Sean Beaufort
Im eiskalten Sturm
Auf der recht dünnen Spur ihres seltsamen Freundes, den sie den ,,Wikinger" nannten...
37 downloads
939 Views
720KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Sean Beaufort
Im eiskalten Sturm
Auf der recht dünnen Spur ihres seltsamen Freundes, den sie den ,,Wikinger" nannten, segelte die Crew der Seewölfe auf Nordkurs. Sie kannten die See und deren Gefahren, und sie wußten auch, daß ihr Schiff und sie jedem Sturm und jedem Seegang trotzen konnten - sie, eine der verwegensten Mannschaften, die je die Weltmeere unter ihren Kiel gezwungen hatten. Hinter dem dünnen Nebel eines fahlen Himmels versteckte sich die Sonne als dunkelrote Scheibe. Unheil schien in der Luft zu liegen - ein Hinweis für abergläubische Naturen, daß unbekannte Ungeheuer ans der Tiefe der dunkelgrünen Wogen auftauchen und nach der Schebecke greifen könnten. Philip Hasard Kiligrew wußte, daß diese düsteren Gedanken und Überlegungen nur die Stimmung der Arwenacks ausdrückten. Wenn endlich die Sonne durchbrach und die Luft erwärmte, wenn wieder heiseres Möwengeschrei ertönte und kleine Schaumkronen auf den Wellen tanzten, hob sich die Laune an Bord. Der Wind würde auffrischen, und mit ein bißchen Glück fanden sie den Wikinger schneller, als sie vermuteten...
Die Hauptpersonen des Romans: Pete Ballie - muß einmal mehr zeigen, daß er einer der besten Rudergänger ist. Kristian Hausler - wird mit drei anderen Fischern von den Arwenacks vorm Ertrin ken gerettet. Berthold - der Dorfschulze von Hoyer beweist gute Gastfreundschaft. Cedomir von Emch - der Magister ist Alchimist und hofft, bald die Formel zu finden, um Gold herstellen zu können. Philip Hasard Killigrew - segelt mit seinen Arwenacks dem Teufel wieder einmal den Schwanz ab und ist froh, einen geschützten Hafen zu finden.
1. „Eine Stimmung wie vor dem Welt untergang", sagte Philip Hasard Kil ligrew und schüttelte sich trotz des Schutzes und der Wärme der schwe ren, gefütterten Segeltuchjacke, die er trug. „Ich kann mich nicht erin nern, das Meer je auf diese Weise er lebt zu haben." „Noch verdammt kalt für diese Jah reszeit", murmelte Ben Brighton. „Aprilwetter, Sir." „Maiwetter", widersprach Dan O'Flynn. „Unsinn. Wie das?" brummte der Profos ungläubig. Dan O'Flynn holte zu einer längeren Erklärung aus. „Würdet ihr mehr lesen und lernen, dann hättet ihr das längst kapiert. In Dänemark, Schweden und überhaupt allen protestantischen Ländern gilt noch der sogenannte Julianische Kalender. Nach Julius Cäsar be nannt, dem alten Römer, klar?" „Schon mal was von dem gehört", sagte Edwin Carberry. Die Haut der Männer war gerötet. Die Kälte und der Niederschlag des dünnen Nebels dauerten schon viel zu lange und blieben mehr als lästig. „Also. Vor zehn Jahren führte
Papst Gregor einen genaueren Kalen der ein. Er war und ist dort gültig, wo der katholische Glaube sich ausge breitet und gefestigt hat. Der Kalen der des Julius liegt hinter dem des Gregor um zehn Tage zurück. Wir können es uns sozusagen aussuchen." „Welcher Kalender gilt in Däne mark?" fragte Ben Brighton. „Der Julianische Kalender", erwi derte Dan O'Flynn und rieb sich die erstarrten Hände. „Und was bedeutet der Unterschied für uns?" erkundigte sich der Seewolf und suchte das dunkle Wasser mit den Blicken ab. „Im Grund überhaupt nichts", sagte Dan. „Ich wollte es nur erwäh nen." „Sag uns lieber, wo wir Thorfin Njal finden", brummte Ferris Tucker verdrossen. „Und wann dieses Mist wetter endlich aufhört." „Ich will mein Bestes tun", entgeg nete Dan und grinste mit schmerzen den Gesichtsmuskeln. Die See zeigte sich heute von einer merkwürdigen Seite. Der Nebel war dünn, und man sah mindestens ein einhalb Seemeilen weit. Das blaugraue Wasser wälzte sich mit langen, breiten Wellen heran. Es
5 gab nur wenige, unbedeutende Schaumkronen, die sich rasch auflö sten. Die Oberfläche des Wassers war mit einem seltsamen Rautenmuster überzogen, das sich ständig verän derte. Der Wind wehte aus dem westli chen Quadranten, in langen Stößen und ohne rechte Kraft. Die Sche becke segelte fast genau nach Nord, und das Leben an Bord verlief seit dem letzten Wachwechsel so normal und ruhig wie gewohnt. Seit zwanzig Stunden hatten die Seewölfe jenes ungute Gefühl. Es war, als hole die See Atem und warte. Aber auf was? Auf eine Riesenwelle? Auf einen Sturm? Die Auswahl des Schreckens auf dem Meer war nicht sehr groß - sie glaubten, jeden genau zu kennen. „Wo sind wir genau?" fragte der Erste. Dan O'Flynn zog bedauernd die Schultern hoch. Leise summte der Wind in der Takelage, und nur schwach knatterten die Dreiecksse gel. „Genau kann ich es auch nicht sa gen", erwiderte er. „Wir segeln auf Nordkurs, kein Zweifel. An Steuer bord liegt das Herzogtum Schleswig. Das Land Dittmarschen sollte Steuer bord achteraus zurückgeblieben sein, wir nähern uns Jütland im König reich Dänemark. Die Inselkette im Watt müßte jeden Augenblick aus dem Nebel auftauchen. Ich kann nicht einmal die Sonne richtig sehen, und ich habe auch heute nacht nicht einen Stern entdeckt, nicht einen ein zigen." „Jedenfalls haben wir die Spur die ses Verrückten nicht ganz verloren", meinte der Seewolf. Das Abenteuer mit dem holländi schen Kauffahrer war halbwegs ver gessen. Es lag ebenso weit zurück wie
die Orte Amsterdam und Texel. Sie mußten den Poltermann treffen, be vor er den Thorgeyrschen Hof er reicht und wieder zum Stützpunkt in der Karibik aufgebrochen war. Zischend schnitt der scharfe Bug der Schebecke durch das eiskalte Wasser. Nur wenige Spritzer Gischt erreichten die Planken im Bug. Jeder, der nicht dringend an Deck ge braucht wurde, hatte sich in den Schutz des wärmenden Schiffskör pers verkrochen. „Hoffentlich finden wir ihn, bevor er wieder seinen nordischen Rappel bekommt", sagte Ben Brighton und stieß ein heiseres Lachen aus. Die Atemluft stob in langen Wol ken von den Nasen und Lippen der Männer. Es war, wie Roger Brighton immer wieder beteuerte, lausig kalt. Die Heckspur der Schebecke lief in ein spitzes Dreieck aus, dessen Rän der schneeweiß schäumten. Hart und dumpf schlugen die Wellen gegen die Planken. „Ich kann nicht behaupten, daß mir dieses Wetter gefällt", sagte der See wolf nach einiger Zeit. Piet Straaten stand an der Pinne und blies abwechselnd gegen die Fin ger seiner dicken Handschuhe, was gegen die beißende Kälte aber nicht viel half. „Da bist du nicht allein, mit dieser Meinung, Sir", sagte der Profos grim mig. Im Südosten, drei Handbreiten über der unsichtbaren Kimm, stand die Sonne trübe und dunkelrot hinter dem fahlen Nebel. Das Licht wirkte unheimlich und strahlte drohende Gefahren aus. Old Donegal O'Flynn, der hinter den meisten unerklärli chen Erscheinungen Spuk und das Wirken von Geistern witterte, hatte ihnen allen das Schlimmste prophe zeit. Er brummelte von schauerlichen
6 Seeungeheuern, die auftauchen und das Schiff angreifen würden. „Aber jedes Wetter ändert sich auch wieder'', fügte Carberry hinzu. „Zum Besseren oder Schlechteren", sagte Ben Brighton. ,,Täusche ich mich, oder riecht es tatsächlich nach Land?" ,,Es riecht nach Fisch'', sagte Philip Hasard Killigrew. Der schlanke, langgestreckte Kör per des Schiffes glitt mit den gewohn ten Bewegungen durch die Wellen der Nordsee. Natürlich roch es nach dem schwach gischtenden Salzwas ser, aber auch nach kräftigem Tee. Dünner Rauch drang aus dem Raum unter dem Achterdeck und ver mischte sich mit anderen Gerüchen. Die feuchte Kälte schnitt selbst durch die dicke Kleidung und kroch von den Sohlen der Stiefel über die Knöchel und die Waden aufwärts. Aus dem Nebel begannen sich an ei ner ungewöhnlichen Stelle einzelne Fetzen zu lösen. Backbord voraus schien sich auch die Höhe der Wellen zu verändern. Aufmerksam blickten die Männer dorthin, nachdem Dan O'Flynn sie darauf hingewiesen hatte. Der See wolf zog das Spektiv und starrte schweigend hindurch. „Die Nacht war kalt und ungemüt lich. Reichlich ungemütlich", sagte Edwin Carberry und steckte die linke Hand in die Tasche der Jacke. „Und der Tag heute verspricht nichts ande res." „Wahrscheinlich verspricht er we niger, als er halten wird", sagte Ha sard und schüttelte sich. „Gefällt mir gar nicht, was ich sehen muß." Er gab Dan O'Flynn das Spektiv. „Was siehst du?" fragte Ben. „Höchst seltsame Wellen", erwi derte Dan. „Eigentlich müßte ich zu geben, daß an dem abergläubischen
Gewäsch meines lieben Vaters etwas dran ist. Die Wellen kreuzen sich, als gäbe es Grundseen. Und jetzt - nichts mehr.'' Es schien plötzlich kälter geworden zu sein. Nach einer Weile erklärte Hasard: „Unser Schiff ist in ausgezeichnetem Zustand. Die Reparaturen in London waren notwendig und nicht eben bil lig. Aber dafür können wir uns in den schwersten Sturm wagen. Ich weiß, daß im Frühjahr die Nordsee noch weniger berechenbar ist. Nur der Ne bel bereitet mir echte Sorgen. Ich möchte ungern, daß wir eine Insel im Watt rammen." „Nach meinen letzten Berechnun gen segeln wir genügend weit. Wir sind gut vom Ufer frei." Dan O'Flynn hob fröstelnd die Schultern. Eine gewisse Ratlosigkeit hatte sie alle gepackt. Auch der Kapitän war nicht frei davon. Wieder zerriß ein kurzer, kalter Windstoß einen Teil der Nebelwand und fuhr in die straff gespannten Segel. Die Schebecke legte sich über und richtete sich unter dem Ächzen und Knarren des Tau werks und des Holzes langsam wie der auf. „Wir können nicht Anker werfen und liegenbleiben", entschied der Seewolf. „Also segeln wir weiter. Der Nebel wird sich, wenn der Wind auf frischt, auflösen." „Hoffentlich", brummte Carberry. „Mit christlicher Seefahrt hat das nämlich nichts mehr zu tun." Mittlerweile mußten sich die See wölfe der Höhe von Esbjerg nähern. Dan O'Flynn vermutete, daß sie ir gendwo zwischen den nordfriesi schen Inseln und Römö segelten. Ihr Etmal würde nicht sehr groß sein, bei diesem Wind. Wieder legte sich die Schebecke schwer über, tauchte den Bug in die
7 Wellen, und ein schauer Von eisigen Wassertropfen Und blasiger Gischt prasselte über die Planken vom Bug bis ins Heck. Die Seewölfe duckten sich und wandten sich ab. „Ich wäre jetzt auch lieber in der Karibik. Da ist es wenigstens wär mer", sagte Edwin Carberry und fluchte. „Lieber schwitzen als frie ren." „Auch das geht vorbei, Ed", sagte Hasard beschwichtigend. Seine eis blauen Augen schienen fröhlich zu blitzen. „Bald haben wir den Wikin ger eingeholt, und dann geht es in an dere Meere." „Ob ich das noch erlebe?'' fragte Carberry zweifelnd. Hasard dachte an des Schreiben der Königin Elisabeth und mußte sich eingestehen, daß er auch nicht ahnte, wie dieser Ausflug in den un gemütlichen Norden enden Würde. Aufmerksam beobachtete er die Se gel und jede Handbreit des hart ge spannten Tauwerks. Die Schebecke war schneller geworden, daran be stand kein Zweifel. Achteraus lichtete sich der Nebel, aber dahinter war auch nichts ande res als Nebel zu erkennen. Die Menge der Schaumkronen nahm zu, die wei ßen Dreiecke wurden größer und überschlugen sich. „Du hast recht. Der Wind frischt auf", sagte Ben Brighton zufrieden. „Ich bin hartgefroren. Kann man da gegen nichts unternehmen?" „Wie immer", entgegnete der See wolf und lachte. „Wir haben doch noch ein Fäßchen von diesem Calva dos unter Deck? Sagt Mac Pellew er soll seinen Tee endlich zubereiten und mit einem kräftigen Schluck ver stärken." „Calvados. Das ist ein guter Vor schlag", sagte der Profos. Die Normannen hatten den Seewöl
fen die angebliche Geschichte dieses Getränks erzählt, das aus Apfelwein gebrannt wurde. Ein Schiff der Unbe siegbaren Armada des Zweiten Philipp war an der steilen Küste der Normandie gescheitert. Die Norman nen hatten den größten Teil der spa nischen Besatzung und ein paar Fäs ser Sherrywein gerettet, zudem etli che Kanonen, die sie zum eigenen Schutz aufstellten. Das Schiff, die „Santa Maria el Calvador", gab dem Landstrich den Namen, und in den Sherryfässern reiften in der Zukunft die Apfelbrände. Der Inhalt des Fäß chens, das die Seewölfe erstanden hatten, war t r o t z der verwegenen und Seltsamen Destilliergeräte von her vorragendem Geschmack - nicht ein mal einen schweren Kopf kriegte man davon. Als Mac Pellew mit einem Krug und den dicken Bechern auf dem Achterdeck auftauchte, überdeckte der starke Geruch selbst den des See wassers. „Endlich!" rief Ben Brighton. „Wurde auch Zeit." Mac Pellew federte die Bewegun gen des Schiffsdecks mit den Knien ab und goß langsam einen Becher nach dem anderen Voll. Gierig nah men die Männer kleine Schlucke, zo gen die Fäustlinge aus und wärmten die Finger an den heißen Bechern. Durch den Nebel tönten heisere Mö wenschreie. „Koch doch deinen Tee selbst", murmelte Mac Pellew griesgrämig und schnüffelte an seinem Krug. „Kannst du auch nicht, wie?" „Nein. Keine Ahnung. Du bist der ungekrönte Meister des heißen Tees", erklärte Ben grinsend. „Schmeckt Wirklich, deine Brühe. Mehr Calva dos wäre auch kein Schaden." „Fast keiner mehr da." Auch der Rudergänger erhielt sei
8 nen gefüllten Becher. Der Wind nahm an Kraft zu und begann zu drehen. Die Pausen zwischen den einzelnen Stößen wurden kürzer. An einigen Stellen wurde der Nebel dichter und vom Wind in die Höhe gewirbelt. Das Meer zeigte eine größere Fläche, und was Kapitän Killigrew und seine Männer sahen, freute sie nicht. Über all kochten Schaumkronen auf und überschlugen sich. Die Sonne tauchte auf, veränderte ihre Farbe ins Gelbliche und ver schwand wieder. Ununterbrochen än derte das aufgewühlte Meer seine Farbe. Schließlich wurde es langsam schwarz und drohend. „Gentlemen", sagte Hasard und ließ seinen Becher wieder füllen, „das sieht nach einem soliden Sturm aus." „Ich sehe das nicht anders", meinte Dan O'Flynn. Der Profos nahm den letzten Schluck und rief: „Ich bin unter Deck und sorge dafür, daß alles festgezurrt wird. Es ist besser, wenn niemand überrascht wird." . Edwin Carberry warf Mac den lee ren Becher zu und turnte, sich am Tauwerk und am Schanzkleid abstüt zend, zum Niedergang und von dort aus unter Deck. Er brüllte durch die Geräusche der Wellen, des Windes und der aneinanderreihenden Ver bände und Planken seine Befehle und scheuchte die Seewölfe durch alle Winkel des Schiffes. Eine halbe Stunde später sagte der Seewolf mit heruntergezogenen Mundwinkeln: „Es sieht nicht nur nach Sturm aus. Es gibt Sturm - und zwar in Kürze." „Einen besonders unangenehmen, das sagen mir meine alten Knochen. Das Bein zwackt wie verrückt!" schrie Old Donegal nach oben. „Und wärmer wird es auch nicht, Sir." „Ich merke es selbst."
Unter Deck schlief binnen kurzer Zeit niemand mehr. Die Köche sicher ten die wenige Glut unter ihren Kes seln. Jeder wichtige Gegenstand, der auf Wanderschaft gehen konnte, wurde verstaut und gesichert. Mit Tampen und Enden zurrten die See wölfe die Kisten und die Teile der La dung fest, die sich losarbeiten konn ten. Die beiden Lenzpumpen wurden kontrolliert und probeweise bewegt. Roger Brighton und Will Thorne bereiteten sich darauf vor, Reffs in die Segel zu schlagen oder die Lein wand ganz herunterzunehmen. Noch war es verhältnismäßig ruhig. Die Schebecke lief schneller und härter am Wind, aber der Bug hob sich hö her und höher und setzte immer schärfer und mit ständig größer wer denden Gischtschauern in die Wellen ein. Gurgelnd zerteilte sich das Was ser hinter dem Heck. Der Druck auf das Ruderblatt nahm zu. „Kommst du noch klar?" rief Ha sard dem Rudergänger zu. „Keine größeren Schwierigkeiten", erwiderte Piet Straaten. „Später werde ich Verstärkung brauchen." Das Möwengeschrei hatte aufge hört. Losgerissene Nebelfelder ver mischten sich mit dem weißen Schaum und wirbelten davon. Der Wind hatte zu wimmern und zu heu len angefangen, wehte aus Nordwest, West oder Südwest und blies ohne Pausen. Die Wellen wurden steiler und höher, und bald war die gesamte Crew an Deck des stampfenden Schif fes. „Zuerst nehmen wir das Großsegel weg", ordnete der Seewolf an. „War tet auf mein Kommando." „Aye, Sir." Etwa eine halbe Stunde lang wurde die Schebecke von dem heulenden Wind nach Nordnordost gejagt. Der aufkommende Sturm blies unendlich
9 langsam den Nebel weg, und dwars an Steuerbord tauchten undeutlich die Konturen langgestreckter Inseln oder Landflächen auf, immer wieder verschwanden sie hinter den Wellen bergen oder im Dunst. Aufmerksam starrte Dan O'Flynn hinüber und verglich, was er sah, mit den Beschreibungen seiner Karten. Aber auch die Linsen des Spektivs sagten ihm nicht deutlich, wo sie sich befanden. Die vier Lateinersegel wa ren im unteren Drittel triefend naß und so hart vom Wind gespannt, daß jeder auftreffende Wassertropfen ein scharfes, knatterndes Geräusch er zeugte. Das laufende Gut ächzte in den Tal jen. Besorgt schätzte Hasard die Lage ab. Die winzige Stegfock über dem Bugspriet, die Fock und das stüt zende Segel des Besanmastes konn ten stehenbleiben. „Schaffst du's noch eine Weile?" schrie er dem Rudergänger zu. „Schickt mir Jan. Ich brauche Hilfe." „Verstanden. Holt ihn!" rief Ha sard. Jan Ranse, der helläugige und stämmige Freund von Piet, kletterte an Deck und knotete ein Tauende in seinen breiten Gürtel. „Bin schon da", sagte er, nickte dem Seewolf zu und packte die Pinne. „War auch höchste Zeit!" rief ihm Piet Straaten zu. Inzwischen hatte jeder an Deck er kennen müssen, daß aus dem Stark wind ein Sturm wurde. Er hatte sich schrittweise entwickelt und nahm gleichmäßig an Stärke zu. Endlich gab der Kapitän laut und unmißverständlich sein Kommando: „In den Wind! Bergt das Großsegel!" Die Schebecke drehte sich schlin gernd und stampfend in den Wind. Ein knappes Dutzend Seewölfe küm
merten sich, jeder an einer anderen Stelle, um das große Lateinersegel. Die Schoten wurden losgeschlagen. Einen Augenblick lang stellte sich die lange Rahrute senkrecht, dann wurde sie waagerecht gezogen. Die schwere nasse Leinwand wurde aufgetucht und mit losen Enden so fest wie mög lich ans Holz gezurrt. Trotz des Sturms, der an der Leinwand riß und zerrte, gelang es den Seewölfen, das Segel völlig dicht zu belegen und die Knoten festzuzurren. Wieder bewegte sich die Rahrute und wurde senkrecht gestellt. Das laufende Gut kreischte in den Blök ken. Die Schoten wurden aufgeschos sen und sturmsicher belegt. Weitere Tauschlingen befestigten die Rute am Mast, während die Schebecke wie der herumschwenkte und ruckartig Fahrt aufnahm. Die Gefahr, daß der Sturm Segel und Rah zerfetzte und zerbrach, war mit größter Wahr scheinlichkeit gebannt. Die Crew sprang auseinander, um sich nicht gegenseitig im Weg zu sein. Die letzten Tampen wurden aufge klart. Die obere Spitze der Rahrute schwankte und vibrierte summend im Sturm. Wieder schoß von Back bord ein gewaltiger Schwall Wasser über die Bugplanken und zischte übers Deck. „Jeder, der nicht an Deck ge braucht wird", schrie Ben Brighton gegen den Sturm an, „bringt sich in Sicherheit! Es wird hart, Freunde." Die Schebecke bäumte sich auf, schüttelte sich und krachte mit dem scharf gehöhlten Bug tief in die Wel len. Der Bugspriet und das Tauwerk, die Kette und das Segel verschwan den für einen Augenblick im Wasser, tauchten in einer Gischtwolke wieder auf, und wieder raste eine Welle, die schneeweiß aufschäumte, fast über das gesamte Deck. Die Culverinen,
10 dick in Leinwand verpackt und mit Tauwerk festgezurrt, schüttelten sich in den Befestigungen und zerrten an den Halteringen. Die beiden Rudergänger, der Kapi tän und der Erste Offizier, Roger Brighton, der Takelmeister, und Dan O'Flynn klammerten sich auf dem Grätingsdeck fest. Jeder von ihnen hatte den Tampen, an dem er hing, an einem massiven Stück des Schanz kleides oder am Mast belegt. Der Sturm zerrte an den feuchten Hüten und überschüttete das gesamte Schiff fast ständig mit Wassertrop fen und Gischtflocken. „Immerhin sehen wir, was los ist!" schrie Dan und sicherte sein Spektiv. „Die Nordsee zeigt es uns!" brüllte der Takelmeister zurück. Nur noch fern über dem Horizont lag dünner Nebel. Dennoch blieb die Sonne, die ihren höchsten Stand er reicht hatte, von bösartiger rötlicher Färbung. Schattenloses Licht brei tete sich aus und tauchte das Meer in sein ungesund wirkendes Licht. Der Wind hatte gedreht und fauchte genau aus Nord. Die Schebecke lag schwer nach Steuerbord über, aber noch konnte sie auf Kurs gehalten werden, aller dings waren die Rudergänger um zwei Strich abgefallen. Der Kurs würde sich, wenn der Wind anhielt, nicht lange halten lassen. „Es wird ein schwerer Kampf", sagte der Seewolf leise zu sich selbst. Der Sturm riß ihm die Worte von den blaugefrorenen Lippen. Die Oberfläche des Meeres war in Aufruhr. Die ersten schweren Wellen hatten ihre Richtung geändert und liefen aus Nord heran. Der Gischt der Schaum kronen wurde von einzelnen harten Böen waagerecht von den Wogen kämmen weggerissen und verwan
delte sich in kalten Regen, der wie kleine Steine gegen die Planken knat terte. Seit der Wind derart aufge frischt hatte, bereitete sich Hasard ernsthafte Sorgen, die das Überleben der Mannschaft und den Zustand des Schiffes betrafen. „Ich glaube, ich muß eine Entschei dung treffen", murmelte er. Wenn sie versuchten, mit dem ver bliebenen Besansegel sowie der Fock und der Stagfock weiterhin Nordkurs zu segeln, würden sie vielleicht tage lang mit dem Sturm und den Wellen der, Nordsee zu kämpfen haben. Was brachte dieser gefährliche Kampf? Einen Gewinn von wenigen Seemei len, der durch häufiges Kreuzen er zielt werden mußte. Crew und Schiff würde dieser Versuch bis zum Äußer sten erschöpfen und entkräften. Hinaus aufs offene Meer? Auf keinen Fall. Dort baute sich der Sturm auf, dort würden die Wogen noch gewaltiger werden, gefährlicher und - tödlich. An Steuerbord lag das Land, auch da drohten Gefahren. Es gab flache Inseln, unbekannte Untie fen, Sandbänke und Wattflächen, die jetzt von der Sturmflut bedeckt wa ren, einige Deiche und winzige Ort schaften, von denen er bestenfalls den Namen kannte. Stenmark kannte diesen Teil der Küste auch nicht besonders gut, seine Aussagen blieben reichlich vage. Von Sven Nyberg wußten sie, daß die ge schützten Häfen in dieser Gegend sehr rar waren. Der Däne hatte emp fohlen, Esbjerg anzulaufen, wenn es gelang. Dort würden sie zunächst in den Schutz einer Bucht gelangen, schließlich in einen gut ausgerüsteten dänischen Hafen. Würde der Seewolf den Kurs nach Osten legen, gelangten sie auf den Kämmen der Wellenungeheuer blitz schnell unter Land. Aber wenn sie
11 auf keine Einfahrt trafen, geriet die Schebecke entweder auf Legerwall oder würde nicht mehr gegenan se geln können, und diese Gefahr stand als wahres Schreckensbild vor Ha sards innerem Auge. „Es bleibt nur eins!" stieß er her vor. „Zurück!" Schwemmland erstreckte sich von Esbjerg bis hinunter zur deutschen Küste, sandiges Watt, eine tödliche Falle für alle Schiffe bei einem sol chen Sturmwetter. Hasard winkte, auf den Planken taumelnd, Nils Lar sen und Dan O'Flynn zu sich auf Ach terdeck. Die Männer waren triefnaß, und unentwegt schleuderte der Bug Wassermassen und Regenhagel über die Länge des Decks, bis hinauf zu den Rudergängern. Sie mußten brüllen, um sich zu ver ständigen. „Weißt du inzwischen", fragte Ha sard, „wo wir sind?" „Blavands Huk liegt voraus. Elf Seemeilen!" schrie Dan zurück. „Das schaffen wir niemals!" brüllte der Däne. Für einen Augenblick riß der Nebel auf. Weiße Wolken, die in rasender Geschwindigkeit die Sonne bedeck ten und wieder freigaben, jagten über den Himmel. Wieder hob sich das Heck der Schebecke weit über eine Welle, die unter dem Schiff hindurch lief, es schüttelte und umherwarf und dann den Bug steil hob. Bedrohlich knirschten Holz und Tauwerkverbin dungen. Unter Deck gab es ein gräßli ches Klirren. „Bist du sicher?" „Völlig", antwortete Dan dem See wolf, „und auch leewärts von Römö ist nur sandiges Watt." „Was schlagt ihr vor?" brüllte Ha sard und wischte sich Salzwasser aus dem Gesicht. „Zurück! Nach Süd!" schrie Dan
O'Flynn und deutete in die Richtung, in der die Sonne wieder hinter den Nebelwolken zu verschwinden drohte. „Welcher Hafen?" wollte der See wolf wissen. Vom Bug dröhnten knirschende und splitternde Geräusche zu ihnen. Die straffen Taue schwangen wie die Saiten von schlechtgespielten Zupfin strumenten, und sie klangen auch nicht viel anders. „Zum Beispiel Dagebüll. Dann ha ben wir, vielleicht, den Windschatten von Sylt Oder wir segeln nach Hu sum. Ist aber eine ganze Ecke weiter südlich." Der Seewolf rief halb verzweifelt: „Und bis Fanö schaffen wir es nicht mehr?" „Nur dann, wenn dieser rasende Sturm aufhört! Und das tut er nicht so bald!" rief Nils Larsen ebenso laut zurück. Die Insel Fanö lag südwestlich vor Esbjerg. Zwischen der Küste und der niedrigen Insel wäre das Schiff ver mutlich eine Spur sicherer, denn die Wellen würden in dieser Zone weni ger steil sein und sich nicht über schlagen. Aber der Sturm pfiff, heulte und kreischte auch in diesem Gewässer ungehindert. Immerhin hatten sowohl Esbjerg als auch Fanö einen Hafen. Dies war in Dan O'Flynns neuen Karten deutlich ver merkt. „Also Südkurs?" brüllte der See wolf. „Unbedingt", antwortete der Däne. „Carberry meint auch, daß der Sturm ein paar Tage dauert." „Das glaube ich auch", sagte Ha sard. „Und es wird immer härter." Die erste wirklich schwere Welle rauschte von achtern heran, während die Schebecke einen endlos langen Augenblick in der Luft hing und, ob
12 wohl der Bug hoch in die Wolken deu tete, schwer nach Steuerbord krängte. Die Riesenwoge, deren Flanke zuerst fast senkrecht stand, sich dann schäumend und prasselnd auf das Schiff zuneigte und schließ lich mit donnerartigem Getöse über kippte und zusammenbrach, traf den achterlichsten Teil des Schanzkleides und verwandelte das Heck in einen Wirbel aus Wasser, kleinen Holz trümmern und Gischt. Ächzend richtete sich die Sche becke wieder auf. Die Segel knallten und knatterten, das Wasser wurde aus der Leinwand herausgepeitscht. Hasard holte tief Luft und hielt die linke Hand an den Mund. „Achtung! Alle Mann herhören! Wir gehen auf Südkurs! Haltet euch bereit auf mein Kommando!" Die Seewölfe hoben die Arme und zeigten klar. Sie hatten verstanden. Die beiden Rudergänger schüttelten sich und fluchten. Die Welle hatte tat sächlich einen Teil des Schanzkleides in Splitter zerschlagen. Das Ruder ließ sich ebenso bewegen wie die Pinne, aber schon die nächste bre chende Welle konnte das Ruder teil weise oder ganz zerstören. Die Folgen würden vernichtend sein. „Nur einen Moment Ruhe", keuchte der Seewolf und zog sich am Sicher heitstampen zu den angeseilten Ru dergängern. Er schrie: „Wir gehen weit vor den Inseln auf Südkurs, klar? Wenn es etwas ruhiger w i r d . . . " „Sieht nicht danach aus, Sir", sagte Jan Ranse. „Und du, Dan befragst noch einmal deine Karten. Vielleicht finden wir auf der Höhe von Föhr einen Hafen, Oder eine geschützte Bucht? Ver suche es herauszufinden." „Selbstverständlich!" schrie Dan O'Flynn und duckte sich unter einer
überkommenden Welle, bevor er un ter Deck huschte. Der Seewolf wartete einige Atem züge lang voller Spannung. Als er sah, daß sich die nächsten Wellen berge mit weniger Wut heranbeweg ten, schrie er seine Kommandos. Die Leinen flogen los, die Rahruten hoben sich in die Senkrechte. Die Schoten wurden auf den anderen Bug genommen und mit klammen Fin gern fieberhaft schnell belegt. Die Schebecke tanzte hin und her, die Masttopps pendelten, die Männer wurden umhergeschleudert und ver suchten gleichzeitig, sich festzuhal ten und die Manöver auszuführen. Die nächste Welle warf das Schiff halb herum, der Wind fing sich in der Fock und riß die Leinwand fast aus den Fäusten der Mannschaft. „Vorsicht!" schrie der Takelmei ster und stemmte sich gegen das Tau ende. Zwischen überkippenden Bre chern, hilflos stampfend und bok kend wie ein verrückter Gaul, schwang die Schebecke langsam her um. Der Bugspriet, von dem der vor derste Teil abgesplittert war und nur noch an zwei Enden hing, zeigte eben noch nach Norden. Jetzt beschrieb er einen zitternden und schwankenden Halbkreis und gelangte, als die Scho ten neu belegt waren und der Wind wieder in die Segel stieß, nach Süden deutend wieder zur Ruhe. Die Sche becke vollführte einen Satz und schüttelte sich, als wolle sie das Was ser von sich abstreifen. „Fertig!" „Zurück, unter Deck!" „Belegt den Kram!" dröhnte der Profos. Jetzt kamen Wind und Wellen von achtern. Das Heulen war noch lauter geworden. Scheinbar aus dem schwarzen Nichts der unergründli
13 chen Tiefe bildeten sich Kreuzseen. Sie hämmerten mit furchtbarer Kraft gegen die Planken des Schiffs. An Backbord und Steuerbord krachten schwere Brecher über das Schanz kleid und liefen gurgelnd ins Innere. Die Schebecke arbeitete sich an der Flanke einer dahinstürmenden Welle aufwärts und hob sich. Das Heck schnitt für einige Augenblicke unter. Dann wurde es in die Höhe katapul tiert, und die nachfolgende Woge brach genau über dem Ende des Grä tingsdecks. Mit schmetterndem Split tern brach ein vier Schritte langes Stück des Schanzkleides heraus. Die Trümmer wurden an den Rudergän gern vorbei bis zum Niedergang ge schleudert. Auf dem Kamm der Welle zögerte die Schebecke, wiegte sich hin und her und fing zu gleiten an. Der lang gestreckte Schiffskörper blieb waa gerecht im Wasser, das von beiden Seiten gierig über Deck leckte. Lange, zitternde Schwingungen durchliefen die Schebecke vom Bug spriet bis zum Ruderblatt. Unter Deck gab es eine Reihe dumpfer Schläge, dann ertönten in ei ner kurzen Pause im Gebrüll des Sturms die Flüche der Crew. Das hei sere Fauchen der Lenzpumpe wurde deutlicher. Sie spie durch die Le derschläuche blasiges Wasser aus der Bilge, das durch ein Speigatt abfloß. Die rasend schnelle Fahrt der Sche becke mit achterlichem Wind war ebenso gefährlich, wie der Versuch, hart am Wind gegenan zu knüppeln. Für einen überraschend langen Au genblick stellte sich trügerische Ruhe ein. Der lange Schiffsrumpf raste mit derselben scheinbaren Geschwindig keit wie die Welle dahin, in der sich die Schebecke befand. Die Segel wa ren so prall, als wären sie in einem Stück gefroren.
Der heulende Sturm warf fast ohne Pause eiskaltes Wasser und Gischt in die Rücken der Männer. Die Wellen, schwarz und von weißen Schaum kämmen gekrönt, hoben sich hinter dem zertrümmerten Heck drohend in die Höhe. An Backbord schien, un deutlich und nur ab und zu im grellen Sonnenlicht zu sehen, die Landschaft der Küste vorbeizujagen. Jan Ranse löste den durchfrorenen Piet Straaten ab, dessen Hände ge fühllos geworden waren. Zuerst hob sich langsam der Bug. Der Seewolf hielt den Atem an, als er durch den Schleier von Was sertropfen und Schaumflocken er kennen mußte, wie sich sein Schiff verhielt. Eine Welle zuckte aus der Masse der aufgewühlten Spitzen her auf. Der Rest des weit ausragenden Bugspriets verschwand im schwarz grünen Wasser. Als Hasard wieder etwas erkennen konnte, sah er, daß die vordere Hälfte der massiven Spiere fehlte. Auch die baumelnden, wild um sich schla genden Tauenden waren verschwun den. Der Fockmast wurde nur noch vom zweiten, dünneren Stag gehal ten, das etwa in der Mitte des Spriets angriff. „Verdammte Nordsee!" stöhnte er auf. Der Bug hob sich mehr und mehr. Der Seewolf blickte über die Schulter und sah, wie das Heck einzutauchen begann. Wasser leckte als ununter brochene Fläche über die Planken des Grätingsdecks. Die Rudergänger hingen an der Pinne und versuchten, ihre Stiefel gegen den Druck und den Sog des Wassers einzustemmen. Noch während sich das Heck wie der hob, brach die Riesenwelle. Ha sard umschlang mit beiden Armen den Mast und wickelte die Haltetaue blitzschnell zweimal um die Handge
14 lenke. Er duckte sich und hielt wieder den Atem an. Plötzlich wurde es dunkel um ihn. Die Wassermassen brachen mit Tonnengewichten auf seinen Kopf, den Hals und die Schultern nieder. Es dröhnte und zischte, und wie ein Keu lenhieb traf ihn ein losgerissenes Ende zwischen Schultern und Oberschenkel. Im selben Moment war er völlig durchnäßt. Als er Luft holte, schluckte er Wasser und hu stete. Das Schiff wurde tief ins Wasser gedrückt, legte sich zuerst nach Steuerbord, dann nach Backbord und richtete sich wieder auf. Die Segel hingen herunter wie Lumpen. End lich sah der Seewolf wieder einiger maßen klar, obwohl das Salzwasser in seinen Augen brannte und ihm Wasser, vermischt mit seinem kalten Schweiß, übers Gesicht rann. Sein Blick fiel auf die Masten und Segel - wunderbarerweise waren sie nicht über Bord gegangen. In breiten Strömen lief das Wasser in alle Richtungen ab. Aus den Öff nungen der Pumpenschläuche schos sen oberarmdicke Wasserstrahlen. Er drehte sich um: die beiden Männer an der Pinne halfen sich gegenseitig hoch. Die Riesenwelle hatte sie von den Füßen gerissen. Im Norden hatte sich wieder eine riesige Nebelwand aufgebaut, aber die Sonne stach gerade jetzt aus der Mittagshöhe hinunter und zeigte deutlich eine riesige Fläche des aufge wühlten Meeres. „Noch ein paar solcher Sturzseen", keuchte Hasard, „und wir sind alle bei den Fischen." Die Schebecke, deren Deck fast menschenleer war, raste zwischen Wellenbergen nach Süden und schlin gerte von einer Seite des Wellentales zur anderen. Auf allen vieren, ein
Tau hinter sich herschleifend, kroch Dan O'Flynn über den Niedergang aufs Achterdeck. „Ich hab's'' schrie er. Der Seewolf starrte ihn an, als bringe er die Rettung. „Wo sind wir?" brüllte er zurück. „Schon vor Dagebüll?" „Nein. Voraus liegt Sylt. Wir müs sen es an Steuerbord lassen." Der Seewolf rief sich die Zeichnung auf der Karte ins Gedächtnis, die Kurslinien und die Richtungen der Kompaßrose. Der Kurs war gut, in diesen Stunden jedenfalls der beste, den sie segeln konnten. Und so gut wie der einzige. Südlich von Sylt war Wattenmeer, dann folgten Inselchen und Halligen. Das Land im Osten nannte sich Nord friesland, und im südöstlichen Win kel lag die Stadt Husum. „Und - hinter Sylt?" „Ein Hafen vor Dagebüll!" schrie Dan O'Flynn. „Südsüdost-Kurs, Sir. Ich kann den Namen nicht genau le sen. Karte ist naß geworden. Aber es ist ein geschützter Hafen." „Fischerhafen?" „Ja. Es geht auch zwischen Sylt und dem Land vorbei, Sir." Mühsam zeigte der Seewolf zu ei nem Stück Land Backbord achteraus, das sich flach hinter den weißen Brandungsstreifen hob. Die Insel wenn es eine war - sah aus wie der bewachsene Rücken eines riesigen Tiefseetieres. „Ist das Römö? Ganz sicher?" „Es ist so, Sir." „Gut. Zurück, unter Deck!" Sie hatten Römö schon hinter sich gelassen. Die Rudergänger hatten verstanden, um was es ging und ver suchten Kurs zu halten. Die Sche becke kämpfte sich weiter durch die aufgewühlten Wellen und torkelte unter dem Ansturm der Sturmstöße.
15 Die Brecher schienen von allen Sei ten nach dem Schiff zu greifen. Sie schlugen von achtern und von den Seiten über das Schanzkleid und war fen die Schebecke hin und her. Jedesmal, wenn die Spitze eines sol chen Wellenberges den Rumpf traf, ertönte ein hartes, dumpfes Dröhnen. Die Erschütterung setzte sich durch das gesamte Schiff fort, und längst gab es kein einziges trockenes Stück mehr. Wasser lief aus den Segeln und tropfte breit von den Leinen und Tau en. Die Sonne war hinter dunklen Wol ken verschwunden. Es würde schät zungsweise noch drei, höchstens vier Stunden hell bleiben. Mit unvermin derter Wucht blies der Sturm, der im nördlichen Quadranten drehte. Die Wellen hatten sich immer höher auf gebaut, und jeder Teil des Watts war unter Wasser. Immer wieder riß im Osten und im Süden der Nebel auf und zeigte viel zu kurz Einzelheiten der Küste und der Inseln. Ben Brighton, der inzwischen eine trockene Jacke aus gewachstem Se geltuch trug, kämpfte sich mühsam und lautlos fluchend zum Kapitän hinauf. „Es hört nicht auf, Sir!" brüllte er gegen das Kreischen des Sturms. „Nicht, bevor wir nicht in irgendei nem Hafen sind." „Ich denke, wir schaffen es zu die sem namenlosen Kaff", gab der Erste zurück. „Dans Karten sind genau." „Hoffentlich", stöhnte der Seewolf. Das Deck hob und senkte sich, das Schiff setzte krachend in die Wellen ein, und nahezu jede Bewegung rief gischtende Schlagwellen hervor, die sich über das Deck ergossen. Ununterbrochen arbeiteten die See wölfe an den Schwengeln der Pum pen. Klatschend und krachend, äch zend und knarrend, keinen Augen
blick ruhig und nahezu hilflos wie ein Stück Korkeichenrinde, so bewegte sich die Schebecke durch die brechen den Wellen und darüber hinweg. Auf dem Kamm der nächsten Welle ver harrte der schlanke Rumpf, und bei de Männer sahen gleichzeitig weit au ßerhalb der unzähligen Gischtstrei fen ein undeutliches Stück Insel. Das Watt ist nur zur Hochwasser zeit zu befahren, dachte der Seewolf. Im Frühjahr und im Herbst ent standen in diesem Gebiet oft völlig unvermittelt die Seenebel: die feuchte und warme Luft über dem Wasser kühlte über der Kälte der Nordsee ab, und wenn die Flut heran rauschte, wurden die sonnenerwärm ten Wattgebiete vom eiskalten Was ser überflutet und abgekühlt. Die Luft, die darüber gewirbelt wurde, kühlte ebenfalls ab, und vom Grund aus waberte dicker, schwärzlicher Nebel in die Höhe. Immer wieder riß ihn der Sturm zur Seite, auch vor der Insel Sylt, die sich nach „sild" nannte, dem dänischen Wort für Hering. „Kann es sein, daß wir in eine Springtide geraten sind?" schrie der Seewolf. Der Erste schüttelte den Kopf. „Niemand glaubt das, Sir. Es ist ein Sturm, nicht mehr und nicht weni ger." Es war ohne Zweifel einer der här testen und schlimmsten Stürme, un ter denen die Crew, mit welchem ih rer Schiffe auch immer, gelitten hatte. Nein! Es war noch lange nicht vorbei - sie waren mitten im Sturm, offensichtlich im Zentrum der schlimmsten Wellen, die hart wie Stein zu sein schienen. Unaufhörlich wälzten sie sich her an, stauten sich unter dem Sturm druck auf, hämmerten gegen das Schiff und würden die Schebecke, wenn der Kampf noch länger dauerte
16 oder der Sturm in seiner Wut noch zu nach, mit nicht weniger als vierzehn nahm, ganz langsam, ein Stück nach Knoten Geschwindigkeit durch die kochende See. Trotz aller Schaukelei, dem anderen, zerschlagen. „Was können wir tun?" rief der trotz des fest aufgetuchten Großse Erste und packte mit beiden Händen gels, trotz des Kampfes mit den Wel lenbergen liefen sie rasend schnelle nach den Haltetauen. Fahrt. „Nichts. Weiterkämpfen." „Vier Stunden, denke ich. Wahr Sie nickten sich kurz zu und klam merten sich ans Tauwerk. Die dreiek scheinlich weniger", der Seewolf ver kigen Segel krümmten sich fast im suchte, das donnernde Brausen zu Halbkreis von den knirschend durch übertönen. gebogenen Rahruten bis zu den Blök „Das geht in die Nacht hinein, Sir." ken, in denen sich die Schoten scheu „Kann ich's ändern?" rief der See erten. Wieder peitschte der Wind das wolf. Wasser vom Heck und über das Von achtern krachte eine breite Schanzkleid in breiten Schleiern ge Wellenzunge herunter und schmet gen die Masten und in die Leinwand. terte fünf Fuß breit die angesplitter Donnernd schlug das gesamte Vor ten Reste des Schanzkleides auf dem schiff in die nächste Welle, mit einem Grätingsdeck ohne Spuren weg. Wie furchtbaren Splittern spaltete sich der wurden die Rudergänger von der der Rest des Bugspriets bis zu der Be wild ausschlagenden Pinne beinahe festigung aus straff gelegten Enden, von Bord katapultiert. die drei Schritte vor der Galion in Eine halbwegs wahnwitzige Idee eine kurze Kette eingeschäkelt war. tauchte auf. Der Erste und Hasard Noch hielt das Stag des Fockma dachten im selben Augenblick dar stes, aber lange würde es nicht mehr über nach. Der Fockmast mußte neu dauern, bis Mast und Segel über Bord gestützt und mit einem zusätzlichen gerissen wurden. Stag versehen werden. Das kleine „Wie lange noch?" brüllte einer der Focksegel über dem Bugspriet war Rudergänger. nicht wichtig, aber das große Drei Diese Frage hatte sich der Seewolf ecksegel würde, wenn die See den schon hundertmal gestellt und zu be Rest des Bugspriets weghämmerte, antworten versucht. zerfetzt werden, mitsamt dem split In seiner Vorstellung beschrieb das ternden Mast. Schiff eine Kurslinie um die Inseln „Der Fockmast!" schrie Hasard. herum und nach Südsüdosten, bis zu „Verstanden! Begriffen. Eine dem noch namenlosen Hafen. Und in Wahnsinnsarbeit, Sir." seiner Vorstellung gab es auch einen „Auch das schaffen wir. Holst du Teil der Nordsee, die mit erbar die Taue?" mungsloser Wucht gegen die Deiche „Ja", antwortete Ben Brighton. schlug, das Wasser in den Bachmün „Und du, Sir, willst mir helfen?" dungen hochtrieb und die Ufer über „Selbstverständlich!" rief Hasard flutete, die Weiden mit Salzwasser zurück. „Du weißt, ich bin ein ver oder Brackwasser verdarb und in die rückter Selbstmörder." Häuser lief, das Vieh ertränkte und Sie tauschten ein kurzes Grinsen die Saat erstickte. aus und hofften, daß sie den folgen Immer wieder rechnete er. Die den Versuch überlebten. Mit großer Schebecke raste, seiner Schätzung Vorsicht gingen sie zu Werke.
17 das freie Ende. Die Männer hatten sich am Mast gesichert, und durch die In einzelnen Schritten arbeiteten Tauenden spürten sie, daß das Holz sie sich in Richtung Bug vorwärts. förmlich zitterte und summte. Der Immer dann, wenn die Schebecke für Bug hob sich höher und höher und einen kleinen Augenblick eine schein blieb einen Moment still, als sich der bar stabile Lage hatte, glitten der zersplitterte Bugspriet durch die Wel Seewolf und sein Erster vorwärts und lenflanke bohrte. schlugen die Knoten der Sicherungs Auch Ben Brighton schaffte es, den tampen um eine andere Stelle des lä zweiten Überhandknoten über den dierten Schanzkleides. Ben brüllte, ersten zu schlagen. Mit einem Ruck als sie den Niedergang erreicht hat setzte der Bug wieder ein, der Stoß ten, nach einem bestimmten Tau. schleuderte Ben rückwärts aufs Carberry tauchte mit rotem Kopf Gangspill zu, gleichzeitig zog er die auf und hielt das sorgfältig aufge Verbindung der beiden Enden straff. schossene Tau fest. „Sitzt!" rief der Seewolf und „Wasser im Schiff!" schrie er. ,Wir spuckte Salzwasser. „Belegen, Ben." pumpen wie die Irren!" Sie krochen an beiden Seiten ent „Weiter so!" rief der Seewolf und lang des niedrigen Schanzkleides packte das Taubündel. „Wir sichern bugwärts und zogen das neue Stag den Mast." Der Fockmast, durch die Planken hinter sich her. Es wand sich wie eine des dreieckigen Bugs durchgebolzt, Schlange über die nassen Planken. war nach vorn geneigt und mit straf Während der Bug aufwärts und ab fen Wanten in dieser Stellung gesi wärts gestoßen wurde, versuchten chert. Der Druck, der auf dem Segel beide Männer, die sich gegenseitig lastete, ließ das Tauwerk zittern. stützten und immer wieder aus Zwei Bündel von dünneren Tauen rutschten und auf die Planken krach hielten den Mast, einige Schritte nach ten, das Ende erst einmal um den achtern versetzt, gegen den Druck Stumpf des Bugspriets zu schlingen, dicht vor der geschnitzten Galion. des kleinen Focksegels. Der Tampen wurde ihnen aus den Das losgerissene Stag peitschte wild durch die Luft, schlug ins große Händen gerissen, fing sich wieder, Segel und gegen das kleinere, wik wurde im Wasser nachgeschleppt kelte sich um Wanten und Mast und und Hand über Hand wieder an Deck arbeitete sich wieder lose. Ben Brigh gezerrt. Nachdem sieben Schläge um ton duckte sich, als die aufgefaserten das Rundholz lagen, schob sich Ben Enden mit einem Peitschenknall so vorsichtig, wie er konnte, wieder nach seinem Kopf ausholten. zurück in den fragwürdigen Schutz Der Seewolf riß den Arm hoch, als des Schanzkleides. Der Seewolf hielt das Ende frei weiterschwang. Es wik mit aller Kraft die beiden Enden kelte sich blitzschnell um seinen Un straff und atmete auf, als der Erste sich neben ihm niederkauerte. terarm. „Ich hab's", rief er. „Kreuzknoten, Das straff gespannte Segel bot ih Ben!" nen gegen den Druck von achtern eig Schwankend und mit der rechten nen geringen Schutz. Schweigend Hand und den Zähnen schlang der und verbissen, immer wieder von den Seewolf einen Überhandknoten in Wellen und dem brodelnden Spritz 2.
18 wasser völlig durchnäßt, holten sie den, einige Schlucke aus einem halb leeren Krug zu trinken. Der Tee, das lange Ende ein. „Hält es?" Der Erste drehte den reichlich gesüßt und mit Branntwein Kopf und spähte am Segel vorbei gestreckt, war kalt. „Hat euch Dan sagen können, wie zum Masttopp. Das neue Stag war straff und hing kaum durch. viel Fuß hoch das Wasser über dem „Es sieht gut aus, Ben!" rief Ha Watt steht?" wollte der Kapitän wis sen und zog mit wilden Verrenkun sard. Es gelang ihnen, das Ende noch ein gen die triefende Jacke aus. „Wir ha mal um den Bugspriet zu legen und ben zehn Fuß Tiefgang." „Auch wenn die Ebbe einsetzt", er das Stag noch dichter zu holen. Dann belegten sie das Tau auf einer starken widerte Jung Philip und wickelte und massiven Bugklampe. eine trockene Jacke aus, „sagt Dan, „Fertig, Sir", rief der Erste und sei es ungefährlich. Der Sturm preßt kroch, nachdem er sich umgedreht das Wasser gegen das Land. Die Kü und neu gesichert hatte, unter den ste ist an vielen Stellen eingedeicht, Schotleinen hindurch und auf den hat er aus seinen Karten herausgele nächsten Niedergang zu. Die Sche sen." becke kippte vom Kamm einer riesi „Wenigstens eine Sorge weniger", gen Welle ins Tal hinunter, legte sich sagte Hasard zufrieden. „Ich denke, weit über und wurde von der näch daß Pete ans Ruder gegen sollte. Er sten Welle getroffen. wird mehr zu tun haben, als ihm lieb Inzwischen war keine der Wogen ist." kleiner als dreißig Fuß. Waagerecht „Ich helfe ihm", rief Jung Hasard. riß der Sturm Gischt, Wasser und „Einverstanden, Dad?" Schaum von den Kronen und jagte „Aber nur unter der Bedingung", dieses Gemenge weiter südwärts. sagte der Seewolf und trocknete Der Seewolf und Ben Brighton en Brust, Schultern und Arme, ab, ehe er terten unter Deck, ließen sich schwer ein dickes, trockenes Hemd anzog, fallen, wo sie gerade standen. „daß du dich mit einer Sorgleine absi „Das ist der Sturm aller Stürme", cherst, klar?" keuchte der Seewolf, riß sich die ,Aye, Sir", erwiderte sein Sohn. nasse Kopfbedeckung herunter und „Ich hole Pete." paßte seinen Körper dem Schlingern Er duckte sich und hangelte sich und Bocken des Schiffes an. Jung Ha entlang der Schotten und Verstrebun sard gab ihm ein einigermaßen trok gen in die Richtung auf den Bugteil. kenes Tuch. Überall unter Deck saßen und kauer „Das hat niemand ahnen können", ten die Männer der Crew und hielten meinte der Erste. „Das Schiff hält es sich fest, fluchten leise oder laut und aus. Du solltest die Rudergänger wie packten die Gegenstände, die sich der ablösen lassen, Sir." ständig losrissen. Unter Deck war es dämmerig, nur Deutlicher war das Geräusch der zwei geschützte Lampen brannten. Pumpe zu hören, ebenso laut plät Einige Männer hockten hier und scherte das Wasser durch den Nieder klammerten sich ebenso fest wie je gang herein und durch die Luken, die der, der sich auf die Planken hinaus einen Spalt weit geöffnet waren. Es wagte. stank nach kaltem Schweiß und salzi Mit einiger Mühe gelang es den bei ger, triefender Nässe.
19 Von der Insel Sylt wußten die See wölfe nicht allzu viel. Auf ihr lebten Deutsche und Dänen. Im Jahr 450 wa ren von dort die Sachsen und Angeln zur englischen Insel aufgebrochen. Die „Manndränke", eine mörderi sche Sturmflut, hatte aus einer annä hernd runden Insel das meiste Land weggeschwemmt und eine langge streckte, T-förmige Masse Land zu rückgelassen. 1362 hatte die Nordsee, so wie heute, ihre wilde Wut unge zähmt gezeigt, viele Menschen er tränkt und auch Teile der Küste für alle Zeiten verändert. „Weiß man mehr über unseren Ha fen?" rief der Erste auffordernd in die halbe Dunkelheit. „Dan, wie steht's?" Sie würden es also riskieren, entwe der westlich um Sylt herum oder zwi schen der Insel und den malträtierten Deichen des Festlandes vor dem Wind zu segeln. Dan O'Flynn kam heran und sagte: „Es muß ein größeres Dorf sein, denn es liegt an einem breiten Kanal zwi schen den Deichen. Die Deiche laufen in kleine Hügel aus, und auf ihnen stehen angeblich Türme. Ich glaube nicht, daß wir jetzt Feuer oder Rauch sehen werden." „Name?" fragte der Seewolf kurz. „Hoyer", erwiderte Dan O'Flynn. „Aber damit sind meine Karten er schöpft. Mehr weiß ich nicht. Ich habe überall nachgesehen und mir den Schädel blutiggeschlagen." „Das ist schon mehr, als ich zu hof fen wagte", brummte der Seewolf, lehnte sich zurück und atmete tief ein und aus. Er genoß für einige Atem züge die größere Ruhe unter Deck, bis er den Lärm hörte, mit dem die Rudergänger an Deck kletterten und die beiden durchnäßten und er schöpften Männer mit lautem Ge brüll ablösten. Da trieb es den See
wolf aus der Dämmerung hier unten wieder zurück aufs Achterdeck des Schiffes. Er mußte sehen, wohin sie der Kurs führte und der Sturm ver schlug. „Habt ihr noch einen Schluck für mich?" fragte er. Der Kutscher hielt ihm einen ande ren Krug entgegen. Hasard trank mit gierigen Schlucken, dann zwängte er sich in die trockene Jacke und knöpfte sie sorgfältig zu. „Hoffentlich schaffen wir es, bevor es dunkel wird", sagte er und glaubte selbst nicht recht daran. „Sonst wird das die schlimmste Nacht unseres Le bens." „Das Schlimmste ist", rief er Pro fos, „daß wir an Deck nichts tun kön nen! Nicht helfen. Völlig sinnlos." „Das wird sich in Landnähe än dern", sagte der Erste und schloß ebenfalls seine Jacke. „Oder wenn's an Deck Kleinholz gibt, was Rasmus verhüten möge." „Das Schiff ist gut", sagte der See wolf mit Überzeugung. „Und die vie len Reparaturen in London, die neuen Segel - heute wissen wir, was es wert war. Bis nach Oyer muß das Schiff durchhalten. Und wir auch." „Hoyer", verbesserte ihn der Erste. „Na denn, sehen wir uns wieder die verdammten Wellen an." Sie kletterten an Deck und sicher ten sich auf dem Achterdeck. Der Seewolf kontrollierte die Knoten, mit denen sich die neuen Rudergänger ge sichert hatten. Einwandfrei. Pete Bal lie verstand es am besten, die Sche becke schnell, schonend und in den günstigsten Winkeln und Lagen durch das tobende Meer zu steuern. Philip Hasard Killigrew brachte mit einiger Mühe das Spektiv ans Auge und suchte denjenigen Teil des Horizonts ab, der nicht von Wolken und Nebel bedeckt war. Wenn sich
20 die Schebecke durch eins der gewalti gen Wellentäler quälte, verschwan den selbst die höchsten Landmarken unter der bewegten Kimm - und keine von ihnen war besonders auf fallend. „Sylt voraus", sagte er schließlich. ,,Es kann nichts anderes sein. Wie ist der Kurs?" „Südost-zum-Süden", sagte sein Sohn. „So haben wir das Ruder über nommen." „Kurs halten, Freunde", mahnte der Seewolf. „Es ist unsicher. Ich weiß noch nicht, ob wir die Insel run den müssen." „Es geht schneller, wenn wir direk ten Kurs nehmen", sagte Pete Ballie. „Und es ist gefährlicher", entgeg nete der Seewolf. „Wenn wir auf Grund laufen, ob es Schlick oder Sand ist, dann können wir nur noch beten, sonst nichts mehr." An Backbord schob sich das Land aus der unübersehbar großen Masse der riesigen Wellen heraus. Es war flach, und die größten Erhebungen schienen Bäume zu sein, die auf den Deichen oder knapp dahinter wuch sen. Nicht ein einziges Feuer fun kelte, kein Leuchtturm war zu sehen, nur das spitze Dach einer Kirche. Römö hatten sie längst hinter sich gelassen. Die dänische Insel ver schwand hinter der kochenden und brodelnden Kulisse. Der Sturm schien nicht stärker geworden zu sein, aber die Wellen wuchsen weiter an. Als winziger Lichtpunkt war die Sonne weit im Westen hinter Nebel und Wolkenmassen zu ahnen. Unverändert ging der wilde, kra chende Ritt weiter. Dreißig Fuß oder mehr: die Wellen rollten aus dem nördlichen Quadran ten an und folgten einander in quä lender, stetiger Folge. Die nächste Welle war niedriger und brach mit
weniger lautem Getöse, die darauffol gende stellte sich wieder als Wogengi gant dar, die gierig nach dem Schiff langte und ungeheure Wassermassen auf das Deck prasseln ließ. Schwerfällig erholte sich, in allen Verbänden ächzend, die Schebecke von diesem Überfall, schüttelte das Wasser ab und kletterte wieder die nächste Welle hinauf. Aus den Segeln lief das Salzwasser. Die Wucht des entfesselten Wassers riß nach und nach Holz in Form von unterarmlan gen Splittern aus dem Klüverbaum. Das Schanzkleid bis zum Dreh punkt der Pinne war zerschmettert. Die Culverinen ruckten bei jeder schweren Bewegung in den Befesti gungen. Die Brooktaue waren zum Zerreißen gespannt. In den Planken hatten die Lafetten Eindrücke hinter lassen, die mindestens zwei Finger tief waren. Das stehende und lau fende Gut hielt wie durch ein Wun der. Der Seewolf und sein Erster konnten nicht eine einzige gescham filte Stelle entdecken. Meist waren die Planken nicht zu sehen, denn Wasser schwappte hin und her und lief dann zögernd ab. „Insel voraus. Welchen Kurs?" rief Pete Ballie und stemmte sich wieder gegen die Pinne. „Also gut, Kurs Südost, laßt die In sel an Steuerbord. Vielleicht nutzt es uns etwas." „Aye, aye, Sir." Es war nicht zu sehen und nicht zu spüren, daß Pete Ballie den Kurs nach exakt Südost legte. Deutlich ho ben sich, wenn das Schiff auf einer Welle ritt, die Sanddünen gegen das Wasser ab. Auch leewärts der Insel sah das Meer nicht weniger tobend aus als an allen anderen Stellen. Es wurde plötzlich dunkler. Vielleicht erreichten sie tatsächlich im letzten
21 Licht das kaum bekannte Ufer des Festlandes. In rasender Fahrt näherte Sich die Schebecke der Nordspitze der Insel. Als die Dünen und dahinter die wind gepeitschten Bäume schärfer zu se hen waren, riß der Seewolf das Spek tiv aus der weiträumigen Tasche und versuchte, das Linsenrohr ruhig zu halten. „Verdammt", murmelte er. „Ich dachte, wir wären auf der ganzen Nordsee das einzige Schiff von Ver rückten, die bei diesem Wetter se geln." „Was siehst du?" fragte Ben und drehte sich herum, als ein Brecher über die gesamte Breite des Gräting decks wischte und die Steuerbord seite des Schanzkleides aus den Nu ten riß. „Boote - Menschen - vielleicht Fi scher." „Wo?" fragte der Erste Offizier. „Recht voraus?" „Stimmt. Recht voraus. Wir über laufen sie. Zwei Boote. Hier, schau selber durch. Er stützte den Ersten, während Ben Brighton versuchte, in dem wild tan zenden Bild mehr zu erkennen als mit dem bloßen Auge. Nach und nach er kannte er zwei kleine Boote, die Ma sten und zerfetzte Segel aufwiesen. Die Masten standen noch, die Segel schienen um die Gaffel gewickelt zu sein oder in Fetzen hinunterzuhän gen. Die Boote lagen gefährlich tief im Wasser, und Ben vermochte nicht zu sagen, ob es jeweils zwei Menschen waren oder mehr. Der Gischt ließ das Bild immer wieder undeutlich wer den. Eins war absolut sicher. Die bei den Boote waren in Seenot, und die nächste Welle konnte die Insassen herausschleudern. Die beiden Männer wechselten ei
nen langen Blick, dann zeigte der See wolf zwölf Finger und deutete zur Kuhl. „Verstanden. Ich sage es den ande ren", erklärte der Erste und trat sei nen gefährlichen Weg bis zum Nie dergang an. Er erreichte ihn und wurde nur zweimal von den Beinen gerissen. „Pete! Hör zu. Recht voraus sind mindestens vier Fischer in Seenot. Wir müssen sie herausholen." „Ob wir das überleben?" schrie Pete zurück. „In den Wind gehen das wirft uns um." „Die Schoten loswerfen", sagte Ha sard, „um Fahrt zu vermindern." „Dann fangen wir die Schoten nie wieder ein. Ich denke nach, was wir tun können." „Du mußt schnell denken!" rief der Seewolf laut zurück. „Da ist nicht mehr viel Zeit." „Alles klar." Bockend und stampfend arbeitete sich die Schebecke weiter nach Sü den, erreichte die Höhe der nördli chen Inselspitze und gelangte keines wegs in ruhigeres Wasser. Ungehin dert heulte der Sturm über die Insel hinweg, und jetzt riß er nicht nur Wasser, sondern auch Sandkörner mit sich, die auf der Haut winzige Schnitte erzeugten, wenn sie voll tra fen. Nach und nach erschienen zwölf Mann der Seewölfecrew an Deck und seilten sich an. Sie trugen Wurfanker, jede Menge Tauschlingen, und von unten her wurden lange Bootshaken aus dem Niedergang geschoben. Hasard brüllte: „Hinüber nach Backbord, und daß sich jeder si chert!" „Aye!" Edwin Carberry, Batuti und Don Juan de Alcazar machten die Wurflei nen klar und schwangen probeweise
22 die Enden, an denen die Ledersäck chen voller Sand baumelten. Edwin Carberry und Big Old Shane steckten dickere Leinen an die Wurfleinen, Mittlerweile waren die beiden Boote im schlechten Licht des frühen Abends deutlich zu erkennen. Zwi schen ihnen war ein Tau gespannt, das sich träge aus dem Wasser hob, spannte, Wassertropfen abschleu derte und dann wieder in der See ver sank. „Es sind vier Mann, Sir", dröhnte die Stimme Carberrys übers Deck. „Wir kriegen sie, wenn der Pete kei nen Mist baut." „Baut ihr keinen Mist!" schrie Pete Ballie zurück. „Laßt es euch sagen, wie wir's hinfummeln!" „Fock und Besan fliegen lassen und später wieder dichtholen. Willst du das vorschlagen?" fragte der See wolf. „Genau. Dazu brauchen wir gute Männer." Roger Brighton und Gary Andrews überlegten nicht lange. Sie bewegten sich geschmeidig über die Planken, schlugen eine Schot los, führten sie durch einen Block und belegten sie auf der Winsch. Das Tau hatte genü gend Lose. Sie warteten auf das näch ste Kommando und knoteten Sorglei nen in die hart gespannte zweite Großschot. Die Schebecke versuchte, in Luv der beiden Boote zu bleiben. Die See wölfe schrien den Fischern etwas zu, aber es war fraglich, ob die verzwei felten Männer etwas hören konnten. Eine lange Reihe einzelner Beobach tungen, fast immer vom Wellenberg aus oder dann, wenn sich das Schiff wie ein Hengst aufbäumte, zeigten weitere Einzelheiten. Es waren tatsächlich vier Fischer, die bis zu den Oberschenkeln in ihren vollgeschlagenen Booten knieten und
Östen wie die Wahnsinnigen. Was sie außenbords beförderten, warf die nächste Welle wieder ins Boot. Die Duchten waren zerschlagen, die Segel waren zu Streifen zerrissen. Sonst war in den Booten nichts mehr zu se hen, nur Wasser und undeutliche, treibende Teile. Das Tau, das das Heck des einen mit dem Bug des hinteren Bootes ver band, war knapp eine Kabellänge lang. Wieder wurde es aus dem Was ser gerissen und beschrieb wellenför mige Bewegungen in der Luft. Einer der Fischer drehte sich herum und sah die Schebecke. Er winkte aufge regt. Sie stampfte in Luv heran. Der See wolf gab sein Kommando. Die Schoten wurden losgeworfen. Mit einem Knall, der an eine abgefeu erte Drehbasse erinnerte und ebenso laut war, verloren Fock und Besan ihre Form, flatterten aus und wurden nach voraus straff und aus dem Wind gezogen. Ein Ruck ging durch das Schiff, als der Winddruck aufhörte, wirksam zu sein, und Pete Ballie das Ruder bewegte. Mit einer seltsamen Bewegung schob sich die Schebecke fast seitlich auf die Fischer zu. Der Bug war in der Höhe des hinteren Bootes. Mit aller Kraft warfen die Männer die Wurf lei nen. Zwei Ledersäcke klatschten in die träge schwankenden Holzboote. Die Fischer packten sie und zerrten daran, bis sie die vorgesteckten dicke ren Leinen packen konnten. Ein Wurfanker wirbelte im hohen Bogen durch die Luft und schlug un gefähr an der Stelle ins Wasser, an der das Verbindungstau verschwun den war. Ferris Tucker zog den Tam pen Hand über Hand heran, nachdem er einige Atemzüge lang gewartet hatte. Tatsächlich hatte sich das Tau in
23 den Flunken des Ankers verfangen und kam hoch. „Was hast du vor, Ferris?" rief Hasard und sah zu, wie sich die Fischer im hinteren Boot die Enden um die Brust knoteten. Die Sche becke taumelte durch die Wellen auf das vordere Boot zu, und wieder flogen die Wurfleinen, vom Sturm mitgerissen, im hohen Bogen durch die Luft. „Ich will die Boote retten. Brau chen wir keinen Treibanker?" „Gut. Mach weiter." Der Seewolf fragte sich, ob dieser Versuch sinnvoll war. Mit fliegender Eile schlangen sich die Fischer die Enden um die Körper. Die Schebecke driftete näher zu den halben Wracks. Alle Männer zerrten an den Leinen und brachten die Boote mit Anstren gung näher an die Bordwand. „Springt! Ins Wasser!" brüllte der Seewolf in deutscher Sprache. Die Fischer sprangen zwar nicht freiwillig in die kochende See, aber sie wurden über das Dollbord ihrer halb abgesackten Boote gezogen, klammerten sich noch mit kältestar ren Fingern an, aber dann ließen sie los. Der Anker klirrte gegen die Plan ken, als Ferris Tucker das Tau hochgewuchtet hatte. „Helft mir!" schrie jemand. Hände und Arme packten die her anpaddelnden, halb ertrunkenen Fi scher, zogen sie an der Bordwand hoch und hievten sie über das nied rige Schanzkleid der Kuhl. Nachein ander schlugen die schweren Körper der Männer auf die Planken. Die Seewölfe halfen zusammen und schleiften sie, selbst mit dem schwan kenden Deck kämpfend, zu den bei den Niedergängen. Die Männer waren völlig entkräf tet, und jetzt, als sie begriffen, daß sie gerettet waren, sackten sie zusam
men und überließen sich der Erschöp fung. „Wacker, Arwenacks", brummte der Kapitän. Die beiden Bootswracks schlugen zum erstenmal gegen die Backbord planken. Nachdem die Seewölfe die Fischer unter Deck gebracht hatten, erschienen die Arwenacks wieder an Deck und packten die Schoten. „Das wird nichts, Sir", ließ sich Fer ris Tucker vernehmen. „War kein gu ter Einfall." „Dann wirf endlich den Tampen au ßenbords. Oder kapp ihn einfach." Mit resignierender Geste ließ Ferris den nassen Tampen los, packte in der nächsten harten Bewegung der Sche becke wieder das Schanzkleid und hielt sich fest. Pete Ballie und Ha sards Sohn stemmten sich gegen die Pinne und drückten sie hart nach Steuerbord. „Auf das Land zu!" rief ihnen der Seewolf zu. „Sucht nach der Einfahrt, Pete!" „Verstanden. Kurs liegt an." „Welcher Kurs?" rief Hasard und dirigierte mit dem rechten Arm seine Crew, die versuchte, die wild schla genden Segel wieder zu belegen. Langsam drehte sich das Gangspill. „Südost liegt an." „Halten, Pete, bis du etwas siehst. Ich frage die Fischer." Nur ein halbes Dutzend Männer der Crew waren an Deck und versuchten, sich selbst zu sichern und gleichzeitig die Schoten vom Fock und Besan wie der dichtzuholen. Sie drehten das Spill, die Leinen schleppten sich über Deck, und die Taljen kreischten, wäh rend die Segel mehr Wind einfingen. Die Schoten wurden Hand um Hand dichtgeholt, und schließlich fuhr der Sturm wieder voll in beide Segel. „Dichter holen!" rief der Seewolf. „Gut gemacht!"
24 Mit vereinten Kräften wurden die Schoten belegt. Die Rahruten knarr ten und krachten, als die Schebecke wieder schneller zu werden begann und sich gegen die nächsten Wellen warf. Die langgestreckte Insel lag jetzt an Steuerbord achterlicher als dwars, und ihre Dünen, von dünnem Gras bewachsen, schienen in rasen der Schnelligkeit vorbeizufliegen. Für die Schebecke gab es weder Windschutz noch weniger bösartige Wellen. Es schien, als habe der Sturm noch aufgefrischt. An drei Seiten türmten sich Nebel und Wolken hoch, und die letzte Helligkeit schwand. Nur ein Teil der Festlandküste war noch mehr oder weniger deutlich zu sehen. Carberry stand schwankend, an zwei Spanntauen lehnend und sich festkrallend, neben dem achterlichen Niedergang. Der Seewolf rief ihm zu: „Dan O'Flynn soll zu mir kommen und sein Spektiv mitbringen! Schnell, Ed!" „Ich hole ihn sofort, Sir." Das Schiff, die beiden Rudergän ger, jeder und alles - kämpften wei ter und wußten, daß sie überleben mußten. Es schien eine kleine Ewigkeit her zu sein, seit der Sturm ausgebrochen war. Fast ohne jede Warnung hatte er sich auf die Schebecke gestürzt. Die Tatsache, daß selbst die Fischer noch hinausgefahren waren, ließ den See wolf erkennen, daß auch diese revier erfahrenen Männer sicher gewesen waren, in ruhiger See über dem Watt noch fischen zu können. Während er auf Dan wartete, suchte Hasard die Küstenlinie ab und versuchte, zwischen den niedrigen Deichen, den wenigen Bäumen und den winzigen Türmen von Kirchen, die weit im Landesinneren zu erken nen waren und keine Rückschlüsse
auf die wirkliche Entfernung zulie ßen, eine Einfahrt zu erkennen. Hier sollte ein Kanal, der mögli cherweise auch eine Flußmündung bedeutete, die Deiche unterbrechen. Aber die beiden winzigen Hügel mit den Einfahrtzeichen waren nicht zu sehen. Dan O'Flynn, neben sich einen deutschen Fischer, schwankte ent lang der gespannten Tampen den Nie dergang hoch und auf die Gruppe um die Pinne zu. Dem Fischermann hatten sie offen sichtlich einen mehr als kräftigen Schluck eingetrichtert und eine der wenigen Jacken angezogen, die noch einigermaßen trocken waren. Mit lei chenfahlem Gesicht und triefender Hose, die hohen Stiefel voller Seewas ser, schwankte er auf den Seewolf zu. „Bist du aus Hoyer?" rief Hasard. Er packte, als der durchfrorene Mann auszurutschen drohte, dessen Kragen und hielt ihn mit erbar mungslosem Griff fest. „Nein. Aber ich wohne in der Nähe", lautete die Antwort. Die Lip pen des Mannes waren bläulich. „Du kennst die Einfahrt zu dieser Stadt?" „Es ist keine Stadt, Kapitän. Ein Dorf, nicht arm, aber auch nicht sehr groß." „Aber wir gelangen in ruhiges Was ser?" „Wenn ihr die Pricken hinter euch habt, ist alles vorbei." „Ich suche sie gerade", sagte Ha sard. Dan hatte sich in zwei Taue einge hängt und suchte ebenfalls den schwankenden, untergehenden und wieder auftauchenden Horizont mit dem Spektiv ab. Abenddämmerung. Alle Farben wechselten langsam in ein stumpfes Blaugrau. Aber die Schaumkämme
25 und die Gischtstreifen, vom rasenden Sturm drei Fuß über der Wasserober fläche auf das Land zugeschleudert, waren deutlicher als sonst zu sehen. An Land gab es nicht ein einziges Licht, kein Feuer, keinen Rauch. Die Bäume, die erstes Blattwerk in hellen Farben gezeigt hatten, schwankten wie Rohrstengel. Also war der Sturm an Land ebenso heftig wie auf See. Dort galten allerdings andere Gesetze. Ritten die Seewölfe etwa tatsächlich auf den Wogen einer Sturmflut, einer der ge fürchteten Springtiden? „Wo sind diese verdammten Prik ken?" brüllte Hasard und zwinkerte, als die Stöße das Ende des Spektivs gegen sein Auge schlugen. Der Fischer starrte ebenso wie alle anderen an den Masten vorbei in die Richtung, in die der Bugspriet wies. „Ihr seid genau auf Kurs", brachte er schließlich heraus. Aus seinem Mund wehte ein leichter Dampf, der nach Branntwein roch. Auf seinen Wangen erschienen hektische rote Flecken. „Ist jedenfalls eine tröstliche Fest stellung. Aber weder mein Navigator noch ich können die Einfahrt entdek ken", sagte Hsard. „Kannst du im Dunkeln sehen?" „Ich kenne mein Fischwasser", sagte der Fischer laut und trotzig. „Geradeaus, Kapitän. Seht ihr den Hügel nicht?" Dan und der Seewolf mußten war ten, bis sich die Schebecke wieder aus einem riesigen, schwarzen Wellental emporgearbeitet und den Kamm in mitten riesiger Schaumflächen er klettert hatte. „Tatsächlich!" schrie Dan erlöst auf. Fast gleichzeitig erschien vor der Linse Hasards ein zitterndes und schwankendes Bild. Als eine Welle
über die Reste des achterlichen Grä tingsdecks fegte, die Rudergänger von den Beinen riß und mit einem Schlag wie von einem Hammer zwi schen die Schulterblätter Hasards traf, sah er einen Hügel, der sich nur wenige Fuß über die Deiche erhob. Auf dem höchsten Punkt der Erhe bung konnte Hasard gerade noch eine Art Bündel aus weißgekalkten Baum stämmen erkennen, die schätzungs weise fünfundvierzig Fuß hoch wa ren. Aber rechts von diesem seltsamen Hügel gab es keine Dünen mehr. Dort schien sich die kochende See in einen schwarzen Strich verwandelt zu ha ben. Die Entfernung betrug um die zwei Seemeilen. Bei dem Gedanken, daß die Schebecke inzwischen unun terbrochen dicht über das Watt da hinschlurfte, wurde dem Seewolf halbwegs übel. Sank das Schiff in ein besonders tiefes Wellental, nur ein einziges Mal, dann zog es mit dem Kiel eine tiefe Furche durch den Schlick. Gab es hier Felsen, Riffe oder Unterwasser klippen? Der Fischer würde es wis sen. „Wir haben mehr Tiefgang als eure Boote. Bleibt uns genug Wasser un term Kiel?" schrie der Seewolf. „Keine Gefahr! Mindestens fünf undzwanzig deutsche Ellen über Grund", antwortete der Fischer. „Ihr schafft es!" „Wenigstens eine gute Antwort. Pete - habt ihr die weißen Hölzer ge sehen?" „Halbwegs klar erkannt! Alles klar!" brüllte Pete Ballie zurück. „Bald gibt es warme Suppe, Sir." Hasard schluckte herunter, was er am liebsten geantwortet hätte und versuchte wieder, mehr Einzelheiten zu erkennen. Inzwischen segelte die Schebecke in einem wilden Zickzack
26 kurs dahin, der aber tatsächlich stur nach Ost wies. „Liegen wir richtig?" wollte Dan wissen und verstaute das Spektiv in der Jackentasche. Der Fischer nickte heftig und hatte den Sinn der Frage wohl verstanden. „Recht voraus. Der Kanal ist tief genug", verstand der Seewolf. Erst jetzt änderte sich die Natur der Wellen. Der Grund stieg an, und aus den ungezügelten Wogenmonstren wurden echte Brandungswellen, die mit jeder weiter zurückgelegten Ka bellänge flacher wurden. Wasser ver wandelte sich in Gischt und Schaum. Die Dünen und die Deiche wurden zu schwarzen Mauern. Hinter ihnen tauchten tatsächlich einige blinkende Sterne auf. Jetzt mußten sie sich ganz anders orientieren: rechts und links der Kanaleinfahrt gab es breite, bro delnde Gischtstreifen und den Schaum der brechenden Brandungs wellen. Die beiden Rudergänger hielten ge nau auf diesen Zwischenraum zu. Die Schebecke wurde im flacheren Was ser und in den weniger hohen Wellen schneller und schneller, lag plötzlich weitaus ruhiger und näherte sich, Ka bellänge um Kabellänge, der retten den Einfahrt, dieser Schnittlinie zwi schen drohender Zerstörung und eini germaßen ruhigem Fahrwasser. „Ihr schafft es!" schrie der Fischer und wedelte mit den Armen. „Ausge zeichnet!" „Na ja", meinte der Seewolf. Fünf Dutzend schwere Atemzüge später war es soweit. Die Schebecke neigte sich bugwärts, richtete sich wieder auf und schoß, als rolle sie ei nen Hang hinunter, in den Kanal. Selbst der rasende Sturm schien hier viel von seiner Wirkung zu verlieren, jedenfalls wurden alle Geräusche we niger drohend und viel leiser.
„Geschafft!" brüllte Hasards Sohn und riß einen Arm in die Höhe. Schattenhaft huschten die Hügel, die Deiche und die Seezeichen vorbei. Eine Kabellänge weiter hatte sich das Wasser insoweit beruhigt, daß es zwar wütende kleine Wellen gab, die aber bestenfalls ein Drittel der riesi gen Sturzseen erreichten. Zwischen leblosen, dunklen Deichen glitt das Schiff nach Osten und folgte einer ausgeschwungenen Kurve nach Steuerbord. Hasard ließ die Spanntaue los, steckte die Finger in die Ohren und schneuzte sich dann geräuschvoll. „Freunde", sagte er, und seine Stimme klang plötzlich überlaut, „wir haben wieder einmal dem Satan den Schwanz abgegeigt. Kutscher und Mac Pellew - ihr sorgt für ein ausgedehntes Essen und eine gehö rige Portion an Wein, oder was im mer noch zu finden ist. Sag's ihnen, Dan." Dan O'Flynns weiße Zähne erschie nen in der Düsternis des späten Abends. „Tue ich, Sir." Der Profos und einige andere Ge stalten, die vom Grätingsdeck aus nicht klar zu erkennen waren, tauch ten auf und trugen angezündete Lam pen in den Händen. Mit einem letzten Schütteln und Aufbäumen glitt die Schebecke in ruhiges Fahrwasser, blieb aber bei raumem Wind so schnell wie bisher. „Du bist der Lotse, Fischer. Wie heißt du eigentlich?" fragte Hasard und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Kristian Hausler nennt man mich. Haltet euch von den Kanalseiten frei, Kapitän..." Hasard Philip Killigrew nannte sei nen Namen und zwinkerte. Die Dun kelheit war fast vollkommen. Voraus
27 tauchten einige gelbe Lichter auf, de ren Widerschein auf den vielen stei len Wellen im Kanal blitzte und fun kelte. „Also", fing Kristian an, „die drei anderen und ich, wir wohnen vor dem Dorf. Aber wir bleiben bei euch, ja, und wir sagen dem Schulzen, daß ihr uns gerettet habt." „Ein guter Vorschlag", lobte grin send der Seewolf. „Ich hoffe, daß es sich in Hoyer aushalten läßt. Gibt es dort einen guten - wie heißt er, einen Tischler? Schiffszimmermann?" „Natürlich. Eine kleine Werft ha ben sie dort." „Noch besser", brummte Pete Bal lie. „Sie haben sich gleich einen guten Arbeitsauftrag eingehandelt. Nur wissen sie's noch nicht." Zwischen den Deichen war der Sturm weniger stark und böig, aber immer wieder fuhr er in die knallen den Segel. Die Lichter wurden größer und rückten näher. Der Kanal ver breitete sich, und im Fahrwasser tauchten wieder weiß angemalte, be senartige Bäumchen auf, von denen der sichere Teil markiert wurde. „Wie viele Leute wohnen dort?" „Knapp zwölf Dutzend, Kapitän", antwortete Kristian. „Lauter fleißige, zufriedene Leute. Der Herrscher ist weit weg, und der Steueramtmann er scheint selten." An einigen Stellen vor den Deichen, die weniger als zwanzig Fuß hoch wa ren - wenn Hasard den Tidenhub mit zehn Fuß rechnete -, erstreckten sich Bänder aus eingeschlagenen Pfählen und mit Buschwerkgeflecht dazwi schen. „Wir nennen das ,die Lahnungen', mit ihnen gewinnen wir Land und halten die Deiche fest." „Ich sehe überall eure Deiche", sagte Hasards Sohn. „Ihr habt euer Land gut geschützt."
„Viele, viele Generationen haben hier geschuftet." Der Fischer seufzte. „Wir haben viel Land gewonnen. Für Äcker, für Schafe, für das andere Vieh, die Milchkühe..." Vom Bug bis zum Heck hingen die windgeschützten Laternen. Ihr Licht wurde von der Schwärze geschluckt. Nur über dem Land war die Sicht ei nigermaßen frei. Die Crew erschien zögernd an Deck, einige Männer wa ren noch an der Pumpe und lenzten das Schiff. Pete Ballie blieb allein am Ruder, und der Fischer stellte sich aufs Vorschiff und rief die Richtung aus, in der die Schebecke zu steuern war. An der breitesten Stelle zweigten rechts und links schmalere Kanäle ab und verloren sich in der Dunkelheit. Hinter der nächsten Biegung wurden auch die Lichter der Siedlung zahlrei cher und deutlicher. Unverändert blieb das heulende Kreischen des Sturms. „Holt die Fock ein!" rief Hasard. „Wir brauchen sie nicht mehr. Sonst haben wir zuviel Geschwindigkeit." „Verstanden, Sir." Die Schoten wurden gefiert, die Rahrute senkrecht gewuchtet, als der Wind aus der Leinwand war. Die Fock killte, dann lag die Rah waage recht, und bedächtig zurrte die Crew die Leinwand fest. Der Fischer vorn rief: „Zwei Strich Steuerbord, dann seht ihr die Lich ter!" Hinter den Dämmen duckten sich langgestreckte, mit Reet gedeckte Häuser. Die Bäume, deren nasse Blät ter im Mondlicht glänzten, schüttel ten sich und wurden vom Sturm ge beutelt. Aus den Sanddünen riß er unzählige Körner heraus, wirbelte sie durch die Luft und ließ sie waage recht gegen Schiff, Männer und Deiche prallen.
28 Die Schebecke wurde langsamer, glitt in einen Querkanal und war plötzlich in völlig ruhigem Wasser. Eine Baumreihe, mehrere Häuser und ein Deich, der hölzerne Hafen stege erkennen ließ, schirmten den Wind ab. Der Seewolf rief: „Müssen wir an kern, Fischer, oder können wir anle gen?" „Anlegen, Kapitän. Unser kleiner Hafen fällt trocken - wenn nicht ge rade Sturmflut herrscht." „Alles klar zum Anlegen in Hoyer!" rief Hasard. Mittlerweile standen auch die Fi scher an Deck und halfen den Seewöl fen beim Festzurren und Belegen. Mit letztem Schwung glitt die Schebecke aus dem schmalen, engen Kanal in ei nen einfachen Hafen und vollführte eine Wendung von neunzig Grad. Jemand mußte wohl aus dem Fen ster oder einem Türspalt geschaut ha ben, denn plötzlich tauchten zwi schen Balken, vorspringenden Dä chern und spärlich belaubten Hecken mehrere Fackeln auf, aus denen der Wind lange Flammen und Funken riß. „Ein Schiff!" schrie jemand. „Tat sächlich, ein fremdes Schiff!" Der Wind drückte die Schebecke mit der Backbordseite an einen Bret tersteg und zwischen verwitterte Holzstämme, die als Poller dienten. Jung Hasard und sein Bruder spran gen über das Schanzkleid und zogen die Festmacher hinter sich her. Drei Männer rannten mit Fackeln heran. Ihnen rief der Fischer Kristian zu: „Diese fremden Seeleute haben uns gerettet. Mich und Pieter, den An dreas und Niklas, den Plattfisch. Un sere Boote, die Netze - alles weg." „Gott sei Dank. Gerettet. Sie sind auf dem Schiff!" Die Crew hatte sich schnell beru
higt. Eile war jetzt nicht mehr wich tig. Die Schebecke wurde an den Steg gezogen. Ein paar Fender, präzise an gebändselt, knirschten zwischen den Bohlen und der Bordwand. Vorläufig war es nicht wichtig, den Festma chern so viel Lose zu geben, daß die Schebecke trockenfallen konnte. Philip Hasard Killigrew nahm sei nen nassen Hut ab und schwang sich ächzend über das Schanzkleid. Ein Brett krachte unter seinen Stiefeln. Die Fackelflammen und die vielen Laternen des Schiffes erhellten den Steg und einen Kiesweg, der zu einer schmalen Haustür führte, an Zäunen und Hecken vorbei. „Kristian hat uns hierhergelotst", erklärte der Seewolf, zog den Hand schuh aus und streckte den Männern die Hand entgegen. „Es war ein wü ster Sturm, dort draußen. Ich glaube, wir haben Arbeit für eure Werft." „Willkommen", entgegnete ein breitschultriger Mann in einem geöl ten Segeltuchmantel und hielt die Fackel höher. „Ich bin der Dorfschul ze. Berthold heiße ich." Noch immer fauchte und gurgelte die Lenzpumpe. Die Luken der Sche becke wurden geöffnet, mit feuchten Lappen wischten die Seewölfe Was ser und auskristallisiertes Salz von den Sülls. Der Kutscher und Mac Pel lew hatten auf rätselhafte Weise ihr Feuer in Gang gebracht, wie der helle Rauch bewies. Im Hafen von Hoyer herrschte weit aus größere Ruhe. Der eiskalte Sturm war hier zwischen den Häusern ver gleichsweise warm, aber das Heulen und Pfeifen bewies", daß er noch im mer mit unverminderter Kraft wehte. Aus den Fackeln riß er knisternde Funken. „Ohne Kristian hätten wir euren Kanal nicht gefunden", sagte der See wolf und schüttelte ein paar Hände.
29 Die geretteten Fischer liefen auf ihn zu, und Kristian rief: „Und ohne ihn und seine Leute wären wir elend ersoffen! Sie werden hungrig sein. Und natürlich haben sie Durst, Bert hold." Etwa die Hälfte der Crew stand jetzt auf den rissigen Brettern. Die Seewölfe sahen sich um und merkten, wie nach und nach in allen Häusern Lichter angezündet wurden. Die Lampen leuchteten durch die winzi gen Glasscheiben der schmalen Fen ster. Läden wurden zurückgeschla gen, aus allen Richtungen ertönten Stimmen. Aus allen Jacken tropfte das Wasser, und Dan O'Flynn schob sich an die Seite des Kapitäns. „Wann soll die Ebbe einsetzen? Ich meine, wann sitzen wir fest?" „Sechseinhalb Stunden", sagte Berthold, ohne zu zögern. „Kapitän, wir laden Sie und Ihre Mannschaft herzlich ein. Wie viele Köpfe zählt die Crew?" „Dreiunddreißig", erwiderte der Seewolf. „Du meinst, wir passen nicht alle in ein Haus, wie? Kein Pro blem, in ein paar Stunden ist alle Auf regung vorbei." „Ich spreche für uns alle. Die Fi scher leben, euer Schiff ist hier in Si cherheit, ihr alle auch - irgendwann hört der Sturm wieder auf. Einund zwanzig Häuser stehen hier." „Und drei stehen weiter deich wärts!" rief ein Fischer. „Los! Holt endlich etwas zu trinken. Oder wollt ihr unsere Retter mit rohem Fisch be wirten?" Überall öffneten sich die Türen und wurden vom Wind wieder krachend zugeschlagen. Menschen erschienen aus allen Richtungen. Einige trugen Krüge, aus denen weißer Schaum tropfte. Unentwegt wurden Hände ge schüttelt, und die wenigen Seewölfe, die deutsch sprachen, mußten über
setzen. Sven Nyberg und Nils Larsen, deren Heimat praktisch an diesen Teil des Herzogtums angrenzte, er klärten ihren Freunden, daß in den Krügen Bier wäre, und daß alle See wölfe in den verschiedenen Häuser eingeladen wären. „Da ist es wenigstens trocken, hoffe ich", sagte Ben Brighton. „Wollen wir in der besten aller Schebecken schla fen oder in einem warmen schleswig schen Bett?" „Das weiß ich noch nicht", sagte der Profos und schlug den Fischer Pieter kräftig auf die Schulter. Was sertropfen stäubten aus der Segel tuchjacke. „Aber sicher sind die Bet ten trockener als unsere Kojen." „Nun, überzählige leere Betten sind bei uns etwas rar", schränkte der Dorfschulze ein. „Aber natürlich ha ben wir warme, trockene Ställe, trok kenes Stroh und Decken. Und alles andere." „Zuerst sollten wir einen Umtrunk nehmen, ehe wir erfrieren oder da vongeblasen werden", schlug Ferris Tucker vor. „Das Bier wird schal, fürchte ich." „Der beste Vorschlag des Abends", stimmte Batuti mit einem kehligen Lachen zu und nahm, breit grinsend und seine weißen Zähne zeigend, ei nem Dörfler den Krug aus der Hand. Unter Deck fing Plymmie zu kläffen an und sprang den Niedergang hin auf. Jung Philip packte ihr Hals band. Mac Pellew hatte seine schlechte Laune gemeinsam mit seiner Sprache wiedergefunden und schrie erbost zum Steg hinüber: „Sollen wir etwas kochen oder braten? Wollt ihr Tee oder Suppe? Oder belieben die Herr schaften an Land zu speisen?" Brüllendes Gelächter antwortete ihm. Der Seewolf musterte die Ge sichter der Umstehenden und gab
30 laut, für alle Arwenacks deutlich zu verstehen, seine Antwort. „Die Künste eurer Kombüsen ken nen wir, Maec Ich schlage vor, wir nehmen die Einladungen an und pro bieren aus, was uns die Deutschen vorsetzen." „Einverstanden!" riefen Roger Brighton und Dan O'Flynn wie aus ei nem Mund. Noch während die Bierkrüge krei sten und die Crew versuchte, mit den Gastgebern zu sprechen, verteilten sich die Seewölfe. Kichernde junge Mädchen und breithüftige Bäuerin nen packten die Arme der Männer und zogen sie mit sich, Hasard und der Schulze grinsten sieh an, wäh rend Old Donegal Q'Flynn ein Ge sieht schnitt, als traue er der Freund lichkeit nicht. „Berthold, ich glaube, ich werde die Beine unter deinen Tisch strecken", erklärte Hasard gutgelaunt. „Los, Freunde! Hinein in die warmen Stu ben!" Binnen kurzer Zeit war der Steg leer, und die Schritte verloren sich in allen Richtungen, in die auch die La ternen und Fackeln schwankten. Mit einem schmetternden Knirschen riß ein Ast ab, wirbelte durch die Luft und klatschte in das schwarze Wasser des Hafens, Als letzter verließ der Kutscher das Schiff, schaute sich mißtrauisch um und lief schließlich auf quietschen den Sohlen dorthin, wo die Prothese von Matt Davies glänzte, an deren Haken ein leerer Krug baumelte.
Die dicken Mauern waren heimelig warm und rauh. Die Bodendielen glänzten und rochen nach Bienen wachs. In einem gemauerten Kamin lag ein großer Haufen roter Glut. Die
Frau des Schulzen legte mehrere Scheite Treibholz hinein, als der See wolf die schwere Jacke auszog und sich an Berthold wandte. Der Fischer Andreas setzte sich auf die Bank ne ben dem Kamin und rieb seine klam men Finger. „Ich habe einen Wunsch", fing Ha sard an und drehte sieh um, als die Tür sich öffnete und wieder schloß. „Don Juan", sagte er. „Hier lernst du neue Sitten kennen." „Wenn ich den Wunsch erfüllen kann", erwiderte der Schulze. Seine Töchter und seine Frau zogen ein wei ßes Tuch über die große Tischplatte, und ein etwa elfjähriger Junge strahlte den riesigen fremden Mann mit großen blauen Augen an. „Ich würde gern diese langen Stie fel ausziehen. Sie sind naß, durch und durch. Vielleicht kann ich sie über Nacht am Feuer trocknen lassen?" Der Schulze nickte und nahm einen Krug und Zinnbecher aus einem höl zernen Wandschrank, der ins Mauer werk eingepaßt war. „Marthe", sagte er liebenswürdig. „Hole dem Herrn Kapitän und dem anderen Herrn die Socken. Die schaf wollenen, dicken." Voller Erleichterung zogen der See wolf und auch Den Juan ihre Lang schäfter aus. Sie hatten erhebliche Mühe damit. Die Haut fing zu kitzeln und zu prickeln an, als sie ihre nack ten Beine in die Nähe der Flammen und der Glut ausstreckten. Ganz lang sam wich die eisige Kälte aus den Ze hen. „Erst einmal einen klaren Schnaps, die Herren", sagte Berthold und reihte die Becher auf der Tischkante auf, Jeder erhielt den Zinnbecher bis zum Rand voll und leerte ihn in ei nem Zug. Sich selbst goß Berthold so fort nach. Das Zeug, das nach irgendwelchen
31 Beeren oder Früchten roch, rann heiß durch die Kehlen und verwandelte sich hinter den Rippen in eine Bahn aus Feuer, die im Magen endete, Andreas hielt dem Schulzen den leeren Becher entgegen und keuchte ein bißchen. „Ein Zufall, Kapitän, daß ihr uns gesehen habt?'' fragte er. In seinem Gesicht stand noch immer die Angst. „Oder sind wir von euch über größere Entfernung entdeckt worden?" Der Seewolf schüttelte den Kopf und erwiderte: „In letzter Sekunde, sozusagen. Vielleicht eine Seemeile weit, eher weniger. Es war ein Zufall, Andreas. Ich denke, ihr habt schon lange versucht, die Boote leerzu ösen?'' Der Fischer schluckte und senkte den Kopf. „Das andere Boot schlug gleich voll, als der Sturm losging. Wir haben uns länger halten können. Wir haben das Tau ausgebracht, aber dann zerriß auch unser Segel.'' Seine Finger zitterten, und er ver schüttete wieder einige Tropfen des wasserhellen Schnapses, Er stützte den Inhalt hinunter, keuchte wieder und fuhr fort: „Wir haben gehofft und gebetet, daß uns der Sturm an ir gendeinen Strand wirft. Aber wahr scheinlich wären wir ertrunken." Schalen standen schon auf dem Tisch, Holzbretter, ein Brot wurde in dicke Scheiben geschnitten, ein Stück Butter und zwei Brocken Käse wur den auf geflochtenen Schalen aus der angrenzenden Küche gebracht. Mes ser und Löffel klirrten. Ein Schinken, größer als Carberrys Pranken, lag in der Mitte des Tisches, Frau Marthe, von der die fingerdicken Socken ge strickt worden waren, teilte damp fende Suppe aus und stellte gebeizten Fisch auf den Tisch. „Kommt", sagte sie, ,,ihr müßt et
was Warmes in den Bauch kriegen. Danach schläft es sich besser." Die Männer setzten sich auf höl zerne Schemel und merkten plötzlich, wie groß ihr Hunger war. Aus hölzer nen Bechern tropfte der Bierschaum. In der Hitze fing auch die Gesichts haut zu glühen an. Mit roten Köpfen saßen sie alle da und löffelten die Suppe, die große Fleischbrocken ent hielt und voller Gemüse war, gut ge würzt und ungeheuer nahrhaft. Mar thes wohlgemeinter Hinweis stimmte: langsam löste sich zugleich mit der Starre auch die Erinnerung an den mörderischen Sturm auf. „Ihr seid viel zu freigiebig", meinte Hasard eine Weile später zum Dorf schulzen. „Könnt ihr sicher sein, daß wir nicht euer Dorf ausplündern wol len?" „Wenn Andreas und Kristian das gemerkt hätten, wärt ihr nicht hier." Der Seewolf hörte zu lächeln auf. „Sondern? Wo wären wir?" „In einem anderen Kanal", sagte Andreas und schüttelte sich. „Er ist sehr gefährlich und voller Felsen. Ihr wärt in der Dunkelheit aufgelaufen. Mit einem bösen Schaden unter der Wasserlinie, sehr wahrscheinlich." „Und ihr?" wollte Don Juan wissen. Hasard übersetzte. Die Augen des Fischers, die aus einem Netz langer und tiefer Falten blinzelten, waren sehr ernst geworden. „Wir wären über Bord gesprungen und über die Salzwiesen davonge rannt. Roland und der Plattfisch ver stehen recht gut eure Sprache. Wir haben uns unter Deck Zeichen gege ben," Hasard meinte es nicht im minde sten spöttisch, als er entgegnete: „Vier Fischer haben gute Menschen kenntnis bewiesen. Im Ernst, Freunde, wir sind über euren Hafen ebenso dankbar wir für die Gast
32 freundschaft. Und es schmeckt herr lich, was ihr uns vorsetzt." „Man sieht's", sagte die Bäuerin und lachte schallend. Auf das duftende, graue Brot wurde dick die gelbe Butter gestri chen und darauf eine Käsescheibe oder Schinken gelegt, der nach Rauch schmeckte und schier auf der Zunge zerging. „Braut ihr das Bier selbst?" „Heiner, am Ende des Dorfes, ist der Bierbrauer. Er hat es, sagt er, von einem Mönch gelernt. Und den Schnaps stellt jeder selbst her. Nur die Fischer nicht." „Dafür fangen die Bauern auch keine Fische!" rief Andreas. Die Wärme und die Gastfreund schaft, die einfache, aber blitzsau ber eingerichtete Stube, die Dach balken, meist aus gebeiztem Treib holz, dazu die Schnäpse und das Bier ließen müde werden und vertieften die Gemütlichkeit. Es war keine Stunde vergangen, und schon spra chen sie über ganz andere Dinge. Über die Nachbarschaft zu Däne mark, die Landgewinnung - die wahre Fronarbeit bedeutete und im mer wieder Rückschläge brachte -, die Schafe und die Werft, die eigent lich ihren Namen nicht verdiente, weil sie nur für kleine Boote zu ge brauchen war, sie sprachen über Steuern und die ständig drohenden Sturmfluten und den gegenwärtigen Sturm, der in diesem Jahr der schlimmste war. „Ich sage euch", brummte der Schulze, „er wird uns noch schaden, der Aprilsturm. Ich spüre es in mei nen Knochen. Fünf Tage lang bläst er. Ob er die Deiche überspringt? Ich weiß es nicht. Und dann erscheinen sie wieder aus Flensburg und treiben Steuern ein." „Flensburg liegt weit drüben, an
der Förde, am Baltischen Meer oder der Ostsee", sagte Hasard. „Und bei dem Sturm wagt sich keiner hierher." Der Schulze nickte grimmig. „Aber danach. Vielleicht hält der Magister, was er uns versprochen hat, nicht wahr, Frau? Dann sind wir reich. Rei cher als der Herzog." „Magister?" fragte Don Juan und kaute mit anerkennendem Grinsen auf dem Käsebrocken. „Magister Cedomir von Emch, so nennt er sich. Er sagt, er könne Gold machen." Stirnrunzelnd blickte der Seewolf von Andreas zur Bäuerin und wieder zu Berthold. „Gold machen? Habe ich richtig ge hört? Hier, in eurem Dorf, in Hoyer?" „Jawohl", erwiderte Berthold. „Er wohnt gleich neben Heiner, dem Bier brauer. Er wird sich freuen, so weit gereisten Seefahrern seine seltsamen Künste zu zeigen." Nach einigen Atemzügen und ei nem weiteren Schnaps fügte er weni ger zuversichtlich hinzu: „Gold ha ben wir zwar noch keins gesehen. Aber wir haben von ihm sehr viel ge lernt. Er versteht es, fremdes Wissen beizubringen." „Ich muß ihn sehen, euren Zaube rer", sagte Hasard. „Doch bevor wir von eurem Bier ganz betrunken sind: Ihr habt wirklich ein warmes, trocke nes Plätzchen für uns nasse Was serratten?" „Was ich gesagt habe, stimmt. In je dem Haus in Hoyer wird jeder von euch mit Freuden aufgenommen. Schlaft euch aus. Niemand wird euch stören. Wir versorgen euch mit trok kenem Stroh und Heu, kuscheligen Schaffellen und selbstgewebten Dek ken." Er trank das Bier aus, warf seinen beiden blondzopfigen Töchtern und dem Sohn einen finsteren Blick zu,
Den folgenden Brief erhielten wir von
K B , ,2300 Kiel 1:
Liebe Seewölfe-Redaktion! Als ein Aus- und Wiedereinsteiger mit langjähriger Seewöl fe-Leseerfahrung möchte ich mich auch ein mal im Forum zu Wort melden. Meine Leseerfahrung beruht auf dem Zeit raum der Heftnummern 1-482 und ab 594 bis heute, mit einigen Taschenbüchern da zwischen. Ich bin zwar aus wirtschaftlichen Gründen ausgestiegen, aber eingestiegen bin ich vor kurzem aus reiner SUCHT!!! Wenn ich jetzt das Forum lese, so gibt es viele Kritiken, einige Glückwünsche und einige Vorschläge. Dazu möchte ich auch etwas sa gen. Als erstes sage ich nur ,,Herzliche Glück wünsche" zu Ihrer Serie. Macht so weiter wie bisher. Veröffentlicht weiterhin die Le serbriefe mit allem Drum und Dran. Schreibt so weiter wie bisher. Es gibt natür lich Leser, die Ihre Romanserie mittlerweile schlecht oder langweilig finden, oder ande re, die meinen, der Zyklus wäre zu lang. Oder sie möchten bestimmte Personen mehr im Vordergrund sehen, beziehungsweise der Seewolf soll mit seinen Leuten einen neuen, schweren Gegner bekommen. Aber dazu kann ich nur sagen, das sind die Mei nungen und Ansichten von einzelnen Le sern. Die Mehrzahl der Leser ist ja ganz zu frieden mit dem, was Ihr schreibt, ansonsten würden die Hefte ja nicht mehr gekauft wer den. Ich meine, die Verkaufsstatistik gibt Euch recht! Es gibt vielleicht einige Leser, die bestimmte Abschnitte von früher in ähn licher Weise vermissen. Einige Beispiele (auch das aus eigener Sicht): das IrlandAbenteuer, die Armada, die Intrigen in England, Unterstützung der Eingeborenen in der Art wie der erste Kontakt mit der Schlangenpriesterin! Aber auch hier sind es wieder die Meinun gen und Ansichten von einzelnen Lesern! Ich kann Euch nur zu der Serie beglückwün schen — und macht weiter so. Als letztes
möchte ich jetzt noch sagen, daß ich eine
,,ZWEITAUFLAGE" nicht für gut halte. Die
Serie sollte etwas Besonderes bleiben!
Und nun noch eine Suchmeldung: Ich möch
te gerne die Hefte 1-20 kaufen.
Mit freundlichen Grüßen - K B
Herzlichen Dank für Ihren „löblichen" Brief, lieber Herr B - und wir gratulieren zum „Wiedereinstieg" in die Seewölfe-Serie. Daß die aus „reiner SUCHT" geschehen ist, freut uns um so mehr. Dabei fällt auch ins Gewicht, daß die Serie von einem Leser beurteilt wird, der ab der Nummer 21 dabei war und nur von 483 bis 593 „ausgestiegen" war. Sie gaben das Stichwort, daß einige Leser bestimmte Ab schnitte von früher in ähnlicher Weise ver missen. Den Armada-Abschnitt zum Bei spiel können wir nicht in ähnlicher Weise wiederholen, da die stolze spanische Flotte in dieser Form nicht mehr existiert. Und als das Schiff der Seewölfe im Tigris kopphei ster ging, erhob sich sofort Protest, indem gesagt wurde, hier wiederhole sich das NilAbenteuer. Nun gut, wir müssen mit der Kritik leben, und wenn sie angebracht ist, müssen wir sie uns zu Herzen nehmen und versuchen, etwas Besseres hinzukriegen. Vernichtend war die Kritik von F H , ,3000 Hannover 61, der die Jubiläumsnummer 600 von Davis J. Harbord aufs Korn nahm und schrieb: „Die ,Gegner' wurden als komplet te Idioten dargestellt, so daß diese schon so übertrieben, nicht mehr glaubhaft waren! Soviel Dummheit, z.B. in der Episode nach dem Einlaufen der Schiffe, wo wirklich al les schieflief und nur Tölpel am Werk wa ren, das glaube ich, hat es niemals auf einem Flecken dieser Erde gegeben...!" Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und Ihre SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern den komplett ten Segelriß einer waschechten Brigg vor. Die Brigg war (und ist - es gibt noch ein paar „Oltimer") ein Segler mit zwei vollgetakelten Masten, also ein reiner Rahsegler, der Ende des 17. Jahrhunderts auftauchte und in vereinzelten Exemplaren bis in unser Jahrhundert überdauerte. Briggs bei den Marinen waren mit je sechs oder mehr Kanonen auf jeder Seite armiert und wurden in der Kaperfahrt, im Konvoi- und im Kurier dienst eingesetzt. Die Nummern bedeuten: 1 Außenklüver, 2 Klüver, 3 Vor-Stengestagse gel, 4 Fock, 5 Vor-Untermarssegel, 6 Vor-Oberraarssegel, 7 Vor-Bram segel, 8 Vor-Royal, 9 Groß-Stengestagsegel, 10 Groß-Bramstagsegel, 11 Groß-Royalstagsegel, 12 Großsegel, 13 Groß-Untermarssegel, 14 Groß-Obermarssegel, 15 Groß-Bramsegel, 16 Groß-Royal, 17 Briggse gel, 18 Fockrah, 19 Vor-Untermarsrah, 20 Vor-Obermarsrah, 21 VorBramrah, 21A Vor-Royalrah, 22 Großrah, 23 Groß-Untermarsrah, 24 Groß-Obermarsrah, 25 Groß-Bramrah, 26 Groß-Royalrah, 27 BriggSegelbaum, 28 Brigg-Segelgaffel, 29 Außen-Klüverbaum, 30 Klüver baum, 31 Bugspriet, 32 Stampfstock, 33 Außen-Klüverstampfstag, 34 Klüverstampfstag, 35 Stampfstock-Achterholer, 36 Wasserstag, 37 Fockbrasse, 38 Vor-Untermarsbrasse, 39 Vor-Obermarsbrasse, 40 VorBrambrasse, 41 Vor-Royalbrasse, 42 Großbrasse, 43 Groß-Untermars brasse, 44 Groß-Obermarsbrasse, 45 Groß-Brambrasse, 46 GroßRoyalbrasse, 47 Fock-Bauchgordinge, 48 Fock-Nockgordinge, 49 VorUntermarsbauchgordinge, 50 Vor-Obermarsbauchgordinge, 51 VorBrambauchgordinge, 52 Vor-Bramnockgordinge, 53 Vor-Royalbauch gordinge, 54 Groß-Bauchgordinge, 55 Groß-Nockgordinge, 56 GroßUntermarsbauchgordinge, 57 Groß-Oermarsbauchgordinge, 58 Groß-Brambauchgordinge, 59 Groß-Bramnockgordinge, 60 GroßRoyalbauchgordinge, 61 Briggsegel-Geitaue.
37 der sie keineswegs erschreckte, dann rief er streng: „Und ihr drei ver schwindet augenblicklich in eure Betten! Die fremden Seeleute sind morgen auch noch da. Wenn ihr brav seid, dürft ihr auch in der Werft schnitzen und sägen helfen. Los! Ab in die Betten!" Kichernd und halb widerwillig ver schwanden die Töchter über eine schräge Leiter und zogen den Jungen mit sich. Hinter ihnen klappte in der Decke, die den hinteren Teil der Stube abschloß, eine Falltür zu. „Bringe noch einen Krug Bier, Frau", sagte Berthold. „Satt, Kapi tän?" Zwischen Hasards Zähnen ver schwand der letzte Brotrest und der geräucherte Fisch. „Mehr als satt, glücklich", sagte Ha sard überzeugt. „Die Krönung wäre ein repariertes, seeklares Schiff - es gibt im Dorf auch Männer, die mit Holz umgehen können?" „In drei Tagen ist euer Schiff so gut wie neu", versicherte der Dorfschulze selbstbewußt. „Noch einen Schnaps, der spanische Herr?" „Por favor", erwiderte Don Juan. „Gracias." 3. In Abständen von vier oder fünf Atemzügen schlug der Sturm zu. Er rüttelte an den schweren Schlag läden und fuhr durch den gemauer ten Kamin, wirbelte Asche und Flam men hoch, ließ die rote Glut weiß auf leuchten und erzeugte ein stöhnen des, langgezogenes Geräusch. Fischer Andreas hatte sich auf der schmalen Ofenbank ausgestreckt und war eingeschlafen. Frau Marthe holte eine Decke und breitete sie über dem schnarchenden Mann aus.
Eine halbe Stunde später öffnete sich die Tür. Ein Sturmstoß, ver mischt mit feinem Regen, fegte her ein. Philip junior und Will Thorne schoben sich in das Zimmer und stell ten die Laterne ab. „Wir haben fast jedes Haus be sucht, Dad", sagte Philip. „Alles klar?" „Natürlich. Ihr habt uns gesucht?" fragte der Seewolf zurück. „Geht es ums Schiff?" „Richtig", erwiderte der Segelma cher. „Die Schebecke ist versorgt worden. Wir haben an Steuerbord ei nen Anker ausgebracht und die Fest macher verlängert. Das Wasser ist ge fallen." „Sie wird ein wenig auf der Seite liegen", sagte der Schulze. „Aber der Grund ist weich, ohne Felsen. Keine Gefahr fürs Schiff. Wieviel Lose habt ihr gegeben?" Seine Frau winkte die beiden an den Tisch und füllte die Becher mit Bier. „Mehr als acht Fuß", erwiderte Philip. „Das reicht und ist genau richtig", sagte der Schulze. „Und ihr, habt ihr schon ein trockenes Plätzchen?" „Ja. Nebenan, bei Heinrich, dem mit den blonden Töchtern", erklärte Will. „Aber - wir kommen von drau ßen. Der Sturm wird nicht schwä cher. Eure Bäume krachen und knar ren, als ob sie in Stücke gerissen wer den." Der Schulze hob die Hände. „Was sollen wir tun? Jetzt, in der Nacht? Bei Sonnenaufgang sehen wir, was der Sturm angerichtet hat." „Sehr heiter wird der Anblick wohl nicht sein", murmelte der Seewolf und gähnte. „Ich glaube, es reicht für heute." Will und Jung Philip bedankten sich für das Bier. Sie erzählten noch,
38 daß der Fischer „Plattfisch" mit einer Laterne aufgebrochen sei, um die Familien der drei anderen Fischer zu benachrichtigen und zu beruhigen. „Plattfisch rechnet fest damit, daß die beiden Boote hier irgendwo ange trieben werden'', sagte Will. Der Schulze nickte und sagte: „Wäre nicht das erstemal. Aber in welchem Zustand sie sich am Strand wiederfinden, hat er nicht gesagt, wie?" „Er hofft, daß sie noch zu gebrau chen sind.'' Hasard stand auf, zog den Kopf un ter den Deckenbalken ein und dehnte seine Muskeln. „Morgen fangen wir an, die Schäden am Schiff zu reparie ren. Wir sollten uns alle aufs Ohr hauen, Freunde." „Es ist wirklich Zeit, Die anderen haben sich schon zwischen die Dek ken verholt", bestätigte Will Thorne. Er schwenkte die Laterne, nickte den Personen um den Tisch zu und schloß leise die Tür hinter sich. Der Schulze Berthold nahm Don Juan am Arm und führte ihn am Kamin vorbei auf eine schmale Tür zu, stieß sie auf und winkte dem Seewolf. Marthe brachte die Laterne. Auf ei nem breiten Strohlager waren Felle und Decken ausgebreitet. Im dunklen Hintergrund des abgetrennten Stal les standen Rinder und Schafe. Hüh ner hockten auf einer Stange. Es war warm und ruhig. „Schlaft euch aus. Nichts ist eilig", sagte Berthold. „Ihr werdet schon von allein aufwachen." Die Stiefel waren längst mit Wolle und trockenen Tüchern ausgestopft worden und hingen in der Nähe des Kamins. Don Juan und Hasard be dankten sich, entkleideten sich halb und streckten sich auf der weichen Unterlage aus. Binnen weniger Atem züge waren sie eingeschlafen und
wachten irgendwann auf, ohne Alp träume gehabt zu haben und völlig ausgeschlafen.
Neun Stunden lang tobte unverän dert und in gleicher Stärke der Nord seesturm. Er verwandelte die See, als die Ebbe abzulaufen begann, in ein Chaos aus Wasser und Gischt. Wehe dem Sehiff, das jetzt dort segeln wollte. Es war undenkbar, daß selbst der beste Segler in diesem halben Or kan überlebte. In einzelnen Schritten, die seit Ge nerationen immer gleich abliefen, er wachte das kleine Dorf hinter den Dünen und Deichen zum Leben. Das Vieh blieb in den Ställen, einzelne Gruppen von Männern brachen auf, um nachzusehen, wie groß die Schä den waren, Die ersten Blicke derjenigen See wölfe, die sich angezogen und den Starken Tee der Dörfler getrunken hatten, galten dem Hafen und ihrem Schiff. Das Wasser war gefallen, aber der rasende Sturm hatte so viel Wasser in den Kanälen aufgestaut, daß der Schlick einige Fuß hoch mit Wasser bedeckt war. Die Schebecke hatte aufgesetzt, aber die drei Masten deu teten noch senkrecht in den Himmel. Vor einem grauen Hintergrund jag ten schwarze Wolken nach Osten. Big Old Shane und Ferris Tucker standen auf dem knarrenden Steg, musterten den Bewuchs an den Pfo sten und Pollern und betrachteten die Schäden an der Schebecke. „Bugspriet und Klüverbaum, das Schanzkleid und allerlei Tauwerk", brummte der Schiffszimmermann und stopfte sein rotes Haar unter den Schlapphut zurück. „Das ist schlimm,
39 Bretterstapel, ein Haufen Treib läßt sich aber reparieren. Was denkst holz mit Bearbeitungsspuren, das du, Old Shane?" „Sehen wir uns erst einmal die so Spantenwerk eines Ruderbootes und genannte Werft an. Mir wäre Flens etwa ein Dutzend Fischerboote, die burg drüben an der anderen Küste meist kieloben auf Bohlen lagen lieber." das war der erste Eindruck von der „Was soll's! Wir sind in Hoyer", Werft. Beim Näherkommen entdeck sagte Ferris Tucker, bliekte sich um ten sie allerlei Werkzeug, das gut in und fügte hinzu! „Vor dem Sturm Schuß gehalten war, dazu viele Holz sind sogar die Möwen ausgerissen." stücke, an denen zu erkennen war, Über das flache Land raste unge daß sie eingebaut werden sollten. hindert der Sturm. Das Wasser in den Farbtöpfe, ein Ofen für Leimtöpfe, Kanälen blieb unruhig. Der Bewuchs Sägemehl und Hobelspäne in Kör der Dämme legte sich fast waage ben - niemand arbeitete hier. recht an den Boden. Die Halme der „Auf mich macht das alles hier ei aufgegangenen Saat auf den Feldern nen guten Eindruck", meinte Ferriswurden ebenso hin und her ge Tucker und ging von einem Boot zum peitscht wie die Kronen der Laub anderen. Als er sich der Eingangstür bäume und die Zweige und Blätter näherte, die nach Westen aufging und der Hecken. von einem hölzernen Vorbau windge Tatsächlich war nicht ein einziger schützt war, klappte ein Laden auf. Vogel zu sehen, als die Männer zwi Nils Larsen schaute heraus und schen den Häusern, den Bauerngärt rief: „Kommt herein! Ich kann über chen und den Zäunen auf die Werft setzen. Die meisten hier sprechen zustapften, sich gegen den Sturm recht gut dänisch." stemmten und zusahen, wie der Die Tür öffnete sich, und schnell Rauch aus den Kaminen waagerecht schlüpften sie am Hausherrn vorbei davongerissen wurde. ins Innere. Von einem halb offenen Gebäude, „Ich bin Hansjörg", stellte sich der das rund eine Kabellänge vom Hafen weißhaarige Mann vor. „Über euer ende entfernt stand, führte ein Kies Schiff haben wir schon gesprochen. weg hierher. Halbmorsche Balken Ich habe alles gesehen. Zufrieden mit bildeten ein grobes Gleis. Neben dem unserer Werft?" langgestreckten Haus blieben die bei „Ich bin Schiffszimmermann", er den Seewölfe stehen und musterten widerte Ferris, schüttelte Hände und die Felder, die am flachen Landhang nickte zufrieden. Bald waren sie der Deiche anfingen und sich, von einig. Vier andere Männer würden, Weiden und Wiesen unterbrochen, wenn sie von den Deichen zurück bis zum Horizont dehnten. Ein Wald kehrten, dem Tischler helfen. Hans streifen stand schwarz wie eine jörg brachte Bier und Becher. Es ge Mauer da. Ein einzelner Kirchturm lang den Seewölfen, ihm genau zu er ragte in die Höhe, fünf Seemeilen klären, was sie brauchten, und daß weit hinter den Bäumen. selbstverständlich jeder aus der „Ob es ein Vorteil ist, daß dieses Crew, der etwas von Holzbearbeitung Dorf so weit und so einsam liegt?" verstand, mithelfen würde. Daß wäh fragte Ferris. rend der Unterhaltung einige Silber „Sie werden es schon gewußt ha münzen - als Anzahlung für Leim ben.'' und abgelagertes Holz - den Besitzer
40 wechselten, verbesserte die Stim mung ungemein. „Gut. In drei Stunden beim Schiff. Komm mit, wenn du deinen Schinken gegessen hast, Nils." „Wartet noch. Habt ihr schon den Bierbrauer gesehen?" „Nein. Zuerst das Schiff, dann das Bier, Nils", sagte Ferris Tucker. „Hast recht. Nichts läuft uns weg. Die meisten sind ohnehin auf den Deichen." Die Natur hatte auch hier die Men schen und ihre Gebräuche geprägt. In den dickwandigen Häusern, die aus nahmslos auf einer natürlichen oder künstlich geschaffenen Anhöhe stan den, konnten die langen, schwarzen Nächte und die eisigen Stürme über standen werden. Die Menschen an dieser Küste zo gen sich zurück und richteten ihr Le ben als Kampf gegen das Meer aus, dem sie Nahrung und Land abtrotz ten. Bis aus trockengelegtem Watt und kahlen Sanddünen Ackerland, Weiden und Wald wurden, dauerte es Generationen, und nur mit ununter brochener, zäher Arbeit aller Fami lien war es möglich, daß die Küsten bewohner ein einigermaßen gutes Le ben führten. Als Ferris Tucker und die beiden anderen das Schiff erreichten, befand sich mindestens ein Dutzend See wölfe auf dem Deck und klarte auf. Plymmie tobte mit den kläffenden Hunden der Dörfler über die Deiche, und Arwenack, der Schimpanse, hockte unter einem Bündel Decken am Mastfuß und blickte gelangweilt um sich. „Alles laufende Gut sowie Rahru ten und Segel - herunter damit!" rief Ben Brighton. „Breitet das Zeug auf dem Gras dort drüben aus." Wieder wurde die Lenzpumpe betä tigt Das Wasser, das sich aus allen
Teilen des Rumpfes in der Bilge ge sammelt hatte, floß in den Hafen. Im heulenden Sturm gingen die See wölfe daran, die Anordnung auszu führen. Ferris Tucker enterte unter Deck, holte seine Werkzeugkiste und be merkte, daß der nächtliche Sturm bei den offenen Luken das Schiffsinnere bestens ausgelüftet und getrocknet hatte. „An die Arbeit!" rief er gutgelaunt. „Bauen wir die schäbigen Reste am Bug ab!" Je mehr die Seewölfe abbauten, desto genauer sahen sie die Schäden. So behutsam wie möglich sägte, stemmte und hackte Tucker mit sei nen Helfern am Holzwerk von Klü verbaum, Bugspriet und den verzapf ten und verfugten Verbindungen her um, bis die einzelnen Reste am Bug lagen. Am stehenden Gut entdeckten die Seewölfe einige Enden, die über dehnt waren. Einzelne Kardeele wa ren gerissen. „Wenn das auf See im Sturm pas siert wäre", sagte Batuti und zeigte ein fünf Finger dickes Tau, das er aus der Talje gezogen hatte, „hätten wir einen neuen Fockmast gebraucht. Schöne Aussichten." Die Ausrüstungsteile stapelten sich bald auf dem Steg. Ferris Tucker schickte Piet Straaten, Nils Larsen und Jan Ranse mit den ausgebauten und teilweise zersplitterten Trüm mern zur Werft. „Gebt dem Hansjörg das Maß des Klüverbaums!" rief er. „Er soll sein bestes Holz nehmen." Mac Pellew und der Kutscher brachten ihr Geschirr an Deck und schleppten es scheppernd und Klir rend ins drittnächste Haus. Dort war tete heißes Wasser, wie die Hausfrau versprochen hatte. Ben Brighton ent deckte ein Faß gutes englisches Bier
41 und ließ es auf einem Holzbock am Arbeitsmaterial, wichtige Tätigkei ten zu erledigen. Ende des Steges aufstellen. Big Old Shane wollte sich genau an Inzwischen beschäftigte sich Ferris Tucker mit den übriggebliebenen sehen, ob er in der Schmiede arbeiten Stücken des achterlichen Schanzklei konnte. Auch für ihn gab es Arbeit: die des. Zwei Teams sahen die Brooktaue Nordsee hatte die Schebecke wirklich der Lafetten und die Geschütze nach. übel zugerichtet. Aber nur an einigen Es hallte wider von Befehlen, Ant Stellen. worten, Hammerschlägen, den Hie Alles war zu reparieren. ben der Schiffsäxte und dem Krei schen der Taljen. Das geordnete 4. Durcheinander auf den Planken und unter Deck ließ erkennen, daß jeder Berthold hob den Kopf, schlug den der Arwenacks wieder einmal alle jene Griffe wiederholte, die dazu not Kragen am Hals zusammen und wendig waren, das Schiff aufzukla stemmte sich gegen den Sturm. ren und in den besten Zustand zu „Da siehst du, Kapitän, wie es hier bringen. bei schlechtem Wetter zugeht." Zusammen mit ein paar anderen Bob Grey ließ sich im Bootsmanns stuhl zum Fockmasttopp hochhieven Männern aus dem Dorf standen sie und klopfte jeden Fingerbreit des Ma auf der höchsten Stelle des Deiches. stes an, schmierte Fett in die Taljen Vor ihnen erstreckte sich eine unun und half, die Taue durchzustecken. terbrochene Wasserfläche, schwarz Will Thorne entdeckte Risse an den und ausgefüllt mit riesigen Wellen, Säumen des kleinen Focksegels und die einander zu jagen schienen. Rie schleppte die Reservesegel ins Freie. sige Wolken türmten sich auf. Die un Die Schäden am Schanzkleid waren regelmäßige Linie der Deiche verlor sich rechts und links am Horizont. beträchtlich. „Heute abend haben wir die Stücke der durch die schrägen Bahnen von ausgebaut!" rief der Schiffszimmer schweren Regengüssen unsichtbar mann dröhnend von Achterschiff. geworden war. „Die Nordsee hat uns übel zugerich „Zur Zeit ist es ganz besonders tet." schlecht", erwiderte der Seewolf. Einige Planken waren aus dem Grä Nur wenige Schritte vor seinen tingsdeck herausgerissen oder in lan Stiefelspitzen prallten die gischten gen Splittern abgebrochen. Pete Bal den Ausläufer der Brecher gegen den lie watete hinter dem Heck in Wasser Deich. Die Steine, der Sand, das Gras und schwarzem Schlick und kontrol und das Gestrüpp - alles zitterte und lierte das Ruderblatt und die Zapfen bebte unentwegt. Aber wenn sich die und Lager. Wellen zurückzogen, lag die Mit Bertholds Frau war Big Old Oberfläche des seewärtigen Deiches Shane mittlerweile zum Schmied un unzerstört da. Die Luft war voller terwegs. Zwar war fast jede Familie Salzwassertropfen, vom Watt war in der Lage, nahezu alle wichtigen nichts zu sehen. Es gab nur die to handwerklichen Tätigkeiten selbst bende Nordsee. vorzunehmen, aber einzelne Männer „Wird noch schlechter", meinte ein hatten bessere Kenntnisse und das Dörfler. „Heute nacht, sage ich euch,
42 sollten wir unsere Dächer festhal ab, als Niklas, der Plattfisch, mit dem Schnapskrug auf ihn zu trat. „Danke. ten." „Wahrscheinlich hast du recht", Wir müssen heute noch hart arbei sagte Stefan. „Aber die Deiche hal ten." ten." Der Abschied war lang und überaus Der Seewolf wußte, daß die äußer herzlich. sten Deiche sehr alt waren. Vor zwei Mit dem Sturm im Rücken, der ihre Jahrzehnten hatte man sie auf eine Schritte schneller werden ließ, stol Höhe von fünfzehn Fuß gebracht. In perten der Seewolf und seine neuen den Prielen, die während der Ebbe Freunde über die Deiche und durch fast alle trockenfielen, stand acht saftige Weiden auf das Dorf zu. Die Fuß hoch das Wasser, das sich auch Halme waren dicht an den Boden ge über das Watt erstreckte. Zur Stunde preßt, Nässe war bei jedem Schritt zu hatten die Bauern den höchsten spüren. Das Vieh war nicht aus den Stand der Flut errechnet. Ställen hinausgelassen worden. Der „Abends, wenn die Ebbe abläuft", Sturm war noch eisiger geworden, erklärte der Schulze, „sehen wir wei aber es gab keinen Schnee in der Luft. ter." „Morgen sind wir klüger!" schrie Auf dem kochenden Meer war, wie der Schulze. erwartet, kein Schiff zu sehen. Sämt „Wir haben es zwar eilig", erwi liche Boote waren hoch und trocken derte der Seewolf, „aber so eilig, daß in Sicherheit gebracht worden. Die wir es mit dieser See aufnehmen, ha Familien der vier Fischer überschlu ben wir es wirklich nicht." gen sich vor Dankbarkeit und Bis sie die schützenden Hecken, ei Freude, als die Gruppe auf dem Rück nen Streifen Jungwald und die ersten weg nach Hoyer Andreas, Kristian, Scheunen erreichten, erklärten ihm Pieter und Niklas, den Plattfisch, be die Bauern, was „Trutz, blanker suchten. Hans!" bedeutete. Angesichts des Wü „Wir werden euch, bevor wir wei tens von Sturm und Wogen verstand tersegeln, noch ein paar Fische ab er dieses Wort, das nur von mutigen kaufen", versicherte der Seewolf, und starken Leuten ausgesprochen nachdem er die getrockneten, geräu werden konnte. cherten, sauber eingesalzenen und in Lake schwimmenden Fische gebüh rend bewundert hatte. „Aber so schnell, fürchte ich, werden wir die Jack Finnegan ließ den Griff des Leinen nicht loswerfen." Holzes los, das im Spill steckte. Die Gehöfte der Fischer lagen an ei „Fertig, Smoky?" fragte er. Das nem schmalen Kanal, der weitaus Tauwerk, das den Fockmast hielt, niedrigere Böschungen und kleine war in jeder Einzelheit, bis zu den Rü Sperrschieber aufwies. Hasard be sten hinunter, überprüft und neu ge griff, als er die Gräben sah, die auf zurrt worden. Als Smoky mit dem Be diese Durchlässe zuführten: hier legnagel dagegenschlug, summte das wurde nasses Land allmählich trok Ende. kengelegt. Später würden sie es pflü „Kannst zu schwitzen aufhören, gen und Pflanzen darauf anbauen, Seemann", sagte Smoky. „Fertig. die salzigen Boden vertrugen. Wird den nächsten Sturm überste „Gehen wir", sagte er und wehrte hen."
43 „Die Wanten sind klar", versicherte auch Roger Brighton zufrieden. „Schaffen wir noch den Großmast?" Die Seewölfe, die Ferris Tucker beim Abbau auf dem Vorschiff gehol fen hatten, arbeiteten schon in der Werft. Im Heck lagen die meisten Teile, die noch zu verwenden waren und zum Schanzkleid gehörten. Am Steg arbeitete Ferris Tucker an den ausgebrochenen Planken des Heck teiles. Paddy Rogers sägte und hackte die Reste zu handlichen Kloben, die von den Köchen gebraucht werden konn ten. Der Segelmacher hantierte mit Takelgarn und Segelgarn und seiner Ahle. Hasard schob sich an der Gruppe von Dörflern und Seewölfen vorbei, die das halbleere Faß umlagerten und englisches Bier tranken. „Arbeitet nicht so schnell", sagte er und schlug seinen Arwenacks auf die Schultern. „Wir sitzen hier noch ein paar Tage fest." „Das Schiff ist tatsächlich reichlich mitgenommen", sagte Ben Brighton zu ihm und gab ihm einen Becher Bier. „Die Leute hier sind wirklich einzigartig. Mittags haben sie uns alle wieder zum Essen eingeladen. Sie hel fen wo sie können." „Das weiß ich. Wir werden uns auch entsprechend bedanken", erwi derte Hasard. „Und wie sieht es unter Deck aus?" „Leidlich trocken. Aber es gibt noch jede Menge Wuhling." Ben Brighton und Hasard ver schwanden unter Deck. In den dunk len Teilen des Schiffsbauches brann ten Laternen. Auch hier arbeiteten die Arwenacks, besserten kleine Schäden aus und zerrten in die schmalen Gänge hinaus, was feucht geworden war. „Wahrscheinlich gibt es heute noch
starken Regen!" rief der Seewolf durch die Kammern. „Laßt das wich tige Zeug im Schiff." Die Köche beschäftigten sich da mit, ihre Gewürze, das Salz und die Vorräte neu zu verstauen und aufzu klaren. Becher hingen wieder an den Haken, die Schalen und Teller waren in den Racks festgezurrt und mit ge spannten Netzen und in Schwalben nestern gesichert. Es roch nach ver schüttetem und feuchtem Gewürz. „Noch einmal eine solche Wuhling, und ich koche nicht mehr", be schwerte sich Mac Pellew. Hasards Kammer war von seinen Söhnen aufgeklart worden. Prüfend strich der Seewolf über die Planken, die Nähte und die hölzernen Verklei dungen. Er fand keine Nässe, kein Salz, nur feuchte Ecken. Er stapelte die feuchten Decken übereinander und fand heraus, daß die beiden See mannskisten dicht geblieben waren. „Sagt es weiter", erklärte er und bückte sich, als er zum Niedergang stapfte. „Wer heute im Schiff schla fen will, soll es ruhig tun. Aber es wird schwer sein, den Leuten von Hoyer das zu verklaren." „Sie lieben uns", sagte Dan O'Flynn grinsend, der im Licht von zwei heiß gebrannten Lampen vor seinen Kar ten saß und um sich die gewohnte peinliche Ordnung verbreitet hatte. „Schon möglich. Ich will heute den Alchimisten besuchen. Sollte dich in teressieren, Mister Navigator." „Bin gern dabei", versicherte Dan und besorgte seine Eintragungen in der Seekarte, die dieses Gebiet ab deckte. Neben dem Niedergang stieß Ha sard mit Pete Ballie zusammen. „Mit dem Ruder alles in Ordnung?" fragte er sofort. Pete Ballie nickte und brummte: „Ich habe nichts gefunden. Im Was
44 ser war nicht viel zu sehen. Über Was ser ist kein Schaden." „Wir sehen nach, wenn der Sturm das Wasser nicht mehr in die Priele drückt", versprach Hasard. Die tägliche Arbeit, vom Füttern der Tiere, Ausmisten der Ställe und Melken der Kühe und Schafe bis zur Hausarbeit, dem Kochen und zu den anderen Pflichten im Haus und in den Scheunen, beschäftigte die Dörf ler. An einem Dach nagelten sie Bret ter über die frisch befestigten Reet bündel, die der Sturm davongefetzt hatte. Angebrochene Äste wurden aus den Bäumen gesägt. Aus der Schmiede war das Gehämmer von mindestens drei Arbeitern zu hören. Hasard trug sein nasses Zeug zu Frau Marthe und bat sie, es zu trock nen. „Bald können eure Leute nicht mehr arbeiten", sagte Marthe mit gut mütigem Lachen. „Es wird dunkel, Kapitän. Setzt euch zu uns, erzählt von den Küsten, die unsereins nie mals sehen wird, und von den Schatz inseln." Ein breites Lächeln glitt über Ha sards Gesicht, in dem die Bartstop peln sprossen. „In einer Stunde habt ihr mehr steif gefrorene, hungrige und trinkfe ste Seeleute, als euch lieb ist", sagte er. „Übrigens, heute nacht. Stellt ihr Sturmwachen auf? Wir helfen euch natürlich. Wir brauchen nur klare Anweisungen." „Da sollt ihr mit Berthold spre chen", antwortete sie. „Milch und Ho nig ist fertig, wenn du kommst, Kapi tän." „In einer Stunde", wiederholte er und ging zurück zur Schebecke, um seinen Leuten zu helfen. Er sah, wie Roger und Will die Rahen und Segel in einer trockenen Scheune in Sicher
heit brachten. Die ersten Laternen wurden angezündet und ausgebracht. Gegen Mitternacht würde sich zei gen, ob tatsächlich die Ebbe richtig ablief und die fraglichen Kanäle, Ha fenbecken und Priele trockenfielen.
Vier Stunden vor Mitternacht: Au ßerhalb der Häuser herrschte unein geschränkt die pechschwarze Finster nis der Nacht. Der Mond war nicht zu sehen, nicht ein Stern funkelte. Durch Tür- und Fensterladenritzen drang schwache Helligkeit. Der Sturm heulte lauter und schneiden der als je zuvor in diesen Tagen. Der Seewolf tat einen langen Schritt und schloß die Tür hinter sich. Der schwere Eisenriegel zerrte in seiner Hand. Der Sog des Sturms schmetterte die Tür in den Rahmen. „Du hast recht, Berthold", sagte Hasard. „Das wird eine schlechte Nacht für eure Hausdächer." Der Seewolf trug die fast knielange Jacke, die er dem Dorfschulzen oder besser Frau Marthe abgehandelt hatte. Bewußt hatte er nicht gescha chert und mehr bezahlt, als der Schulze nach langem Sträuben ver langt hatte. Die Jacke war aus den besten Stük ken der gegerbten und weich gearbei teten Teile von Schafsfellen zusam mengenäht. Viele Taschen, große Knöpfe aus Horn, Ledersäume und ein Kragen, den man bis über die Oh ren hochklappen konnte, sowie lange Stulpen, in denen die Finger vor der Kälte geschützt blieben, hatten den Seewolf bewogen, dem Schulzen mehr für die Jacke zu bezahlen. Trotz des rasenden Sturms, der ei sige Kälte und feinen Wassernebel mit sich brachte, war es unter der Jacke heimelig warm.
46 „Wenn es zu arg wird, läuten wir die Sturmglocke", sagte Berthold und zeigte auf das Türmchen aus Bohlen, Brettern und Eisenwinkeln, das am Ende seines Hauses auf das Stroh dach aufgesetzt war. „Los! Ich bin neugierig, ob wir mit mehr Gold zurückkehren, als wir bei uns haben!" rief Dan O'Flynn. Don Juan de Alcazar lachte in sich hinein. Sie wollten den Alchimisten besuchen und vielleicht Heiner, dem Bierbrauer, einen Besuch abstat ten. Hasard warf einen langen Blick hinunter zur Schebecke, über deren Deck drei Lampen schaukelten und die Gestalten der Wache zeigten, die dick vermummt in windgeschützten Winkeln hockten. „In Ordnung", murmelte er und stapfte weiter. Der Wind packte sie, als sie den Windschatten des Hauses verließen und den Kiespfad betraten, der sich schwach im Licht der La terne abhob. Mit dem Sturm im Rücken eilten sie fast zwischen den Häusern und Ställen entlang. Losgerissene Blätter und die abgestorbenen Ästchen des Vorjahres wirbelten um ihre Köpfe. Das Licht zuckte und flackerte, aber Schulze Berthold wußte genau, wo hin er zu gehen hatte. Aus einigen Ställen ertönte das angstvolle Brül len der Rinder. Die Tiere schienen zu spüren, daß eine ganz besondere Nacht anbrach. Der Rauch und die Funken aus den Kaminen trieben dicht über dem Bo den dahin. In der Nähe der kleinen Brauerei roch es nach Maische und saurem Bier. Aus den nassen Weiden stieg ein bitterer, salziger Geruch auf. Als die Männer vor dem vergleichsweise gro ßen Haus des Magisters standen, schlug ihnen ein Gestank in die Na
sen, den sie nicht deuten konnten: es roch nach vielerlei üblen Dingen. Schulze Berthold ließ den eisernen Klöppel, der wie der Kopf eines Fa belwesens geschmiedet war, gegen den fünfzackigen Stern fallen. Im Haus dröhnten die Schläge fast lauter als außerhalb. Nach einer Weile wurde die Tür einen Spaltbreit geöff net. Berthold hob die Laterne und rief: „Fremde Seeleute wollen den Magi ster besuchen! Du hast es verspro chen, Cedomir. Laß uns hinein!" Cedomir von Emch, ein riesiger Mann mit schlohweißem, langem Haar, öffnete wortlos und schaute ängstlich in die Richtung seiner Ex perimentierstube, ob der Wind dort nicht etwas umwarf oder eine der vie len Flammen auslöschte. Aus der Tür drangen Qualm, noch üblere Gerüche und ein riesiger Staubwirbel ins Freie. Nacheinander schoben sich die Besucher ins Innere. „Guten Abend, Magister", sagte Ha sard und stellte sich und seine Beglei ter vor. „Ich bin überrascht, hier am Ende der Welt, zwischen Wasser und Land, einen Mann zu finden, der die letzten Dinge zu ergründen sucht." Cedomirs Kopf fuhr herum. Er starrte Hasard aus dunklen Augen an und war sichtlich überrascht, einen solchen wohlgesetzten Spruch zu hö ren. Gedankenlos schüttelte er Dans Hand und deutete dann geradeaus. „Jaja", murmelte er. „Von den letz ten Dingen - es ist ein weiter, be schwerlicher Weg bis dorthin." „Das wissen wir Seefahrer auch recht gut", sagte Hasard und schaute sich neugierig um. Cedomir von Emch war alles an dere als versponnen oder gar umsym phatisch. Er zählte etwa fünfzig Herbste, war groß und schlank und bewegte sich mit der Schnelligkeit ei
47 ner Katze. Sein grauweißer Kinnbart war gepflegt, aber seine Handrücken schienen von Brandflecken übersät und waren von Altersflecken gezeich net. Unter den Fingernägeln befan den sich schwarze Ränder. „Was kocht, brodelt und stinkt dort?" fragte Don Juan. Das Innere des Hauses war rund fünfundvierzig zu dreißig Fuß groß. Mächtige Bohlen trugen das Dach. Von ihnen hingen Bändsel und dünne Ketten nach unten. An einen mächti gen Kamin waren sieben Feuerstellen angeschlossen. An drei Wänden stan den wuchtige Brettertische, auf de nen ein undurchschaubares Chaos aus Bechern, Schalen, Gestellen, Tie geln und Pfannen, aus Steinen und Metallbrocken, Flaschen und Krügen voller unbekannter Flüssigkeiten, aus Öllampen und Kerzen herrschte. Hasard wiederholte die Frage, wäh rend der Alchimist im dunklen Teil des Hauses verschwand und mit ei nem Krug und einem Tablett wieder erschien, auf dem acht unterschiedli che Becher standen. „Wir Alchimisten", fing er an und räumte von wackligen Schemeln und Sesseln die dicken Bücher herunter, „sind die wahren Sucher und Erfor scher der Dinge. Die Weisen aus der alten Zeit haben uns gesagt, daß die Welt aus wenigen Elementen besteht. Feuer, Wasser, Luft und Erde sind vier davon. Es gibt aber viel mehr. Al les, was wir kennen, ist eine Verbin dung von Elementen. Auch die Sterne, die Einfluß auf unser Leben haben, zählen dazu. Ein jeder von uns versucht, herauszufinden, was man braucht, damit aus zwei oder drei ver schiedenen Elementen ein neues ent steht. Wir suchen aus, wiegen ab, schmelzen und mischen, und alles wird aufgeschrieben. Setzt euch, meine Freunde."
Er vollführte eine schwungvolle Armbewegung und fegte einen Leuchter vom Wandbord. Wein gluk kerte in die Becher. „Genügt das Leben eines einzelnen Mannes, um das herauszufinden?" fragte der Seewolf interessiert. „Man hat uns gesagt, du könntest Gold her stellen?" „Ich versuche es. Bisher ist es noch nicht gelungen", antwortete Cedomir und lachte verlegen. „Außer mir ver suchen es noch viele andere. Mich hat es hierher, in die Ruhe und Abge schiedenheit, verschlagen, Das eine oder andere kann ich den Bauern und Fischern zeigen, Dafür lebe ich gut von ihrer Milch und dem fetten Käse," „Was kann ein Alchimist eigent lich?" wollte Dan O'Flynn wissen. Hasard übersetzte. „Albertus Magnus hat es uns ge sagt: Wir können nicht die Elemente verändern, aber es gelingt, Gleich wertiges an ihre Stelle zu bringen. Wir färben Metalle, die golden oder silbern erscheinen. Noch können wir kein Gold herstellen, aber es wird uns gelingen. Bei den Forschungen nach den tiefsten Gründen entdecken wir vieles." „Zum Beispiel?" fragte der See wolf. Der Wein schien von weither zu stammen. Er war rot, schwer und duf tete herrlich. „Wie sich Metalle verhalten, wie man Farbstoffe findet, welche Pflan zen heilen, welche vergiften, warum das Bier sauer wird und solcherlei. Für die Bauern ist es wichtig, daß sie ihre Wolle färben und die Farbe in der Sonne nicht bleicht, im Wasser nicht ausläuft, kein Hautjucken er zeugt und leuchtet. Da, die Verzierun gen an deiner Jacke, Kapitän, sie sind mit einer Farbe hervorgerufen, die ich gefunden habe."
48 „Ich verstehe", sagte Don Juan schließlich. „Er untersucht alles. In meiner Heimat hätte er lebensgefähr liche Schwierigkeiten mit der Kirche und ihren Priestern." „Nicht hier. Nicht bei uns", wider sprach der Schulze energisch. „Du liest viel?" fragte Dan O'Flynn und hob einige Bücher auf. Er blät terte darin, nachdem es ihm gelungen war, seinen Becher auf einem freien Platz abzusetzen. „Es ist vieles, fast alles, in der Sprache der Gelehrten geschrieben. In Lateinisch", erläuterte der Magi ster. „Du kannst sie lesen?" In sehr holprigem Latein gab Dan die Antwort. „Nur das, was ich in See karten lesen können muß. Mehr nicht." „Bedauerlich. Wollt ihr sehen, wie ich arbeite?" „Gern." Cedomir sprang auf und eilte auf seine Tische zu. Im Hintergrund des Hauses, durch eine halbhohe Wand abgetrennt, kochte und schlief er. Of fenbar war ihm nicht daran gelegen, viel Tageslicht in den Ort seiner Stu dien zu lassen. Auch von innen waren die wenigen Fenster mit Brettern ver kleidet. „Hierher!" Der Magister winkte. In einem Tiegel aus gebranntem Ton von weißer Farbe brodelte, drei Finger hoch, eine silberne Flüssig keit. In der Nähe stand eine Sanduhr, die zur Hälfte abgelaufen war, ein rie siges Ding, das vermutlich nach jeder Stunde einmal umgedreht werden mußte. Mit einer zierlichen Zange nahm der Magister vier Stücke, die wie frisch zerbrochenes Metall aussahen, und legte sie nacheinander vorsichtig in den geschmolzenen Bodensatz. Un unterbrochen murmelte er dabei Un verständliches. Die zähe, heiße Flüs
sigkeit färbte sieh nacheinander rot, blau, schneeweiß und nahm schließ lich, als der letzte Brocken geschmol zen war, eine funkelnde Goldtönung an. „Herrlich, nicht wahr?" Der Alchi mist unterbrach seine unverständli che Litanei und las etwas von einem Pergament ab. „Aber es ist kein wah res Gold. So wie Albertus Magnus sagt: ,Ich prüfte das Gold der Alchi misten, und siehe, nachdem es sechs mal, siebenmal erhitzt wurde, ver brannte es und wurde zu Bodensatz.' Habt ihr Kupfermünzen?" „Natürlich", brummte der Seewolf und fischte kleine Kupfermünzen aus London aus seiner Gürteltasche. Auf der Handfläche hielt er fünf von ih nen dem Alchimisten entgegen. „Danke. Und nun - schaut genau hin!" Mit der Zange, die in nadelfeine Spitzen auslief, nahm der Magister die Münzen und tauchte sie einzeln in die Schmelze. Er murmelte etwas von „Pyrit, Narrengold, gutes Blei, Chal kozit" und legte dann die Münzen auf den Tisch. Unter ihnen quoll Rauch hervor, sie brannten sich einen halben Finger tief ins Holz. „Gold!" flüsterte Schulze Berthold entgeistert und verschüttete seinen Wein. „Es ist das Gold der Narren", sagte der Magister traurig. „Ein trügeri scher Überzug, ein falscher Glanz, weiter nichts." „Aber die Münzen glänzen, als kä men sie aus der königlichen Münzan stalt", sagte Don Juan. „Ein Alchimist, der betrügen will, würde das jetzt behaupten", erklärte mit seltsamem Grinsen der Magister. „Aber auf diese Weise erscheint Ei sen wie Gold. In ein paar Tagen wird
49 der Glanz stumpf sein. Da, steckt eure goldenen Kupfermünzen wieder ein." Er schreckte sie in Wasser ab und ließ die Zange fallen. Dann drehte er sich zu seinen Besuchern herum und breitete die Arme aus. „Natürlich stellen wir noch immer kein wirkliches Gold her. Aber ich bin nahe daran. Dafür kenne ich alle Elemente, die hier zu finden sind, und sogar dem Heiner kann ich sa gen, wie er besseres Bier brauen kann, ganz abgesehen von den Krankheiten der Schafe, die mit mei ner Medizin kuriert werden, auf das beste und gesündeste sogar." „Das ist richtig", bemerkte der Schulze. „Damit hat er recht, unser Magister." Der Alchimist erklärte dem See wolf, den er wohl für den geeignetsten Zuhörer hielt, daß es auf dieser Welt noch so vieles zu entdecken gäbe, vom Groben, Großen, Gewaltigen bis hinunter zu den winzigsten Partikeln, die von Demokritos als „atomos" be zeichnet würden. Er versuchte, Ideen und praktische Erfahrungen zusammenzufügen und auf dem Umweg über die verschiede nen Grade der Hitze - die er in den unterschiedlichen Feuerstellen ga rantierte - die Zusammenhänge und das innerste Wesen des Kosmos zu er kennen. Schulze Berthold gähnte und brummte: „Aber auf diesem sehr lan gen Weg, edler Magister, erzeugst du eine gewaltige Menge an schweflich ten Dämpfen. Mir dreht sich alles vor den Augen und im Kopf." „Dann nimm einen Schluck Wein Und hole draußen tief Luft. Hier her innen kannst du nur Weisheiten ein saugen, die noch zu groß für dich sind." Berthold lachte, stand auf und schenkte sich nach. Ohne beleidigt zu
sein, erklärte er: „Ein Vorschlag, lie ber Cedomir, der etwas für sich hat." Während sich der Alchimist zer streut von Don Juan und Berthold verabschiedete, fuhr er fort; Dinge zu erklären, die nichts weniger als wun derbar waren. Es wäre möglich, nach einem sehr langwierigen und aufwendigen Ver fahren in der Wärme eines Misthau fens künstliches Leben zu erzeugen, und zwar Menschen nach Wunsch, fingerlang, die in Glasgefäßen als Kö nig, Kurtisane oder Bischof „gebo ren" würden. Nachdem der Seewolf in steigender Verwirrung zugehört hatte, leerte auch er sein Glas. Dan O'Flynn schüttelte den Kopf und glaubte kein Wort. „Uns bleibt, verehrter Magister von Emch", sagte Hasard und betrachtete das sehenswerte Durcheinander von Gegenständen und Werkzeugen, „nur noch das Staunen. Morgen müssen wir hart arbeiten. Besuche uns doch beim Schiff. Vielleicht fällt dir etwas Neues, Überraschendes ein, wenn du uns hämmern und spleißen siehst. Wir sind weidlich müde." Er stellte den Becher ab und war mittlerweile halb krank von den ät zenden und stechenden Gerüchen, die aus den Tiegeln aufstiegen. Auch Dan stand auf und hielt dem Magister die Hand entgegen. „Ach", sagte der Forscher, „es gäbe noch so vieles, was ich euch zeigen und erzählen könnte." „Wir haben die Erzählungen dieses Abends noch nicht ganz begriffen", murmelte Dan. Der Magister brachte sie zur Tür. Die frische Luft traf die Männer wie ein Fausthieb. Sie stolperten, weit ge gen den Wind vorgebeugt, auf die schaukelnde Laterne des Schulzen zu.
50 Er packte den Schulzen am „Er ist verrückt, meine ich", sagte Oberarm, drehte den Mann halb her Dan. Der Seewolf widersprach: „Mag um und deutete zu dem Dach. Die sein, daß er viel Unsinn verzapft. meisten glühenden Pünktchen waren Aber er wird immer wieder auf eine verloschen, aber an zwei Stellen bil Entdeckung stoßen, die ihm und an deten sich, vom Wind angefacht, win deren Menschen hilft. Ohne Leute zige Glutnester. wie ihn gäbe es heute weder Kompaß „Gleich brennt es! Die Feuer noch Spektiv." glocke! Alle aus den Häusern, mit Ös „Da hast du wieder recht, Sir", fässern und Pützen." Der Schulze hatte verstanden. Dan sagte Dan und schlug den Kragen hoch. rannte nach rechts, Don Juan nach Der Sturm kreischte und heulte. links. Der Seewolf warf sich herum Langsam stapften sie auf das Haus und spurtete, in den Sturmstößen des Schulzen und den Fischerhafen schwankend wie ein Betrunkener, zu, der so lang war wie die Schebecke, zum Schiff hinunter. Er fing zu brül die unruhig an den Festmachern zerr len an. te, aber sicher lag. „Achtung! Alle Mann mit allen Ös „Kein Stern, kein Mond. Und lang fässern, die ihr findet, an Deck! Eine sam sollte das Wasser sinken!" rief Kette von Wasser zum Haus dort drü der Schulze. Er blieb an einem Poller ben!" stehen und hielt die Lampe über das Drei Gestalten sprangen auf. Stim Wasser. Im Holz waren verschiedene men riefen aufgeregt. Markierungen eingesägt. „Aye, aye! Verstanden! Wir kom „Eine halbe Handbreite, immer men." hin", sagte er und richtete sich wieder Die Dörfler bewiesen innerhalb auf. „Vielleicht haben wir heute kurzer Zeit, daß sie gewohnt waren, Glück." mit Gefahren richtig umzugehen. Wenn die Ebbe tatsächlich ablaufe, Noch brannte es nicht, aber zwei dann könne selbst der schlimmste handtellergroße Glutkreise wuchsen Sturm das Wasser nicht über die in dem dicken Belag aus Reet und Deiche drücken und die Dammkro dünnem Reisig. Die ersten glimmen nen zerstören, belehrte er die See den Stücke wurden bereits herausge wölfe. rissen und wirbelten in die Dunkel Zufällig schaute Dan O'Flynn in die heit. Höhe und sah den Funkenschauer, Das Geräusch der kleinen Glocke der aus einem Schlot fuhr. mischte sich in das Gebrüll der Män Markus, der Kürschner, lebte dort. ner. Türen flogen auf. Zusammen mit Offensichtlich hatte er in der Glut den Bauern sprangen auch Arwe herumgestochert. Wieder wurden die nacks ins Freie, meist noch vollstän Funken quer über den Weg und die dig angezogen. Hecken gewirbelt und landeten pras „Hierher!" selnd im feuchten Reetdach. Von Bord schwangen sich Luke Der Seewolf stieß Dan an und Morgan, Stenmark und Bill. Jeder fragte alarmiert: „In der Scheune schleppte mindestens drei Lederpüt da hat Will unsere Segel verstaut. zen. Hasard stand am tiefsten Punkt Wahrschau, Dan. Die Funken, der des Steges und warf sich hin. Noch Wind..." einmal brüllte er. Man drückte ihm
51 eine Pütz in die Finger. Er tauchte sie tief ein, wuchtete sie auf den Steg, und schon packte er die zweite. Eine Gruppe Männer stob heran und riß einander die wassergefüllten Pützen aus den Händen. Die Kette der Hände und Arme wurde mit je dem Atemzug länger. Unverändert gellte die Glocke. Als sich auch Bauern mit schweren Holzkübeln einreihten, krachte plötz lich Edwin Carberry neben Hasard auf die knarrenden Bretter und schöpfte ebenfalls Wasser. Am anderen Ende der Menschen kette, die etwa zwei Dutzend Männer lang war, erkannten sie in den ersten, hochlodernden Flammen des Daches den Magister, der einen Kübel packte und ihn wohlgezielt hochriß. Der Wasserschwall traf mitten in den hö her gelegenen Flammenkreis. Es zischte bis zum Wasser hinunter, und eine Dampfwolke breitete sich aus. Hasard hob, weil Nachschub fehlte, den letzten gefüllten Kübel hoch und reichte ihn, weniger hastig, weiter. „Das war schnelle Arbeit", sagte er. Der Schulze rannte vorbei, Frau Marthe zog wohl am Glockenseil. „Erfolgreich ist sie auch", sagte der Profos und fing ein leeres Ösfaß auf, das ihm jemand zuwarf. „So schnell kann das gehen, wie?" Drei oder vier Dutzend Was sergüsse ergossen sich nicht nur auf das Dach. Aber die meisten trafen die Glut und löschten die Flammen. Dann breitete der Besitzer der Scheune die Arme aus und schrie: „Hört auf, danke: Es ist gelöscht!" Heiner rannte mit einer Leiter her bei und verteilte unbeabsichtigt mit den Enden, die er wild herum schwenkte, Kopfnüsse und Püffe ge gen die Schultern. Dann erreichte er unter einem Chor von Geschrei und
Flüchen das Haus. Er legte die Leiter an und enterte flink wie ein Affe auf. „Noch Wasser her!" schrie er. „Da glimmt es noch!" Er schüttete vorsichtig und lang sam fünf Kübel voll Wasser in die Reetbündel, nachdem er sie mit den bloßen Händen und dem Messer aus einandergezerrt hatte. Mittlerweile gab es genügend Fackeln und ange zündete Laternen. Der Schulze schrie aus voller Lunge: „Löscht die verdammten Fak keln, ihr Narren! Oder wollt ihr das Dorf niederbrennen?" Fünfmal stiegen Dampfwölkchen aus dem Reet, dann erklärte Heiner den Brand für gelöscht. „Wahrscheinlich werden wir nun mehr zu Dorfheiligen erklärt", sagte Don Juan und betrachtete seine ge schwärzten Hände. Der Wind wir belte jetzt die Rußflocken durch die Nacht. „Und wahrscheinlich endet es wie der in einer Sauferei." Dan O'Flynn versuchte, die Feuerglocke zu übertö nen. Im selben Augenblick hörte Frau Marthe am Seil zu zerren auf. „Nicht mit mir", sagte der Seewolf und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Er blickte aufmerksam zum Dach der Scheune hinüber, wo inzwi schen zwei Dörfler nach versteckten Schwelbränden suchten. „Wenn wir nicht den Magister besucht hät ten..." Dan senkte den Kopf und kicherte. „Ich erkenne den Nutzen eines Alchi misten. Wenn er so flink denkt, wie er löscht, dann wird er doch noch Gold herstellen können." Plötzlich schleuderte der Sturm mit erheblicher Gewalt riesige Regen tropfen fast quer durch die Luft. Die Männer duckten sich unter ei nem wütenden Regenschauer.
52 „In die Häuser!" brüllte jemand. „Der Regen setzt ein. Das bricht dem Sturm das Genick." Die Dörfler handelten ebenso wie die Seewölfe. Sie ließen fast alles ste hen und liegen und liefen auseinan der. Auch Don Juan und der Seewolf stürmten auf das helle Rechteck der offenen Haustür zu. Noch während sie liefen, verstärkte sich der Regen. Binnen weniger Atemzüge übertönte ein gewaltiges Brausen und Rau schen das Heulen des Sturms. Es goß, und es schien, als wollten sich die Wolken am Löschen beteiligen, zu spät zwar, aber desto gründlicher. Die letzte Tür krachte zu. Nur noch die Laternen der Sche becke, von denen dünner Dampf auf stieg, leuchteten über dem sinkenden Hafenwasser, das in unzählbare win zige Ringe zerrissen wurde. Die Wa chen waren längst unter Deck ver schwunden und wärmten sich an dem Glutkorb, über dem der Teekessel der Arwenackkköche hing. 5. Die Regenmassen stürzten stunden lang herunter. Der Sturm riß und wir belte die Tropfen durch die Nacht, ununterbrochen und mit größter Wucht. Hin und wieder drehte der Wind und ließ für lange Momente nach, dann rauschte der Regen nur noch schräg oder gar senkrecht auf die Dächer, die Deiche und in das zurückflutende Wasser des Hafens und der Kanäle. Niemand traute sich ins Freie, das Erdreich verwandelte sich in dicken Morast und die Halme lagen flach im nassen, sandigen Grund. Gegen Mitternacht erreichte die Ebbe ihren tiefsten Stand. Aber auch da fiel die Schebecke nicht völlig
trocken. Ein paar Handbreiten Was ser blieben im Hafenbecken stehen. Der Regen prasselte auf das Deck der Schebecke, sammelte sich in brei ten Rinnsalen, floß nach Steuerbord und Backbord, gurgelte an den Sülls und lief durch die Speigatten ab. Die zweite Wache löste die Männer an Bord ab, die sich in die warmen Ställe zurückzogen und traumlos schliefen. Unverändert heulte der Sturm. Ob wohl das auf- und abschwellende Brausen und Wimmern höchste Ge fahr signalisierte, schliefen die Dörf ler ebenso gut wie die Arwenacks. Aber während der letzten Wache, noch vor dem ersten Morgengrauen, stellte sich Schritt um Schritt eine willkommene Änderung ein. Der rasende, schwere Regen ließ nach, bis nur noch einzelne Schauer winziger Tropfen wie dünner Nebel über das flache Land wehten. Dann jagte der Sturm - dessen Wut noch immer nicht gebrochen war die Wolken vom Himmel. Stern um Stern zeigte sich, und der volle Mond tauchte hinter den ufernahen Wäl dern auf. Binnen einer Stunde war das gesamte Firmament klar und völ lig wolkenlos. Die Sterne funkelten und blinkten, bis einer nach dem an deren verschwand, während sich im Osten der erste graue Streifen ab zeichnete, der einen sonnenstrahlen den Morgen versprach. Der Dorfschulze blinzelte ebenso wie sein Gast, als sie gegen eine hal bierte Sonnenscheibe von honiggel ber Farbe blickten. „Das erlebst du oft an der Küste", sagte Berthold., „Aber der Sturm bleibt uns noch." „Wird es ein einigermaßen warmer Tag?" wollte der Seewolf wissen. „Ich bin sicher. Komm herein. Marthe hat das Essen auf dem Tisch."
54 „Seltsam", meinte der Seewolf und konnte beinahe zusehen, wie sich die zuckte mit den Schultern. „Euer niedergeklatschten Halme aufzurich Land ist auch ohne brechende Deiche ten begannen. Mac O'Higgins und Pete Ballie klet und Sturmflut unter Wasser." „Das ist eine lange Geschichte", er terten in den dunkelgrauen, sandigen klärte Berthold, als sie ihre Brote mit Schlamm des Fischerhafens hinunter gelber Butter bestrichen, kuhwarme und prüften jeden Quadratzoll des Milch, mit Honig gesüßt, tranken und Ruders, der massiven Lager und der einzelne Stücke aus der Schüssel mit hölzernen Teile. Um das Ruderblatt Fleisch hervorholten. „Du weißt, daß ungehindert bewegen zu können, hat wir vieles Land eingedeicht haben. ten sie einen Halbkreis im Schlick Früher war es salziges Watt. Je mehr freigeschaufelt. Bei dieser Gelegen Regen fällt, desto schneller wird das heit überprüften sie auch die Planken Salz aus der Erde geschwemmt. In ein im Bereich des Hecks und des Grä paar Tagen sind die Entwässerungs tingsdecks, aber sie fanden weder gräben wieder voll, und durch die Risse noch Lecks zwischen Planken und Spanten. Priele läuft fast süßes Wasser." Mac und Pete enterten wieder auf „Überdies werden Sonne und Sturm eure Felder schnell trocknen", den Steg und meldeten: „Die näch fügte Don Juan seine Meinung hinzu. s t e n Stürme überstehen wir - wenig stens mit unserem Ruder. Es gibt „Oder nicht?" Berthold nickte und lauschte nach keine Schäden." draußen, wo die ersten Arbeitsge „Das höre ich gern", sagte der See räusche zu hören waren. wolf. Er schleppte den Anker den Steg entlang und ließ ihn keuchend „So ist es." Es dauerte keine halbe Stunde, und fallen. Eine Gruppe erschien aus der alle Arwenacks waren auf den Bei nen und fingen dort zu arbeiten an, Werft. Eine Schar Kinder rannte um wo sie gestern bei Anbruch der Dun sie herum. Sie trugen die schweren, roh geschnitzten Stützen des Schanz kelheit aufgehört hatten. In der Werft wurde gesägt und ge kleides. Sie waren nach den Maßen hobelt, aus der Schmiede hörte man der vorhandenen, zersplitterten und das Klingeln der Hämmer. Der letzte abgebrochenen Stücke hergestellt Rest von Salz war von Deck und den worden. „Habt ihr alle geschafft?" rief der wenigen Aufbauten der Schebecke Seewolf vom Ende des Steges. gewaschen worden. „Sogar zwei in Reserve!" rief Ferris Die Sonne kletterte höher, und überall dort, wo es ein wenig windge Tucker zurück. „Aber sie müssen schützt war, brannte sie mit stechen noch geschliffen und gebeizt werden, versiegelt und so weiter." der Hitze. Aus den Deichen und Wällen, aus „Könnt ihr sie einbauen?" Hecken und Bäumen, aus den Fel „Wir fangen schon damit an." dern - überall stiegen leichte Nebel Die Sonnenhitze und der Sturm, auf. Der Sturm wirbelte ihn fort, und der mit unverminderter Heftigkeit an einem ungewohnt leuchtenden von See her heulte, sogen die Feuch Himmel ballten sich behutsam die tigkeit aus dem Land und nicht weni ersten Wolken zusammen. Sie trieben ger aus allen Holzteilen. Ferris Tuk rasend schnell nach Osten. Man ker und seine Helfer beitelten die
55 Vertiefungen aus, füllten stinkenden Leim ein und schlugen eine Stütze nach der anderen mit hölzernen Schlegeln ein. Mit Richtschnur und Winkel kontrollierte der Schiffszim mermann Senkrechte und Waage rechte. Ein anderes Team fing am Bug mit der Einrichtung der ersetz ten Teile an. Die Lenzpumpe beförderte das Re genwasser, das nachts eingedrungen war, außenbords. „Das sieht alles ganz gut aus", sagte Hasard und verbrachte den Rest der Stunden bis Mittag damit, überall dort anzupacken und zuzugreifen, wo es nötig war und sein Rat gefragt wurde. Mittlerweile wurden stehen des und laufendes Gut des Groß masts untersucht, erneuert, ersetzt und nachgespannt. Will Thorne, zu rückhaltend, leise und bestimmt wie immer, kümmerte sich um die Rahru ten und seine Leinwand. Der gesamte Umkreis des Hafens bot ein Bild der Betriebsamkeit. Die Dörfler öffneten die Tore und Gatter und entließen die genügsamen Wollschafe aus den Ställen in die Weite ihrer Weiden. Bald waren die schwarzgrünen Flä chen zwischen den Dämmen und Dü nen von den rundlichen Körpern der Schafe gesprenkelt. Überall dort, wo die Sonne hinleuchtete, trocknete die Wärme in Verbindung mit dem Sturm den Boden in überraschender Schnelligkeit aus. Das Wasser in den Kanälen begann langsam zu steigen, die nächste Flut setzte ein.
Stunde um Stunde verging. Die Crew der Arwenacks setzte im Lauf des Tages die Rahruten mit den Segeln, simulierte sämtliche Segel
manöver und spleißte das Tauwerk, wo es nötig war. Der Kutscher und Mac Pellew handelten mit den Dörf lern und füllten ihre Küchenvorräte auf. Handbreit um Handbreit wurde das Schanzkleid eingesetzt, die mas siven Holztafeln zwischen die Stüt zen geschoben und eingeleimt, die ei sernen Beschläge genagelt und ver nietet. Während all der Arbeiten wimmerte und fauchte der Sturm weiter und trocknete den Schweiß der Männer. „Vergeßt nicht, die Wasserfässer zu füllen", riet Old Donegal. „Wir wis sen nicht, wann wir den nächsten Brunnen anlaufen." „Das Wasser von Hoyer ist gut!" schrie der Seewolf. Der Brunnen der Dörfler befand sich außerhalb des Kerns der Ge bäude um den Hafen. Er schien sehr tief zu sein und wurde von einer Winsch, einem langen Tampen und einem großen, mit Steinen beschwer ten Kübel betrieben. Das Wasser war weich und schmeckte ganz leicht, fast nicht spürbar, nach Salz. „Na, das klappt doch alles bestens", sagte Dan O'Flynn zufrieden und sah zu, wie die Mannen Fässer und Ballen ins trockene Schiff schleppten, die sie von den Dörflern gekauft hatten. Ein Dutzend Seewölfe bearbeiteten das Holz des Schanzkleides. Eiserne Ziehklingen und solche aus geschlif fener Bronze glätteten die relingarti gen Teile oberhalb der Stützen und der Fachungen. Mit Stein und Ras peln wurden sie geglättet, dann er schien Bob Grey mit einem Farb quast und beizte das Holz. „Die Schebecke wird schöner, als sie war", bemerkte der Erste. „Wir könnten morgen weitersegeln und den Wikinger verfolgen, wenn der Sturm nicht gegen das Land stehen würde."
56 „Ich will nicht, daß auf Kosten des verrückten Poltermanns einer von uns verletzt wird oder gar ertrinkt", sagte Hasard mit Nachdruck. „Nichts ist so wichtig, daß wir ein unnötiges Risiko eingehen. Ganz abgesehen da von, daß wir nicht auf trockenem Schlick ins Meer hinausrutschen kön nen. Laßt euch also Zeit, Freunde." Auf seine Leute und ihre Absichten und Überzeugungen konnte sich Philip Hasard Killigrew bedenkenlos verlassen. Das Schiff war ihre Heimat, ihr Zu hause, die einzige Möglichkeit, zu überleben. Jeder von ihnen kannte seine, meist selbstgewählte oder in langen Jahren eingespielte Aufgabe. Es brauchte keine Worte, kein Befehl war nötig. Ben Brighton, der Erste, lehnte sich schwer auf das Schanzkleid der Kuhl und nickte. „Es ist ein Vergnügen, uns beim Ar beiten zuzusehen, nicht wahr?" fragte er mit breitem Grinsen. „Jeder an Bord weiß, welche Ecke in seine Verantwortung fällt und was er zu tun hat. Mit etwas Glück sind wir morgen abend zum Ablegen be reit." Masten, Rahen, Segel, stehendes und laufendes Gut von achtern bis zum Bug waren geprüft, durchgese hen und erneuert, wo nötig. „Wenn's der Sturm zuläßt", meinte Hasard und deckte, als er gegen die untergehende Sonne blickte, seine Augen ab, „aber es sieht nicht danach aus." Noch immer hing der stechende Ge ruch der dunklen Beize in der Luft, mit der das glattgeschliffene Holz des achterlichen Schanzkleides getränkt worden war. Das erneuerte Schanz kleid hob sich scharf von den vorhan denen Resten ab.
In einem Kessel am Steg steckten schon die Bienenwachswaben, die man morgen schmelzen würde. Mit dem Wachs sollten die Holzteile ein gelassen und danach poliert werden. „Unter Deck jedenfalls sieht es gut aus", sagte der Seewolf. „Wir haben einmal mehr Glück gehabt, aber nur deswegen, weil uns kein Fehler unter laufen ist." „Kein Wunder. Bei unserer Erfah rung!" rief der Erste. Die Kinder trieben die Schafe zu rück in die Ställe. Plymmie balgte sich mit den wenigen Hunden der Dörfler herum. Auf der Ruderpinne saß, den Kopf unter den Flügeln, Sir John und schien zu schlafen. Unter den kleinen Kohlenfeuern der Schmiede hörten die Blasebälge zu fauchen auf. Hasard musterte seine Söhne, die zusammen mit Carberry die Anker si cherten. „Schluß für heute!" rief er. „Wir wollen es nicht übertreiben. Teilt die Wachen ein und dann ab zu unseren Gastgebern." „Aye, aye, Sir", tönte es aus allen Richtungen. Der Sturm, der noch immer aus dem nordwestlichen Quadranten wehte, pfiff, heulte und wimmerte in ungebrochener Kraft. Für ein paar Tage hatten sie Thor fin Njal vergessen. Jetzt schob sich das vorläufige Ziel ihrer Reise wieder in ihre Gedanken. Zwar gab es keinen Grund für panische Hast, aber lang sam wurde dennoch die Zeit knapp. Das Wüten des Sturms blieb die beste Entschuldigung, noch länger in die sem gastfreundlichen Dorf zu blei ben. Die Arwenacks wuschen sich am Brunnen und verteilten sich wieder auf die einzelnen Häuser.
57 6.
Als sich Heiner, der zwei große Krüge abgelagertes Bier mitgebracht hatte, an den Tisch setzte, fragte er: „Ihr seid unruhig, nicht wahr? Das Schiff ist so gut wie fertig, also wollt ihr ablegen." „Richtig", erwiderte der Seewolf und verschränkte seine Hände vor dem Bauch. Das Essen war viel zu reichlich gewesen, „Seeleute sind nun einmal so. Sie haben immer ein Ziel, irgendwo hinter der Kimm." „Und wie sieht euer Ziel aus?" Don Juan und Hasard berichteten, was sie vorhatten. Als sie den Wikin ger erwähnten, schüttelten die Zuhö rer die Köpfe. Sie konnten nicht glau ben, daß sich ein Teil einer Sage bis in die heutigen Tage gerettet hatte. Sie kannten nichts anderes als ihre Gegend und das Meer und den nächstgrößeren Ort, in dem die Kirche stand und der reichlich einen halben Tagesmarsch entfernt war. „London, die Karibik - für uns sind das wunderbare Gegenden. Aber wenn ihr jemanden auffordern wür det, mit euch zu segeln", sagte Heiner und vertiefte sich in den Inhalt seines Bechers, „würde er hierbleiben. Wir haben Wurzeln geschlagen in unseren Deichen." „Jedem das seine", meinte Don Juan. „Wir sind auch nicht mit einer Beschwörung des Magisters in Schaf züchter und Kühemelker zu verwan deln. Was sagen die Knochen und die Wetterkundigen?" Berthold fuhr mit den Fingern durch seinen grauen Bart. „Morgen läßt der Sturm nach, sage ich. Die Fi scher denken es auch, sie wollen ihre Boote suchen." Der Seewolf lachte. „Oder das, was davon übrig ist. Ich fürchte, wir brau
chen einen Lotsen, wenn wir viel leicht übermorgen weitersegeln." „Ein Fischer begleitet euch sicher", sagte Marthe. „Ihr zieht sein Boot hinterher, und übrigens gibt's nur ei nen Weg. Aber der Sturm hat die Pricken herausgerissen." Der Kanal, der zur Entwässerung gegraben und später verbreitert und vertieft worden war, setzte sich jen ßeits der Ausfahrt einigermaßen ge radlinig durch das Watt fort, wurde von einigen Prielen gekreuzt und führte auch bei Ebbe noch etwas Was ser. Im Uferbereich war er normaler weise gut zu erkennen, denn dürre Bäume, meist in Kalkwasser ge taucht und mit Bändern gekennzeich net, markierten seinen Verlauf. Der Sturm und die Wellen hatten sie weg gerissen. „Wir finden bei Flut schon wieder hinaus. Schließlich haben wir in tief ster Dunkelheit hierhergefunden", versicherte Hasard. „Ich sehe auch keine Schwierigkei ten." Der Schulze lachte breit. „Habt ihr eigentlich Schwierigkei ten", ließ Don Juan fragen, „mit eu ren Nachbarn, den dänischen Unter tanen vom Vierten Christian?" „So gut wie nie. Ihr müßt wissen, das Land ist ebenso leer wie unseres hier im Norden. Was sollte uns der König von Dänemark und Norwegen wegnehmen wollen? Das salzige Land?" „Immerhin seid ihr wohlhabende Bauern und Fischer. Wir kennen die Unterschiede!" betonte der Seewolf energisch. „Andernorts gibt es echte Armut. Eure Kühe sind fett, die Schafe sind zahlreich..." „Und die nächste Flut - habt ihr von der Manndränke gehört? - kann uns alle in die Armut stürzen oder viele umbringen. Ist alles schon pas siert, an unseren Küsten."
58 Diese Wahrscheinlichkeit, sagte sich Hasard nachdenklich, war hoch. Irgendwann würden die Siedler ihre Deiche ausbauen und höher aufschüt ten müssen. Und wenn das Land vol ler alter Wälder war, reich an Äckern und Kornfeldern, würde es vermutlich einen Krieg geben, der selten die Bur gen und Schlösser, stets aber das Land der Bauern verwüstete. „Niemand weiß, was die Zukunft bringt", versuchte der Spanier die Unterhaltung zu einem guten Ende zu bringen. „Wir zum Beispiel haben jede Stunde ein anderes Bild vor den Augen, wenn wir segeln. Fast niemals wissen wir, wie es am nächsten Mor gen aussieht." „Und selbst das Meer sieht jeden Tag anders aus", meinte der Seewolf. „Gottlob nur selten so wild wie vor Tagen." Der Abend verging in allen Häu sern von Hoyer gleichartig. Die Bauern stellten ihre Fragen, und die Arwenacks spannen ihr Seemanns garn. Die Unterhaltung verlief voller Gelächter, denn oft mußte mit Hän den und Füßen geradebrecht werden. Küstenlatein, Brocken aus allen Sprachen entlang der Nordseeküste, mehr oder weniger richtige Zeichnun gen und jeder andere Versuch, sich mit dem anderen zu verständigen mit reichlich Bier war das eine ver gnügliche Sache. Die Nacht über tobte sich der Sturm aus. Am Morgen sahen sich die See wölfe einer Umgebung gegenüber, die sich völlig geändert hatte. So sah es auf den ersten Blick aus. Der Wind wehte von Süd und Süd west. Er brachte unerwartet trockene Wärme mit sich. Über dem Meer, das vom Platz vor den Haustüren nicht zu sehen war, er hoben sich schneeweiße Haufen von
Wolken. Die Weiden und Felder hat ten sich in ein helles Grün gefärbt, die meisten Halme schienen sich aufge richtet zu haben. In den Abflußgrä ben, von denen die Landschaft in Quadrate eingeteilt wurde, gluckerte das Wasser. Die Schafe, von kläffenden Hunden begleitet, sprangen übermütig aus den Gattern, die Rinder tappten hin terher. Plötzlich fanden sich auch die Vögel wieder ein: Möven segelten über die Dünen, die Hühner, Enten und Gänse der Bauern schrien und schnatterten, in den Hecken zwit scherten unsichtbare Vögel. Die Stimmung übertrug sich sehr schnell auf die Seewölfe, die an die sem Tag den Klüverbaum und den Bugspriet neu einsetzten und die Ar beiten am Schanzkleid und an den Decksplanken beendeten. Batuti, der stets von einer kleinen oder größeren Kinderschar umgeben war, zeigte einem Jungen, wie mit Pfeil und Bogen umzugehen war. „Wann geht es los, Sir?" rief er und zog einen Pfeil aus Kristians Scheu nentor. „Wenn sich nichts ändert - morgen, bei Sonnenaufgang. Alles bereit?" rief Philip Hasard Killigrew vom Steg hinüber. Rahen und Segel waren angeschlagen. Mindestens zehn See wölfe polierten und strichen die Teile des neuen Schanzkleides. „Alles bereit, Sir", sagte Ferris Tuk ker, hob mit spitzen Fingern einige Hobelspäne auf und warf sie über Bord. „Wenn die Sonne untergeht, ist die Schebecke wieder einmal so gut wie neu." „So neu, wie sie aussieht." Im Schiffsbauch stapelten sich in den einzelnen Lasten wieder die Vor räte und die Ausrüstungen, durchge sehen, getrocknet und neu gepackt. Die Seewölfe hatten nicht nur alle
59 Schäden beseitigt, sondern konnten sich zumeist am Nachmittag in die Sonne setzen und Daumen drehen. Nur Dan O'Flynn versuchte, zusam men mit den Fischern, seine Karte zu verbessern oder zumindest sicherzu stellen, daß das Wissen, das hineinge zeichnet und geschrieben war, auch der Wirklichkeit entsprach. Schließlich, dachte er, würden sie morgen abend entlang der dänischen Küsten segeln.
Die Schebecke war aus dem Hafen an den Kanal verholt worden. Nur ein Landtau verband sie noch mit den Pollern des Stegs. Am Heck schau kelte ein Fischerboot mit Mast und Segel an der Vorleine. Kristian und der „Plattfisch" standen stolz im Bug. Etwa zwölf Dutzend Leute aus Hoyer hatten sich versammelt und standen auf dem Steg, rund um den Hafen und gegenüber der Backbord seite auf dem Deich. Philip Hasard Killigrew trat aus dem Niedergang und sprang über die Planke an Land. „Schulze Berthold, ihr alle aus Hoyer!" rief er. „Wir Engländer ha ben die Tage bei euch in bester Erin nerung. Wir danken euch, für die Gastfreundschaft, das gute Bier und alles andere. Wenn wir den Fisch es sen, denken wir an den Proviant, den wir von euch haben...." Er machte nicht viele Worte und gab schließlich dem Dorfschulzen ei nen silbernen Trinkbecher, der reich mit goldenen Bändern verziert war. Bis zum Rand war er mit Münzen ge füllt. Noch ehe sich Schulze Berthold von seinem freudigen Erstaunen erholt hatte und das Geschenk zurückwei sen konnte, war der Seewolf zurück
an Bord und rief: „Die Segel hoch! Werft die Leine los. Auf Wiederse hen, ihr alle!" Ein paar Riemen waren ausge bracht worden. Die Schebecke stieß vom grasbedeckten Deich ab, der Südwind fing sich in den beiden kleinsten Segeln, und mit der Sonne im Rücken schob sich die Schebecke westwärts durch den Kanal. Die Flut hatte ihren höchsten Stand erreicht, und die Strömung begann zu kippen. Winkend und mit viel Ge schrei verabschiedeten sich die See wölfe von den Leuten aus Hoyer, und Arwenack, von der Aufregung ange steckt, enterte die Wanten auf und ab und stieß wilde Schreie aus. Die Fischer peilten die wenigen Landmarken und gaben die Richtung an. In fast gerader Linie befuhr die Schebecke den unsichtbaren Priel. Nur noch zwei abgebrochene Pricken bewiesen, daß der richtige Kurs an lag. Im Nordwesten tauchte Sylt auf. „Heute müßt ihr die Insel runden, auf jeden Fall!" rief der „Plattfisch". Das Schiff krängte leicht nach Steuerbord, als Focksegel und Groß gesetzt wurden. „Seht ihr? Ab hier habt ihr tiefes Fahrwasser!" „Wollt ihr umsteigen?" Der See wolf trug wieder seine gewohnte Se geltuchjacke. „Noch nicht, Kapitän. Heute gibt es keine Seenot." „Habt ihr die Boote gefunden?" fragte der Erste neugierig. Der „Plattfisch" nickte und ant wortete halb betrübt, halb zuversicht lich: „Nur Trümmer. Aber dazu viele andere Trümmer. Wir haben Holz ge nug und werden neue, schwerere Boote bauen." Nach einer Stunde wechselten die Fischer in ihr Boot über, und die Schebecke ging, nachdem sie Sylt an
60 Steuerbord passiert hatten, in einem weiten Bogen auf Kurs. „Nordkurs, Luke!" rief Hasard. „Kurs liegt an, Sir", rief Luke Mor gan zurück, nachdem er die Pinne be wegt und den Kompaß mehrmals kontrolliert hatte. „Kurs halten, wenn nichts dazwi schenkommt", bestimmte Hasard und überließ sich wieder den wiegen den Bewegungen des Schiffes. Die Nordsee breitete sich bis zur Kimm als trügerisch glatte Fläche aus. Nur die Dünung, weich und mit kaum sichtbaren Wellenbergen, kräu selte sich bisweilen im südlichen Wind. In den trockenen Segeln zeichneten sich die Spuren des salzigen Wassers ab. Sonne und Segelschatten lagen auf dem Deck. Es war, noch immer, erstaunlich warm. Die Segel waren auf Steuerbordbug ausgebaumt. An Steuerbord glitten auch die hellen Dünen von Sylt vorbei, der Rauch aus den Kaminen strebte dünn und zerfa sert nach Nord. Hasard stellte sich zu Ben Brighton auf dem Vorschiff. „Wahrschau", sagte er und lachte. „Wikinger voraus!" „Unser lieber Polaraffe ist vermut lich schon in Bergen oder im nördli chen Eis", gab der Erste lachend zu rück. „Aber, ohne Scherz: natürlich wird der Nordsee-Orkan auch den Wi kinger in eine sichere Bucht oder in einen Hafen getrieben haben." „Das will ich meinen", pflichtete der Seewolf bei. „Und uns kann nichts Besseres passieren, als daß sich das Wetter hält. So und nicht an ders." Der Erste schüttelte den Kopf und sagte zweifelnd: „Nicht in diesen Ge wässern, Sir. Rechne besser mit schwerem Wetter, und zwar schon bald."
„Man wird sehen", brummte Ha sard. „Um das Schiff bereite ich mir keine Sorgen." Genau vor ihnen lagen die neuen Verstrebungen, der Klüverbaum und die lange, geschnitzte und mattglän zende Spiere des Bugspriets. Tau werk und Holz, Schäkel und Taljen sahen vertrauenserweckend und wuchtig genug aus, um auch in einem härteren Sturm nicht zu splittern oder zu brechen. „Mir weht noch der Bierdunst und der klare Schnaps der letzten Nacht zwischen den Ohren", bekannte der Seewolf. „Ich gehe unter Deck und nehme eine Mütze voll Schlaf." „Wir holen dich, wenn's ruppig wird, Sir", versprach der Erste. „Gute Träume." „Alpträume werden es sein. Wahr scheinlich segelt Thorfin durch mei nen Schlaf." Er grinste und bewegte sich lang sam vom Bug bis zum Heck, wo er im Niedergang verschwand und sich auf seinem Lager ausstreckte. Unter der Führung Ben Brightons überwand die Schebecke das weitläufige Watt gebiet und blieb auf Kurs.
Fünfunddreißig Stunden lang wur den die Seewölfe vom selben Wind und von der See verwöhnt. Der Wind aus Süden kam und ging, wurde stärker und nahm ab, die Ta geszeiten schienen Richtung und Stärke zu bestimmen. Die langgezogene Dünung blieb, aber in der Nacht gab es steilere Wel len unter einem Himmel, der mit ei nem riesigen weißen Mond und zahl losen Sternen aufwartete. Bisher hatte die Schebecke nur kurz den Kurs zu wechseln brauchen. Jetzt, am Mittag des übernächsten Tages, se
61 gelte sie wieder Nordkurs, und Piet Straaten stand am Ruder. Wo waren sie? Dan O'Flynn studierte die eintö nige Landschaft aus Watt und Dünen, kleinen dunklen Wäldern und Inseln, die sich wie die buckligen Rücken von bemoosten Seeungeheuern aus der Nordsee emporstemmten. „An Esbjerg sind wir wohl vorbei", murmelte Dan und rechnete weiter. Er verglich seine Karten mit dem Ge lände, das an Steuerbord vorbeizuzie hen schien. „Nein! Voraus liegt wie der Blavands Huk. Ich bin sicher." Römö und Fanö lagen Steuerbord achteraus. Jetzt, nachdem er alles verglichen hatte, konnte Dan sicher sein. Trotzdem wandte er sich an Sam Roskill. „Ich klettere mal in die Wanten. Ich muß mich vergewissern, daß ich mein Geschäft noch verstehe." „Schon gut. Ich passe auf deine rät selhaften Zeichnungen auf." Dan O'Flynn, der Mann mit den schärfsten Augen an Bord, enterte den Niedergang hinunter, lief über die Planken und zog sich in die Wan ten hoch. Er sicherte sich mit einem eingehängten Arm, verhakte sein Knie, zog, nachdem er einen langen Rundblick getan hatte, das Spektiv und untersuchte jeden Punkt des fer nen Ufers. „Eindeutig Esbjerg", sagte er zu frieden. „Und noch etwas anderes. Es lohnt sich doch, gründlich zu sein." Er rief hinunter in die Richtung des Rudergängers: „Genau Nordost düm pelt ein Schiff. Sieht aus, als ob es stark mitgenommen sei. Ich sehe die dänische Flagge. Kauffahrer wahr scheinlich." „Verstanden. Enter ab. Arwenack kann das Klettern besser." „Aber er sieht nicht so gut", mur melte Dan O'Flynn und bemerkte, als
er federnd an Deck landete, daß der Rudergänger nach einer Geste des Kapitäns die Pinne nach Backbord legte. Die Segelgasten rannten über Deck. „Also", sagte Dan. „Der Kurs bringt uns dorthin, wo wir frisches Wasser bunkern können. Natürlich im Hafen und an drei Stellen in der riesigen Bucht. Ich bin sicher..." „Das Schiff", unterbrach ihn Ha sard ungeduldig. „Das dänische Schiff, den Farben nach jedenfalls, schwimmt recht hilf los in der Einfahrt der Bucht. Oder dicht davor." „Liegt es vor Anker?" wollte Ha sard wissen. Mit der Kursänderung war er augenscheinlich einverstan den. „Das konnte ich nicht genau sehen. Aber in einer guten Stunde wissen wir mehr." „Vermutlich. Das war das einzige Schiff in dieser gemütlichen Ge gend?" fragte Hasard. Auch diese Frage bestätigte Dan O'Flynn. Noch immer mit achterlichem Wind schnitt der scharfe Bug der Schebecke durch die kleinen Wellen. Über der Bucht standen, fast unbe weglich, einige Raubvögel, und einige Dutzend Möwen schwebten mit spar samen Flügelschlägen auf die Sche becke zu. „Mister Conroy! Wachsamkeit ist der bessere Teil der Vorsicht!" rief der Seewolf nach kurzem Nachden ken. „Vielleicht sollten ein paar Dreh bassen und die eine oder andere Cul verine feuerbereit sein. Zur Sicher heit, meine ich!" „Aye, aye, Sir!" rief Al und winkte seinen Helfern, den Söhnen des Kapi täns. Dan verholte sich zum Bug und stu dierte durchs Spektiv das andere Schiff. Je näher ihm die Seewölfe ge
62 langten, desto schärfer Wurde das Bild, und Dan sah mehr Einzelheiten. „Eindeutig ein Handelsschiff", be stätigte er sich selbst. „Vielleicht eine Hansekogge unter dänischer Flagge." Das Schiff lag vor Anker, schwamm aber frei. Es hatte sich mit dem Bug in die Richtung des däni sehen Hafens gedreht, also lief die Strömung mit der Ebbe. Neben Dan tauchte der Seewolf auf. „Sie haben keinen einzigen Fetzen Leinwand mehr an den Rahen", sagte Dan. „Es sieht aus, als hätte er ge brannt." Die Schebecke segelte längst unter der englischen Flagge. Die Arwe nacks hatten nichts zu verbergen und auch nicht vor, in diesen Gewässern jemanden zu täuschen. Sie segelten auf den Havaristen zu. Während sich die Wache lauthals über den seltsa men Fund unterhielten, sahen die bei den durch ihre Spektive, daß die Mannschaft des dickbauchigen Sehif fes versuchte, das stehende und das laufende Gut herunterzuholen oder neu zu scheren. An den Rahen hingen geschwärzte Reste. „Von wegen friedliche Nordseekü sten", murmelte der Seewolf. „Feuer an Bord? Oder sollte jemand Brandt pfeile in die Segel geschossen ha ben?" Dan zeigte ein ungläubiges Gesicht und fragte: „Jemand, den wir ken nen? Vielleicht einer, hinter dem wir her sind?" „Ich würde es nicht ausschließen", entgegnete der Seewolf. „Aber ich traue ihm jede Verrücktheit zu, unse rem behelmten Polarschrat." Jetzt waren die Dänen auf das schnelle Schiff aufmerksam gewor den, dessen Segel und Form an dieser Küste außergewöhnlich waren. Die Kauffahrer winkten und
schwenkten, was sie gerade zur Hand hatten, über ihren Köpfen. „Ich glaube, wir sollten ihnen hel fen", sagte Hasard. „Ben! Wir gehen dicht hinter seinem Heck in den Wind. Klar bei Anker!" „Verstanden." ,,Holt die Dänen an Deck. Es sind ihre Landsleute." „Schon hier", antwortete Nils Lar sen. „Was soll ich sie fragen? Was hast du vor, Sir?" „Nichts besonderes. Es scheint, als hätten sie Probleme. Vielleicht kön nen wir helfen. Zumindest bringen wir sie in den Hafen, wenn Sie Wol len.'' „Alles klar, Sir." Dan, der Däne und der Seewolf winkten freundlich zu dem Havari sten hinüber. Schon jetzt, als die Schebecke mit vollem Wind an Back bord vorbeirauschte und einen Ab stand von weniger als einer Kabel länge hielt, erkannten die Seewölfe, die am Steuerbordschanzkleid stan den, die Schäden am anderen Schiff. Nils hob die Hände an die Lippen und brüllte hinüber: „Braucht ihr Hil fe?" Der Kapitän, ein breitschultriger Mann in einer pelzbesetzten Jacke, stieß einen dänischen Fluch aus und schrie zurück: „Ein Wahnsinniger hat uns überfallen! Erst als wir ihm Wein, Bier und die Schiffskasse über ließen, gab er sich zufrieden." „Einer mit Wikingerhelm Und Hör nern dran?" schrie Larsen. Dan und der Seewolf grinsten ein ander kopfschüttelnd an. Im selben Augenblick ging die Schebecke in den Wind, fuhr eine ele gante Wende und rauschte hinter dem Heck des Kauffahrers aus. Als die Crew am Anker fragend den Ka pitän anstarrte, winkte der Seewolf beschwichtigend.
63 ,,Habt ihr die Segel selbst angezün ten das Tau zusätzlich am Gangspill und am Vordersteven, ehe sie es über det?" „Verrückt geworden?" brüllte der Bord stemmten undd mit Bootshaken Däne. „Dieser grölende Nordmann von der Bordwand freihielten. Die Tonne tanzte auf den Wellen hat uns Fackeln in die Leinwand ge worfen. Dann segelte er los und und bewegte sich langsam auf den Bug der Schebecke zu. lachte wie ein Verrückter." „Wir ankern nicht. Holt den Tam Hasard legte Nils die Hand auf die Schultern und sagte: „Frage ihn, was pen'', sagte der Seewolf, „und zieht ihm lieber ist. Hilfe an Ort und Stelle, ihn bis zum Großmast." Schließlich fingen sie die Tonne was ich nicht so gern hätte, oder Ab ein, führten das Tau an Backbord bis schleppen in den Hafen." Nils Larsen übersetzte und erhielt zum Heck und hievten das nasse Tau über das neue Schanzkleid und die eine klare Antwort. „Ihr werdet eure Segel selbst brau vor Sauberkeit funkelnden Planken chen! Außerdem passen sie nicht auf bis zum Mast. Das Auge war zu klein, unsere Rahen. Schleppt uns, aber aber schließlich belegten sie das Tau nicht nach Esbjerg. Sie plündern ei mit mehreren Schlägen und sicherten nen aus mit dem Hafenzoll. Wir ge es mit zwei dicken Spaken. Wieder vollführte die Schebecke hen nach Trondköbing. Ist auch nä einee enge Wende, schor langsam am her." „Wir haben verstanden. Ein Tau Kauffahrer vorbei und schnitt vor am Bug ausbringen. Dann an einer dessen Bug. Noch während sie die Se Boje in die Strömung'', tönte es von gel neu trimmten, hörten sie die Kom mandos und die rhythmischen Rufe der Schebecke. Auch der Handelsschiffer der des Ankerkommandos, das knar „Ragnhylt" bewies erstklassige See rende Quietschen des Gangspills und mannschaft. Ein dickes Tau wurde an das Klirren das Kettenvorfachs. Das Schlepp hob sich aus dein Was ein leeres Faß geschäkelt. Das Auge befestigten die Dänen am Fockmast, ser und spannte sich. Als es sich ge brachten Sorgleinen aus ünd beleg strafft hatte, kam der Anker aus den
64
Wellen, und eine langsame Fahrt in die Bucht nahm ihren Anfang. „Jetzt brauchen wir nur noch zu wissen", sagte Dan O'Flynn, „wo die ses Trondköbing liegt. Dann haben
wir einen neuen Freund in diesem Teil der Küste." Eins war sicher: Sie hatten die ver wischte Spur des Wikingers wieder aufgenommen . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 616
Entlang der tödlichen Klippen
von Sean Beaufort Der Sturm walzte heran, fuhr heulend in die Segel und brachte einen riesigen Schauer Schneeflocken mit. Vom achteren Grätlingsdeck aus sahen die Arwe nacks nicht einmal mehr den Bugspriet. Sie zogen die Köpfe ein und kniffen die Augen zusammen. Die Segel waren bei dem eisigen Wind bretthart - wie gefro renes, nasses Tuch. Das Tauwerk vibrierte mit leisem Summen. Das Wasser zischte unter dem Bug und gurgelte am Heck, das Kielwasser schäumte weiß. Das Orgeln und Heulen des Sturms begann alle anderen Geräusche zu übertö nen. Die Luft füllte sich mit weißen, umherwirbelnden Flocken. Binnen weniger Augenblicke schien sich ihre Mengezu vervielfachen. Sie bildeten dichte Schlei er, breite Vorhänge und tanzende Wirbel. Und die Schebecke preschte immer schneller durch die schäumende S e e . . .