' Nummer, und als Mitch abnahm, erzählte sie ihm hastig, was passiert war. Dann zwang sie sich, tief durchzuatmen, um die aufsteigende Panik zu bekämpfen und einen klaren Kopf zu behalten. Sobald sie wieder bei Ben war, drehte sie ihn vorsichtig auf den Rücken. Sein Kopf hing schlaff zur Seite, und sein Gesicht war aschfahl. Sie legte Ben die Hand in den Nacken, hob vorsichtig seinen Kopf und begann mit der Wiederbelebung. Da sie vor ein paar Jahren auf dem College einen Erste-Hilfe-Kurs besucht hatte, wusste sie, was zu tun war. „Oh, Ben", flüsterte sie, während sie mit der Herzdruckmassage begann. Ben atmete nicht, doch sein Herz fing an, wieder zu schlagen. Daraufhin begann sie, ihn zu beatmen. Mariah machte so lange weiter, bis sie irgendwann Schritte hinter sich hörte - nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien. „Was ist passiert?" rief Mitch. „Herzinfarkt", brachte sie hervor. Mitch ging neben Ben in die Hocke, um ihr zu helfen. Er übernahm die Beatmung, während sie mit der Herzmassage fortfuhr. Kurz darauf erschienen die beiden ehrenamtlichen Rettungssanitäter und übernahmen die Wiederbelebungsmaßnahmen. Ben wurde sofort in den Krankenwagen verladen und in die Klinik gebracht. Mittlerweile hatten sich auch einige Leute hinter dem Cafe versammelt. „Mitch!" rief Bethany, die ebenfalls angelaufen kam. „Was ist passiert?" Mariah beobachtete, wie Mitch seine Frau in die Arme nahm. „Es ist Ben", flüsterte er. Sofort traten Bethany die Tränen in die Augen. „Sein Herz?" fragte sie mit bebender Stimme. „Ich wusste, dass irgend etwas mit ihm nicht stimmt. Er hat mir versprochen, kürzer zu treten und nicht mehr so hart zu arbeiten. Er hat es mir versprochen!" Er strich ihr liebevoll das Haar aus dem Gesicht. „Ich habe ihn doch gerade erst gefunden", sagte sie gequält. „Ich will ihn nicht gleich wieder verlieren." „Ist alles in Ordnung, Mariah?" fragte Sawyer außer Atem. Auch er war gerade gekommen. „Wir waren gerade bei Mitch, als Sie angerufen haben." Mariah nackte benommen. Alles kam ihr so unwirklich vor. „Sind Sie sicher?" „Ja, mir geht es gut." Plötzlich fühlte sie sich jedoch so schwach, dass sie sich an der Hauswand abstützen musste. „Ich glaube, du solltest dich lieber hinsetzen." Abbey nahm sie bei der Hand und führte sie ins Cafe. Nachdem sie sie auf einen Stuhl verfrachtet hatte, machte sie eine Kanne Tee. „Was passiert jetzt mit Ben?" fragte Mariah. Sie hoffte, dass ihre Wiederbelebungsmaßnahmen Ben das Leben gerettet hatten, und machte sich Sorgen, ob sie sie überhaupt richtig durchge führt hatte. Schließlich lag der Erste-Hilfe-Kurs schon ein paar Jahre zurück. „Der Rettungshubschrauber ist schon unterwegs", erklärte Sawyer, der ihnen ins Cafe gefolgt war. „Christian hat sich über Funk mit dem Piloten in Verbindung gesetzt." Abbey schenkte Mariah eine Tasse Tee ein und tat zwei Teelöffel Zucker hinein. „Hier", ermunterte sie sie. „Trink das. Es wird dir guttun." „Wie haben Sie ihn gefunden?" erkundigte sich Sawyer. Mariah erzählte, dass sie nach dem Abendessen einen Spaziergang gemacht und den Weg
hinter dem Cafe zurück genommen hatte, weil es so schnell dunkel geworden war. Sie begann zu zittern, als sie daran dachte, dass sie beinah weitergegangen wäre, weil sie Angst davor gehabt hatte, bei dem Schatten könnte es sich um einen Bären handeln. „Wenn Sie nicht vorbeigekommen wären, wäre Ben gestorben." Mariah umfasste den Becher mit beiden Händen und trank einen Schluck Tee. Ihr war natürlich klar, dass Ben immer noch sterben konnte. Als etwas später das Rotorengeräusch des Hubschraubers in der Ferne zu hören war, hatte sich die halbe Stadt auf dem Flugplatz versammelt. Zwar konnte keiner etwas tun, aber die Leute wollten Ben zeigen, dass er ihnen viel bedeutete und sie sich Sorgen um ihn machten. Ben war immer noch nicht bei Bewusstsein, doch Mariah war sicher, dass er diese Liebe spürte. Sobald der Hubschrauber gelandet war, lud man Ben auf einer Trage hinein. „Hat er Angehörige?" rief ein Mann aus dem Hubschrauber. Bethany flüsterte Mitch etwas zu. Dann umarmte sie ihn und Chrissie und kletterte ebenfalls in den Hubschrauber. Kaum war der Hubschrauber in der Luft, fingen alle auf einmal an zu reden. Einige Leute versammelten sich um Mariah, um von ihr zu hören, wie sie Ben gefunden hatte. Auch Mitch wurde mit Fragen bedrängt, weil die Leute wissen wollten, in welcher Beziehung Bethany zu Ben stand. Mariah konnte nicht verstehen, was er sagte, und war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Schließlich kehrte sie mit Karen und Matt zum Hotel zurück. Als sie die Verandatreppe hochging, sah sie Christian, der in der Nähe stand und sich mit Sawyer und Charles unterhielt. Sobald er sie bemerkte, schaute er ihr in die Augen. Es kostete sie große Überwindung, den Blickkontakt abzubrechen. Traurig wandte sie sich ab und ging ins Hotel. Am nächsten Morgen erschien Christian als erster im Büro. Er hatte in der Nacht kaum geschlafen und sich im Bett hin- und hergewälzt. Zweimal hatte er im Krankenhaus in Fairbanks angerufen und mit Bethany gesprochen. Von ihr hatte er erfahren, dass Bens Zustand inzwischen stabil war und dass man mehrere Untersuchungen durchgeführt hatte. Wenn alles nach Plan verlief, würde man Ben noch am Nachmittag am offenen Herzen operieren. Christian hatte allerdings nicht nur deswegen wach gelegen, weil er sich Sorgen um Ben gemacht hatte. Er hatte auch über das nachgedacht, was er kurz vorher erfahren hatte, nämlich dass Ben Bethanys leiblicher Vater war. Diese Neuigkeit hatte sich natür lich sofort in der ganzen Stadt herumgesprochen. Christian hatte auch über Mariah nachgedacht. Er hatte alles, was in den letzten vierzehn Monaten passiert war, noch einmal im Geiste Revue passieren lassen. Es war mutig von Mariah gewesen, nach Hard Luck zu kommen, und auch in der letzten Nacht hatte sie Mut bewiesen. Und sie war nicht nur couragiert, sondern mitfühlend und ehrlich und hatte Sinn für Humor. Er hatte sie so lange falsch eingeschätzt. Eine Frau wie Mariah. Immer wieder gingen ihm diese Worte durch den Kopf. Wenn er irgendwann einmal heiratete, dann wollte er eine Frau wie Mariah heiraten und keine überspannte Stadtpflanze wie Allison oder eine Frau wie Vickie, so nett sie auch war. Er wollte eine Frau wie Mariah. Doch wenn er sie bereits gefunden hatte, dann ... Im nächsten Moment wurde die Tür zum Büro geöffnet, und Mariah kam herein. Sie sah genauso müde aus wie er. „Der Kaffee ist gleich fertig", erklärte Christian. Er stand vor der Kaffeemaschine und wartete, bis das Wasser durch den Filter gelaufen war. Anschließend schenkte er ihnen ein. „Hast du schon etwas von Ben gehört?" Sie lächelte schwach, als er ihr einen Becher reichte. Christian erzählte ihr, was er von Bethany erfahren hatte.
Mariah umfasste ihren Becher mit beiden Händen. Sie war unnatürlich blass, so dass er sie am liebsten in die Arme genommen und getröstet hätte. Doch sie wollte ihn nicht, und das tat weh. „Wie hast du geschlafen?" Er setzte sich auf eine Ecke seines Schreibtischs. „Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan." „Ich auch nicht." „Ich ... ich weiß nicht, ob ich heute viel zustande bringe", meinte sie, wobei sie seinen Blick mied. Wieder wurde die Tür geöffnet, und Sawyer kam herein. Als er sah, dass Christian so dicht vor Mariah stand, zögerte er. Christian begann, ihm zu berichten, was er von Bethany gehört hatte. „Ich habe auch mit ihr gesprochen", unterbrach Sawyer ihn. „Charles und Lanni fliegen heute mit Mitch nach Fairbanks, um bei ihr zu sein. Sie wollen uns auf dem laufenden halten." „Gut", erwiderte Christian. Allerdings wäre er lieber mit Mariah allein gewesen. Er musste unbedingt mit ihr reden. „Ich ... ich hatte Christian gerade gesagt, dass ich heute wohl keine große Hilfe bin", informierte sie Sawyer mit bebender Stimme. „Nehmen Sie heute frei", schlug er vor. „Ich wäre auch zu Hause geblieben, wenn ich hier nicht die Stellung halten müsste." Er gähnte herzhaft und rieb sich die Augen. „Letzte Nacht hat wohl kaum jemand in Hard Luck geschlafen. Abbey und ich jedenfalls nicht, und sogar die Kinder waren stundenlang auf." „Alle mögen Ben", warf Christian ein. „Mich treibt er noch in den Wahnsinn", erklärte Sawyer wütend. „Er hätte schon längst eine Aushilfe einstellen sollen. Es übersteigt einfach seine Kräfte, das Cafe allein zu leiten." Christian hatte sich auch über Ben geärgert, doch nun wurde ihm klar, dass er eigentlich wütend auf sich selbst war. Er hätte merken müssen, dass mit seinem Freund etwas nicht in Ordnung war, denn in letzter Zeit war Ben ständig erschöpft gewesen. Warum hätte er sonst Mariah eingestellt? Und er, Christian, hatte sie ihm wieder weggenommen. Diese Erkenntnis verstärkte sein schlechtes Gewissen. Mariah zog sich ihre Jacke wieder an. „Danke. Morgen geht es mir bestimmt besser. Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie erfahren, wie Bens Operation verlaufen ist." „Ich rufe Sie an", versprach Sawyer. „Danke." Christian wollte nicht, dass sie ging. Erst musste er mit ihr reden. „Ich bringe dich zum Hotel", erbot er sich daher. „Du willst sie zum Hotel bringen?" fragte Sawyer. „Ich glaube, sie kennt den Weg. Außerdem brauche ich dich hier. Das Büro ist sowieso unterbesetzt." Christian wollte schon protestieren, aber als er Mariah ansah, merkte er, dass sie erleichtert wirkte. Sie wollte also lieber allein sein. Fünf Tage später saß Christian im Warteraum des Fairbanks Memorial Hospital. Er hatte sich vorgebeugt und die Ellbogen auf die Knie gestützt und fragte sich, wann die Schwester ihn endlich zu Ben ins Zimmer lassen würde. Ben, der vierundzwanzig Stunden zuvor operiert worden war, hielt das Personal offenbar ganz schön auf Trab. Eine Schwester hatte behauptet, sie würde sich lieber um einen Haufen Neugeborener kümmern, als noch eine Schicht auf der Station zu arbeiten, auf der Ben Hamilton lag. Christian lächelte unwillkürlich, als er daran dachte. „Sie können jetzt zu Mr. Hamilton ins Zimmer." Er nahm kaum Notiz von der Schwester, die in den Warteraum hereinschaute, sondern
sprang auf und eilte zu Bens Zimmer. Überrascht stellte er fest, dass Ben bereits aufrecht im Bett saß und wesentlich besser aussah als vor der Operation, obwohl er immer noch blass war. Doch das wichtigste war, dass er noch am Leben war. Er war sogar sehr lebendig! „Hör auf, mich anzustarren wie ein Bussard seine Beute", brummte er. Nun musste Christian lachen. „Ich freue mich so, dich gesund und munter zu sehen!" „Das Vergnügen ist ganz meinerseits." Ben grinste, verzog jedoch gleich darauf gequält das Gesicht. „Wenn Mariah nicht ge wesen wäre, wäre Ich jetzt nicht hier." „Stimmt." Christian zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich darauf. „Da wir gerade von Mariah sprechen ..." Ben lehnte sich wie der zurück. „Streitest du immer noch ab, dass du in sie verliebt bist?" Noch vor einer Woche hätte Christian es weit von sich gewie sen. „Nein", erwiderte er ausdruckslos. „Geht Sie aus Hard Luck weg?" . „Ich weiß nicht, was sie vorhat." „Verdammt, willst du sie nun heiraten oder nicht?" Es war typisch Ben, dass er sich gerade die Frage herauspickte, die ihn die ganze Zeit beschäftigte. Er hatte ungewöhnlich lange gebrauc ht, um sich über seine Gefühle für Mariah klarzuwerden. Im nachhinein war es Christian richtig peinlich, zuzugeben, wie begriffsstutzig er gewesen war, wann genau er sich in sie verliebt hatte, wusste er nicht. Es musste irgendwann zwischen dem Tag ihrer Ankunft passiert sein, als sie versucht hatte, ihre Unterwäsche auf dem Flugplatz einzufangen, und dem Abend, an dem sie Ben das Lehen gerettet hatte. Also gut, er konnte zugeben, dass er sie liebte, aber bedeutete das auch, dass er daraus die Konsequenzen ziehen musste? „Ich bin noch nicht bereit zu heiraten", erklärte er. Ben lachte leise „Hast du schon mit Mariah darüber gesprochen?" „Nein." Er, Christian, hatte Ihr Ja noch nicht einmal gesagt, was er für sie empfand, „Wovor hast du eigentlich Angst, Junge?" Der gute alte Ben kam Immer direkt zur Sache. „Keine Ahnung", gestand Christian. Es war nicht so, dass er den Playboy spielen wollte. Das hatten seine Verabredungen mit Vickie und besonders mit Allison bewiesen. Er war mit einer der schönsten Frauen ausgegangen, denen er je begegnet war, und hatte die ganze Zeit gewünscht, Mariah wäre bei ihm. Und Vickie, die einmal ganz verrückt nach ihm gewesen war, hätte ihn am liebsten den Wölfen zum Fraß vorgeworfen, weil er den ganzen Abend nur von Mariah geredet hatte. Er sehnte sich nach einer Frau, die stark und witzig, liebevoll und couragiert war. Eine Frau wie Mariah. „Ich habe den Eindruck, dass du gar nicht weißt, was du willst", sagte Ben. „Doch, das weiß ich. Mein Problem ist eher, dass ich nicht weiß, was ich tun soll." Christian dachte einen Moment nach, und als er schließlich aufblickte, stellte er fest, dass Ben eingeschlafen war. Christian stand auf und drückte liebevoll Bens Arm. Er musste ohnehin nach Hard Luck zurück. Ben würde bald wieder auf den Beinen sein. Mariah liebte es, auf der Veranda auf der Hollywoodschaukel zu sitzen. Es war ein sonniger Herbstnachmittag, und die Tundra hatte sich mittlerweile orange und rot gefärbt. Vor ein paar Tagen hatte es bereits einmal geschneit, und bald würden die Flüsse zufrieren. Dann wurde es tagsüber kaum noch hell. Mariah liebte Hard Luck, und sie wollte nicht weggehen. Sie wusste, dass sie sich endlich entscheiden musste, hatte es bisher aber hinausgezögert.
Karen und Matt hatten ihr angeboten, dass sie im Hotel wohnen bleiben könnte, doch Mariah hatte dankend abgelehnt, denn die beiden hatten genug um die Ohren, zumal das Baby bald auf die Welt kommen würde. Sie musste also einige wichtige Entscheidungen treffen, die ihre Zukunft betrafen. In Hard Luck konnte sie nicht bleiben, aber der Gedanke daran, wegzugehen, machte sie sehr traurig. Mittlerweile fühlte sie sich in dem Ort mehr zu Hause als in Seattle, wo sie geboren und aufgewachsen war. Ihre Freunde waren hier. Christian war hier. Mariah schaukelte langsam hin und her, während sie sich den Kopf darüber zerbrach, welche Möglichkeiten sie hatte. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Christian gar nicht bemerkte. „Mariah?" Er stand auf der obersten Verandastufe und hatte einen Arm um den Stützpfeiler gelegt. Mariah war so überrascht, dass sie beinah aufgesprungen wäre. Komisch, dass sie ihn überhaupt nicht hatte kommen hören! „Hast du ein paar Minuten Zeit?" Offenbar war ihm klar, dass sie ihm bewusst aus dem Weg gegangen war, denn er fügte hinzu: „Ich war heute morgen bei Ben." „Und wie geht es ihm?" fragte sie gespannt. „Gut. Er lässt dich herzlich grüßen." „Ich will versuchen, diese Woche noch nach Fairbanks zu fliegen, um ihn zu besuchen." Sie merkte selbst, wie nervös sie klang. Allerdings war sie in Christians Gegenwart immer befangen ge wesen, besonders außerhalb des Büros. Christian kam zu ihr und setzte sich neben ihr auf die Schaukel. „Ich muss etwas mit dir besprechen." Mariah faltete die Hände und nahm sich vor, jetzt keine Schwäche zu zeigen „Ich werde nicht mehr für euch arbeiten, Christian, auch wenn du mir eine Gehaltserhöhung bietest." „Was ich mit dir besprechen will, hat nichts mit dem Büro zu tun, sondern mit dir und mir." Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde die Welt stillstehen. „Mit uns?" Da ihre Stimme sich beinah überschlug, verstummte Mariah sofort. Immer wenn sie mit Christian redete, schien nur dummes Zeug über ihre Lippen zu kommen. Entweder schwärmte sie von dem gegrillten Lachs auf dem Büfett, oder sie befahl ihm, den Mund zu halten, damit er ihren Traum nicht zerstörte. Kein Wunder, dass er sich nach einer weltgewandteren Begleiterin umgeschaut hatte. „Ja, mit uns", wiederholte er leise. „Ich möchte gern wissen, was du im Winter vorhast." Christian wollte, dass sie ging. Er wollte sie bitten, Hard Luck zu verlassen. Sie brachte kein Wort heraus. „Matt hat mit erzählt, dass du nicht hier im Hotel bleiben willst. In Anbetracht der Wohnsituation in Hard Luck hast du also keine großen Möglichkeiten " „Nein." Gequält wandte sie den Blick ab. „Ich möchte es dir nicht so schwer machen. Du willst, dass ich aus Hard Luck wegge he, und ich ..." „Was?" Nun lachte er schallend. Mariah fand das Ganze überhaupt nicht lustig. Ihr blieb nichts anderes übrig, als nach Seattle zurückzukehren. Ihre Eltern wür den sie bald mit Ihrer Aufmerksamkeit erdrücken und sofort Plä ne für ihre Zukunft schmieden. Und sie hatte nicht mehr die Kraft dazu, irgendwo noch einmal von vorn anzufangen. Es verletzte sie sehr, dass der Mann, den sie liebte, ausgerechnet das von ihr verlangte. „Ich werde kein Theater machen", flüsterte sie. „Mariah." Christian umfasste ihre Schultern und drehte sie zu sich herum, damit sie ihm in die Augen sah. „Ich will dich nicht bitten, Hard Luck zu verlassen - im Gegenteil. Ich möchte dich bitten, meine Frau zu werden."
„Deine Frau?" wiederholte sie verwirrt. „Soll das ein Witz sein?" „Kein Mann macht einen Heiratsantrag, wenn er keine ernsten Absichten hat. Ich habe noch nie etwas so ernst gemeint. Ich möchte dich heiraten." Sie war so verblüfft, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. „Sag doch etwas", drängte er. Christian wirkte so verunsichert, dass sie schwach wurde. Er wusste immer noch nicht, dass sie völlig verrückt nach ihm war! „Küss mich", flüsterte sie, sobald sie die Sprache wiedergefunden hatte. „Ich soll dich küssen?" Er warf einen Blick über die Schulter. „Hier? Jetzt?" „Ja", erwiderte sie ungeduldig. „Das ist nicht wieder einer der Träume, oder? Denn meine Gefühle dir gegenüber sind sehr echt." „Das, worum ich dich bitte, auch. Nun halt endlich den Mund, und küss mich." „Vergiss nicht, dass du es dir ausdrücklich gewünscht hast", meinte er, bevor er langsam den Kopf neigte. Zuerst war der Kuss ganz sanft - wie an dem Abend, als sie miteinander getanzt hatten. Doch dann ließ Christian seinem Verlangen freien Lauf und begann ein erotisches Spiel mit der Zunge. Mariah stöhnte leise, während sie sich an ihn schmiegte, und schon bald merkten sie, dass ein Kuss zu wenig war. Also küssten sie sich immer wieder. Mariah fühlte sich so leicht und unbeschwert, als würde sie fliegen. „Bald", flüsterte Christian, nachdem er sich irgendwann von ihr gelöst hatte. „Was bald?" wiederholte sie verwirrt. „Wir werden bald heiraten." „Aber..." „Niemand hätte sich id iotischer verhalten können als ich mich dir gegenüber im letzten Jahr. Ich liebe dich über alles, Mariah. Ich brauche dich." Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. „Du ... Bist du ganz sicher?" Da sie ihn auch über alles liebte, hätte sie es nicht ertragen, wenn er seine Meinung irgendwann änderte. „Und ob." Wieder küsste er sie. „Willst du meine Frau werden, Mariah?" Mariah nickte unter Tränen. Daraufhin warf er den Kopf in den Nacken und lachte. „Das ist überhaupt nicht komisch, Christian O'Halloran! " „Ich lache ja auch nicht über dich", beschwichtigte er sie, während er sie fester an sich zog, „sondern über uns." „Über uns?" „Wir werden sehr glücklich sein, Mariah." Dann presste er erneut seine Lippen auf ihre, um ihr zu beweisen, wie tief seine Gefühle für sie waren. „Ich habe mein ganzes Leben auf dich gewartet." „Christian, du bist wirklich der begriffsstutzigste Mann in ganz Alaska!" „Du hast recht." Christian schaute ihr tief in die Augen. „Ich habe eine Weile gebraucht, um mir über meine Gefühle klar zu werden, aber ich werde alles nachholen." Glücklich barg sie den Kopf an seiner Schulter. „Ich kann es kaum erwarten." „Das ist mein Ernst, Mariah. Ich möchte, dass wir so schnell wie möglich heiraten." Er sah sie an, als würde er damit rechnen, dass sie ihm widersprach. Doch Mariah hatte keine Einwände. -ENDE