Elsbeth Krieg Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt
Elsbeth Krieg
Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt Kleinkin...
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Elsbeth Krieg Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt
Elsbeth Krieg
Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt Kleinkinderziehung im Kaiserreich im Kontext der Stadt- und Industrieentwicklung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18080-9
Inhalt
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.5.1 1.5.2 1.6 1.7 2 2.1 2.2 2.2.1 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.4
Vorwort ................................................................................................ 9 Zur theoretischen und methodischen Anlage der Arbeit ..................... 11 Begründung für die Auswahl des Untersuchungszeitraumes .............. 12 Zur Begründung der Auswahl der Städte und des mikroanalytischen Ansatzes .......................................................... 13 Zum theoretischen Ansatz und zur Entwicklung von Fragestellungen für die vorliegende Untersuchung ...................... 16 Zum Stand der historischen Forschung der Kleinkindpädagogik unter Berücksichtigung der Entwicklung der Erziehungsgeschichte ............ 21 Zum methodischen Ansatz ................................................................... 32 Zur quantitativen Methode.................................................................... 33 Zur qualitativen Methode ..................................................................... 34 Zur Quellenlage .................................................................................... 35 Aufbau der Arbeit ................................................................................ 37 Die Entwicklung der Städte in Deutschland in der Phase der Hochindustrialisierung ................................................................... 39 Die demographische Entwicklung ....................................................... 39 Die wirtschaftliche Entwicklung im Kaiserreich ................................. 41 Die Entwicklung der Frauenerwerbsarbeit ........................................... 43 Die Entwicklung der Städte Köln, Krefeld und Bochum .................... 44 Die demographische Entwicklung ....................................................... 46 Die wirtschaftliche Entwicklung .......................................................... 52 Die Lebens- und Wohnsituation .......................................................... 56 Zusammenfassung ................................................................................ 61 Die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung ....................... 63 Die quantitative Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland im Kaiserreich ............................................................. 65 Die quantitative Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum .............................................................. 67 Die Anstaltszahlen in Bezug zu den noch nicht schulpflichtigen Kindern ...................................................................... 78 Entwicklung der Besuchszahlen in Köln, Krefeld und Bochum in Bezug zur Entwicklung der Kleinkinder .......................................... 80 Exkurs: Die Entwicklung der Kinderbewahranstalten im Bochumer Raum am Beispiel Langendreer ........................................................... 86 Erklärungen zur Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Bochum .. 90
6 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.6 3.7 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 5 5.1 5.1.1 5.2 5.3 5.3.1
5.3.2 5.4
Exkurs: Der Kulturkampf in seiner Bedeutung für die Kinderbewahranstalten ......................................................................... 93 Die Situation bei Inkrafttreten des Klostergesetzes ............................. 97 Die Auswirkungen des Klostergesetzes auf die öffentliche Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum ............................. 99 Die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum nach der Aufhebung des Klostergesetzes ........ 103 Die Situation der katholischen Kinderbewahranstalten nach der Aufhebung des Klostergesetzes ........................................... 105 Betriebliche Kinderbewahranstalten .................................................. 106 Zusammenfassung .............................................................................. 108 Motive der Befürworter der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum ................................................................ 111 Vorbeugung gegen physische und psychische Verwahrlosung ......... 113 Entlastung bei außerhäuslicher Erwerbstätigkeit der Mütter ............. 116 Entlastung der nicht erwerbstätigen Mütter ....................................... 118 Reaktion auf die vermeintlich unsittliche Lebensweise der Unterschichtfamilien .................................................................... 119 Vermittlung von Werten und Normen ................................................ 121 Integration der Kinder aus Fernwandererfamilien .............................. 123 Vorbereitung auf die Schule ............................................................... 124 Abwehr der sozialistischen Arbeiterbewegung .................................. 125 Konfessionelle Erziehung und Abwehr der konfessionellen Konkurrenz ......................................................................................... 127 Zusammenfassung .............................................................................. 129 Die Situation der öffentlichen Kleinkinderziehung im Kaiserreich ... 131 Gesetzliche Grundlagen der öffentlichen Kleinkinderziehung ........... 131 Überwachung der Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung durch die Schulbehörde ..................................... 132 Träger und Leitung der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum ............................................................ 132 Zur Finanzierung der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum ........................................................... 136 Exkurs: Kosten der Kinderbetreuung in bezug zu den Lebenshaltungskosten unter besonderer Berücksichtigung der Situationen von Müttern und Kindern anhand der Beispiele Crimmitschau und München ....................................... 140 Kosten der Kinderbetreuung in Köln und Bochum ............................ 147 Zusammenfassung .............................................................................. 150
7 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.2 8.3 8.4 8.5
Die Ausbildung der Erzieherinnen ..................................................... 151 Allgemeine Grundlagen der Erzieherinnenausbildung ...................... 151 Die Ausbildung der Kindergärtnerinnen ............................................ 152 Aus- und Fortbildung der evangelischen Erzieherinnen im Einzugsgebiet Rheinland und Westfalen ...................................... 154 Die Ausbildung der katholischen Erzieherinnen ................................ 162 Zusammenfassung .............................................................................. 164 Die Ausstattung in den Kinderbewahranstalten unter besonderer Berücksichtigung von Köln, Krefeld und Bochum ............................ 165 Die räumliche Situation ...................................................................... 165 Das Mobiliar ....................................................................................... 166 Spiel- und Beschäftigungsmaterialien ................................................ 168 Erzieherinnen-/Kind-Relation in den Institutionen in Köln, Krefeld und Bochum ............................................................ 171 Betreuungszeiten und Versorgung mit einer warmen Mahlzeit in den Institutionen in Köln, Krefeld und Bochum ............................ 173 Zusammenfassung .............................................................................. 173
8.8
Die pädagogische Arbeit in den Kinderbewahranstalten ................... 175 Pädagogische Ansätze in den Volkskindergärten .............................. 175 Die pädagogigischenVorstellungen von Bertha v.Marenholtz-Bülow 176 Die pädagogischenVorstellungen von Henriette Schrader-Breymann 178 Zur Praxis der Volkskindergärten ...................................................... 182 Pädagogische Ansätze in evangelischen Kleinkindanstalten ............. 188 Pädagogische Ansätze in katholischen Kleinkindanstalten ............... 200 Vergleich der pädagogischen Ansätze ................................................ 210 Exkurs: Zusammenhänge zwischen ökonomischer Entwicklung und pädagogischen Konzepten in den Kinderbewahranstalten ............................................................ 218 Anforderungen an den modernen Industriearbeiter ........................... 219 Spiele und Beschäftigungen, die als Vorübung auf Industriearbeit angesehen werden können .................................................................. 220 Praxisbeispiele der Kinderbewahranstalten ....................................... 228 Zur pädagogischen Praxis in den Kinderbewahranstalten Krefeld und Bochum .......................................................................... 232 Zusammenfassung .............................................................................. 235
9
Schlußbetrachtung ............................................................................. 237
10
Literatur und Anhang ......................................................................... 251
8.5.1 8.5.2 8.6 8.7
Vorwort
Mehrere Jahre sind seit der Fertigstellung meiner Habilitationsschrift vergangen. Andere berufliche Verpflichtungen verhinderten eine frühere Publikation meiner Untersuchungsergebnisse. Diese standen im Kontext der neueren Entwicklungen in der Elementarpädagogik, in der unter anderem die Bildungsförderung junger Kinder erneut an Bedeutung gewonnen hat. Zu diesen beruflichen Herausforderungen gehörten die Entwicklung und Evaluierung eines Konzepts zur »Bildungsförderung von Jungen und Mädchen in Kindertageseinrichtungen«1 sowie die Übernahme einer Professur an der Evangelischen Fachhochschule Hannover (heute Fachhochschule Hannover) und der damit verbundene Aufbau des Studiengangs Elementarpädagogik2. Die Ergebnisse der historischen Arbeit zur Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung haben nicht an Bedeutung verloren, zumal ein Teil der Akten duch den Einsturz des »Historischen Archivs der Stadt Köln« heute nicht mehr zugänglich sind. Die Untersuchung lässt einen abgeschlossenen Zeitraum studieren, in dem in der Umbruchsphase von der Agrar- zur Industriegesellschaft Antworten auf sozialgesellschaftliche Verwerfungen - hier exemplarisch innerhalb der frühkindlichen Pädagogik - gefunden werden mussten. Das bedeutet, dass der Hauptteil der Arbeit weitgehend unverändert geblieben ist. Dagegen vollziehen sich Entwicklungen in der heutigen Elementarpädagogik seit einem Jahrzehnt im Zuge nationaler wie globaler Veränderungen in einem raschen Tempo. In diesem Bereich habe ich innerhalb der Arbeit Ergänzungen vorgenommen, um die Arbeit bezüglich der zeitgenössischen Relevanz in einen erweiterten Rahmen zu stellen. Die Vorarbeiten zu dieser Studie begannen bereits zum Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms »Die Stadt als Dienstleistungszentrum - Zusammenhänge zwischen Infrastruktur, Dienstleistung und sozialer Daseinsfürsorge im 19. und 20. Jahrhundert«. Durch die Diskussionen innerhalb der Gruppe erhielt ich wertvolle Anregungen, für die ich mich bei allen Kolleg/innen und insbesondere bei dem Sprecher Herrn Prof. Dr. Jürgen Reulecke sehr herzlich bedanke. Mein Dank gilt auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die diese Arbeit durch ein Stipendium ermöglichte. Ins1 Krieg, Elsbeth und Helmuth Krieg: Bilden, fördern und gestalten in der Kita. Ergebnisse des STEPProjekts. Münster 2008. 2 Krieg, Elsbeth und Anette Schneider-Vollmann: Bachelor-Studiengang Elementarpädagogik in Kooperation von Fachhochschule und Fachschulen. In: Hammes-Di Bernardo, Eva/Hebenstreit-Müller, Sabine (Hrsg.): Innovationsprojekt Frühpädagogik. Professionalität im Verbund von Praxis, Forschung, Aus- und Weiterbildung. Baltmannsweiler 2005.
10 besondere möchte ich Herrn Dr. Sylvester Rostosky und seinen Mitarbeiter/innen für die Unterstützung des Projeks danken. Ohne die Hilfsbereitschaft der Archive, in denen ich Akten einsehen konnte, wäre die Untersuchung nicht möglich gewesen. Ich bedanke micht bei folgenden Institutionen: Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Landeshauptarchiv Koblenz, Historisches Archiv der Stadt Köln, Stadtarchiv Krefeld, Stadtarchiv Bochum, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, Bistumsarchiv Aachen, Bistumsarchiv Essen, Archiv Deutscher Caritasverband, Archiv des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Synodalarchiv Bochum, Archiv der katholischen Pfarrgemeinde St. Marien in Bochum-Langendreer, Archiv der Vinzentinerinnen in Köln-Nippes, Archiv der Franziskanerinnen in Aachen, Archiv der Schwestern von der christlichen Liebe in Paderborn, Fachbücherei für Frauendiakonie und Fliednerarchiv, Sarepta-Archiv Bielefeld-Bethel, Dokumentationsstelle zur Geschichte des Diakonissenwerkes Ruhr, Historisches Archiv Fried. Krupp GmbH, Archiv der Firma Felten & Guilleaume, Privatarchiv Gantenberg in Bochum-Oberdahlhausen und Privatarchiv Grügelsiepe in Bochum-Langendreer. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Burkhard Müller von der Universität Hildesheim für seine Unterstützung. Durch seine Offenheit trug er wesentlich dazu bei, die Habilitationsschrift zu einem Abschluss zu bringen. Die Arbeit wurde nach dem Rechtschreibung vor der Rechtschreibreform geschrieben und diese für die vorliegende Publikation beibehalten.
1 Zur theoretischen und methodischen Anlage der Arbeit
Die These, daß die Bedingungen und Prinzipien professionellen pädagogischen Handelns von einer Vernetzung pädagogischer und außerpädagogischer Faktoren geprägt sind, bildet den Ausgangspunkt dieser Untersuchung, die sich mit den gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Einflüssen auf die institutionalisierte Kleinkinderziehung im Deutschen Kaiserreich (1871-1914) auseinandersetzt. Exemplarisch wird hierzu eine mikroanalytische Untersuchung der Institutionen zur Betreuung und Erziehung noch nicht schulpflichtiger Kinder in den Städten Köln, Krefeld und Bochum vorgenommen. Dabei gilt das besondere Forschungsinteresse dem stadt- und industriegeschichtlichen Hintergrund, der die spezifische Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung beeinflußte. Verbunden wird die quantitative Ebene mit den Inhalten der drei im Kaiserreich vorherrschenden pädagogischen Ansätzen, die mit den Begriffen »Volkskindergarten«, »evangelische Kleinkinderschule« und »katholische Kinderbewahranstalt« verknüpft werden. Ihre Entwicklung und die Tendenzen der erzieherischen Praxis vor Ort sind Gegenstand einer qualitativ orientierten Analyse. Den theoretischen Rahmen bildet der gesellschaftsgeschichtliche Ansatz Hans-Ulrich Wehlers.1 Die von ihm entwickelten Kategorien für historische Untersuchungen - Politik, Ökonomie, Sozialstruktur und Kultur - werden in ihrer Verknüpfung auf den Untersuchungsgegenstand angewandt. Die Entwicklung der Kleinkinderanstalten zwischen 1871 und 1914 ist durch einen starken quantitativen Ausbau der Institutionen für Kinder im noch nicht schulpflichtigen Alter bestimmt.2 Die Einrichtungen zur Betreuung und Erziehung noch nicht schulpflichtiger Kinder wurden unter verschiedenen Bezeichnungen geführt, wie zum Beispiel »Kinderbewahranstalt«, »Warteschulen«, »Kleinkinderschule«, »Volkskindergarten« und andere.3 Eine Typisierung der 1 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Tradition deutscher Geschichtswissenschaft. Göttingen 1980. Ders.: Moderne deutsche Sozialgeschichte. Königstein/Ts. 1981. Ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815. München 1987. Ders.: Aus der Geschichte lernen. Essays. München 1988; vgl. diese Arbeit, S.17f. 2 Vgl. Erning, Günter: Quantitative Entwicklung der Angebote öffentlicher Kleinkinderziehung. In: Ders., Karl Neumann und Jürgen Reyer (Hrsg.) Geschichte des Kindergartens. Bd. II: Institutionelle Aspekte, systematische Perspektiven, Entwicklungsverläufe. Freiburg im Breisgau 1987, S.29ff. 3 Vgl. Reyer, Jürgen: Wenn die Mütter arbeiten gingen ... Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert in Deutschland. Köln 1983, S.18f. Zwerger, Brigitte: Bewahranstalt - Kleinkinderschule - Kindergarten. Aspekte nichtfamilialer Kleinkinderziehung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Weinheim und Basel 1980, S.29ff.
E. Krieg, Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt, DOI 10.1007/978-3-531-92848-7_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
12 Institutionen aufgrund der unterschiedlichen Bezeichnung ist kaum möglich.4 Die meisten dieser Einrichtungen hatten den Zweck, noch nicht schulpflichtige Kinder der Unterschichtfamilien vor physischer und psychischer Verwahrlosung zu bewahren, ihnen Aufsicht und Pflege zu geben, eine Erziehung zu einem sittlichmoralischen Verhalten zu gewährleisten und eine minimale Grundbildung zu sichern. Die Entwicklung der Kleinkindanstalten stand aber auch im Zusammenhang mit außerpädagogischen Entwicklungen. Schon die Gründerin der ersten Kinderbewahranstalt in Deutschland, Pauline zu Lippe-Detmold, macht in ihrem Gründungsaufruf deutlich, daß Kinderbewahranstalten von Beginn an nicht nur rein pädagogische Interessen verfolgten, sondern mit gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen und Erwartungen verknüpft waren. Sie schreibt: »Wie manch bedrängtes Weib wäre ihrer peinlichsten Sorge entlastet, könnte den Ihrigen durch fleißige Arbeit und unermüdete Geschäftigkeit zu weiterem Emporkommen recht viel sein, wenn die Pflege ihrer Kinder bis zum vierten und fünften Jahre es nicht hinderte; wie manche muß die Kleinen verlassen und bebt nun im Kampf zwischen Brotsorgen und der Angst, wie es den armen Kindern ergehen wird, während sie fern ist.«5 Wie der Aufruf deutlich macht, ist die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung von Anbeginn mit vielfältigen Interessen und Entwicklungen verbunden, die außerhalb von pädagogischen Intentionen angesiedelt sind. Die industrielle Entwicklung und deren sozialen Auswirkungen machten Einrichtungen zur Betreuung und Erziehung kleiner Kinder notwendig, die die Unterschichtfamilien vielfach nicht mehr in ausreichendem Maße gewährleisten konnten. 1.1 Begründung für die Auswahl des Untersuchungszeitraumes Die Zeit des Deutschen Kaiserreichs eignet sich für eine Analyse der Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung besonders, weil sich in dieser Zeit einschneidende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen vollzogen, die sich auch auf pädagogische Einrichtungen auswirkten. Geprägt war diese Zeit durch die Umgestaltung von der Agrar- zur Industriegesellschaft, die mit einem tiefgreifenden Wandel der ökonomischen, gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse einherging. Die mit dem starken Anwachsen der Bevölkerung, mit Binnenwanderung, raschem Städtewachstum6 und einem starken Anstieg der außerhäusli4 In der vorliegendenArbeit werden dieseEinrichtungen i.d.R.einheitlich Kinderbewahranstalten genannt. 5 Gehring, Joh.: Die evangelische Kinderpflege. Denkschrift zu ihrem 150jährigen Jubiläum im Auftrage der Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege. Berlin und Leipzig 1929, S.231. 6 Vgl. Berg, Christa und Ulrich Herrmann: Industriegesellschaft und Kulturkrise. Ambivalenzen der Epoche des Zweiten Deutschen Kaiserreichs 1870-1918. In: Christa Berg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV. 1870-1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des ersten Weltkriegs. München 1991, S.2ff; Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland. Frankfurt am Main 1985, S.68ff; vgl. diese Arbeit, S.39ff.
13 chen Frauenerwerbsarbeit verbundenen sozialen Probleme betrafen in erster Linie die sozial benachteiligten Familien und ihre Kinder. Sie machten zunehmend Maßnahmen zur sozialen Daseinsfürsorge notwendig, die primär der minimalen Existenzsicherung dienten. Diese »vorbeugende Armutsbekämpfung« reichte von der Gesundheits- über die Wohnungsfürsorge bis hin zur Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge.7 Die öffentliche Kleinkinderziehung war Teil dieser sozialen Daseinsfürsorge, deren Institutionen im Kaiserreich einen raschen Ausbau erfuhren.8 Ziel war es, den noch nicht schulpflichtigen Kindern für einen Teil des Tages Aufsicht und Erziehung zu gewähren, häufig verbunden mit einer minimalen Versorgung der Grundbedürfnisse, zum Beispiel in Gestalt einer warmen Mahlzeit in Ganztagseinrichtungen oder auch gesundheitsfürsorgerischer Maßnahmen. Aber auch die pädagogischen Ziele und anvisierten Lerninhalte wurden, wie die Arbeit zeigen wird, durch die sich rasch verändernden gesellschaftlichen Bedingungen dieser Zeit beeinflußt.9 So ist in der Pädagogik, wie sie in der Fachliteratur der drei genannten Hauptrichtungen - Pädagogik des Volkskindergartens, der evangelischen Kleinkinderschule und der katholischen Kinderbewahranstalt - vertreten wurde, zwischen 1871 und 1914 eine deutliche Tendenz hin zu einer stärkeren Didaktisierung der Beschäftigungsangebote zu verzeichnen. Allerdings waren die drei verschiedenen Ansätze stark durch die jeweils dahinter stehende Weltanschauung geprägt. Die Umsetzung pädagogischer Praxisvorschläge in den Institutionen vor Ort war wiederum abhängig von den Rahmenbedingungen - wie zum Beispiel Personalschlüssel, räumliche Bedingungen und Materialausstattung. Aufgrund der schwierigen materiellen Lage der meisten Institutionen konnten die Vorschläge, wie die Aussagen zur Praxis zeigen10, nicht oder nur unzureichend umgesetzt werden. 1.2 Zur Begründung der Auswahl der Städte und des mikroanalytischen Ansatzes Die Auswahl der drei Städte Köln, Krefeld und Bochum ergibt sich aus deren spezifischer Lage sowie ihrer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Alle drei Städte gehören einem der wenigen Gebiete an, in dem während des Kaiserreichs die Industrie und damit auch die Städte selbst sehr stark expandierten.11 Sie liegen 7 Vgl. Frie, Ewald: Wohlfahrtsstaat und Provinz. Fürsorgepolitik des Provinzialverbandes Westfalen und des Landes Sachsen 1880-1930. Paderborn 1993, S.27. 8 Vgl. Erning, Günter: Anfänge und Entwicklung öffentlicher Kleinkinderziehung im preußischen Verwaltungsbezirk Düsseldorf von ca. 1800 bis 1918. Nach amtlichen Unterlagen. In: Pädagogische Rundschau. Nr. 36/1982, S.55. Zwerger, Brigitte: A.a.O., S.34f, 55 und 125. 9 Vgl. diese Arbeit, S.175ff, 188ff, 200ff. 10 Vgl. diese Arbeit; S.228ff, 232ff. 11 Reulecke, Jürgen: A.a.O., S.71.
14 regional eng beieinander, weisen aber eine verschiedenartige Wirtschaftsstruktur und eine unterschiedliche demographische Entwicklung auf. Diese Konstellation bietet sich für eine detaillierte Untersuchung der Zusammenhänge von politischen Herrschaftsverhältnissen und -interessen, wirtschaftlicher Entwicklung und der Ausbreitung von Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung an. Der Kölner Raum etwa wies ein breites Produktionsspektrum auf, in dem es sowohl Industriezweige gab, die Frauen und Männer beschäftigten (zum Beispiel Nahrungs- und Genußmittelindustrie), als auch Betriebe, in denen vorwiegend Frauen (zum Beispiel in der Bekleidungs- und Reinigungsindustrie) oder aber hauptsächlich Männer (zum Beispiel im Baugewerbe, Metallverarbeitung und Maschinenbau) tätig waren.12 Die Wirtschaft der beiden Städte Krefeld und Bochum war dagegen einseitig jeweils auf einen bestimmten Sektor konzentriert. In Krefeld herrschte die Textilindustrie mit einem hohen Anteil weiblicher Arbeitskräfte vor, in Bochum dagegen die Schwerindustrie mit überwiegend männlicher Belegschaft. In Köln setzte die Industrialisierung im Vergleich zu den beiden anderen Städten relativ früh ein. Schon um die Jahrhundertmitte entstanden hier bekannte Unternehmen. Bis etwa 1870 »bildete sich das Grundwesen der Kölner Industrie aus«13, während in Krefeld erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Umstellung von der Haus- auf die Fabrikproduktion vollzogen wurde. Bochum war bis zur Mitte des Jahrhunderts eher agrarisch strukturiert, erst nach der Jahrhundertmitte setzte die Industrialisierung ein. Entsprechend der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entfaltung gestaltete sich die soziale und politisch-gesellschaftliche Entwicklung. Am Beispiel der strukturellen Bedingungen und Entwicklungsverläufe dieser drei Städte lassen sich Zusammenhänge von gesellschaftspolitischen und ökonomischen Faktoren mit Entwicklungen in pädagogischen Einrichtungen studieren. Wie noch zu zeigen sein wird, weisen die Kleinkindinstitutionen in den drei Städten eine signifikant unterschiedliche Entwicklung auf. Auch lassen sich Motive der Verantwortungsträger für ihr Engagement bei Errichtung und Unterhaltung der Einrichtungen feststellen, die mit den jeweils spezifischen örtlichen Gegebenheiten korrespondieren. 12 Vgl. Neuhaus, Georg: Die Stadt Cöln im ersten Jahrhundert unter preußischer Herrschaft. Erster Band/Teil 2. Die Entwicklung der Stadt Cöln von der Errichtung des Deutschen Reiches bis zum Weltkriege. Cöln 1916, S.263ff. 13 Beutin, Ludwig: Industrie und Technik im Kölner Wirtschaftsraum. Sonderdruck aus der Festschrift »75 Jahre Staatliche Ingenieurschule für Maschinenwesen Köln«. O.O. und o.J., S.5. 14 Dies betrifft insbesondere die ersten beiden Teile der Arbeit, in denen die quantitative Entwicklung und die Frage nach dem Engagement und den Motiven der kommunalen Funktionsträger für die öffentliche Kleinkinderziehung im Mittelpunkt steht. Aber auch im letzten Teil dieser Arbeit werden zur Analyse der pädagogischen Rahmenbedingungen kleinräumige Entwicklungen herangezogen. Im Bereich der Untersuchung zur Pädagogik wird in einem ersten Schritt die im Kaiserreich bedeutsamen drei pädagogischen Ansätze - Volkskindergarten, evangelische Kleinkinderschule und katholische Kinderbewahranstalt - analysiert. In einem zweiten Schritt werden exemplarisch Fallbeschreibungen aus der Praxis herangezogen sowie einige Beispiele aus den drei untersuchten Städten.
15 Eine vergleichend kleinräumige Untersuchung14 auf der Basis dieser drei Städte ist deshalb sinnvoll, weil in Deutschland die Entwicklung der Kleinkindinstitutionen aufgrund der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur und der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Regionen nicht einheitlich verlief. In einer Mikrostudie lassen sich Einsichten über konkrete Entwicklungen und ihre Zusammenhänge gewinnen, die im Makrobereich aufgrund der größeren Komplexität eher verlorengehen. Eine Mikroanalyse erlaubt »eine Rekonstruktion von gelebter Erfahrung, die anderen historiographischen Ansätzen unzugänglich bleiben. Darüber hinaus versucht sie, die unsichtbaren Strukturen zu erkennen, die diese gelebten Erfahrungen hervorbringen.«15 Die räumliche Organisation einer Stadt ist eine optimale Untersuchungseinheit, um tiefgreifende Veränderungen der Infrastruktur und deren unterschiedlichen Hintergründe über einen längeren Zeitraum zu verfolgen.16 Die Bewältigung sozialpolitischer Aufgaben als Teil der infrastrukturellen Ausstattung oblag zum größten Teil den Kommunen.17 Zu diesem Sektor gehörten die sozialen und sozialpädagogischen Einrichtungen, also auch die Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung. Die Kommunen hatten gegenüber diesen Anstalten eine Unterstützungs- und Kontrollfunktion. Es bestanden aber auch zwischen den politischen Verantwortungsträgern der Kommunen und den freien Trägern vielfältige Verbindungen. Zum Teil waren Kommunalpolitiker in Personalunion als Vorstandsmitglieder der Trägervereine tätig. Insgesamt bildete die Stadt allgemeine gesellschaftliche Probleme ab. In ihr wurden diese zuerst manifest und deren Bewältigung wurde dort erarbeitet und umgesetzt.18 In Bezug zur Historiographie der öffentlichen Kleinkinderziehung können lokalhistorische Studien dazu beitragen, Gesamtdarstellungen zu untermauern, diese zu ergänzen oder auch zu korrigieren.19 Es sollte jedoch eine Verknüpfung der Mikroeinheit mit der Makroebene stattfinden, »d.h. der Zugriff auf die Mikroeinheit muß gelenkt werden durch eine theoretisch geordnete gesamtgesellschaftliche Fragestellung, die es erlaubt, das evtl. ermittelte Ergebnis zu verorten.«20 Die Analyse der Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung im Deutschen Kaiserreich im Zusammenhang mit stadt- und industriegeschichtlichen 15 Ginzburg, Carlo und Carlo Ponti: Was ist Mikrogeschichte? In: Geschichtswerkstatt. Nr.6/1985, S.51. 16 Vgl. Wollasch, Andreas: Tendenzen und Probleme gegenwärtiger historischer Wohlfahrtsforschung in Deutschland. In: Westfälische Forschungen. Nr.43/1993, S.6. 17 Vgl. Saldern, Adelheid von (Hrsg.): Stadt der Moderne. Hannover in der Weimarer Republik. Hamburg 1989, S.15. 18 Vgl. Saldern, Adelheid von (Hrsg.): A.a.O., S.8. 19 Vgl. Wollasch, Andreas: A.a.O., S.2. 20 Schulz, Winfried: Mikrohistorie versus Makrohistorie? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema. In: Christian Meier und Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Methode. München 1988. (Beiträge zur Historik. Bd.5), S.338. Vgl. Kocka, Jürgen: Historisch-anthropologische Fragestellungen - ein Defizit der Historischen Sozialwissenschaft? Thesen zur Diskussion. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte. Göttingen 1984, S.80.
16 Hintergründen auf der Basis der Untersuchungsdimensionen - Politik, Ökonomie, Sozialstruktur und Kultur - erlauben eine Verortung der Ergebnisse im Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung. 1.3 Zum theoretischen Ansatz und zur Entwicklung von Fragestellungen für die vorliegende Untersuchung Am Beispiel eines abgeschlossenen Prozesses historischer Entwicklungen, hier der öffentlichen Kleinkinderziehung im Kaiserreich, lassen sich die verschiedenen Interdependenzen von Pädagogik, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Einflußfaktoren fokusartig studieren. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse tragen dazu bei »das Verständnis der Gegenwart zu erleichtern, das politische Bewußtsein für schwierige Probleme zu schärfen, ideologiekritisch den Nebel von Legenden und Mythen aufzulösen, konkretes Denken an die Stelle flinker Welterklärung mit simplen Faustregeln zu setzen. Wenn ›Gesellschaft als veränderbares Ergebnis historischer Prozesse und Entscheidungen, als Resultat genutzter und versäumter Möglichkeiten analysiert wird‹, kann die Geschichtswissenschaft ›auch einen wichtigen Beitrag zur Selbstaufklärung der Gegenwart leisten und vernünftiges Handeln von Individuen und Gruppen erleichtern. Sie kann dann daran mitwirken, humane Formen des menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen, zu erarbeiten und zu bewahren.‹«21 Aufgabe einer pädagogischen Historiographie könnte in diesem Sinn sein, nicht nur die quantitative und qualitative Entwicklung der Erziehungseinrichtungen zu beschreiben, sondern auch das Bezugsfeld darzustellen, das die Institutionen und ihre Ausformung beeinflußte. Im abgeschlossenen historischen Prozeß eines zeitlich und geographisch geschlossenen Bereichs können auf der Basis der Analyse der Interdependenzen pädagogischer und außerpädagogischer Entwicklungen Muster herausgefiltert werden, die die Situation der Kleinkindinstitutionen bestimmte. Eine solche Analyse kann die Erarbeitung eines Instrumentariums zur Beurteilung heutiger pädagogischer Entwicklungen unterstützen, also zur besseren Einschätzung der aktuellen Situation im Erziehungs- und Bildungsbereich beitragen. Dieses Wissen kann Impulse geben, die Lage der Institutionen in der Gegenwart und ihre politischen, ökonomischen und sozialen Hintergründe genauer zu erforschen. Hinsichtlich der Schlüsse für Innovationen im Bildungsbereich kann die Analyse des Bedingungsgefüges von Reformansätzen, Stagnation und Reformverhinderung Grundlage für eine vorsichtigere Bewertung von Modellen und ihrer Übertragbarkeit sein. 21 Wehler, Hans-Ulrich: Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung ... a.a.O., S.222. Die Zitate in der oben angeführten Belegstelle entnimmt Wehler seiner Arbeit »Geschichte und Gesellschaft« von 1975.
17 Für die Analyse der Verflechtungen von gesellschaftspolitischen und ökonomischen Faktoren wird der von Hans-Ulrich Wehler entwickelte Ansatz herangezogen22 und auf den konkreten Untersuchungszusammenhang hin ausdifferenziert. Wehler versteht »Geschichtswissenschaft als eine kritische Gesellschaftswissenschaft ... (die; E.K.) bewußt zur Schärfung eines freieren, kritischen Gesellschaftsbewußtseins beitragen möchte«23. Gesellschaftsgeschichte hat nach Wehler die Aufgabe »möglichst viel von den Basisprozessen zu erfassen, welche die historische Entwicklung ... bestimmt haben und vielleicht noch immer bestimmen«24. Im Rückgriff auf die von Max Weber entwickelten Untersuchungskriterien Herrschaft, Ökonomie und Kultur25, der Wehler eine vierte Dimension die Sozialstruktur - hinzufügt, werden Kategorien zur Verfügung gestellt, die es erlauben, die außerpädagogischen Faktoren der Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung zu erfassen. Diese in »einem prinzipiellen Sinn jede Gesellschaft erst formierenden, sich gleichwohl wechselseitig durchdringenden und bedingenden Dimensionen«26 werden von Wehler wie folgt definiert: »Politische Herrschaft bezeichnet ... sozial strukturierte und das heißt stets: organisierte und normierte Macht, die ... Herrschaftsträgern von unterschiedlicher Legitimationsbasis aus die Chance zur Durchsetzung ihres Willens oder Auftrags eröffnet, vielleicht sogar gewährleistet.«27 Wirtschaft wird als das »Feld derjenigen Tätigkeiten abgesteckt, die Menschen im ›Stoffwechsel mit der Natur‹ zur Gewinnung ihres materiellen Lebensunterhaltes betreiben«28. Die Dimension Kultur umfaßt, »die ideellen und institutionellen Traditionen, Werte und Einstellungen, die Denkfiguren, Ideologien und Ausdrucksformen, 22 Wehler gilt als einer der »geistigen Pioniere« (Hettling, Manfred u.a., S.10), die die Sozialgeschichte als wissenschaftliche Disziplin etablierten und sie in der Geschichtswissenschaft zu einem weitverbreiteten Ansatz entwickelt hat, so daß dort in diesem Zusammenhang von einer »Normalwissenschaft« geprochen werden kann (Hettling, Manfred u.a., S.9). Innerhalb der historischen Pädagogik wies schon Buhl auf die Ansätze von Wehler hin. Mit Poste hat der von Wehler entwickelte Ansatz der vier Dimensionen (Politische Herrschaft, Ökonomie, Kultur und Sozialstruktur) Eingang in die sozialhistorische Erziehungswissenschaft gefunden. Vgl. Buhl, Giselher: Erziehungsgeschichte und das Konzept der »modernen deutschen Sozialgeschichte«. In: Volker Lenhart: Historische Pädagogik. Methodologische Probleme der Erziehungsgeschichte. Wiesbaden 1977. (Erziehungswissenschaftliche Reihe. Hrsg. Hermann Röhrs), S.78ff. Hettling, Manfred u.a. (Hrsg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte. Positionen, Themen, Analyse. München 1991. Poste, Burkhard: Schulreform in Sachsen 1918-1923. Eine vergessene Tradition deutscher Schulgeschichte. Frankfurt am Main u.a. 1993. (Studien zur Bildungsreform. Hrsg. Wolfgang Keim. Bd. 20)., S.27f. 23 Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen 1988. (Deutsche Geschichte Bd.9), S.12. 24 Ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band ... a.a.O., S.6. 25 Ders.: Aus der Geschichte lernen. A.a.O., S.123. 26 Ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. A.a.O., S.7. 27 A.a.O., S.10. 28 Ebenda.
18 jene symbolisch verschlüsselte Erfassung und Deutung von Wirklichkeit, mit deren Hilfe nicht nur sprachlich-schriftliche, sondern schlechterdings jede Art von Kommunikation unterhalten und gespeichert wird, so daß alles Verhalten und Handeln in diesen Komplex symbolischer Interaktion eingebettet bleibt, durch ihn angeleitet wird«29. Als vierte Dimension nimmt Wehler die Sozialstruktur in seine Untersuchungskategorien auf. Das System sozialer Ungleichheit stellt »strenggenommen ein Ergebnis von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer und kultureller Entwürfe der Weltdeutung« dar.30 Es gilt, die Wechselwirkung der vier Dimensionen zu erfassen. Das heißt, die vier Kategorien sind nicht als einzelne voneinander unabhängige Variablen zu begreifen, sondern als in der Realität vielfältig miteinander verwobene Strukturelemente zu verstehen. Dies erfordert eine interdisziplinäre Arbeitsweise. Auch die außerhalb der Erziehungswissenschaft liegenden Bereiche, wie zum Beispiel demographische Daten, Erkenntnisse aus den Bereichen der Theologie, Geschichts-, Wirtschafts- sowie Sozialwissenschaft werden mit in die Analyse einbezogen. Wehlers Ansatz ist in erster Linie auf größere politische Einheiten bezogen31, für den mikroanalytischen Bereich besitzt er insofern Gültigkeit, als beispielsweise die Städte als Lebenswelten durch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, Konflikte und Verhaltensweisen geprägt wurden.32 Ihre Institutionen galten als wichtige Agenturen für staatliche Politik, die die »jeweiligen staatlichen Vorgaben übergeordneter Stellen den lokalen Verhältnissen« anpassten und gezwungen waren, »die Reaktionen der Betroffenen unmittelbar zu verarbeiten. Damit bildeten sie gleichsam einen ›Puffer‹ und stellten ihm eine Legitimationsbasis zur Verfügung.«33 Industrialisierung, Stadtentwicklung und der damit verknüpfte soziale Wandel bilden die Bezugspunkte der Analyse zur Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung. Im Bereich der Dimension politische Herrschaft ist zu fragen, inwieweit Staat und Kommunen direkt und indirekt Einfluß auf die Kleinkindinstitutionen nahmen, welchen Einfluß die drei Kommunen Köln, Krefeld und Bochum auf die quantitative Entwicklung der Einrichtungen ausübten und welche politischen Hintergründe dafür verantwortlich waren. Dazu wird die politische Struktur und die Entwicklung der Kommunen untersucht und dann in Beziehung zum Ausbau der Institutionen gesetzt. Auch die Motive der kommunalen Verantwortungsträger der jeweiligen Städte für ihr Engagement im Bereich der öffentlichen Klein29 30 31 32 33
Ebenda. A.a.O., S.11. Vgl. a.a.O., S.6. Wollasch, Andreas: A.a.O., S.6. Ebenda.
19 kinderziehung sind Bestandteil dieser Analyse. Als Material liegen hier die Aussagen zugrunde, wie sie in Ratsdebatten, Schreiben und ähnlichen Verlautbarungen veröffentlicht wurden. Bei der Analyse der pädagogischen Ziele und Inhalte ist nach der Abhängigkeit von politischen Einflüssen zu fragen. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die staatlichen Gesetzesregelungen, Erlasse und Verordnungen, die den Rahmen für die erzieherische Arbeit setzten und von den Kommunen durchgesetzt und überwacht werden mußten. Die Frage, welche pädagogischen Konzeptionen34 sich entwickeln und durchsetzen konnten, gehört ebenfalls in diesen Kontext. Untersucht werden die Konzeptionen der drei im Kaiserreich herrschenden pädagogischen Ansätze35 in ihren Aussagen zur Erziehung und ihrer Entwicklung. In diesen Kontext wird der Einfluß der Pädagogik Fröbels auf die Ausgestaltung der erzieherischen Vorstellungen und die Praxis vor Ort hinterfragt. In diesem Zusammenhang sind auch die politischen Interessen der drei Vertreter der öffentlichen Kleinkinderziehung zu analysieren und in Beziehung zur pädagogischen Entwicklung zu setzen. Auch ihre gesellschaftspolitischen Einstellungen, deren Niederschlag sich in ihren pädagogischen Aussagen findet, sind hier von Bedeutung. In Bezug zu den Motiven der kommunalen Verantwortungsträger wird überprüft, inwieweit deren Ansprüche an die Institutionen sich mit den Vorstellungen der drei pädagogischen Ansätze treffen. Auf der Ebene der Wirtschaft ist zu fragen, in welcher Form und Konsequenz die pädagogische Entwicklung von der ökonomischen Struktur und Entwicklung beeinflußt wurde. Es wird untersucht, in welchem Verhältnis die Entwicklung der Kleinkindinstitutionen zur quantitativen Ausbreitung des Wirtschaftssektors und der ökonomischen Struktur in den drei Städten Köln, Krefeld und Bochum steht und inwieweit sich Differenzen in der jeweiligen Entwicklung ergeben. Auch die Interessen der Unternehmer in ihrem Engagement für die Ausbreitung der öffentlichen Kleinkinderziehung gehören in diesen Themenkomplex ebenso wie der Einfluß der neuen Produktionstechniken auf die pädagogischen Ziele und Inhalte. Die Frage der Interdependenz zwischen pädagogischen Konzeptionen und wirtschaftlichen Faktoren gehören ebenso in diesen Kontext. Deshalb steht die Analyse der pädagogischen Ansätze und deren Entwicklung in Bezug auf die sich wandelnden Produktionsanforderungen an die arbeitenden Menschen hier im Mittelpunkt. 34 Diese bezieht sich vor allem auf die drei bestimmenden pädagogischen Konzepte, wie sie in Publikationen veröffentlicht wurden. Beispiele lokaler Praxis werden zur Klärung der Arbeit vor Ort herangezogen. 35 Zu den drei pädagogischen Richtungen gehören die Vertreter/innen des Volkskindergartens, die sich an der Pädagogik Fröbels orientierten sowie die Ansätze der evangelischen und katholischen öffentlichen Kleinkinderziehung. Vgl. diese Arbeit, S.175ff, 188ff, 200ff.
20 Die Sozialstruktur ist eng mit der politischen und ökonomischen Entwicklung verwoben. Die Herausbildung der verschiedenen Bevölkerungsschichten im Kaiserreich und deren Involviertheit in Erziehungsprozesse - sowohl als Personen, die in die erzieherischen Prozesse direkt oder indirekt eingriffen als auch als Klientel der pädagogischen Institutionen - sind Gegenstand der Analyse. Die Fragen, wer die pädagogischen Inhalte in den Kleinkindanstalten der drei Städte Köln, Krefeld und Bochum bestimmte, wie sie umgesetzt wurden und von welchen Schichten die Einrichtungen besucht wurden, bilden eine wesentliche Grundlage der sozialhistorischen Analysen. Dabei bilden die demographischen Entwicklungen einen wichtigen Aspekt und mit ihr die Wanderungsbewegungen, deren psychosozialen Folgen sowie die pädagogischen Reaktionen auf diese Situation. Die Entwicklung der Sozialstruktur in den drei Städten wird in Beziehung gesetzt zur quantitativen Ausbreitung der Institutionen. Auch die Motivhintergründe des Engagements der Förderer und Initiatoren der öffentlichen Kleinkinderziehung als Reaktion auf die sich verändernde städtische Sozialstruktur sind in diesem Zusammenhang wichtig. Außerdem wird zu überprüfen sein, inwieweit soziale Entwicklungen Einfluß auf die Entwicklung der pädagogischen Ziele und Inhalte der drei pädagogischen Ansätze hatten. Insgesamt sind die Kleinkindinstitutionen, wie die Schulen, als Kulturträger36, zu betrachten, in denen gesellschaftlich anerkannte Normen und Werte vermittelt wurden. Auf der Ebene der Kultur ist deshalb nach diesen Normen und Werten und deren Beziehungen zur pädagogischen Theorie und Praxis zu fragen. Sie sind darüber hinaus auch als mögliche Einflußfaktoren für die quantitative Entwicklung in den drei Städten Köln, Krefeld und Bochum zu bewerten. Das besondere Augenmerk gilt den Motiven und den spezifischen Interessen der Vertreter der beiden großen christlichen Konfessionen als Hauptträger der Einrichtungen. Der Kulturkampf37 wird im Hinblick auf die Auseinandersetzungen in den drei Städten zwischen den verschiedenen Interessen unter den kommunalen Verantwortungsträgern einer expliziten Betrachtung unterzogen, so wird der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen der Kulturkampf auf die Zahl der katholischen Institutionen hatte. In Bezug auf die pädagogischen Ziele und Inhalte stehen die Differenzen der verschiedenen Träger im Hinblick auf die jeweils vertretenen Normen und Werte im Mittelpunkt, das heißt, eine vergleichende Analyse der drei unterschiedlichen pädagogischen Konzeptionen, der jeweiligen anthropologischen Ansätze sowie der politischen und sozialen Einstellungen der Hauptvertreter der drei pädagogischen Richtungen. Insgesamt spielt in der vorlie36 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. A.a.O., S.12. 37 Als Kulturkampf wird die Auseinandersetzung zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche zwischen 1871 und 1888 bezeichnet. Für den Bereich der öffentlichen Kleinkinderziehung ist das Klostergesetz von Bedeutung, das die Situation der katholischen Institutionen stark beeinflußte. Vgl. diese Arbeit, S.93ff.
21 genden Untersuchung die Frage eine besondere Rolle, welche Differenzen beziehungsweise Gemeinsamkeiten in den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der drei Städte bestanden haben und inwieweit sich diese auf die Ausbreitung der Kleinkindinstitutionen innerhalb der drei Städte auswirkten. Auf dieser Basis sind die Motive der kommunalen Funktionsträger aus Politik, Wirtschaft und Kirchen zu analysieren. Die pädagogischen Konzepte und ihre Umsetzung in die Praxis vor Ort werden im Kontext der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren untersucht. 1.4 Zum Stand der historischen Forschung der Kleinkindpädagogik unter Berücksichtigung der Entwicklung der Erziehungsgeschichte In der Historiographie zur Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung wurde bisher die Analyse eines eingegrenzten Zeitabschnitts eher vernachlässigt.38 Auch die Kleinkinderziehung im Kaiserreich fand im Gegensatz etwa zur Schul- und Sozialisationsgeschichte39 dieser Epoche wenig Aufmerksamkeit.40 Die Mehrheit der Arbeiten stellt unter verschiedenen Schwerpunkten die Gründungsphase der Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund oder hat einen über die Dauer des Deutschen Kaiserreichs hinausgehenden Zeitraum im Blick. 38 Vgl. Berger, Manfred: Vorschulerziehung im Nationalsozialismus. Recherchen zur Situation des Kindergartenwesens 1933-1945. Weinheim und Basel 1986. 39 Vgl. Berg, Christa: Die Okkupation der Schule. Eine Studie zur Aufhellung gegenwärtiger Strukturprobleme an der Volksschule Preußens (1872-1900). Heidelberg 1973. Dies.: Familie, Kindheit, Jugend. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd.IV ... a.a.O., S.91ff. Dies.: Abschied vom Erziehungsstaat? Der Erziehungsanspruch im Wilhelminismus. In: Zeitschrift für Pädagogik 1993, S.603ff. Cloer, Ernst, Dorle Klika und Michael Seyfarth-Stubenrauch: Versuch zu einer pädagogischen-biographischen Sozialisations- und Bildungsforschung. Kindsein in Arbeiter- und Bürgerfamilien des Wilhelminischen Reiches. In: Christa Berg (Hrsg.): Kinderwelten. Frankfurt am Main 1991, S.68ff. Herrmann, Ulrich: Familie, Kindheit- und Familienleben in einem schwäbischen Dorf vor dem ersten Weltkrieg. In: Ders.: Historische Bildungsforschung und Sozialgeschichte der Bildung. Weinheim 1991, S.161ff. Ders: Über die »Bildung« im Gymnasium des wilhelminischen Kaiserreiches. In: A.a.O., S.234ff. Lerch, Edith und Renate Mühlbauer-Hülshoff: Aufwachsen zwischen Sedantag und 1. Mai. Politische Indoktrination von Kindern im Kaiserreich. In: Christa Berg (Hrsg.): Kinderwelten. Frankfurt am Main 1991, S.155. Malmede, Hans: Vom »Genius des Bösen« oder: Die »Entartung« von Minderjährigen. Negative Kindheitsbilder und defensive Modernisierung in der Epoche des Deutschen Kaiserreichs 1871-1918. In: Christa Berg (Hrsg.): Kinderwelten. Frankfurt am Main 1991, S.187ff. 40 Ausnahmen bilden die Arbeiten von Heike Fleßner, die die Situation der Landkindergärten untersucht, und Burkhard Müller, dessen Arbeit eine Analyse zeitgenössischer Begründungszusammenhänge zur öffentlichen Kleinkinderziehung beinhaltet. Vgl. Fleßner, Heike: Untertanenzucht oder Menschenerziehung? Zur Entwicklung öffentlicher Kleinkinderziehung auf dem Lande (1870-1924). Weinheim und Basel 1981. Müller, Burkhard: Öffentliche Kleinkinderziehung im Deutschen Kaiserreich. Analysen zur Politik der Initiierung, Organisierung, Nationalisierung und Verstaatlichung vorschulischer Anstalten in Deutschland. Weinheim 1989.
22 Erst zu Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts gewann der Elementarbereich als eigenständige Bildungsinstitution in der erziehungswissenschaftlichen Forschung an Bedeutung41 und konnte sich als Fach in Hochschulen und Forschungsinstituten etablieren.42 Im Rahmen der innovativen Bestrebungen der siebziger Jahre lag der Schwerpunkt der Forschungsarbeit bei den organisatorischen und pädagogisch-didaktischen Problemen der Kleinkindinstitutionen und den Möglichkeiten des quantitativen Ausbaus. Einen zweiten Schwerpunkt bildete die Verbesserung der inhaltlichen Arbeit vor Ort. So standen die Entwicklung, Erprobung und Evaluierung pädagogischer Konzepte innerhalb von Modellversuchen im Mittelpunkt der damaligen Forschung.43 Einige der ersten Arbeiten, die in dieser Zeit publiziert wurden, hatten aber auch die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung bis zur damaligen Zeit im Blick.44 Ihr Anliegen war es vor allem, sich im Zuge bildungsreformerischer Absichten durch die Aufarbeitung der Geschichte der Kleinkindinstitutionen den vielfältigen und unterschiedlichen Ursprüngen und Entwicklungen des Kindergartens zu vergewissern, um aus diesem Zusammenhang die »gegenwärtigen Probleme aus der historischen Entwicklung abzuleiten und zu verstehen«.45 Nach einer etwa zehnjährigen Phase der Stagnation innovativer Bestrebungen innerhalb der öffentlichen Kleinkinderziehung standen Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts wiederum Modellversuche im Blickpunkt der elementarpädagogischen Forschung46, die zur Lösung der seinerzeit als vordringlich betrachteten Probleme beitragen sollten. Sie bezogen sich vorwiegend auf strukturelle Innovationen pädagogischer Konzepte, dem quantiativen Ausbau der Kindergärten sowie neuen Kooperationsformen zwischen Trägern und Unternehmern. Mit der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse Ende des Jahres 2001 geriet der Elementarbereich erneut in den Blick der öffentlichen und politischen Dis-
41 Vgl. Fried, Lilian u.a.: Elementarbereich. In: Karlheinz Ingenkamp u.a. (Hrsg.): Emprische Pädagogik 1970-1990. Eine Bestandsaufnahme der Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Bd.1. Weinheim 1992, S.198. 42 Vgl. Derschau, Dietrich von: Modellforschung und Situationsansatz. Zur Entwicklung der Abteilung Vorschulerziehung. In: Ina Fuchs: Wagnis Jugend. Zu Geschichte und Wirkung eines Forschungsinstituts 1949-1989, S.278. 43 Vgl. Fried, Lilian u.a.: A.a.O., S.199. Derschau, Dietrich von: Ebenda. 44 Vgl. Grossmann, Wilma: Vorschulerziehung. Historische Entwicklung und alternative Modelle. Köln 1974. Hoffmann, Erika: Vorschulerziehung in Deutschland. Historische Entwicklung im Abriß. Witten 1971. (Handbücherei für die Kinderpflege. Hrsg. Erich Pscolla. Bd.7). Heinsohn, Gunnar: Vorschulerziehung und Kapitalismus. Eine soziologische Untersuchung der Ursachen, systemverändernden Möglichkeiten und Verwirklichungsschwierigkeiten von Reformbestrebungen in der Vorschulerziehung des kapitalistischen Deutschlands. Frankfurt am Main 1971. 45 Grossmann, Wilma: A.a.O., S.18. 46 Vgl. diese Arbeit, S.243f
23 kussionen. Bildung, in dem Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990, neben Betreuung und Erziehung verankert47, rückt seitdem als basale Aufgabe der Kindertageseinrichtungen in den Mittelpunkt der Elementarpädagogik. Forschungen und Modellversuche zur Bildungs- und Entwicklungsförderung von jungen Kindern, zum Umgang mit Heterogenität von Kindern und ihrer Familien, zum Übergang vom Kindergarten zur Grundschule sowie zu Qualifizierungsfragen des pädagogischen Personals in der Arbeit mit Kindern von null bis zehn Jahren stehen im Zentrum. In diesem Kontext gehen Hochschulen, wissenschaftliche Institute, Verbände, staatliche Stellen und Unternehmen Verbünde ein.48 Im Bereich der historischen Forschung haben sich die Schwerpunkte weiter ausdifferenziert. So untersucht Denner die Rezeptionsgeschichte der Pädagogik Fröbels.49 Mit spezifischen pädagogischen Konzepten beschäftigen sich die Arbeiten von Hermanutz, Krieg und Schäfer: Schäfer stellt verschiedene reformpädagogische Ansätze vor und zeigt die Entwicklung der Kleinkindinstitutionen bis in die jüngste Zeit auf.50 In den Untersuchungen von Hermanutz und Krieg stehen die pädagogischen Ansätze der katholischen Einrichtungen im Mittelpunkt.51 Die statistische Entwicklung der Kleinkindanstalten haben die Arbeiten von Erning, Höltershinken und Kasüschke sowie Klattenhoff zum Inhalt52, während 47 Vgl. Münder, Johannes u.a.: Frankfurter Lehr-. und Praxiskommentar zum Kinder- und Jugendhilfegesetz.. Münster 1991, S.125ff. 48 Vgl. diese Arbeit, S.244ff. 49 Vgl. Denner, Erika: Das Problem der Orthodoxie in der Fröbelnachfolge. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte des Kindergartens im 19. Jahrhundert. Phil. Diss. Erlangen-Nürnberg 1983. Dies.: Das Fröbelverständnis der Fröbelianer. Studien zur Fröbelrezeption im 19. Jahrhundert. Bad Heilbrunn/Obb. 1988. Zur Fröbelforschung vgl. auch die Arbeiten von dem maßgeblichen Fröbelforscher: Heiland, Helmut: Friedrich Fröbel. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik. Lüneburg 1991. Ders.: Friedrich Fröbel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1982. Ders.: Fröbel und die Nachwelt. Studien zur Wirkungsgeschichte Friedrich Fröbels. Bad Heilbrunn 1982. 50 Schäfer, Jürgen: Geschichte der Vorschulerziehung. Frankfurt am Main, Bern, New York und Paris 1987. (Europäische Hochschulschriften. Reihe XI. Pädagogik. Bd.326). 51 Vgl. Hermanutz, Leo: Vorschulische Erziehung in katholischer Trägerschaft. Phil. Diss. Bamberg 1977. Krieg, Elsbeth: Katholische Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Bern, New York und Paris 1987. (Europäische Hochschulschriften. Reihe XI. Pädagogik. Bd.317). 52 Vgl. Erning, Günter: Anfänge der öffentlichen Kleinkinderziehung im preußischen Verwaltungsbezirk Düsseldorf ... a.a.O. Ders.: Quantitative Entwicklung der Angebote öffentlicher Kleinkinderziehung. In: Ders., Karl Neumann und Jürgen Reyer (Hrsg.): A.a.O. Bd. II, S.29ff. Ders.: Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert. In: Thomas Schnabel (Hrsg.): versorgen, bilden, erziehen 1912-1987. Festschrift des Zentralverbandes katholischer Kindergärten und Kinderhorte Deutschlands. Freiburg im Breisgau 1987, S.11ff. Höltershinken, Dieter und Hans-Peter Kasüschke: »Behütete Kindheit« im Schatten der Fördertürme. Zur Geschichte der Betriebskindergärten im Ruhrgebiet (1875-1975). In: UNI-Report. Berichte aus der Forschung der Universität Dortmund. Heft 6. Dortmund 1988, S.29ff. Klattenhoff, Klaus: Öffentliche Kleinkinderziehung. Zur Geschichte ihrer Bedingungen und Konzepte in Oldenburg. Diss. 1982.
24 sich Arbeiten von Erning, Derschau und Reyer mit spezifischen Fragen wie Personal, Finanzierung und Trägerstrukturen innerhalb der öffentlichen Kleinkinderziehung beschäftigen.53 In jüngster Zeit werden die ätere und neuere Bildungsgeschichte innerhalb des Elementarbereichs, die Entwicklung in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik sowie die Entwicklungsverläufe der Elementar- und Primarpädagogik thematisiert.54 Insgesamt stand die pädagogische Historiographie nach 1945 zunächst in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik mit Schwerpunkten in der Ideenund Institutionsgeschichte. Im Bereich der Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung als Teilgebiet der Erziehungswissenschaft ist vor allem die Rezeption der Kindergartenpädagogik nach Friedrich Fröbel Gegenstand von Veröffentlichungen gewesen. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts geriet die geisteswissenschaftliche Pädagogik in die Kriktik.55 Ihr wurde vorgeworfen, daß sie zentrale Inhalte ihrer Forschung zu eng auf Ideen- und Institutionsgeschichte bezöge und es zu dominant als ihre Aufgabe betrachtete, zum Verstehen des Bestehenden und damit zu seiner Rechtfertigung beizutragen. Darin wurde ein gesellschaftsstabili-
53 Vgl. Derschau, Dietrich von: Personal: Entwicklung der Ausbildung und der Personalstruktur im Kindergarten. In: Günter Erning, Karl Neumann und Jürgen Reyer (Hrsg.): A.a.O., S.69. Erning, Günter: Entwicklung und Formen der Finanzierung und Kostentragung öffentlicher Kleinkinderziehung. In: A.a.O., S.82ff. Reyer, Jürgen: Entwicklung der Trägerstrukturen in der öffentlichen Kleinkinderziehung. In: Erning, Günter, Karl Neumann und Jürgen Reyer (Hrsg.): A.a.O. Bd. II, S.40ff. 54 Erning, Günter: Bildungsförderung in einem klassischen frühpädagogischen Konzept. Die Entwicklung des Kindergartens. In: Gabriele Faust u.a. (Hrsg.): Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar- und Primarbereich, Bad Heibrunn Obb. 2004, S.27ff. Heiland, Helmut: Fröbels Pädagogik aktuell - eine Brücke zwischen zwei Institutionen, In: Detlef Diskowski u.a. (Hrsg.): Übergänge gestalten. Wie Bildungsprozesse anschlussfähig werden. Weimar und Berlin 2006, S.54ff. Hocke, Norbert: Zur Geschichte elementarer Betreuung, Erziehung und Bildung in Deutschland. In: Christiane Brokmann-Nooren u.a. (Hrsg.) Bildung und Lernen der Drei- bis Achtjährigen. Bad Heilbrunn 2007, S.29ff. Konrad, Michael: Der Kindergarten. Seine Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart. Freiburg im Breisgau 2004. Müller-Rieger, Monika (Hrsg.): »Wenn Mutti zur Arbeit geht ...«. Zur Geschichte des Kindergartens in der DDR. Berlin 1997. Sasse, Ada: Ohne Herkunft keine Zukunft. In: Detlef Diskowski und Eva Hammes-Di Bernardo (Hrsg.): Lernkulturen und Bildungsstandards. Kindergarten und Schule zwischen Vielfalt und Verbindlichkeit. Baltmannsweiler 2004, S.116ff. Reyer, Jürgen: Einführung in die Geschichte des Kindergartens und der Grundschule. Bad Heilbrunn 2006. 55 Vgl. Blättner, Fritz: Geschichte der Pädagogik. Zwölfte Auflage, durchgesehen und ergänzt von HansGeorg Herrlitz. Heidelberg 1966. Reble, Albert: Geschichte der Pädagogik. Fünfte bearbeitete Auflage. Stuttgart 1960. Ders. (Hrsg.): Geschichte der Pädagogik. Dokumentationsband II. Stuttgart 1971. Weimer, Hermann: Geschichte der Pädagogik. 19. völlig neu bearbeitete Auflage von Juliane Jacobi. Berlin und New York 1992.
25 sierendes Moment gesehen.56 Die Verknüpfung von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen mit pädagogischen Problemen würde - so die Kritik - in nicht ausreichendem Maße gesehen.57 »Die Selbstverständlichkeit der Theorievermittlung pädagogischer Traditionsvermittlung, wie sie sich im Lehrangebot von Universitäten und Hochschulen niederschlug, konnte den Problemen der Erziehungswirklichkeit nicht mehr gerecht werden.«58 Neue Impulse erhielt die historische Pädagogik in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch die Ausweitung und Spezialisierung der Lehr- und Forschungstätigkeit an den erziehungswissenschaftlichen Hochschulen und durch die Kritik bezüglich der nur unzureichend aufgearbeiteten und verdrängten Geschichte des Nationalsozialismus. Die verstärkte sozialwissenschaftliche Orientierung in der pädagogisch-geschichtlichen Forschung lieferte wichtige Impulse für eine neue historische Betrachtungsweise.59 Im Zusammenhang mit der Rezeption der kritischen Theorie, wie sie mit der »Frankfurter Schule« und den Arbeiten von Horkheimer, Adorno und später Habermas verbunden wird, wies man verstärkt der pädagogischen Historiographie die Aufgabe zu, einen Beitrag zur Aufklärung der Gegenwart zu leisten. In diesem Kontext gewann die Frage an Bedeutung, welche Momente zum Beispiel institutioneller und personeller Bedingungen eine emanzipatorische Entwicklung unterstützt oder verhindert haben. Mit Hinweis auf Paulsen, Wolff, Kehrbach und Fischer wurde etwa von Wittmütz die Forderung erhoben, an die »reichhaltige erziehungsgeschichtliche Forschung in Deutschland vor allem zwischen 1875 und 1918 ... (anzuknüpfen; E.K.), der generell gesprochen ein politisches Interesse zugrunde lag«60.
56 Vgl. Furck, Carl-Ludwig: Geschichte als kritisches Instrument der Erziehungswissenschaft. Ein Versuch. In: Politische Bildung in der Demokratie. Fritz Borinski zum 65. Geburtstag. Berlin 1968, S.215. 57 Vgl. Klafki, Wolfgang: Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik Empirie - Ideologiekritik. In: Zeitschrift für Pädagogik 1971, S.354ff. 58 Hamburger, Franz: Neuere Entwicklungen in der erziehungswissenschaftlichen Geschichtsschreibung. In: Volker Lenhart: Historische Pädagogik. Methodologische Probleme der Erziehungsgeschichte. Wiesbaden 1977, S.6. 59 Vgl. Berg, Christa: Die Okkupation der Schule. Eine Studie zur Aufhellung gegenwärtiger Schulprobleme an der Volksschule Preußens (1872-1900). Heidelberg 1973. Dies. (Hrsg.): Kinderwelten. Frankfurt am Main 1991. Bölling, Rainer: Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart. Göttingen 1983. Münchmeier, Richard: Zugänge zur Geschichte der Sozialarbeit. München 1981. Herrmann, Ulrich: Schule und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichte der Schule im Übergang zur Industriegesellschaft. Weinheim 1977. Ders.: Historische Bildungsforschung und Sozialgeschichte der Bildung. Programme - Analysen Ergebnisse. Weinheim 1991. Sachße, Christoph: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 18711929. Frankfurt am Main 1986. 60 Wittmütz, Volkmar: Zur Problematik einer historischen Pädagogik. In: Pädagogische Rundschau 1977, S.127.
26 Insgesamt rückten neue Themen in den Mittelpunkt der pädagogischen Geschichtsschreibung, die sich mehr der Untersuchung der pädagogischen Wirklichkeit und der Funktion der Erziehung in der Gesellschaft verpflichtet fühlen.61 Dies schließt die Erweiterung der Materialbasis mit ein. Bis heute haben sich in der pädagogischen Geschichtsschreibung im wesentlichen zwei wissenschaftliche Schwerpunkte herausgebildet:62 Die Institutionsanalyse untersucht die pädagogischen Einrichtungen von der frühen Kindheit über Schulen und Erwachsenenbildung »als Teilmomente des für die Moderne typischen sozialen Wandels, in ihren Folgen und in den nichtintendierten Effekten«.63 Die historische Sozialisationsforschung versucht, »die geschichtsgesellschaftliche Genese und Bestimmtheit von Bewußtseins-, Erlebnis- und Handlungsstrukturen zu beschreiben und zu analysieren«, wobei auf »übergreifende Theorien des sozialen Wandels, soziokultureller bzw. sozioökonomischer Veränderungsprozesse usw.«64 zurückgegriffen wird. Als einen weiteren Schwerpunkt nennt Tenorth die Mentalitätsforschung, die sich aber bisher in der Bundesrepublik kaum durchsetzten konnte. Anhand von Zeugnissen großer Pädagogen und im Feld der gesellschaftlichen Wirklichkeit soll hier versucht werden »die historischen Konstruktionen von Ideen und Weltbildern, kollektiven Vorstellungen und Handlungsmustern selbst nachzuzeichnen«65. Im Bereich der Elementarpädagogik waren Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts die ersten Untersuchungen, die sich mit den unterschiedlichen Strängen der Entwicklung der Kleinkindinstitutionen auseinandersetzten66, die Arbeiten von Hoffmann, Grossmann und Heinsohn.67 Hoffmann skizziert in ihrer Untersuchung die bürgerlichen Vorläufer der öffentlichen Kleinkinderziehung und ihre ausländischen Vorbilder68 und zeichnet die weitere Entwicklung bis zur Jahrhundertwende nach. Dabei weist sie auf die 61 Vgl. Ellger-Rüttgardt, Sieglind: Historiographie der Behindertenpädagogik. In: Ulrich Bleidick (Hrsg.): Theorie der Behindertenpädagogik. Berlin 1985, S.99ff. Herrmann, Ulrich: Historische Bildungsforschung und Sozialgeschichte der Bildung. Programme Analysen - Ergebnisse. Weinheim 1991, S.14f. 62 Vgl. Hermann, Ulrich: Historische Bildungsforschung und Sozialgeschichte der Bildung. Programme - Analysen - Ergebnisse. Weinheim 1991, S.64ff und 73ff. Ders.: Probleme und Ansätze historischer Ansätze in der Sozialisationsforschung. In: Klaus Hurrelmann und Dieter Ulich (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim und Basel 1980, S.227ff. Tenorth, Heinz-Elmar: Der sozialgeschichtliche Zugang zur Historischen Pädagogik. In: Böhme, Günther und Heinz-Elmar Tenorth: Einführung in die Historische Pädagogik. Darmstadt 1990, S.134ff. 63 Tenorth, Heinz-Elmar: A.a.O., S.134. 64 Hermann, Ulrich: Historische Bildungsforschung ... a.a.O., S.88f. 65 Tenorth, Heinz-Elmar: A.a.O., S.135. 66 Ein Teil der im Folgenden vorgestellten Untersuchung analysiert die öffentliche Kleinkinderziehung bis in die jüngste Zeit. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit beschränkt sich die Analyse jeweils auf den historischen Teil bis zum Ende des Kaiserreichs. 67 Vgl. Grossmann, Wilma: A.a.O. Heinsohn, Gunnar: A.a.O. 68 Hoffmann, Erika: A.a.O.; v gl. Hoffmann, Erika: A.a.O., S.11ff und 23ff.
27 Unterschiede zwischen der Pädagogik Fröbels und protestantischen Erziehungsvorstellungen69 hin. Mit ihrer Arbeit hat Hoffmann die historische Forschung auf eine breitere Basis gestellt und pädagogische Richtungen, die speziell die Erziehung der Unterschichtkinder in ihren Mittelpunkt stellten, der Fachöffentlichkeit bekannt gemacht. Grossmann widmet sich in ihrer Studie der Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung von ihrem Beginn bis zum Anfang der siebziger Jahre. Ihr Anliegen ist es, die Hintergründe der Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung aufzuzeigen, da eine »Kritik an der Pädagogik des Kindergartens .. nur dann wirksam geleistet werden kann, wenn sie die Entstehungsbedingungen des Kindergartens berücksichtigt, in dem sich pädagogisch fortschrittliche Ansätze, die es von Beginn an durchaus gegeben hat, nicht durchsetzen konnten«.70 So weist sie darauf hin, daß sich die Zielsetzung der öffentlichen Kleinkinderziehung schon früh zwischen einer Erziehung für Kinder der Arbeiterschicht und für Kinder der bürgerlichen Schicht ausdifferenzierte.71 Während ein wichtiges Ziel der Pädagogik der Institutionen für Unterschichtkinder die Bewahrung vor Verwahrlosung war und pädagogische Förderung als zweitrangig angesehen wurde, hatten die Einrichtungen für Bürgerkinder die Aufgabe, die Kinder gezielt in ihrer Entwicklung zu fördern. Einen besonderen Schwerpunkt widmet Grossmann der Pädagogik Fröbels und der Gründung der Kindergärten. Sie zeigt auf, daß diese Pädagogik erst in der Transformation durch die beiden Fröbel-Schülerinnen Bertha von Marenholtz-Bülow und Henriette Schrader-Breymann größere Verbreitung fand.72 Heinsohn verfolgt in seiner Arbeit, in Anlehnung an Autoren und Autorinnen der ehemaligen DDR73, einen materialistischen Ansatz. Er analysiert die Ent69 Die katholische Kleinkinderziehung wurde über lange Jahre als Forschungsthema vernachlässigt. Dies könnte damit im Zusammenhang stehen, daß im Gegensatz zur evang. Kleinkinderziehung die kath. Institutionen sich erst spät, nach der Jahrhundertwende, in einem Dachverband organisierten und auch erst ab dieser Zeit eine Verbandszeitschrift veröffentlicht wurde, so daß der frühere Beitrag katholischer Pädagog/ innen nicht so deutlich zu Tage trat. Nur zwei Untersuchungen beschäftigen sich speziell mit diesem Gebiet: Vgl. Hermanutz, Leo: A.a.O. Krieg, Elsbeth: A.a.O. 70 Grossmann, Wilma, S.18. 71 Vgl. a.a.O., S.26f. 72 Vgl. a.a.O., S.42ff. Hoffmann, Erika: A.a.O., S.38ff. 73 In der früheren DDR wurden schon ab den sechziger Jahren Arbeiten zur Geschichte der Elementarerziehung vorgelegt, die bis dahin unerschlossene Quellen einbezogen und damit auch für die Forschung in Westdeutschland lange als wegweisend galten, wenn auch die einseitige Ausrichtung kritisiert wurde. Vgl. Barow-Bernstorff, Edith u.a. (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der Vorschulerziehung. Dritte Auflage. Berlin 1971. Krecker, Margot: Aus der Geschichte der Kleinkinderziehung. Quellentexte. Berlin 1961. Dies.: Die Anfänge einer gesellschaftlichen Vorschulerziehung. In: Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte. Berlin 1966. Dies.: Quellen zur Geschichte der Vorschulerziehung. Dritte überarbeitete Auflage. Berlin 1979. Zur Kritik vgl.:Grossmann, Wilma: A.a.O., S.17. Reyer, Jürgen: Wenn die Mütter ... a.a.O., S.9f.
28 wicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Geschichte und Gegenwart von ihrem Ursprung bis zum Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Entfaltung des Industriekapitalismus. Nach seiner Sichtweise stellt sich der pädagogische Fortschritt immer dann ein, »wenn zwei Produktionsweisen einander ablösen oder tiefgreifende Veränderungen in der stofflichen Seite des gesellschaftlichen Produktionsprozesses eintreten«74. In diesem Zusammenhang stellt er heraus, daß sich die Prototypen Kinderbewahranstalt als Einrichtung für Unterschichtkinder und Kindergarten als Institution für Mittelschichtkinder in der industriellen Revolution »rein herausgebildet (haben; E.K.), die bis heute (Anfang siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts; E.K.) geblieben sind«75. Dabei legt er im historischen Teil seiner Untersuchung den Schwerpunkt bis zum Ende der bürgerlichen Revolution von 1848, da »in dem darauf folgenden Jahrhundert .. nur noch Erweiterungen, Intensivierungen und Verbesserungen des grundsätzlich bereits Vorhandenen« stattfinden.76 Heinsohn definiert die Kinderbewahranstalt als eine »der industriekapitalistischen Produktionsweise entspringende Einrichtung zur Erziehung von Proletarierkindern im Interesse der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte«77. Sie hatte die Kinder »auf stofflich festgelegte Arbeitsprozesse .. (vorzubereiten; E.K.), also den instrumentell zugerichteten Menschen« zu erziehen.78 Die Zielsetzung der Kindergartenerziehung war nach Heinsohn dagegen auf die zukünftige Position der Kinder aus Bourgeoisie und Mittelschicht im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß gerichtet, die »stofflich noch nicht bestimmt waren, hohe geistige Beweglichkeit (Disponibilität) erforderten, einen langwährenden Lernprozeß in Schulen und Universitäten voraussetzten und nicht zuletzt einen kultivierten Lebensstil ermöglichen sollten.«79 Der Kindergarten habe seit dem 19. Jahrhundert die Aufgabe gehabt, als Erziehungsinstitution für die »Vermittlung optimaler kognitiver, affektiver und kommunikativer Fähigkeiten zu sorgen, die jede noch so komplizierte Funktion zu begreifen und zu übernehmen ermöglichte, hatte also den allseitig entwickelten Menschen zu erziehen.«80 In seiner Analyse beschränkt sich Heinsohn auf einen politökonomischen Zusammenhang und stellt die Herausbildung der beiden Institutionen in einen fast gesetzmäßigen Antagonismus, ohne im einzelnen differenziert auf die unterschiedliche Entwicklung einzugehen. Problematisch erscheint, daß er die weitere Entwicklung beider Institutionstypen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend unberücksichtigt läßt, aber dennoch Aussagen
74 75 76 77 78 79 80
Heinsohn, Gunnar: A.a.O., S.31f. A.a.O., S.40. A.a.O., S.26. A.a.O., S.47. A.a.O., S.59. A.a.O., S.55. A.a.O., S.59.
29 über eine Kontinuität einer bis in die jüngste Zeit angeblich gültigen gesellschaflichen Funktionen öffentlicher Kleinkindeinrichtungen macht. Im Bereich der historischen Forschung zur Elementarerziehung der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts postulieren die Herausgeber des Bandes zur Geschichte des Kindergartens, daß die Geschichte der Elementarpädagogik im »Kontext der materiellen und empirischen Bedingungen der Gesellschaftsgeschichte analysiert und daß die öffentlich veranstaltete Kleinkinderziehung als eine bestimmte Art gesellschaftlich determinierter Kleinkinderziehung aufgefaßt werden muß ... Nur im Zusammenhang mit der Geschichte der Gesellschaft und der sich mit ihr verändernden Kleinkindererziehung im allgemeinen, sei diese nun geplant oder ›naturwüchsig‹, kann auch die öffentliche Kleinkinderziehung im speziellen zureichend untersucht und angemessen verstanden werden.«81 Damit wird die Forderung erhoben, die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung über die Binnensicht der pädagogischen Entwicklung der Institutionen hinaus auf eine Basis zu stellen, die auch außerpädagogische Faktoren mit einschließt. Im Folgenden werden exemplarisch die Ansätze von Reyer und Erning diskutiert. Beide vertreten eine sozialhistorische Richtung. Reyer vertritt in seinen Arbeiten zur Kindheit in Familien und Kleinkindinstitutionen einen spezifischen sozialisationstheoretischen Ansatz. Erning ist einer der wenigen Wissenschaftler, der sich kontinuierlich mit der Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung auseinandersetzt. Reyer untersucht in seinen Arbeiten82 die Hintergründe, die die Entwicklung der Kleinkindinstitutionen bedingten. Er entwickelt mit dem »geteilten Sozialisationsfeld« einen für die Kleinkinderziehung spezifischen sozialisationstheoretischen Ansatz und analysiert auf dieser Basis die Hintergründe der Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert. Mit geteiltem Sozialisationsfeld ist gemeint, daß mit der Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung die Lebenswelt des Kleinkindes sich in einen öffentlichen und privat-familiären Raum aufspaltet. Auf dieser Grundlage entfaltet Reyer mehrere Bezüge. Für die Unterschichtfamilie in ihrer ohnehin dürftigen Lebenssituation bedeutet das Kleinkind eine zusätzliche Belastung, es ist ein Faktor der sekundären Armut. Gleichzeitig war auch das Kind »von dieser Belastungsphase besonders betroffen«83. Die prekäre Situation der Unterschichtfamilien bedingte die Mobilisierung aller familial verfügbaren Arbeitskräfteressourcen, das heißt, es mußte die »gesamte familiale Arbeitskraft, d.h. auch der Mutter und der älteren Kinder .. (eingesetzt werden; E.K.), um so für 81 Erning. Günter, Karl Neumann und Jürgen Reyer (Hrsg.): A.a.O., S.14. 82 Reyer, Jürgen: Wenn die Mütter arbeiten gingen ... Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert in Deutschland. Köln 1983. (Serie: Studien zu Bildung und Erziehung). Ders.: Kindheit zwischen privat-familialer Lebenswelt ... a.a.O., S.232ff. 83 A.a.O., S.241.
30 sich das Existenzminimum zu erarbeiten.«84 Einen weiteren wichtigen Aspekt sieht Reyer in der Vorstellung des Bürgertums, nach der Mutter und Kleinkind ausschließlich der Familie zuzuordnen seien. Die Kleinkindinstitution war nach dieser Interpretation eine Behelfseinrichtung. Dieser Sicht teilweise im Widerspruch stehend, beeinflußte, nach Reyer, ebenso das sich in der bürgerlichen Schicht seit dem 18. Jahrhundert entwickelnde Sozialisationsverständnis die Entwicklung der Einrichtungen. Basierend auf den Erkenntnissen der Philanthropen und anderen pädagogischen Reformern wie Pestalozzi und der Vorläufer der Entwicklungspsychologie, wurde die frühe Kindheit nicht nur als Entwicklungsphase von hoher prägender Bedeutung gesehen, sondern auch den Umwelteinflüssen eine wichtige Bedeutung zugemessen.85 Diese Sicht führte in Verbindung mit den bürgerlichen Ordnungsvorstellungen zu dem Urteil, »daß die verheerenden Erziehungsbedingungen (der Unterschichthaushalte; E.K.) nicht nur dem Kleinkind schaden, sondern letztlich die Gesamtgesellschaft gefährden«86. Diese zweifache Perspektive der Situation der Unterschichthaushalte und des Kleinkindes sowie der spezifischen Sicht der bürgerlichen Schicht bestimmte nach Reyers Interpretation die Entwicklung der Kleinkindinstitutionen. Insgesamt hatten die Einrichtungen den Status eines Notbehelfs als »minderwertiger Ersatz für die abwesende Mutter«87. »Mit der Ermöglichung der mütterlichen Erwerbstätigkeit zielten die Veranstalter der öffentlichen Kleinkinderziehung auf eine Stabilisierung der Unterschichthaushalte.«88 Zum anderen wurde das Ziel verfolgt, in den Kindern innerhalb dieser sensiblen Entwicklungsphase die Grundlagen zu einer »proletarischen Sittlichkeit« zu legen, das heißt, den Kindern Grundtugenden zu vermitteln, die zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung beitrügen.89 Reyer arbeitet in seinen Studien heraus, daß einerseits die Lebenssituation der Unterschichtfamilien und die Notwendigkeit der außerhäuslichen Erwerbsarbeit der Mütter die Entwicklung der Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung beförderte, andererseits aber die bürgerlichen Normen die Erziehungsvorstellungen maßgeblich bestimmten. Bezüglich der Zusammenhänge von Industrialisierung und Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung schreibt Reyer: »Hinsichtlich der ungleichgewichtigen geographischen Verteilung der Einrichtungen der öffentlichen Kleinkinderziehung zeigt die historische Forschung noch ein wenig scharfes Bild ... Immerhin zeigt sich, daß für die unterschiedlich schnelle Ausbreitung in Regionen und Ländern Deutschlands sehr komplexe Wirkungszusammenhänge angenommen werden müssen. Keineswegs bestätigt werden in den dichtbesiedelten Regionen mit hohen industriellen Zuwanderungsraten die 84 85 86 87 88
Ebenda. Vgl. a.a.O., S.251. Ebenda. A.a.O., S.269. A.a.O., S.253.
89
Vgl. a.a.O., S.255. 91 Ders.: Wenn die Mütter arbeiten gingen ... a.a.O., S.27. Der oben besprochene Aufsatz beruht in weiten Teilen auf den Ergebnissen dieser Arbeit.
31 Einrichtungen insgesamt schneller verbreitet als in ländlichen Regionen mit geringerer Bevölkerungsdichte; doch auch hier hat es sie gegeben, - in Süddeutschland sogar sehr zahlreich.«90 Erning untersucht in seinen Aufsätzen91 die quantitative Entwicklung der Kleinkindanstalten in Bezug zur Versorgungsquote sowie den Rahmenbedingungen (räumliche Ausstattung und Ausbildungssituation der Erzieherinnen) von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sowie die Ausbreitung der Kleinkindinstitutionen in der Bundesrepublik92. Außerdem hat er eine regionale Studie bis 1918 vorgelegt. In seiner Arbeit zur überregionalen Entwicklung der Kleinkindeinrichtungen konstatiert er große regionale Unterschiede in der Versorgungsquote. »Um 1910 bestand im Deutschen Kaiserreich ein Platzangebot in Einrichtungen der öffentlichen Kleinkinderziehung von durchschnittlich 13%. Dabei sind allerdings große regionale Unterschiede festzustellen: Im Süden Deutschlands, im Elsaß und in Baden, wurden Werte von über 30% erreicht, gefolgt von Württemberg mit 23%; im preußischen Norden dagegen lagen die durchschnittlichen Werte bei 11%. Vereinfachend kann man von einem West-Ost und Nord-Süd Gefälle des Ausbaustandes sprechen.«93 Auch in den preußischen Großstädten sei eine differenzierte Verteilungsdichte der Einrichtungen festzustellen.94 In seiner regionalen Studie bezieht sich Erning auf den preußischen Verwaltungsbezirk Düsseldorf von den Anfängen bis 1918. Grundlage seiner Analyse sind amtliche Meldungen über den Bestand der Institutionen, die ab 1829 in unregelmäßiger Reihenfolge veröffentlicht wurden, sowie die preußische Statistik und Amtsblätter des Bezirks.95 Diese stellt er in einen Zusammenhang mit den demographischen Entwicklungen der null- bis fünfjährigen Kinder. Mit dieser Untersuchung hat er bis dahin unerschlossenes Material verfügbar gemacht und nachgewiesen, daß im Untersuchungszeitraum die Zahl der Institutionen insgesamt zwar beträchtlich anstieg, aber der Versorgungsgrad aufgrund der demographischen Entwicklung sich dagegen nur unerheblich erhöhte.96 Die Verteilungsdichte in diesem Regierungsbezirk differierte stark. Es gab Gemeinden, die früh über eine hohe Anzahl von Kleinkindeinrichtungen verfügten, wie zum Beispiel im Wuppertaler Raum (Elberfeld und Barmen) und im nördlichen Bereich
90
Erning, Günter: Anfänge und Entwicklung ... a.a.O. Ders.: Quantitative Entwicklung ... a.a.O. 91 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird die Entwicklung der Kleinkindinstitutionen bis zum Ende des Kaiserreichs berücksichtigt. 92 Erning, Günter: Quantitative Entwicklung ... a.a.O., S.30. 93 Vgl. ebenda. 94 Ders.: Anfänge und Entwicklung ... a.a.O., S.38. 95 Vgl. a.a.O., S.59 und 61. 96 A.a.O., S.47.
32 Bereich des Raumes Kleve und Wesel. Im Kontext hierzu stellt Erning fest, daß es in der dichtbevölkerten Region um Krefeld, Mönchengladbach und Rheydt auffallend wenige Institutionen gab. Für die frühe Entwicklung in der Wuppertaler Region sieht er einen Zusammenhang zur industriellen Entwicklung. »Für den nördlichen Raum der Leinwandindustrie um Kleve, Emmerich und Wesel, deren Produkte in den Niederlanden als ›holländisches Leinen‹ umgeschlagen wurden, kann möglicherweise eine Beeinflussung durch die holländische ›Spielschul‹Tradition angenommen werden, die sich aus dem Quellenmaterial aber nicht eindeutig erschließen läßt. Die unterschiedliche Verteilungsdichte bei industriell ähnlich strukturierten Räumen sowie die regionalen und zeitlichen Schwankungen bedürfen zur Klärung noch weiterer Untersuchungen, die auf das Material der örtlichen Archive zurückgreifen müßten.«97 Reyer und Erning legen beide den Schwerpunkt ihrer Analysen auf die Binnensicht der pädagogischen Untersuchung. Reyer bezieht in seine Arbeit soziale Veränderungen und die Bedeutung der Müttererwerbsarbeit mit ein, weitere ökonomische Zusammenhänge als Mitverursacher der Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung schließt er jedoch aus.98 Dies ist statthaft, weil in einer Makrostudie die vielfältigen Verflechtungen notwendigerweise unscharf bleiben müssen. Erning dagegen konstatiert in seiner Arbeit selbst, daß für die von ihm festgestellten Entwicklungen weiterhin Erklärungsbedarf besteht und auf eine breitere Materialbasis zurückgegriffen werden müßte.99 Mikrostudien können hier beitragen, solche offen gebliebenen Fragen nach unterschiedlichen regionalen Entwicklungen der öffentlichen Kleinkinderziehung zu klären. Erst in einem entsprechenden Rahmen ist es möglich, Materialien heranzuziehen, die es erlauben, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen detailliert für einen eingegrenzten Raum aufzuzeigen. Auf einer solchen Basis lassen sich pädagogische Entwicklungen unter Einbeziehung vielfältiger Faktoren verdeutlichen. Mikrostudien stellen bisher aber eher die Ausnahme dar.100 1.5 Zum methodischen Ansatz Die vorliegende Arbeit gliedert sich in einen quantitativen Teil, in dem die Ausbreitung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum im Zusammenhang mit der Stadt- und Industrieentwicklung untersucht wird und
97 Vgl diese Arbeit, S.29f. 98 Vgl. diese Arbeit, S.31f. 99 Neben Ernings regionaler Studie sind noch eine weitere regionale und zwei stadtgeschichtliche Studien bekannt: Höltershinken, Dieter und Hans-Peter Kasüschke: A.a.O. Klattenhoff, Klaus: A.a.O. Zwerger, Brigitte: A.a.O.
33 einen qualitativen Teil, der einerseits die Motive der Verantwortungsträger der drei Städte für ihr Engagement, andererseits die Rahmenbedingungen und die pädagogischen Konzeptionen zum Inhalt hat. 1.5.1 Zur quantitativen Methode101 Die Untersuchung bezieht sich als Sekundäranalyse auf bereits vorhandene unveröffentlichte und veröffentlichte Materialien, deren Auswahl durch die Fragestellung vorbestimmt ist.102 Im Untersuchungsschwerpunkt »Entwicklung der Kleinkindinstitutionen im Zusammenhang mit der Stadt- und Industrieentwicklung« werden in den Kapiteln drei, fünf und sieben der vorliegenden Arbeit einerseits Daten zu den Einrichtungen für noch nicht schulpflichtige Kinder (wie Anstaltszahlen, Träger und Leitung, Finanzierungsunterlagen sowie Beitragssätze und Unterlagen zur Ausstattung), andererseits Daten zu den drei Städten (wie Politik, demographische Daten, Veränderung der Gemarkungsgrenzen und der Sozialstruktur) und Wirtschaft (wie Struktur und Entwicklung) über den Zeitraum von 1871 bis 1914 erhoben. Dies erlaubt es, auf der Basis verschiedener Variablen komplexe Probleme über einen längeren Zeitraum103 zu untersuchen und durch den Vergleich der drei Städte Differenzen in der Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung und ihre Hintergründe zu erhellen.104 Damit lassen sich die von Erning und Reyer konstatierten unterschiedlichen Entwicklungen der Kleinkindeinrichtungen in den verschiedenen Städten und Regionen105 für die drei Städte Köln, Krefeld und Bochum präzisieren. Die Unterlagen müssen einer Quellenkritik unterzogen werden; so ist zu prüfen, inwieweit die Daten die Realität abbilden. Da die Materialien zum großen Teil auf amtlichen Quellen beruhen, können diese von kleinen Fehlern abgesehen, als gesichert angesehen werden. Ein Problem ergibt sich jedoch daraus, daß »historische Quellen oft unvollständig« sind106 oder Unterlagen vorliegen, die in unterschiedlichen Zeiträumen erhoben wurden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit bedeutet dies zum Beispiel, daß Daten zur Entwicklung der Einrichtungs100
Zur quantitativen Methode vgl.: Best, Heinrich und Wilhelm Heinz Schröder: Quantitative historische Sozialforschung. In: Christian Meier und Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Methode. Theorie der Geschichte. München 1988. (Beiträge zur Historik Bd.5), S.250ff. Friedrichs, Jürgen: Methoden empirischer Sozialforschung. (13. Auflage). Opladen 1985, S.353ff. Tenorth, Heinz-Elmar: Konzeptionelle Möglichkeiten, methodische Innovationen und aktuelle Bedeutung Historischer Pädagogik. In: Günther Böhme und Heinz-Elmar Tenorth: A.a.O., S.206ff. 101 Friedrichs, Jürgen: A.a.O., S.353f. 102 Vgl. a.a.O., S.354f. 103 Vgl. a.a.O., S.355. Tenorth, Heinz-Elmar: A.a.O., S.190f. 104 Vgl. diese Arbeit, S.29f, 31f, 66f, 68ff. 105 Vgl. Best, Heinrich und Wilhelm Heinz-Schröder: A.a.O., S.253.
34 zahlen aus den drei Städten nicht immer exakt zeitlich deckungsgleich sind, sondern in einer Verschiebung von ein bis zwei Jahren vorliegen. Geringe Abweichungen mußten aber in Kauf genommen werden. Die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in den drei Städten wird zunächst jeweils für sich untersucht. Beim anschließenden Vergleich der drei Städte konnte, trotz der Einschränkung aufgrund der nicht immer zeitlich ganz deckungsgleichen Daten, eine Tendenz der unterschiedlichen Ausbreitung der Institutionen auf der Grundlage der städtespezifischen Entwicklungen herausgearbeitet werden. 1.5.2 Zur qualitativen Methode106 Bei der qualitativen Auswertung von Dokumenten stehen die »Rekonstruktion von Motiven, Einstellungen, Erwartungen, Deutungen und ›Weltsichten‹ einer Person, die sich in einem Text äußert«107 im Mittelpunkt. Dieser subjektive Hintergrund muß in die Interpretation miteinbezogen werden. Gleichzeitig müssen in weiteren Schritten außersubjektive Einflußfaktoren auf die Textentstehung und Textaussage miteinbezogen werden. In dieser Arbeit werden die Aussagen der kommunalen Verantwortungsträger zu den Kleinkindanstalten und die Literatur zu pädagogischen Konzeptionen interpretiert. Es geht dabei zum einem um die Frage, welche Interessen sich mit dem Engagement für die öffentliche Kleinkinderziehung in den Städten Köln, Krefeld und Bochum verbanden und zum anderen um Ziele, Aufgaben und Hintergründe der pädagogischen Konzeptionen dieser Zeit. Die Dokumente müssen einer Quellenkritik unterzogen werden. Dabei ist unter anderem zu überprüfen, welcher Art das jeweilige Dokument ist, für wen und in welcher Absicht es geschaffen wurde.108 Die Daten zu den kommunalen Funktionsträgern stammen aus amtlichen Unterlagen (wie Sitzungsprotokollen und Schreiben), die zu den pädagogischen Konzeptionen aus Buch- und Zeitschriftenpublikationen. Beide Quellenarten entstanden im Zusammenhang mit Aussagen um die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung und geben Motive, Einstellungen, Zielsetzungen wieder und sind als authentische Aussagen 106 Vgl. Heckmann, Friedrich: Interpretationsregeln zur Auswertung qualitativer Interviews und sozialwissenschaftlich relevanter »Texte«. Anwendung der Hermeneutik für die empirische Sozialforschung. In: Jürgen H.P. Hoffmeyer-Zlotnik (Hrsg.): Analyse verbaler Daten. Über den Umgang mit qualitativen Daten. Opladen 1992. Heinze, Thomas: Qualitative Sozialforschung. Erfahrungen, Probleme und Perspektiven. Zweite, um einen Nachtrag erweiterte Auflage. Darmstadt 1992. Mayring, Phillip: Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zum qualitativen Denken. München 1990. Meuser, Michael und Ulrike Nagel: ExpertInneninterviews - vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Detlef Garz und Klaus Kraimer (Hrsg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen. Opladen 1991, S.441ff. 107 Heckmann, Friedrich: A.a.O., S.143. 108 Vgl. Mayring, Phillip: A.a.O., S.32.
35 zu werten. In den Aussagen der Erzieherinnen zu ihrer pädagogischen Praxis, geschrieben für die Praxis, muß allerdings einschränkend hinzugefügt werden, daß ihre Darstellung die Wirklichkeit zum Teil idealisierend wiedergeben. Sie enthalten jedoch Aussagen zu den eigenen Erziehungszielen, pädagogischen Inhalten und Methoden und lassen sich daher mit gewissen Einschränkungen zur Nachzeichnung der praktischen Arbeit vor Ort heranziehen. Interpretation ist als ein Verstehen in einem fortschreitenden Prozeß zu deuten. Dieser »beginnt mit einem Vorverständnis, einer Interpretation eines Teils mit Hilfe einer hypothetischen Annahme über das Ganze, korrigiert diese Annahme aufgrund des Verständnisses des Teils und fährt fort, weitere Teile auf der Grundlage dieser Annahme über das Ganze zu interpretieren, um in fortschreitenden Bewegungen des Verstehens zu einem Gesamtverständnis zu kommen.«109 Das heißt, in der Interpretation der Äußerungen wird sich auf die Perspektive des jeweiligen Autors eingelassen. Die Sprachmuster und Termini der damaligen Zeit sind bei der Analyse zu berücksichtigen. Der Sinn des jeweiligen Textes wird aus sich selbst heraus gewonnen, dessen Einzelteile aus dem Gesamten zu verstehen sind. In einem weiteren Schritt werden die Texte in einer wertenden kritischen Paraphrase im Kontext der Zeit und dem damaligen Stand der pädagogischen Entwicklung kritisch hinterfragt und interpretiert. Der Einordnung in die Zeit, ihrer Kultur und Denkmuster sowie der Rekonstruktion sozialer Strukturen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.110 Die pädagogischen Ansätze werden zuerst für sich analysiert und dann miteinander verglichen, um auf dieser Ebene die Differenzen im Menschenbild und in den gesellschaftspoltischen Einstellungen sowie ihre Auswirkungen auf die Pädagogik festzustellen. 1.6 Zur Quellenlage Basis der Untersuchung sind unveröffentlichte und veröffentlichte Quellen. Letztere stammen zum größten Teil aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, deren Autoren noch auf umfangreicheres, heute nicht mehr verfügbares Material zurückgreifen konnten. Vorwiegend anhand dieser Quellen werden die Entwicklungen der drei Städte und der Industrie analysiert. Bei der Berücksichtigung der Arbeiten zeitgenössischer Autoren wird auf das Datenmaterial Bezug genommen, ohne deren Beurteilung zu übernehmen. Über diese publizierten Materialien hinaus werden unveröffentlichte Quellen aus den Archiven herangezogen, die die Entwicklung der Städte abbilden. Veröffentlichungen zur Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in den drei untersuchten Städten existieren bisher nicht. Für die Rekonstruktion die109 110
Heckmann, Friedrich, a.a.O., S.157. A.a.O., S.148ff.
36 ses Bereiches wird ausschließlich auf unveröffentlichtes Quellenmaterial zurückgegriffen. Als ergiebig erwiesen sich die Unterlagen der Stadtarchive von Köln und Krefeld, so daß anhand von Verwaltungsberichten, Adreßbüchern und Akten die quantitative Ausbreitung der Kleinkindanstalten nachgezeichnet werden kann. Wesentlich schwieriger gestaltete sich die Situation in Bochum, da dort nur wenige amtliche Unterlagen existieren, die Auskunft über die öffentliche Kleinkinderziehung geben. In den Akten der Staatsarchive konnten allerdings Archivalien gefunden werden, die für die Nachzeichung der Ausbreitung der Kleinkindanstalten in Bochum wichtige Hinweise liefern und das Datenmaterial für die beiden anderen Städte ergänzen. Durch Hinzuziehung von Unterlagen aus den katholischen Mutterhäusern verschiedener Frauenorden (Vinzentinerinnen in Köln, Archiv der Franziskanerinnen in Aachen und Schwestern der christlichen Liebe in Paderborn) und den Mutterhäusern der Diakonissen in Kaiserswerth, Bethel und Witten, den Diözesanarchiven (Köln, Aachen und Essen) kirchlichen Regionalarchiven (Synodalarchiv Bochum, Archiv der katholischen Pfarrgemeinde St. Marien in Bochum-Langendreer), Firmenarchiven (Friedrich Krupp GmbH in Essen und Firma Felten & Guilleaume in Köln) sowie Privatarchiven (Gantenberg in Bochum-Oberdahlhausen und Grügelsiepe in Bochum-Langendreer) gelang es, die Entwicklungsdaten zur öffentlichen Kleinkinderziehung für Bochum weiter zu erschließen und die Materiallage für Köln und Krefeld zu verdichten. Zur Abrundung der Datenbasis wurden für alle drei Städte die wichtigsten zeitgenössischen Tageszeitungen hinzugezogen, wobei in der Presse in Bochum bemerkenswert oft und detailliert über die Kleinkindinstitutionen berichtet wurde, während in den beiden anderen Städten die Berichte eher unterrepräsentiert waren. Anhand der Unterlagen aus den verschiedenen Archiven konnten auch die Motive der kommunalen Verantwortungsträger ermittelt werden. Aussagen über ihre Interessen fanden sich in Schreiben zwischen den verschiedenen Trägern, den jeweiligen städtischen und staatlichen Behörden sowie in Protokollen von Sitzungen des Stadtrats und der kirchlichen Behörden. Zur Ermittlung der institutionellen Rahmenbedingungen und der pädagogischen Konzeption werden Quellen herangezogen, die zum Teil in der Literatur schon verarbeitet sind111, aber hier durch die der Arbeit zugrunde liegenden Untersuchungskategorien in einen neuen Bezugsrahmen gestellt werden. Bei diesen Quellen handelt es sich um zeitgenössische Fachliteratur (Fachbücher und -zeitschriften), die Konzepte und Praxisberichte enthielten. Anhand dieser Literatur kann die pädagogische Entwicklung der Kleinkindinstitutionen und die Unterschiede der drei Richtungen innerhalb der öffentlichen Kleinkinderziehung nachgezeichnet werden. Die konkreten Rahmenbedingungen pädagogischer Pra111 Zu nennen sind hier unter anderem die Veröffentlichungen von Denner, Grossmann, Hoffmann, Reyer und Schäfer. Vgl. diese Arbeit, S.22f, 26f, 29.
37 xis lassen sich aufgrund der Datenlage in den Archiven der drei Städte, den Staatsarchiven, kirchlichen und privaten Archiven zum Teil rekonstruieren. Nur wenige Quellen existieren über die praktische Ausgestaltung der pädagogischen Arbeit. Erhalten sind jedoch einzelne Berichte, die einen Eindruck von der pädagogischen Praxis geben. Es ist anzunehmen, daß sich die Erzieherinnen an den Vorgaben der jeweiligen pädagogischen Richtungen zu orientieren versuchten, entsprechend ihrer pädagogischen Ausrichtung oder konfessionellen Zugehörigkeit. Darauf weist die Tatsache hin, daß die kirchlichen Erzieherinnen als Ordensfrauen oder Diakonissinnen - und diese bildeten die Mehrheit der Erzieherinnen in einer engen Bindung zu den Mutterhäusern standen, sich an den jeweiligen religiösen Prinzipien orientierten und von den Mutterhäusern ideell in ihrer Arbeit unterstützt wurden. 1.7 Aufbau der Arbeit In der vorliegenden Untersuchung liegt der Schwerpunkt bei der Betrachtung der pädagogischen Entwicklung im Kontext politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Faktoren. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: A. Quantitative Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Bezug zu politischen und wirtschaftlichen Hintergründen B. Untersuchung der Motive bezüglich des Engagements für die öffentliche Kleinkinderziehung C. Analyse der Feinstrukturen der pädagogischen Rahmenbedingungen und Konzepte Zu A: Der erste Teil der Untersuchung umfaßt Kapitel zwei und drei der Arbeit. Das zweite Kapitel gibt einen Einblick in die Entwicklung der politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen der drei Städte Köln, Krefeld und Bochum als Grundlage für die Geschichte der Kleinkindinstitutionen. Um die Entwicklung der drei Kommunen in einen Gesamtrahmen einzubetten, wurde an den Anfang dieses Kapitels ein Abriß der Entwicklung des Deutschen Kaiserreichs gestellt. Im dritten Kapitel wird, darauf aufbauend, die Ausbreitung der Kinderbewahranstalten analysiert, das heißt, die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum wird im Zusammenhang mit der kommunalen und industriellen Entwicklung untersucht. Dabei werden speziell die Besonderheiten der Entwicklung in Bochum und die Auswirkungen des Kulturkampfes diskutiert. Grundlage dieses Teils sind Daten zur Ausbreitung der Kleinkindinstitutionen, die in Bezug zur politischen, wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung gesetzt werden. Zu B: Der zweite Teil der Untersuchung umfaßt Kapitel vier. Im Kapitel vier werden, basierend auf den Ergebnissen des zweiten und dritten Kapitels, die Motive der kommunalen Verantwortungsträger der drei Städte Köln, Krefeld und
38 Bochum beleuchtet. Diese waren an dem Ausbau der Kleinkindinstitutionen in vielfältiger Weise beteiligt, sei es, daß sie als Stadtverordnete die Eröffnung der Einrichtungen und ihre finanzielle kommunale Unterstützung befürworten, sei es, daß sie als Unternehmer eigene Einrichtungen ins Leben riefen oder durch Spenden zum Erhalt von Einrichtungen beitrugen. Vielfach standen sie in engem Kontakt zur Arbeit der öffentlichen Kleinkinderziehung, indem sie gleichzeitg einem Trägerverein als Vorstandsmitglieder angehörten. Dieser Teil basiert auf Aussagen der verschiedenen Akteure aus Politik, Wirtschaft und Kirche der drei untersuchten Städte. In ihnen drücken sich Wünsche und Forderungen aus, die sie an die Kleinkindinstitutionen stellten und deren Umsetzung sie sich durch ihr Engagement für die Einrichtungen erhofften. Zu C: Der dritte Teil der Untersuchung umfaßt Kapitel fünf bis acht. Er beinhaltet die Untersuchung zur Ausformung der pädagogischen Arbeit in den Kinderbewahranstalten und stellt diese in Beziehung zur ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung in den drei Städten, wobei die Motive der kommunalen Akteure in die Analyse miteinbezogen werden. Im Kapitel fünf stehen die Grundlagen der pädagogischen Praxis zur Diskussion. Hier werden die gesetzlichen Vorgaben bezüglich der Kleinkinderziehung vorgestellt. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Frage, welche Träger sich im Bereich der öffentlichen Kleinkinderziehung in den Städten Köln, Krefeld und Bochum engagierten und welche Funktion sie in diesem Rahmen innehatten. Ebenso wird die Finanzierung der Institutionen in drei Städten analysiert. Die Ausbildung der pädagogischen Bezugspersonen ist eine wichtige Grundlage für die Qualität der pädagogischen Arbeit vor Ort. Deshalb stehen im Kapitel sechs die Ausbildungssituation und ihre Entwicklung sowie der Ausbildungsstand in Bezug zu den verschiedenen Trägerorganisationen im Mittelpunkt. Die Rahmenbedingungen (räumliche Situation, Ausstattung mit Mobiliar sowie Spiel- und Beschäftigungsmaterialien, Erzieher-Kind-Relation und die Betreuungszeiten) sind wichtige Anhaltspunkte für die pädagogische Arbeit in den Institutionen. Im Kapitel sieben werden diese im Hinblick auf ihre allgemeine Entwicklung und die Situation in den Einrichtungen der Städte Köln, Krefeld und Bochum untersucht. Kapitel acht enthält die Analyse der pädagogischen Arbeit in den Einrichtungen. Dabei stehen die spezifischen Konzeptionen der drei im Kaiserreich vertretenen Ansätze im Mittelpunkt. Darüber hinaus werden die verschiedenen Spiele und Beschäftigungen mit den industriellen Anforderungen der Zeit in Verbindung gebracht. Basis dieses Kapitels ist vor allem die Fachliteratur, die für die pädagogische Arbeit vor Ort geschrieben wurde. Ergänzend dazu werden Berichte aus der Praxis im Allgemeinen und den drei Städten im Besonderen vorgestellt. Anhand dieser Berichte läßt sich eine Tendenz in der allgemeinen Entwicklung der praktischen Arbeit vor Ort herausarbeiten sowie die Alltagssituation in einzelnen Kleinkindinstitutionen der drei Städte aufzeigen.
2 Entwicklung der Städte in Deutschland in der Phase der Hochindustrialisierung
Um die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung und deren Bezug zur politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung zu verstehen, ist es notwendig, diese in einen Gesamtrahmen einzubetten. Deshalb wird an dieser Stelle in einem ersten Schritt ein Überblick über die Entwicklungen im Deutschen Reich gegeben. Darauf aufbauend werden in einem zweiten Schritt die Situationen der drei Städte vorgestellt sowie deren Abweichungen und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. 2.1 Die demographische Entwicklung Zu Beginn des Kaiserreiches lebte in Deutschland noch die Mehrheit der Bevölkerung im ländlichen Raum. In den folgenden Jahren kam es zu einer Verschiebung zugunsten der schnell wachsenden Städte. Die Bevölkerung wuchs in Deutschland zwischen 1871 und 1910 insgesamt von 41 Millionen um 24 Millionen auf 65 Millionen Bewohner an. Während die Einwohnerzahl auf dem Land stagnierte, erhöhte sie sich in den Städten (Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern). Zur Zeit der Reichsgründung hatten erst acht Städte mehr als 100.000 Einwohner, 1910 waren es 40 Städte. Vor dem ersten Weltkrieg lebte jeder fünfte Deutsche in einer Großstadt.1 Den höchsten Verstädterungsgrad wies die Rheinprovinz, gefolgt von Westfalen und dem Königreich Sachsen, auf.2 Verantwortlich für diese Entwicklung waren das Bevölkerungswachstum, die Industrialisierung und in deren Gefolge die Binnenwanderung. Ein wichtiger Faktor für das Bevölkerungswachstum war das Sinken der Säuglingssterblichkeit. Dagegen ging die Geburtenhäufigkeit ab 1880 von 40 0/00 auf 36,5 0/00 leicht zurück und sank ab 1900 sehr rasch auf 9 0/00. Letzteres ist auf die Anpassung der Bevölkerung an die städtische Lebensweise zurückzuführen.3 Insgesamt sank die Sterblichkeitsziffer der Bevölkerung infolge der medizinischen Entwicklungen und der Verbesserung der hygienischen Zustände. Aufgrund der Arbeitskräftenachfrage in den Industriegebieten und der schwierigen Lebens- und Versorgungssituation in den ländlichen Gebieten wan1 Vgl. Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung. Frankfurt 1985. (Neue historische Bibliothek. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler), S.68. 2 Vgl. Pohl, Hans: Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Grundzüge der Epoche 1870-1914. Einführung in die Problematik. In: Hans Pohl (Hrsg.): Sozialgeschichte in der Hochindustrialisierung 1870-1914). Paderborn. München, Wien und Zürich 1979. (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. Hrsg. i.A. der Görres-Gesellschaft von Laetitia Boem u.a.), S.35. 3 Vgl. Reulecke, Jürgen: A.a.O., S.69; Pohl, Hans: A.a.O., S.29.
E. Krieg, Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt, DOI 10.1007/978-3-531-92848-7_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
40 derten viele Landbewohner in die Städte ab, in der Hoffnung ihre Situation verbessern zu können. Der Bedarf an Arbeitskräften wurde zunächst vor allem durch Nahwanderungen aus den umliegenden Regionen der Städte abgedeckt. In der Phase der Hochindustrialisierung wurde der Bedarf durch Zuwanderungen aus dem Ausland - vor allem aus Osteuropa und Italien - und durch Fernwanderungen aus dem ostdeutschen Raum kompensiert. Zwischen »1880 und 1907 kamen circa 675.000 Menschen in die Rheinprovinz und rund 610.000 in die Provinz Westfalen, von denen 1907 im Rheinland 27,3% und in Westfalen 44,8% aus dem Osten Deutschlands stammten.«4 Bei den Nahwanderungen war die Zahl der unverheirateten jungen Frauen sehr groß, die hofften, »in den Städten vor allem als Dienstboten in Haushalten Arbeit zu finden« und zugleich ihre Heiratschancen zu verbessern. Auch die Familienwanderungen spielten eine größere Rolle.5 Dagegen handelte es sich bei den Fernwanderungen fast ausschließlich um unverheiratete junge Männer, die zum Teil später ihre Bräute aus der Heimat nachholten. Diese Gruppe der unverheirateten jungen Männer bildete den Hauptanteil der Bevölkerung, die durch eine hohe Mobilität geprägt war. Sie wechselten häufiger den Arbeitsplatz und den Wohnort, in der Hoffnung billigere Unterkunft und besser bezahlte Arbeit zu finden. Dagegen waren Familien und Familienväter seßhafter. Sie wechselten seltener den Arbeitsplatz, hielten auch eher bei Lohnsenkungen infolge von Konjunkturschwankungen und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen aus. »Für die Wanderer ergaben sich im Zielgebiet z.T. erhebliche Integrationsprobleme. Besonders schwer hatten es die zahlreichen Zuwanderer slawischer Muttersprache wie Masuren, Polen und Kaschuben. Versuche, durch Anschluß an Familien gleicher Herkunft und Heiratsvereine oder durch Nachholen der Braut ein Stück heimischer Umwelt und Kultur aufrechtzuerhalten, konnten die Integration um Generationen hinausschieben.«6 Eine Folge der raschen Stadtentwicklung war die Wohnungsnot in den Städten. Diese führte zur Verdichtung der städtischen Wohnquartiere und Überbelegungen der Wohnungen. Ein großer Teil der städtischen Bevölkerung lebte in »unzumutbaren Behausungen. Vielerorts enstanden Mietskasernen, die ebenso wie Kellerwohnungen viele Menschen auf engem Raum unter schlechten Lichtund Luftverhältnissen beherbergten. Wegen steigender Mieten waren viele Familien gezwungen, ihrerseits an sogenannte ›Schlafgänger‹ unterzuvermieten, d.h. diese gegen Entgelt in ihrem knappen Wohnraum zu beherbergen. Die Wohnverhältnisse waren daher häufig, vor allem in hygienischer Hinsicht, katastrophal, so daß Krankheits- und Sterblichkeitsraten in städtischen Elendsvierteln weit über dem Durchschnitt lagen.«7 Die Ausstattung der Wohnungen und die Kleidung waren in der Regel ärmlich und beschränkten sich meist nur auf das Nötigste. 4 5 6
Reulecke, Jürgen: A.a.O., S.71. A.a.O., S.73. Pohl, Hans: A.a.O., S.34.
41 Oft war das Mobiliar und die Kleidung verschlissen. Das Mobiliar umfaßte häufig nur »einen Schrank, ein Vertiko, Tisch und Stühle, eine Sitzbank, Betten, Küchengerät, ein Hängebord und vielleicht noch einige Gegenstände mehr. Bei den häufigen Umzügen konnte dieses ›Hab und Gut‹ auf einem Handwagen transportiert werden.«8 Häufig mußten sich mehrere Familienmitglieder ein Bett teilen.9 Die Ernährung war in den Unterschichtfamilien meist sehr unzureichend: »Das Arbeiterhaushaltsbudget erlaubte in der Regel für den Werktag nur die jeweils billigsten Grundnahrungsmittel, und selbst das meist nur von minderer Qualität.«10 Insgesamt war die Situation der Unterschichtfamilien im Kaiserreich von großen finanziellen Unsicherheiten geprägt. Krankheit, Invalidität oder Tod des Ernährers, Arbeitslosigkeit und Einkommensschwankungen durch Konjunkturschwankungen bedrohten die ohnehin ärmliche Situation der Arbeiterfamilien. Kinder stellten eine schwere finanzielle Belastung für die Arbeitereltern dar. Erst wenn die Kinder zum Einkommen beitragen konnten, besserte sich vorübergehend die finanzielle Lage der Familien. Mit dem Erwachsenwerden der Kinder und der Gründung eines eigenen Hausstandes sowie der gleichzeitig nachlassenden Arbeitskraft der Eltern, sank das Einkommen der Unterschichtbevölkerung im Alter. 2.2 Die wirtschaftliche Entwicklung im Kaiserreich Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über den Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklung auf die Erwerbsarbeit unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Unterschichtenhaushalte gegeben werden, um die Rahmenbedingungen des Wirtschaftswachstums in den untersuchten Städten Köln, Krefeld und Bochum abzustecken. Es wird im weiteren Verlauf der Arbeit zu zeigen sein, inwieweit sich die Entwicklung der drei Städte in den Rahmen der allgemeinen ökonomischen Situation einfügte. Zwischen 1871 und 1914 vollzog sich in Deutschland nicht nur ein »Wandel vom Agrar- zum Industriestaat, sondern (die deutsche Wirtschaft; E.K.) holte 7 A.a.O., S.37f. 8 Ruppert, Wolfgang: »Eigener Herd ist Goldes Wert«. Dingliche Lebenswelt. In: Wolfgang Ruppert (Hrsg.): Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur von der Frühindustrialisierung bis zum »Wirtschaftswunder«. Frankfurt am Main, Olten und Wien 1986, S.199. 9 Vgl. Freudenthal, Margarete: Gestaltwandel der städtischen, bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft. Hrsg. Katharina Rutschky. Frankfurt/M. und Berlin 1986, S.120f. Rosenbaum, Heidi (Hrsg.): Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozialökonomischen Bedingungen von Familienformen. Frankfurt am Main 1974, S.318ff. Weber-Kellermann, Ingeborg: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Zweite Auflage. Frankfurt am Main 1975, S.129ff. 10 Fielhauer, Helmut Paul: »Kartoffeln in der Früh, des Mittags in der Brüh’ ...«. Arbeiternahrung. In: Wolfgang Ruppert: A.a.O., S.168. Vgl. Freudenthal, Margarete: A.a.O., S.121ff.
42 auch den Vorsprung der früher industrialisierten westeuropäischen Staaten auf«11. In dieser Zeit gewann die Industrie in Deutschland eine beherrschende Stellung. Die industrielle Entwicklung als maßgeblicher Faktor konzentrierte sich aber nur auf einige Regionen, wie auf das Ruhrgebiet und Saarrevier, auf Oberschlesien und Sachsen.12 Trotz Konjunkturschwankungen zwischen 1871 und 1914 machte sich ein langfristiges Wachstum in fast allen Branchen der gewerblichen Wirtschaft bemerkbar. Das Metallgewerbe, das Baugewerbe, der Bergbau, die Chemie, Steine und Erden, die Feinmechanik, Optik und Elektroindustrie verzeichneten ein überdurchschnittliches Wachstum der Beschäftigungszahlen zwischen plus 210% im Metallgewerbe und plus 161% in der Feinmechanik, Optik und Elektroindustrie. Durchschnittliche Werte erzielten das Holz-, Druck- und Papiergewerbe sowie das Nahrungsmittelgewerbe mit Zuwachsraten von 120% bis 111%. Unter dem Durchschnitt lagen dagegen der Gewerbezweig Textil, Bekleidung und Leder mit einer Zuwachsrate von nur 32%.13 Nach einer langanhaltenden Hochkonjunktur von 1850 bis 1873 setzte im Zuge der Weltwirtschaftskrise eine langanhaltende schwere Depression ein. Eingeleitet wurde dieser wirtschaftliche Abschwung von der sogenannten Gründerkrise. Eine kurze Erholung trat vom Frühjahr 1879 bis zum Januar 1882 ein, der ein schwächerer Abschwung folgte. »Vom Herbst 1886 bis zum Beginn des Jahres 1890 setzte sich endlich wieder der Aufschwung kräftig durch ... Aber dann dominierte doch noch einmal eine abgeflachte Störung vom Januar 1890 bis Februar 1895, ehe eine Trendperiode der welt- und nationalwirtschaftlichen Hochkonjunktur von 1895 bis 1913 auf breiter Front sich durchsetzte.«14 Die wirtschaftlichen Krisen wirkten sich auf die Beschäftigungslage und damit auf die Lebenssituation der Unterschichthaushalte aus. Die Zeit der Vollbeschäftigung, in der die Arbeiter einen vollen Lohn erzielen konnten, wurde immer wieder von Phasen der Arbeitslosigkeit und der Lohnkürzungen aufgrund von Konjunkturschwankungen unterbrochen. Wenn auch, von der ersten schweren Krise nach 1873 abgesehen, die Zeit der Arbeitslosigkeit eher kurz war,15 so bedeutete doch jede Lohnkürzung oder gar Lohnausfall eine große Härte für die Arbeiterfamilien. Das regelmäßige Einkommen der Unterschichtfamilie ließ in der Regel nur die Deckung der notwendigen Lebensbedürfnisse zu. Ersparnisse zur Vorsorge für Notfälle waren unter diesen Umständen kaum möglich. Jede Unregelmäßigkeit im Einkommen führte zu Notsituationen in den Unterschichtfamilien. 11 Pohl, Hans: A.a.O., S.21. 12 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918. Sechste, bibliographisch erneuerte Auflage. Göttingen 1988. (Deutsche Geschichte. Hrsg. Joachim Leuschner. Band 9), S.41. 13 Vgl. Henning, Friedrich-Wilhelm: Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914. Wirtschaftsund Sozialgeschichte. Band 2. Dritte Auflage. Paderborn 1976, S.217f. 14 Wehler, Hans-Ulrich: A.a.O., S.43. 15 Vgl. Schäfer, Hermann: Die Industriearbeiter. Lage und Lebenslauf im Bezugsfeld von Beruf und Betrieb. In: Pohl, Hans (Hrsg.): A.a.O., S.148.
43 2.2.1 Die Entwicklung der Frauenerwerbsarbeit Die außerhäusliche Berufstätigkeit der Frauen gilt in der Fachliteratur als ein wichtiges Indiz für die Notwendigkeit von Institutionen zur Betreuung noch nicht schulpflichtiger Kinder.16 Deshalb wird im Folgenden ein Überblick über die Entwicklung dieser Erwerbsarbeit im Deutschen Reich gegeben, werden Differenzen und Gemeinsamkeiten in den drei Städten herausgearbeitet, um einen der Hintergründe des Ausbaus der Kleinkindinstitutionen zu beleuchten. Die beiden folgenden Tabellen geben einen Eindruck von der Entwicklung der weiblichen Erwerbstätigkeit im allgemeinen und im industriellen Sektor. Nach den Berufszählungen waren in den Jahren 1882, 1895 und 1907 folgende Anzahl von Frauen im Hauptberuf erwerbstätig.17 Jahr
1882
1895
1907
erwerbstätige Frauen
4.264.393
5.264.393
8.243.498
Allerdings lassen sich die Zahlen nicht exakt vergleichen, da unterschiedliche Zählweisen zugrunde lagen. Von den 8.243.498 erwerbstätigen Frauen im Jahr 1907 gehörten 4.598.986 der Landwirtschaft an.18 1895 wurden diese Frauen noch als weibliche Angehörige in die Berufszählung aufgenommen.19 Die Entwicklung der weiblichen Erwerbstätigkeit in der Industrie zeigt folgende Tabelle:20 Jahr
insgesamt
ledig
verheiratet
verwitwet/geschieden
1882 1895 1907
1.126.976 1.521.118 2.103.924
791.926 1.048.818 1.412.062
148.913 250.666 447.947
186.137 221.634 243.915
16 Vgl. Erning, Günter: Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert. In: Thomas Schnabel (Hrsg.): versorgen, bilden, erziehen 1912-1987. Festschrift des Zentralverbandes katholischer Kindergärten und Kinderhorte Deutschlands. Freiburg im Breisgau 1987, S.8. Heinsohn, Gunnar: Vorschulerziehung und Kapitalismus. Eine soziologische Untersuchung der Ursachen, systemverändernden Möglichkeiten und Verwirklichungsschwierigkeiten von Reformbestrebungen in der Vorschulerziehung des kapitalistischen Deutschlands. Frankfurt am Main, S.39. Reyer, Jürgen: Wenn die Mütter arbeiten gingen... Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert in Deutschland. Köln 1983. (Serie: Studien zur Bildung und Erziehung), S.162f und 168ff. Zwerger, Brigitte: Bewahranstalt - Kleinkinderschule - Kindergarten. Aspekte nichtfamilialer Kleinkinderziehung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Weinheim und Basel 1980, S.74ff. 17 Simon, Helene: Der Anteil der Frau an der deutschen Industrie nach den Ergebnissen der Berufszählung von 1907. Jena 1910. (Schriften des ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen. Heft 24), S.4. 18 Vgl. a.a.O., S.9. 19 Vgl. Hauff, Lilly: Die Entwicklung der Frauenberufe in den letzten drei Jahrzehnten. Mit besonderer Berücksichtigung der beruflichen Entwicklung in Halle a.S. Berlin 1911, S.22ff. Fischer, Edmund: Frauenarbeit und Familie. Berlin 1914, S.9. 20 Vgl. Hitze, Franz: Einige interessante Ergebnisse der Berufs- und Betriebszählung von 1907. (Soziale Kultur, Januar 1910), S.23; Fischer, Edmund: A.a.O., S.19; Simon, Helene: A.a.O., S.10ff.
44 Es zeigt sich, daß im Kaiserreich die weibliche Erwerbstätigkeit im Allgemeinen und innerhalb der Industrie erheblich anstieg. Zwischen 1882 und 1907 verdoppelte sich fast die Gesamtzahl der Industriearbeiterinnen, die der verheirateten Frauen nahm um fast das Dreifache zu. In den Aufsichtsbezirken Köln waren 1899 1.426 verheiratete, verwitwete oder geschiedene Frauen in Fabriken beschäftigt; im Aufsichtsbezirk Düsseldorf 6.626 und im Bezirk Arnsberg 1.357. Der Schwerpunkt der Fabrikarbeit lag in der Textilindustrie. Der Bezirk Düsseldorf steht hier an erster Stelle mit 5.725 verheirateten, geschiedenen oder verwitweten Frauen; im Bezirk Köln waren es dagegen 888 und im Bezirk Arnsberg nur 149. Im Bergbau wurden sieben verheiratete, verwitwete oder geschiedene Frauen gezählt; in den beiden anderen Bezirken dagegen keine.21 1907 waren von den Verheirateten 111.717 und den Verwitweten oder Geschiedenen 124.398 selbständig. Von den Industriearbeiterinnen waren 333.018 verheiratet und 117.989 verwitwet.22 An erster Stelle der weiblichen Erwerbstätigkeit stand die Bekleidungs- und Textilindustrie, ihr folgte die Gruppe Nahrungs- und Genußmittel, während die Zahl der weiblichen Beschäftigten im Bergbau und Hüttenwesen weiterhin verschwindend gering war. Im Bereich Rheinland waren von insgesamt 1.376.407 Erwerbstätigen 198.160 Frauen, davon wiederum waren 14.537 verheiratet. In Westfalen waren insgesamt 776.706 erwerbstätig, davon waren 76.122 Frauen und 5.929 verheiratet.23 Bei ausreichendem Verdienst der Ehemänner gaben die Frauen ihre Erwerbsarbeit auf. Die Löhne der Textilarbeiter waren im Vergleich zu den Bergarbeitern geringer, somit wurde die Erwerbstätigkeit der Frau notwendig. Nach Wilbrandt stellte die außerhäusliche Erwerbsarbeit der Ehefrauen bei einem Jahresverdienst des Mannes in großen Städten zwischen 1500 Mark und 2000 Mark keine Notwendigkeit dar. Dagegen war bei einem niedrigen Lohn »ohne Mithilfe der Frau nicht auszukommen«24. 2.3 Die Entwicklung der Städte Köln, Krefeld und Bochum Während Bochum in den fünfziger Jahren noch ein kleines zurückgebliebenes Landstädtchen war, waren Köln und Krefeld bereits entwickelte Städte. In Köln entstanden schon vor 1871 industrielle Betriebe. Krefeld stieg ab dem 17. Jahrhundert zu einer bedeutenden Seidenstadt auf. Allerdings war die Samt- und Seidenherstellung noch fast ausschließlich auf die Hausproduktion beschränkt. 21 Boom, Emil van den: Die Beschäftigung verheirateter Frauen in den Fabriken und die Möglichkeit ihrer Beschränkung nach den Berichten der deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten für das Jahr 1899. Köln 1901. (Sonderdruck aus »Arbeiterwohl«), S.66f. 22 Fischer, Edmund: A.a.O., S.20. 23 Simon, Helene: A.a.O., S.70. 24 Wilbrandt, Robert: Die Frauenarbeit. Ein Problem des Kapitalismus. Leipzig 1906. (Aus Natur und Geisteswelt. Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen. Bd.106), S.39.
45 Die führenden Kräfte der Krefelder Wirtschaft und Politik setzten sich fastausschließlich aus Protestanten und Mennoniten zusammen, der Mittel- und Arbeiterstand gehörte dagegen zum überwiegenden Teil der katholischen Kirche an. Bis 1914 hatten die Nationalliberalen die Mehrheit im Stadtparlament. Sie verfügten über die Mehrheit in der ersten und zweiten Wahlabteilung, während das Zentrum seit 1879 die Majorität in der dritten Abteilung hielt. Die Sozialdemokraten beteiligten sich erst 1901 an den Wahlen. Sie blieben von untergeordneter Bedeutung.25 In Köln behaupteten die Liberalen (verschiedene liberale Parteien bildeten oft ein Wahlbündnis) über lange Zeit ihre beherrschende Stellung. Die Nationalliberalen waren unter ihnen die stärksten. Deren Mitglieder entstammten zumeist dem Großbürgertum. In den Stadtverordnetenwahlen war ihre Stellung in der ersten Wahlklasse bis 1913 unangefochten, während in der zweiten Wahlklasse seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Zentrum an Stimmen gewann und später die Mehrheit errang. Ab 1891 hatte das Zentrum in der dritten Wahlklasse die absolute Führungsposition. Die Liberalen konnten keine Stimme mehr erringen. Bis 1913 gelang es der SPD nicht, ein Mandat für die Stadtverordnetenversammlung zu erlangen.26 »Die Politik der Stadt Köln wurde weitgehend von den Oberschichten und der mittelständischen Bevölkerung bestimmt. Der Einfluß der Honoratioren war nicht nur in der Stadtverordnetenversammlung selbst, sondern auch im Vorfeld der politischen Entscheidungen sehr groß.«27 Auch in Bochum bildeten die Industriellen die Führungsschicht und bestimmten das politische und wirtschaftliche Leben: »Sie interessierten sich nicht dafür, welche Rolle der Betrieb in der Stadt spielte, sondern umgekehrt, wie die Stadt und ihre Bewohner auf die Anforderungen reagierten, die der Inlands- und Auslandsmarkt an sie stellten. Eines ihrer Hauptanliegen bestand darin, sicherzustellen, daß die sozialen und politischen Verhältnisse in Bochum so beschaffen waren, daß sie eine erfolgsträchtige Position des Betriebes auf dem Weltmarkt nicht behinderten und möglichst sogar begünstigten. Da sie jedoch selbst von außerhalb kamen und Anteilseignern verantwortlich waren, die selbst nicht mit Bochum verbunden waren, hatten sie große Schwierigkeiten, dieses Ziel zu erreichen.«28 Die Sozialdemokratie hatte im Stadtparlament keine Chancen. Es kam nach 1893 immer wieder zu Wahlbündnissen zwischen Vertretern der Schwer25 Vgl. Kempkes, Heidemarie: Der christliche Textilverband in Krefeld 1906 bis 1914. Wentdorf/Hamburg 1979. (Nr. 10 der Schriftenreihe »Die Arbeiterbewegung in den Rheinlanden« Hrsg. Günter Bers und Michael Klöcker), S.14f. 26 Vgl. Großstadt im Aufbruch. Köln 1888. Katalog zur Ausstellung des Historischen Archivs der Stadt Köln in Zusammenarbeit mit der Stadtsparkasse Köln. Köln 1988, S.189ff. 27 Jasper, Karlbernhard: Die Urbanisierung dargestellt am Beispiel der Stadt Köln. Köln 1977. (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte. Bd.30. Hrsg. vom Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv zu Köln e.V.), S.253. 28 Crew, David: Bochum. Sozialgeschichte einer Industriestadt 1869-1914. Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1980. (Sozialgeschichtliche Bibliothek: Hrsg. Dieter Groh), S.122.
46 industrie und des Mittelstands. »Die Wahlvereinbarung von Liberalen und Zentrum hielt bis 1902, als die Katholiken sich darüber beklagten, daß man ihnen viel zu wenige Abgeordnete im Rathaus zugestanden hatte, und die Wiederwahl der Liberalen nicht unterstützten. Aber obwohl der Haus- und Grundbesitzerverein und der Wirteverein 1906 eigene Kandidaten aufstellten, reichte die Bedrohung durch die Sozialdemokraten aus, die Liberalen und das Zentrum wieder auf eine gemeinsame Liste zusammenzuführen. 1908 und 1910 brach das Bündnis wieder auseinander. 1908 verließ eine Gruppe reformwilliger Liberaler die Nationalliberale Partei und schloß sich der Kommunalen Wirtschaftsvereinigung an, welche Reformen im kommunalen Wohnungsbau und in der Wirtschafts-, Steuer- und Schulpolitik forderte. Die restlichen Liberalen, das Zentrum und die Sozialdemokratie kandidierten auf getrennten Listen. Die Spaltung der Liberalen ermöglichte dem Zentrum einen vollständigen Sieg in der dritten Wählerabteilung. Die Opposition der Liberalen gegen die Politik des Zentrums in Preußen und im Reich führte 1910 dazu, daß man weiterhin auf getrennten Listen kandidierte. 1912 bildeten beide Parteien angesichts der Gefahr eines Einrückens der Sozialdemokraten in die Stadtverordnetenversammlung wieder eine Einheitsliste, mit der sie auch die Wahl gewannen.«29 2.3.1 Die demographische Entwicklung Im Folgenden soll ein Überblick über die demographische Entwicklung der drei Städte Köln, Krefeld und Bochum gegeben werden. Die Bevölkerung in Köln hatte sich von 1871 bis 1914 um 392%, in Krefeld um 132% und in Bochum um 576% vermehrt.30 Die Bevölkerungsentwicklung war einerseits durch interne Faktoren wie Geburtenüberschuß und Wanderungsbewegungen bedingt, andererseits durch den Flächenzuwachs in Folge von Eingemeindungen. Bei der Betrachtung der Grafik zur demographischen Entwicklung fällt auf, daß die Zunahme der Bevölkerung in den drei Städten stark differiert. In Köln gab es drei Entwicklungsphasen. Die Grafik zeigt zunächst einen allmählichen Anstieg der Bevölkerungszahlen zwischen 1871 und 1880. Im Wechsel setzen dann langsame und schnelle Wachstumsperioden ein. In die Perioden des schnellen Bevölkerungsanstiegs fielen jeweils Eingemeindungen, die Köln nicht nur umfangreiche Gebietszugewinne brachten, sondern auch eine starke Zunahme der Kölner Bevölkerung bewirkten. Die Ursache für die relativ geringe 29 30
A.a.O., S.149f. Vgl. a.a.O., S.37. Silbergleit, Heinrich: Preussens Städte. Denkschrift zum 100jährigen Jubiläum der Städteordnung vom 19. November 1808. Berlin 1908, S.4. Jasper, Karlbernhard: A.a.O., S.37. Stadtarchiv Krefeld: Verwaltungsberichte 1871 bis 1914. Stadtarchiv Bochum: Verwaltungsberichte 1871 bis 1914. Zu den genauen Daten vgl. diese Arbeit, S.279.
47 700.000
Demographische Entwicklung in Köln, Krefeld und Bochum
600.000 absolute Zahlen
500.000 400.000 300.000 200.000
Köln
100.000
Krefeld Bochum
0 Jahr
1871
1880
1890
1900
1910
1914
Zunahme der Bevölkerung im ersten Jahrzehnt des Kaiserreichs ist in den engen Grenzen der Stadt zu sehen. Köln war noch von Stadtmauern umgeben, die eine Ausdehnung außerhalb dieser Begrenzung ausschloß. Im nächsten Jahrzehnt verdoppelte sich fast die Einwohnerschaft Kölns. Dies ist im Zusammenhang mit dem Bau der Neustadt und den Eingemeindungen im Jahr 1888 zu sehen. Ab 1. Juni 1881 begann man mit der Niederlegung der Stadtmauern. Danach entstand die Neustadt zwischen den Ringen und dem inneren Gürtel.31 1888 wurden die rechtsrheinischen Gebiete Deutz und Poll sowie die linksrheinischen Gebiete Rondorf, Kriel, Müngersdorf, Ehrenfeld, Nippes, Longerich und Teile von Efferens eingemeindet. Nahmen die Bewohner zwischen 1871 und 1880 um weniger als ein Achtel zu, so verdoppelte sich die Bevölkerung zwischen 1881 und 1890. Der Bevölkerungszuwachs durch den Bau der Neustadt zwischen den Ringen und durch die Eingemeindungen betrug 124.978 Bewohner, während die Bevölkerung in der Altstadt nur um 11.931 Personen anwuchs.32 In den nächsten Jahren nahm die Einwohnerzahl in der Altstadt bis 1900 leicht zu, danach sank sie. Dagegen wuchs die Bevölkerung in der Neustadt und in den bis 1914 eingemeindeten Stadtbezirken stark an.33 Zwischen 1890 und 1900 verlangsamte sich die Entwicklung der Bevölkerung, um in den beiden darauffolgenden Jahren bis 1914 wieder steil anzusteigen. Auch in diesen beiden Perioden nach der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg lagen weitere Phasen der Eingemeindungen. 1910 wurden Kalk und Vingst eingemeindet. In den beiden neuen Kölner Stadtbezirken wohnten 33.998 Personen, so daß auf der Gebietsfläche ohne Kalk und Vingst die Bevölke31 Vgl. Die räumliche Entwicklung der Stadt Köln von der Römerzeit bis in unsere Tage, die Vogelschau des Arnold Mercator aus dem Jahre 1570/71 und ein jemötlicher Verzäll zum Stadtmodell im Kölnischen Stadtmodell im Kölnischen Stadtmuseum. Köln 1986. (Kleine Schriften zur Kölner Stadtgeschichte 3. Hrsg. von Werner Schäffke), S.14. 32 Henning, Friedrich-Wilhelm: Die Stadterweiterung unter dem Einfluß der Industrialisierung (1871 bis 1914). In: Kellenbenz, Hermann (Hrsg.): Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft. Bd.2. Köln 1975. S.281. 33 Vgl. Jasper, Karlbernhard: A.a.O., S.40.
48 rung um 110.000 Personen zunahm. 1914 wurden Mülheim, Merheim, Holweide, Dellbrück, Dünnwald und Stammheim eingemeindet. Die Zunahme durch Kölner Neubürger betrug 81.699 Personen, so daß die Bevölkerung auf der Gebietsfläche ohne die neuen Stadtbezirke auf 37.521 anstieg. Der Anstieg der Bevölkerung auf der Gebietsfläche von 1914 lag zwischen 1890 und 1914 wesentlich höher als zwischen 1871 und 1890. Dies ist im Zusammenhang mit der konjunkturellen Entwicklung der Kölner Wirtschaft zu sehen. Zwischen 1871 und 1914 wuchs die Bevölkerung in der Neustadt und den Stadtbezirken wesentlich stärker an als in der Altstadt. Die Entwicklung der Bevölkerung ist eng mit der baulichen Situation und der wirtschaftlichen Entwicklung verknüpft. Die expandierenden Kölner Unternehmen waren aufgrund der beengten Situation innerhalb von Alt-Köln gezwungen, sich in den später eingemeindeten Stadtbezirken anzusiedeln.34 In Krefeld verlief die Entwicklung der Einwohnerzahl im Vergleich zu Köln und Bochum sowie dem allgemeinen wirtschaftlichen Trend gegenläufig. Von 1871 bis 1890 wuchs die Bevölkerung an, wobei der Zuwachs zwischen 1880 und 1890 fast doppelt so hoch war als im Jahrzehnt zuvor. Dieser Entwicklungsprozeß muß im Zusammenhang mit dem Umstrukturierungsprozeß der Textilindustrie gesehen werden. Durch die Umstellung von der Haus- auf die Fabrikproduktion und durch die lang anhaltende wirtschaftliche Rezession wurden viele der im Umland von Krefeld wohnenden Heimweber arbeitslos. In der Hoffnung auf Arbeit zogen viele arbeitslos gewordenen Heimweber in die Stadt Krefeld.35 Die Bevölkerung stieg dort von »1883-1890 ... um 30 Proz. .. ein Zuzug, der ... fast nur aus verarmten Webern mit zum Teil sehr starker Kinderzahl bestand.«36 Nach 1891 verlangsamte sich die Bevölkerungsentwicklung drastisch, und bis zur Jahrhundertwende stagnierte sie fast. Auch die Zunahme der Einwohnerschaft Krefelds zwischen 1900 und 1910 ist vor allem auf die Eingemeindungen von 1901 und 1907 zurückzuführen. Der Zugewinn lag bei 15.391 Einwohnern, während im alten Stadtgebiet die Bevölkerung nur um 7.295 Personen zunahm. Diese Entwicklung steht im Zusammenhang mit der Überproduktionskrise, die erst nach der Jahrhundertwende überwunden werden konnte. 1901 wurde Linn eingemeindet und dadurch der Stadt Krefeld ein direkter Zugang zum Rhein ermöglicht. Mit dem Bau des Rheinhafens von 1903 bis 1905 konnten neue Wirtschaftszweige angesiedelt werden, wenn auch über den ganzen Untersuchungszeitraum die Textilindustrie vorherrschend blieb.37 1907 wurden Oppum, Bockum und Verberg eingemeindet. Bis 1914 nahm die Bevölkerung wieder stärker zu. In Bochum stieg die Bevölkerung bis zur Jahrhundertwende kontinuierlich an. Die Einwohnerschaft verdreifachte sich in diesem Zeitraum. Zwischen 1900 und 34 Vgl. diese Arbeit, S.53. 35 Vgl. diese Arbeit, S.54f. 36 O.N.: Geschichte und Organisation der städtischen Armenverwaltung zu Crefeld in den Jahren 18631913. Krefeld (1913), S.21.
49 1910 verdoppelte sich die Bevölkerung. 1904 wurden Hamme, Hofstede, Grumme und Wiemelshausen eingemeindet. Die Einwohnerzahl der eingemeindeten Ortsteile betrug 60.326.38 Damit erhöhte sich die Bevölkerung im alten Stadtgebiet um 11.039, so daß weiterhin von einem kontinuierlichen Aufwärtstrend gesprochen werden kann, der sich bis 1914 fortsetzte. Die Bevölkerungsentwicklung in Bochum hängt eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung zusammen. Ab Ende der siebziger Jahre verbesserte sich die wirtschaftliche Situation zunehmend.39 Die demographische Entwicklung der Stadt Köln vollzog sich von Anbeginn, im Vergleich zu Krefeld und Bochum, auf einem hohen Niveau. Krefelds Bevölkerung wuchs in den ersten beiden Jahrzehnten des Kaiserreichs, danach verlangsamte sich das Wachstum der Einwohnerschaft. Im Gegensatz dazu stiegen in Bochum die Zahlen kontinuierlich an. Durch Eingemeindungen erzielte Bochum nach der Jahrhundertwende einen hohen Bevölkerungszuwachs und überflügelte Krefeld. Diese Entwicklungen in den drei Städten machten unterschiedliche soziale Maßnahmen notwendig. Noch eindeutiger wird dies bei der Betrachtung der Bewohner der jeweiligen Städte in Bezug auf ihre Herkunft. Beim Vergleich der Bewohner nach Gebürtigkeit in den drei Städten Köln, Krefeld und Bochum - wie folgende Tabelle von 1907 verdeutlicht - fällt auf, daß in Bochum die Zahl der Zuwanderer überproportional hoch war.40 Stadt
Einwohner Insgesamt in Tausend
davon Ortsgebürtige in %
davon Nahwanderer in %
davon Fernwanderer in %
davon Ausländer in %
Köln Krefeld Bochum
436,5 110,6 125,9
49,7 60,6 36,5
34,7 31,4 39,8
14,5 6,1 22,2
2,1 1,9 1,4
Während sich in Köln fast die Hälfte der Bewohner aus Ortsgebürtigen zusammensetzte, waren es in Krefeld drei Fünftel und in Bochum etwas mehr als ein Drittel. Der Anteil der Fernwanderer machte in Bochum mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung aus. In Köln und Krefeld dagegen fiel er weniger ins Gewicht. Die Integrationsschwierigkeiten der zuwandernden Bevölkerung waren in Bochum nach der Jahrhundertwende größer als in den anderen beiden Städten. Diese Problematik hatte einen wesentlichen Anteil am Ausbau der Institutionen zur sozialen Daseinsfürsorge und damit auch an der Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung. 37 Münnix, Norbert: Die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt Krefeld vom Ende der Kaiserzeit bis in die Weimarer Republik (1890-1929). Phil. Diss. Köln 1977, S.16ff. 38 Stadtarchiv Bochum: LA 762. 39 Vgl. diese Arbeit, S.55. 40 Köllmann, Wolfgang: Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands. Göttingen 1974. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Hrsg. Helmut Berding u.a.), S.118.
50 Im Folgenden wird auf die Situation in Bochum noch näher eingegangen. Von den 23,7%41 Fernwanderern stammten 11,1% aus Hessen/Waldeck, 29,7% aus Ostpreußen, 7,6% aus Westpreußen, 12,9% aus Posen und 32,5% aus dem restlichen Deutschland.42 Die Fernwanderer, ebenso wie die Nahwanderer aus dem ländlichen Bereich, hatten nicht nur Schwierigkeiten bei der Anpassung an die städtische Lebensart und die industrielle Produktionsweise, sie sahen sich auch aufgrund ihres Dialektes oder anderer Muttersprache mit Sprachproblemen konfrontiert. Letzeres betraf besonders die Bevölkerungsgruppen aus dem polnischen Kulturraum, da sie in der Regel kaum Deutsch sprachen.43 7.000
Zunahme der Polen in Bochum
6.000 absolute Zahlen
5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0 Jahr
1890
1900
1905
1910
»Genauere statistische Angaben über die Polen haben wir in der preußischen Statistik überhaupt erst seit dem Jahre 1890. Eine Statistik aus dem Jahre 1861 gibt die Zahl der Polen im Westen auf 16 an.«44 Allerdings waren die Zählungen mit Fehlern behaftet, so daß anzunehmen ist, daß die Zahl der Polen höher lag als angegeben. In der amtlichen Erhebung von 1906, also ein Jahr nach der Volkszählung, gab es in Bochum 8.521 Polen.45 1910 stammten nach Brinkmann 63.437 aus Bochum, 30.012 aus Westfalen, 37.554 aus dem übrigen Preußen, 4.402 aus anderen deutschen Staaten und 1.562 aus dem Ausland.46 Der Anteil der Polen betrug 4,58%.47 Die demographische Entwicklung und die Bevölkerungsstruktur waren von hoher Bedeutung für den Ausbau der Maßnahmen zur sozialen Daseinsfürsorge. Für die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung war darüber hinaus die Zunahme der noch nicht schulpflichtigen Kinder von großer Wichtigkeit. Die Entwicklung der Kleinkinderzahlen in den drei Städten Köln, Krefeld und 41 Hier ergibt sich in Köllmanns Berechnung eine Differenz von 1,5%. Vgl. Köllmann, Wolfgang: A.a.O., S.171. 42 A.a.O., S.172. 43 Wachowiak, St.: Die Polen in Rheinland-Westfalen. Leipzig 1916, S.18. 44 A.a.O., S.15.
51 Bochum steht im Zusammenhang mit der allgemeinen demographischen Entwicklung. Sie spiegelt aber auch die wirtschaftliche Situation, die Einstellung zur Familiengröße und die Anzahl der Kinder im Verlauf des Urbanisierungsprozesses wider. Im Folgenden zeigt eine Grafik die Entwicklung der 0- bis 5-Jährigen.48 Köln verzeichnet die absolut stärkste Zunahme der Kleinkinder zwischen 1880 und 1890. In diese Zeit fielen die Stadterweiterungen innerhalb der Gemarkungsgrenzen durch die Niederlegung der Stadtmauern und die Erschließung der sogenannten Neustadt. 1888 folgten umfangreiche Eingemeindungen. Die Zunahme der Kleinkinder ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Aber auch die Ent70.000
Entwicklung der Kleinkinder von 0 bis 5 Jahre
60.000 absolute Zahlen
50.000 40.000 30.000 20.000
Köln
10.000
Krefeld
0 Jahr
Bochum
1871
1880
1890
1900
1910
wicklung der Fruchtbarkeitsziffer ist hier zu berücksichtigen. Nachdem 1876 die Geburtenzahl mit 42,3% ihren höchsten Stand erreichte, zeigte sie in den achtziger Jahren eine fallende Tendenz. Es kam »aufgrund der relativen größeren Geburtenhäufigkeit infolge des überwiegend ländlichen Charakters der eingemeindeten Vororte .. zu einem erneuten Anstieg der Geburtenziffer bis zum Jahre 1891. Erst 1903 erreichte die Geburtenziffer mit 36,8% wieder annähernd das Niveau, auf dem sie sich vor der Eingemeindung bewegt hatte.«49 In den eingemeindeten Stadtteilen war damit der Anpassungsprozeß an die Großstadtbevölkerung weitgehend abgeschlossen. Diese Entwicklung wird bei der Betrachtung der absoluten Kinderzahlen nicht deutlich. Auch hier müssen die Eingemeindun45 A.a.O., S.24. 46 Vgl.Brinkmann,K.: Bochum. Aus der Geschichte einer Großstadt d.Ruhrgebietes. Bochum 1950,S.174. 47 Vgl. a.a.O., S.175. 48 Von 1871 bis 1900 betrifft die Zählung die 0- bis 5-Jährigen, 1910 die 1- bis 6-Jährigen Kinder. Wenn dies auch zu kleinen Ungenauigkeiten führt, so zeigt der Stand der 0- bis 5-Jährigen 1905 (Köln 52.130; Krefeld 11.130 und Bochum 19.639), daß die Unterschiede insbesondere im Vergleich der Städte Krefeld und Bochum nicht gravierend sind. Silbergleit, Heinrich: A.a.O., S.12ff. Preußische Statistik 1871-1910. 49 Jasper, Karlbernhard: A.a.O., S.49.
52 gen in die Analyse miteinbezogen werden. Während zwischen 1890 und 1900 keine neuen Stadtteile eingemeindet wurden, kamen 1910 Kalk und Vingst hinzu. Krefeld verzeichnete den stärksten Anstieg zwischen 1871 und 1880. In dieser Zeit siedelten sich zahlreiche arbeitslos gewordene Handweber mit meist großen Familien in Krefeld an. Danach zeigt die zahlenmäßige Entwicklung der Kleinkinder eine leicht fallende Tendenz. Dies dürfte einerseits auf einen Anpassungsprozeß der eingewanderten Landbevölkerung an die Stadtbevölkerung zurückzuführen sein. Andererseits trug sicherlich auch die langanhaltende Wirtschaftskrise und die damit verbundene Notsituation zum Rückgang der Kleinkinder durch Abwanderung bei. Bochum registrierte dagegen nur einen allmählichen Anstieg der Einwohnerziffer. Zwischen 1900 und 1910 stieg die Zahl der Kleinkinder drastisch an. Dies stand im Zusammenhang mit der Zuwanderung aus den Ostprovinzen Deutschlands und Polen. Die zugewanderte Bevölkerung brachte ihre ländliche Lebensweise mit. Ihr Fortpflanzungsverhalten war den industriellen Lebensbedingungen noch nicht angepaßt. So hatte Bochum im Jahr 1910 mit einer Gesamtbevölkerungszahl von 136.916 Krefeld um 7.341 übertroffen. Die Zahl der Kleinkinder lag prozentual wesentlich höher als in Krefeld. 1910 kam in Bochum ein Kind auf 6,7 Einwohner, Krefeld zählte 10,3, während man in Köln 9,0 Einwohner pro Kind verzeichnete. Der Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung war in Bochum am höchsten, gefolgt von Köln, in Krefeld war der Anteil am niedrigsten. Diese Entwicklung schlug sich auch in der Ausbreitung der Kinderbewahranstalten in den drei Städten nieder, wie noch zu zeigen sein wird.50 Insbesondere für die vergleichende Analyse der Entwicklungen der öffentlichen Kleinkinderziehung in den Städten Bochum und Krefeld, bezüglich der ökonomischen Struktur, stellt sich die Kinderzahl als ein wichtiger Faktor heraus. 2.3.2 Die wirtschaftliche Entwicklung Die Entwicklung der drei Städte Köln, Krefeld und Bochum im Kaiserreich war eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung verknüpft. Die Ausgangsbasis dieser drei Städte war im Jahr 1871 sehr unterschiedlich. In Köln bestand zur damaligen Zeit schon eine weitverzweigte Industrie mit für die Entwicklung der Stadt bedeutenden Unternehmen. Krefeld war ebenso durch eine Monokultur bestimmt wie Bochum. Während in Krefeld die Textilindustrie (Samt- und Seidenherstellung) vorherrschte, war es in Bochum die Schwerindustrie (Kohlen- und Eisenproduktion). In Krefeld herrschte bis in die achtziger Jahre die Hausindustrie vor. Bochum war noch in den fünfziger Jahren vorwiegend agrarisch strukturiert. Erst 1862 erhielt die Stadt einen Bahnanschluß, der eine Voraussetzung für die Ent50
Vgl. diese Arbeit, S.67ff.
53 wicklung des Steinkohlenbergbaus war. Auch die wirtschaftlichen Entwicklungsverläufe unterscheiden sich in den drei Städten. »Wesentliche Faktoren für die wirtschaftliche Entfaltung Kölns waren nicht nur die auf die günstige Verkehrslage der Stadt zurückgehende bedeutende Handelsposition - der Handel bildete bis ins 19. Jahrhundert die wichtigste Grundlage der Finanzpolitik der Stadt -, sondern vor allem die starke Industrialisierung des Kölner Wirtschaftsraumes.«51 Nach einem kurzen wirtschaftlichen Aufschwung im Verlauf der Reichsgründung von 1871 kam es im Deutschen Reich zu einer schweren wirtschaftlichen Depression, die auch in Köln ab 1875/76 die ökonomische Entwicklung beeinflußte. Erst 1879 setzte eine langsame wirtschaftliche Belebung ein, die sich mit Unterbrechungen in den folgenden Jahren verstärkte.52 Alt-Köln läßt sich als Handels- und Verkehrsstadt charakterisieren. Die expandierenden Industrieunternehmen siedelten sich aufgrund der beengten Situation vor allem außerhalb Alt-Kölns in den umliegenden Vororten an. Sie bildeten einen Kranz um Alt-Köln, in dem sich die Verwaltung sowie das Handels- und Dienstleistungsgewerbe konzentrierte. Die Verwaltungssitze der Kölner Industriellen blieben meist in Alt-Köln bestehen, während die Fabriken in den Vororten entstanden. So wurde die Motorenfabrik »Otto und Langen«, später Gasmotorenfabrik Deutz AG, auf der anderen Rheinseite angesiedelt. 1874 wurde die Drahtzieherei und die Metallverarbeitung von Felten & Guilleaume in das neu erbaute Carlswerk nach Mülheim verlegt.53 Andere Industriebetriebe siedelten sich schon bei der Gründung außerhalb von Alt-Köln an. Zu Industrieorten entwickelten sich Ehrenfeld, Nippes, Sülz, Bayenthal, Zollstock, Deutz, Mülheim, Kalk, Vingst, Holweide und Dellbrück. »Mit zunehmender Erwerbstätigkeit erhöhte sich auch der Anteil des weiblichen Geschlechts. Die Beschäftigung der weiblichen Arbeitskräfte konzentrierte sich auf den Waren- und Produkthandel, die Bekleidungs- und Reinigungsindustrie, das Beherbergungsgewerbe und auf die traditionellen Beschäftigungen als Dienende im Hause der Herrschaft sowie dem Sektor der häuslichen Dienstleistung etc.«54 1882 waren 19,5% und 1907 21,92% aller Erwerbstätigen Frauen.55 Der Anteil der Selbständigen betrug 23,72%, während die Arbeiterinnen mit 20,35% vertreten waren und die Angestellten mit 15,48%. Insgesamt stieg der Anteil aller Sparten zwischen 1882 und 1895, der Prozentsatz der Arbeiterinnen betrug bei der Berufszählung von 1882 16,23 und 1895 19,85. 1907 waren von den 78.319 in Köln lebenden verheirateten Frauen nur jede zwölfte hauptberuflich erwerbstätig, das sind 6.534 Frauen.56 51 Jasper, Karlbernhard: A.a.O., S.71. Hervorhebg. E.K. 52 Vgl. Neuhaus, Georg: Die Stadt Cöln im ersten Jahrhundert unter Preußischer Herrschaft. Bd.1. T.2: Die Entwicklung der Stadt Cöln von der Errichtung des Deutschen Reiches bis zum Weltkriege. Hrsg. v.d. Stadt Cöln 1916, S.21ff; Henning, Friedrich-Wilhelm: A.a.O., S.334ff.
53 Jasper, Karlbernhard: A.a.O., S.25. 54 A.a.O., S.80. 55 A.a.O., S.81. 56 A.a.O., S.237.
54 Die Entwicklung von Krefeld war einerseits durch den Umstrukturierungsprozeß von der Haus- zur Fabrikproduktion und andererseits von langanhaltenden wirtschaftlichen Krisen geprägt. 1872/73 endete eine langandauernde wirtschaftliche Hochkonjunktur. In dieser Phase wurden aus allen Berufen Arbeiter angeworben und schnell zu Handwebern angelernt. Die Krefelder Textilindustrie war zu dieser Zeit vorwiegend auf die Hausproduktion ausgerichtet. In den Weberfamilien wurden die Kinder in die Arbeiten mit einbezogen: »Während der Meister am Webstuhl sitzt, säubert sein Weib ihm die Kette von allen Knötchen und Unreinlichkeiten und die Kinder sitzen auf einem Schemel vor dem Spulrade und lassen durch Trittbewegung die Fäden von der großen Bobine auf die kleinen Spulen ablaufen, die in dem Schiffchen befestigt werden, mit welchem der Vater durch die Kettfäden schießt ... Kinder von fünf Jahren an sitzen dann in der unbequemsten Lage, mit zusammengezogenen Beinen und gebückten Rücken in überfülltem Raume am Spulrade.«57 »Die Löhne steigen 1870 um 10%, in der Sammetbranche im folgenden Jahre sogar um 40%. Den Tag über, ja bis Mitternacht wird gearbeitet; Mann, Frau und Töchter sitzen am Webstuhl, die Kinder am Spulrad ... Und während sich die Weberei immer weiter über das Land zerstreut, dehnen die Hülfsgewerbe sich in der Stadt aus; es beginnt sehr stark an Winderinnen und Schererinnen, Appreteurinnen und Packerinnen zu mangeln; im Sommer 1871-1873 steigen ihre Löhne um 50-75 Procent. Da sind die Dienstmädchen nicht mehr bei ihren Herrschaften zu halten, weit aus den Eisengegenden von Essen und Duisburg kommen die dort unbeschäftigten Mädchen herbei.«58 »In den Fabriken, die sich hauptsächlich in der Stadt befanden, wurden die vorbereitenden Arbeiten (für die Heimweber; E.K.) verrichtet und die fertigen Erzeugnisse verpackt. Diese Arbeiten führten fast ausschließlich weibliche Arbeitskräfte aus. 1875 kamen auf 100 männliche Arbeiter im Alter von 20-25 Jahren 145 weibliche.«59 Ab 1872/73 setzte eine langanhaltende Wirtschaftskrise ein, die nur von kurzen Erholungsphasen in der Samt- oder Seidenherstellung unterbrochen wurde. Die arbeitslos gewordenen Weber zogen mit ihren meist großen Familien in die Stadt Krefeld mit der häufig vergeblichen Hoffnung auf Arbeit. Die Zahl der Personen der offenen Armenpflege betrug 1871, also zur Zeit der Hochkonjunktur, 1.145, sie stieg bis 1880 auf 1.739 und bis 1890 auf 3.496 an.60 In den achtziger Jahren setzte die erste Phase des Mechanisierungprozesses in der Samt- und Seidenherstellung ein. Diese betraf insbesondere die einfachen Stoffe, während komplizierte Muster noch mit dem Handwebstuhl hergestellt werden mußten.61 57 Thun, Alphons: Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. Erster Theil. Die linksrheinische Textilindustrie. Leipzig 1879. (Staats- u. socialwissenschaftl. Forschungen. Hrsg. v. Gustav Schmoller), S.109. 58 A.a.O., S.122. 59 Kempkes, Heidemarie: A.a.O., S.13. 60 Vgl. o.N. Armenfürsorge ... a.a.O. S.30f.
61 Vgl. Brauns, Heinrich: Der Übergang von der Handweberei zum Fabrikbetrieb in der Niederrheinischen Samt- und Seiden-Industrie und die Lage der Arbeiter in dieser Periode. Leipzig 1906. (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen. Hrsg. Gustav Schmoller und Max Sering), S.44.
55 Die endgültige Umstellung auf die Fabrikproduktion geschah in den neunziger Jahren. Aufgrund technischer Neuerungen war es nun auch möglich, komplizierte Webverfahren maschinell zu bewerkstelligen. Zwischen 1882 und 1892 wuchs die Zahl der mechanischen Seidenwebstühle um 2.154 von 485 auf 2.639, die der Samtwebstühle um 1.786 von 371 auf 2.157 an. Im gleichen Zeitraum nahmen die Seidenhandstühle um 6.310 von 16.483 auf 10.173 ab, die Samthandstühle wurden um 14.760 von 18.353 auf 3.593 reduziert.62 Nach 1890 begann aufgrund des Mechanisierungsprozesses eine Überproduktionskrise, die bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts andauerte. Sie führte zu einer hohen Arbeitslosenzahl.63 Die Zahl, der durch die öffentliche Armenpflege versorgten Personen, erreichte im Jahr 1892 mit 5.539 den höchsten Stand und fiel dann langsam bis 1900 auf 2.318.64 Zwischen 1903 und 1905 wurde der Rheinhafen in der 1901 eingemeindeten Stadt Linn gebaut. Der Rheinhafen und die Ansiedlung neuer Industriezweige führten zu einer wirtschaftlichen Belebung. Die Textilindustrie blieb aber auch weiterhin der Hauptarbeitgeber. In der Samtweberei - sowohl in der manuellen als auch der maschinellen Produktion - wurden fast ausschließlich Männer beschäftigt. Frauen waren in der Samtbranche vorwiegend in den vorbereitenden Arbeitsbereichen tätig. In der Seidenherstellung dagegen arbeiteten weibliche Beschäftigte auch als Weberinnen.65 Insgesamt war in der Krefelder Textilindustrie der Anteil der verheirateten Frauen sehr hoch. Sie galten als fleißig, gewissenhaft und ausdauernd im Vergleich zu den unverheirateten weiblichen Beschäftigten. Die Familien waren oft wegen des geringen Verdienstes des Mannes auf die Erwerbstätigkeit der Frauen angewiesen.66 Bei der Berufszählung von 1907 betrug der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen rund ein Drittel. 27,89% aller Frauen waren erwerbstätig, davon 16,51% in Industrie und Gewerbe.67 Der Anteil der verheirateten Arbeiterinnen betrug 17,31%.68 Nach einer kurzen Phase der Hochkonjunktur setzte ab 1875 in Bochum eine schwere wirtschaftliche Depression ein. Die Zahl der Personen, die der Armenfürsorge bedurften, wuchs rapide. »1875 unterstützte die Stadt Bochum weniger als 21 von 1000 Einwohnern - aber ihre Zahl stieg rasch an. 1878 waren es bereits 44,7 von 1000 und 1879 sogar 58,5.«69 Ab 1882 begann »eine Periode der wirtschaftlichen Wiederbelebung. Es gab mehr offene Stellen ... die Zahl der Fürsorgeempfänger sank auf 6,5 Prozent.«70 »Die Jahre 1887 bis 1891 brachten schließlich die entscheidende Besserung. Einzelne neue Werke entstanden.«71 Es 62 Vgl. o.N.: Armenfürsorge ... a.a.O., S.20. 63 Vgl. Münnix, Norbert: A.a.O., S.14; Kempkes, Heidemarie: A.a.O., S.14. 64 Vgl. o.N.: Ebenda. 65 Brauns, Otto: A.a.O., S.177ff. 66 Vgl. a.a.O., S.189ff. 67 Vgl. o.N.: Uebersicht über die Entwicklung der Stadt Crefeld 1901 bis 1910. Krefeld (1913), S.47.
68 A.a.O., S.57. 69 Crew, David: A.a.O., S.57. 70 Ebenda. 71 Brinkmann, Karl: Bochum. Aus der Geschichte einer Großstadt des Ruhrgebietes. Bochum 1950, S.155.
56 wurden vermehrt Arbeiter eingestellt. Bis 1913 kam es zu einem langanhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung, der nur kurzzeitig von zwei Rückschlägen unterbrochen wurde.72 In Bochum gab es nur wenige Arbeitsplätze für Frauen.73 Im Juli 1892 berichtete Bürgermeister Lange in einem Schreiben an die königliche Regierung, daß nur 52 weibliche Personen in Fabriken (Tabak-, Tapetenfabrik und Buchdruckerei) beschäftigt wurden, davon waren 12 über 21 Jahre alt: »Wenn nun auch noch vielleicht hin und wieder eine Witwe sich außerhalb ihrer Familie mit Arbeiten (Waschen, Schruppen usw.) beschäftigen lassen sollte, so ist die Anzahl dieser Personen dennoch eine .. geringe.«74 Nach Angaben von Bürgermeister Graff im Juni 1902 wird in Bochum »eine Industrie betrieben, die die Frauen nur wenig aus dem Hause und der Familie zwecks Uebernahme von Arbeiten abwesend zu sein nöthigt, wie denn festgestellt ist, daß in Fabriken und diesen gleichstehenden Anlagen nur 44 Personen weibl. Geschlechts über 20 Jahre thätig sind, und von diesen wieder werden eine ganze Anzahl unverheiratet und nicht in der Lage sein, Kinder einer Familie warten zu müssen«75. 1907 waren nur 4% aller Frauen erwerbstätig. 4,6% der verheirateten Frauen waren ganztags erwerbstätig, dagegen waren 44,4% der ledigen Frauen berufstätig.76 2.3.3 Die Lebens- und Wohnsituation Die Lebens- und Wohnsituation war während des gesamten Kaiserreichs vom Mangel geprägt. Die Unterschichtfamilien lebten am Existenzminimum. Jede Krankheit, jeder Unfall, Zeiten der Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit führte zu akuten Notsituationen. Die Wohnungssituation war in der Regel schwierig. Die Wohnungen waren meist überbelegt und die Mieten sehr hoch, so daß ein häufiger Wechsel der Wohnungen die Folge war. Im Folgenden wird die Lebens- und Wohnungssituation der drei Städte untersucht.76 Die Wohnungsmisere der Kölner Arbeiterbevölkerung betraf die Überfüllung der Wohnungen.77 Die Wohnungszählung vom 1. 12. 1885 ergab 3.707 überfüllte Kleinwohnungen, davon waren 602 stark überfüllt.78 Als überfüllt galt eine Wohnung mit einem Zimmer mit mehr als drei Bewohnern, zwei Zimmer mit mehr als sechs und drei Zimmer mit mehr als acht Bewohnern. Bei einer Belegung von sechs und mehr Personen in einer Wohnung mit einem Zimmer, zehn und mehr Bewohnern bei zwei Räumen und zwölf und mehr Personen in drei Zimmern galten diese als stark überfüllt.79 »Am 1. Dezember 1890 waren von den 72 Schnadt, Robert: Bochum. Wirtschaftsstruktur und Verflechtung einer Großstadt des Ruhrgebietes. Diss. Bochum-Langendreer 1936, S.36. 73 Vgl. a.a.O., S.62f. 74 Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg I 894. 75 Ebenda. 76 Crew, David: A.a.O., S.63. 77 Zur Lebens- und Wohnsituation im Deutschen Reich vgl. diese Arbeit, S.38f. 78 Vgl. Jasper, Karlbernhard: A.a.O., S.133.
57 24.631 in Alt-Köln bewohnten Kleinwohnungen 2.434 überfüllt und 413 stark überfüllt. In der ganzen Stadt nebst eingemeindeten Vororten waren von 35.836 bewohnten Kleinwohnungen 3.388 überfüllt und 515 stark überfüllt. Allein in Alt-Köln lebten noch 18.897 und in der ganzen Stadt 26.819 der in Kleinwohnungen lebenden Personen in unzulänglichen Wohnverhältnissen.«80 Wenn auch der Zustand der Wohnungen auf dem späteren Gelände der Hauptmarkthalle für Köln nicht repräsentativ war, so bildete dies keine Seltenheit: »Die Wohnungen fielen durch räumliche Enge, durch Mangel an Luft und Licht und demzufolge meistens auch durch ihre Unsauberkeit auf. Für je ein Haus gab es nur zwei Toiletten, die zudem noch getrennt vom Haus in den Hinterhöfen untergebracht waren.«81 Die Treppenhäuser waren eng und ungepflegt. Die Wohnungen waren feucht infolge der schlechten Lüftungsmöglichkeiten. Der Anstrich blätterte nach kurzer Zeit wieder ab. In den Rissen und Dielen sammelte sich Dreck und Ungeziefer.82 Eine Trennung von Wohn- und Schlafraum war häufig nicht vorhanden. Oftmals gab es auch keine eigene Küche.83 Die durchschnittlichen Jahresmietpreise lagen für Wohnungen mit einem Zimmer bei 97 Mark, für zwei Zimmer bei 171 Mark und bei drei Zimmern bei 254 Mark, wobei die Wohnungsmieten für Alt-Köln höher lagen als in den Vororten. Dort bezahlte man für zwei Zimmer 184 Mark, in der Neustadt hingegen 188 Mark und in den Vororten 146 Mark.84 »Etwa zur gleichen Zeit (1899) verdienten noch nahezu zwei Drittel der im Tagelohn stehenden städtischen Arbeiter weniger als 1.000 Mark im Jahr und über 40 v.H. sogar weniger als 900 Mark.«85 Knapp die Hälfte aller um die Jahrhundertwende in den Steuerrollen aufgeführten Personen hatten ein Einkommen, das unter 900 Mark lag.86 Das heißt, es mußten bei einem Einkommen von 1000 Mark in Alt-Köln 18,4%, in den Vororten 14,6% des Jahreseinkommens aufgebracht werden. Bei 900 Mark Jahresverdienst erhöhte sich die Belastung um 20,4% beziehungsweise 16,2%. Das bedeutete, daß Familien mit Kindern sich mit wenig Wohnraum begnügen mußten. Die Ausstattung der Wohnungen war ärmlich. Anschaffungen von größerem Hausrat und neuer Kleidung bedurften langer Planungen: »Die Lebensweise der Kölner war, soweit sie nicht zu den wohlhabenden Kreisen gehörten, schon zu Beginn der Urbanisierung nicht großzügig. Die Haushaltung war sehr einfach. Fleisch gab es nur ein- bis zweimal in der Woche. Am Freitag gab es in den meisten Familien Stockfisch, bei den armen Familien zu den Kartoffeln allerdings nur die Stockfischhaut. Das Rübenkrautbrot zählte besonders in den wirtschaftlichen Krisenzeiten zu den Hauptnahrungsmitteln der ärmeren Bevölkerungsschichten.«87 79 80 81 82 83 84
Vgl. a.a.O., S.132. A.a.O., S.137f. A.a.O., S.147. Vgl. ebenda. Vgl. a.a.O., S.139. Vgl. a.a.O., S.155.
85 Ebenda. 86 Vgl. ebenda. Zu den Lebenshaltungen in Bezug zum Jahreseinkommen für das Jahr 1907 vgl. diese Arbeit, S.148. 87 A.a.O., S.237.
58 Die Wohnungssituation in Krefeld war im Durchschnitt etwas besser als in anderen Industriestädten. Aufgrund der besonderen Bedürfnisse der Handweber entstanden insbesondere bis in die achtziger Jahre Häuser »von vier Fenstern Front, mit drei Etagen einschließlich dem Erdgeschoß und einem Flügelanbau. Trocken waren diese Häuser, auch luftig, denn sie mußten große Zimmer aufweisen wegen der aufzustellenden Webstühle, aber sie waren recht schlecht gebaut. Ganze Straßen- und Häuserviertel wurden in diesem Stile rings um die Crefelder Altstadt errichtet. In den achtziger Jahren waren sie meist von Handwebern, heute sind dieselben durchgehends von Fabrikarbeitern bewohnt. Die Straßen dieser Häuserviertel sind breit, auch an öffentlichen Plätzen ist kein Mangel. Von Crefeld gilt, was Eberstadt88 zutreffend von rheinischen Großstädten sagt: Es überrascht der ›augenfällige Unterschied der Wohnungsverhältnisse in den rheinischen Großstädten von denen der sonstigen deutschen Großstädte: ... eine überaus weitläufige Bebauung und nur sehr wenig von der für die modernen Großstädte sonst charakteristischen Kasernierung, in den kleineren Großstädten, wie Elberfeld und Barmen‹ ... ›in diesen rasch anwachsenden Industriestädten ist eine zureichende Massenproduktion an Kleinwohnungen erzielt worden ohne Kasernierung der Bevölkerung‹.«89 Das Einkommen der Weber war unterschiedlich. Die Arbeiter in den Samtwebereien wurden besser bezahlt als in den Stoffwebereien. Die geringere Entlohnung in der Stoffweberei wird auf die weibliche Konkurrenz zurückgeführt. Während Frauen in der Samtweberei zumeist lediglich vorbereitende Arbeiten verrichteten und nicht in der eigentlichen Produktion beschäftigt waren, verzeichnete man innerhalb der Seidenproduktion einen hohen Anteil an weiblichen Beschäftigten, die am Webstuhl arbeiteten. Der durchschnittliche Jahreslohn für Samtweber betrug im Jahre 1898 »annähernd 950 und beträgt gegenwärtig rund 1.050 Mk.; ein beträchtlicher Teil der Samtweber, etwa 40% kommt über diesen Durchschnitt bis zu 1.300 Mk., ein ebenso großer Teil bleibt darunter bis zu 800 Mk. Die übrigen 20% teilen sich in die ganz niedrigen und ganz hohen Lohnklassen.«90 Die Löhne der Seidenweber waren um 15% bis 20% niedriger als die der Samtweber.91 Die soziale Lage der Bevölkerung war auch durch die langanhaltenden wirtschaftlichen Krisen bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sowie durch den Umstellungsprozeß von der Haus- zur Fabrikproduktion geprägt, der sich ab den achtziger Jahren bis in die neunziger Jahre vollzog. Die Arbeiterfamilien erlitten Einkommensverluste durch Arbeitslosigkeit und Lohnabzüge. Die Verteuerung der Lebenshaltungskosten, insbesondere durch die steigenden Mie-
88 89 90 91
Die Aussage Eberstadts bezieht sich auf eine Veröffentlichung über das Wohnungswesen von 1904. Brauns, Heinrich: A.a.O., S.75. A.a.O., S.204. A.a.O., S.206.
59 ten,war eine schwere Belastung für die Unterschichthaushalte. Die Mieten stiegen ab Anfang der neunziger Jahre um 10% und mehr, wobei die Mieten in den Innenstadtwohnungen höher als in den Randbezirken der Stadt lagen. Die Mieten bewegten sich zwischen 100 bis 145 Mark für ein großes oder zwei kleine Zimmer, bei zwei Etagenzimmern mit einer Mansarde mußten 160 bis 190 Mark (150 bis 160 Mark) aufgewendet werden, für zwei Zimmer und zwei Mansarden zahlte man zwischen 210 und 230 Mark (ca. 180 Mark).92 In den Randgebieten der Stadt lebten die meisten Weber. Eine Weberfamilie mit noch zu versorgenden Kindern konnte mit dem Verdienst des Vaters als einzige Einnahmequelle kaum auskommen: »Für diese Periode heißt es in den Weberfamilien entweder darben oder borgen. Daher denn auch die häufige Fabrikarbeit der verheirateten Frau.«93 Die Wohn- und Lebensbedingungen der Bevölkerung des Ruhrgebietes hatten auch für Bochum Geltung. Mit dem starken Anwachsen der Bevölkerung im Ruhrgebiet konnte der Wohnungsbau nicht Schritt halten. Von den Bergleuten bewohnten im Ruhrgebiet 17% eine eigene Wohnung, 21,1% lebten in Zechenmietwohnungen und 61,9% in privaten Mietshäusern.94 In einer Untersuchung, die Landrat Spring 1896 für den Stadt- und Landkreis Hörde vornahm, wurden von 106 Häusern 19 Häuser mit 45 Wohnungen als baufällig, 15 mit 33 Wohnungen als ungesund und 6 mit 21 Wohnungen als menschenunwürdig bezeichnet.95 57% der Arbeiterbevölkerung mußte mit Küche und Schlafstube auskommen, 5% wohnte nur in einer Küche, 26% in Wohnungen mit einer Küche und zwei Schlafstuben und nur 12% bewohnten mehrere Räume.96 Bei der Belegung der Wohnung galten von 250 Wohnungen 77 als nicht übervölkert, 120 als übervölkert und 53 als hochgradig übervölkert.97 Im Jahr 1900 entfielen in Bochum auf ein Haus 18,29 Bewohner. Dr. Wiedfeldt berichtet im Jahr 1900 von Essener Wohnverhältnissen, wonach Häuser, die ehemals für eine Familie gebaut wurden, durch späteren Ausbau von Scheunen, Viehställen und Speichern Wohnungen für mehrere Familien böten: »Derartige, als Wohnungen bezeichnete Gelasse, die oft nur auf halsbrecherischen Hühnerstiegen zugänglich, kaum den genügenden Schutz gegen Wind und Wetter gewähren, die durch ein kleines Dachfenster erhellt, oft nicht einmal verschließbar sind, gehören vielfach, trotzdem man in ihnen nicht aufrecht stehen kann, gerade zu den besetztesten Wohnungen in Essen.«98
92 Vgl. a.a.O., S.210f; die Daten außerhalb der Klammern beziehen sich auf die Innenstadt, die Daten in den Klammern auf die Peripherie der Stadt. 93 A.a.O., S.211. 94 Vgl. Pieper, Lorenz: Die Lage der Bergarbeiter im Ruhrrevier. Stuttgart und Berlin 1903. (Münchener Volkswirtschaftliche Schriften. Hrsg. Lujo Brentano und Walther Lotz.), S.202. 95 Vgl. a.a.O., S.206. 96 Vgl. a.a.O., S.207. 97 Vgl. a.a.O., S.208. 98 A.a.O., S.211.
60 Sie dienten als Küche, Wohn- und Schlafraum. Die Reinigung und das Trocknen Die Wohnräume wurden häufig multifunktional genutzt. der Wäsche fand oftmals in den Wohnräumen statt: »Der Dunst der schmutzigen Wäsche, die scharfe Seifenlauge u.s.w. bildet, begünstigt durch seltenes Lüften der Zimmer und die in ihnen herrschende übermäßige Hitze notwendig einen Niederschlag, der sich verunreinigend auf Decke, Tapeten und Möbelstücke legt. Dazu dient das Wohnzimmer oft als Küche, oft zum Trocknen und Räuchern frischer Fleischwaren, ferner als ständiger Aufenthaltsort der Kinder und als Schlafstelle für letztere oder auch für Erwachsene. Die Beschaffenheit des Wohnzimmers entspricht meist der des Schlafzimmers, besonders wo es Brauch ist, letzteres durch Hineinleiten der Temperatur des ersteren ›anzuwärmen‹ oder, was nicht selten ist, Fleischwaren in ihnen aufzuhängen.«99 Hinzu kam, daß durch das Schlafgängerwesen, der Wohnungsraum noch beengter wurde. Nach Dr. Wiedfeldt vom Statistischen Amt in Essen »lebte ein Drittel der Einwohner in übermäßig besetzten Wohnungen. 2.599 Haushaltungen des Bezirkes beherbergten 7.851 Schlafgänger, d.h. es kamen 3 Schlafgänger auf einen Haushalt. 85% der Kostgänger hatten keinen ganzen Raum zu ihrer alleinigen Benutzung, sondern teilten ihre Behausung mit zwei oder mit noch mehr Einmietern. Damals schliefen in einem Raum zu viert 1.042 Schlafgänger, zu fünft 360, zu sechst 198, zu siebent und noch mehr Einmietern.«100 Durch die beengten Wohnverhältnisse - auch in den Kolonien der Zechen und des Bochumer Vereins - mußten die Kinder auf die Straße ausweichen, um den schichtarbeitenden Vätern und Schlafgängern eine ungestörte Ruhe zu ermöglichen. Die Löhne der Arbeiter in den Zechen und der Eisenindustrie lag in der Regel höher als die der anderen Industrien. Das Einkommen der Bergarbeiter lag 1899 bei den eigentlichen Bergarbeitern im Jahr durchschnittlich bei 1.491 Mark, das der sonstigen Arbeiter unter Tage bei 1.027 Mark und derjenigen über Tage bei 1.076 Mark.101 Das durchschnittliche Jahreseinkommen der Arbeiter beim Bochumer Verein lag bei 1.252 Mark.102 Allerdings war die Erwerbsarbeit der verheirateten Frauen, aufgrund mangelnder Arbeitsplätze in Bochum niedrig, so daß der Lohn des Mannes häufig das einzige Einkommen der Familie war. Das hatte zur Folge, daß gerade in Zeiten, in denen Kinder zu versorgen waren, das Haushaltsbudget durch Schlafgänger aufgebessert werden mußte. Die Bewirtschaftung kleiner Landparzellen, die Haltung von Kleintieren und die Vorratshaltung trugen zur weiteren Verringerung der allgemeinen Lebenshaltungskosten bei. Die Ernährungssituation war auf diesem Hintergrund im Vergleich zu anderen Industrieregionen besser. Bevorzugte Speisen der Bergleute waren Schweine99 100 101 102
A.a.O., S.215. Wachowiak, St.: Die Polen in Rheinland-Westfalen. Leipzig 1916, S.52. Vgl. Münz, Heinrich: Die Lage der Bergarbeiter im Ruhrgebiet. Essen 1909, S.88f. Vgl. Crew, David: A.a.O., S.190.
61 fleisch, Speck, Wurstwaren aller Art, Fisch und Gemüse: »Der B.J.B. Wattenscheid 1900 schätzt den jährlichen Verbrauch an Schweinefleisch für eine Familie von 4-5 Köpfen auf 180 kg, an Rindfleisch auf 60 kg.«103 Allerdings fanden die Mahlzeiten ziemlich unregelmäßig statt. Sie richteten sich nach den Arbeitszeiten des schichtarbeitenden Vaters: »Für die Kinder hat die Unregelmäßigkeit beziehungsweise das späte Einnehmen der Mahlzeiten den Nachteil, daß sie nicht selten mit einem Butterbrot abgespeist zur Schule geschickt werden.104 Ebenso kommen, wie mir von Lehrpersonen bestätigt wurde, die Kinder oft Morgens zur Schule, ohne etwas genossen zu haben, weil die Mutter zu faul gewesen ist, aufzustehen.«105 Insgesamt wird in älteren Arbeiten die mangelnde hauswirtschaftliche Ausbildung der Frauen und ihre unzureichende Haushaltsführung beklagt. Inwieweit dies den Tatsachen entspricht läßt, sich nicht mehr nachvollziehen. Eher kann angenommen werden, daß die Arbeiterfrau mit noch unversorgten Kindern von vielfältigen Arbeiten stark in Anspruch genommen wurde.106 Zum Teil erhielten Schlafgänger nicht nur volle Verpflegung, auch die Reinhaltung der Kleidung gehörte zu den Tätigkeiten der Hausfrau. Des weiteren stellte die Gartenarbeit, die Kleintierhaltung und die Konservierung der Lebensmittel hohe Anforderungen an die Arbeitskraft und -zeit der Unterschichtfrauen. Auch war die Pflege der Wohnung und der Kleidung in einem Gebiet mit hoher Luftverschmutzung mit einem hohen Arbeitsaufwand für die Frauen verbunden. Nicht zuletzt stellten die häufigen Geburten und die zu versorgenden Kinder eine große Belastung für die Frauen dar. 2.4 Zusammenfassung Die drei Städte Köln, Krefeld und Bochum weichen in ihrer Entwicklung erheblich voneinander ab.Während Köln und Bochum sich in den Rahmen der ökonomischen Gesamtentwicklung einpassen, zeigt Krefeld eine untypische Entwicklung.Krefelds Situation war durch eine langanhaltende wirtschaftliche Not geprägt.Mit der Gründerkrise begannen langanhaltende ökonomische Krisen. Zur Zeit der allgemeinen Hochkonjunktur in Deutschland zwischen 1895 und 1913, die sich auch in Köln und Bochum positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkte, herrschte in Krefeld bis weit in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Phase ökonomischer Depression. Die unterschiedliche wirtschaftliche Entfaltung wirkte sich auf die demographische Entwicklung im Allgemeinen und die Zahl der Kleinkinder im Besonderen aus. Während Köln die Hauptzuwachsraten zwi103 Vgl. Pieper, Lorenz: A.a.O., S.222. 104 Offensichtlich bezieht sich diese Anmerkung auf den Nachmittagsunterricht. 105 Pieper, Lorenz: A.a.O., S.223. 106 Andere Berichte sprechen davon, daß die Frauen und Mütter aufgrund der hohen Überlastung körperlich geschwächt und krankheitsanfälliger waren. Vgl. diese Arbeit, S.118f.
62 schen 1880 und 1890 zu verzeichnen hatte - auch ein Ergebnis der Eingemeindungen der industriereichen Vororte -, stieg die Zahl der Bewohner einschließlich der Zahl der Kleinkinder in Krefeld zwischen 1871 und 1880 an. In Bochum kam es dagegen erst im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende zu einem überproportionalen Anstieg der Bevölkerung. Auch die Zahl der Kinder stieg stark an. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bochum mehr Einwohner und Kleinkinder als Krefeld. Auch bei der Betrachtung der Ortsgebürtigkeit ist die differenzierte Situation in den drei Städten auffällig. In Köln und Krefeld lagen die Phasen der Zuwanderungen in der Zeit vor der Jahrhundertwende, in Bochum dagegen nach derselben. Bochum registrierte viele Wanderer, unter denen sich eine hohe Anzahl Fernwanderer befand. Dies führte zu unterschiedlichen sozialen Problemlagen und dementsprechend zu verschiedenen Antworten. Die Lebenssituation in den drei Städten war unterschiedlich. Das Einkommen der Bochumer Arbeiter lag höher als in Köln und Krefeld. Nach Wilbrandt konnte bei einem jährlichen Arbeitsverdienst des Mannes von 1.500 bis 2.000 Mark auf die außerhäusliche Erwerbsarbeit der Ehefrau verzichtet werden. Das Einkommen der Arbeiter lag in Köln und Krefeld meist so niedrig, daß Ehefrauen häufig gezwungen waren, einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachzugehen. Insbesondere stellten Kinder eine besondere finanzielle Belastung dar. Aber auch in Bochum reichte der Lohn eines Arbeiters in vielen Fällen nicht aus, um den Lebensunterhalt einer Familie zu bestreiten. Das Einkommen berührte bei den Bergarbeitern fast die von Wilbrandt genannte untere Grenze. Auch hier mußten die Ehefrauen häufig zum Einkommen der Familie beitragen. Aufgrund der für Frauen schlechten Arbeitsmarktsituation waren die Frauen in Bochum gezwungen, auf Arbeiten in Haus und Garten auszuweichen. Die Bearbeitung eines Nutzgartens, die Kleintierhaltung und die verschiedenen Arbeiten zur Lebensmittelkonservierung führten zu einer hohen Belastung der Hausfrauen. Aber auch die Pflege der Wohnung und Kleidung war ein schwieriges Problem in der durch die Schwerindustrie verschmutzten Umwelt. Zusätzlich wurden in vielen Familien Schlafgänger gegen Entgelt aufgenommen. Dies trug zwar zur Erhöhung der familiären Einnahmen bei, belastete die Frauen aber zusätzlich. Die Bereitstellung einer Bettstatt umfaßte häufig auch eine umfassende Versorgung der aufgenommenen Männer. Gleichzeitig verschärfte sich die beengte Wohnsituation noch weiter, so daß die Kinder gezwungen waren, auf die Straße auszuweichen. Insgesamt war die Wohnsituation in Köln und Bochum schwieriger als in Krefeld. Diese Probleme - demographische Entwicklung, Wanderungsbewegungen, die Lebens- und Wohnsituation - waren bei der Ausbreitung der Institutionen zur Betreuung und Erziehung noch nicht schulpflichtiger Kinder von Bedeutung. Im nächsten Kapitel wird die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in den drei Städten Köln, Krefeld und Bochum auf dem Hintergrund der wirtschaftlichen und städtischen Entwicklung aufgezeigt und diskutiert.
3 Die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung
In der vorliegenden Arbeit wird die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung am exemplarischen Beispiel der Institutionen, die für Unterschichtkinder gedacht waren, untersucht. Die begriffliche Abgrenzung zu den Institutionen, die von den Kindern der bürgerlichen Schicht besucht wurden, ist schwierig, da sich die Termini für die Einrichtungen der bürgerlichen und Unterschichtkinder zum Teil ähnelten. »Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand .. eine Vielzahl von unterschiedlichen Formen des Fröbelschen Kindergartens, die in der Namensgebung voneinander abwichen und damit auf ihren unterschiedlichen Adressatenkreis bzw. auf die unterschiedlichen Träger hinwiesen.«1 Mecke unterschied drei Arten von Kindergärten: »1. Der Familiengarten. Befreundete Familien vereinigen sich zur Anstellung einer Kindergärtnerin, welche in einer Kinderstube 6-10 Kinder ein paar Morgenstunden bei Spiel und Beschäftigung leitet. 2. Der Bürgerkindergarten wird bisher gewöhnlich als Privatanstalt von einer Kindergärtnerin gegründet und unterhalten. Der Beitrag - 2-3 Mark pro Monat - wird vierteljährlich neben einer kleinen Summe für Heizung und Beschäftigungsmaterial eingezogen. Er nimmt die Kinder des Mittelstandes gewöhnlich nur gegen Beitragszahlung auf ... 3. Der Volkskindergarten. Er wird als Wohltätigkeitsanstalt von Erziehungsund Wohlfahrtsvereinen gegründet, unterhalten und beaufsichtigt ... Der Volkskindergarten sollte, wie die Volksschule, ein wesentlicher Bestandteil des öffentlichen Erziehungs- und Schulwesens werden; denn Staat und Gesellschaft haben ein hohes Interesse daran, daß die Kinder im allerempfänglichsten Alter vor körperlicher und seelischer Verkümmerung und Verwahrlosung geschützt werden.«2 Während die Familiengärten und Bürgerkindergärten von Kindern der bürgerlichen Schicht besucht wurden, waren die Volkskindergärten eine Einrichtung für Kinder der Unterschichtfamilien. Zwerger3 arbeitete heraus, daß in den Institutionen die Trennung der Schichten nicht immer strikt eingehalten wurden. Es gab auch gemischte Einrichtungen4 für Kinder verschiedener Stände. »Die aus den 1 Dammann, Elisabeth und Helga Prüser: Namen und Formen in der Geschichte des Kindergartens. In: Günter Erning, Karl Neumann und Jürgen Reyer (Hrsg.): Geschichte des Kindergartens. Bd.II: Institutionelle Aspekte, systematische Perspektiven, Entwicklungsverläufe. Freiburg im Breisgau 1987, S.23. 2 Mecke, Johanna: Kindergärten. In: GustavTugendreich: Die Kleinkinderfürsorge. Stuttgart 1919, S.149f. 3 Zwerger, Brigitte: Bewahranstalt - Kleinkinderschule - Kindergarten. Aspekte nichtfamilialer Kleinkinderziehung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Weinheim und Basel 1980. (Studien und Dokumentation zur deutschen Bildungsgeschichte. Bd.17. Hrsg. Christoph Führ und Wolfgang Mitter), S.95ff. 4 Es gab auch kirchliche Einrichtungen, die für bürgerliche Kinder gedacht waren oder die eine Gruppe in den Institutionen für diese offen hielten.
E. Krieg, Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt, DOI 10.1007/978-3-531-92848-7_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
64 Quellen belegbaren Fälle von Einrichtungen mit bürgerlicher Zielgruppe oder mit einer breit streuenden sozialen Herkunft der Kinder sind aber zu spärlich, um die Annahme von der schichtspezifischen Grundstruktur der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert zu widerlegen.«5 Im Rahmen dieser Arbeit wird der Volkskindergarten, ebenso wie die anderen Einrichtungen für Arbeiterkinder6, aufgrund seiner Zielgruppe und Zielsetzung zu den Kinderbewahranstalten gezählt. Dagegen werden die Institutionen, die die bürgerliche Schicht für ihre Kinder unterhielten, hier einheitlich als Kindergarten bezeichnet. Die Kinderbewahranstalten unterschieden sich von den Kindergärten sowohl durch die Zielsetzung als auch die pädagogischen Rahmenbedingungen. Die Ziele der Kinderbewahranstalten waren eng mit den sozialen Problemen verknüpft.7 »Die Leiterin einer Erziehungsanstalt für kleine Kinder soll den Kindern die Mutter ersetzen ... Die Kinder sollen vor Schaden bewahrt werden. Die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung ist durch sorgsame Pflege zu fördern. Die Kinder sollen angemessen beschäftigt werden. Die Kinder sollen die für ihr Alter nötige Belehrung erhalten. Durch alle Einrichtungen soll die Erziehung der Kinder in jeder Richtung gefördert werden.«8 Dagegen hatten die Kindergärten die Aufgabe, die familiäre Erziehung zu unterstützen und zu ergänzen. Pädagogische Ziele und Inhalte standen im Vordergrund, sozialpflegerische Aufgaben entfielen in diesen Institutionen. In den Kinderbewahranstalten war die Erhaltung der physischen und psychischen Gesundheit ein wichtiger Teil der pädagogischen Arbeit.9 Die Einrichtungen für die Unterschichtkinder waren in der Regel ganztags geöffnet. Meist erhielten die Kinder mittags eine warme und nachmittags eine Vespermahlzeit. Die Kinder der bürgerlichen Schicht besuchten den Kindergarten nur für einige Stunden des Tages. Die körperliche Erziehung war Teil des Gesamtkonzepts im Rahmen einer ganzheitlichen Pädagogik. Sie hatte jedoch nicht den hervorgehobenen Stellenwert wie in den Institutionen für Unterschichtkinder. Die Kindergärten, wie auch die Volkskindergärten, arbeiteten nach der Fröbelschen Konzeption.10 In den kirchlichen Kinderbewahranstalten 5 Reyer, Jürgen: Wenn die Mütter arbeiten gingen ... Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert in Deutschland. Köln 1983. (Serie: Studien zu Bildung und Erziehung), S.40. 6 Hier sind die Institutionen der beiden christlichen Konfessionen, der Kommunen, der Unternehmer und der bürgerlichen Vereine, wie der Vaterländische Frauenverein oder Wohlfahrtsverein zu nennen. 7 Vgl. diese Arbeit, S.111ff, 175ff. 8 Borchers, Anna: Wegweiser für die praktische Arbeit in Kindergarten und Kleinkinderschule. Dresden-Blasewitz 1912. (Beiträge zur Kleinkinderpflege. Hrsg. Joh. Gehring), S.7. 9 Vgl. diese Arbeit, S.173, 183f, 193f. 10 Es kann angenommen werden, daß die pädagogischen und didaktischen Vorschläge, wie sie im Fachorgan des Deutschen Fröbelverbandes publiziert wurden, in Volkskindergärten, aufgrund der ungünstigeren Erzieherinnen-Kind-Relation und der schlechteren finanziellen Ausstattung, nur eingeschränkt durchgeführt werden konnten. Vgl. Kindergarten, Bewahranstalt und Elementarklasse. Hrsg. Deutscher Fröbelverband. Ab 1905: Kindergarten. Zeitschrift für entwickelnde Erziehung in Familie, Kindergarten und Schule.
65 hingegen wurden erst sehr spät Elemente der Fröbelschen Beschäftigungen übernommen.11 Die Elternbeiträge waren in den Kindergärten wesenlich höher als in den Kinderbewahranstalten.12 Vermutlich war durch den höheren Beitrag die finanzielle Ausstattung der Kindergärten günstiger. Die Einrichtungen für bürgerliche Kinder waren kleiner, die Erzieherinnen-Kind-Relation besser. Die Leitung der Kindergärten, wie auch der Volkskindergärten, oblag ausgebildeten Kindergärtnerinnen. Die kirchlichen Kinderbewahranstalten wurden von Frauen geleitet, die - wie die Diakonissen - über eine kircheninterne Ausbildung verfügten13 oder auch unausgebildet ihren Dienst verrichteten.14 Die Ausbildung der Kindergärtnerinnen war an der Fröbelschen Pädagogik orientiert, dagegen standen in kircheninternen Ausbildungsgängen religiöse Inhalte im Vordergrund. Letztere waren lange Zeit in die allgemeine Ausbildung zur Diakonissin eingebunden.15 Es ist anzunehmen, daß die unterschiedliche Ausbildung, die finanzielle und personelle Ausstattung, die Betonung der sozialpflegerischen Komponente und die unterschiedliche Länge der Aufenthaltsdauer sich auf die Möglichkeiten der pädagogisch-didaktischen Arbeit in den beiden Institutionstypen auswirkten. In den kleinen Institutionen für die Kinder der bürgerlichen Schicht war ein individuelles Eingehen auf das Kind eher möglich als in den Kinderbewahranstalten. Den Kindern in Kindergärten konnten mehr Freiheiten eingeräumt werden als denen in Kinderbewahranstalten. In letzteren mußte schon aufgrund der hohen Kinderzahl auf Disziplin und Ordnung geachtet werden. Es kann angenommen werden, daß aufgrund der kürzeren Öffnungszeiten der Kindergärten den Erzieherinnen mehr Zeit für die Vorbereitung der pädagogischen Arbeit zur Verfügung stand. Dies und die bessere finanzielle Ausstattung ließen den Erzieherinnen vermutlich mehr Raum zur pädagogischen Gestaltung. Kostenintensive und materialreiche Beschäftigungen waren hier eher möglich als in den Kinderbewahranstalten mit einer wesentlich höheren Kinderzahl. 3.1 Die quantitative Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland im Kaiserreich Verläßliche Daten, die einen genauen Überblick über die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung im Deutschen Reich zwischen 1871 und 1914 geben, sind nicht vorhanden. Es existierten nur wenige Umfragen aus dieser Zeit über die Ausbreitung der Institutionen. Eine Untersuchung, die anhand von Studien in den einzelnen Regionen und Städten einen Überblick über die gesamte Situation in 11 12 13 14 15
Vgl. diese Arbeit, S.198f, 209. Vgl. diese Arbeit, S.63, 141f, 143ff. Vgl. diese Arbeit, S.154ff, 162ff. Vgl. diese Arbeit, S.143. Vgl. diese Arbeit, S.177ff.
66 Deutschland gibt, steht bis heute noch aus. Die folgenden Zahlen können nur als Richtwerte verstanden werden. Nach einer Umfrage der Inneren Mission gab es 1899 insgesamt 2.700 evangelische Kleinkindinstitutionen, die von 187.817 Kindern besucht wurden.16 In der Rheinprovinz gab es nach dieser Zählung 175 Institutionen mit 1.534 Kindern; in Westfalen 148 Anstalten mit 2.400 Kindern.17 1914 waren für zirka 200.000 Kinder 3.300 ausgebildete Schwestern aus 35 Diakonissenhäusern tätig.18 Die statistische Erhebung über die Anzahl der Kinderbewahranstalten war in Deutschland unterschiedlich. Einige Länder - wie Bayern, Württemberg, Preußen, Baden, Sachsen und Elsaß-Lothringen - führten Zählungen durch, dagegen sind von anderen Bundesstaaten keine verläßlichen Daten vorhanden. Nach Erning gab es um 1910 für 558.610 Kinder insgesamt 7.259 Kinderbewahranstalten. Allerdings legt er für diese Berechnungen die Daten von nur sechs Reichsgebieten bzw. Bundesstaaten vor. In diesen lebten fast 90% der gesamten Bevölkerung des Deutschen Reiches.19 Bundesstaat
Zahl der Anstalten
Zahl der betreuten Kinder
Baden (1910) Württemberg (1907) Bayern (1909/10) Sachsen (1911) Preußen (1912/13) Elsaß-Lothringen (1910) Deutsches Reich
683 519 773 302 4.499 494 7.259
58.444 41.52020 68.872 15.566 336.66021 37.608 558.610
In seinem Aufsatz »Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert«22 gibt Erning die Gesamtzahl der Kinderbetreuungseinrichtungen mit rund 7.500 Anstalten an, von denen rund 5.700 eine konfessionelle Trägerschaft aufwiesen. Davon waren 2.700 Einrichtungen katholisch. Allerdings dürften diese Daten Fehler aufweisen, wie folgende Abweichung23 zwischen den Berechnungen Ernings und meinen eigenen Untersuchungen für die Städte Köln, Krefeld und Bochum zeigen. 16 Statistik der Inneren Mission der deutschen evangelischen Kirche. Bearbeitet und herausgegeben von dem Central-Ausschuß für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Berlin 1899, S.6f. Die Erhebung ist mit Ungenauigkeiten behaftet, da zum Beispiel nicht alle Fragen des versandten Fragebogens ausreichend beantwortet wurden. Die Zahlen weichen zum Teil von denen anderer Erhebungen ab, da nur die Anstalten aufgenommen wurden, die »als Anstalten der Inneren Mission anzusehen waren«. A.a.O., S.3. 17 A.a.O., S.6f. 18 Vgl. Schneider, J. (Hrsg.): Kirchliches Jahrbuch für die evangelischen Landeskirchen Deutschlands 1914. Jg.41. Gütersloh 1914, S.41. 19 Erning, Günter: Quantitative Entwicklung der Angebote öffentlicher Kleinkinderziehung. In: Erning, Günter, Karl Neumann und Jürgen Reyer (Hrsg.): A.a.O., S.30. 20 Bei einer geschätzten Anzahl von 80 Kindern je Anstalt. 21 Bei einer geschätzten Anzahl von 75 Kindern je Anstalt. 22 Vgl. Erning, Günter: Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert. In: Versorgen, bilden, erziehen. 1912-1987. Festschrift des Zentralverbandes katholischer Kindergärten und Kinderhorte Deutschlands. Freiburg im Breisgau 1987, S.25.
67 Städte
Anstalten
Aachen 8 Altona 6 Barmen 28 Berlin 62 Bochum 6 Bonn 4 Breslau 45 Charlottenbg 7 Danzig 13 Dortmund 20 Düsseldorf 25 Duisburg 8 Elberfeld 25 Erfurt 7 Essen 12
Kinder
Städte
Anstalten
Kinder
1.253 863 3.279 5.061 650 560 3.319 184 712 2.049 3.298 1.199 1.712 394 1.970
Frankfurt/M. Frankfurt/O. Görlitz Halle Hannover Kassel Kiel Köln Krefeld Liegnitz Magdeburg Posen Spandau Wiesbaden
21 7 3 15 15 12 2 35 19 6 20 22 1 2
2.321 471 87 929 1.341 889 152 3.754 1.107 357 1.036 1.531 50 312
Nach meinen Untersuchungen gab es im Jahr 1902 in den drei von mir untersuchten Städten folgende Anstalts- und Besuchszahlen:24 Städte
Anstalten
Kinder
Köln Krefeld Bochum
34 20 11
3.45525 1.277 1.041
Während es sich bei den Daten zum Stand der öffentlichen Kleinkinderziehung für Köln und Krefeld um unerhebliche Abweichungen handelt, weisen die Zahlen für Bochum eine wesentliche Divergenz auf. 3.2 Die quantitative Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum Die Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum ist im Zusammenhang mit den dargestellten wirtschaftlichen, demograpischen und sozialen Veränderungen zu sehen. Die folgende Grafik gibt einen Überblick:26 23 24
Ders.: Quantitative Entwicklung ... a.a.O., S.31. Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln: Verwaltungsbericht für 1902, S.120f. Stadtarchiv Krefeld: Verwaltungsbericht 1902, S.87; Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg I 894. 25 Die Besuchszahlen von Köln beruhen auf zwei verschiedenen Zählweisen und können deswegen zum Vergleich nicht herangezogen werden. Während die Institutionen der freien Träger offensichtlich alle angemeldeten Kinder aufweisen, werden für die kommunalen Einrichtungen nur die durchschnittliche Besuchszahl der Kinder genannt. Für die freien Träger waren es insgesamt 2.914 Kinder und für die kommunalen Anstalten eine Durchschnittszahl von 547 Kinder. 26 Vgl. diese Arbeit, S.280. Verwaltungsberichte für die Stadt Köln 1884 bis 1908. Adreßbücher für die Stadt Köln 1871 bis 1911. Stadtarchiv Köln: Abt. 40-44.318. Verwaltungsberichte für die Stadt Krefeld 1872 bis 1914. Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg: I 894; II D 60; II D 620. Märkischer Sprecher 1871-1914.
68
absolute Zahlen
Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum 60
Köln
50
Krefeld
40
Bochum
30 20 10 0 Jahr
1871
1880
1890
1900
1910
1914
Die Entwicklung der Kinderbewahranstalten in den drei Städten wurde durch zwei Faktoren bestimmt: der Bevölkerungsentwicklung und der damit eng verknüpften wirtschaftlichen Entwicklung.27 Zwischen 1871 und 1880 beeinflußten darüber hinaus die Auseinandersetzungen zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche im Kulturkampf die Situation der Kleinkindbetreuung. Für die Ausbreitung der Kinderbewahranstalten bedeutete das Jahr 1875 einen Einschnitt, als mit dem Klostergesetz den katholischen Ordensfrauen jegliche Tätigkeit außerhalb der Krankenpflege verboten wurde.28 Die Verknüpfungen dieser drei Fakoren werden in den folgenden Kapiteln in Einzelanalysen aufgezeigt. Die Entwicklung in Köln zeigt drei verschiedene Entwicklungsverläufe. Im ersten Jahrzehnt des Kaiserreichs nahm die Zahl der Kleinkindinstitutionen ab, während die Kurve zwischen 1880 und 1890 sowie 1910 und 1914 steil anstieg. Zwischen 1890 und 1910 kam es dagegen zu einer abgeflachten Entwicklung. Die Ursachen für diesen Entwicklungsverlauf sind zum einen in den Folgen des Kulturkampfes, zum anderen in der demographischen, der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu sehen. Der Kulturkampf beeinflußte die Ausbreitung der katholischen Kinderbewahranstalten. 1871 bestanden in Köln 13 Kinderbewahranstalten, 1880 war es eine Institution weniger.29 Von den Einrichtungen wurden sechs Institutionen von Privatpersonen geführt. Vermutlich verkehrten dort mehrheitlich bürgerliche Kinder. Nach dem Erlaß des Klostergesetzes wurden laut katholischen Unterlagen drei von vier Einrichtungen geschlossen, zwei Bewahr27
Zur demographischen Entwicklung vgl. diese Arbeit, S.46ff. Zur wirtschaftlichen Entwicklung vgl. diese Arbeit, S.52ff. 28 Die Auswirkungen des Kulturkampfes auf die Entwicklung der Kinderbewahranstalten werden in einem gesonderten Kapitel untersucht. Vgl. diese Arbeit, S.93ff, 99ff. 29 Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln: Abt.40-44.318. Bd.8. Bongartz, Arn.: Die Klöster in Preußen und ihre Zerstörung oder Was kostet der Kulturkampf dem preußischen Volke? Berlin 1880, S.103 und 110. Adreßbücher der Stadt Köln 1871-1875.
69 anstalten bestanden unter weltlicher Leitung in der Trägerschaft von Frauenvereinen fort.30 Als Ersatz für die geschlossenen Anstalten eröffnete die Stadt zwei Einrichtungen unter kommunaler Trägerschaft. Der Fröbelverein gründete im ehemaligen Ursulinenkloster einen Volkskindergarten, der 1879 von der Stadt übernommen wurde. Die Leitung übertrug man weltlichen Frauen.31 Bis 1878 stagnierte die Entwicklung der Kinderbewahranstalten. Ab 1879 stieg die Zahl der Institutionen an. Dies ist vorwiegend auf Neugründungen durch Privatpersonen zurückzuführen. Katholische Institutionen entstanden in diesem Zeitraum nicht.32 Diese Entwicklung steht einerseits im Zusammenhang mit dem Kulturkampf, andererseits muß man den Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt Köln mitberücksichtigen. Die Wirtschaftskrise nach 1873 beeinflußte auch in Köln ab 1875/76 die Entfaltung der Ökonomie. Erst 1879 setzte eine langsame wirtschaftliche Belebung ein, die sich mit Unterbrechungen in den folgenden Jahren verstärkte.33 Auch die Debatten um die kommunalen Kinderbewahranstalten und den Fröbelschen Kindergarten34 weisen auf die wirtschaftliche Problematik der Stadt Köln hin. Die Schwierigkeiten innerhalb der Wirtschaft wirkten sich auch auf die Entwicklung der Kinderbewahranstalten aus. Einerseits war der weitere Ausbau der öffentlichen Kleinkinderziehung nicht in dem Maße notwendig wie in Krefeld, andererseits scheute die Kommune, aufgrund der wirtschaftlichen Situation, weitere Ausgaben in diesem Bereich. Hinzu kommt, daß aufgrund des Klostergesetzes auch katholische Kreise nicht in der Lage waren, neue Institutionen zur Betreuung und Erziehung von Kleinkindern zu gründen. Nach Aufhebung der Klostergesetze von 188035 kam es im folgenden Jahrzehnt in Köln zu einer raschen Ausbreitung der katholischen Kinderbewahranstalten. Existierten 1880 nur zwei katholische Institutionen36, so waren es 1885 schon sechs.37 Im Jahr 1890 gab es in Köln insgesamt 29 Anstalten. Sieben Kinderbewahranstalten standen unter kommunaler,zwölf unter katholischer Trägerschaft, fünf waren evangelisch, eine israelitisch und vier wurden von Privatpersonen unterhalten. Zwölf der Einrichtungen befanden sich in den eingemeindeten Stadt30 Nach verschiedenen Unterlagen ergeben sich nicht mehr zu klärende Differenzen. Es besteht die Möglichkeit, daß bis zu den Klostergesetzen sechs katholische Einrichtungen bestanden haben, von denen vier geschlossen wurden. Vgl. diese Arbeit, S.95ff. 31 Vgl. Kölnische Volkszeitung. 1876. Nr.214; 1878. Nr.96.; 1879. Nr.69. 32 Vgl. Adreßbücher der Stadt Köln: 1877 bis 1881. 33 Neuhaus, Georg: Die Stadt Cöln im ersten Jahrhundert unter Preußischer Herrschaft. Bd.1. T.2: Die Entwicklung der Stadt Cöln von der Errichtung des Deutschen Reiches bis zum Weltkriege. Hrsg. v.d. Stadt Cöln 1916, S.21ff. Henning, Friedrich-Wilhelm: Die Stadterweiterung unter dem Einfluß der Industrialisierung (1871 bis 1914). In: Hermann Kellenbenz (Hrsg.): Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft. Köln 1975, S.334ff. 34 Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln: A.a.O. 35 Am 14. Juli 1880 wurde das Klostergesetz aufgehoben. Unter anderem wurde den katholischen Ordensfrauen wieder die Führung von Kinderbewahranstalten erlaubt. Vgl. diese Arbeit, S.103. 36 Greven’s Adreßbuch. Köln 1880, S.XX. 37 Verwaltungsbericht der Stadt Köln vom 1. April 1887 bis 31. März 1888, S.102.
70 teilen, 17 in Alt-Köln. Der Zuwachs der Kinderbewahranstalten ist im Zusammenhang mit der Aufhebung der Klostergesetze zu sehen. Die katholischen Träger hatten einen Nachholbedarf gegenüber den kommunalen und evangelischen Trägern. Gleichzeitig trug die Konkurrenzsituation zwischen den katholischen und nichtkatholischen Trägern sowie die noch aufgeheizte Kulturkampfstimmung38 mit zu dem raschen Ausbau katholischer Kinderbewahranstalten bei. Darüber hinaus waren die demographische Entwicklung der Stadt Köln und insbesondere die Eingemeindungen von hoher Bedeutung. In diesem Jahrzehnt verdoppelte sich fast die Zahl der Bewohner. Dieser Zuwachs steht im Zusammenhang mit den Eingemeindungen von 1888.39 32,3% der Kölner wohnten in den Vororten, aber 42,9% der Kinderbewahranstalten befanden sich in diesen eingemeindeten Stadtteilen. Dies lag auch an der industriellen Entwicklung Kölns. Die Mehrheit der Industriebetriebe befand sich in den eingemeindeten Stadtteilen. Kinderbewahranstalten waren zur Betreuung noch nicht schulpflichtiger Kinder in diesen Industriestandorten eine Notwendigkeit. In den Jahren 1890 bis 1910 entwickelten sich die Kinderbewahranstalten langsamer. In diesen beiden Jahrzehnten nahmen die Institutionen insgesamt um elf zu. Vier Einrichtungen wurden in diesem Zeitraum geschlossen. Vor der Jahrhundertwende eröffnete man fünf neue Einrichtungen, nach der Jahrhundertwende kamen sechs Einrichtungen hinzu. Von diesen befanden sich nur zwei Kinderbewahranstalten in Alt-Köln.Von 1910 bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Institutionen dramatisch an. Diese Zunahme beruhte vor allem auf der Eingemeindung neuer Stadtbezirke. Allein in Mülheim bestanden sechs Einrichtungen. Insgesamt kamen durch die Eingemeindungen zwölf Institutionen hinzu. In dem Stadtgebiet vor der Eingemeindung von 1914 wurden vier Anstalten zwischen 1910 und 1914 eröffnet. In Köln ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen der steigenden Zahl von Kinderbewahranstalten und der demographischen Entwicklung festzustellen. Die Eingemeindungen sind für die Zunahme der Einrichtungen von Bedeutung. Aber auch die Industriestandorte stehen in einem engen Zusammenhang mit den Standorten der Kleinkindinstitutionen. In Alt-Köln befanden sich die Mehrheit der Institutionen in der Nähe von Industriestandorten. Allein in der südlichen Altstadt existierten sechs Einrichtungen in der Umgebung von drei größeren Werken der Nahrungs- und Genußmittelindustrie sowie der Textilindustrie, die im Jahr 1910 insgesamt 2.938 Arbeitsplätze aufwies.40 Auch in den eingemeindeten Stadtteilen wird der Zusammenhang von Industriestandorten, demographischer Entwicklung und Kinderbewahranstalten deutlich. So bestanden in den Arbeiterstadtbezirken Ehrenfeld vier, in Nippes drei, in Sülz drei und in Mülheim sechs Kinderbewahranstalten. 38 39
Der Kulturkampf wurde endgültig 1888 beigelegt. Vgl. diese Arbeit, S.46f.
71 Die Ausbreitung der Kinderbewahranstalten in Krefeld zeigt drei verschiedene Entwicklungsphasen. Von 1871 bis 1900 stieg die Kurve stetig an, danach sank die Zahl der Institutionen. Zwischen 1910 bis 1914 nahmen die Einrichtungen wieder zu. Der Entwicklungsverlauf ist auch hier im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung zu sehen. Der Kulturkampf zeigte nur kurze Auswirkungen auf die Zahl der Institutionen, durch das Klostergesetz wurden Anstalten unter katholischer Trägerschaft jedoch für mehrere Jahre ausgeschlossen. In Krefeld bestanden nach 1872 aufgrund des Verwaltungsberichtes drei Anstalten. Katholischen Unterlagen zufolge gab es zwei weitere Institutionen.41 Demnach existierten insgesamt fünf Einrichtungen. Bis zu den Klostergesetzen42 von 1875 bestanden in Krefeld sechs Institutionen, davon wurden vier Einrichtungen vom »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten«43 getragen und zwei Anstalten von katholischen Ordensfrauen geleitet. Die beiden katholischen Institutionen mußten infolge der Klostergesetze geschlossen werden. Ersatzanstalten wurden seitens der katholischen Träger nicht geschaffen. Der »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« eröffnete nach 1875 zwei weitere Anstalten, drei wurden von Privatpersonen eingerichtet, so daß es bis 1880, trotz der Schließung der katholischen Institutionen, in Krefeld neun Kinderbewahranstalten gab, die von 1.237 Kindern besucht wurden.44 Diese Entwicklung stand in einem engen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und demographischen Situation. 1872/73 setzte eine wirtschaftliche Depression ein. Die arbeitlos gewordenen Weber zogen mit ihren meist kinderreichen Familien aus dem Umland in die Stadt Krefeld in der Hoffnung, Arbeit zu 40 Vgl. Ausstellungskatalog: Großstadt im Aufbruch. Köln 1888. Köln 1988, S.149. 41 Nach Unterlagen der Schwestern der christlichen Liebe und weiteren katholischen Unterlagen wurden 1863 zwei katholische Kinderbewahranstalten gegründet. Einen Nachweis über diese beiden katholischen Institutionen sind in den Unterlagen des Stadtarchivs nicht zu finden. Aber in der preußischen Statistik von 1864/65 werden für Krefeld sechs Kinderbewahranstalten angegeben, so daß es möglich ist, daß diese beiden Anstalten auch 1871 tatsächlich bestanden und aus nicht bekannten Gründen im Verwaltungsbericht unerwähnt blieben. Vgl. Bommers, Sr. M. Coelestine: Die caritativ und sozialarbeitenden klösterlichen Gemeinschaften. In: Edmund Bungartz (Hrsg.): Katholisches Krefeld. Streiflichter aus Geschichte und Gegenwart. Krefeld 1974, S.265. Archiv im Mutterhaus der Schwestern der christlichen Liebe in Paderborn: Kurze Übersicht der Kindergartentätigkeit. Preußische Statistik. In: Günter Erning,: Anfänge und Entwicklungen öffentlicher Kleinkinderziehung im preußischen Verwaltungsbezirk Düsseldorf von 1800 bis 1918. Aus amtlichen Unterlagen. In: Pädagogische Rundschau. Sonderheft August 1982, S.48. 42 Vgl. diese Arbeit, S.109. 43 Dem Verein standen nach Unterlagen von 1881 ausschließlich evangelische und mennonitische Mitglieder vor, der Vorsitzende war ein evangelischer Pfarrer, die Leitung der Anstalten war evangelischen Frauen übertragen, so daß diese der protestantischen Richtung zuzuordnen sind. Vgl. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf: Regierung Düsseldorf 2682. Stadtarchiv Krefeld: 40.15.233. 44 Vgl. Verwaltungsbericht der Stadt Krefeld 1880/81.
72 finden. Die Zahl der Bevölkerung stieg rasch an. Im Vergleich zum Jahrzehnt zuvor verdreifachte sich die Bevölkerung fast45, die Zahl der 0- bis 5-jährigen Kinder verdoppelte sich knapp. Die steigende Zahl der Kleinkinder, die im Zusammenhang zur allgemeinen Bevölkerungszunahme stand, machte den Ausbau der Kinderbewahranstalten notwendig. Aber auch die wirtschaftlichen Probleme und die damit verbundene Zunahme der sozialen Schwierigkeiten waren für die Neugründungen maßgebend, trotz der Kulturkampfmaßnahmen, die in anderen Städten zur Stagnation der Entwicklung oder zum Rückgang der Einrichtungen führten. Dem Vorstand des »Vereins für Errichtung und Leitung von KleinkinderBewahranstalten« gehörten sowohl Stadtverordnete als auch Unternehmer an, die ein besonderes Interesse an den Kinderbewahranstalten hatten. Zum einen ermöglichten diese den Müttern, einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachzugehen, zum anderen kann vermutet werden, daß die Hoffnung bestand, über die Institutionen Kontrolle über die Familien der Unterschichtkinder zu erreichen, verbunden mit Bemühungen, die zuwandernden Weberfamilien in die städtische Lebensform zu integrieren. Das Engagement des oben genannten Vereins kann dahin gehend interpretiert werden, über die Kinderbewahranstalten soziale Konflikte zu entspannen. Darüber hinaus ist das Engagement des oben genannten Vereins auch im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen im Gefolge des Kulturkampfes zu sehen. Dies wurde auch im Kampf um die simultane Volksschule deutlich, in dessen Rahmen sich unter anderem Seyffardt - ein Mitglied des Vorstandes des »Vereins für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« - sehr engagierte.46 Auch waren die katholischen Institutionen vor dem Klostergesetz in der Minderzahl47, so daß ein Ersatz leichter als in Köln zu schaffen war. 45 Vgl. Münnix, Norbert: Die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt Krefeld vom Ende der Kaiserzeit bis in die Weimarer Republik (1890-1929). Phil. Diss. Köln 1977, S.25. 46 Vgl. Köppen, Ernst: Kleine Stadtbiographie. Krefeld von den Anfängen bis zum Jahre 1948. Duisburg und München 1970, S.157. Stadtarchiv Krefeld: 40.15.233. 47 Die Ursachen für die bis zu den Klostergesetzen geringe Anzahl der katholischen Anstalten in einer Stadt, die überwiegend von Katholiken bewohnt war, konnte nicht ermittelt werden. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1871 waren von 57.105 Einwohnern 13.807 evangelisch, 41.309 katholisch und 902 sonstige Christen. Vermutlich ist das Übergewicht der evangelichen Kleinkindinstitutionen im Zusammenhang mit den Interessen der Krefelder Führungsschicht zu sehen. Auf Initiative von Hermann von Beckerath und Wilhelm von der Leyen wurde 1838 der »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« gegründet und die erste Kinderbewahranstalt eröffnet. Beide Initiatoren waren Unternehmer und gehörten der mennonitischen Konfession an. Die Angehörigen der mennonitischen Glaubensrichtung waren vom sozialen Verantwortungsbewußtsein geprägt. Auch die Mitglieder des Vorstandes waren zum Teil Mennoniten. Einige waren Industrielle, einige gehörten der Stadtverordnetenversammlung an. Sie hatten ein besonderes Interesse an der Unterbringung von unbeaufsichtigten Kleinkindern. Darüber hinaus ist denkbar, daß bei führenden Krefelder Katholiken die Einsicht, katholische Institutionen zu gründen, sich erst langsam durchsetzen konnte, da durch den »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« ein Bedürfnis nach Unterbringung kleiner Kinder abgedeckt wurde. Vgl. Krieg, Elsbeth: Öffentliche Kleinkinderziehung im Kaiserreich in Krefeld. In: Die Heimat. Krefelder Jahrbuch. Hrsg.: Verein für Heimatkunde in Krefeld. November 1990, S.171. Münnix, Norbert: A.a.O., S.11 und 28ff. Verwaltungsbericht der Stadt Krefeld 1872.
73 Nach der Aufhebung der Klostergesetze wurden in rascher Folge katholische Institutionen gegründet. Bis 1890 waren sieben Anstalten katholisch und sieben protestantisch. Sechs der protestantischen Einrichtungen standen unter der Trägerschaft des »Vereins für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten«, eine wurde im Berichtsjahr 1884/85 von Kaiserswerther Diakonissen eröffnet.48 Damit wurde eine Parität zwischen den katholischen und evangelischen Einrichtungen erreicht. Bis 1901 stieg die Zahl der Institutionen stetig an. Die Zunahme der Anstalten stand bis 1890 im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung. Die Krefelder Textilindustrie war bis Anfang der achtziger Jahre auf die Hausproduktion ausgerichtet, die sich zum überwiegenden Teil im Krefelder Umland befand. In der Stadt Krefeld wurden die Arbeiten für die Heimweber vorbereitet und die fertige Ware verpackt. Diese Arbeiten verrichteten hauptsächlich Frauen. Ab den achtziger Jahren setzte die Umstellung von der Haus- auf die Fabrikproduktion ein. Die arbeitslos gewordenen Handweber zogen auf der Suche nach Arbeit mit ihren Familien in die Stadt. Die Zahl der Bevölkerung stieg in diesem Jahrzehnt überproportional um fast ein Drittel an. Dies trug zur Verschärfung der sozialen Situation bei. Die Ausbreitung der Kinderbewahranstalten ist auch als Teil der Maßnahmen zur Eindämmung der sozialen Not und gleichzeitig als Mittel der sozialen Kontrolle über die Arbeiterfamilien zu interpretieren. Gleichzeitig nahm die Frauenerwerbsarbeit in der Textilindustrie zu. Die erste Umstellungsphase auf die Fabrikproduktion betraf vor allem die einfachen Stoffe. In der Seiden- und Samtproduktion führten fast ausschließlich Frauen die vorbereitenden Arbeiten aus. Darüber hinaus waren in der Seidenherstellung auch Frauen als Weberinnen tätig, während die Samtweberei eine männliche Tätigkeit war.49 Die rasche Zunahme der Kinderbewahranstalten ist auch im Zusammenhang zu sehen, den Müttern die außerhäusliche Erwerbsarbeit zu ermöglichen. In den Fabriken waren verheiratete Frauen und Mütter wegen ihrer Zuverlässigkeit und ihrem Fleiß sehr geschätzt. Der Umstellungsprozeß von der Haus- auf die Fabrikproduktion wurde Ende der neunziger Jahre abgeschlossen. Nach 1890 begann aufgrund des Mechanisierungsprozesses eine Überproduktionskrise, die zu einer hohen Arbeitslosenzahl führte.50 Die wirtschaftlichen Probleme wirkten sich einerseits auf die Einwohnerentwicklung51 und andererseits auf die außerhäusliche Erwerbsarbeit aus. Auch verminderte sich die Zahl der 0- bis 5-jährigen Kinder in diesem Zeitraum.52 Auf 48 Verwaltungsberichte der Stadt Krefeld 1882/83 bis 1890/91. 49 Vgl. diese Arbeit, S.54f. 50 Vgl. Münnix, Norbert: A.a.O., S.14. Kempkes, Heidemarie: Der christliche Textilarbeiterverband in Krefeld 1906 bis 1914. Wentdorf/Hamburg 1979. (Schriftenreihe »Die Arbeiterbewegung in den Rheinlanden« Hrsg. Günter Bers und Michael Klöcker. Nr. 10). 51 Zwischen 1890 und 1900 stagniert die Bevölkerungsentwicklung. 52 Vgl. diese Arbeit, S.48, 51f.
74 diese Entwicklung reagierte man sehr verspätet. Man muß annehmen, daß die Initiatoren und Betreiber von Kinderbewahranstalten auf eine Verbesserung der Situation hofften. Darauf deutet auch die Eröffnung von zwei neuen Anstalten des »Vereins für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« hin, dessen Vorstand Unternehmer und auch Stadtverordnete angehörten. Auch die katholischen Träger bauten in diesem Zeitraum ihre Position weiter aus. Die Besuchszahlen schwankten beträchtlich. 1890/91 erreichte die Zahl der Kinder ihren Höhepunkt mit 1.319 Kindern, danach blieben, mit Ausnahme von 1898 mit 1.404 Kindern, die Besuchszahlen weit unter 1.300 Kindern. Das sogenannte Schulgeld, der Elternbeitrag, wurde unter Umständen von den Eltern in Zeiten der Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen finanziellen Not eingespart. Andererseits galten Schenkungen zu Weihnachten offensichtlich als Anreiz zum Besuch der Anstalten.53 Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende ging die Zahl der Kinderbewahranstalten drastisch zurück. Ihren Tiefststand erreicht sie 1907 mit nur noch 14 Einrichtungen. Für jenes Jahr liegen keine Besuchszahlen vor, aber ein Jahr zuvor besuchten nur noch 1.168 Kinder die Institutionen. Bis 1910 erhöhte sich die Zahl der Anstalten auf 17. Die Bevölkerung nahm wieder zu. Letzteres ist vor allem auf die Eingemeindungen zurückzuführen.54 Dagegen wuchs die Zahl der Kinder nur unerheblich. Mit den Eingemeindungen gelang es, neue Industriezweige anzusiedeln.55 In den eingemeindeten Stadtbezirken bestand zur Zeit der Eingemeindung eine Institution, sie befand sich in Oppum. In Linn wurde erst 1909 eine Kinderbewahranstalt eröffnet. Bis 1914 gab es einen deutlichen Zuwachs an neuen Institutionen. Gleichzeitig wurde nur noch eine Besuchszahl von 900 Kindern angegeben.56 Die Bevölkerungszahlen erhöhten sich jedoch nur unwesentlich. Die wirtschaftliche Situation hatte sich entspannt. Die Zunahme der Institutionen bei gleichzeitiger Abnahme der Besuchszahlen stand möglicherweise im Zusammenhang mit einem veränderten pädagogischen Bewußtsein. Zur Jahrhundertwende setzte sich in der Fachliteratur mehr und mehr die Forderung nach didaktischer Arbeit in den Kinderbewahranstalten durch.57 Dies forderte eine geringere Erzieher-Kind-Relation und damit kleinere Institutionen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, daß die Zählweise der Besuchszahlen geändert wurde, so daß die Besuchszahlen höher lagen, als angegeben. 53
Vgl. Fachbücherei für Frauendiakonie und Fliednerarchiv: Gr.Fl.II O. II.105. Märkischer Sprecher 23.12.1881; 24.12.1881. 54 Vgl. diese Arbeit, S.48. 55 Vgl. diese Arbeit, S.55. 56 Verwaltungsbericht der Stadt Krefeld 1914. Aus den Unterlagen ist die Zusammensetzung der Besuchszahl nicht ersichtlich. Das heißt, es ist nicht bekannt, ob es sich um eine Durchschnittszahl handelt und inwieweit diese mit den anderen Besuchszahlen zu vergleichen ist. 57 Vgl. diese Arbeit, S.1697ff, 198f, 209.
75 Insgesamt bleibt festzuhalten, daß mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation die Zahl der Institutionen zunahm. Dies mag auch im Zusammenhang mit der verbesserten finanziellen Lage der Träger stehen. Die Krefelder Kinderbewahranstalten wurden offensichtlich ausschließlich durch Elternbeiträge, Spenden und sonstige nichtstädtischen Beiträge - wie Wohltätigkeitsveranstaltungen und ähnliche - finanziert. Diese Art der Finanzierung war in hohem Maße von der Spendenfreudigkeit der einkommensstarken Schicht abhängig. Mit dem positiven Wandel der wirtschaftlichen Situation dürfte die Spendenfreudigkeit wieder zugenommen haben. Dies trug zur Verbesserung der finanziellen Situation der Trägervereine bei. In Krefeld wird ein Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Ausbreitung der Kinderbewahranstalten deutlich. Erst im Gefolge der wirtschaftlichen Krise nach 1872/73 und der Umstellung von der Haus- auf die Fabrikproduktion in den achtziger und neunziger Jahren, nahm die Zahl der Institutionen deutlich zu. Dagegen wirkte sich der Kulturkampf auf die Anzahl der Einrichtungen nur am Rande aus. Wegen neuer Gründungen durch den »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« und durch Privatpersonen konnte der Rückgang der Institutionen, aufgrund der Schließung der katholischen Kinderbewahranstalten, ausgeglichen und die Zahl weiter ausgebaut werden. Der Zusammenhang von wirtschaftlichen Interessen und Entwicklung der Kleinkindinstitutionen wird beim oben genannten Verein besonders deutlich. Einige der Vorstandsmitglieder waren Unternehmer, die ein hohes Interesse daran hatten, Frauen die Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Aus diesem Grund wurden Kinderbewahranstalten eingerichtet. Auf die ökonomische Krise zwischen 1890 und 1910 reagierten die Träger der öffentlichen Kleinkinderziehung mit Verspätung. Nachdem noch bis zur Jahrhundertwende ein Anstieg der Institutionen zu verzeichnen war, sank danach die Zahl rapide. Erst gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts nahmen die Einrichtungen wieder zu. Neben der allgemeinen wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung sind die Daten der Kleinkinder zu berücksichtigen. Stieg die Zahl der Kleinkinder bis 1890 kontinuierlich an, so sank dieselbe bis zur Jahrhundertwende und stieg im ersten Jahrzehnt danach nur noch unwesentlich. Die Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Bochum zeigt drei abgeflachte und zwei sprunghafte Entwicklungsphasen.58 Die erste Einrichtung für Unterschichtkinder wurde erst 1878 gegründet. Nach der Gründung der ersten Kinderbewahranstalt kam es zu einer schnellen Zunahme der Institutionen bis 1892. Zwischen 1892 und 1902 stagnierte die Zahl der Einrichtungen weitgehend. Zwischen 1902 und 1908 stieg die Zahl der Einrichtungen sprunghaft an und nahm bis 1912 nur noch unerheblich zu. 58 Die Daten zur Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Bochum beziehen sich, mit Ausnahme von 1880, nicht genau auf die Jahrzehnte. Es gab nur wenige amtliche Unterlagen, die die Entwicklung exakt angeben.
76 Seit 1865 bestand für die Kinder der bürgerlichen Schicht ein Fröbelscher Kindergarten.59 Für die Kinder der Unterschichtfamilien gab es im Jahr 1871 keine Institution.60 Die erste für Arbeiterkinder nach 1871 geschaffene Anstalt wurde 1878 von dem Evangelischen Frauenverein unter Leitung einer Diakonissin eröffnet. 1879 folgte der Katholische Frauenverein, der eine Einrichtung unter weltlicher Leitung schuf. Im Gegensatz zu Köln und Krefeld kann man die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in den ersten Jahren ihres Bestehens nicht mit der wirtschaftlichen Entwicklung im engeren Sinn und der Müttererwerbstätigkeit begründen. Die Folgen der Wirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre waren aber für die Gründung neuer Kleinkindinstitutionen von Bedeutung. Im Verlauf des Jahres 1875 setzte in Bochum die wirtschaftliche Depression ein, die einen drastischen Anstieg der Empfänger von Armenfürsorge mit sich brachte.61 Die Folgen der wirtschaftlichen Problematik wurden von der Armenverwaltung als »moralischer Zusammenbruch der Arbeiterschaft« interpretiert.62 Die Gründungen der ersten Kinderbewahranstalten fielen in diese Krise und können, neben anderen Maßnahmen, wie der Gründung von Sparkassen, als eine Möglichkeit gesehen werden, der vermeintlichen Unsittlichkeit schon beim Kind durch eine entsprechende Erziehung entgegenzuwirken und über das Kind auf die Eltern einzuwirken. In Bochum gab es über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg nur wenige Arbeitsplätze für Frauen.63 Die Kinderbewahranstalten waren während des ganzen Untersuchungszeitraumes über Mittag geschlossen64, im Gegensatz zu einem Teil der Institutionen in Köln und Krefeld. Dies gilt als Indiz dafür, daß die außerhäusliche Müttererwerbsarbeit kaum ins Gewicht fiel. Insgesamt müssen die Ursachen für die Ausbreitung der Kinderbewahranstalten in Bochum in anderen Faktoren als für Köln und Krefeld gesucht werden.65 Ab 1882 erholte sich die Wirtschaft. Gleichzeitig verdreifachte sich die Bevölkerung zwischen 1880 und 1900, die Zahl der 0- bis 5-jährigen Kinder wuchs 59 Vgl. Märkischer Sprecher 16. Juni 1878. 60 Es scheinen aber vor 1871 schon Kinderbewahranstalten bestanden zu haben. In der Festschrift der Vinzentinerinnen (Mutterhaus Paderborn) wird angegeben, daß in ihrer Bochumer Niederlassung 1858 »die erste Bewahrschule für noch nicht schulpflichtige Kinder« eröffnet wurde. Offensichtlich wurde sie vor 1871 geschlossen. Ebenso deuten Unterlagen der evangelischen Kirche darauf hin, daß es vor 1871 eine evangelische Institution in Bochum gegeben hat, die vor 1867 geschlossen wurde. Vermutlich war der Bedarf vor 1871 so gering, daß diese Institutionen wieder geschlossen wurden. Vgl. o.N.: Sanct Elisabeth-Hospital Bochum. Festschrift zum Goldenen Jubiläum 1848-1898. Bochum o.J., S.59. Synodalarchiv Bochum: Verhandlungen der Kreis-Synode Bochum, d.d. Bochum, den 31. October 1867. (Als Manuskript gedruckt). Bochum 1867, o.S. Synodalarchiv Bochum: Verhandlungen der Kreis-Synode Bochum d.d. Gelsenkirchen, den 23. September 1873. (Als Manuskript gedruckt). Bochum 1873, S.18. 61 Vgl. diese Arbeit, S.55. 62 Crew, David: Bochum. Sozialgeschichte einer Industriestadt 1860-1914. Frankfurt/Main, Berlin und München 1980. (Sozialgeschichtliche Bibliothek. Hrsg. Dieter Groh), S.133. 63 Vgl. diese Arbeit, S.56. 64 Vgl. diese Arbeit, S.172. 65 Vgl. diese Arbeit, S.118ff.
77 um ein Drittel an.66 1892 bestanden in Bochum nach Angaben des Bürgermeisters Lange zehn Institutionen zur Betreuung noch nicht schulpflichtiger Kinder. Die rasche Zunahme der Institutionen bis 1892 steht im Zusammenhang mit dem wachsenden Bedürfnis nach Betreuung der noch nicht schulpflichtigen Kinder. Schon die beiden ersten Kinderbewahranstalten konnten kurz nach ihrer Gründung das Bedürfnis der Eltern nach Betreuung ihrer Kinder nicht mehr abdecken Vier der Einrichtungen des Jahres 1892 waren evangelisch und fünf katholisch, eine Kinderbewahranstalt wurde vom Bochumer Verein67 unterhalten und eine Institution war ein privater Kindergarten.68 1902, zehn Jahre später, hatten sich die Kinderbewahranstalten um eine auf elf vermehrt.69 Dieser minimale Anstieg ist vermutlich damit zu erklären, daß nach dem raschen Ausbau der Institutionen das Bedürfnis nach außerhäuslicher Kinderbetreuung erfüllt war. Darüber hinaus ist es möglich, daß die finanziellen Mittel der Träger erschöpft waren und diese keine neuen Projekte in der öffentlichen Kleinkinderziehung in Angriff nehmen konnten. Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende stieg die Zahl der Einrichtungen schnell an. Innnerhalb von sechs Jahren kamen zwischen 1902 und 1908 zehn weitere Kinderbewahranstalten hinzu. Bis 1910 nahm die Bevölkerung zu und die Zahl der Kinder70 stieg im Vergleich zu 1900 um mehr als das Doppelte an. Das Anwachsen der Bevölkerung ist auch im Zusammenhang mit der Eingemeindung von Hamme, Hofstede, Grumme und Wiemelshausen im Jahr 1904 zu sehen. 1908 bestanden in Bochum 21 Kinderbewahranstalten.71 Vier der Institutionen lagen in den eingemeindeten Stadtteilen, so daß innerhalb von sechs Jahren sechs neue Einrichtungen in Alt-Bochum hinzukamen. Die Zunahme der Institutionen stand in einem Zusammenhang mit der wachsenden Kinderzahl und mit den Integrationsproblemen der zuwandernden Bevölkerung. Zwölf der Institutionen waren katholisch, sechs evangelisch und drei wurden von Unternehmen getragen. Der hohe Anteil der katholischen Einrichtungen hatte seine Ursache in der Bevölkerungsstruktur. Bochum war eine katholische Enklave in einem protestantischen Umfeld, und im Jahr 1880 waren weit über die Hälfte der Bevölkerung katholisch. 20.236 Bewohner waren katholisch, 12.506 gehörten der evangelischen Glaubensgemeinschaft an.72 Bis 1910 verschob sich der Anteil zuungunsten 66 Vgl. Stadtarchiv Bochum: Verwaltungsbericht 1880 und 1888. 67 Der Bochumer Verein war ein Eisen- und Stahlwerk mit weitreichenden sozialen Einrichtungen, wie Unfall- und Krankenkasse, Werkswohnungen, firmeneigenen Läden und Nähschule. Vgl. Crew, David: A.a.O., S.160. Märkischer Sprecher 6. März 1888, S.2. 68 Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg I 894. 69 Ebenda. 70 Bei der Zahl der Kinder kommt es zu kleinen Ungenauigkeiten. Wurden bis 1900 die Daten für die 0bis 5-jährigen Kinder angegeben, so bezogen sich die Zahlen 1910 auf die Altersgruppe der 1- bis 6-jährigen Kinder. Vgl. diese Arbeit, S.52. 71 Vgl. Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg II D 60.
78 der Katholiken. Von der Gesamtbevölkerung waren 70.041 Einwohner katholisch, 65.332 dagegen evangelisch.73 Diese Verschiebung stand im Zusammenhang mit den Eingemeindungen. In den umliegenden Gemeinden waren die Katholiken zum Teil in der Minderzahl. Die Betriebseinrichtungen wurden von 600 Kindern besucht, das waren 29% aller Besuchszahlen, ein Hinweis auf das hohe Engagement der Unternehmer im sozialen Bereich. Allerdings stand dieses Engagement im Zusammenhang mit verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Interessen.74 Bis 1912 stieg die Zahl der Kinderbewahranstalten nur noch unwesentlich an. Auch der Bevölkerungszuwachs hatte sich verlangsamt. Bis 1914 nahm die Zahl der Institutionen offensichtlich kaum noch zu. 1916 bestanden - laut amtlichen Unterlagen - 23 Kinderbewahranstalten.75 Bei der Betrachtung der Ausbreitung von Kinderbewahranstalten in Bochum wird der Zusammenhang zur wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung deutlich. Damit geraten auch die unmittelbar daraus resultierenden sozialen Probleme ins Blickfeld. Die Integrations- und Sprachschwierigkeiten der zuwandernden Bevölkerung waren ein wichtiger Anlaß für verschiedene Kreise, sich für die öffentliche Kleinkinderziehung einzusetzen. Die Kommunen gewährten den meisten Einrichtungen einen Zuschuß, die Unternehmer beteiligten sich direkt durch Gründung eigener Institutionen oder indirekt durch Spenden an den Einrichtungen. Die beiden großen Konfessionen unterhielten die meisten Kinderbewahranstalten und stellten das Erziehungspersonal. 3.2.1 Die Anstaltszahlen in Bezug zu den noch nicht schulpflichtigen Kindern Vergleicht man die Ausbreitung der öffentlichen Kleinkinderziehung in den drei Städten mit der demographischen Entwicklung, so scheint sich diese auf den ersten Blick nicht sehr stark zu unterscheiden. Hier wie dort nahm die Zahl der Einrichtungen kontinuierlich zu, sieht man einmal von Krefeld ab, wo sich während der Jahre 1900 bis 1910 andere Entwicklungen abzeichneten.76 Berücksichtigt man allerdings das Verhältnis von bestehenden Einrichtungen zur Zahl der Kleinkinder, so ergeben sich doch deutliche Differenzen.77 72 Silbergleit, Heinrich: Preussens Städte. Denkschrift zum 100jährigen Jubiläum der Städteordnung vom 19. November 1808. Berlin 1908, S.56. 73 Stadtarchiv Bochum: LA 762. 74 Vgl. diese Arbeit, S.111ff. 75 Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg II D 60. 76 Hier wirkte sich verspätet die Stagnation der Bevölkerungsentwicklung des Jahrzehnts zuvor und die lang anhaltende Wirtschaftskrise aus. 77 Da nicht für alle Jahrzehnte Zahlen für die Altersgruppe der 2- bis 6-jährigen Kinder vorlagen, wurde aus Vergleichsgründen für die Jahre 1871 bis 1900 auf die Daten der 0- bis 5-jährigen Kinder und für das Jahr 1910 auf die Altergruppe der 1- bis 6jährigen Kinder zurückgegriffen. Dadurch ergeben sich kleine Ungenauigkeiten, die aber auf diese Weise eine Entwicklungstendenz aufzeigen. Für die Jahre 1890 und 1900 lagen die Daten der 2- bis 6-jährigen vor. Vgl. diese Arbeit, S.52.
79 Kinderbewahranstalten pro 10.000 Kinder im Vergleich Kinderbewahranstalten pro 10.000 Kinder
18
Köln
16
Krefeld
14
8
Bochum
12 10
1890
1900
6 4
2 1871
1880
1910
Jahr
Das Gesamtbild zeigt, daß Köln nur zur Zeit der Gründung des Kaiserreichs einen besseren Versorgungsgrad als die beiden anderen Städte aufzuweisen hatte. Danach löste Krefeld Köln ab, und auch Bochum weist ab 1890 günstigere Zahlen als Köln auf. In diesem Jahr hatte Bochum auch Krefeld überrundet. Danach verschärfte sich die Versorgungssituation für Bochum, während sich die Lage in Krefeld um 1900 verbesserte. In Köln verschlechterte sich die Situation, nach einer kurzzeitigen Verbesserung im Jahr 1890, und näherte sich 1910 wieder fast der Marke von 1880 an. Der Versorgungsstand von 1871 wurde nicht wieder erreicht. Köln verzeichnete insgesamt einen Abwärtstrend in der Ausbreitung von Kinderbewahranstalten verglichen zur Entwicklung der Kleinkinderzahlen, mit Ausnahme des Jahres 1890. Der Rückgang zwischen 1871 und 1880 ist im Zusammenhang mit dem Kulturkampf und den wirtschaftlichen Problemen zu sehen. Nach 1880 kam es zu einer Besserung der Situation, trotz der Verdoppelung der Kinderzahlen. Die Zunahme der Kleinkinder ist zum Teil auf die Eingemeindungen zurückzuführen. In den integrierten Stadtbezirken bestanden vor 1888 fünf Kinderbewahranstalten. Im Rechnungsjahr der Eingliederung kamen vier Institutionen in den neuen Stadtteilen hinzu. Aber auch der schnelle Ausbau der katholischen Einrichtungen nach der Aufhebung des Klostergesetzes trug zur Verbesserung der Versorgungslage bei. Nach 1890 verschlechterte sich die Situation und erreichte 1910 fast wieder den Stand von 1880. In dieser Zeit stieg die Zahl der Institutionen nur langsam an. Die Versorgungsquote in Krefeld verbesserte sich bis 1900, wobei bereits bis 1890 eine allmähliche Aufwärtsentwicklung zu beobachten war. In dem darauffolgenden Jahrzehnt trat dann eine sprunghafte Entfaltung ein. Die Phase des verlangsamten Anwachsens ist im Zusammenhang mit dem raschen Anstieg der Kleinkinderzahl zu sehen. Der Ausbau der öffentlichen Kleinkinderziehung konnte nicht so schnell erfolgen, wie es dem Bevölkerungs-
80 wachstum entsprochen hätte. Offensichtlich war der »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« nicht in der Lage, diesen Mangel auszugleichen. Im folgenden Jahrzehnt wurde keine weitere Institution von dieser Seite eröffnet. Die katholischen Einrichtungen nahmen in diesem Jahrzehnt nach der Aufhebung des Klostergesetzes stark zu. Dies reichte aber nicht aus, um mit der Entwicklung der Kleinkinderzahlen Schritt zu halten. Die Situation der Einrichtungen zwischen 1890 und 1910 ist im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Rückgang der Kleinkinderzahl zu sehen.78 Zwischen 1890 und 1900 wuchs die Zahl der Einrichtungen nochmals stark an. Die positive Versorgungsquote für diesen Zeitraum ist im Zusammenhang mit dem gleichzeitigen Absinken der Zahl der Kleinkinder zu sehen. Im Jahrzehnt danach verschlechterte sich die Versorgungssituation. Die Zahl der Kinderbewahranstalten sank. Aber auch die Quote der Kleinkinder stieg nur geringfügig. In Bochum bestand im ersten Jahrzehnt nur eine Einrichtung, ein Kindergarten, der vermutlich von bürgerlichen Kindern besucht wurde. Mit der Gründung der ersten Kinderbewahranstalten für Arbeiterkinder setzte eine schnelle Verbesserung der Versorgungsquote ein. Nach 1890 verschlechterte sich die Situation kontinuierlich. Diese Entwicklung hing eng mit dem Anstieg der Kinderzahlen zusammen. Nach der Gründung der ersten Kinderbewahranstalten erfolgte ein rascher Ausbau der Institutionen. Im Jahrzehnt danach stagnierten die Zahlen der Einrichtungen fast, die Zahl der Kinder nahm aber weiterhin kontinuierlich zu. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts konnte trotz eines raschen Ausbaus der Institutionen die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung mit dem Anstieg der Zahl der Kinder nicht Schritt halten. 3.2.2 Entwicklung der Besuchszahlen in Köln, Krefeld und Bochum in Bezug zur Entwicklung der Kleinkinder Betrachtet man ausschließlich die wachsende Zahl der Kinderbewahranstalten, so ergibt dies ein ungenaues Bild. Es ist notwendig, die Entwicklung der Besuchszahlen mit einzubeziehen, obwohl sich hier einige Schwierigkeiten ergeben. Aus den angegebenen Daten geht nicht klar hervor, ob es sich um die absolute Zahl der angemeldeten Kinder handelt oder ob man bei der Erhebung einen Stichtag zugrunde legte. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, daß die Daten eventuell nur unter Vorbehalt miteinander zu vergleichen sind. Trotz dieser Problematik werden hier die vorhandenen Zahlen angewandt. Sie spiegeln zumindest eine Entwicklungstendenz wider. Durch die verschiedenen Erhebungstermine kommt es zu kleinen Ungenauigkeiten, insbesondere für Bochum lagen die Erhebungstermine meist zwei Jahre nach den Volkszählungen. Für die drei Städte Köln, Krefeld und Bochum lagen keine durchgehenden Angaben vor. 78
Vgl. diese Arbeit, S.51f, 54f.
81 Jahr
Köln
1871 1880 1890 1900 1910
1.40981 3.152 3.82484 2.92186
79
Krefeld
Bochum
44780 1.237 1.319 1.217 82587
10082 1.00583 1.04185 2.10188
80
Für die Zeit zwischen 1871 und 1880 existieren keine Daten zur Entwicklung der Besuchszahlen in Köln. Es lagen nur Besuchszahlen von 1885 bis 1908 vor. Zwischen 1880 und 1890 verdoppelten sich die Besuchszahlen. Im Jahrzehnt danach verlangsamte sich die Zunahme.89 Im Jahr 1898 erreichte die Zahl der Kinder in den nichtkommunalen Institutionen mit 3.834 Kindern ihren Höhepunkt.90 Die kommunalen Anstalten verzeichneten einen durchschnittlichen Besuch von 483 Kindern. Danach sank die Besuchszahl der nichtkommunalen Einrichtungen kontinuierlich, während die kommunalen leicht anstiegen. In der folgenden Tabelle wird die Entwicklung der Besuchszahlen in Alt-Köln und den Vororten vorgestellt.91 Jahr
städtische Einrichtungen Alt-Köln Stadtbezirke
andere Einrichtungen Alt-Köln Stadtbezirke
1884 1890 1900 1908
585 405 16192 18292
824 1.379 1.924 1.290
626 38692 38192
742 1.359 1.068
Betrachtet man die Entwicklung der Besuchszahlen in den Kinderbewahranstalten in Köln, so fällt das starke Anwachsen zwischen 1884 und 1890 auf. Dies ist auf zwei Faktoren zurückzuführen. Zum einen setzte mit der Aufhebung des Kloster79 Es lagen keine Daten vor. 80 Da in dem Verwaltungsbericht nur die drei Anstalten des »Vereins für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« genannt wurden, bezieht sich die Besuchszahl offensichtlich auf diese Institutionen. 81 Die Daten beziehen sich auf das Jahr 1884. 82 Die Daten beziehen sich auf das Jahr 1881. 83 Die Daten beziehen sich auf das Jahr 1892. 84 Die Daten gelten nur für die nichtstädtischen Institutionen. Für die kommunalen Anstalten wurde eine durchschnittliche Besuchszahl von 541 Kinder angegeben. 85 Die Daten beziehen sich auf das Jahr 1902. 86 Die Daten beziehen sich auf 1908. Es lagen nur die Besuchszahlen für die nichtstädtischen Institutionen vor. Die kommunalen Anstalten hatten eine durchschnittliche Besuchszahl von 563 Kindern. 87 Die Daten beziehen sich auf das Jahr 1912. 88 Die Daten beziehen sich auf das Jahr 1908. 89 Bei den Daten kommt es zu kleinen Ungenauigkeiten, da für die kommunalen Institutionen nur noch die durchschnittlichen Besuchszahlen angegeben wurden. Die durchschnittlichen Besuchszahlen stiegen in den folgenden Jahren an, während die Zahlen der nichtkommunalen Institutionen sanken. 90 Verwaltungsbericht der Stadt Köln 1898/99, S.113f. 91 Verwaltungsberichte der Stadt Köln 1886/87 bis 1908. 92 Es wurden nur noch die durchschnittlichen Besuchszahlen angegeben.
82 gesetzes93 ein verstärkter Ausbau der katholischen Institutionen ein. Die Zahl der katholischen Institutionen wuchs innerhalb von zehn Jahren um zehn Einrichtungen an. Andererseits ist die Erhöhung der Kinderzahlen auf die Eingemeindungen von 1888 zurückzuführen. In Alt-Köln sank die Besuchszahl zwischen 1888 und 1890 um 180 Kinder. Zwischen 1890 und 1900 wuchs die Zahl im damaligen gesamten Kölner Stadtgebiet in den nichtstädtischen Einrichtungen um 1.162 Kinder, bis im Jahr 1908 - dies zeigen die letzten Daten zur Entwicklung der Besuchszahlen - die Zahl in den nichtstädtischen Einrichtungen um 925 Kinder zurückging. Während in den ersten Jahren die Besuchszahlen in den Kinderbewahranstalten in Alt-Köln wesentlich höher lagen als in den Stadtbezirken, glichen sie sich bis 1908 fast an. Dies stand im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Struktur. Die Fabriken siedelten sich vor allem in den Stadtbezirken außerhalb Alt-Kölns an. Die Bevölkerung nahm in den Stadtbezirken stärker als in Alt-Köln zu.94 Im gesamten Kölner Stadtgebiet wuchs die Zahl der Kinder in den nichtstädtischen Institutionen bis 1898 auf 3.751 an, danach sank sie rapide. Es ist zu vermuten, daß die Entwicklung in den städtischen Einrichtungen ähnlich verlief. Für Krefeld lag die Besuchszahl bis 1914 mit Ausnahme der Jahre 1906 bis 1911 vor. Die Datenlage für 1871 ist sehr unsicher.95 Geht man davon aus, daß nur die drei Institutionen des »Vereins zur Errichtung und Unterhaltung von Kleinkinder-Bewahranstalten« bestanden haben, so ist der Zuwachs von 790 Kindern bis 1880 beträchtlich. Berücksichtigt man die beiden katholischen Anstalten mit einer angenommenen Besuchszahl von 298 Kindern,96 so ergibt sich immer noch ein Zuwachs von 492 Kindern. Dieser Zuwachs ist der stärkste im Untersuchungszeitraum. Auf die Entwicklung der Krefelder Besuchszahlen wirkte sich innerhalb dieses Zeitraums das Klostergesetz aus. Beide katholischen Anstalten wurden geschlossen und bis 1880 keine neuen Einrichtungen von dieser Seite eröffnet. Für die beiden geschlossenen katholischen Institutionen schuf allerdings der »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« Ersatzeinrichtungen. Offensichtlich war der Druck hoch, Anstalten zu schaffen, die der Betreuung noch nicht schulpflichtiger Kinder dienten. Das Anwachsen der Kinderzahlen wie auch der Institutionszahlen ist im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Rezession zu sehen. Nach 1880 stiegen die Zahlen nur noch unwesentlich an, mit Ausnahme des Jahres 1898, in dem es einen zahlenmäßigen Anstieg auf 1.404 Kinder gab. Danach sanken die Zahlen wieder. Die
93 Vgl. diese Arbeit, S.103. 94 Vgl. Jasper, Karlbernhard: Die Urbanisierung dargestellt am Beispiel der Stadt Köln. Köln 1977. (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte. Bd.30. Hrsg. vom Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv Köln e.V.), S.40. 95 Vgl. diese Arbeit, S.71. 96 Die angenommene Besuchszahl wurde hier aus der Durchschnittsbesuchszahl der drei Institutionen des Vereins berechnet.
83 Besuchszahlen unterlagen zwar starken Schwankungen, zeigten aber insgesamt eine fallende Tendenz. Für den Zeitraum zwischen 1912 und 1914 lag Zahlenmaterial vor. 1912 besuchten 825 Kinder insgesamt 20 Anstalten, 1913 verteilten sich 900 Kinder auf 21 und 1914 ebenfalls 900 Kinder auf 22 Anstalten. Zieht man die Besuchszahl des Jahres 1906 mit 1.168 Kindern in 15 Anstalten heran97 sowie die Besuchszahlen im Vergleich zu der Zahl der Einrichtungen, so fällt auf, daß die Zahl der Anstalten 1912 und 1914 zunahm, die Kinderzahl jedoch nicht das Niveau von 1906 und früher erreichte. Dies läßt einerseits den Schluß zu, daß die reinen Anstaltszahlen nur ein unzulässiger Indikator für die Entwicklung der Kinderbewahranstalten im Zusammenhang mit der Urbanisierung und der Industrieentwicklung sind. Es müssen also, soweit vorhanden, die Besuchszahlen mit in Betracht gezogen werden. Andererseits ist zu vermuten, daß das Ansteigen der Kinderbewahranstalten und der Rückgang der Besuchszahlen auf eine veränderte pädagogische Einstellung zurückzuführen ist98, das heißt, daß sich in den Kinderbewahranstalten im Zusammenhang mit einer sich verändernden Pädagogik zunehmend kleinere Gruppen durchsetzten. Unter Umständen wurde auch die Zählweise geändert. Dies hätte zur Folge, daß in den ersten Jahren die Zahl der angemeldeten Kinder, in den späteren Jahren jedoch die Durchschnittszahlen veröffentlicht wurden. Für Bochum liegen drei Daten vor, die eine rasche Zunahme der Besuchszahlen innerhalb von 28 Jahren zeigen. Zwischen 1880 und 1892 stiegen die Besuchszahlen stark an, danach stagnierten sie. Zwischen 1902 und 1908 ist wieder ein sprunghaftes Wachstum zu verzeichnen. Die Anstalten wurden 1902 von 1.041 und 1908 von 2.101 Kindern besucht.99 Vergleicht man die Besuchszahl des Jahres 1900 mit Krefeld, so stellt man eine relativ geringe Differenz von 176 Kindern fest, wobei man berücksichtigen muß, daß in der Textilstadt Krefeld ein hoher Prozentsatz weiblicher Arbeitskräfte beschäftigt wurde, während Bochums Industriebetriebe fast ausschließlich Männer einstellten. Ein Vergleich der Besuchszahlen Krefelder und Bochumer Anstalten zeigt, daß in Bochum der Anteil der Kinder, die die Einrichtungen dieser von der Schwerindustrie beherrschten Stadt besuchten, nur um 14% geringer war als in der Textilstadt Krefeld. 1908 hatte Bochum Krefeld zahlenmäßig weit übertroffen. Allerdings fällt auf, daß Bochums Einwohnerzahl bis 1905 höher stieg als in Krefeld und die Zahl der 0bis 5-jährigen Kinder im Vergleich zu Krefeld ebenfalls stark zunahm.100 Im Folgenden gibt eine Grafik die Entwicklung der Besuchszahlen in den Kinderbewahranstalten Aufschluß bezüglich der Zahlen der Kinder in den drei Städten Köln, Krefeld und Bochum. 97 98 99 100
Verwaltungsberichte der Stadt Krefeld 1906, 1912 bis 1914. Vgl. diese Arbeit, S.169ff, 198f, 209. Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg I 894. Vgl. diese Arbeit, S.47ff, 51f.
84 Besuchszahlen pro 10.000 Kinder im Vergleich
Besuchszahlen pro 10.000 Kinder
1600
Köln
1400
Krefeld
1200
800
Bochum
1000
600
400 200
0 Jahr
1880
1890
1900
1910
Stellte sich dieVersorgungsquote in Bezug auf die Anstaltszahlen und die Kleinkinder für Köln schlechter dar als in Krefeld und Bochum, so ergibt sich beim Vergleich der Besuchszahlen ein differenzierteres Bild. 1890 wich die Zahl im Vergleich zu Krefeld nur unerheblich ab, während in Bochum der Versorgungsgrad weit günstiger war. Um 1900 hatte sich die Versorgungsquote zwischen Krefeld und Bochum fast angeglichen. Köln wies dagegen eine schlechtere Versorgung auf. Im Jahr 1910 verschlechterte sich die Situation für Köln101 erheblich, gefolgt von Krefeld102. Für Bochum trat dagegen nur eine leicht rückläufige Entwicklung ein. Insgesamt war jedoch die Betreuungssituation in Bochum am günstigsten und in Köln am schwierigsten. Krefeld nahm eine untere Mittellage ein. Für das Jahr 1890 und 1900 lagen die Daten der Altersgruppe der 2- bis 6-jährigen Kinder vor.103 In Bezug auf die Besuchszahlen ergeben sich in Prozenten folgende Zahlen: Versorgungsgrad der 2- bis 6jährigen Kinder 20
Köln
Prozent
15
Krefeld
10
Bochum
5 0 Jahr
1890
1900
101 Für die kommunalen Einrichtungen lagen nur noch die Durchschnittszahlen vor, so daß vermutlich die Situation besser war. Es kann aber angenommen werden, daß sie in Bezug auf Bochum schlechter war. 102 Die Besuchszahlen beziehen sich auf 1912. Es ist allerdings nicht bekannt, ob sich die Zählweise geändert hatte, so daß diese Zahl nicht ganz vergleichbar mit Köln und Bochum wäre. 103 Vgl. Preußische Statistik. Bd.177. 1.Teil. Berlin 1903, S.140ff.
85 Auch hier werden zwischen den drei Städten Unterschiede deutlich. Während sich im Jahr 1890 die Versorgung für Bochum weit günstiger als für Köln darstellte, war die Lage für Krefeld am schwierigsten. Um 1900 verbesserte sich die Situation für Krefeld leicht. Dagegen verschlechterte sich die Versorgung in Köln und Bochum. Trotzdem war der Versorgungsgrad in Bochum besser als in den beiden anderen Städten. Berücksichtigt man noch, daß in Bochum die Mehrheit der Institutionen von 3- bis 6-jährigen Kindern besucht wurde, so war dort der Versorgungsgrad bei weitem am besten. Während 1890 etwa 24,9% der Kinder dieser Altersgruppe eine Einrichtung besuchten, waren es im Jahr 1900 21,2%. Beim Vergleich der Anstaltsgrößen zeigt sich, daß bis ins Jahr 1900 die Kölner Institutionen im Durchschnitt wesentlich größer waren als in Krefeld und etwas größer als in Bochum. 1910 dagegen verschob sich diese Situation zugunsten Krefelds und Kölns. Bochum wies nun eine weit höhere durchschnittliche Besuchszahl pro Anstalt auf als Krefeld und Köln.104 Beim Vergleich der Kinderbetreuungssituation in Köln und Krefeld fällt auf, daß sich Krefeld ab 1880 in einer etwas günstigeren Position befand. Dies dürfte im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit der verheirateten Frauen stehen, die in Krefeld prozentual höher als in Köln war. Daraus wird klar, daß die Institutionen den Müttern ermöglichen sollten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Aber auch die Hausfrauen sollten, wie verschiedene Unterlagen zeigen, entlastet werden.105 Dies traf insbesondere für Bochum zu, da in Bochum nur wenige verheiratete Frauen erwerbstätig waren. Für die Entwicklung in Bochum sind eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe anzuführen. Sie werden in einem gesonderten Kapitel behandelt.106 Insgesamt war die Versorgungssituation sowohl in Bezug auf die Anstaltszahlen als auch in Bezug auf die Besuchszahlen in Köln schwieriger als in den anderen beiden untersuchten Städten. Dies stand im Zusammenhang mit der spezifischen politischen Situation der drei Städte. In Krefeld standen die protestantischen und katholischen Träger in scharfer Konkurrenz zueinander. Erst nach Aufhebung des Klostergesetzes konnten die katholischen Träger Institutionen auf- und ausbauen. Sowohl in der schnellen Reaktion auf das Klostergesetz, das heißt der raschen Schließungen beider katholischen Einrichtungen nach der Verabschiedung des Gesetzes, als auch in Gesuchen nach 1880 um die Eröffnung neuer katholischer Einrichtungen wird dieser scharfe Gegensatz zwischen den beiden großen Trägern der öffentlichen Kleinkinderziehung in Krefeld deutlich.107 In Bochum war die Konkurrenzsituation zwischen den Konfessionen zwar auch mitverantwortlich für die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung, 104 105 106 107
Vgl. diese Arbeit, S.171f. Vgl. diese Arbeit, S.118f. Vgl. diese Arbeit, S.86ff. Vgl. diese Arbeit, S.71ff, 101f, 104.
86 für den raschen Ausbau der Institutionen, vor allem zwischen 1900 und 1910, standen jedoch die sozialen Probleme im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung im Vordergrund. In Köln dagegen war der Anteil der katholischen Einrichtungen höher als der der evangelischen Institutionen. Dies entsprach der Religionszugehörigkeit der Bevölkerung. Auch traten die sozialen Probleme nicht in der Schärfe wie in Bochum auf. Im Verhältnis zu Krefeld war die Frauenerwerbstätigkeit geringer. Insgesamt wirkten sich diese Faktoren im Vergleich zu Krefeld und Bochum hemmend auf die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Köln aus. 3.3 Exkurs: Die Entwicklung der Kinderbewahranstalten im Bochumer Raum am Beispiel Langendreer Langendreer ist seit 1929 ein Stadtteil von Bochum. Am Beispiel dieses Stadtteils108 läßt sich der Zusammenhang von Industrie- und Bevölkerungsentwicklung sowie der Ausbreitung der Kinderbewahranstalten gut verdeutlichen. Langendreer war bis in das 19. Jahrhundert agrarisch strukturiert. Das eigentliche Dorf behielt bis in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts seinen dörflichen Charakter bei,109 während sich die Außenbezirke ab Mitte des 19. Jahrhunderts rasch zu bedeutenden Industriestandorten entwickelten: »Die ersten Schachtanlagen entstanden weit draußen in den Feldern und fast immer an der Grenze der Gemeinde.«110 Mit der Inbetriebnahme der Eisenbahnlinien am 26. Oktober 1860 von Bochum nach Witten und am 5. Oktober 1862 von Langendreer nach Dortmund löste man die Transportprobleme der Steinkohle, die bis dahin mit Pferdekarren transportiert werden mußte. Die Haltestellen der Eisenbahn und ihre Betriebsanlagen lagen weit außerhalb des Dorfes: »Sie folgten den Standorten der Zechen, denn nicht die Personenbeförderung stand im Vordergrund sondern der Güterverkehr, insbesondere der Kohlentransport.«111 Mit der Inbetriebnahme der Eisenbahn nahm die industrielle Entwicklung in der Gemeinde Langendreer einen Aufschwung, die Kohlenförderung wurde intensiviert, neue Industrieanlagen entstanden. Um die Industrieanlagen entwickelten sich Siedlungen, da aufgrund der schlechten Nahverkehrsverhältnisse die Arbeiter Wohnungen in unmittelbarer Nähe der Arbeitsstätten bevorzugten. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Einwohnerschaft Langendreers im Verhältnis der Dorfbevölkerung zu den Außenbezirken.112 108 Die Gemeinde Langendreer umfaßte die Ortsteile Dorf, Bahnhof, Holz, Kaltenhardt, Crengeldanz und Krone. Die Eingemeindung betraf alle Ortteile außer Crengeldanz u. Krone, die seitdem zu Witten gehören. 109 Kreuzer, Clemens: 1100 Jahre Langendreer-Werne. Werden und Wandel einer Industriestadt. Bochum-Langendreer 1987. S.311. 110 A.a.O., S.210. 111 Ebenda. 112 Stadtarchiv Bochum: AL 1047. AL 243.
87
absolute Zahlen
Demographische Entwicklung in Langendreer 25000
Dorf
20000
Außenbezirke
15000 10000 5000 0 Jahr
1839
1871
1885
1895
1905
In den einzelnen Ortsteilen stellt sich die Bevölkerungsentwicklung ab 1871 wie folgt dar:113 Jahr 1871 1885 1895 1905
Bahnhof 342 2.153 4.105 7.365
Kaltenhardt ca. 160-170 115
1.481 4.378
Holz 114
1.885 2.630 3.565
Krone 115
Crengeldanz 115
über 800 über 100 115 1.481 116
116
Während im Jahr 1839 in Langendreer-Dorf noch zirka zwei Drittel der Gesamtbevölkerung wohnte, kehrte sich diese Zahl bis 1871 in Relation zu den Außenbezirken fast um. Insbesondere der Ortsteil Bahnhof, der 1839 noch nicht bestand, nahm einen raschen Aufschwung. Bis 1905 glich sich dessen Bevölkerungszahl fast der des Dorfes an. Der Bahnhof mit seinen Nebenbetrieben bot vielen Menschen Arbeit. Im Einzugsbereich desselben lagen die Zechen Mansfeld/Urbanus, Vollmond und Gustav Heinrich. 1875 waren auf Mansfeld/Urbanus 374 Arbeitskräfte beschäftigt, 1908 im Gesamtbereich Mansfeld 1.800. Während auf der Zeche Vollmond im Jahr 1875 rund 560 Menschen arbeiteten und 1908 rund 1.400, waren es 1875 auf der Zeche Gustav Heinrich 816 und 1908 rund 1.700 Arbeitskräfte.117 Um 1870 wurde ein Eisenwerk gegründet, das einen raschen Aufschwung nahm, aber in der Gründerkrise stillgelegt werden mußte. Erst 1881 wurde die Produktion wieder aufgenommen. Weitere Mittelbetriebe siedelten sich an. 113 Ebenda. 114 Es liegen keine Daten vor. 115 Vgl. Märkischer Sprecher 1892, Nr.42; 1892, Nr.229; 1894, Nr.98; 1895, Nr.106; 1896, Nr.131. 116 Für beide Ortsteile lagen keine Daten vor. Vermutlich wurden sie zu Kaltenhardt gezählt. Einerseits lagen die drei Ortsteile sehr nahe beieinander. Andererseits stieg die Einwohnerzahl von Kaltenhardt sehr stark an. Vier Jahre später wies die Statistik 3.842 Bewohner aus. 1912 erhöhte sich die Einwohnerzahl auf 3.918. 117 Jäkel, Max: Dorf und Rittersitz Langendreer in alten Zeiten und in der Gegenwart. Langendreer 1908.
88 Die Entwicklung der Kinderbewahranstalten setzte relativ spät ein. Die erste Kinderbewahranstalt wurde im April 1891 in Langendreer-Dorf eröffnet. Ihr folgten jeweils 1892 eine Anstalt im Ortsteil Bahnhof, 1894 in Krone, 1895 in Holz und 1896 in Kaltenhardt.117 Alle Kinderbewahranstalten wurden von der evangelischen Kirche gegründet und unterhalten. Dies entsprach der konfessionellen Bevölkerungsstruktur.118 Erst 1906 eröffnete man eine katholische Anstalt im Ortsteil Bahnhof.119 Die Gemeinde Langendreer stand den Kinderbewahranstalten wohlwollend gegenüber. Sie gewährte bei der Errichtung der Anstalt im Dorf der Erzieherin freie Unterkunft und Verpflegung, »um dadurch eine Verringerung der Unterhaltskosten der Schule herbeizuführen«120. In der Gemeindesitzung vom 2. Februar 1891 ordnete sie an, daß »die Strafgelder, welche für Fehlen in der Gemeindeversammlung eingehen, .. zum Besten der gegründeten Kleinkinderschule verwandt werden« sollten.121 Die Gemeinde übernahm zum Teil außerordentliche Kosten für Festveranstaltungen, notwendige Baumaßnahmen und anderes mehr. Ab 1894 wurden nachweislich von der Kommune jeweils 300.- Mark Zuschuß gewährt, die im Jahr 1903 für die Anstalten Krone, Holz und Kaltenhardt auf 450.Mark erhöht wurden.122 Die Gründe für die Erhöhung wurden nicht angegeben. Die katholische Schwesternstation, deren Tätigkeitsfelder sich neben der Kinderbewahranstalt auf die ambulante Krankenpflege und die Unterweisung nicht mehr schulpflichtiger Mädchen in Handarbeit erstreckte, erhielt jährlich insgesamt für alle Tätigkeiten einen Zuschuß von 900.- Mark.123 Die katholische Pfarrgemeinde subventionierte die Schwesternniederlassung mit 600.- Mark jährlich, die sie direkt an das Mutterhaus in Olpe zahlte. Die Schwesternstation wurde - soweit ersichtlich - von der Kirchengemeinde erbaut und war in ihrem Besitz. Aus den Unterlagen ist nicht ersichtlich, ob die Kinderbewahranstalten Schulgeld beziehungsweise Elternbeiträge erhoben. Auch ist unklar, inwieweit Vereinsbeiträge zum Unterhalt der Anstalten beigetragen haben. Die evangelische Anstalt in Langendreer-Bahnhof wurde auf Initiative von Pfarrer Grügelsiepe errichtet. Der Bau wurde vom Bauunternehmer Maiweg gestiftet. Maiweg war gleichzeitig Mitglied des Gemeindeparlaments. Es finden sich vereinzelt Hinweise, daß auch Zechen Spenden gewährten. Außerdem wurden zur Finanzierung Verlosungen und Wohltätigkeitsveranstaltungen durchgeführt. Im Vorstand der ersten Kinderbewahranstalt in Langendreer-Dorf waren neben den 118
Jahr Dorf kath. evang. Bahnhof kath. evang. 1912 9.329 1.806 7.737 10.222 4.768 5.245 Der Anteil der Katholiken ist in den anderen Ortsteilen noch geringer. Stadtarchiv Bochum: AL 1047. 1905 waren bei einer Gesamtbevölkerung von 7.365 im Ortsteil Bahnhof 3.451 Einwohner katholisch und 3.851 evangelisch. Vgl. ebenda. 119 Vgl. Stadtarchiv Bochum: AL 286. 120 Ebenda. 121 Ebenda. 122 Ebenda. 123 Verwaltungsbericht der Gemeinde Langendreer 1899 bis 1910, S.40.
89 Pastoren Prietsch (Vorsitzender) und Landgrebe die Herren Geißel, Bolte und Middeldorf vertreten. Geißel war Gemeindevorsteher, die beiden anderen waren Gemeindeverordnete.124 Alle Kinderbewahranstalten begannen ihre pädagogische Arbeit in angemieteten Räumen. Vermutlich war der Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten für Kleinkinder so groß, daß man vorläufige Provisorien in Kauf nahm. Während die Anstalten in Dorf, Bahnhof und Kaltenhardt sowie die katholische Institution innerhalb eines Jahres in eigens zu diesem Zweck errichtete Häuser umziehen konnten, wurde in Krone erst 1907 ein eigenes Gebäude errichtet. Für Holz ist ein eigenes Gebäude nicht nachweisbar. Die Kinderbewahranstalten waren insbesondere für Arbeiterkinder zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr gedacht. Der Zweck der Anstalten sei, wie im Schreiben an den Amtmann in Bochum zwecks Mitteilung der Eröffnung der Kinderbewahranstalt Bahnhof mitgeteilt wurde, »nicht Schulunterricht, sondern Beaufsichtigung der Kinder, und den Eltern, besonders denen geringeren Standes, ihre Elternpflichten zu erleichtern«125. Der Pfarrer der katholischen Gemeinde sah den Zweck der Kinderbewahranstalten darin, die Kinder, »die bei der räumlichen Beschränktheit der Arbeiterwohnungen sich gewöhnlich ohne Aufsicht auf den Straßen herumtummeln«, in einer Anstalt einer geordneten Aufsicht und Erziehung zugeführt würden. Die katholische Kinderbewahranstalt war von 9 Uhr bis 12 Uhr und von 2 Uhr bis 4 Uhr geöffnet.126 Die Kinder wurden von zwei Ordensfrauen betreut. Die Öffnungszeiten der evangelischen Institutionen wichen vermutlich von dieser Regelung kaum ab. Die kurzen Öffnungszeiten der Kinderbewahranstalten deuten darauf hin, daß diese Einrichtungen nicht für Kinder erwerbstätiger Mütter gedacht waren. Anscheinend stellten die tatsächlichen und vermeintlichen Gefahren der Straße eine wichtige Motivation zur Errichtung der Anstalten dar. Inwieweit die Problematik der Integration der zuwandernden Bevölkerung eine Rolle gespielt hat, konnte nicht nachgewiesen werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß - nachdem die Notwendigkeit, Anstalten zur Unterbringung noch nicht schulpflichtiger Kinder einzurichten, erkannt wurde - sehr rasch Kinderbewahranstalten entstanden. Innerhalb von sechs Jahren wurden in den verschiedenen Ortsteilen fünf Anstalten gegründet, mit Ausnahme von Crengeldanz, das nur eine geringe Zunahme der Einwohnerzahl aufwies und vermutlich keinen Bedarf für Kleinkindinstitutionen hatte. Danach scheint der Bedarf für solche Institutionen abgedeckt gewesen zu sein. Abgesehen von der katholischen Anstalt im Ortsteil Bahnhof, die aufgrund der Entwicklung der katholischen Gemeinde erst spät (1906) eingerichtet wurde, entstanden bis 1912 keine weiteren Anstalten.127 124 125 126 127
Stadtarchiv Bochum: AL 286. Ebenda. Vgl. ebenda. Verwaltungsbericht des Kreis-Ausschusses des Landkreises Bochum 1911/12, S.112.
90 3.4 Erklärungen zur Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Bochum Betrachtet man die Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Bochum, so erstaunt die hohe Anzahl derselben, weil Frauen und insbesondere Mütter in der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit kaum in Erscheinung traten. Setzt man diese Erkenntnis in Beziehung zu der bisher in der Fachliteratur vertretenen Vorstellung von dem Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Frauenerwerbsarbeit und der Entwicklung der Kinderbewahranstalten, so kann dies für Bochum und unter Umständen für das gesamte Ruhrgebiet sowie der Industriegebiete mit einer ähnlichen Struktur nicht aufrechterhalten werden. Für Bochum sowie vermutlich für das gesamte Ruhrgebiet scheinen andere Faktoren von Bedeutung gewesen zu sein als in Regionen mit anderen Industriezweigen. Als im Rechnungsjahr 1878/79 die ersten Anstalten zur Aufbewahrung und Erziehung von noch nicht schulpflichtigen Kindern gegründet wurden, erlebte Bochum eine schwere wirtschaftliche Krise, verbunden mit einer hohen Zahl von Personen, die von der Armenfürsorge unterstützt werden mußten.128 Die Hauptursache der Verarmung wurde, neben den ökonomischen Gründen, in der moralischen Verkommenheit der armen Bevölkerungsschicht gesucht. Man zog den Schluß, »man müsse den Arbeitern Moral predigen und könne so die Armut - oder doch einen großen Teil der Armut - verhindern.«129 Es wurden »besondere Institutionen gegründet, mit deren Hilfe die Arbeiter ein moralisches Verhalten lernen sollten. Eine der wichtigsten dieser Institutionen war die Sparkasse ... Bei den Arbeitern sollten ›die Tugenden der Mäßigkeit, Ordnungsliebe und Ehrenhaftigkeit‹ genährt werden.«130 In diesem Rahmen der moralischen Erziehung wurde auch der Stadtpark gesehen, der nach Meinung des Bürgermeisters Lange »gerade dadurch, daß die verschiedenartigsten Stände in diesem öffentlichen Stadtparke sich aufhalten und bewegen können .. der Verrohung (Einhalt geboten werden kann; E.K.) moralisch verkommenen Personen (wird; E.K.) ein entsprechender Damm und eine Schranke gesetzt, die in Betreff der moralischen Verbesserung nur wohltätig wirken kann. Gute Beispiele erzeugen gute Sitten.«131 Es ist zu vermuten, daß den Kinderbewahranstalten eine ähnliche Bedeutung zugemessen wurde, daß auch sie zur Verbesserung des moralisch sittlichen Verhaltens der Arbeiterkinder und darüber hinaus zur »Erziehung« der Eltern beitragen sollten. Für die Gründung der ersten Kinderbewahranstalten kann der Satz aus den christlich-socialen Blättern gelten, daß die »Eltern, welche sie (die Kinder; E.K.) gelehrig, zufrieden, gesund heimkommen sehen und ihre Fortschritte bemerken, .. ihre Zärtlichkeit für sie .. verdoppeln und (vielleicht; E.K.) selbst 128 129 130 131
Vgl. diese Arbeit, S.56. Crew, David: A.a.O., S.134. A.a.O., S.135. A.a.O., S.134.
91 besser werden.«132 Die Kinder mußten in der Regel sauber gewaschen und gekleidet, mit einem Taschentuch versehen und mit Frühstück in die Kinderbewahranstalten kommen. Die Mütter, deren Kinder die Kinderbewahranstalten besuchten, wurden »zu Sauberkeit und Ordnung erzogen, was im schwarzen Lande der Kohle, wo die Menge des Kohlenstaubes das Gefühl der Sauberkeit nur zu leicht abstumpft, noch von ganz besonderer Bedeutung ist.«133 Außerdem erhofften sich die Träger und Bezugspersonen, daß die Kinder die Gepflogenheiten der Kinderbewahranstalten auf ihr häusliches Leben übertragen würden: »Einer wohlgemeinten und taktvollen Einwirkung auf die Eltern ist ... ein reiches Feld dargeboten. Ein recht gepflegter Kindergarten erzieht daher nicht blos die ihm anvertrauten Kinder, sondern auch deren Eltern. Letzteres geschieht ... zu einem guten Teile auch durch die Kinder selbst ... Daß Kinder als unbewußte Erzieher der Eltern wirken, ist ein häufig zu beobachtender Fall, der jedoch die Ehrerbietung vor den Eltern durchaus nicht zu beeinträchtigen braucht. Wenn die Eltern sich daheim gegenseitig streiten oder schimpfen, so kann es leicht vorkommen, daß ihr in der Kleinkinderschule an feinere Begriffe von Unschicklichkeit und Unrecht gewöhntes Kind ihnen bittend sagt: ›Aber das darf man doch nicht sagen, sonst ist der liebe Gott betrübt!‹ ... Kinder, welche in der Kleinkinderschule sich daran gewöhnt haben, vor dem Essen zu beten, essen auch zu Hause nicht eher, als bis gebetet worden ist. Auf diese Weise ist in mancher Familie, welche das Beten verlernt hatte, das Tischgebet wieder eingeführt worden und Segen von oben eingekehrt.«134 Die Vertreter der Stadt hatten offensichtlich ein großes Interesse an den privaten Kinderbewahranstalten. Sie förderten ab 1881, noch während des Kulturkampfes, nicht nur die evangelische, sondern auch die katholische Kleinkinderbewahranstalt, obwohl es nach Aussagen des »Märkischen Sprechers« immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Liberalen kam. Die Mehrheit der Stadtverordneten gehörte zu dieser Zeit den Liberalen an. Die mit der Wanderungsbewegung einhergehenden sozialen Probleme wie Bettelei und Kleinkriminalität könnten auch bei dem Ausbau der sozialen Angebote eine Rolle gespielt haben. Kinderbewahranstalten waren in diesem Rahmen ein Angebot, die umherziehenden Arbeiterfamilien seßhaft zu machen und den sozialen Problemen, die durch die Wanderungsbewegungen hervorgerufen wurden, entgegenzuwirken. In Bochum wuchs die Einwohnerzahl kontinuierlich. Zwischen 1900 und 1910 stieg sie sprunghaft an. Die Wohnungsnot und Wohnbedingungen waren entsprechend problematisch und ließen die Honoratioren befürchten, daß diese Situation sich ungünstig auf die Entwicklung des heranwachsenden Menschen 132 O.N.: Die sociale Frage und die Erziehung. III. Kinderbewahr-Anstalten. In: Christlich-sociale Blätter. Nr.2. 7. Februar 1874, S.58. 133 Die christliche Kleinkinderpflege. Nr.9. 1918, S.79. 134 Oberlin-Blatt. Juli-August 1887, S.28f.
92 auswirken würde: »Die schlimmsten Herde für die Entsittlichung der Jugend sind nach meinen Beobachtungen die kasernenartigen, äußerlich schon verkommenen Arbeiterviertel in den größeren Orten, in denen Alles was verkommen ist, sich zusammenfindet, zerrüttete Familien, wilde Ehe und gewerbsmäßige Unzucht. Was in solcher Stickluft aufwächst, das ist nicht allein selbst der Verwilderung preisgegeben, sondern zieht auch durch seinen Einfluß weite Kreise mit hinein in die gleiche Verrohung.«135 Darüber hinaus war die Kinderzahl in Bochum im Vergleich zu Köln und Krefeld nach der Jahrhundertwende sehr hoch,136 so daß die Zunahme der Institutionen auch daraus zu erklären ist. Insgesamt war für die Entwicklung der Kinderbewahranstalten137 eine traditionell andere Einstellung der Arbeitgeber und der Honoratioren der Stadt zu ihren sozialen Verpflichtungen von Bedeutung.138 Im Bemühen, sich einen qualifizierten Arbeiterstamm zu erhalten, entwickelte man betriebliche Sozialprogramme,139 die von der Erstellung von Werkssiedlungen über Unfall- und Krankheitsvorsorge bis zur Versorgung mit Anstalten für Kleinkinder, wie im Bochumer Verein, reichten.140 »An der Spitze der sozialen Hierarchie in Bochum standen unangefochten die Repräsentanten der Schwerindustrie (spätestens seit den siebziger Jahren) - ein Bergwerksdirektor, der Direktor des Bochumer Vereins und ein paar leitende Angestellte. Dann kam eine Gruppe kleinerer Fabrikanten und schließlich etwa ein Dutzend reicherer Kaufleute, die in enger Beziehung zur Schwerindustrie standen.«141 Die Unternehmer waren zum Teil in der Stadtverordnetenversammlung präsent, so daß deren betriebliche Interessen und Besorgnisse mit entscheidend in der Gestaltung der kommunalen Politik waren. In den Frauenvereinen waren die Ehefrauen der Honoratioren tätig, so daß auch da die Interessen der Bochumer Führungsschicht zum Tragen kamen. Mit der Schaffung der Anstalten und anderer sozialer Maßnahmen konnte nicht nur ein Arbeiterstamm erhalten werden, der loyal zu seinem Arbeitgeber hielt, sondern man legte darüber hinaus die Grundlagen für einen zukünftigen Arbeiterstamm, der an Ordnung, Disziplin und Gehorsam gewohnt war. 135 Synodalarchiv Bochum: Verhandlungen der Kreis-Synode Bochum in ihrer Versammlung am 12. December 1882. (Als Manuskript gedruckt). Wetter 1882, S.11. 136 Vgl. diese Arbeit, S.52. 137 Die Kinderbewahranstalten sind im Rahmen der sozialen Daseinsfürsorge zu sehen. Sie waren eine Maßnahme im Maßnahmenbündel zur tatsächlichen Linderung der Not der Unterschicht und dienten gleichzeitig der Befriedung sowie der Förderung der Reproduktion der Arbeiterbevölkerung. Die Kinderbewahranstalten waren in Bochum eines der sozialen Angebote der Frauenvereine. Weitere Aufgaben erstreckten sich auf die Armenpflege, die ambulante Krankenpflege, die Errichtung und Unterhaltung von Haushaltungsschulen für schulentlassene Arbeitertöchter und anderes mehr. 138 Vor der Industrialisierung befanden sich die Bergwerke häufig an entlegenen Orten, so daß Wohnungen und soziale Einrichtungen gestellt werden mußten. Diese Haltung kann sich auch in der Industriegesellschaft auf die Arbeitgeber ausgewirkt haben und damit traditionell eine Rolle bei der Errichtung sozialer Einrichtungen gespielt haben. 139 Bochum stand in Konkurrenz zu den umliegenden Schwerindustriestandorten. Die sozialen Maßnahmen des Bochumer Vereins ähnelten sehr denjenigen der Firma Krupp. 140 Vgl. Crew, David: A.a.O., S.160. 141 A.a.O., S.115.
93 Außerdem waren die Frauen des Ruhrgebietes durch die schwere Hausarbeit - die besonders schmutzige Arbeit der Männer stellte die Frauen vor große Reinigungsprobleme der Kleidung und die verschmutzte Umwelt verlangte große Anstrengungen bei der Sauberhaltung der Wohnung -, die Gartenarbeit und die damit verbundene Vorratshaltung, die Kleintierhaltung sowie durch das Schlafgängerwesen stark ausgelastet. Die häufigen Geburten und die hohe Kinderzahl stellten eine weitere Belastung der Mütter dar. Die Bürgermeister, Pfarrer und andere Personen des öffentlichen Lebens sprachen zum Teil den Müttern die Fähigkeit und den Willen zur Beaufsichtigung und Erziehung ihrer Kinder ab. Sie übersahen dabei, daß die Frauen aufgrund der hohen Belastungen der Kindererziehung nicht die Zeit widmen konnten, wie dies die bürgerliche Schicht von den Arbeitermüttern forderte. Aufgrund der beengten Wohnverhältnisse hielten sich die Kinder häufig auf den Straßen auf. Dies war aus der Sicht der städtischen Oberschicht problematisch, nicht nur weil die Kinder Unfallgefahren ausgesetzt waren, sondern auch weil sie aufgrund der mangelnden Erziehung - nach Auffassung der Honoratioren - sittlich zu verwahrlosen drohten. Diesen Problemen sollten die Kinderbewahranstalten vorbeugen und gleichzeitig die Kinder zu fleißigen, disziplinierten Arbeitern erziehen. Andererseits halfen sie einem offensichtlichen Notstand ab und gewährten den Müttern, einige Stunden des Tages ihrer häuslichen Arbeit nachzugehen, ohne von der Sorge um ihre Kinder erfüllt zu sein. Außerdem ermöglichte die stundenweise außerhäusliche Beaufsichtigung und Erziehung in dafür eingerichteten Institutionen dem schichtarbeitenden Vater und den Schlafgängern einige Stunden Ruhe während des Tages. Darüber hinaus muß die Arbeit der Anstalten in einem Zusammenhang mit der Integrationsproblematik der zuwandernden Bevölkerung gesehen werden. Die Institutionen sollten den Kindern ermöglichen, die deutsche Sprache zu erlernen und sich in ihre neue städtische Umgebung zu integrieren. 3.5 Exkurs: Der Kulturkampf in seiner Bedeutung für die Kinderbewahranstalten Der Begriff »Kulturkampf« meint die Auseinandersetzung zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche nach der Gründung des Deutschen Reiches (1871) bis zur endgültigen Beilegung der Auseinandersetzungen im Jahr 1888. »Die äußeren Anlässe zur Entzündung des großen Streites waren dieselben wie im übrigen Mitteleuropa: Die Veränderungen in der Kirche durch das Vatikanum, das Ende des Kirchenstaates und die Bildung einer konfessionellen Partei. Im Unterschied zu den anderen mitteleuropäischen Staaten spielte nicht nur das Vatikanum, sondern die Gründung der klerikalen Partei die ausschlaggebende Rolle. Die Angriffslust der ultramontanen Partei reizte den Kampfwillen des Kanz-
94 lers und wirkte herausfordernd auf die siegreiche Zeitbewegung.«142 Das Zentrum vertrat nicht nur die kirchlichen Interessen, die den Interessen der liberalen Partei entgegenstanden, sondern in ihr fanden sich auch Gruppen mit autonomen Tendenzen, wie die Welfen, Elsässer und Polen.143 Der eigentliche Auslöser, der zu den Auseinandersetzungen führte, war das Unfehlbarkeitsdogma. Der Konflikt entzündete sich also an einem Bereich, für den Kirche und Staat gleichermaßen verantwortlich waren. Die Kirche verhängte gegen geistliche Staatsbeamte, die sich nicht dem neuen Dogma unterwarfen, kirchliche Strafen bis hin zum Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis und zur Exkommunikation. Diese kirchliche Maßnahme kollidierte mit den staatlichen Ansprüchen und Rechten. Der Kulturkampf verlief über drei Phasen: Erste Phase: Verabschiedung und Inkrafttreten der Kulturkampfgesetze, Jahreswende 1871/72 bis Juni 1876. In dieser wurden eine Reihe von Gesetzen erlassen, die die Rechte und die Handlungsfreiheit der katholischen Kirche einschränkten.144 Zweite Phase: Stagnation, Juni 1876 bis Juli 1880. Dritte Phase: Beendigung des Kulturkampfes, Juli 1880 bis April 1887.145 Im Zusammenhang mit dieser Arbeit ist das sogenannte Klostergesetz vom 31. Mai 1875 von Bedeutung, das alle Orden und Kongregationen mit Ausnahme der krankenpflegenden vom preußischen Hoheitsgebiet ausschloß.146 Die Ursachen, die zu dieser gesetzgeberischen Maßnahme führten, sind zum einen in der raschen Ausbreitung der Orden, vor allem der Kongregationen, und dem starken Anstieg der Ordensmitglieder zu suchen.147 Andererseits sah man in ihnen eine Gefahr, da sie »entweder unter (der direkten, E.K.) Leitung auswärtiger Oberer, welche theils in Rom, theils in Frankreich ihre Residenz haben, (stehen; E.K.) 142 Franz Georg: Kulturkampf. Staat und katholische Kirche in Mitteleuropa von der Säkularisation bis zum Abschluß des preußischen Kulturkampfes. München 1954, S.191. 143 Vgl. a.a.O., S.190. Morsey, Rudolf: Der Kulturkampf. In: Anton Rauscher (Hrsg.): Der soziale und politische Katholizismus. Bd.1. München 1981, S.76ff. Hahn, Ludwig: Geschichte des »Kulturkampfes« in Preußen. In Aktenstücken dargestellt. Berlin 1881, S.43ff. 144 Vgl. Hahn, Ludwig: A.a.O., S.58ff. Morsey, Rudolf: A.a.O., S.78ff. Kißling, Johannes B.: Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche. Bd. 2. Die Kulturkampfgesetzgebung 1871-1874. Freiburg im Breisgau 1913. Bd. 3. Der Kampf gegen den passiven Widerstand. Die Friedensverhandlungen. Freiburg 1916. 145 Franz, Georg: A.a.O., S.223. 146 Schon im Gesetz vom 4. Juli 1872 wurden die Jesuiten und verwandte Orden vom Gebiet des Deutschen Reiches ausgeschlossen. Im gleichen Jahr wurden katholische Schulschwestern per Erlaß vom 15. Juni von der Lehrtätigkeit an öffentlichen Volksschulen ausgeschlossen. Vgl. Hahn, Ludwig: A.a.O., S.78ff und S.107f. 147 Anstieg der Ordensmitglieder: Jahr männlich weiblich 1855 334 579 1874 1.032 7.763 1874 bestanden 85 Orden, davon 32 Männer- und 53 Frauenorden sowie 829 Kongregationen, 46 für Männer, 788 für Frauen. Vgl. Schmidt-Volkmar, Erich: Der Kulturkampf in Deutschland 1871-1890, S.142.
95 oder sie sind der bischöflichen Aufsicht unterworfen. Damit ist nicht nur jede Garantie dafür ausgeschlossen, daß sie nicht zu staatsgefährlichen Zwecken und zur Förderung der immer mehr hervortretenden staatsfeindlichen Tendenzen des höheren katholischen Clerus benutzt, sondern wie die Verhältnisse jetzt liegen, ist die dringendste Gefahr vorhanden, daß sie als nur zu geeignete Instrumente für derartige Bestrebungen gebraucht werden.«148 Darüber hinaus bestand die Sorge, daß die Ordensleute durch ihre Tätigkeit in der Seelsorge, Krankenpflege, im Unterrichts- und Erziehungswesen einen starken Einfluß auf die katholische Bevölkerung ausüben würden:149 »Vor allem ist es unvermeidlich, daß die Jugenderziehung, welche von geistlichen Genossenschaften unter dem Einflusse der römischen Oberen geleitet wird, bei der jetzigen Stellung Roms zum preußischen Staate entschieden Gefahren für die Entwicklung des Volksgeistes hervorruft.«150 In den Kulturkampfgesetzen vom 31. Mai 1875151 waren mit Ausnahme der krankenpflegenden alle Orden und ordensähnlichen Kongregationen152 »von dem Gebiete der preußischen Monarchie ausgeschlossen«153. Die krankenpflegenden Orden und ordensähnlichen Kongregationen wurden unter staatliche Aufsicht gestellt, konnten jederzeit durch königliche Verordnung aufgelöst werden, die Aufnahme neuer Mitglieder war nur mit behördlicher Genehmigung möglich. So wurde 1875 eine Einkleidung bei den »Cellitinnen von der hl. Elisabeth in der Antonsgasse in Köln« verboten. Erst 1882 waren Neuaufnahmen möglich.154 Die Cellitinnen in St. Maria in der Kupfergasse in Köln standen ebenso unter »einer verschärften Staatsaufsicht. Wenn auch die Aufnahme neuer Mitglieder nicht verboten war, so wurde sie doch tatsächlich sehr gehemmt und das vorher rasche Wachstum setzte sich nicht fort. 1882 wurden zum erstenmal seit 1875 wieder Novizinnen eingekleidet. Während des Kulturkampfes konnte keine neue Filiale übernommen werden.«155 Die Vinzentinerinnen aus dem Mutterhaus Köln-Nippes schickten ihre Kandidatinnen nach Graz.156 Sie mußten die erzieherischen Aufgaben aufgeben und ihre Tätigkeit auf die »Alten- und Krankenpflege konzentrieren. Bis dahin hatten sie die Krankenpflege primär ambulant, in Kriegslazaretten 148 Aus den Motiven des Gesetzentwurfs. In: Hahn, Ludwig: A.a.O., S.183. 149 A.a.O., S.184. 150 Die geistlichen Orden und der kirchliche Kampf. Provinzial Correspondenz vom 5. Mai 1875. In: Hahn, Ludwig: A.a.O., S.186. 151 Vgl. Gesetz, betreffend die geistlichen Orden und ordensähnlichen Kongregationen der katholischen Kirche. Vom 31. Mai 1875. In: Die preußisch-deutsche Kirchengesetzgebung seit 1871. Münster 1876, S.66ff. 152 Die Orden unterliegen der Approbation durch den päpstlichen Stuhl, die Kongregationen sind nicht päpstlich approbiert. Letztere legen deswegen nur die einfachen Gelübde ab. 153 Gesetz, betreffend die geistlichen Orden ... a.a.O., S.66. 154 Kloster zur heiligen Elisabeth. Mutterhaus der Augustinerinnen-Cellitinnen, Köln. (Hrsg.): 675 Jahre Kloster zur heiligen Elisabeth in Köln. Köln o.J., S.64. 155 Gatz, Erwin: Kirche und Krankenpflege im 19. Jahrhundert. Katholische Bewegung und karitativer Aufbruch in den preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen. München, Paderborn, Wien 1971, S.120. 156 Vgl. Archiv der Vinzentinerinnen in Köln-Nippes: Chronik: Niederlassungen der Töchter der christlichen Liebe vom heiligen Vinzenz von Paul, S.11.
96 und in Seuchenhospitälern ausgeübt. Seit dem Kulturkampf aber wurde die Krankenhauspflege zu einem wesentlichen Programmpunkt der Kölner Provinz.«157 Auch die Vinzentinerinnen aus dem Mutterhaus Paderborn konnten keine neuen Novizinnen mehr aufnehmen: »Bis zum Kulturkampf hatten sie 39 Filialen im Bistum Paderborn übernommen. Der Schwerpunkt der Tätigkeit lag bei der Hospitalpflege, der Arbeit in Pflegeanstalten und Waisenhäuser ... Ein schwerer Rückschlag brachte der Kulturkampf. Die schon vorbereitete Übersiedlung der Genossenschaftsleitung nach Belgien wurde zwar nicht notwendig, doch mußten die Schwestern alle erzieherischen Arbeitsbereiche aufgeben. Eine Reihe von Niederlassungen wurden geschlossen und die Arbeit auf die Armen- und Krankenpflege eingestellt.«158 Die Schwestern von der christlichen Liebe (Mutterhaus Paderborn) traf das Klostergesetz besonders schwer, da sie vorwiegend in der Unterrichts- und Erziehungsarbeit tätig waren. Es gelang ihnen in Anrath, auf die Krankenpflege auszuweichen: »Fast alle anderen Filialen mußten aufgegeben werden. Daher wanderten bis 1879 168 Schwestern nach New Orleans/USA (seit 1873) und Chile (seit 1874) aus, wo sie blühende Provinzen gründeten. Das Mutterhaus wurde 1876 von Paderborn nach Mont St. Guibert bei Brüssel verlegt.«159 Die Franziskanerinnen (Mutterhaus Aachen) blieben aufgrund ihrer vorwiegend krankenpflegerischen Tätigkeit weitgehend von großen Schwierigkeiten verschont. Aber auch sie mußten ihre anderen Tätigkeiten aufgeben. In Belgien gründeten sie eine neue Niederlassung mit Noviziat.160 Verschiedene »Genossenschaften hatten Novizinnen als Dienstboten getarnt in ihren Anstalten beschäftigt«161. »Die wenigen Kandidatinnen« der Barmherzigen Schwestern von der hl. Elisabeth zu Essen, »die während dieser Jahre den Eintritt ins Postulat wagten, mußten oft sechs Jahre und noch länger den Dienst als Hausangestellte versehen, bevor eine Aufnahme ins Noviziat stattfinden konnte. Sie trugen die Tracht der Postulantinnen nur in der Klausur und verdienten als staatlich angestellte ›Kinderfräulein‹ pro Tag 33 Pfennige, für die sie pünktlich eine Quittung unterschreiben mußten. Als gute ›Kinder der Genossenschaft‹ machten sie jedoch auf dieses ›verdiente› Geld keinen Anspruch.«162 Es ist zu vermuten, daß diese Postulantinnen als Erzieherinnen in den ehemals von Ordensfrauen geleiteten Erziehungsinstitutionen tätig waren und damit das Gesetz vom 31. Mai 1875 umgingen. Insgesamt kann angenommen werden, daß der Bestand und die Tätigkeiten des Ordens von der taktischen Geschicklichkeit der Ordensleiterin in den Verhandlungen mit den staatlichen Behörden abhing. Gleichzeitig mußte man die 157 Gatz, Erwin: A.a.O., S.348. 158 Ebenda. 159 A.a.O., S.445. 160 Vgl. a.a.O., S.593. 161 Ebenda. 162 O.N.: Die Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern von der hl. Elisabeth zu Essen. Zusammengestellt von den Schwestern der Genossenschaft. Siegburg 1957, S.81.
97 Fähigkeit besitzen, Gesetze zu umgehen, sie zugleich aber formal einzuhalten. Auch dürfte der strengere oder nachsichtigere Umgang der jeweiligen Aufsichtsbehörden, von der städtischen bis hin zu staatlichen, bedeutsam für das Überleben der verschiedenen Orden gewesen sein. Trotz aller Geschicklichkeit, Gesetze zu umgehen, Kandidatinnen ins Ausland zum Noviziat zu schicken und anderen Gegenmaßnahmen durch die Ordensoberen, gab es nur wenige Neueintritte, auch weil Mut dazu gehörte, sich in der unsicheren Lage auf ein Klosterleben einzulassen. Aufgrund des mangelnden Nachwuchses kam es in den Niederlassungen zu einer Überalterung der Ordensmitglieder; verstorbene Mitglieder konnten nicht ersetzt werden. Deshalb konnten, trotz der Beschränkung der Arbeitsmöglichkeiten auf die stationäre und ambulante Krankenpflege, mit zunehmender Zeit die Aufgaben nur unter großer physischer und psychischer Anstrengung geleistet werden. An Neugründungen von Niederlassungen war aufgrund der Gesetzeslage in der Regel nicht zu denken. Auch nach den Milderungsgesetzen von 1880 mußten die Orden und ordensähnlichen Kongregationen aufgrund des Nachwuchsmangels häufig auf Neugründungen von Niederlassungen und auf die Übernahme karitativer Tätigkeiten verzichten. Im Zusammenhang mit der Debatte im Abgeordnetenhaus um die Neuregelung der staatlichen Ordensüberwachung bemerkte Freiherr von Heereman: »Ueberall ist jetzt Mangel an Kräften, überall können die Pflegekräfte nicht das mehr leisten, was sie übernommen haben, weil sie zu sehr in ihrer Zahl vermindert sind, weil sie nicht mehr das Personal haben, welches nöthig ist.«163 »Es sind so viele Kräfte krank und schwach geworden, so viele gestorben und den Anstrengungen ihrer Thätigkeit erlegen, daß es zur Zeit nicht mehr in der Möglichkeit liegt, neue Anstalten und neue Niederlassungen mit hinreichenden Kräften zu versehen.«164 In vielen Pfarreien mußte vorerst auf den Einsatz von Ordensfrauen verzichtet werden. »Schon 1881 hätte der Pfarrer von St. Severin (Köln; E.K.) gern die Vinzentinerinnen zurückgehabt, die ihm vom Staat genommen worden waren. Aus Schwesternmangel war es jedoch nicht möglich.«165 3.5.1 Die Situation bei Inkrafttreten des Klostergesetzes Die nichtkrankenpflegenden Orden und ordensähnlichen Kongregationen waren innerhalb von sechs Monaten aufzulösen. »Der Minister der geistlichen Angelegenheiten ist ermächtigt, diese Frist für Niederlassungen, welche sich mit dem Unterricht und der Erziehung der Jugend beschäftigen, um für deren Ersatz durch anderweitige Anstalten und Einrichtungen Zeit zu lassen, bis auf vier Jahre zu 163 164 165
Kölnische Volkszeitung. Zweites Blatt. Nr.353. 1880. Ebenda. Chronik: A.a.O., S.27.
98 verlängern.«166 Die Übergangsfristen richteten sich nach den spezifischen Situationen in den Städten. Sie hingen davon ab, ob die Kommune Interesse an den von Ordensfrauen geleiteten Anstalten hatte, beziehungsweise inwieweit andere Träger - Kommunen, Vereine, Pfarreien usw. - in der Lage waren, pädagogische Anstalten zu übernehmen oder zu errichten. Entscheidend war häufig das Interesse an der öffentlichen Kleinkinderziehung. Ein entscheidender Aspekt stellte der Mangel an geeignetem und ausgebildetem Personal dar. Es kostete die Träger häufig große Mühe, weltliches Personal zu finden. Am Beispiel der beiden Kinderbewahranstalten des Frauenvereins St. Mauritius sowie des Frauenvereins St. Andreas und St. Ursula läßt sich zeigen, daß die Auflösung der Ordensniederlassungen über eine längere Zeit hinausgeschoben werden konnte. Im Schreiben vom 26. November 1875 des Ministeriums des Innern wird die Königliche Regierung aufgefordert, »für den Ersatz der von den Genossenschaften geleiteten Kleinkinderbewahranstalten (in St. Mauritius; E.K.) Sorge zu tragen. Zu diesem Zwecke ist mit den städtischen Behörden, welche soweit erhellt, die Errichtung derartiger Anstalten bereits ins Auge gefaßt haben, ungesäumt ins Benehmen zu treten.«167 Am 21. März 1876 erhalten die beiden Ordensniederlassungen eine Aufenthalts- und Tätigkeitsverlängerung: »Bei der Ausführung des Gesetzes vom 31. Mai v. Js. hat sich mehrfach die Nothwendigkeit ergeben, die für die Auflösung der klösterlichen Niederlassung vorgesehene sechsmonatige Auflösungsfrist gemäß § 1 Abt.3 zu verlängern, um für den Ersatz der von ihnen bisher geübten Unterrichts- und Erziehungstätigkeit durch entsprechende Einrichtungen Zeit zu lassen und eine anderweitige Unterbringung der Kinder zu ermöglichen.«168 Am 1. Juli 1877 verließen die Schwestern vom armen Kinde Jesu laut Meldung des Frauenvereins von St. Mauritius die Niederlassung. Die Leitung der Kinderbewahrschule war einer weltlichen Bezugsperson anvertraut worden: »Leider ist es uns nicht gelungen, eine Anfangs in Aussicht genommene geprüfte Lehrerin zu gewinnen, da deren geschwächte Gesundheit sich noch nicht genug gekräftigt hatte. Allein bei diesen 2-4jährigen Kindern bedarf es ja auch nicht so sehr eines planmäßigen Unterrichts, als vielmehr einer mütterlichen Pflege und Ueberwachung bei kindlicher Beschäftigung. Hierfür glaubten wir in Frl. Barb. Ettling die geeignete Person gefunden zu haben; sie war in ähnlichen Anstalten thätig und uns als gewissenhaft und zuverlässig empfohlen.«169 Dem Frauenverein von St. Andreas und Ursula war es bis zum 1. Juni 1877 gelungen, eine »geprüfte Lehrerin (die mit; E.K.) .. hoher Obrigkeitlicher Genehmigung eine Kleinkinderbewahranstalt in der Lungengasse hierselbst bis zum Ausbruch des französischen Krieges für eigene 166 167 168 169
Gesetz, betreffend die geistlichen Orden ... a.a.O., S.67. Historisches Archiv der Stadt Köln: XII.1.736. Ebenda. Ebenda.
99 Rechnung geleitet« hat, einzustellen.170 Da die Ordensschwestern für die Anstalt weiterhin als unentbehrlich galten, konnten sie vorerst in der Niederlassung bleiben. Der Frauenverein wurde in einem Schreiben vom 9. Mai 1877 verpflichtet, bis zum 1. August des Jahres nachzuweisen, »daß er sich alle Mühe gegeben, an Stelle der Schwestern .. weltliches Personal zu beschaffen«.171 Verbunden war diese Aufforderung mit der Drohung der sofortigen Schließung der Institution, falls das Bemühen um weltlichen Ersatz für die Ordensfrauen nicht nachgewiesen werden könne. Am 1. Oktober 1877 wurde die Niederlassung laut Handbuch der Erzdiözese Köln aufgelöst.172 Es gab offensichtlich einige Ordensniederlassungen, die offiziell ihre Tätigkeit auf die Krankenpflege begrenzten und damit die Chance hatten, weiterzubestehen. Vielfach nahmen diese Niederlassungen Kleinkinder zur Betreuung auf, ohne offizielle Genehmigung. In Krefeld wurde gegen Ende des Jahres 1877 von den Behörden festgestellt, daß die Cellitinnen, die offiziell die Kinderbewahranstalt aufgegeben hatten und ihren Tätigkeitsbereich auf die Krankenpflege beschränkten, 20 bis 30 Kinder im Alter von 6 Monaten bis 5 Jahren tagsüber versorgten und verpflegten, während deren Eltern außerhäuslich einer Erwerbsarbeit nachgingen.173 Wie lange diese nicht genehmigte Institution bestehen blieb, ist nicht nachzuweisen. Es ist aber zu vermuten, daß, nachdem die behördlichen Stellen über diesen Sachverhalt informiert waren, die Ordensfrauen unter Androhung der Aufhebung der Ordensniederlassung schnell die unerlaubte Tätigkeit aufgaben. Eine Reihe von Anstalten wurden in Preußen geschlossen, ohne daß ein entsprechender Ersatz von anderer Seite geschaffen wurde.174 Insgesamt ging die Gesamtzahl der Kinderbewahranstalten und der Plätze zurück. Dies stellte insbesondere die außerhäuslich erwerbstätigen Mütter vor große Probleme. 3.5.2 Die Auswirkungen des Klostergesetzes auf die öffentliche Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum In Köln wurden mehrere Kinderbewahranstalten, die unter der Leitung von Ordensfrauen standen, geschlossen.175 Nach verschiedenen Unterlagen mußten drei bis vier Institutionen aufgegeben werden. Katholischen Unterlagen zufolge löste man am 27. Juni 1877 eine Kleinkindeinrichtung auf, die unter Leitung der Genossenschaft vom armen Kinde Jesu stand. Drei Einrichtungen der Vinzentinerinnen mußten zwischen dem 1. Oktober 1876 und dem 1. Oktober 1877 aufgege170 171 172 173 174 175
Ebenda. Ebenda. Vgl. Handbuch der Erzdiözese Köln. Vierzehnte Auflage. Köln 1878. Vgl. Stadtarchiv Krefeld: 4.1140. Vgl. Bongartz, Arn.: A.a.O. Vgl. Handbuch der Erzdiözese Köln. A.a.O.
100 ben werden.176 Nach kommunalen Unterlagen wurden nur maximal drei katholische Einrichtungen geschlossen.177 Die Arbeit innerhalb pädagogischer Institutionen - Waisenpflege, Nähschule, Elementar- und höhere Töchterschulen - war untersagt. In Köln-Nippes mußten die Vinzentinerinnen die Kinderbewahranstalt ebenfalls aufgeben. Nach Bongartz leitete die Genossenschaft vom armen Kinde Jesu drei Kinderbewahranstalten. In Folge der Auflösung ist »eine Bewahrschule von 60 Kindern eingegangen ... die beiden anderen Bewahrschulen fristen jetzt ein kümmerliches Dasein«178. Vermutlich waren die beiden letztgenannten unter der Trägerschaft von Vereinen oder wurden von Vereinen übernommen und unter weltlicher Leitung weitergeführt. Die Bewahranstalt St. Severin, geleitet von Vinzentinerinnen, wurde bis zur Auflösung von 150 Kindern besucht.179 Zum Teil wurden die von den Ordensfrauen geleiteten Anstalten durch die städtischen ersetzt. Im Jahr 1876 gründete der Fröbelverein eine Einrichtung für Arbeiterkinder, die Stadt Köln eröffnete zwei weitere Anstalten. 1879 wurde die Anstalt des Fröbelvereins von der Stadt übernommen. Dies waren die ersten kommunalen Anstalten in Köln, deren Errichtung als Folge der Kulturkampfgesetze zu sehen sind. Die Finanzierung der städtischen Anstalten wurde, abgesehen von den Elternbeiträgen, von der Kommune getragen. In den Stadtverordnetenversammlungen wurden immer wieder Debatten geführt, inwieweit die Finanzierung von Institutionen für Kleinkinder Aufgabe der Stadt sei.180 Über die Notwendigkeit dieser Einrichtung gab es keine Meinungsverschiedenheit, außer zur Trägerschaft. Kurz nachdem die Klostergesetze erlassen wurden, setzten sich einige liberale Abgeordnete vehement für die kommunalen Kinderbewahranstalten ein, während katholische Abgeordnete die freie Trägerschaft befürworteten. Nach dem Erlaß der Milderungsgesetze im Jahr 1880 nahmen einige liberale Abgeordnete allmählich Abstand von dieser Haltung. Hier kam die zunehmend mangelnde Bereitschaft zum Tragen, kommunale Einrichtungen zu finanzieren, nachdem die Kulturkampfauseinandersetzungen beigelegt waren. Insgesamt stellte auch nach dem Kulturkampf die Stadt die wenigsten Anstalten. Einige kommunale Anstalten sind von den ehemals selbständigen Stadtteilen errichtet worden und mußten bei der Eingemeindung mit übernommen werden. Zwei kommunale Anstalten waren 176
Vgl. ebenda. Bongartz, Arn.: A.a.O., S.104f. Hohn, Wilhelm: A.a.O., S.156. 177 Vgl. Adreßbuch für Köln 1871-1878. Historisches Archiv der Stadt Köln: VII.1.249 und VII.1.736. Die Sachlage läßt sich nach den vorhandenen Unterlagen nicht mehr aufklären. 178 Bongartz, Arn.: A.a.O., S.104. Aus den verschiedenen Unterlagen ergeben sich Differenzen. Vgl. diese Arbeit, S.68. Die Anzahl der Schließung von Kinderbewahranstalten bewegt sich zwischen drei und vier Institutionen. Inwieweit die Angaben von Bongartz stimmen, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Sie geben aber einen Eindruck über die damalige Situation. 179 A.a.O., S.103. 180 Stadtarchiv Köln: Abt.40-44.320.I, Abt.VII.1.736.
101 ganztags geöffnet, die Kinder erhielten - wie vermutlich vordem in den katholischen Anstalten - ein Mittagessen. Die inhaltlich pädagogische Arbeit wurde nach dem Fröbelschen System durchgeführt, wobei zu fragen bleibt, was darunter verstanden wurde, beziehungsweise inwieweit bei den hohen Besucherzahlen - für die städtische Anstalt der Macchabäerstraße zum Beispiel wurden 100 Kinder genannt - von einer solchen Pädagogik gesprochen werden konnte. Vermutlich wurden einige Fröbelsche Spiele und Beschäftigungen übernommen, ohne jedoch die gesamte Pädagogik Fröbels und deren Intentionen zu berücksichtigen. In Krefeld bestanden bis zur Ordensgesetzgebung von 1875 zwei katholische Anstalten, die von Ordensfrauen geleitet wurden. Die Niederlassung der Schwestern von der christlichen Liebe fiel unter dieses Gesetz. Die höhere Mädchenschule wurde im Herbst 1875 ebenso aufgelöst wie die von ihr geführte Kinderbewahranstalt.181 Die Niederlassung der Cellitinnen aus der Kupfergasse in Köln blieb bestehen. Die Ordensfrauen gaben bei Erlaß die Kinderbewahranstalt auf und beschränkten sich auf die Krankenpflege.182 Für die geschlossenen Anstalten wurde Ersatz vom »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« geschaffen. 1875 bestanden fünf Kinderbewahranstalten, die unter der Trägerschaft des oben angeführten Vereins standen. Eine weitere Anstalt wurde im Rechnungsjahr 1878/79 von dem gleichen Verein errichtet. Die Kinderbewahranstalten des Vereins sind der evangelischen Richtung zuzurechnen. Die Mitglieder des Vorstandes waren mennonitisch oder evangelisch, die Leiterinnen der Institutionen gehörten der evangelischen Konfession an. Mit der Schließung der beiden von den Ordensfrauen geleiteten Anstalten bestand keine katholische Einrichtung mehr in Krefeld. Zwei weitere private, von katholischen Frauen gegründete und geleitete Anstalten kamen 1879/80 und 1880/81 hinzu.183 Während die Situation im Bereich der öffentlichen Kleinkinderziehung im Sinne der Klostergesetzgebung in kurzer Zeit geregelt wurde, war die Situation im Bereich der Waisenhäuser schwieriger. Ein Ersatz für die beiden Institute zur Betreuung von Waisen, beziehungsweise für Kinder aus verwahrlosten Familien, konnte nicht so rasch erfolgen. Die Ordensniederlassung der Barmherzigen Schwestern vom hl. Borromäus mit Mutterhaus in Trier wurde am 1. Oktober 1877 aufgehoben, das Waisenhaus ging in weltliche Leitung über.184 Am 27. September 1877 gaben die Franziskanerinnen die Betreuung der Kinder aus verwahrlosten Familien im 181 Archiv der Schwestern von der christlichen Liebe in Paderborn: Kurze Übersicht über die Kindergartentätigkeit. 182 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf: Regierung Düsseldorf 29365. 183 Verwaltungsberichte der Stadt Krefeld 1875 bis 1880/81. 184 Vgl. Bongartz, Arn.: A.a.O., S.104. Die Heimat. Jg.56. Dezember 1985. Sonderdruck, S.60. Hohn, Wilhelm: Die Nancy-Trierer Borromäerinnen in Deutschland 1810-1899. Ein Beitrag zur Statistik und Geschichte der barmherzigen Schwestern ihres wohltätigen u. sozialen Wirkens. Trier 1899, S.106. Handbuch der Erzdiözese Köln: A.a.O. Staatsarchiv Münster: A.a.O.
102 Marien-Institut auf. Die schulpflichtigen Kinder kehrten zu ihren Eltern oder Verwandten zurück, die älteren Mädchen wurden als Dienstmädchen vermittelt.185 In Bochum bestanden zwischen 1871 und 1875 keine Kinderbewahranstalten.186 Erst im Jahr 1879 wurde die erste katholische Kinderbewahranstalt durch den katholischen Frauenverein gegründet. Die Leitung der Anstalten übertrug man einer weltlichen Erzieherin.187 Beim Vergleich der Situation von Köln und Krefeld fällt auf, daß die von Ordensfrauen geleiteten Kölner Kleinkindinstitutionen insgesamt bis zu zwei Jahre später dem Klostergesetz zum Opfer fielen als in Krefeld. Darüber hinaus wurden einige Anstalten in Köln unter Leitung weltlicher Erzieherinnen weitergeführt. In Köln schuf die Kommune zwar Ersatz für die von Ordensfrauen geleiteten Kinderbewahranstalten, offensichtlich konnte man aber den Bedarf nicht abdecken. In Krefeld war das katholische Engagement im Bereich der öffentlichen Kleinkinderziehung noch nicht gefestigt. Katholische Einrichtungen waren zu Beginn der Klostergesetze unterrepräsentiert. Der »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« schuf Ersatz für die beiden katholischen Institutionen. Er konnte insgesamt auf eine knapp 40-jährige Tradition zurückblicken. Die erste Anstalt wurde 1838 gegründet. Weiter unterscheiden sich Köln und Krefeld durch ihre wirtschaftliche Struktur. Während in Köln schon sehr früh die Industrialisierung einsetzte und Betriebe entstanden, die vorwiegend zur Frauenindustrie gezählt werden müssen - zum Beispiel die Firma Stollwerck -, begann in Krefeld erst in den achtziger Jahren die Umstellung von der Haus- zur Fabrikindustrie. Demnach ist anzunehmen, daß in Köln der Druck, öffentliche Kleinkinderziehung fortzuführen oder zu ersetzen, nachdem die Klostergesetze erlassen waren, stärker als in Krefeld war. Die kommunalen Einrichtungen in Köln wurden in der Nähe der geschlossenen katholischen Institutionen eröffnet. Zwei der Institutionen befanden sich in der Südstadt, eine am Rande der Neustadt. Alle drei Anstalten waren in der Nähe von Niederlassungen der Nahrungs- und Genußmittelindustrie sowie der Textilindustrie. In Krefeld entstand erst nach und nach Ersatz für die geschlossenen katholischen Einrichtungen. Bis 1880 wuchsen in Krefeld die Institutionen insgesamt an, während in Köln die Zahl der Anstalten leicht rückläufig war. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß das sogenannte Klostergesetz vom 31. Mai 1875 häufig eine finanzielle Belastung der Kommunen mit sich brachte. Die Kommunen mußten entweder Ersatz durch städtische Einrichtungen schaffen oder durch Zuschüsse zu den Kosten der auf privater Basis geführten Kinderbewahranstalten beitragen. Es ist anzunehmen, daß die Finanzmittel der Anstalten äußerst knapp waren, da die Einrichtungen fast ausschließlich 185 Stadtarchiv Krefeld: 4.1498. 186 Für die Anstalt, die in der Geschichte der Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern angeführt wird, konnten bisher keine weiteren Anhaltspunkte gefunden werden. 187 Märkischer Sprecher 4. Juli 1879.
103 von Vereinen oder Pfarreien getragen wurden. Außerdem war das Gehalt der weltlichen Erzieherinnen höher als der Betrag, der von den Trägern für die Tätigkeit der Ordensfrauen an die jeweiligen Mutterhäuser zu entrichten war.188 Die Anstalten waren aufgrund der schwierigen finanziellen Situation vermutlich häufig von der Schließung bedroht, auch weil die Kosten aufgrund der schlechten Einkommenssituation der Arbeiterfamilien nicht auf die Eltern abzuwälzen waren. Wurde kein Ersatz für die von den Ordensfrauen geleiteten Anstalten geschaffen, waren die Eltern vor schwierige Probleme gestellt bezüglich der Unterbringung ihrer Kinder während ihrer außerhäuslichen Berufstätigkeit. Der Einsatz durch die Kommune für die von Ordensfrauen geleiteten Institutionen und für den Erhalt der Schwesternniederlassungen hing in hohem Maße von den politischen Verhältnissen ab. In Köln bestanden offensichtlich starke Differenzen zwischen den regierenden Liberalen und der Zentrumsfraktion. In diesem Zusammenhang muß das Engagement für die kommunalen Kinderbewahranstalten gesehen werden, das ausschließlich von Vertretern der Liberalen ausging. Die Abgeordneten des Zentrums bekämpften die kommunalen Institutionen und setzten sich für katholische Einrichtungen ein. In Krefeld wurde die Regierung durch die Liberalen gestellt. Zwischen den Liberalen und den Katholiken kam es zu scharfen Auseinandersetzungen. In diesem Zusammenhang ist die Schließung der katholischen Einrichtungen unmittelbar nach der Verabschiedung des Klostergesetzes zu sehen. Einige Abgeordnete des liberalen Flügels waren Mitglieder des »Vereins zur Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten«, der Ersatz für die geschlossenen katholischen Institutionen schuf. In Köln und Krefeld entstanden bis zur Aufhebung der Klostergesetzgebung keine neuen katholischen Anstalten. In Bochum entstand 1878 die erste Kinderbewahranstalt, die evangelisch war. 1879 wurde die erste katholische Einrichtung unter weltlicher Leitung eröffnet. Die Kommune, die ebenfalls liberal regiert wurde, unterstützte auch die katholischen Institutionen. 3.5.3 Die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum nach der Aufhebung des Klostergesetzes In den Kulturkampfmilderungsgesetzen vom 14. Juli 1880 wurde »die Errichtung neuer Niederlassungen« gestattet und gleichzeitig erlaubt, »die Pflege und Unterweisung von Kindern, die sich noch nicht im schulpflichtigen Alter befinden, als Nebenthätigkeit zu übernehmen«189. Die Errichtung neuer Niederlassungen und dieÜbernahme vonKinderbewahranstaltenbedurftender staatlichenGenehmigung. 188 Vgl. diese Arbeit, S.134, 138f. 189 Hinschius, Paul: Das preußische Kirchenrecht im Gebiete des allgemeinen Landrechts. Abdruck von Theil II Titel II aus der achten Auflage von C.F. Koch’s Kommentar zum Allgemeinen Landrecht. Berlin und Leipzig 1884, S.503f.
104 In Köln wurde Ende 1881 in der Pfarrei St. Severin erneut eine Kinderbewahranstalt unter Leitung von Ordensfrauen - den Schwestern von der christlichen Liebe - eröffnet.190 Mitte 1882 übernahmen die Vinzentinerinnen die neugegründete Anstalt von St. Ursula.191 In Krefeld stellten die katholischen Frauen am 15. Juli 1881 einen Antrag auf Neueröffnung zweier katholischer Kinderbewahranstalten unter Leitung von Ordensfrauen: »Nachdem vor mehreren Jahren die von den Schwestern des hl. Augustinus (Cellitinnen/Köln Kupfergasse; E.K.) und die von den Schwestern der christlichen Liebe geleiteten Kleinkinder-Bewahrschulen aufgelöst werden mußten, hat bis jetzt an die Stelle dieser so segensreich wirkenden Anstalten kein entsprechender Ersatz treten können.«192 In Krefeld sei »keine katholische Kleinkinder-Bewahrschule« vorhanden, und die »katholischen Frauen Crefelds haben sich nun die Aufgabe gestellt, diesem für so viele unbemittelte Eltern so empfindlichen Nothstande möglichst abzuhelfen. Dieselben beabsichtigen zu dem Ende, vorerst zwei katholische Kleinkinder-Bewahrschulen einzurichten, wovon die eine wieder von den Schwestern des hl. Augustinus übernommen, und die andere den Schwestern des hl. Franziskus anvertraut würde.«193 Ende 1881 erteilt das »Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten« den Cellitinnen und den Franziskanerinnen die Erlaubnis zur Führung von Kinderbewahranstalten.194 In Bochum übernahmen erst 1888 die Vinzentinerinnen (Mutterhaus Paderborn) die von den katholischen Frauenvereinen gegründeten vier Kleinkinderbewahranstalten.195 Die relativ späte Übernahme der katholischen Anstalten durch die Ordensfrauen in Bochum mag mit der dortigen spezifischen Situation der katholischen Kirche zusammenhängen. Bis zum Jahr 1888 bestand nur eine Pfarrei, 1888 wurde dieselbe in drei Stadt- und vier Landpfarreien unterteilt. Der Kulturkampf verhinderte eine frühere Aufteilung.196 Vergleicht man die Entwicklung der Kinderbewahranstalten in den drei untersuchten Städten Köln, Krefeld und Bochum, so fällt auf, daß in Köln der Bestand der katholischen Institutionen zurückging. Für diese wurde durch die Kommune Ersatz geschaffen.
190 Archiv der Vinzentinerinnen in Köln-Nippes: 100 Jahre St. Josephshaus in der Severinpfarre. In: Pfarrbrief St. Severin Köln. Köln Oktober 1981, S.13. 191 Archiv der Vinzentinerinnen in Köln-Nippes: Chronik: A.a.O. 192 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf: Regierung Düsseldorf 29365. 193 Ebenda. 194 Ebenda. 195 Staatsarchiv Münster: Oberpräsidium 2029.2. Regierung Arnsberg II E 811. 196 Bistumsarchiv Essen: Festschrift aus Anlaß des 75jährigen Jubiläums der katholischen Pfarrkirche St. Joseph Bochum. Akte: Festschriften. Dekanat Bochum, S.7.
105 Mit der Aufhebung der Klostergesetze wurden in Köln wieder Anstalten unter Leitung von Ordensfrauen gegründet. Die Vinzentinerinnen betrieben eine massive Abwerbepolitik zugunsten der eigenen Anstalten und zum Nachteil kommunaler Einrichtungen: »Die Nonnen der Anstalt von St. Ursula seien sozusagen von Haus zu Haus gegangen, wo kleine Kinder gewesen, und hatten die Eltern beredet, die Kinder nur ja nicht in die städtischen Anstalten zu schicken, sondern zu ihnen, und Kinder, welche die städtischen Anstalten besucht hätten, herauszunehmen und zu ihnen, den Nonnen, zu senden.«197 In Krefeld ersetzten sowohl der »Verein für Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« als auch Privatpersonen die von den Ordensfrauen aufgegebenen Anstalten im Laufe der Zeit. Aber bei Betrachtung der Besuchszahlen fällt auf, daß sich in den Jahren 1879/80 auf 1881/82 die Kinderzahl fast verdoppelte.198 Danach sanken die Besuchszahlen wieder. Durchschnittlich wurden die Anstalten bis 1890 jährlich von 1.232 Kindern besucht. Die Zahl der Anstalten wuchs auf 14 an. Die Entwicklung der Kinderbewahranstalten im Kulturkampf ist auch im Zusammenhang mit der Strukturveränderung der Krefelder Wirtschaft zu sehen.199 Es ist aber zu vermuten, daß eine Werbung für die neuerrichteten katholischen Institutionen durch katholische Frauen und Ordensmitglieder für die hohe Besuchszahl im Jahr 1881/82 mitverantwortlich war. Im folgenden Etatsjahr sank die Besuchszahl um 143 Kinder auf 1.177, stieg aber im Jahr darauf wieder an. In Bochum setzte die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung für Arbeiterkinder erst im Jahr 1878 ein. 3.5.4 Die Situation der katholischen Kinderbewahranstalten nach der Aufhebung des Klostergesetzes Die katholischen Orden und ordensähnlichen Kongregationen standen auch nach der Beilegung des Kulturkampfes im Jahr 1888 unter staatlicher Kontrolle. Sie waren verpflichtet, für die Eröffnung von Niederlassungen und für die Aufnahme neuer Tätigkeiten, also auch der Übernahme von Kinderbewahranstalten, die ministerielle Genehmigung einzuholen. Ebenso mußten die jeweiligen Mitglieder der Ordensniederlassungen angegeben werden. Eine ähnliche Maßnahme läßt sich für den protestantischen und außerkirchlichen Bereich nicht finden. Auch wurde den katholischen Ordensfrauen die Erlaubnis erteilt, ausschließlich katholische Kinder aufzunehmen, während vergleichbare Regelungen für den evange-
197 198 199
Historisches Archiv der Stadt Köln: Abt.40-44.320.I. Jahr 1875 1877/78 1878/79 1879/80 Besuchszahl 557 833 649 1.114 Stadtarchiv Krefeld: Verwaltungsberichte 1875 bis 1881. Vgl. diese Arbeit, S.54f.
1880/81 1.237
1881/82 1.320
106 lischen Bereich nicht zu erkennen sind: »Die in der Gemeinde (Bochum-Langendreer; E.K.) bestehenden fünf Kleinkinderbewahrschulen sind sämtlich Anstalten evangelischer .. (Konfession; E.K.), dabei nehmen sie allerdings auch Andersgläubige auf.«200 Es scheint aber umgekehrt üblich gewesen zu sein, daß bei der sicher seltenen Aufnahme evangelischer Kinder in katholische Kinderbewahranstalten eine Einverständniserklärung der evangelischen Pfarrgemeinde eingeholt werden mußte. Das Presbyterium der evangelischen Gemeinde von HeerdtOberkassel gibt 1907 seine Einverständniserklärung: »Auf ihre werte Anfrage vom 14. August betreffend die Kleinkinderbewahrschule in Oberkassel erklärt das Presbyterium der Evangelischen Gemeinde: ›Daß gegen den Besuch der von den Dominikanerinnen geleiteten Kleinkinderbewahrschule durch evangelische Kinder unter der Voraussetzung, daß eine konfessionelle Beeinflußung der Kinder nicht stattfindet und solange eine vom Presbyterium schon heute als erstrebenswert bezeichnete evangelische Kleinkinderschule noch nicht besteht, Bedenken nicht erhoben werden.‹«201 In dem Bewilligungsschreiben der staatlichen Behörde wurde katholischen Ordensfrauen ausdrücklich nur die Pflege und Unterweisung katholischer noch nicht schulpflichtiger Kinder erlaubt. 3.6 Betriebliche Kinderbewahranstalten In allen drei Städten bestanden neben den konfessionellen, den vereinseigenen und kommunalen Kinderbewahranstalten auch vereinzelt Betriebseinrichtungen202 für die Kinder der Mitarbeiter. Die betrieblichen Institutionen waren in den gesamten Rahmen der sozialen Daseinsfürsorge des Unternehmens eingebettet, die von der betrieblichen Krankenversorgung, über Konsumanstalten und die Bereitstellung von Wohnraum bis hin zu Handarbeits- und Kochschulen reichten. In Köln unterhielten die Firma »Felten & Guilleaume«, in Krefeld die »Königliche Eisenbahndirektion« und in Bochum der »Bochumer Verein«, die »Kruppsche Verwaltung« und die »Harpener Bergbau-Actiengesellschaft« Institutionen zur Betreuung von Kleinkindern. Am Beispiel der Betriebskinderbewahranstalt von Felten & Guilleaume lassen sich die Interessen, die mit dem sozialen Engagement verknüpft waren, exemplarisch aufzeigen. Die Firma Felten & Guilleaume entstand schon vor 1848 aus einer Drahtseilfabrikation und Hanfseilerei: »Im Jahr 1874 verlegte Felten & Guilleaume die Drahtzieherei und mit ihr die gesamte Metallverarbeitung nach Mülheim in das 1873 erbaute Carlswerk.«203 In der Produktion der Drahtzieherei wurden nur wenige Frauen beschäftigt. Im Carlswerk waren im April 1895 nur 200 201 202 203
Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg II E 326. Landeshauptarchiv Koblenz: Rheinisches Oberpräsidium 403. 10881. Vgl. diese Arbeit, S.135f. Jasper, Karlbernhard: A.a.O., S.25.
107 3% Frauen beschäftigt: »Dieser Anteil von drei Prozent blieb etwa zwanzig Jahre lang unverändert. Der Grund für den fast völligen Verzicht auf - billige - weibliche Arbeitskräfte bestand offenbar darin, daß mit der bis weit in die achtziger Jahre noch handwerklich geprägten - und deshalb durch ein männliches Berufsbild bestimmten - Draht- und Kabelherstellung schwere körperliche Arbeit verbunden war.«204 Die beschäftigten Frauen waren vor allem als Putzfrauen tätig. Mit den betrieblichen Sozialleistungen verfolgte die Firma Felten & Guilleaume ein patriarchalisches, pädagogisches Konzept. Der Arbeiter und seine Familie sollte zur Sparsamkeit und Mäßigkeit erzogen werden. Er sollte sich mit »seiner« Firma identifizieren. Die betrieblichen sozialen Einrichtungen umfaßten die gesamte Familie der Betriebsangehörigen vom noch nicht schulpflichtigen Kind bis zum erwachsenen Arbeiter und seiner Frau. Sie reichten von der Betriebskrankenkasse, dem Unterstützungsfonds für unverschuldet in Not geratene Arbeiter, der Sparkasse, dem Werkswohnungsbau, der Konsumanstalt, der Suppenanstalt, einer mehrtägigen Wöchnerinnenverpflegung bis zur betrieblichen Betreuung von Kindern, Jugendlichen und Frauen.205 Es wurde eine Kinderbewahranstalt eröffnet, daneben bestanden ein Hort, eine Handarbeitsschule sowie eine Bügel-, Näh- und Flickschule für nicht mehr schulpflichtige Mädchen und Frauen. »Durch eine Stiftung des Gründers, Herrn Kommerzienrat Franz Carl Guilleaume, wurde im Jahr 1889 für die Kinder der Arbeiter des Carlswerks ohne Unterschied der Konfession eine Bewahrschule errichtet, die nach dem Stifter den Namen Carlsstift erhielt.«206 Durch die Kleinkindinstitution sollten die Eltern entlastet werden, »damit sie ungehindert dem Broterwerb nachgehen können und der Vater nach anstrengender Nachtschicht am Tage die nötige Ruhe hat«207. Die Leitung der Anstalt übernahmen die Vinzentinerinnen aus dem Mutterhaus Nippes. In einem Vertrag zwischen dem Unternehmen und dem Mutterhaus der Vinzentinerinnen vom 1. Januar 1900 wurde die Finanzierung der Kinderbewahranstalt und der Handarbeitsschule geregelt: »Die Sorge für das Lokal, für die Einrichtung und Unterhaltung der Anstalt überhaupt übernimmt die Firma Felten & Guilleaume Carlswerk Actien-Gesellschaft. Die Schwestern haben im Carlsstift freie Station, und für jede angestellte Schwester ... zahlt die Firma Felten & Guilleaume Carlswerk-Actien-Gesellschaft an das Kloster als Entschädigung für Kleidung jährlich M: 150.-.«208 Später wurde der Betrag erhöht.
204 Schulz, Günther: Die Arbeiter und Angestellten bei Felten & Guilleaume. Sozialgeschichtliche Untersuchung eines Kölner Industrieunternehmens im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Wiesbaden 1979. (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Hrsg. von Wilhelm Treue und Hans Pohl. Beiheft 13), S.206. 205 Vgl. a.a.O., S.250ff. 206 Firmenarchiv Felten & Guilleaume: II.A.c.2.E. 207 Ebenda. 208 Ebenda.
108 Die Kinderbewahranstalt wurde für 250 Kinder im Alter von 2 1/2 Jahren bis 6 Jahren eingerichtet. Sie war mit zwei großen Räumen und einem Spielplatz ausgestattet. Ab 1908 hatte die Institution den ganzen Tag geöffnet, die Kinder wurden mittags mit einer warmen Suppe verpflegt: »Dadurch wird es auch den entfernt wohnenden Arbeitern ermöglicht, die Kinder in der Bewahrschule unterzubringen.«209 Die Kinder wurden mit Spielen, Singen und Marschierübungen beschäftigt. Sie wurden zum fehlerfreien Sprechen, zur Reinlichkeit, Ordnungsliebe, Höflichkeit, Frömmigkeit und zum Gehorsam angehalten.210 Die Spiele und Tätigkeiten, die mit den Kindern durchgeführt wurden, waren streng reglementiert.211 Die betrieblichen Kinderbewahranstalten dienten dazu, als Teil einer betrieblichen sozialen Daseinsfürsorge den Arbeitern die Firma attraktiv zu machen, ihnen eine Identifikation mit dem Unternehmen zu ermöglichen, die Fluktuation einzudämmen und damit eine Stammarbeiterschaft zu erhalten. Die pädagogischen Einrichtungen wie die Kinderbewahranstalt, der Hort und die Handarbeitsschulen sollten die Kinder frühzeitig an Tugenden wie Fleiß, Ordnung und Disziplin gewöhnen, die einerseits für das spätere Arbeiterleben unabdingbar waren, andererseits aber für das Leben in Arbeiterfamilien auch im Interesse der Arbeitgeber als unersetzlich galten. 3.7 Zusammenfassung Bei dem Vergleich der öffentlichen Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum wird deutlich, daß verschiedene Faktoren die Entwicklung beeinflußt haben. Die wirtschaftliche Entwicklung ist von besonderer Bedeutung. Dies zeigt sich insbesondere beim Vergleich der Städte Krefeld und Bochum. Während der Hochkonjunktur zwischen 1895 und 1913 stieg in Bochum die Zahl der Institutionen erheblich an, insbesondere im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende nahm ihre Zahl drastisch zu. Die Krefelder Wirtschaft dagegen erlebte in dieser Phase eine Depression. Die Zahl der Einrichtungen ging nach der Jahrhundertwende stark zurück. Beim Vergleich der Besuchszahlen dieser beiden Städte wird das noch deutlicher. Bochums Einrichtungen weisen weit höhere Besuchszahlen als Krefeld auf. Die soziale Situation war eng mit der ökonomischen Struktur verknüpft. Die Wohnungsbedingungen in Köln und Bochum scheinen zum Teil wesentlich schwieriger gewesen zu sein als in Krefeld. In letzterer wurden teilweise die besonderen Bedürfnisse der Heimweber nach hellen, großen Räumen berücksichtigt. Dies stand auch im Zusammenhang mit dem langandauernden Umstellungs209 210 211
Ebenda. Ebenda. Vgl. diese Arbeit, S.232ff.
109 prozeß von der Haus- auf die Fabrikproduktion. Im Ruhrgebiet war vermutlich die gesundheitliche Belastung der Kinder höher als in Krefeld, aufgrund des Schadstoffausstoßes der Schwerindustrie. Diese Faktoren wirkten sich auf die Entwicklung der Kinderbewahranstalten aus. Die Ursachen für die Ausbreitung der öffentlichen Kleinkinderziehung sind auch im Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung zu suchen, die auf das engste mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der Eingemeindungspolitik verknüpft war. Die Zahlen der Einrichtungen stiegen entsprechend der demographischen Entwicklung an. In Krefeld trat der Abbau der Institutionen mit einer fast zehnjährigen Verspätung ein, die Zahl der Besucher fiel jedoch kontinuierlich, mit Ausnahme einer kurzzeitigen Erhöhung im Jahr 1908. Die Zahl der Kleinkinder stieg in Bochum stärker an als in Krefeld und Köln. In Krefeld sank sie nach 1880. Die zahlenmäßige Zunahme der Kinder in Bochum stand in einem engen Zusammenhang mit den Anpassungsschwierigkeiten der zuwandernden Bevölkerung, insbesondere in Bezug auf die Geburtenhäufigkeit. Die gesamtpolitische Tendenz war mitbestimmend für die Situation der öffentlichen Kleinkinderziehung in den drei Städten. In erster Linie ist hier der Kulturkampf zu nennen, der in der ersten Phase des Kaiserreichs das Wachstum der Kinderbewahranstalten bremste. Aber auch über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg schränkte er die Freiheiten der katholischen Orden und Kongregationen ein und behinderte die Arbeit in den Institutionen. Kommunalpolitische Interessen und Entwicklungen sind mit für den Ausbau der öffentlichen Kleinkindererziehung verantwortlich. Die Auseinandersetzungen in Köln um die Einführung und Beibehaltung der kommunalen Anstalten machen dies deutlich. Aber auch die Finanzsituation der Städte sind ein nicht unbedeutender Faktor in diesem Zusammenhang. Betrachtet man die Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum, so ergeben sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten, aber auch unterschiedliche Entwicklungen, die durch die spezifische Situation der drei Städte bedingt waren. In Köln ist ein kontinuierlicher Anstieg von 1871 bis 1914 um 331% zu verzeichnen. Dagegen weist Krefeld zwischen 1871 und 1914 eine Steigerung um 633% auf. Geht man von fünf Institutionen212 im Jahr 1871 aus, verringerte sich die Zuwachsrate auf 340%. Allerdings ging zwischen 1902 und 1908 die Zahl der Anstalten zurück, um dann erneut anzusteigen. Diese Entwicklung ist im Zusammenhang mit den langanhaltenden wirtschaftlichen Problemen zu sehen. Mitte der 90er Jahre kam es zu einer schwerwiegenden ökonomischen Rezession, die bis ins 20. Jahrhundert andauerte. Bis zur Jahrhundertwende stagnierte die Bevölkerungszahl, die Quote der Kleinkinder sank. Die Zunahme der Einwohnerzahl nach der Jahrhundertwende steht vor allem in einem Zusammenhang mit den Ein212
Vgl. diese Arbeit, S.71.
110 gemeindungen. Der Rückgang der Kinderbewahranstalten trat mit einer mehrjährigen Verspätung ein. Der Anstieg der Institutionszahlen fiel mit einer Belebung der wirtschaftlichen Entwicklung zusammen. In Bochum stieg die Zahl der Kleinkindinstitutionen insgesamt um 2100% an. Die Entwicklung der Kinderbewahranstalten setzte ab 1878 ein, nahm dann in der ersten Phase nach der Gründung und nach 1902 eine rasche Entwicklung. Dieser Verlauf ist einerseits mit der demographischen Entwicklung der noch nicht schulpflichtigen Kinder zu sehen, die weit stärker als in Krefeld und Köln war, andererseits mit der spezifischen Situation in Bochum. Die Frauen waren besonderen Arbeitsbelastungen im Haushalt ausgesetzt, so daß sie ihren Erziehungsaufgaben, nach Meinung der bürgerlichen Schicht, nur unvollkommen nachkommen konnten. Die beengten Wohnverhältnisse führten dazu, daß die Kinder auf die Straße ausweichen mußten. Die Integrationsprobleme der aus ostdeutschen und polnischen Gebieten zugewanderten Familien mit ihren spezifischen Sprachschwierigkeiten dürften bei dem Engagement der wohlhabenden Bürger für die Kinderbewahranstalten eine weitere Rolle gespielt haben. Der Kulturkampf bedeutete für Köln und Krefeld einen Einschnitt in die Entwicklung der Institutionen. Insgesamt verzeichnete man in beiden Städten einen Rückgang, der in Krefeld aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung schneller als in Köln überwunden wurde. Die katholischen Einrichtungen konnten erst einige Jahre nach der Aufhebung des Klostergesetzes ihre Position innerhalb der öffentlichen Kleinkinderziehung zurückgewinnen und ausbauen. Für Bochum war der Kulturkampf von geringer Bedeutung, da die erste Einrichtung zwei Jahre vor der Aufhebung des Klostergesetzes eröffnet wurde. Die verschiedenen Ursachen für die Ausbreitung der öffentlichen Kleinkinderziehung innerhalb der drei Städte waren in sozialen Beweggründen (drohende physische und psychische Verwahrlosung) zu suchen, aber auch - wie in der Analyse deutlich wurde - mit demographischen, politischen und ökonomischen Entwicklungen verknüpft. Im nächsten Kapitel werden die Motive der Honoratioren und damit die Hintergründe der jeweiligen Entwicklung der Kleinkindinstitutionen, die in den drei Städten von Bedeutung waren, untersucht.
4 Motive der Befürworter der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum
Die Motive, wie sie in den verschiedenen Verlautbarungen der Verantwortlichen aus Politik1, Wirtschaft, Kirchen und freien Verbänden2 zum Ausdruck kommen, zeigen deren Interessen an der quantitativen und qualitativen Entwicklung der Institutionen zur Beaufsichtigung und Erziehung noch nicht schulpflichtiger Arbeiterkinder. Sie geben einen Hinweis auf den Begründungszusammenhang zu der Ausbreitung der Institutionen, der inhaltlichen Entwicklung pädagogischer Konzepte und deren Umsetzung in die Praxis. Die sozialen Probleme, die sich im Kaiserreich aufgrund der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung in den Städten zunehmend verschärften, führten zu weitreichenden pädagogischen und karitativen Hilfsmaßnahmen. Diese sollten zur Entspannung des Konfliktpotentials beitragen, ohne jedoch die schwierige Lebenssituation der Unterschichtbevölkerung grundlegend zu verändern. In einer Versammlung von Presbytern, Lehrern und Geistlichen im März 1885 in Bochum, an der 500 Personen - unter anderem auch der Regierungspräsident von Arnsburg, Landräte, Bürgermeister und Verwaltungsbeamte - teilnahmen, wies Oberbürgermeister Bollmann in seinem Referat »Wie sollen Kirche, Schule und Verwaltungsbehörden auf die bessere Gestaltung der häuslichen Verhältnisse unseres Volkes einwirken?« der Familie grundlegende Aufgaben zu. »1. Die Familie bildet die Grundlage der politischen Gemeinden und setzt sich aus den letzteren der Gesammtverband des Staates zusammen. 2. Wird das Familienband durch Verfall der häuslichen Verhältnisse gelockert, so leiden Staat und Gemeinde und ziehen ihrem Ruin entgegen. 3. Deshalb haben auch die Communal- und Staats-Verwaltungsbehörden neben der Kirche und Schule die ernste Pflicht, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln auf eine bessere Gestaltung der häuslichen Verhältnisse unseres Volkes hinzuwirken. 4. Diese Mittel bestehen vornehmlich in dem äußeren Schutz der Kirche und Schule und ihrer Lehrer sowie in öffentlichen Einrichtungen, welche der Verwilderung der Sitten und dem Verfall der äußeren Verhältnisse in den Familien vorbeugen und bereits eingetretene Nothstände dieser Art zu beseitigen geeignet sind. Als solche Einrichtungen können bezeichnet werden: 1 Dies betraf sowohl die Ebene des Staates als auch der Kommunen. 2 Die meisten freien Verbände, wie zum Beispiel die verschiedenen bürgerlichen Frauenvereine, der Vaterländische Frauenverein, Vereine zur Förderung der Kinderbewahranstalten, waren in der Regel mit den Vertretern aus Politik, Wirtschaft und/oder Kirche auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Vgl. diese Arbeit, S.72, 132ff, 136ff.
E. Krieg, Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt, DOI 10.1007/978-3-531-92848-7_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
112 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Die Beschaffung gesunder Wohnungen und öffentlicher sanitärer Anlagen. Kinderbewahranstalten für ärmere Volksklassen. Gute Fortbildungs- und sogenannte Haushaltungsschulen. Gute Volksbibliotheken und Sparkassen. Förderung des Lehrlings-, Herbergs- und Innungswesens sowie der Volksbildungs-Vereine. Möglichste Einschränkung der überhand nehmenden öffentlichen Lustbarkeiten. Verminderung der Branntweinschänken, Anlage von Kaffee- und Theeschänken, Lesehallen, Volksküchen usw. Eine wohlgeordnete Armen- und Waisenpflege. Fürsorge für entlassene Strafgefangene und deren Familien sowie für gefallene Frauenspersonen. Beschaffung von Arbeitsgelegenheit für Arbeitslose und Zwangsarbeit für Arbeitsscheue. Gewissenhafte Handhabung der Gesetze und Verordnungen gegen die Übertreter.«3
Die Inhalte des Vortrages, die von der Versammlung mit großer Zustimmung aufgenommen wurden, verdeutlichen die ideologischen und politischen Vorstellungen, die die Honoratioren mit dem Ausbau der unterschiedlichsten sozialen und pädagogischen Institutionen verbanden. Die Familie wurde als Grundlage und Stütze der Gesellschaft gesehen. Sie habe die Aufgabe, die nachwachsende Generation entsprechend den Normen und Werten der bestehenden bürgerlichen Ordnung zu erziehen. Die Unterschichtfamilien wurden als Gruppierung angesehen, die den Erwartungen der übrigen Gesellschaft nicht entsprach, aufgrund der schwierigen Lebenssituation nicht entsprechen konnte. Hier sollte der Staat, die Kommune oder die freie Wohlfahrtspflege subsidiär kontrollierend, korrigierend und disziplinierend in das Familiengeschehen eingreifen. Die verschiedenen Einrichtungen waren als flankierende Maßnahme gedacht, die die Einbindung der Unterschichtbevölkerung in den bürgerlichen Wertekatalog gewährleistete. In ihnen waren sowohl finanzielle Unterstützung als auch sozialpädagogische Hilfe, die die gesamte Lebenszeit vom Kleinkind bis hin zum Erwachsenen umfaßten, eingeschlossen. Auch der Schule wurde in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion zugewiesen. In einer Jahreskonferenz, deren Teilnehmer sich aus den gleichen Mitgliedern zusammensetzten, die sich bereits zur sozialen Frage geäußert hatten, beschloß man fünf Jahre später, der Schule eine Aufgabe zuzuteilen, die einen eindeutigen politischen Charakter hatte. Sie sollte »nicht nur Verstandesbildung, 3
Märkischer Sprecher 14. März 1885.
113 sondern Ausbildung aller höheren geistig-sittlichen Kräfte« fördern und mit dazu beitragen, einen Damm gegen die Sozialdemokratie zu setzen.4 Die Maßnahmen von der öffentlichen Kleinkind- über die Schul- und Berufserziehung bis hin zur Erwachsenenbildung hatten politische Ziele. Sie dienten der Überwachung und Beeinflussung der Unterschichtbevölkerung im Sinne der Vermittlung von bürgerlichen Normen und Werten, der Aussöhnung der Klassen, der Befriedung des Proletariats und damit der Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Eingebunden in diese Ziele war der Kampf gegen die Sozialdemokratie und die sozialistische Gewerkschaft. Die Kinderbewahranstalten waren Teil eines umfassenden Programms zur Befriedung der Unterschichtfamilien. Im Folgenden werden die Motive, der verschiedenen Funktionsträger - Bürgermeister, Pfarrer, Stadtverordnete, Unternehmer und andere Personen des öffentlichen Lebens - für ihr soziales und pädagogisches Engagement hinterfragt. Am Beispiel der öffentlichen Kleinkinderziehung in den Städten Köln, Krefeld und Bochum ergeben sich dabei mehrere Schwerpunkte. Der erwähnte Personenkreis hatte verschiedene Interessen. Er wies den Kinderbewahranstalten unterschiedliche Aufgaben zu. Die Interessen der kommunalen Honoratioren ergeben ein Motivbündel, das für die verschiedenen Gruppen, die die Kinderbewahranstalten ideell oder materiell unterstützten, unterschiedlich akzentuiert ist. Die Aspekte, die miteinander verwoben sind, werden zum Zweck der Analyse getrennt behandelt. Sie lassen sich in neun Abschnitte unterteilen: 1. Vorbeugung gegen physische und psychische Verwahrlosung 2. Entlastung bei außerhäuslicher Erwerbstätigkeit der Mütter 3. Entlastung der nicht erwerbstätigen Mütter 4. Reaktion auf die vermeintlich unsittliche Lebensweise der Unterschichtfamilien 5. Vermittlung von Werten und Normen 6. Integration der Kinder aus Fernwandererfamilien 7. Vorbereitung auf die Schule 8. Abwehr der sozialistischen Arbeiterbewegung 9. Konfessionelle Erziehung und Abwehr der konfessionellen Konkurrenz 4.1 Vorbeugung gegen physische und psychische Verwahrlosung Das Motiv der Vorbeugung gegen physische und psychische Verwahrlosung war schon in frühester Zeit der Kinderbewahranstalten von Bedeutung5 und blieb es 4 Märkischer Sprecher 11. Juni 1890. 5 Vgl. Dammann, Elisabeth und Helga Prüser (Hrsg.): Quellen zur Kleinkinderziehung. Die Entwicklung der Kleinkinderschule und des Kindergartens. München 1981, S.34ff. Krecker, Margot: Die ersten Anstalten für Kinder. In: Edith Barow-Bernstorff u.a. (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der Vorschulerziehung. Dritte bearbeitete Auflage. Berlin 1971, S.116ff.
114 auch bis zum Ende der Kaiserzeit. Auch in den drei Städten Köln, Krefeld und Bochum kam diese Intention zum Tragen. In der Debatte zur »Übernahme des Kindergartens des Fröbelvereins«, einer speziell für Arbeiterkinder eingerichteten Institution, führte der Abgeordnete Jung vor dem Kölner Stadtparlament am 12. Dezember 1878 die Gründe der Notwendigkeit von kommunalen Kinderbewahranstalten aus: »Die Nothwendigkeit von Anstalten für die Unterbringung kleiner Kinder werde Jedermann einsehen müssen, denn wo die Straße zur Verwahrschule gemacht werde, müsse das Kind den Giftkeim physischer und moralischer Verderbniß frühzeitig in sich aufnehmen: die Zerstörungssucht, die Grausamkeit gegen Menschen und Thiere, den Classenhaß u.s.w. Grade die zarteste Jugend vor frühzeitiger Verderbniß zu bewahren, sei der Zweck der Bewahrschule.«6 Kaplan Krausen schrieb in seiner Bitte um die Übernahme der 1874 in Köln-Kalk gegründeten und unter weltlicher Leitung stehenden Kinderbewahrschule an die Generaloberin der Franziskanerinnen am 26. Oktober 1881: »Die Existenz einer solchen (Bewahrschule; E.K.) ist für unseren Industrieort ein unabweisbares Bedürfnis. Zunächst würden sonst viele Kinder wegen der Abwesenheit und anderweitiger Beschäftigung der Eltern, nicht minder auch wegen Mangels an Befähigung oder guten Willen derselben, ohne alle Aufsicht und Pflege, geistig und körperlich verwahrlosen.« Der Oberbürgermeister von Krefeld schrieb in dem Antrag der Johannispfarrei zur Errichtung einer katholischen Kinderbewahranstalt an die Königliche Regierung Düsseldorf am 31. März 1896: »Es kann in dieser Richtung (Errichtung von Kinderbewahranstalten; E.K.) ja im Interesse der Bevölkerung, welche den größten Teil der Bewohner in dem erwähnten Pfarrbezirke bildet, und zur Verhütung der geistigen und körperlichen Verkommnis kleiner Kinder kaum genug geschehen.«8 Eine der Hauptsorgen der Befürworter der Kinderbewahranstalten lag in der Furcht vor der drohenden Verwahrlosung der noch nicht schulpflichtigen Kinder und den daraus resultierenden Folgen für die gegenwärtige als auch für die zukünftige gesellschaftspolitische Situation in den Städten. Die Kinderbewahranstalten wurden als Institutionen gesehen, die die Kinder vor tatsächlichen oder auch vermeintlichen Gefahren schützen sollten. Das Wohnumfeld, das den Kindern in den Städten zur Verfügung stand, wurde nicht als Erlebnis- und Erfahrungsraum wahrgenommen. Martha Muchow stellte in ihrer Untersuchung in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts fest, daß das Wohnumfeld den Kindern eine Reihe von positiven Erfahrungen bot.9 Es soll aber auch nicht in Frage gestellt 6 Historisches Archiv der Stadt Köln: 40-44/320-I. 7 Archiv der Franziskanerinnen in Aachen: Aufgehobene Niederlassungen 10. 8 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf 29383. 9 Muchow, Martha und Hans Muchow: Der Lebensraum eines Großstadtkindes. Mit einer Einführung von Jürgen Zinnecker. Zweite Auflage. Frankfurt 1980. Vgl. auch Behnken, Imbke und Manuela du Bois-Reymond: Kinder unter sich. Spielwelten in alten Stadtquartieren. Ein interkult. Vergleich. In: Christa Berg (Hrsg.): Kinderwelten. Frankfurt 1991, S.132ff.
115 werden, daß die Kleinkinder, deren Eltern beide außerhalb des Hauses einer ganztägigen Erwerbsarbeit nachgingen, tagsüber nur unzureichend oder gar nicht versorgt und vielerlei Gefahren ausgesetzt waren. Mangelnde und unregelmäßige Ernährung, Ruhigstellung mit Drogen, der zunehmende Straßenverkehr und so weiter gefährdeten eine gesunde Entwicklung der Kleinkinder. Das Motiv der Verhütung von Verwahrlosung war mit den Vorstellungen einer bürgerlichen Sittlichkeit verknüpft, die prinzipiell in dem unbeobachteten Spiel der Kinder eine Gefahr für die moralische Entwicklung sahen. In diesem Zusammenhang war die in der abendländischen Kultur bestehende Idee der prinzipiellen Sündhaftigkeit des Menschen10 von Bedeutung. Das Wohnumfeld - die Straßen, Plätze, Höfe und so weiter - wurde als Ort der Gefahr für das Kind betrachtet. Kinder, die unbeaufsichtigt spielen, könnten Verhaltensweisen entwickeln, die ihre Integration in die bestehende bürgerliche Ordnung erschwerten. Die Ursachen für die vermeintliche Gefährdung der Stadtkinder wurden nicht nur in der außerhäuslichen Erwerbsarbeit beider Elternteile gesehen, sondern auch darüber hinaus als Unfähigkeit und mangelndes Interesse der Mütter an der Erziehungsarbeit interpretiert, wie oben ausgeführtes und folgendes Zitat belegt. Bürgermeister Graff bestritt rundweg ein Interesse der meisten Mütter an der Erziehung ihrer Kinder. In einem Schreiben von 1902 auf behördliche Anfrage bezüglich des Hortbestandes in Bochum antwortete der Bürgermeister: »Wenn nun auch nicht bestritten werden kann, daß vielfach die Kinder unbeaufsichtigt und ohne Erziehung in den Strassen sich bewegen und dort vielen Gefahren jeder Art ausgesetzt sind, so sind dies doch meistens Kinder aus Familien, wo sehr wohl die Mütter wenigstens die Aufsicht führen und erzieherisch wirken könnten, die dieses lediglich aus Nachlässigkeit oder Trägheit nicht thun.«11 Es wurde aber auch die wohl tatsächlich bestehende Gefahr der Verletzung durch den Straßenverkehr in den engen Straßen registriert. So kam es, wie Zeitungsberichte zeigen, immer wieder zu schwerwiegenden Unfällen von Kindern sowohl durch den Verkehr in den engen Straßen als auch durch Grubenlöcher und anderes mehr. Der Landrat des Landkreises Krefeld befürwortete in einem Schreiben an die königliche Regierung Düsseldorf den Antrag des Pfarrers Frank auf Errichtung einer Kinderbewahranstalt. Er schrieb am 5. März 1904: Wenn »Mann und Frau dem Erwerbe in der Fabrik nachgehen und den ganzen Tag von zu Haus abwesend sind, sind die noch nicht schulpflichtigen Kinder sich selbst überlassen und dem hier stark entwickelten Strassen- und Bahnverkehr ausgesetzt«12.Insgesamt bleibt festzuhalten, daß das Engagement der Honoratioren für die Schaffung und Unterhaltung von Kin10 Vgl. Krieg, Elsbeth: Katholische Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Bern, New York und Paris 1987, S.22ff. Vgl. diese Arbeit, S.188ff, 200ff. 11 Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg I.894. 12 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf: Regierung Düsseldorf 29382.
116 derbewahranstalten im Zusammenhang mit der realen Gefährdung der aufsichtslosen Kleinkinder stand. Darüber hinaus waren aber auch irrationale Ängste für den Einsatz dieser Institutionen mitbestimmend. Es wurde die Gefahr gesehen, daß mangelnde Beaufsichtigung und der angeblich schlechte Einfluß der Eltern negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder habe. Man befürchtete, daß eine im Verständnis der bürgerlichen Schichten mangelhafte Beaufsichtigung und Erziehung, im späteren Erwachsenenleben zu Kriminalität oder zum unerwünschten Engagement in der Sozialdemokratischen Partei und innerhalb der Arbeiterbewegung führen könnte. Letztere stellten in den Augen der kommunalen Führungsschicht eine Gefahr für die staatliche und städtische Ordnung dar. 4.2 Entlastung bei außerhäuslicher Erwerbstätigkeit der Mütter Die Absicht der städtischen Funktionsträger, jungen Müttern, die noch nicht schulpflichtige Kinder hatten, eine außerhäusliche Erwerbsarbeit zu ermöglichen, war in Köln und Krefeld von großer Bedeutung. Pfarrer Frank von der Gemeinde Fischel (Krefeld) schrieb 1903: »Vielfach sind die noch nicht schulpflichtigen Kinder sich selbst überlassen, wenn Vater und Mutter außer dem Hause ihren Arbeiten nachgehen müssen; in anderen Familien würde die Mutter ab und zu Stundenarbeit übernehmen, wenn sie nicht durch die Sorge für die noch nicht schulpflichtigen Kinder« abgehalten würde.13 Die Krefelder Frauen schrieben 1881, »bei den vorgenannten Schwestern des hl. Augustinus erhielten die Kinder durchwegs unbemittelter Eltern nicht blos die so nothwendige Beaufsichtigung und erste Anleitung zu einem späteren religiösen Leben, sondern auch gegen ein kleines Entgelt oder sogar unentgeltlich zur Mittagszeit eine einfache Beköstigung, so daß die Kinder so zu sagen den ganzen Tag hindurch sich unter Aufsicht und Pflege befanden, wodurch die Eltern einer großen Last enthoben und ungestörter ihrer Arbeit zur Erschwingung der Kosten des Haushaltes nachkommen konnten«14. Der Abgeordnete Kyll bemerkte zu dieser Problematik in der schon erwähnten Kölner Stadtverordnetenversammlung:15 »Die Kinder, welchen denselben besuchen, gehören den ärmeren Classen an, so daß sich der größte Theil der Eltern auf der Grenze der officiellen Hülfsbedürftigkeit befinde. Für diese sei daher eine Anstalt, in welcher ihre Kinder verpflegt und unterrichtet werden, die denselben gewisser Maßen Heimath sei, eine sehr große Wohlthat. Der Vorredner habe auf die Finanznoth der Stadt und die schlimmen Zeiten hingewiesen und zur Sparsamkeit gemahnt; aber wenn irgendwo die Sparsamkeit am unrechten Orte gepredigt worden, so sei dies hier geschehen. Grade in schlimmen Arbeitsverhältnissen 13 14 15
Bistumsarchiv Aachen: GVO 12.I. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf: Regierung Düsseldorf 29365. Vgl. diese Arbeit, S.114.
117 in betrübten Zeiten wirken die Kindergärten (hier sind die städtischen Kinderbewahranstalten gemeint; E.K.) am segensreichsten. Dieselben werden vorzugsweise von Kindern kleiner Handwerker und Tagelöhner besucht, bei denen die Mutter außerhalb der Wohnung Arbeit suchen müsse. Dieser geringe Verdienst wäre unmöglich zu erzielen, wenn nicht durch den Kindergarten die Last der Pflege für das kleine Kind getragen werde. Wolle man heute einen Kindergarten schließen, so würde man damit den betreffenden Eltern geradezu einen Theil ihres kärglichen Verdienstes entziehen. Daß dies namentlich in diesen schweren Zeiten eine große Härte sein würde, ein Verfahren, welches die Existenzfähigkeit mancher Familien, die sich noch ohne öffentliche Unterstützung durchschlagen, in Frage stellen würde, sei sicher.«16 Die Bereitstellung von Kinderbetreuungsplätzen ermöglichte den Unterschichtmüttern die außerhäusliche Erwerbsarbeit, gleichzeitig wurde das kommunale Budget entlastet. Durch den geringen Verdienst der Mütter war offensichtlich das Familieneinkommen gerade so hoch, daß die Einkünfte der Familien knapp über der Armutsgrenze lagen, so daß diese Familien nicht der Armenfürsorge zur Last fielen. Gleichzeitig trugen diese Anstalten zur Absicherung der Unterschichthaushalte bei und dienten damit der Entschärfung der sozialen Konflikte. Die Intention, den Müttern der Unterschicht die außerhäusliche Erwerbsarbeit zu ermöglichen, war bei der Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung von großer Bedeutung.17 Auch im Kaiserreich war die Absicht erkennbar, in Städten, wie Köln und Krefeld Kinderbewahranstalten zu errichten.18 Beide Orte wiesen einen hohen Anteil an Industriebetrieben auf, die vornehmlich Frauen beschäftigten. Zum einen wurde die Arbeit der Frauen in bestimmten Industriesektoren benötigt, zum anderen war das Einkommen der Väter zur Bestreitung des Lebensunterhaltes einer Familie mit nichtverdienenden Kindern in der Regel völlig unzureichend. Die kleinen Kinder wurden entweder in eine Kinderbewahranstalt beziehungsweise in die teure Privatpflege gegeben oder waren sich selbst überlassen. Im letzteren Fall wurden die Kinder in der Wohnung eingesperrt, oder man sperrte sie aus. Das heißt, sie mußten sich während der Abwesenheit der Eltern auf den Straßen aufhalten. Die Vorstellung der 16 Historisches Archiv der Stadt Köln: Abt.40-44.320.I. 17 Vgl. Erning, Günter: Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert. In: Thomas Schnabel (Hrsg.): Versorgen, bilden, erziehen. 1912-1987. Festschrift des Zentralverbandes katholischer Kindergärten und Kinderhorte Deutschlands. Freiburg im Breisgau 1987, S.11ff. Grossmann, Wilma: KinderGarten. Eine historisch-systematische Einführung in seine Entwicklung und Pädagogik. Weinheim, Basel 1987. (Berufsfelder Sozialer Arbeit. Bd.1. Hrsg. von C. Wolfgang Müller). Reyer, Jürgen: Wenn die Mütter arbeiten gingen ... Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert, Köln 1983. Schäfer, Jürgen: Geschichte der Vorschulerziehung. Frankfurt am Main, Bern, New York und Paris 1987. (Europäische Hochschulschriften. Reihe XI. Pädagogik. Bd.326). 18 Die Initiative zur Gründung der ersten Kinderbewahranstalten in Krefeld ging von Industriellen aus. Der »Verein zur Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten« hielt bis in die neunziger Jahre die Vormachtstellung im Bereich der öffentlichen Kleinkinderziehung. Die Mitglieder des Vereinsvorstandes rekrutierten sich zum größten Teil aus den Industriellen Krefelds.
118 Arbeitgeber, daß Mütter konzentrierter arbeiten, wenn ihre Kinder beaufsichtigt sind, sie sich also nicht um sie zu sorgen brauchen, spielte bei dem Engagement der Industriellen eine wichtige Rolle. 4.3 Entlastung der nicht erwerbstätigen Mütter In Bochum waren, da die Mütter nur in Ausnahmefällen erwerbstätig waren, andere Gründe als in Köln und Krefeld für die Befürwortung der Errichtung und Unterhaltung von Kinderbewahranstalten von Belang. Einerseits spielten hier die beengten Wohnverhältnisse, andererseits die Überlastung der Mütter durch die Hausarbeit19 eine gewichtige Rolle.20 In der Kolonie »Stahlhausen« des Bochumer Vereins sollten in der betriebseigenen Kinderbewahranstalt Kinder im vorschulischen Alter »für mehrere Stunden des Tages Aufnahme zu geselligem Spiel und entsprechender Beschäftigung finden und die Hausfrauen dadurch von der Sorge entlastet werden«21. »Die noch nicht schulpflichtigen Kinder, die bei der räumlichen Beschränktheit der Arbeiterwohnungen sich gewöhnlich ohne Aufsicht vor den Häusern auf den Straßen herumtummeln« bedürfen solcher Anstalten.22 Nicht nur die Wohnungen des freien Wohnungsmarktes, sondern auch die der Kolonien waren in der Regel eng. Hinzu kam noch, daß die Unterschichtfamilien mit noch nicht verdienenden Kindern häufig aus finanziellen Gründen Schlafgänger aufnehmen mußten. »In der Kruppschen Kolonie zu Hordel (heute ein Stadtteil von Bochum; E.K.) wohnen etwa 1200 Katholiken - die ganze Pfarrei zählt über 4000 Katholiken -, und zwar ausschließlich Bergarbeiter, die auf den benachbarten Kruppschen Zechen Hannover und Hannibal beschäftigt sind. Die kleinen Kinder dieser Bergarbeiterfamilien bedürfen also, weil Frauen und Müt19 Die Belastung der Frauen in Bochum war durch die Versorgung der häufig großen Familien, Gartenarbeit, Kleintierhaltung, Versorgung der Schlafgänger, die zum Teil verpflegt wurden und deren Kleidung gewaschen und geflickt werden mußte, hoch. Hinzu kam, daß aufgrund der Umweltbelastung und den schmutzigen Arbeitsbedingungen in Zechen und an Hochöfen ein höherer Aufwand an Pflege der Wohnung und Reinhaltung der Kleidung zu leisten war. 20 Daß die Mütter in Bochum offensichtlich sehr angespannt waren zeigten Pläne, eine Hauspflege für Wöchnerinnen einzurichten und ein Jahr später eine Erholungsstätte für Frauen und Mädchen zu eröffnen. »Aber auch für Frauen, die nicht gewerblich tätig sind, und diese kommen bei uns in Bochum hauptsächlich in Betracht, ist dringend Hilfe nötig. Oft sehen blühende Mädchen wenige Jahre nach ihrer Verheiratung müde und verwelkt aus. Dies kommt daher, daß sie zu bald (nach der Geburt; E.K.) aufstehen und die Kinder versorgen. Oft stehen sie schon am zweiten oder dritten Tage am Waschfaß und versuchen mit schwachen Kräften der während der vorher vergangenen Tage entstandenen Unordnung zu steuern. Es gibt ja Frauen, die stark genug sind, um nicht sofort die üblen Folgen zu verspüren, aber an Lebenskraft haben auch sie eingebüßt. Andere dagegen können sich nur langsam oder überhaupt nicht wieder erholen. Sie siechen dahin. Der Haushalt und die Kinder verwahrlosen. Der Mann, von der Unordnung und dem Elend daheim abgestoßen, sucht das Wirtshaus auf, und so ist der Ruin ganzer Familien oft auf das zu frühe Aufstehen der Mutter zurückzuführen.« (Märkischer Sprecher 2. März 1907). Auf der Kreisverbandssitzung der Synode Bochum gedachte eine Rednerin »besonders der Frauen, die jahraus, jahrein einem großen Haushalt vorstehen, sich mühen für ihre Familie und vielfach mit Sorgen, Krankheit und Not zu kämpfen haben, ohne jemals die geringste Ausspannung und Erholung zu finden, auch dann nicht, wenn Krankheit die Kräfte herabmindert.« (Märkischer Sprecher 21. Oktober 1908). 21 Märkischer Sprecher 10. März 1883.
119 ter durch die Hausarbeiten sehr in Anspruch genommen sind, der Beaufsichtigung durch die Schwestern, ebenso bedürfen die Kinder der Bewegung im Freien, der Anleitung zu leib- und herzerfrischenden Spielen. Dieses alles soll und wird den Kindern unter der Aufsicht der Schwestern geboten werden, während das Elternhaus dazu nicht im Stande ist.«23 Die beengten Wohnverhältnisse, die auf dem freien Wohnungsmarkt oftmals ungesunden Wohnungen und die Umweltbelastungen führten auch zu einer höheren gesundheitlichen Belastung der Kinder. Neben der Entlastung der nichtberufstätigen Mütter war die Sorge um eine gesunde Entwicklung der Kinder ein wichtiges Motiv für die Errichtung der Kinderbewahranstalten. Auch in Köln war in einigen Stadtbezirken die Überlastung der nichterwerbstätigen Mütter ein Motiv zur Gründung von Kinderbewahranstalten. 1906 hieß es in einem Gesuch um die Bewilligung zur Errichtung einer Kinderbewahranstalt in der Zypen-Colonie in Köln-Deutz, daß die »Mehrzahl der hiesigen Bewohner .. aus Fabrikarbeitern (besteht; E.K.) welche durch ihren Beruf den ganzen Tag an ihre Arbeitsstätte gebunden sind, während die Frauen außer dem Hausstand häufig noch einen kleinen Garten in Ordnung zu halten haben. Diese Arbeit wird häufig durch die Sorge um die Beaufsichtigung der noch nicht schulpflichtigen Kinder sehr erschwert; ja in vielen Familien sind durch reichen Kindersegen die Verhältnisse so mißlich, daß der Haushalt darunter leiden muß und die Kinder auf die Straße angewiesen sind.«24 Hohe Kinderzahlen in den Unterschichtfamilien, die Maßnahmen der Familien zur Verbesserung des Haushaltsbudgets - Aufnahme von Schlafgängern, Bewirtschaftung eines Gartens, Haltung von Kleinvieh und Konservierung der geernteten Gartenfrüchte - führten zu einer hohen Belastung der nichterwerbstätigen Mütter. Kinderbewahranstalten dienten in diesen Fällen der Entlastung dieser Frauen und sicherten damit gleichzeitig das Budget der Unterschichtfamilien ab. 4.4 Reaktion auf die vermeintlich unsittliche Lebensweise der Unterschichtfamilien Die familiäre Situation der Unterschichtfamilien wurde häufig negativ beurteilt. Man befürchtete, daß das angeblich unmoralische Vorbild der Erwachsenen aus der Unterschicht einen schlechten Einfluß auf die Kinder hätte. Der religiös-sittliche Zustand in den Gemeinden wurde beklagt: »Ungetraute Ehepaare und ungetaufte Kinder gehören in den Gemeinden der Synode zu den Seltenheiten; gleichwohl zeigen vorkommende Fälle, wie groß der Mangel an sittlich-religiösem Sinne ist und was zu erwarten steht, wenn erst die Mächte der 22 23 24
Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg II.E.326. Ebenda. Historisches Archiv der Stadt Köln: 860.599.
120 Gottesfeindschaft sich der bis dahin noch behaupteten Sitte bemächtigt haben werden. An der Peripherie der Großstadt, berichtet Presbyterium Hamme, ist das Sittenbild vielfach ein betrübendes. Unkeusche Brautpaare, zerrüttete Familienverhältnisse, verwahrloste Kinder, kirchliche und religiöse Gleichgültigkeit, Ueberhebung über die kirchlichen Ordnungen geben zu bitteren Klagen Anlaß.«25 Im Kostgängerwesen sah man eine große Gefahr für das sittliche Leben der Familien und die sittliche Entwicklung der Kinder. Bürgermeister Lange von Bochum befürchtete, »daß die Frau mit dem Schlafgänger ins Bett ging, die Töchter ihr folgten und schließlich verkuppelt wurden, so daß der Vater vor Scham zum Trinker wurde. Schlimmer noch, es stand zu befürchten, er werde ›mit seiner Familie, die sich durch das ehebrecherische Leben seiner Frau möglicherweise noch vermehrt hat, der öffentlichen Fürsorge anheimfallen.‹«26 Auch die Kreissynode sah in dem Schlafgängerwesen eine Gefahr für das Familienleben: »Eine Quelle namenlosen Unheils, das wird von mehreren Presbyterien bezeugt, ist die Kostgängerei. Eheleute und Kinder sind gleich gefährdet, fast immer ist das Familienleben gestört ... Es giebt ihrer viele, oft nur für den Winter herübergekommene Arbeiter, die nicht daran denken, einen Anzug für die Kirche zu beschaffen, geschweige denn Bibel und Gesangbuch zu besitzen. Zu sehr unsittlichen Verhältnissen verführend ist das öftere Unterhalten von Kostgängern seitens der Witwen.«27 Neben der Ansicht, daß die Kostgänger der Kirche entfremdet würden, bestand vor allem die Befürchtung, daß diese Lebensform zu einem sexuell ausschweifenden Leben und - nach bürgerlicher Vorstellung - zu unmoralischer Verhaltensweise führen könnte. Der Landrat von Recklinghausen schrieb in seinem Bericht: »Wo mehrere Kostgänger in einer Familie oder in einem Hause zusammenwohnen, werden in der Regel an den Sonn- und Feiertagen in der Wohnung des Kostgängers Saufgelage veranstaltet. Die Kostgänger lassen Bier und Schnaps heranholen; die Familie des Kostwirts trinkt natürlich mit. Fast jeder Bergmann hat eine Ziehharmonika; nun wird getrunken, gespielt und getanzt. Am tollsten geht es meistens bei den Polen her. Die polnischen Frauen und Mädchen tanzen mit den Kostgängern, häufig barfuß und nur noch notdürftig bekleidet.«28 Diese Vorstellungen der herrschenden Schicht beruhte eher auf Projektionen. Die Aufnahme von Schlafgängern war etwas Normales, eine Notwendigkeit für Familien mit unversorgten Kindern zur Verbesserung des Haushaltsbudgets. Aufgrund der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt, preiswerten Wohnraum gab es kaum, waren unverheiratete Arbeiter gezwungen, Schlafplätze in Familien zu suchen. Gleichzeitig erleichterten die Gastgeberfamilien den neuzugewanderten 25 Synodalarchiv Bochum: Verhandlungen der Kreis-Synode Bochum. Langendreer, den 7. November 1906. (Als Manuskript gedruckt). Bochum 1906, S.21. 26 Brüggemeier, Franz-Josef: Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889-1919. München 1983, S.68. 27 Synodalarchiv Bochum: Verhandlungen der Kreis-Synode Bochum in ihrer Versammlung am 20. Juni 1889 zu Uemmingen. (Als Manuskript gedruckt). Wetter 1889, S.12.
121 Bevölkerungsgruppen die Eingewöhnung in die fremde Umwelt. Die Mittel, die die Kirche gegen den, wie sie meinte, sittlichen Verfall anzuwenden hat, »sind keine wesentlich neuen, sondern die alten und ewig lebenskräftigen Waffen des Evangeliums und des aus Gott geborenen Glaubens .. aber es ist ebenso zutreffend die andere Ausführung derselben, daß die Aufgabe der Kirche durch die veränderte Lebensgestaltung neue Ziele hat und zu dem Ende auf neue Mittel und Wege angewiesen ist«29. Den Frauenvereinen wurde hier eine besondere Rolle zugeschrieben: »Die Frauenvereine haben gegenüber der in unseren großen Gemeinden gegebenen Anhäufung von Armut, Elend und Verkommenheit eine wichtige Aufgabe, die sie mit viel Treue zu erfüllen suchen; als ein Vorbild darf nach dem Berichte des Presbyteriums die Thätigkeit des Frauenvereins in Annen hingestellt werden, dessen Mitglieder in bestimmt zugewiesenen Bezirken der Gemeinde persönlich und eingehend durch Besuche in den Häusern sich um die Verhältnisse der Hülfsbedürftigen bekümmern, sie trösten und warnen, der eingerissenen häuslichen Unordnung zu steuern und durch Beweis thätiger herzlicher Liebe den Glauben an die barmherzige Gottesliebe in den Verlassenen und Verkommenen aufzurichten suchen.«30 »Gemäß dem Wort unseres Herrn und Heilandes: ›Lasset die Kindlein zu mir kommen‹ will die Evang. Gemeinde ihre jüngsten Glieder schon frühzeitig dem Heilande zuführen. Deshalb betreibt die Evang. Gemeinde Kindergartenarbeit, die dabei gleichzeitig ein Stück soziale Arbeit der Kirche darstellt.«31 Den Kinderbewahranstalten, um solche handelt es sich hier, wenn sie auch Kindergärten genannt werden, wies man die Funktion zu, dem vermeintlichen sittlichen Verfall in den Familien einen Damm entgegenzusetzen. Die Arbeit in den Kleinkindinstitutionen wurde als Teil des sozialen Engagements verstanden, das in die Familien hineinwirken sollte. Wenn auch die Vorstellungen vom moralischen Zustand der Unterschichtfamilien weit übertrieben waren, so war das Leben durch die Aufnahme der Schlafgänger dennoch sehr eingeschränkt. Waren die Wohnbedingungen der Familien auch ohne Aufnahme fremder Personen sehr beengt, so verschärfte sich diese Situation noch zusehends. Den Kindern blieb nichts anderes übrig als auf die Straße auszuweichen. Dies war auch notwendig, um den schichtarbeitenden Männern am Tag Ruhe und Erholung zu ermöglichen. 4.5 Vermittlung von Werten und Normen Das Wissen um die Bedeutung der frühen Kindheit war ein wichtiges Motiv für das Engagement der kommunalen Akteure in den drei Städten im Bereich der 28 Staatsarchiv Münster. Regierung Münster 5689. Zitiert nach: Brüggemeier, Franz-Josef: A.a.O., S.67. 29 Synodalarchiv Bochum: Verhandlungen der Kreis-Synode Bochum in ihrer Versammlung am 4. Juni 1891 zu Castrop. Wetter 1891, S.7. 30 Synodalarchiv Bochum: Verhandlungen der Kreis-Synode Bochum in ihrer Versammlung am 9. November 1881 zu Bochum. (Als Manuskript gedruckt). Wetter 1881. 31 Synodalarchiv Bochum: Kleinkinderschule in Weitmar-Mark 1894-1912. Heft 12.
122 öffentlichen Kleinkinderziehung. Pastor Schmidt I von Bochum führte bei der Grundsteinlegung für eine neue Kinderbewahranstalt 1907 aus: »Dieser Bau ist ein Ereignis für die ev. Gemeinde, ein Ereignis auch für die Stadt Bochum. Manche mögen daran zweifeln, ihnen mag wohl der Bau eines Hochschulgebäudes ein Ereignis bedeuten, und doch ist beides von gleicher Bedeutung, ein jegliches an seinem Platze. Hier in diesen künftigen Räumen soll eine grundlegende Arbeit an kleinen, weichen Kinderherzen geleistet werden. Diese Kinder sind dermaleinst berufen, an die Stelle zu treten, wo wir, die Erwachsenen, jetzt stehen, und damit sie diesen Platz zum Wohle der Gesamtheit ausfüllen können, muß in der Zeit, wo die Seele noch weich wie Wachs ist, der Grund zu allen Tugenden gelegt werden. Das Ziel der Bildungsarbeit an diesen Kleinen ist in dem Namen Jesus Christus enthalten. Er bedeutet Licht, Liebe und Leben. Auf der Grundlage der hier gepflegten christlichen Erziehung können dann die Eltern im Hause und die Lehrer in Schule und Kirche weiterbauen.«32 Die Aufgabe der Kinderbewahranstalten sollte darin bestehen, den Kindern die Grundlagen und sittlichen Tugenden der bürgerlichen Schicht zu vermitteln, sie zu angepaßten, disziplinierten Bürgern des Staates, der Stadt zu erziehen. Die Kinder hatten in den Anstalten Ordnung, Disziplin und Gehorsam zu lernen. Sie »sind unter der liebevollen Aufsicht der Schwester wohl bewahrt, werden von diesen zur Reinlichkeit angeleitet und auch in geistiger und sittlicher Beziehung wohltätig beeinflußt.«33 In der Arbeit der Institutionen kam es darauf an, daß sie »gesund erhalten und körperlich gekräftigt werden, daß insbesondere in ihren Spielen sich ihre Leiber frei bewegen, ihre Sinne üben, ihr ganzes Wesen sich ungezwungen entwickeln, und sie an Ordnung und Reinlichkeit Freude gewinnen und Verträglichkeit lernen. Nicht minder aber ist es andererseits von Werth, daß sie die kleinen Gebete, Verse, Lieder, Erzählungen, durch welche der Geist geweckt und genährt werden soll«, lernen.34 Gleichzeitig wurde vor der geistigen Überforderung und dem Vorgreifen des Schulstoffes gewarnt. Über die Kinder sollten auch die Eltern beeinflußt werden: »Die Hauptsache ist und bleibt, daß die Kinder zu Hause gut erzogen werden. Diese Pflicht kann Euch keine Anstalt abnehmen. Was ein Kind zu Hause sieht und hört, das bleibt in seinem Gemüt für sein Leben eingeprägt. O, verderbt wenigstens nicht zu Hause, was in der Schule gepflanzt wird. Hütet Euch, den Kindern etwa durch Fluchen, Schwören, Lügen, Zank, Zorn, Trunkenheit, Spott und dergl. ein böses Beispiel zu geben. Haltet sie schon zu Hause zur Ordnung, Reinlichkeit, Gehorsam und auch zum Morgen-, Abend- und Tischgebet an, bewahret und pfleget den Segen Gottes, der Euch durch Eure Kinder ins Haus kommen soll.«35 32 Märkischer Sprecher 9. August 1907. 33 Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg II.E.326. 34 Verfügung des Ministeriums der Geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten über die christliche Kinderpflege. U III a 20257. 35 Archiv Sarepta: 2421.
123 Über die Kinderbewahranstalten wurden die Kinder zu Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung angehalten, dies sollte sich von den Kindern auf die Angewohnheiten der Mütter übertragen: »Die Kinder müssen regelmäßig und pünktlich, insbesondere nicht vor der festgesetzten Stunde sich in der Schule einfinden ... Die Kinder müssen sauber gewaschen und gekämmt, sowie möglichst reinlich gekleidet erscheinen, sonst können sie zurückgeschickt werden.«36 In Beziehung zur Reinlichkeit war es Aufgabe der Kleinkinderschule, nicht nur auf die Reinlichkeit der Kinder zu achten, sondern auch die Eltern anzuhalten, »die Kinder in sauberer Kleidung und rein gewaschen zur Schule zu schicken und ... (die Erzieherin soll sie; E.K.) auch sauber wieder aus der Schule (entlassen; E.K.). In dieser Beziehung ist die Aufgabe der Schwester indirekt zur Reinlichkeit der Familien« beizutragen.37 Die Kinderbewahranstalten hatten zwei Aufgaben, einerseits sollten die Kinder durch Spiele und Beschäftigungen zur Beachtung der tradierten Normen und Werte erzogen werden, andererseits sollten über die Kinder die Eltern, insbesondere die Mütter, diszipliniert werden. 4.6 Integration der Kinder aus Fernwandererfamilien In Bochum führte darüber hinaus die Fernwandererproblematik zur Errichtung von Kleinkindanstalten. In einem Antrag zur Eröffnung einer Kinderbewahranstalt in Gerthe - heute ein Stadtteil von Bochum - wurde auf die Sprach- und Integrationsproblematik der zugewanderten Bevölkerungsgruppen hingewiesen. Wenn auch im Kreis Bochum der Anteil der Fernwanderer höher war als in der Stadt Bochum, so hatte diese Problematik auch dort eine große Bedeutung: »Die Mitglieder der Gemeinde bestehen aus allen möglichen Völkerschaften: Deutschen, Polen, Italienern, Slowenen, Böhmen, Ungarn, Russen, ein buntes Gemisch von Sprache und Sitten, Charakter und Gebräuchen. Zu Hause im Kreise der Ihrigen sprechen die Ausländer, wie auch die Polen durchschnittlich nur die Muttersprache wie ja die meisten Erwachsenen auch größtenteils nur notdürftig ›Deutsch‹ sprechen, wenn sie es auch verstehen. Die Kinder bis zum sechsten Lebensjahr lernen also fast gar keine deutsche Sprache und bilden daher eine kolossale Last für die Lehrpersonen beim Eintritt in die Schule. Dazu läßt die Erziehung und Aufpassung der Kinder viel zu wünschen übrig. Allen diesen Uebelständen soll nun dadurch abgeholfen werden, daß eine Kinderverwahr36 Aufnahmebedingungen für die Klein-Kinderschulen. In: Bericht über die Kinderschwesterntage von 1897 und 1898. (Als Manuskript für die Schwestern gedruckt), S.23. 37 Fragen für den Kinderschwesterntag. Bericht über den Kinderschwestern-Tag 20. Juli 1895. (Für die Schwestern als Manuskript gedruckt), S.17. Dieses Zitat zeigt, daß für die Probleme der Mütter wenig Verständnis aufgebracht wurde. Die Frauen waren nicht nur stark überlastet, sondern hatten auch Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Kleidung, ihrer Instandsetzung und Sauberhaltung, aufgrund der finanziellen Situation.
124 schule eingerichtet wird, wo die Kinder in der deutschen Sprache unterrichtet werden, wo ihnen überhaupt die Grundlagen beigebracht werden, was sie zu guten Bürgern des Vaterlandes und folgsamen Kindern der Kirche machen.«38 Die Kinderbewahranstalten hatten die Aufgabe, die Kinder - die im Elternhaus eine fremde Sprache oder einen fremden Dialekt sprachen - mit der deutschen Sprache vertraut zu machen, damit sie problemlos dem Schulunterricht folgen konnten. Darüber hinaus dienten die Einrichtungen dazu, die Kinder in die städtische Lebensweise zu integrieren. Gleichzeitig wollte man der vermeintlichen Gefahr des sittlichen Verfalls innerhalb jener Arbeiterfamilien entgegentreten, die Schlafgänger aufnehmen mußten. Wie der Bericht des Landrats von Recklinghausen39 zeigt, wurde insbesondere den polnischen Familien ein Hang zu Leichtlebigkeit nachgesagt. Das Motiv, die Fernwanderer in die Kommunen und in die industrielle Produktionsweise zu integrieren, war mit der industriellen Entwicklung verknüpft. Insbesondere die Zeit der Hochkonjunktur und die Fernwanderungen stellten die Kommunen in einigen Regionen, wie dem Ruhrgebiet, vor schwerwiegende Probleme. 4.7 Vorbereitung auf die Schule Die Vorbereitung der ausländischen Kinder auf die Schule und das Erlernen der deutschen Sprache waren gewichtige Gründe für die Unterstützung von Initiativen, die sich für die Errichtung von Kleinkindanstalten einsetzten, wie das obige Zitat belegt. Es stand aber nicht nur das Erlernen der deutschen Sprache im Mittelpunkt der Interessen, sondern auch die angeblich sittliche Verwahrlosung der Familien und die Erziehungsunfähigkeit der Mütter. Auch den deutschen Müttern wurden mangelndes Interesse und unzureichende Fähigkeiten zur Erziehung ihrer Kinder nachgesagt.40 Der Kinderbewahranstalt fiel die Aufgabe zu, diesen vermeintlichen Mangel auszugleichen, damit die Kinder dem Schulunterricht besser folgen könnten. Die Königliche Regierung wies auf die Bedeutung hin, »welche die Kleinkinder-Bewahrschule .. als Vorbereitung zu öffentlichen Elementar-Unterricht, dann aber als Schutz vor geistiger und sittlicher Verwahrlosung der noch nicht schulpflichtigen Kinder haben«41. Sie stellte für die Ersteinrichtung von Kinderbewahranstalten eine einmalige Summe von 200 bis 300 Mark zur Verfügung. In der Denkschrift des Königlichen Provinzial-Schul-Kollegiums zu Münster wurden die Aufgaben wie folgt beschrieben: »Die Gewöhnung an Ordnung und Reinlichkeit, an Beschaulichkeit und Verträglichkeit, an Gefälligkeit
38 39 40 41
Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg II.E.326. Vgl. diese Arbeit, S.120. Vgl. diese Arbeit, S.115. Historisches Archiv der Stadt Köln: 864.244.
125 und Wahrhaftigkeit, an geregelte und gemeinsame Tätigkeit ... die Anregung zu Sehen und Hören der Dinge und Erscheinungen der nächsten Umgebung, die Ordnung und Vergleichung der Eindrücke, die erste Bildung und Phantasie des Gemüthes, endlich die grundlegende Einführung in das Verständniß und den Gebrauch der deutschen Sprache ... sind Bildungselemente, welche das Kind als mächtigen Hebel für die geordnete Unterweisung der Elementarschule« mitbringt.42 Durch eine geordnete Anleitung bei Spiel und Beschäftigung wollte man Grundlagen legen, auf denen der Schulunterricht aufbauen konnte. Dabei stand die Erziehung zur Disziplin an erster Stelle der pädagogischen Ziele. Das Kind sollte lernen, ruhig dem Schulunterricht zu folgen. Die Volksschule hatte die Aufgabe neben der Vermittlung eines Grundwissens - die bürgerlichen Tugenden, wie Gehorsamkeit gegen die Obrigkeit, Disziplin, Ordnung und Fleiß, zu festigen. 4.8 Abwehr der sozialistischen Arbeiterbewegung Die Führungsschicht der Städte sah in der sozialistischen Arbeiterbewegung eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung. Darüber hinaus fürchteten die Kirchen um den Bestand ihrer eigenen Institutionen. Die Gründung und Unterhaltung der Kinderbewahranstalten kann auch als Bemühung verstanden werden, die sozialistische Arbeiterbewegung abzuwehren. Dabei sind die Kinderbewahranstalten als ein Teil der Maßnahmen zur sozialen Daseinsfürsorge zu sehen. Die Kirchen fühlten sich besonders berufen, durch karitative Hilfe der sozialen Frage und damit der vermeintlichen Gefahr durch die Sozialdemokratie und die sozialistische Arbeiterbewegung entgegenzuwirken: »Den sozialen Aufgaben kann sich die Kirche nicht entziehen; sie werden ihr mit Notwendigkeit durch die gegenwärtigen Verhältnisse aufgedrängt, sie ergeben sich auch aus dem Wesen der Kirche. Die wiederum erheblich angewachsene Zahl der socialdemokratischen Stimmen, der zunehmende Einfluß der socialdemokratischen Denkungsweise auf die Volkskreise, die vermehrte Machtstellung der Socialdemokratie im Staatsleben sind Tatsachen, welche nicht mit dem der gewiß sonst tröstlichen Beruhigung zu beseitigen sind, daß noch lange nicht Alle, welche sozialdemokratisch43 gestimmt haben, auch die letzten Consequenzen der Socialdemokratie teilen. Was hilft es, daß sehr Viele noch einen innern Widerstand haben gegen die vollendete Gottes- und Vaterlandsfeindschaft der Socialdemokratie, wenn sie bei entscheidenden Gelegenheiten nicht den christlichen und patriotischen Impulsen sondern den ausgegebenen Losungen der socialdemokratischen Führer folgen? und wird nicht unter der Herrschaft des Parteien42 Staatsarchiv Münster: Prov. Schulkollegium 1846. Die Errichtung von Kinderbewahr-Anstalten der Provinz Westfalen. Eine im Auftrag des Königlichen Provinzial-Schul-Kollegiums zu Münster herausgegebenen Denkschrift. Dortmund 1879, S.11. 43 Die unterschiedlichen Schreibweisen des Begriffs »Sozialdemokratie« sind im Text enthalten.
126 gedankens mehr und mehr auch der innere Widerspruch zurücktreten und damit die immer völligere Loslösung größerer Kreise von der Verbindung mit der Kirche zu befürchten sein? Die Gesetzgebung hat sociale Gebiete betreten, welche sich als Ausdruck praktischen Christentums angesehen wissen wollen. Die Neugestaltung der socialen Gesellschafts- und Wirthschaftsordnung gehört nicht mehr zu den ferneren Unmöglichkeiten; es liegt Alles daran, daß sie auf christlichem Boden erwächst. Für die Kirche ergiebt sich die Aufgabe, in Kenntnis sich zu halten von den sie umgebenden und ihren Bestand angehenden Zeitbewegungen, auf dem Grunde des Evangeliums die rechte Stellung zu ihnen zu finden, die sich anbahnende Entwicklung in christlichem Geiste zu beeinflussen, die Vereinbarkeit einer größeren Ausgleichung der bestehenden socialen und gesellschaftlichen Ungleichheiten mit dem Evangelium darzutun, für die Rechte und den Schutz der Abhängigen und für die Gewährung eines Maßes äußerer Lebensbedingungen an dieselben einzutreten, daß ihnen die Führung eines geordneten häuslichen und christlichen Lebens ermöglicht wird.«44 Die Maßnahmen zur sozialen Daseinsfürsorge hatten einen eindeutigen politischen Charakter. Die soziale Hilfe diente der Befriedung der Arbeiterfamilien. Das Ziel der Arbeit in den pädagogischen und sozialpädagogischen Institutionen bestand darin, Kinder und somit auch die Eltern gegen sozialdemokratische Einflüsse zu immunisieren. Die herrschende Gesellschaftsschicht, die in den drei Städten meist liberal geprägt war, fürchtete die sozialdemokratische Bewegung. Auch die Kirchen sahen in dieser politischen Strömung eine Gefahr für den Bestand ihrer Institutionen. Daß die soziale und sozialpädagogische Tätigkeit der Kirchen als oftmals erfolgreiches Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie gesehen wurde, zeigt ein Bericht aus dem Jahr 1948: »Die Tätigkeit der Schwestern begann am 10. Oktober 189845 ... Die Pfarrgeistlichkeit und die Bevölkerung nahmen die Schwestern gern und freudig auf ... Auch ablehnende Stimmungen kamen aus der Bevölkerung. Das hatte seinen Grund darin, weil die Gesinnung der Bevölkerung nicht einhellig religiös war, die Sozialdemokratie hatte in Dünnwald viele Anhänger, das Dorf hatte den Beinamen das ›rote‹ Dünnwald. Diese Bevölkerungskreise standen allem Religiösen ablehnend, ja feindlich gegenüber, so auch den Schwestern. Das hinderte aber diese Leute nicht, die Dienste der Schwestern für sich zu beanspruchen, und da oben genannte politische Richtung ihre meisten Anhänger beim Proletariat hatten, kam ja eben dazu, daß die Schwestern ihre Hilfeleistungen am häufigsten diesen armen Bevölkerungsschichten zuwandten. So trat langsam aber stetig ein Wandel in der Gesinnung der Bevölkerung ein. 44 Synodalarchiv-Bochum: Verhandlungen der Kreis-Synode Bochum, Bochum, 29. Juni 1893. (Als Manuskript gedruckt). Witten 1893, S.7. 45 Die Aufgaben der Ordensniederlassung der Vinzentinerinnen in Köln-Dünnwald umfaßten die ambulante Krankenpflege, die Leitung einer Kinderbewahranstalt und einer Nähschule.
127 Nach etlichen Jahren war die feindselige Gesinnung vollständig geschwunden.«46 In einer späteren Arbeit wäre zum Beispiel anhand von kleinräumigen Wahlanalysen zu überprüfen, inwieweit der Einsatz sozialer und sozialpädagogischer Arbeit tatsächlich Einfluß auf die politische Einstellung und das Wahlverhalten der Unterschichtbevölkerung hatte. 4.9 Konfessionelle Erziehung und Abwehr der konfessionellen Konkurrenz Die Vertreter der beiden christlichen Konfessionen hatten über die oben aufgeführten Motive hinausgehende Interessen. Sie fürchteten um den Bestand ihrer Institutionen. Die Repräsentanten der katholischen Kirche fühlten sich durch das soziale Engagement der evangelischen Mitglieder bedroht. Kaplan Krausen sah nicht nur die Gefahr der physischen und psychischen Verwahrlosung,47 sondern »daß namentlich die besser situierten Kinder der hiesigen protestantischen Verwahrschule ... zugeführt werden«48. Pastor Kayser von der Krefelder St. Annagemeinde kritisierte die Zustände in der Versorgung mit katholischen Kinderbewahranstalten: »Eine protestantische Bewahrschule in nicht weiter Entfernung von der (katholischen; E.K.) Kirche blüht. Selbstverständlich sind 90% der Kinder katholisch. In der genannten Schule wird, wie nicht anders zu erwarten ist, protestantisch gebetet und gesungen. Des Unterzeichneten Überzeugung geht dafür, daß das Vorhandensein eines katholischen Frauenklosters inmitten einer dichten Arbeiterbevölkerung und die entsprechenden Bemühungen für das Wohl der Bevölkerung entsprechende Einrichtungen zu treffen, auf die religiöse Gesinnung des Volkes sehr heilsam einwirken muß. Während jetzt mit Grund befürchtet werden muß, daß die Rührigkeit der Andersgläubigen, wie sie oben geschildert wurde, und ferner, daß die allgemein bekannte Art und Weise der Sozialisten, gegen Kirche und Religion zu hetzen, immer mehr Erfolg haben wird, und Gleichgültigkeit im Glauben und Abfall von demselben mehr und mehr überhand nehmen wird. Die Sozialdemokraten haben im hiesigen Pfarrbezirke tatsächlich einen starken Anhang, bezüglich vieler Mitläufer, welche letztere mit der Kirche nur noch mit einem dünnen Fädchen zusammenhängen. Durch die oben genannten Einrichtungen der Andersgläubigen wird in dem katholischen Volke der Indifferentismus langsam aber sicher großgezogen, und es ist zu befürchten, daß schließlich eine Bevorzugung der nichtkatholischen Bewegung einreißt. Wie ich höre, soll eine 2. protestantische Bewahrschule gebaut werden. ›Die tun etwas 46 47 48
Archiv des Mutterhauses der Vinzentinerinnen in Köln-Nippes: Akte Dünnwald. Vgl. diese Arbeit, S.114. Archiv der Franziskanerinnen: A.a.O.
128 für uns‹, heißt es schließlich im Munde des Volkes. Von dem protestantischen Wesen bleibt selbst in den Herzen der katholischen Kinder die aus den besten katholischen Familien stammen, manches hängen. Gemischte Ehen und gerade solche mit protestantischer Kindererziehung müssen dadurch mit der Zeit schnell und sicher gefördert werden.«49 Hier wurde der Kinderbewahranstalt in der Erziehung der Kinder zum katholischen Glauben nicht nur eine wichtige Verantwortung zugewiesen, sie hatte darüber hinaus eine politische Funktion. Sie wurde von den Vertretern der katholischen Kirche im Kampf gegen Andersgläubige und -denkende sowie gegen fortschrittliche Gruppen - wie die Sozialdemokratie - eingesetzt. Die Besorgnis des Pfarrers der oben genannten St. Annagemeinde erfüllte auch den Pfarrer Köllen im Stadtteil Köln-Kalk: »Die Verhältnisse in unserer Industriestadt mit ihren 18.000 Seelen sind Ihnen nicht unbekannt. Wie in allen Vororten der Großstädte, so ist auch alleine die Pflege des kirchlichen Lebens mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, der religiöse Sinn mancher Arbeitgeber läßt .. zu wünschen. In die breite Masse der Arbeiterbevölkerung ist das Gift der Unzufriedenheit und des Unglaubens gedrungen. Da heißt es dann, aus der Sakristei heraus, und von der Kanzel herabsteigen um noch zu retten was zu retten ist. Hauptsächlich von diesem Gedanken geleitet ist ein Bau zu einem katholischen Vereinshause nebst Kleinkinderbewahrschule und Waisenasil . (geplant; E.K.) worden ... Die Protestanten (besitzen; E.K.) eine feine Schule, die heute schon von manchen katholischen Kindern leider besucht wird.«50 Auch die evangelische Kirche hatte ein Interesse an der konfessionellen Manipulation der Kinder, die ihrerseits die Eltern beeinflussen sollten: »Die Kleinkinder-Bewahr-Anstalten (in Köln dienen; E.K.) nicht allein als leibliche Pflege-Stätten christlicher Erziehung ... sondern (sie sind; E.K.) auch als PflegeStätten christlicher Erziehung zu betrachten .. durch welche gleichzeitig religiöser Sinn in den dadurch berührten Familien unterhalten wird.«51 Religiöse und politische Interessen der beiden christlichen Kirchen waren eng miteinander verknüpft. Beide Konfessionen sahen einen engen Zusammenhang zwischen mangelnder gelebter Religiosität im Sinne ihrer jeweiligen Lehren, sittlichem Verfall52 sowie der Hinwendung der Unterschichtfamilien zur Sozialdemokratie. Diesen Faktoren wollte man unter anderem durch die Erziehung der noch nicht schulpflichtigen Kinder entgegenwirken. Gleichzeitig standen sich die beiden christlichen Konfessionen unversöhnlich gegenüber.
49 50 51 52
Bistumsarchiv Aachen: GVO 4.I. Archiv der Franziskanerinnen Aachen: Gebundene Unterlagen 10. Kirchlicher Anzeiger der evangelischen Gemeinde zu Köln. Nr.36.1868, S.141f. Vgl. auch diese Arbeit, S.120f.
129 4.10 Zusammenfassung Beim Vergleich der drei Städte Köln, Krefeld und Bochum ergeben sich in der Motivfrage Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die Bekämpfung der physischen und psychischen Verwahrlosung, die Vermittlung von Normen und Werten, die Vorbereitung auf die Schule, die Bekämpfung der Sozialdemokratie und die Abwehr der konfessionellen Konkurrenz waren in allen drei Städten von Bedeutung. Dagegen war die Entlastung der erwerbstätigen Mütter, wie zu erwarten, ein wichtiges Motiv in den beiden Städten mit einem hohen Anteil an Industriebetrieben, die vornehmlich Frauen beschäftigten, während man in Bochum, aber zum Teil auch in Köln, den nichterwerbstätigen Müttern Erleichterung verschaffen wollte. Dies stand im Zusammenhang mit dem hohen Aufwand, den die Frauen in der Hausarbeit leisten mußten, aber auch mit der Bewirtschaftung von Nutzgärten und der Haltung von Kleintieren. Darüber hinaus waren die Wohnbedingungen in Köln und Bochum offensichtlich problematischer als in Krefeld, so daß in den beiden erstgenannten Städten die Kinder häufig zum Spielen auf die Straßen ausweichen mußten. In den Kölner und Bochumer Industrien war zum Teil Nachtarbeit üblich. Die Unterbringung der Kinder in Kinderbewahranstalten ermöglichte den nachtarbeitenden Männern für einige Stunden am Tag ungestörte Ruhe. In den Krefelder Textilindustrien gab es dagegen keine Nachtarbeit. Das Schlafgängerwesen, das in Bochum sehr verbreitet war, rief bei den Honoratioren der Stadt Befürchtungen um die Sittlichkeit der Familien und der moralischen Erziehung der Kinder wach. Dies stand im engen Zusammenhang mit der Intention, die physische und psychische Verwahrlosung zu verhüten. In den Motiven der kommunalen Verantwortungsträger aus Politik, Wirtschaft und Kirchen drückt sich das Unbehagen des Bürgertums mit der Moderne aus. Die mit der Umwandlung von der Agrar- zur Industriegesellschaft einhergehenden Veränderungen der individuellen Lebensbedingungen und -formen führte bei ihnen zu einer tiefen Verunsicherung. Durch die Wohn- und Lebensverhältnisse der Arbeiterbevölkerung und die Aufwachsensbedingungen der Kinder sowie durch Forderungen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung fühlte sich die bürgerliche Schicht in ihren Lebensansprüchen bedroht.53 Wenn auch einige der bürgerlichen Vertreter in ihrer Ursachenanalyse zur Verelendung der Arbeiterschicht ökonomische und sozialpolitische Entwicklungen miteinbezogen, so
53 Berg, Christa und Ulrich Herrmann: Industriegesellschaft und Kulturkrise. Ambivalenzen der Epoche des Zweiten Deutschen Kaiserreichs 1870-1918. In Christa Berg: (Hrsg:) Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd.IV. 1870-1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des ersten Weltkriegs. München 1991, S.10f. Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung. Frankfurt am Main 1985, S.69ff. Sachße, Christoph: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871-1929. Frankfurt am Main 1986, S.20ff.
130 beurteilte doch die Mehrheit der kommunalen Verantwortungsträger die Hintergründe der Lebensituation der Unterschichtbevölkerung mit einer zunehmenden Entsittlichung dieser Bevölkerungskreise. Damit individualisierten sie die sozialen Probleme. Die beiden christlichen Kirchen setzen diese vermeintliche Entsittlichung mit dem Abfall breiter Bevölkerungskreise von ihren jeweiligen Glaubensgrundsätzen gleich; nur durch die Verankerung der kirchlichen Glaubenslehren ließen sich die sozialen Probleme eindämmen. Ziel aller kommunalen Verantwortungsträger war es, durch sozialpolitische und sozialpädagogische Maßnahmen, die von der Wohnungsfürsorge über Armenpflege reichte, die sozialen Hauptprobleme zu entschärfen, zur Aussöhnung der Klassen beizutragen und damit einen Damm gegen die Ausbreitung der Sozialdemokratie zu setzen. Eine wichtige Basis zur Erreichung ihrer Ziele wurde in der frühzeitigen Erziehung der noch nicht schulpflichtigen Kinder in Kleinkindinstitutionen gesehen. Ausgangspunkt war das damalige Sozialisationswissen, die der frühen Kindheit eine hohe Prägekraft mit großer Bedeutung für die weitere Entwicklung des Individuums zumaß. Die kommunalen Honoratioren erhofften sich durch die Errichtung der Kleinkindinstitutionen eine frühe Beeinflussung des Kindes in ihrem Interesse. Ziel war es, die Kinder dahingehend zu sozialisieren, daß sie im späteren Erwachsenenleben die Normen und Werte der bürgerlichen Schicht soweit verinnerlicht hatten, daß sie sich ohne Schwierigkeiten der herrschenden Ordnung anpassen und sich mit ihren unzulänglichen Lebensverhältnissen fraglos bescheiden würden. Man verfolgte mit dem Engagement für die Kleinkindinstitutionen somit politische Ziele. Durch die Vermittlung der bürgerlichen Normen und Werte wollte man der Kritik an den sozialen und gesellschaftlichen Zuständen entgegenwirken. Verbunden war dies mit der Hoffnung, durch eine frühzeitige Erziehung der Kinder als Grundlage eines ganzen Systems der Beeinflussung von der Schule bis hin zur Erwachsenenbildung, von der Armenpflege bis hin zum sozialen Wohnungsbau - einen Damm gegen die Sozialdemokratie und die sozialistischen Gewerkschaften zu setzen. Gleichzeitig hofften die Unternehmer, von den Kinderbewahranstalten zu profitieren. Den Müttern wurde nicht nur die Erwerbstätigkeit ermöglicht, man hielt dadurch die Löhne in den Frauenindustrien auch für Männer niedrig. Die Frauen sollten darüber hinaus, ihrer Sorge um die Kinder entlastet, ihre Produktivität steigern. Dies galt ebenso für die nachtarbeitenden Männer, denen durch die Kinderbewahranstalten eine ungestörte Ruhe während des Tages ermöglicht wurde. In den nächsten Kapiteln wird zu überprüfen sein, inwieweit sich die Interessen der kommunalen Führungsschicht mit den Inhalten der pädagogischen Arbeit decken. Dazu ist es notwendig sich den gesetzlichen Grundlagen und den Rahmenbedingungen (Erzieherinnenausbildung, räumliche und materielle Bedingungen, Erzieherinnen-Kind-Relation und Öffnungszeiten), die die Pädagogik beeinflußten, zu versichern.
5 Die Situation der öffentlichen Kleinkinderziehung im Kaiserreich
Die pädagogische Praxis in den Kinderbewahranstalten war von verschiedenen Komponenten abhängig. Gesetzliche Regelungen, Verordnungen, Träger, erzieherisches Personal, nicht zuletzt die finanziellen Eckdaten, gaben einen Rahmen vor, in den sich die erzieherische Arbeit einfügen mußte. Diese Rahmenbedingungen sollen im Folgenden für die von mir untersuchten Städte genauer beleuchtet werden. 5.1 Gesetzliche Grundlagen der öffentlichen Kleinkinderziehung Die Träger der öffentlichen Kleinkinderziehung waren zum überwiegenden Teil vereinsmäßig organisiert.1 Die Vereine unterstanden dem preußischen Vereinsrecht und waren damit vom Staat in hohem Maße abhängig. Mit der Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Jahr 1900 erhielten die Vereine und damit die meisten Träger der Kinderbewahranstalten »›als juristische Person des Privatrechts‹ nun einen weitergehenden und staatsunabhängigeren Rechtsund Betätigungsraum«2. Die öffentliche Kleinkinderziehung wurde früh unter die Aufsicht der Schulbehörde gestellt. Nach der Staats-Ministerial-Instruction vom 31. Dezember 1839 wurde im § 11 festgelegt: »Warteschulen, welchen Kindern, die das schulpflichtige Alter noch nicht erreicht haben, anvertraut werden, sind als Erziehungsanstalten zu betrachten und stehen als solche unter der Aufsicht der Ortsschulbehörde. Die Anlegung solcher Warteschulen ist nur (verheirateten) Personen (oder ehrbaren Witwen) zu gestatten, welche von unbescholtenen Sitten zur Erziehung der Kinder geeignet, und deren Wohnungen gesund und hinlänglich geräumig sind. Die Ortsschulbehörde erteilt die Erlaubnis zur Errichtung der Warteschulen, und hat darin zu sehen, daß in denselben die Kinder nicht länger als zum gesetzlichen schulfähigen Alter verbleiben.«3 1866 wurde die Instruktion dahin gehend abgeändert, daß nun auch unverheiratete Personen Institutionen zur Betreuung und Erziehung noch nicht schulpflichtiger Kinder errichten und leiten konnten. 1 Vgl.: Reyer, Jürgen: Entwicklung der Trägerstruktur in der öffentlichen Kleinkinderziehung. In: Günter Erning, Karl Neumann und Jürgen Reyer (Hrsg.): Geschichte des Kindergartens. Bd.II. Institutionelle Aspekte, systematische Perspektiven, Entwicklungsverläufe. Freiburg im Breisgau 1987, S.42f. 2 A.a.O., S.48. 3 Archiv Deutscher Caritasverband: 309.1. Staats-Ministerial-Instruction vom 31. März 1839. Zitiert nach Bremen, von: Die Preußische Volksschule 1905, S.729.
E. Krieg, Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt, DOI 10.1007/978-3-531-92848-7_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
132 5.1.1 Überwachung der Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung durch die Schulbehörden In der Preußischen Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 wurde die Aufsicht über die Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung geregelt: »Alle öffentlichen und Privatunterrichts- und Erziehungsanstalten stehen unter der Aufsicht vom Staate ernannter Behörden.«4 Am 11. März 1872 wurde das Schulaufsichtsgesetz erlassen, dessen Inhalt besagte, daß »unter Aufhebung aller in einzelnen Landesteilen entgegenstehenden Bestimmungen .. die Aufsicht über alle öffentlichen und Privat-Unterrichts- und Erziehungsanstalten dem Staate« zustehen.5 Eine Regierungsverfügung vom 24. November 1877 regelte im einzelnen das Aufsichtsrecht über pädagogische Institutionen: »Die Erlaubnis zur Anlegung von Warteschulen und Kindergärten erteilt die Ortsschulbehörde. Der Lokalschulinspektor hat von der erfolgten Gründung einer solchen Anstalt sowie von den an dieselben berufenen Lehrern und Lehrerinnen Anzeige zu erstatten. Weiter hat er durch wiederholten Besuch der genannten Anstalten sich davon zu überzeugen, daß in denselben nicht ein nur der ordentlichen Schule vorbehaltener Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen erteilt wird. Die Kreisschulinspektoren haben ebenso wie die Privatschulen auch die Kleinkinderschulen zu besuchen und sich vom Stande der Anstalten zu überzeugen. In dem Kreisschulinspektionsregister ist ein besonderes Aktenstück mit Verzeichnis aller im Bezirk befindlichen Kleinkinderschulen zu führen.«6 Am 4. Februar 1909 beschränkt man in einem Runderlaß die Aufsichtsausübung auf die Kreisschulinspektion. Im Jahr 1899 trat eine Regelung in Kraft, die die hygienische Überwachung der Institutionen vorsah. Die Kinderbewahranstalten unterstanden der örtlichen sanitätspolizeilichen Kontrolle. In einem Schreiben vom 23. Februar 1900 wurde verfügt, daß zweimal jährlich die Institutionen auf Befolgung der hygienischen Anforderungen untersucht werden sollten. Die Vorsteherinnen der Anstalten hatten ansteckende Krankheiten zu melden.7 Die Ortsbesichtigungen konzentrierten sich vor allem auf die Größe des Raumes in Relation zu den anwesenden Kindern, die Hygiene der Innen- und Außenräume sowie die Toiletten, wie noch am Beispiel der Städte Köln, Krefeld und Bochum zu zeigen sein wird. 5.2 Träger und Leitung der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum Die Errichtung und Leitung von Kinderbewahranstalten in den Städten Köln, Krefeld und Bochum war weitgehend der Privatinitiative überlassen. Häufig wur4 Wicht, von: Regelung und Aufsicht über Kleinkinder-Anstalten in ihrer geschichtlichen Entwicklung und nach dem geltenden Recht in Preußen. Meißen in Sachsen 1927. (Sonderdr. a.d. Christl. Kinderpfl.), S.5. 5 A.a.O., S.6.
133 den Vereine gegründet, die die Trägerschaft übernahmen. Zum Teil waren es reine Frauenvereine, zum Teil gemischte Vereine, wie der Krefelder »Verein zur Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten«. Dem Vorstand gehörten sieben männliche und sieben weibliche Mitglieder an:8 »Der Vorstand besorgt die Angelegenheiten des Vereins, beschafft die Lokale, wählt die Lehrerinnen und Gehülfinnen, setzt ihre Gehälter fest, verwaltet das Rechnungswesen, entscheidet über die Aufnahme und Entlassung von Kindern, entwirft das Regulativ für die Anstalten, führt die Oberaufsicht über dieselben, beruft die Generalversammlungen, legt jährlich Rechnung ab und versammelt sich so oft, als der Zweck des Vereins es erfordert.«9 Zur Finanzierung der Kinderbewahranstalten war der regelmäßige Mitgliedsbeitrag der Vereinsmitglieder eine wichtige Basis. Die Stadt als Träger trat in der Regel nur da in Erscheinung, wo aufgrund der besonderen Situation andere Träger - wie Pfarrgemeinden und Vereine - nicht in der Lage waren, Anstalten zur Aufbewahrung und Erziehung kleiner Kinder der Arbeiterschicht zu gründen und zu erhalten. Während Krefeld und Bochum keine eigenen kommunalen Einrichtungen unterhielten, gab es in Köln städtische Kinderbewahranstalten. Die Errichtung der ersten Anstalten in Köln unter kommunaler Trägerschaft ist im engen Zusammenhang mit den Schließungen der katholischen Anstalten aufgrund der Kulturkampfgesetzgebung von 1875 zu sehen.10 Die Stadt Bochum bezuschußte die Kinderbewahranstalten. Dagegen erhielten in Köln nur wenige nichtkommunale Anstalten einen Zuschuß von der Stadt.11 Zur Zeit der Klostergesetze wurden im Stadtparlament die Fragen der öffentlichen Kleinkinderziehung mehrmals diskutiert. Die liberalen Stadtverordneten sprachen sich gegen eine Unterstützung der freien Wohltätigkeit aus, diese sei nur in einzelnen Notfällen zu gewähren. Es wurde auch mehrmals die Frage diskutiert, inwieweit die Kommune zur Errichtung und Unterhaltung von Kleinkindinstitutionen verpflichtet sei. Die katholischen Abgeordneten lehnten städtische Einrichtungen ab, während die liberalen Stadtverordneten dieselben befürworteten. Dagegen sprachen sich, nach der Aufhebung der Klostergesetze, einige Liberale gegen die städtischen Institutionen aus.12 Hier wird die Verquickung von politischen Interessen und der Gründung sozialpädagogischer Institutionen deutlich. Die Eröffnung kommunaler Einrichtungen zur Zeit der Klostergesetze geschah auch mit dem Ziel, den katholischen Einfluß auf diese zurückzudrängen, dies galt ebenso für andere Bereiche des öffentlichen Lebens. Im Jahr 1881 waren der Oberbürgermeister der Stadt Krefeld, Franz August Ophüls, und weitere Angehö6 Ebenda. 7 Vgl. Stadtarchiv Krefeld: Bestand 4.1135. 8 Stadtarchiv Krefeld: Statuten des Vereins zur Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten zu Krefeld, S.6. In: Nachlaß L.F. Seiffardt: 40.15.233. 9 A.a.O., S.6f. 10 Vgl. diese Arbeit, S.68f, 99f. 11 Vgl. diese Arbeit, S.138ff. 12 Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln: Abt.40-44.320.I.
134 rige des Gemeinderates Mitglieder des Vorstandes des »Vereins zur Errichtung und Leitung von Kleinkinder-Bewahranstalten«13. Die Anstalten scheinen nicht durch die Kommune subventioniert worden zu sein. Die Notwendigkeit von Kleinkindanstalten scheint von allen drei Städten anerkannt worden zu sein, aber das direkte Engagement durch die Kommunen wurde eher gescheut. Vermutlich fürchteten die Stadtväter die finanzielle Belastung des kommunalen Haushaltes durch eigene Kinderbewahranstalten. Auch war zu dem Zeitpunkt die Zugehörigkeit der öffentlichen Kleinkinderziehung ungeklärt, das heißt, die Zuordnung zur Schul- oder Armenfürsorge stand noch nicht fest.14 Die pädagogische Leitung der kirchlichen Anstalten war überwiegend den katholischen Ordensfrauen15 oder den evangelischen Diakonissen anvertraut. Die Übertragung der Anstaltsleitung an weltliche Personen bildete eher die Ausnahme. Weltliches Personal wurde in der Regel dann eingesetzt, wenn geistliche Erzieherinnen aus Gründen des Nachwuchsmangels nicht zur Verfügung standen. Die Bevorzugung der Ordensfrauen ist auch im Zusammenhang mit den Kosten zu sehen.16 Geistliches Personal war für die Träger weniger kostenintensiv als weltliche Erzieherinnen. Auch dürften diese Frauen von ihrem Selbstverständnis her anspruchsloser gewesen sein und sich den schwierigen Arbeitsbedingungen besser angepaßt haben. Sie arbeiteten häufig nicht nur in den Kinderbewahranstalten, sondern wurden darüber hinaus zu Tätigkeiten in der Küche, im Garten, zu Tätigkeiten im sozialen Bereich und sonstigen Arbeiten herangezogen. Ferner waren sie im Vereinswesen tätig. Ein Kostenfaktor stellten auch die anderen Betätigungsfelder der Schwesternniederlassungen dar. Nicht nur die gemeinsame Nutzung des Hauses, sondern auch Tätigkeitsbereiche, die offensichtlich rentabel waren und kleine Gewinne abwarfen, trugen zur Entlastung der Kosten der Kinderbewahranstalten bei. In einem Schreiben aus Bethel an Pastor Schmidt I heißt es diesbezüglich: »Ich habe bisher immer die Erfahrung gemacht, daß Handarbeitsschulen, von Schwestern geleitet, in der Tat im Laufe der Zeit eine Einnahmequelle darstellten, die gerade dann, wenn man für die Kinderschule Zuschüsse braucht, eine sehr wertvolle Hilfe sind. Ich halte es auch durchaus nicht für verkehrt, wenn man durch die Verbindung einer solchen Unternehmung mit einer anderen, die beständige Zuschüsse braucht, einer guten Sache hilft.«17 In 13 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf: Regierung Düsseldorf 2682. 14 Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln: Abt.40-44.320.I. 15 Dies gilt mit Ausnahme der Zeit des Kulturkampfgesetzes vom 31. 5. 1875. Vgl. diese Arbeit, S.93ff. 16 Als Beispiel für die erhöhten Kosten, die durch den Einsatz von weltlichem Personal den Trägern von sozialen Institutionen entstanden sind, sei hier eine Berechnung von Bongartz angeführt. Nach dieser Aufstellung erhielt jede der neun Schwestern für die Pflege von 50 bis 60 alten, kranken Leuten und die Erziehung der 80 Waisenkinder in Eupen von der St. Josephsgemeinde jährlich 120 Mark, das sind zusammen 1080 Mark. Das weltliche Personal erhielt, nachdem die Ordensfrauen wegen der Klostergesetzgebung die Erziehungsarbeit aufgeben mußten, für die pädagogische Arbeit im Waisenhaus, dessen Kinderzahl um die Hälfte niedriger lag, insgesamt jährlich 720 Mark, davon erhielten bei freier Station die Leiterin 360 Mark und die beiden Helferinnen je 180 Mark. Vgl. Bongartz, Arn.: A.a.O., S.99. 17 Archiv Sarepta: 1259.
135 Verträgen zwischen den Mutterhäusern und den Trägern wurde genau festgelegt, zu welchen Zahlungen und sonstigen Leistungen die Träger verpflichtet waren und umgekehrt, welche Gegenleistungen die Mutterhäuser und die von ihnen entsandten Schwestern zu erbringen hatten. 1903 waren laut Vertrag zwischen der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta und der Krupp’schen Verwaltung pro Schwester und Jahr 300 Mark an das Mutterhaus zu entrichten. Der Vorstand der Institution verpflichtete sich, eine möblierte Wohnung zu stellen und die Kosten für die Verpflegung zu übernehmen sowie die Kosten für Krankheit und Beerdigung, sofern die Schwestern nicht in das Mutterhaus gebracht würden. Dagegen konnte das Mutterhaus nach eigenem Ermessen die Schwester abberufen, sofern sie Ersatz stellen würde. Die Schwester vor Ort war dem jeweiligen Vorstand unterstellt und ihm gegenüber in ihrer Arbeit verantwortlich.18 In Köln standen 1910 von 56 Anstalten elf unter kommunaler Trägerschaft, zwölf wurden nach der »Übersicht über die Kinderbewahranstalten in Stadtbezirke Cöln am 1.10.1916« von Vereinen, davon acht Frauenvereinen, getragen. 15 Anstalten können den Pfarrgemeinden zugeordnet werden, eine Anstalt unterstand einer Firma.19 Von den 56 Anstalten waren 28 eindeutig unter katholischer Trägerschaft oder Leitung, 19 wurden von katholischen Ordensfrauen geleitet. Die Leitung der anderen katholischen Anstalten ist nicht eindeutig identifizierbar, aber es ist zu vermuten, daß der Anteil der Ordensfrauen in diesem Bereich der Kinderbewahranstalten hoch war. Zwölf Anstalten standen unter protestantischer Trägerschaft, davon wurden nachweislich drei von Diakonissen geleitet.20 In Krefeld wurden 1910 von 18 vorhandenen Anstalten »5 vom Verein zur Errichtung und Leitung von Kleinkindanstalten, 2 von katholischen Kirchengemeinden, 1 von der evangelischen Kirchengemeinde, 8 von Ordensniederlassungen, 1 von der Königlichen Eisenbahndirektion in Cöln ... 1 vom Vaterländischen Frauenverein« unterhalten.21 Der Vorstandsvorsitzende des genannten Vereins und die Vorstandsmitglieder waren protestantisch. Die Leitung der jeweiligen Kinderbewahranstalten wurde Frauen evangelischer Konfession übertragen. Es ist zu vermuten, daß auch später dieser konfessionelle Charakter beibehalten wurde, weil nach dem Kulturkampfmilderungsgesetz von 1880 eigene katholische Gruppierungen zur Gründung und Unterhaltung von Kleinkindanstalten entstanden. In Bochum wurden die Anstalten vorwiegend von den dort bestehenden katholischen und evangelischen Vereinigungen und dem Vaterländischen Frauenverein22 unterhalten. Es waren aber auch Pfarreien direkt in die Träger18 Archiv Sarepta: 1276. 19 Vgl. Hist. Archiv der Stadt Köln: A.a.O. 20 Vgl. ebenda. 21 Stadtarchiv Krefeld: Übersicht über die Entwicklung der Stadt Krefeld 1901-1910. Crefeld o.J., S.226. 22 Der Bochumer Verein hatte die Kinderbewahranstalt und andere soziale sowie sozialpäd. Institutionen unter die Leitung des Vaterländischen Frauenvereins gestellt. Das Unternehmen stellte das Gebäude für die Kinderbewahranstalt zur Verfügung und subventionierte jährl. die sozialen Tätigkeiten des Frauenvereins. (Vgl. Märk. Sprecher: 10. März 1883; 6. März 1888, 4. Juli 1899; 15. März 1901; 24. April 1902; 17. Mai 1904). Bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes kamen noch zwei weitere Betriebseinrichtungen hinzu.
136 schaft miteingebunden. Die Leitung wurde, abgesehen von der Anstalt des Vaterländischen Frauenvereins und einer katholischen Anstalt - hier ist die Leitung nicht klar auszumachen -, ab 1888 von Ordensfrauen, meist den Vinzentinerinnen (Mutterhaus Paderborn), wahrgenommen. 1899 waren von den zehn Anstalten fünf katholisch, vier evangelisch, eine stand unter der Trägerschaft des Vaterländischen Frauenvereins.23 Dem Vorstand des Vaterländischen Frauenvereins, der eine Kinderbewahranstalt in der Werkssiedlung des Bochumer Vereins Stahlhausen unterhielt, gehörte unter anderem die Ehefrau des Generaldirektors des Bochumer Vereins Baare an.24 Hier wird eine Verknüpfung der Bochumer Führungsschicht mit der sozialen Daseinsfürsorge deutlich. Dies betraf ebenso andere Vorstandsmitglieder, so wurde, einigen Angaben zufolge, der Jahresbericht während den Hauptversammlungen von dem jeweiligen Bürgermeister vorgetragen.25 Vermutlich ergaben sich in den beiden anderen Frauenvereinen ähnliche Mitgliederkonstellationen. 5.3
Zur Finanzierung der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum
Die Kinderbewahranstalten wurden nach unterschiedlichen Systemen finanziert. Zum Teil erhielten die Anstalten städtische Zuschüsse, zum Teil wurden sie als kommunale Anstalten - wie in Köln - fast ganz von den Städten unterhalten. Einige Kirchengemeinden unterstützten die Anstalten, andere Einrichtungen wurden durch freiwillige Beiträge und Spenden erhalten. In der Regel zahlten die Eltern einen Beitrag, das sogenannte Schulgeld. Einige Kinderbewahranstalten erhielten dauernde Unterstützung von Unternehmern oder wurden, wie die Kinderbewahranstalt in Köln-Mülheim, die von den Vinzentinerinnen geleitet wurde, über den Weg einer Stiftung finanziert. Die Trägervereine veranstalteten darüber hinaus zur Erhöhung der Einkünfte Sammlungen und Wohltätigkeitsveranstaltungen, wie Vorträge, Konzerte, Theateraufführungen, Basare und Verlosungen. Der Bochumer evangelische Frauenverein, der sich neben der Errichtung und Unterhaltung evangelischer Kinderbewahranstalten unter Leitung von Diakonissen der Kranken- und Armenpflege sowie des Unterrichts schulentlassener Mädchen in den Handarbeitsschulen widmete, verzeichnete 1883 insgesamt 4.878,84 Mark an ordentlichen und außerordentlichen Einnahmen. Diese Einnahmen setzten sich aus »Beiträgen von Mitgliedern, Pflegegeldern und Liebesgaben, der Erträge einer Lotterie und eines Kirchencomitès und den Schulgeldern der Klein23 Vgl. Stadtarchiv Bochum: Adreßbuch der Stadt Bochum und der angrenzenden Bezirke von Altenbochum, Weitmar und Wiemelshausen 1899, S.51. 24 Vgl. Märkischer Sprecher. 1888. Nr.95. 25 Vgl. Ebenda. Märkischer Sprecher. 1904. Nr.114.
137 kinderschule .. mit Hinzurechnung eines städtischen Zuschusses,26 Capitalzinsen und einiger kleiner Posten« zusammen.27 Die Unternehmen beteiligten sich häufig durch Spenden oder regelmäßige Zahlungen an den Kosten, sofern sie die Kosten nicht ganz übernahmen.28 Ähnlich gestaltete sich die Finanzierung des Vaterländischen Frauenvereins, der eine Kinderbewahranstalt in Stahlhausen, der Werkssiedlung des Bochumer Vereins, unterhielt. Allerdings stellte hier die Unterstützung des Bochumer Vereins einen erheblichen Betrag im Gesamtetat dar. Der Verwaltungsbericht für 1900 gibt folgende Zahlen an: »Mitgliedsbeiträge 1128 städtischer Zuschuß 900 Schulgelder 615 Erlös aus dem Vortrag über Island 478,75 lebende Bilder 680,60 Ertrag des Bazars 6832,15
Mk. Mk. Mk. Mk. Mk. Mk.
außergewöhnliche Zuwendungen: a. Bochumer Verein 1200 Mk. b. von Mitgliedern 479,30 Mk. c. von Freunden des Vereins 1000 Mk.
Die gesammten Einnahmen stellen sich auf 13.313,80 Mk., welcher Betrag sich durch den Bestand aus dem Vorjahr auf 26.809,67 Mk. erhöht.«29 Demgegenüber registrierte man an Ausgaben insgesamt 6.889,42 Mark. Für die Anstalten, zu denen auch die vom Vaterländischen Frauenverein geführte Nähschule und die Kinderbewahranstalt gehörte, wurden 3.748,88 Mark aufgewendet,30 wobei zu vermuten ist, daß die Ausgaben für die Kinderbewahranstalt den größten Posten stellten. Die Stadt bezuschußte die Kinderbewahranstalt des Vaterländischen Frauenvereins von 1893 bis 1895 und 1906/07 mit jeweils 900 Mark.31 Es ist anzunehmen, daß im Jahr 1900 eine ebensolche Summe zur Verfügung stand, so daß die oben ausgewiesenen städtischen Zuschüsse ausschließlich für die Kinderbewahranstalt gedacht waren. Die katholischen Einrichtungen erhoben 1891 ein Schulgeld von 25 und 50 Pfennig; diese unterschiedliche Summe mag im Zusammenhang mit der Geschwisterzahl stehen. An Gesamteinnahmen verbuchten die vier angegebenen Anstalten jeweils 267,00 Mark, 440,00 Mark, 308,73 Mark und 565,06 Mark. Die erste Anstalt wurde von 70 Kindern, die zweite und dritte von jeweils 90 Kindern und die vierte von 115 Kindern besucht.32 Die Stadt bezuschußte alle Anstalten - also auch die evangelischen - mit 450,00 Mark, den Vaterländischen Frauenverein wie schon erwähnt mit 900,00 Mark. Letztere kommunale Zuwendung dürfte im Zusammenhang mit der Größe der Kinderbewahranstalt in Stahlhausen gestanden haben. 26 Die evangelischen Kinderbewahranstalten erhielten zu dieser Zeit ebenso wie die katholischen einen jährlichen Zuschuß der Stadt von je 300 Mark. 27 Märkischer Sprecher. 1883. Nr.59. 28 Synodalarchiv Bochum: Kleinkinderschule in Weitmar-Mark. 1894-1912. Heft 18. 29 Märkischer Sprecher vom 15. Mai 1901. 30 Ebenda. 31 Stadtarchiv Bochum: Verwaltungsberichte 1891-1896 und 1906/07. 32 Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg I.894.
138 Insgesamt war die Finanzierung der Kinderbewahranstalten schwierig. Am Beispiel des vom Fröbelverein in Köln 1876 gegründeten Volkskindergartens verdeutlicht sich die häufig problematische finanzielle Situation der freien Kleinkindinstitutionen. Dieser Volkskindergarten bot den Arbeiterkindern im vorschulpflichtigen Alter eine ganztägige Betreuung mit Verpflegung. Schon am 8. April 1876 mußte der Fröbelverein um einen städtischen Zuschuß nachsuchen. Auf Antrag wurde ein Jahr später der Volkskindergarten mit 1.500 Mark durch die Kommune subventioniert. Im November des gleichen Jahres spitzte sich die finanzielle Situation nach Angaben des Vereins aufgrund von Reparatur- und Inventarergänzungskosten sowie der zurückgehenden Spenden33 derart zu, daß eine Übernahme des Volkskindergartens durch die Stadt erwogen wurde. Ein Jahr später im November 1878 sah sich der Verein gezwungen, abermals um Übernahme bei der Stadt oder um einen Zuschuß von 3.000 Mark nachzusuchen. Die Ausgaben für das Jahr 1878 lagen bei einem Durchschnittsbesuch von 100 Kindern bei 6.350 Mark.34 1879 wurde der Volkskindergarten des Fröbelvereins von der Stadt übernommen. Die kommunalen Institutionen in Köln gaben für die folgenden Jahre 1890/91 und 1900 Ausgaben und Einnahmen an:35 Jahr
zusammen
kommunaler ZuSchuß
Einnahmen: Schulgeld
Personal kosten
Beköstigung d.Personals u.der Kinder37
Beschäftigungsmaterial
Miete Umlagen Reinigung usw.
insgemein36
1890/91 190038 Anstieg
12860 16514 3654
9886 12157 2271
3495 4357 862
7445 11775 4330
2532 1726 - 806
194 262 68
2540 2590 50
149 161 12
33 Der Rückgang der Spendenfreudigkeit der Kölner Bürger dürfte im Zusammenhang mit der ökonomischen Rezession stehen. Es kann angenommen werden, daß sich in wirtschaftlichen Krisenzeiten die finanzielle Situation der Kleinkindinstitutionen wesentlich verschlechterte. Ebenso wird ein Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung und Finanzsituation am Beispiel der Stadt Krefeld deutlich. Während der langanhaltenden Wirtschaftskrise, die in den neunziger Jahren begann und bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts andauerte, mußten Einrichtungen geschlossen werden. Auch hier kann ein Zusammenhang mit der Abnahme der Spendenbereitschaft gesehen werden. Aber auch der Elternbeitrag mußte in ökonomischen Krisenzeiten häufig reduziert werden, da aufgrund der sinkenden Löhne und der Arbeitslosigkeit das Familieneinkommen sank. Vgl. diese Arbeit, S.72ff. 34 Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln: 40-44.320. 35 Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln: Verwaltungsberichte 1890/91 bis 1900. 36 Vermutlich sind unter diesem Posten Ausgaben für Feste, Geschenke und unvorhergesehene Kosten zu verstehen. 37 Nur in zwei Anstalten der Altstadt erhielten die Kinder ein Mittagessen, in der Kinderbewahranstalt, die im Gebäude des Waisenhauses untergebracht war, erhielt nur das Personal Verpflegung. Während die Ausgaben für das Personal um 51 Mark im Waisenhaus anstiegen, fielen die Ausgaben für die beiden anderen Anstalten um 857 Mark. Dies dürfte im Zusammenhang mit den sinkenden Besuchszahlen stehen. Da für das Rechnungsjahr 1890/91 die absoluten und für 1900 die durchschnittlichen Besuchszahlen angegeben werden, sind genaue Abweichungen nicht zu ermitteln. 38 Die kommunalen Anstalten werden aus Vergleichsgründen ohne Bayenthal und Deutz betrachtet, die 1890/91 noch nicht existierten.
139 Für das Etatsjahr 1890/91 betrugen die laufenden Kosten ohne die beiden einmaligen Ausgaben für Neueinrichtungen von 521 Mark insgesamt 12.860 Mark. Im Jahr 1900 wurden für die gleichen Anstalten insgesamt 16.514 Mark aufgewendet. Der Anstieg der Kosten betrug 3.654 Mark. Für das Jahr 1890/91 wurden 3.495 Mark an Schulgeld eingenommen, die Stadt subventionierte die Kinderbewahranstalten mit 9.886 Mark. 1900 betrugen die Schulgeldeinnahmen 4.357 Mark, der kommunale Zuschuß stieg auf 12.157 Mark. Während die Einnahmen durch den Elternbeitrag sich nur unwesentlich erhöhten, stieg die kommunale Subvention stärker an. Dies mag im Zusammenhang mit einer geringeren Kinderzahl39 stehen und/oder mit einer höheren Zahl der ermäßigten oder freien Anstaltsplätze. Die Hauptposten bei den Ausgaben bildeten die Personal- und Mietkosten einschließlich Heizung, Beleuchtung und Reinigung, während die Materialkosten und die unter »insgemein« angeführten Ausgaben - vermutlich waren dies Ausgaben für Feste, Geschenke zur Weihnachtsbescherung und ähnliches - den geringsten Anteil ausmachten. Dies deutet darauf hin, daß pädagogische Angebote, die mit kostenintensiven Materialien verbunden gewesen wären, eher vermieden wurden. Dies ist als Indiz dafür zu sehen, daß auch aus Kostengründen Angebote gemacht wurden, die wenig oder auf gar keinen Materialverbrauch gerichtet waren, etwa das Erzählen von Geschichten, gemeinsames Singen, Bewegungsspiele und ähnliches. Für Beschäftigungen wie Figuren legen, Ausnähen und so weiter wurden vermutlich kostenlose Materialien - wie Muscheln, Kastanien, Kerne - und selbstverfertigte Materialien verwandt.40 Das Sammeln der kostenlosen Materialien und deren Bearbeitung zu brauchbaren Beschäftigungsmitteln kostete die Erzieherinnen sicher viel Zeit, zumal diese Tätigkeit neben der Beaufsichtigung der Kinder stattfand. Ein Großteil jener Arbeiten aber wurde vermutlich außerhalb der Arbeitzeit durchgeführt, so daß letztere als unbezahlte Mehrarbeit gewertet werden muß. Für 1914 liegen Angaben zu Finanzierungen der nichtstädtischen Institutionen vor. Von 56 Anstalten erhielten vier städtische Zuschüsse. Elf Anstalten standen unter kommunaler Trägerschaft und wurden, vom Elternbeitrag abgesehen, vollständig über den städtischen Haushalt finanziert. Acht Institutionen erhielten Unterstützung durch Pfarrgemeinden, 26 brachten die finanziellen Mittel durch freiwillige Beiträge auf; diese dürften neben den Mitgliedsbeiträgen der Vereine auch die Einnahmen von Wohltätigkeitsveranstaltungen umfaßt haben. Durch Mitwirkung der Schwestern und Kollekten wurden insgesamt vier Einrichtungen unterstützt. 50 Anstalten erhoben ein Schulgeld, den Elternbeitrag. Die Anstalten wurden in der Regel durch eine Mischfinanzierung unterhalten, das heißt, daß die Summen aus verschiedenen Quellen stammten. So wurde die Anstalt des Frauen39 Für das Jahr 1890/91 liegen noch die Gesamtzahlen für die Kinder vor, für das Jahr 1900 dagegen nur noch die Durchschnittszahlen, so daß eine Aufklärung der Sachlage nicht möglich ist. 40 Vgl diese Arbeit, S.169f.
140 vereins in der Neustadt-Nord durch städtische Zuschüsse, freiwillige Beiträge und durch eine Stiftung finanziert, während die Anstalt am Gereonswall neben dem Schulgeld nur durch freiwillige Spenden unterhalten wurde.41 Insgesamt fällt auf, daß die Stadt Köln zwar eigene Anstalten unterhielt, aber nur wenige Anstalten bezuschußte. Die Verantwortung für alle Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung scheint in der Kommunalverwaltung in Bochum ausgeprägter gewesen zu sein als in Köln, wie die Debatten um die als Ersatz für die klösterlichen Anstalten errichteten städtischen Institutionen deutlich machen.42 Die Stadt Köln griff offenbar nur dort ein, wo andere Träger diese Aufgaben ohne städtische Zuschüsse nicht leisten konnten. Hier wird eher eine vollkommen andere Einstellung zu den Kinderbewahranstalten sichtbar. Die Kölner Stadtverordneten sahen in den Kinderbewahranstalten Wohlfahrtseinrichtungen, die von der freien Armenpflege zu unterhalten seien. Sie schienen nur dort subsidiär eingegriffen zu haben, wo die Maßnahmen der freien Träger nicht ausreichten, sei es durch die wenigen kommunalen Zuschüsse oder die Errichtung städtischer Institutionen. Krefeld scheint die Gründung und Unterhaltung der Kinderbewahranstalten insgesamt allein den freien Trägern überlassen zu haben. Wenn auch Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung sich gezielt im »Verein zur Errichtung und Leitung von Kinder-Bewahranstalten« engagierten, so scheint das keine Auswirkungen auf das direkte Eingreifen der Kommune gehabt zu haben. Vermutlich wurden die Kinderbewahranstalten als eine Sache der freien Wohlfahrt und der Privatinitiative angesehen. 5.3.1 Exkurs: Kosten der Kinderbetreuung in bezug zu den Lebenshaltungskosten unter besonderer Berücksichtigung der Situationen von Müttern und Kindern anhand der Beispiele Crimmitschau und München Nur wenige zeitgenössische Untersuchungen über das Leben der Unterschichtfamilien geben Auskunft zur Lebenssituation derselben unter besonderer Berücksichtigung der erwerbstätigen Mütter und ihrer Kinder. Am Beispiel der Untersuchungen von Feld und Otto43 wird dieser Zusammenhang verdeutlicht. Beide Untersuchungen sind nicht repräsentativ, aber sie geben einen Einblick in die finanzielle Lage von Arbeiterfamilien mit betreuungsbedürftigen Kindern. Die Situation der Familien im Rhein-Ruhr-Gebiet dürfte sich davon nicht wesentlich unterschieden haben. Für Bochum ist allerdings anzunehmen, daß die teure private Unterbringung der Kinder eine Ausnahme war, da der Anteil der Frauenerwerbsarbeit sehr niedrig lag. 41 Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln: 40-44.318.8. 42 Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln: 40-44.320.I. 43 Feld, Wilhelm: Die Kinder der in Fabriken arbeitenden Frauen und ihre Verpflegung mit besonderer Berücksichtigung der Crimmitschauer Arbeiterinnen. Dresden 1906. Otto, Rose: Über Fabrikarbeit verheirateter Frauen. Stuttgart und Berlin 1910.
141 Die Untersuchung von Feld wurde 1904 in der Textilstadt Crimmitschau durchgeführt und bezog sich auf 1.605 Kinder im Alter von 0 bis 14 Jahren. Von diesen waren 210 Kinder im Alter von zwei bis drei und 382 Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren.44 In der folgenden Tabelle ist die Verteilung der insgesamt 592 Kinder von zwei bis sechs Jahren nach Betreuungsart aufgeführt:45 Verwandte
Fremde
Anstalten ohne Aufsicht
294
228
30
40
Die Privatpflege durch Verwandte oder fremde Personen ist mit einer Zahl von insgesamt 522 Fällen überdurchschnittlich stark vertreten. Selbst die Zahl der Kinder, die ohne Aufsicht blieben, ist höher als jener Kinder, die eine Anstalt besuchen. Entsprechend hoch fallen die Betreuungskosten für die Kinder aus. 45 Pflegeplätze der zwei- bis sechsjährigen Kinder, deren Betreuung Verwandte übernahmen, waren kostenfrei. Für 61 Kinder mußte bis zu einer Mark bezahlt werden, dies galt auch für 54 Kinder, die Aufnahme bei Fremden fanden. Ein bis drei Mark waren für 273 Kinder zu entrichten, die bei Verwandten oder bei Fremden betreut wurden, wobei 175 Kinder ohne Verpflegung blieben. Für 89 Kinder betrug der Pflegesatz drei Mark und mehr.46 Dagegen kostete die Betreuung in den Kinderbewahranstalten pro Kind, einschließlich Frühstücksmilch und Vesper, nur 0,80 Mark pro Woche. Ein Mittagessen wurde nach Wunsch gegen ein bescheidenes Entgelt gegeben. Die Höhe eines Verdienstüberschusses nach Abzug der Betreuungskosten war von dem Einkommen der Familien und der Kinderzahl abhängig.47 Die Zahl der Kinder und das Familieneinkommen hatten sehr großen Einfluß auf die Wahl der Kinderbetreuung, das heißt, daß Familien mit geringem Einkommen und/oder mit hoher Kinderzahl, kostenfreien oder preiswerten Betreuungsmöglichkeiten den Vorzug gaben. Gegebenenfalls ließ man die Kinder ohne Aufsicht. Die kostengünstigen Kinderbewahranstalten wurden verhältnismäßig wenig in Anspruch genommen. Feld sieht die Ursache in einem engen Zusammenhang mit der geographischen Erreichbarkeit einer Anstalt und dem Arbeitsbeginn der Mutter sowie den Öffnungszeiten der Institutionen.48 Die Untersuchung von Otto wurde in den Jahren 1908 und 1909 in einer Fabrik der Holz- und Schnitzstoffe mit insgesamt 509 Arbeitern durchgeführt, davon waren 186 erwachsene Arbeiterinnen. Von den 70 verheirateten Frauen befragte man 64 mündlich über die »Vereinigung von Fabrikarbeit und häuslichen
44 45 46 47 48
Feld, Wilhelm: A.a.O., S.17. A.a.O., S.27f. A.a.O., S.27. Vgl. a.a.O., S.87. Vgl. a.a.O., S.62ff.
142 Pflichten«49. Von diesen Frauen hatten 46 insgesamt 85 Kinder, davon 40 Frauen 72 Kinder bis zu 14 Jahren. Die Familiengröße verteilte sich wie folgt:50 1 Kind
2 Kinder
3 und mehr Kinder
davon 5 Kinder
20 Familien
11 Familien
9 Familien
1 Familie
Von den 72 Kindern bis zu 14 Jahren waren 35 Kinder im noch nicht schulpflichtigen Alter, davon acht Kinder zwischen einem und drei Jahren und 24 Kinder zwischen drei und sechs Jahren. Von den acht Kindern zwischen einem und drei Jahren waren vier Kinder in Privatpflege und vier in Anstalten untergebracht. Mindestens ein Teil dieser vier in Anstalten untergebrachten Kinder dürften, da Kinder häufig schon mit zwei Jahren in den Kinderbewahranstalten untergebracht wurden, in diesen Kleinkindinstitutionen betreut worden sein. 14 Kinder der drei bis sechsjährigen waren in Privatpflege - acht davon bei Verwandten - und zehn in Kinderbewahranstalten. Alter
Privatpflege
Anstaltspflege
1-3 Jahre 3-6 Jahre
4 14
4 10
Von den acht Kindern zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr mußten für fünf Kinder zwischen einer Mark und zwei Mark aufgewendet werden, zwischen zwei und vier Mark waren für die Unterbringung von drei Kindern zu bezahlen. Bei den drei- bis sechsjährigen Kindern wurden für zehn Kinder 0,20 Mark bis 0,50 Mark, für vier Kinder 1,00 Mark bis 1,50 Mark, für neun Kinder 2,00 Mark bis 4,00 Mark für die Betreuung bezahlt, ein Kind war kostenfrei untergebracht.51 Die Unkosten von 0,20 Mark bis 0,50 Mark für die Betreuung von zehn Kindern dürften die Kinder, die Kinderbewahranstalten besuchten, betreffen. Nach einer Berechnung von Rose Otto erzielten alle Frauen trotz der erhöhten Ausgaben für Kinderunterbringung und Haushaltspflege einen Verdienstüberschuß. Nach Abzug der Betreuungskosten erreichten 33 Frauen einen Verdienstüberschuß von 5,70 Mark bis 15 Mark und mehr.52 Eine weitere Untersuchung von Otto bezog sich auf die Haushaltsbudgets und erstreckte sich auf zehn Familien, die in einer Zeitspanne von vier Monaten und einem Jahr das Einkommen und die Ausgaben festhielten. Von diesen Familien wurden sieben im Bericht näher beleuchtet. Es liegen einjährige Budgetberichte vor. Im Folgenden wird die siebte Familie nicht berücksichtigt, da 49 50 51 52
Otto, Rose: A.a.O., S.201. Ebenda. A.a.O., S.204. Vgl. a.a.O., S.206.
143 sie zum Untersuchungszeitraum noch kinderlos war. Die Einnahmen der Familien verteilen sich wie folgt:53 Nr.
Einkommen des Mannes
Einkommen der Frau54
Einkomm. insges.55
im Haushalt lebende Kinder bis 6 Jahre 6-14 Jahre
1 2 3 4 5 6
1404,47 1179,46 1131,79 1167,13 1272,35 1005,76
811,63 883,64 608,11 611,60 454,95 473,70
2235,10 2068,10 1935.90 1808,73 1752,30 1479,46
1 2 3 1
2 1 1 3 1
Alle Frauen waren Fabrikarbeiterinnen. Die Frau der Familie 5 war nur acht Monate in der Fabrik tätig, in den restlichen Monaten ging sie mit ihrem Mann hausieren. Unter den Männern waren zwei gelernte Arbeiter, die anderen waren ohne Ausbildung.56 Im Folgenden werden die Einnahmen und Ausgaben sowie, gesondert, die Kinderbetreuungsausgaben aufgeführt:57 Nr.
Gesamteinkommen
Gesamtausgaben
davon Kinderbetreuungskosten
Überschuß + Defizit -
1 2 3 4 5 6
2235,10 2068,10 1935,90 1808,73 1752,30 1479,46
1966,18 1768,52 2092,12 2110,14 1848,68 1353,31
31,94 --,-86,63 71,70 73,00 54,00
+269,32 +299,58 - 156,22 - 301,41 - 96,38 +126,15
Die Familie 1 hatte nur ein zweijähriges Kind, das in einer Kinderbewahranstalt untergebracht war. Bei Unwohlsein des Kindes betreute die Großmutter das Kind gegen Verpflegung. Familie 2 hatte aufgrund des relativ hohen Einkommens der Frau einen Überschuß erzielen können. Die beiden Kinder waren schulpflichtig und nach dem Schulunterricht sich selbst überlassen. Bevor das jüngste Kind eingeschult wurde, war es während der Schulzeit des älteren Kindes in der Wohnung eingeschlossen. Familie 3 hatte zwei nicht schulpflichtige Kinder und ein schulpflichtiges Kind. Zwei Kinder besuchten Kinderbetreuungsanstalten, das ältere einen Hort. Die Unkosten für die Kinderbewahranstalt betrugen wöchentlich 0,30 Mark ohne 53 Vgl. Otto, Rose: A.a.O., S.236. 54 Das Einkommen des Mannes bzw. der Frau wird hier als Gesamteinkommen aufgeführt. Bei einigen Familien setzt es sich aus dem Arbeitsverdienst und dem Krankengeld zusammen. 55 Das Gesamteinkommen der Familien setzt sich aus dem Einkommen des Mannes, der Frau und sonstigen Einnahmen zusammen. Letzere wurden hier nicht gesondert angeführt. 56 Vgl. Otto, Rose: A.a.O., S.235. 57 A.a.O., S.239 und S.242.
144 eine warme Mahlzeit, für den Hort 0,20 Mark. Das jüngste Kind wurde im Juli 1908 geboren. Der Säugling wurde für 10,00 Mark von einer Nachbarin betreut. Das Einkommen der Familie reduzierte sich durch die lange Krankheit des Mannes. Es weist einen erheblichen Fehlbetrag aus. Für diese Familie liegen auch die Betreuungskosten für das Jahr 1907 und 1909/10 vor. 1907 betrugen die Betreuungskosten 44,90 Mark, 1909/10, also nach der Geburt des dritten Kindes, lagen sie bei 89,30 Mark. Die Betreuungskosten für das Jahr 1907 waren erheblich niedriger als die Kosten, die die Privatpflege für das dritte Kind mit einbezogen. Trotzdem lagen die Kosten für das Jahr 1907 erheblich über der Summe, die für die Unterbringung der beiden Kinder in Kinderbewahranstalt und Hort zu zahlen gewesen wären. Setzt man eine normale Besuchszeit von 48 Wochen pro Jahr voraus, so wären 24 Mark, das heißt 18,90 Mark weniger aufzubringen gewesen. Es ist nicht bekannt, ob das zweitjüngste Kind der Familie 1907 aufgrund seines Alters in Privatpflege war. Selbst bei einem Besuch von 52 Wochen hätten nur 26 Mark gezahlt werden müssen. Legt man einen Besuch von 48 Wochen mit 24 Mark zugrunde, so mußte die Familie für die Privatpflege des dritten Kindes im Jahr des Untersuchungszeitraumes 62,63 Mark bezahlen, für das Jahr 1909/10 dagegen 65,30 Mark. Familie 4 umfaßte insgesamt vier Kinder, von denen drei nicht schulpflichtig waren, ein Kind besuchte bereits eine Schule. Für die drei nicht schulpflichtigen Kinder im Alter von zwei bis fünf Jahren betrug die Summe für die Unterbringung in der Kinderbewahranstalt einschließlich Mittagessen 2,00 Mark pro Woche. Der Vater war einige Zeit krank und mehrere Wochen arbeitslos, daraus resultiert der Fehlbetrag im Budget. Beide Familien 3 und 4 versuchten, die Kinderbetreuungskosten zu sparen: »Dieser Versuch zum Sparen konnte nicht streng durchgehalten werden, da die Kinder sehr gerne in die Anstalt gehen.«58 Die Betreuungs- und Versorgungskosten für die drei Kinder hätten sich bei einem Besuch von 52 Wochen auf 104 Mark belaufen. Geht man davon aus, daß aufgrund von Ferienzeiten die Anstalten vier Wochen geschlossen waren, so hätten also für die drei noch nicht schulpflichtigen Kinder noch 96 Mark bezahlt werden müssen. Damit lagen die tatsächlichen Ausgaben für die Kinderbetreuung im Untersuchungszeitraum um 24,30 Mark unter den Kosten eines durchgängigen Jahresbesuchs - wenn man eventuelle Ferienzeiten59 der Anstalt mit einbezieht. Die drei Kinder der Familie 5 waren schulpflichtig und sich selbst überlassen, bis der Vater - der als Hausierer arbeitete - im Laufe des Nachmittags nach Hause kam. Die Kinderbetreuungskosten entstanden durch die beiden jüngeren Kinder, die auf dem Lande untergebracht waren. 58 A.a.O., S.243. 59 Die Institutionen der Diakonissen wurden in der Regel jährlich für eine bestimmte Zeit geschlossen, um dem Personal einen Urlaub zu gewähren.
145 Familie 6 hatte zwei Kinder. Das ältere Kind besuchte den Hort für 0,20 Mark. Das zweieinhalbjährige Kind war anfangs in Pflege zu 0,60 Mark pro Tag, später wurde es für 1,20 Mark pro Woche in der Kinderbewahranstalt untergebracht. Da das Kind kränklich war, blieb es öfter zu Hause und wurde von der Mutter versorgt oder für ein bis zwei Wochen zur Großmutter in die Nähe von München gebracht. Im ersteren Fall bedeutete dies Lohneinbußen für die Frau und damit für die Familie. Trotz der geringen Einnahmen konnte die Familie ein Plus im Jahresbudget erzielen, da sie sich auf das äußerste einschränkte. Die vierköpfige Familie lebte in einem Zimmer, hatte die geringsten Nahrungs- und Genußmittelausgaben; Wäsche- und Näharbeiten wurden nicht außer Haus gegeben, so daß auch hier keine Unkosten entstanden. Die Beispiele der Familien 3, 4, 6 und 7 zeigen die insgesamt niedrigen Ausgaben der erwähnten Haushaltsposten. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, wie hoch Frauen durch die Hausarbeit belastet waren. Die Arbeitszeit wurde an »großen Waschtagen bis 11, ja bis 1 Uhr nachts (ausgedehnt; E.K.). Gewöhnlich werden alle 8 Tage in dem einen Zimmer, in dem alles vorgeht, nach Schluß der Fabrikarbeit die notwendigsten Sachen gewaschen. Am nächsten Abend wird dann gebügelt. Falls eine Waschküche vorhanden ist, werden etwa alle 8 Wochen die größeren Stücke dort gewaschen. Diese große Wäsche wird meistens am Samstagabend vorgenommen, und es wird bis spät in die Nacht hinein gearbeitet, um alles fertig zu stellen. Der Sonntag ist im allgemeinen dem Flicken und Nähen gewidmet, wofür in der Woche nur wenige Minuten frei sind.«60 Die Familien 1 (23,00 Mark), 2 (40,46 Mark) und 5 (10,75 Mark) verzeichneten zwar Ausgaben für die außer Haus gegebene Wäsche und Näharbeiten, aber damit dürfte der gesamte Arbeitsaufwand zur Reinigung und Erhaltung der Kleidung bei weitem nicht gedeckt gewesen sein. Die Frauen waren vermutlich von diesen Arbeiten stark in Anspruch genommen, wenn sie auch einige Entlastungen für sich in Anspruch nehmen konnten.61 Für die folgende Betrachtung sind nur die Angaben der Familien 1, 3, 4 und 6 von Bedeutung. Die Betreuungskosten im Verhältnis zu den Gesamtausgaben machten bei der Familie 1: 1,6%, 3: 4,1%, 4: 3,4% und 6: 4,0% aus. Bei Familie 1 waren für eine unbekannte Zeit bis zum Eintritt in die Kinderbewahranstalt Kosten für eine Privatpflege zu verzeichnen. Bei Familie 3 stieg die Summe durch die Kosten, die die Privatpflege des Säuglings verursachte, stark an. Legt man die Betreuungskosten von 1907 vor der Geburt des dritten Kindes zugrunde, so betrugen die Ausgaben fast die Hälfte. Bei Familie 4 waren Betreuungskosten für drei Kinder zu zahlen. Das jüngste Kind der Familie 6 wurde anfangs, wie das Kind der Familie 1, privat versorgt und kam erst im Laufe des 60 61
Otto, Rose: A.a.O., S.244f. Vgl. a.a.O., S.235ff.
146 Untersuchungszeitraumes in die Kinderbewahranstalt. Bedenkt man die Defizite der Familien 3 und 4, so schlagen die Kinderbetreuungskosten trotz der Inanspruchnahme der öffentlichen Kleinkinderziehung stark zu Buche. Die Familie 6 konnte nur durch äußerste Einschränkung einen Überschuß erzielen, während die Familie 1 mit nur einem Kind und dem höchsten Einkommen der hier vorgestellten Familie am günstigsten abschnitt. Mit dem Ansteigen der Kinderzahl stiegen die Betreuungskosten. Ebenso war die Betreuungsart - Privatpflege oder Anstaltsunterbringung - für die Höhe der Kosten mitverantwortlich. In der Untersuchung in Crimmitschau war die Zahl der Kinder von Fabrikarbeiterinnen, die in Anstalten untergebracht waren, relativ gering, und die Zahl der Kinder in Privatpflege - trotz der hohen Kosten - dagegen hoch. Kinder, die älter als drei Jahre waren, wurden ebenfalls selten in Kinderbewahranstalten untergebracht. Feld begründete dies damit, daß der Aufwand - Wegzeiten zur Anstalt, der Umstand, daß die Kinder früh aus dem Schlaf gerissen werden mußten und die Verpflichtung, die Kinder sauber gewaschen und gekleidet in die Anstalten zu bringen - als zu hoch angesehen wurde. Die Münchner Arbeiterinnen nahmen die Anstaltspflege stärker in Anspruch. Sie lagen für die in der Untersuchung befragten Frauen »in bequemer Nähe und haben bei ihnen Anklang gefunden. Auch bei gutem Verdienst werden sie ihre schulpflichtigen Kinder in den Hort schicken, wo sie für 20 Pf. die Woche nachmittags gut aufgehoben sind. Ebenso werden sie im allgemeinen ihre 2 - 5jährigen in die Kinderbewahranstalten schicken, die die Kinder je nach Alter und Art der Beköstigung für 30 Pf. bis 1 M. wöchentlich aufnehmen.«62 Vergleicht man die Ergebnisse von Feld und Otto, so zeigt sich, daß die Inanspruchnahme der Institutionen öffentlicher Kleinkinderziehung in einem engen Zusammenhang stand mit dem Weg zur Anstalt und zur Arbeitsstätte, Arbeits- und Öffnungszeiten der Einrichtungen waren ebenfalls von großer Wichtigkeit. Je günstiger sich die Faktoren für die erwerbstätige Mutter darstellten, desto größer war die Inanspruchnahme der Betreuungsanstalt. Unter ungünstigen Umständen mußten die Familien auf die erheblich teurere Privatpflege zurückgreifen. Die Inanspruchnahme der Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung stand in einem engen Zusammenhang mit der Versorgungsquote der Kinder durch die Institutionen. In beiden Untersuchungen sind keinerlei Angaben zu den noch nicht schulpflichtigen Kindern beider Städte und der Anzahl der Kinderbewahranstalten enthalten. Im dritten Kapitel63 wurden für Köln, Krefeld und Bochum die Anstaltszahlen in Relation zu den noch nicht schulpflichtigen Kindern untersucht und die Versorgungsquote vorgestellt. 62 63
A.a.O., S.205f. Vgl. diese Arbeit, S.78ff.
147 5.3.2 Kosten der Kinderbetreuung in Köln und Bochum Für Krefeld liegen keine Daten über die Beiträge vor, die für die Betreuung in Kinderbewahranstalten aufgewendet werden mußten. Dagegen existieren für Köln die Angaben mehrerer Jahre, für Bochum hingegen nur für das Jahr 1891. Aus Vergleichsgründen werden für Köln die Daten für das Rechnungsjahr 1890/91 zugrunde gelegt. In Köln mußten im Stadtteil Alt-Köln für die Unterbringung in zwei kommunalen Anstalten einschließlich Verpflegung 0,60 Mark pro Woche aufgewendet werden. In der dritten Einrichtung in Alt-Köln waren 0,50 Mark pro Woche zu zahlen, während in den Institutionen der eingemeindeten Stadtteile, die über Mittag ebenso wie die dritte Anstalt in Alt-Köln geschlossen blieben und kein Essen ausgaben, zwischen 0,30 Mark und 0,50 Mark pro Monat zu bezahlen waren. Aus welchen Gründen unterschiedliche Summen für die Institutionen in Alt-Köln und den eingemeindeten Stadtteilen für die Betreuung ohne Beköstigung erhoben wurden, ist den Akten nicht zu entnehmen. Für bedürftige Familien wurde der Beitrag ermäßigt oder ganz erlassen. Die kirchlichen und privaten Träger erhoben zwischen 0,20 Mark und 0,60 Mark pro Woche, wie im Verwaltungsbericht angegeben, mit Verpflegung: »Die Anstalten sind in der Regel von Morgens 8 bis Nachmittags 5 bezw. 6 Uhr geöffnet; in vielen wird Mittagsbrod verabfolgt, in einigen auch Vesperbrod.«64 Ob in den Elternbeiträgen die Verpflegung eingeschlossen war, geht aus den Unterlagen nicht hervor. In Bochum blieben die Anstalten über Mittag geschlossen. Ein Mittagessen wurde nicht verabreicht. Von den evangelischen Trägern wurde ein Beitrag zwischen 0,10 Mark und 1,00 Mark pro Monat erhoben. Die Höhe des Beitrages war an das Einkommen der Eltern gebunden. Die katholischen Träger verlangten für die Betreuung der Kinder zwischen 0,25 Mark und 0,50 Mark pro Monat. Dagegen erhob die Betriebseinrichtung in Stahlhausen einen wesentlich niedrigeren Satz. Sie verlangte pro Vierteljahr für das erste Kind 0,50 Mark, für zwei Kinder 0,75 Mark und für drei Geschwisterkinder 1,00 Mark. Das bedeutete, die Betreuung kostete pro Monat 0,17 Mark, 0,25 Mark oder 0,33 Mark. Damit lagen die Kosten dieser Anstalt unter denen der katholischen Träger und je nach Einkommen der Eltern, auch unter denen der evangelischen Träger. Der Vollständigkeit halber und zum Vergleich seien noch die Kosten für die Betreuung der Kinder im Fröbelschen Kindergarten genannt. Hier wurde pro Kind für das Vierteljahr 7,00 Mark erhoben, das heißt pro Monat 2,33 Mark. Somit lagen hier die Kosten erheblich höher als die der Kinderbewahranstalten.65 Vergleicht man die Beiträge, die die Eltern in Köln und Bochum für die Betreuung ohne Mittagessen aufzuwenden hatten, so lagen sie in Bochum im 64 65
Verwaltungsbericht 1890/91, S.91. Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg I.894.
148 Schnitt knapp unter den Kölner Institutionen. Die Stadt Köln subventionierte keine nichtstädtischen Institutionen, bis auf wenige Ausnahmen, während Bochum allen Kinderbewahranstalten einen Zuschuß erteilte. Da der Elternbeitrag im Etat der Anstalten ein wichtiger Faktor war, dürfte der etwas höhere Beitrag der Kölner Anstalten mit der mangelnden Subventionierung durch die Kölner Kommune zusammenhängen. Da für Köln und Bochum keine Berechnungen zum Familienbudget und den jährlichen Kinderbetreuungskosten vorliegen, wird hier für Köln auf das Berechnungsmodell von Jasper zurückgegriffen. Dies steht in Relation zu eigenen Berechnungen der Betreuungskosten der Kinderbewahranstalten. Für Bochum liegt das Einkommen der Bergarbeiter und der Arbeiter des Bochumer Vereins nach Crew zugrunde. Im Folgenden wird das Durchschnittsbudget einer Kölner Arbeiterfamilie für das Jahr 1907 mit einem Arbeitsverdienst des Mannes unter 1.500 Mark nach den Berechnungen von Jasper vorgestellt und, im Rahmen der Ausgaben, der Anteil der Kosten für die Kinderbetreuung in Kinderbewahranstalten aufgezeigt. Nach der Veranlagung zur Einkommenssteuer bezogen im Jahr 1910 110.689 Personen ein Einkommen unter 900 Mark, 76.031 Personen von 900 Mark bis 1.500 Mark, darüber insgesamt 129.854 Personen.66 Damit liegt die Modellrechnung von Jasper eher im oberen Einkommensbereich der Unterschichtfamilien. Für viele Kölner Familien war das Einkommen, nach den Einkommenssteuern zu urteilen, wesentlich niedriger. Die Einkünfte vieler Unterschichtfamilien dürften, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Grenze von 1.500 Mark nicht überschritten haben. Die unten angegebenen Durchschnittswerte wurden von Jasper aufgrund der Unterlagen von sechs Familien errechnet. Die Berufe der sechs Männer verteilen sich wie folgt: zwei städtische Vorarbeiter, ein Hilfsunterbeamter, ein Aufseher und Gartenarbeiter, ein Vorarbeiter beim Tiefbauamt und ein Kehrer. Das Einkommen der Männer betrug zwischen 1038,76 Mark und 1235,60 Mark. In der Modellrechnung wird der Arbeitsverdienst des Mannes mit 1157,35 Mark angenommen. Für die Berechnung legt Jaspers eine konstruierte Familiengröße von 6,33 Personen zugrunde.67 Das Gesamteinkommen dieser konstruierten Familie beträgt nach diesen Berechnungen 1513,33 Mark68, die Ausgaben belaufen sich auf 1642,04 Mark. In Jaspers Berechnung werden für den Posten Unterricht, Schulgeld und Lernmittel insgesamt 13,18 Mark eingesetzt. Die Einnahmen der Ehefrau betragen nach dieser Berechnung 108,17 Mark. Das läßt den Schluß zu, daß die Frau in diesem konstruierten Fall keiner dauernden Beschäftigung nachgehen muß und 66 Jasper, Karlbernhard: Der Urbanisierungsprozeß dargestellt am Beispiel der Stadt Köln. Köln 1977. (Schriften zur Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsgeschichte Bd.30. Hrsg. vom Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv zu Köln e.V.), S.231. 67 A.a.O., S.239. 68 Das Einkommen setzt sich aus der Nebenarbeit des Mannes, den Einnahmen der Ehefrau, dem Beitrag der Kinder, der Untervermietung, sonstigen Einnahmen und Naturaleinnahmen zusammen.
149 keine Kinderbetreuungskosten für die unter Sechsjährigen anfallen. Da die kommunalen Kinderbewahranstalten sehr stark von Tagelöhnern, Handwerkern und Gewerbetreibenden und auch von kleinen Beamten in Anspruch genommen wurden, erscheint mir die Berechnung der Kinderbetreuungskosten in Bezug auf die Gesamtausgaben durchaus möglich. Folgende Tabelle gibt für das Rechnungsjahr 1890/91 Auskunft über die prozentuale Berufszugehörigkeit der Eltern:69 Handwerker
Tagelöhner
kleinere Beamte
Gewerbetreibende und kleinere Kaufleute
Witwen
Waisenkinder
30,2
41,8
6,0
12,6
5,7
3,7
Geht man von der Annahme aus, daß bei einer sechsköpfigen Familie ein Kind in einer kommunalen Kinderbewahranstalt ohne Mittagessen im Jahr 1907 für 0,40 Mark70 pro Monat untergebracht war, so ergeben sich bei einem Besuch für zwölf Monate 4,80 Mark. Nimmt man ferner an, daß aufgrund von Ferienzeiten und Krankheit des Kindes, die Betreuung durch die Kinderbewahranstalt nur zehn Monate in Anspruch genommen wurde, so beläuft sich die Summe der Gesamtausgabe auf 4,00 Mark. Das heißt, daß der Betrag für ein Kind in der Kinderbetreuung im Gesamtbudget 0,3% ausmachte. Setzt man voraus, daß zwei Kinder der Familie jeweils 10 Monate lang die Anstalt besuchten, so hätte dies ohne Ermäßigung 8,00 Mark ausgemacht, das entspricht 0,5% des Jahresbudgets. Nimmt man an, daß für das zweite Kind eine Ermäßigung bis zur Hälfte gewährt wurde, so macht das bei einem Betrag von 6,00 Mark 0,4% im Jahresbudget aus. Beim Besuch der Institutionen freier Träger erhöhte sich der Kostenanteil. Geht man von einem Besuch eines Kindes von 52 Wochen aus, so wären dort bei einem durchschnittlichen Beitrag von 0,40 Mark im Jahr 20,80 DM zu entrichten gewesen. Zieht man insgesamt acht Wochen für Ferien und Krankheit ab, so beliefen sich die Kosten auf 17,60 Mark pro Jahr. Dies würde den Gesamtetat der Beispielsfamilie bei vollem Besuch eines Kindes mit 1,4%, bei reduzierter Anwesenheit in der Kinderbewahranstalt, mit 1,2% belasten. 69 Verwaltungsbericht der Stadt Köln für das Rechnungsjahr 1890/91, S.90. 70 In Ehrenfeld, Bickendorf und Bayenthal wurden 0,50 Mark pro Monat erhoben, in der Humboldtkolonie und Poll nur 0,30 Mark für diesen Zeitraum. Im Folgenden wird ein Durchschnittsbetrag der Vororte von 0,40 Mark zugrunde gelegt. Dagegen verlangt die Kommune für die Institutionen im Stadtteil Alt-Köln in der Spulmannsgasse und Niederichstraße einen Beitrag von 0,60 Mark pro Woche einschließlich Verpflegung und für die Kinderbewahranstalt im Waisenhaus 0,50 Mark wöchentlich ohne Verköstigung. Das bedeutet, daß in den beiden ersten Einrichtungen für 52 Wochen 31,20 Mark, für 44 Wochen 26,40 Mark zu bezahlen waren. Dies sind 2,1% beziehungsweise 1,7% des Jahreseinkommens. Für die Kinderbewahranstalt im Waisenhaus belaufen sich die Kosten bei einem Vollzeitbesuch auf 26,- Mark, bei reduzierter Verweildauer auf 22,- Mark. Im ersten Fall belastet der Elternbeitrag das Familienbudget mit 1,7%, im zweiten Fall mit 1,5%. Die Unterschiede der Elternbeiträge des Stadtteils Alt-Köln und der eingemeindeten Vororte können darin gesehen werden, daß bei der Übernahme der Kinderbewahranstalten durch die Stadt Köln die Höhe des Schulgeldes der Vororte aus der Zeit vor der Eingemeindung beibehalten wurde. Zwischen den Rechnungsjahren 1886/87 u.1908 blieben die Elternbeiträge konstant.Vgl.: Verwaltungsberichte d.Stadt Köln 1888/89 bis 1908.
150 In Bochum lag das durchschnittliche Jahreseinkommen der Bergarbeiter im Jahr 1907 bei 1.562 Mark und der Arbeiter beim Bochumer Verein bei 1.415 Mark.71 Unter den Arbeitern waren die Bergarbeiter und die Arbeiter der Eisenwerke am stärksten vertreten. Damit lag das Einkommen der meisten Arbeiter über dem der Kölner Männer. Legt man einen Durchschnittsbetrag für die Kinderbetreuung von 0,40 Mark zugrunde, so waren bei einer Betreuungszeit für 10 Monate 4,00 Mark zahlen. In Bezug auf das Einkommen des Bergarbeiters und des Arbeiters beim Bochumer Verein waren das 0,3% des gesamten Einkommens. Setzt man diese Beträge in Relation zum Einkommen des Mannes der Kölner Arbeiterfamilie, so sind die Kosten, verglichen zum Einkommen der Bochumer Arbeiter, im Falle des Besuchs der kommunalen Institution in den Kölner Vororten etwas, in den Einrichtungen des Stadtbezirks Alt-Köln und der freien Träger dagegen erheblich geringer. Berücksichtigt man, daß durch Untervermietung, die Bewirtschaftung des Gartens, die Vorratswirtschaft und so weiter das Haushaltsbudget noch erhöht wurde, so waren die Kinderbetreuungskosten in Bochum niedriger als in Köln. 5.4 Zusammenfassung Der Staat schuf einen großzügigen Rahmen, in dem sich die Organisationsstruktur der Kleinkindinstitutionen und die pädagogische Arbeit entfalten konnten. In allen drei Städten wurden die Einrichtungen überwiegend von Vereinen getragen. In Köln trat auch die Kommune als Veranstalter öffentlicher Kleinkinderziehung in Erscheinung. Sowohl in Köln als auch in Bochum und Krefeld gab es Betriebseinrichtungen. In Bochum war das direkte Engagement der Unternehmer höher als in den beiden anderen Städten.Für die beiden Städte Köln und Bochum lagen Unterlagen zur Finanzierungsform der Kinderbewahranstalten vor, die in Krefeld mit Ausnahme der kommunalen Subvention ähnlich gewesen sein dürfte. Es überwogen Mischfinanzierungen, die sich neben den Elternbeiträgen auch aus den Vereinsbeiträgen, den Zuschüssen der Kommune und der Unternehmer, Spenden, Erlöse aus Wohltätigkeitsveranstaltungen oder Sammlungen zusammensetzten. Die finanzielle Lage der Institutionen war vermutlich häufig schwierig. Dies hatte Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen. Das heißt, daß aufgrund geringer Finanzmittel die Erzieherinnen-Kind-Relation ungünstig war. Die Ausstattung der Räume mußte häufig auf einen Mindeststandard beschränkt bleiben. Ebenso wurde an Spiel- und Beschäftigungsmaterialien gespart. Diese ungünstigen Rahmenbedingungen bedeuteten für die Erzieherinnen eine hohe physische und psychische Belastung. Sie beeinflußten die pädagogische Arbeit der Einrichtungen. Dies wird in den Kapiteln sieben und acht zu zeigen sein. 71 Vgl. Crew, David F.: Bochum. Sozialgeschichte einer Industriestadt 1860-1914. Frankfurt, Berlin und Wien 1980, (Sozialgeschichtliche Bibliothek. Hrsg. von Dieter Groh), S.190.
6 Die Ausbildung der Erzieherinnen
Die Ausbildung der Erzieherinnen unterlag bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes keiner allgemeinverbindlichen staatlichen Regelung. Die Inhalte der verschiedenen Ausbildungsstätten waren eng mit den Zielsetzungen der jeweiligen Institutionen verknüpft. Die Ausbildungssituation der Erzieherinnen für die öffentliche Kleinkinderziehung war sehr unterschiedlich und muß im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Interessen der Theoretiker und Träger der Institutionen gesehen werden. Während die - vor allem von den Kirchen getragenen - Kinderbewahranstalten in erster Linie die Funktion ausübten, die Kinder vor physischer und psychischer Verwahrlosung zu bewahren und sie im Interesse der Tradierung der bestehenden gesellschaftspolitischen Ordnung zu erziehen,1 hatte der Fröbelsche Kindergarten von seiner Grundidee her die Zielsetzung, als unterste Stufe eines Volksbildungssystems der emanzipatorischen Erziehung, im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft, einen allseitig gebildeten Menschen heranzubilden.2 Deshalb war mit der Kindergartenidee Fröbels von Beginn an eine gezielte Ausbildung der Erzieherinnen verbunden. Wenn auch die pädagogischen Intentionen durch die Fröbelnachfolger/innen eine Veränderung erfuhr3, so wurde der Erzieherinnenausbildung einen hohen Stellenwert beigemessen. Ihre Ausbildung unterschied sich nicht nach den jeweiligen Institutionen. Das heißt, sie qualifizierte sowohl für die Erziehungsarbeit in Familien, Bürgerkindergärten als auch Volkskindergärten. 6.1 Allgemeine Grundlagen der Erzieherinnenausbildung Die Ausbildung der Erzieherin für die pädagogische Arbeit in der öffentlichen Kleinkinderziehung unterlag zunächst keiner staatlichen Regelung. 1885 wurde 1 Vgl. Fleßner, Heike: Untertanenzucht oder Menschenerziehung? Zur Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung auf dem Lande (1870-1924). Weinheim und Basel 1981, S.102ff. Heinsohn, Gunnar: Vorschulerziehung und Kapitalismus. Frankfurt a.M. 1971, S.39ff. Krecker, Margot: Die Notwendigkeit besonderer Erziehungsinstitutionen für Vorschulkinder der werktätigen Bevölkerung in Deutschland. In: Edith Barow-Bernstorff: Beiträge zur Geschichte der Vorschulerziehung. Dritte Auflage. Berlin (DDR) 1971, S.110ff. Krieg, Elsbeth: Katholische Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Bern, New York und Paris 1987, S.141ff, 164ff, 178ff. 2 Vgl. Derschau, Dietrich von: Personal: Entwicklung der Ausbildung und der Personalstruktur im Kindergarten. In: Günter Erning, Karl Neumann und Jürgen Reyer (Hrsg.): Geschichte des Kindergartens. Bd.II: Institutionelle Aspekte, systematische Perspektiven, Entwicklungsverläufe. Freiburg i. Br. 1987, S.69f. Heinsohn, Gunnar: A.a.O., S.47ff. 3 Zu den pädagogischen Vorstellungen der Volkskindergärten im Kaiserreich vgl. Diese Arbeit, S.175ff.
E. Krieg, Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt, DOI 10.1007/978-3-531-92848-7_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
152 die Forderung, eine staatliche Prüfung einzuführen, vom Ministerium für Geistliche, Medizinal- und Unterrichtsangelegenheiten abgelehnt: »Abgesehen von den, der Königl. Regierung usw. wohl bekannten praktischen Gründen gegen eine Vermehrung der Arbeit bei den Schulaufsichtsbehörden und von der Schwierigkeit, schon jetzt eine sachgemäße Prüfungs-Ordnung mit Sicherheit aufzustellen, war für mich maßgebend, daß die Eigenschaften, welche bei einer guten Erzieherin und Lehrerin noch nicht schulpflichtiger Kinder gesucht werden sollen, mehr in ihrem Gemüthe, ihrem Takte, in ihrer ganzen Persönlichkeit, als in ihrem Wissen und Können liegen, daß sich also die eigentliche Befähigung einer gewöhnlichen Prüfung entzieht. Außerdem kommt in Betracht, daß es bedenklich sein würde, die Genehmigung zur Errichtung von Anstalten der bezeichneten Art von Ablegung einer Prüfung vor einer staatlichen Prüfungs-Kommission abhängig zu machen.«4 Ab 1908 wurde die Ausbildung und Prüfung für die Kindergärtnerinnenausbildung geregelt, die aber keine Auswirkungen auf die kirchlichen Ausbildungsstätten für die Kleinkinderpflege hatte. In einem Schreiben aus dem Jahr 1913 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, »daß nicht beabsichtigt ist, die Anforderungen der oben genannten Erlasse allgemein auf die Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Kleinkinderlehrerinnen auszudehnen. Insbesondere ist nicht daran gedacht, junge Mädchen, die sich zu diesem Berufe hingezogen fühlen und dafür beanlagt sind, davon auszuschließen, weil sie nicht die abgeschlossene Bildung eines Lyzeums oder einer Mittelschule besitzen. Allerdings wird auch in Fällen dieser Art ein Mindestmaß von Schul- und Fachbildung zu fordern sein. Als solches sind in der Regel gute Volksschulbildung und eine fachliche Ausbildung von mindestens einjähriger Dauer anzusehen.«5 Somit gab es keine Festlegung der Ausbildungsqualität, das heißt es wurden keine allgemeinverbindlichen Maßstäbe für die theoretische und praktische Vor- und Ausbildung gesetzt. 6.2 Die Ausbildung der Kindergärtnerinnen Die Zielsetzung des Kindergartens als »erste Stufe eines Volksbildungssystems, die die Entfaltung von kindgemäßem und freiem Leben sowie die Unterstützung der Familie in Erziehungsfragen anstrebte«,6 intendierte eine hochqualifizierte, allseitig und fachlich qualifizierte Erzieherpersönlichkeit. Nach Fröbel sollten die Erzieherinnen »mit den Gesetzen der Natur vertraut sein, pädagogische und psychologische Grundkenntnisse erwerben, sie reflektieren und in praktisches, meist 4 Archiv Sarepta: Verfügung des Ministeriums der Geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten über die christliche Kinderpflege. U.IIIa.20257. 5 Archiv Sarepta: Ministerium für Geistliche, Medizinial- und Unterrichtsangelegenheiten: U.III.B. Nr.6260II.G.I.l. 6 Derschau, Dietrich von: A.a.O., S.69.
153 spielendes Tun übertragen, in der Beobachtung der kindlichen Entwicklung geschult sowie methodisch und musisch gewandt und einfühlsam sein«7. Bereits 1839 führte Fröbel Ausbildungskurse für Frauen und Männer durch, die anfänglich vermutlich aufgrund fehlender Mittel - entgegen seinem hohen Anspruch nur wenige Monate dauerten.8 Nach der Aufhebung des Kindergartenverbots9 entstanden in vielen Städten Ausbildungsstätten für Kindergärtnerinnen. In dem Erlaß von 1911 wurden die Inhalte einer einjährigen Kindergärtnerinnenausbildung als einjähriger Fachkursus an der Frauenschule festgelegt. Voraussetzung für die Teilnahme an diesem Kurs war der einjährige Besuch einer Frauenschule. Die Wochenstundenzahl betrug bei 40 Unterrichtswochen 32 Stunden. Sie verteilten sich wie folgt:10 Nr.
Unterrichtsfächer
Wochenstundenzahl
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Erziehungslehre Kindergartenlehre Natur- und Kulturkunde Bewegungsspiel und Turnen Beschäftigungsunterricht Nadelarbeit Modellieren, Ausschneiden, Zeichnen Gesang und Musik Arbeiten im Kindergarten Haus und Gartenarbeit
3 2 2 2 5 2 3 2 9 2
Die Erziehungslehre umfaßte die Besprechung der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes, die religiösen und ethischen Grundlagen der Gefühlsund Charakterbildung und die Arbeit mit der pädagogischen Literatur unter Einbeziehung der Geschichte der Erziehung. In der Kindergartenlehre wurde die Bedeutung des Kindergartens für das Kleinkind behandelt und die Beschäftigungen der Kinder im Jahreslauf besprochen. In der Natur- und Kulturkunde standen die Tier-, Pflanzen- und Gesteinswelt sowie die Naturerscheinungen und die verschiedenen produktiven Tätigkeiten in Familie und Beruf im Vordergrund. Das pädagogische Ziel bestand darin, Kinder auf ihre Umgebung aufmerksam zu machen. Die praktischen Fächer - Bewegungsspiel, Turnen, Beschäftigungsunterricht, Nadelarbeit, Modellieren, Ausschneiden und Zeichnen sowie Gesang und Musik - schlossen sowohl theoretische Besprechungen als auch praktische 7 A.a.O., S.70. 8 Fröbel hielt neben einer Elementarlehrerausbildung eine zusätzliche zweijährige Ausbildung für notwendig. Nur in Ausnahmefällen, bei entsprechender Vorbildung und Begabung sollten bei Einzelnen eine einjährige Ausbildung genügen. Vgl. a.a.O. 70f. 9 Zwischen 1851 und 1860 wurden die Kindergärten verboten. 10 Zentralblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung 53 (1911), Nr.10. Zitiert nach: Dammann, Elisabeth und Helga Prüser: Quellen zur Kleinkinderziehung. Die Entwicklung der Kleinkinderschule und des Kindergartens. München 1981, S.130.
154 Übungen ein. Die Einweisung in die Praxis geschah durch eine geübte Leiterin. Der Haus- und Gartenarbeit wurde eine wichtige Bedeutung zugewiesen. Die Frauen wurden in der Haushaltsführung sowie in haus- und gartenpflegerischen Tätigkeiten im Kindergarten unterwiesen.11 Auch in Köln gab es eine Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen. 1909 umfaßte die Ausbildung, laut eines Zeugnisses, allgemeinbildende Fächer wie Naturgeschichte und Deutsch, im fachlichen Bereich: Fröbelsche Erziehungslehre, Beschäftigung mit den Fröbelschen Gaben, religiöse Unterweisung, Bewegungsspiele und Turnen, Gesang, technische Arbeiten, Zeichnen, Gesundheitslehre, Samariterkurs und Übungen in der Praxis.12 Die praktische Ausbildung fand in den kommunalen Institutionen statt. 6.3 Aus- und Fortbildung der evangelischen Erzieherinnen im Einzugsgebiet Rheinland und Westfalen Die Mutterhäuser der Diakonissen waren in der Regel nicht nur Ausbildungsstätten für Kinderschulschwestern, sondern auch »Ausgangspunkt und Stützpunkt für eine bleibende Verbindung mit den ehemaligen Schülerinnen«13. Durch schriftlichen Verkehr, Rundbriefe, hausinterne Broschüren, Zeitschriften sowie regionale und überregionale Fortbildungskurse wurde der Kontakt mit den Absolventinnen der Kleinkinderschulseminare aufrechterhalten. Schon in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts erhielten evangelische Erzieherinnen, die Diakonissen, eine kurze - vor allem praktisch geprägte - Ausbildung, die später beträchtlich ausgeweitet wurde. Die Leiterinnen der evangelischen Kleinkindinstitutionen, die in Köln, Krefeld oder Bochum tätig waren, wurden vorwiegend in Kaiserswerth bei Düsseldorf, im Haus Sarepta in Bethel bei Bielefeld und in Witten ausgebildet. Alle drei Ausbildungsstätten gehörten zu den jeweiligen Mutterhäusern der Diakonissen. Ziel der Ausbildung war es in erster Linie, Diakonissen zu Kleinkinderlehrerinnen für den Einsatz in der Praxis auszubilden. Später erhielten auch junge weltliche Frauen eine Ausbildung. Vor allem durch Mitarbeit in den Kleinkindinstitutionen sollten die angehenden Erzieherinnen in die Arbeit hineinwachsen: »Mit angehenden Erzieherinnen soll man Geduld haben, aber das schließt nicht aus, daß doch ein gewisses Maß von Begabung gerade für diesen Beruf vorhanden sein muß, und wenn dieses Maß nicht da ist oder die Gabe, Disziplin zu halten, wirklich fehlt, oder eine Schwester Umsicht, zu gleicher Zeit eine ganze Schule zu übersehen, durchaus nicht bekom-
11 Vgl. a.a.O., S.127ff. 12 Historisches Archiv der Stadt Köln: 40-44.322.I. 13 Archiv Sarepta: Pastor Schulte: Die Pflege und Förderung der in der Arbeit stehenden Kinderschwestern und Kleinkinderlehrerinnen.
155 men kann, wenn sie gar keine Gabe hat zu erzählen oder zu singen, so sollte man ihr einen andern Beruf innerhalb der Diakonie zuweisen ... Ferner gehört zur Kinderschwester ein ziemliches Maß an Gesundheit. Der Beruf erfordert starke Nerven und deshalb sind Schwestern, welche keinen Lärm vertragen können, welche etwa an beständigen Kopfschmerz leiden oder an Blutarmut, sodaß sie ihre Arbeit nur schwer thun können, nicht für den Beruf geeignet. ... Ein noch schlimmerer Mangel ist es, wenn die betreffende keine Liebe zu den Kindern hat. Aber auch die bloße irdische Liebe reicht nicht aus ... Lebt man nicht im Worte Gottes und soll es doch verkündigen, so ist die große Gefahr da, daß man bloß plappert, daß man innerlich nicht nur gleichgültig dagegen wird, sondern auch immer mehr verhärtet, es wirkt dann auch nicht mehr an den Kinderseelen ... Falls der innere Mensch lau wird, entsteht auch Unlust in der Arbeit überhaupt, die Folge ist Gleichgültigkeit im Berufe, Mangel an Treue in der Vorbereitung. Man kann ja alles schon, hat es schon so oft gemacht. Die Kinder werden einem zur Last, sie spüren nicht mehr den frischen Hauch mütterlicher Liebe, man ist bei ihren Unarten leicht gereizt.«14 Die Ausbildung war über einen langen Zeitraum im wesentlichen praktisch ausgerichtet, so daß die jungen Diakonissen, die für die pädagogische Aufgabe geeignet schienen, unter Anleitung einer älteren »erfahrenen Kinderschulschwester« in den Kleinkindinstitutionen arbeiteten. Zusätzlich erhielten sie theoretischen Unterricht. Die Kleinkinderschule in der Nähe des Seminars bildete »für die Kleinkinder-Seminaristinnen ein erstes Versuchsfeld .. auf dem dieselben sich theoretisch und practisch in ihrem künftigen Beruf wirklich hineinleben können.«15 Das Prinzip des Mutterhauses in Sarepta in Bethel - heute ein Stadtteil von Bielefeld - war ebenfalls, die jungen Diakonissen unter Anleitung einer erfahrenen Schwester in die Arbeit allmählich hineinwachsen zu lassen: »Die Pflicht der älteren Schwester ist es aber, darauf zu sehen, daß die jüngere in jedem Stück weiter komme, sie dafür zu erziehen, einmal allein zu stehen und Schule halten zu können. Es ist daher nötig, daß sie sich jeden Tag mit ihrer jüngeren Schwester vorbereite, sich vorerzählen lasse und ihr dann selbst auch vorerzähle. Die jüngeren Schwestern sollen nicht dazu mißbraucht werden, bloß Kinder zu hüten; sie sollen mitlernen, das sind wir ihnen schuldig ... Besonders muß auch die Einteilung der Kinder richtig geschehen. Die jüngere Schwester muß auch eine entsprechende Zahl Kinder haben, von 80 vielleicht 20 kleine, weil diese mehr Aufsicht bedürfen. ... Der Wechsel (zu den älteren Kindern; E.K.) ist .. nötig, und muß vorher die ältere Schwester der jüngeren Unterweisung geben, auch ab und zu in die 14 Siebold: Welche Schwierigkeiten hat das Amt einer Kinderschwester und wie können dieselben überwunden werden? In: Bericht über die Kinderschwesterntage von 1897 und 1898. 1. Kinderschwesterntag am 4.-6. Juli 1897. Als Manuskript für die Schwestern gedruckt, S.2f. 15 Dreiundzwanzigster Jahres-Bericht über die Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth a.Rh. vom 1. März 1879 bis 1. März 1880, S.30.
156 Klasse hineinsehen und eine gewisse Aufsicht führen, wenn sie die Zügel der Regierung der Disziplin der Jüngeren überlassen hat.«16 In einem Zeugnis wurde den Absolventinnen in Bethel ihre Befähigung und Eignung für den Beruf der Kinderschullehrerin bescheinigt. So heißt es in einer Beurteilung aus dem Jahr 1873: »Dieselbe hat sich während ihres Aufenthaltes im hiesigen Lehrerinnen Seminar vom 4. Mai 1872 bis zum 4. April 1873 für den Kleinkinderschulberuf vorgebildet, und in dieser Zeit Fleiß, Liebe zu den Kindern und Gabe, sie spielend zu beschäftigen bewiesen, so daß wir sie zur Erziehung und Beschäftigung kleiner Kinder empfehlen können.«17 Bis 1912 überwog die praktische Ausbildung: »Unsere Schulschwestern, deren wir etwa 160 haben, sind bisher wesentlich praktisch ausgebildet worden. Ein theoretischer Kursus oder gar ein Seminar waren nicht vorhanden.«18 Im Jahr 1912 wurden im Mutterhaus Kurse für die jüngeren Diakonissen eingerichtet,19 in denen sie in 300 Stunden in verschiedenen theoretischen und praktischen Fächern unterrichtet wurden. An einer Ausweitung des Kurses auf zwei Jahre wurde gearbeitet.20 1914 entstand folgender Bericht über die Ausbildung und Fortbildung der Schulschwestern: »Wir bilden nur Schwestern für die Kinderschularbeit aus. Unsere Schulschwestern nehmen deshalb an der ganzen theoretischen Ausbildung unserer übrigen Schwestern teil. Nachdem sie etwa ein Jahr in einem Haus für Epileptische hier gearbeitet haben, kommen sie zu einem fünfmonatigen Kurs ins Mutterhaus, und werden da in wöchentlich 33 Lehrstunden unterrichtet. Diese 33 Stunden verteilen sich folgendermassen: religiöser Stoff im ganzen 9 Stunden, Deutsch 7 St, Handarbeit 6 St, Gesang 2 St, Rechnen 2 St, Ärztlicher Unterricht 2 St, Geographie 1 St, Geschichte 1 St, Literatur 1 St, Pädagogik 1 St, Berufsstunde 1 St. Zu diesen 33 Lehrstunden kommen 10 Arbeitsstunden unter Aufsicht und täglich bis 9 Uhr vormittags häusliche Arbeiten (zus. ca 700 Lehrstunden). Nach Absolvieren dieses Kurses werden die für die Schule tauglichen Schwestern ausgesucht, und kommen als 2te Schwestern im Lande hin und her in die praktische Kinderschularbeit. Während dieser 4-5 Jahre werden sie von der älteren Schwester in den ganzen Betrieb der Kinderschule eingeführt, in der Vorbereitung auf die einzelnen Fächer unterstützt. Ebenso nehmen sie an der wöchentlich einmal kreisweise stattfindenden Besprechung der biblischen Geschichte und anderer Beschäftigungsmittel seitens der älteren Schwestern pflichtgemäß teil. Dann kommen sie zum sog. Großen Kurs, der 3 Monate dauert, wieder ins Mutterhaus. 16 Fragen für den Kinderschwesterntag. In: Bericht über den Kinderschwestern-Tag 20. Juli 1895. Für die Schwestern als Manuskript gedruckt, S.13. 17 Archiv Sarepta: 808. 18 Die Schmelzhütte. Blätter aus dem Westf. Diakonissenhaus Sarepta bei Bielefeld. Nr.10. 1913, S.77. 19 Ebenda. 20 Vgl. ebenda.
157 Hier haben sie wöchentlich 40 Unterrichtsstunden und zwar: Religion 7 St, Deutsch 6 St, Handarbeit 5 St, ärztlicher Unterricht 4 St, Berufsstunde 3 St, Geographie, Geschichte, Buchführung, Gesang, Rechnen, Literatur je 2 St, Einführung in die Einrichtungen der Bahn, des Post- u. Telegraphenwesens u.s.w., u.s.w. Vorbereitung zum Kindergottesdienst 1 St. Zu diesen 40 Unterrichtsstunden kommen noch 14 Arbeitsstunden unter Aufsicht (zus. ca. 400 Lehrst.).«21 Die Schwestern legten nach diesem Kurs das staatliche Krankenpflegeexamen ab. In der dritten Ausbildungsphase arbeiteten diese Frauen als zweite Schwester in den Bielefelder Kleinkindanstalten. Während dieser Zeit wurden diese Frauen zweimal in der Woche (Mittwoch nachmittag und Freitag abend) in der Geschichte der Kleinkinderschulen, Information über die Seele des Kindes22, im Erzählen von Geschichten und im Zeichnen unterrichtet. Man machte sie mit biblischen Büchern bekannt und gab ihnen Anleitung zu den Fröbelschen Beschäftigungsarten, Kinderliedern und ähnlichem und unterwies sie im Singen und Harmoniumspielen. Insgesamt ergaben sich im Laufe dieser Ausbildungsphase 500 Stunden Unterricht. Zur Fortbildung der Schwestern in der pädagogischen Tätigkeit vor Ort wurden dreimal jährlich in den Kreisen Fortbildungen durchgeführt, die Lehrproben in biblischer Geschichte, Anschauungsunterricht, Auswendiglernen von Gedichten, sowie Beschäftigungen im Turnen, Singen und Spielen sowie das Erzählen einer kleinen Geschichte mit einbezogen.23 Die besonders begabten Schwestern arbeiteten in Institutionen im Bielefelder Kreis. Sie führten weiterhin alle drei Wochen die oben angeführten Lehrproben durch und versammelten sich jeden Freitag zu einer Besprechung der biblischen Geschichte, die vom Geistlichen des Mutterhauses geleitet wurde. Diese Schwestern wurden nach vier bis fünf Jahren in die weiter entlegenen Niederlassungen versetzt, so daß sie dort ihr zusätzlich erworbenes Wissen und ihre Erfahrungen in den wöchentlichen Treffen an die anderen Erzieherinnen weitergeben konnten.24 Im Bielefelder Mutterhaus der Diakonissen wurden ab 1881 Jahreskonferenzen eingeführt, die einerseits der Kontaktpflege der in Westfalen verstreut arbeitenden Diakonissen dienten, andererseits der religiösen Besinnung und der beruflichen Fortbildung. Im Bereich der beruflichen Fortbildung stand die religiöse Erziehung der Kinder im Mittelpunkt, aber auch allgemeine und pädagogische Themen wurden auf diesen Konferenzen behandelt.25 21 Archiv Sarepta: 538. 22 Im Text heißt es: »Sie erfahren etwas ... über die Seele des Kindes«. Daraus ist nicht ersichtlich, ob dieser Unterrichtsbereich sich auf psychologische Inhalte bezieht oder ob die Seele des Kindes mehr im theologischen Kontext verstanden wurde. 23 Vgl. ebenda. 24 Vgl. ebenda. 25 Vgl. Die Schmelzhütte. Blätter aus dem westf. Diakonissenhaus Sarepta bei Bielefeld. Nr.9, September 1913, S.71; Nr.9, September 1915; Nr.8, August 1914.
158 Am Beispiel der Aus- und Weiterbildungssituation des im Jahre 1890 gegründeten »Diakonissenhauses für die Grafschaft Mark und Siegerland« in Witten läßt sich die Entwicklung der Inhalte der Ausbildung der evangelischen Erzieherinnen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aufzeigen. Schon bei der Gründung des Wittener Mutterhauses wurde neben der Kranken- und Gemeindepflege die pädagogische Arbeit in Kleinkinderschulen mit eingeplant. Die ersten Kleinkinderschulschwestern erhielten ihre Ausbildung im befreundeten Oberlinhaus zu Nowawes bei Potsdam. Das Bedürfnis der Gemeinden nach Kleinkinderschulschwestern konnte damit jedoch nicht abgedeckt werden: »Mehr als zwei Schwestern auf ein Mal würden wir ihm (dem Oberlinhaus; E.K.) doch nie aufzubürden wagen und die große Zahl von Gemeinden in unserem Bezirk, die auf Schwestern zur Eröffnung von Kleinkinderschulen bereits warten oder aber die, wenn ihnen gesagt würde, in Witten seien Kleinkinderschulschwestern zu haben, sofort mit Freuden zur Begründung von Kleinkinderschulen schreiten würden, könnte auf diese langsame Weise nur sehr, sehr allmälig von uns versorgt werden.«26 Da außerdem zwischen den Mutterhäusern Bielefeld und Witten die Vereinbarung bestand, daß in den Gemeinden nur Schwestern aus einem Mutterhaus tätig sein sollten, »drängt uns Alles dazu ... mit der Errichtung einer Kleinkinderschule als dem ersten und nothwendigsten Bestandtheil eines Kleinkinderschulseminars baldigst vorzugehen.«27 Im Herbst 1897 konnte der Lehrbetrieb in Witten aufgenommen werden. Die Ausbildung erstreckte sich über zwei Semester. Die Semester begannen im Frühjahr und im Herbst. Es konnten jeweils bis zu acht Seminaristinnen aufgenommen werden. Der theoretische Unterricht wurde vom Anstaltsleiter und der vorstehenden Seminarschwester erteilt. Letztere war für den praktischen Unterricht verantwortlich und leitete gleichzeitig die Kleinkinderschule. Die Ausbildungskapazität war zu gering für die Nachfrage aus den Gemeinden. Bis 1910 wurden zirka 50 Schwestern ausgebildet.28 Im Herbst 1910 zog das Seminar in ein neues Gebäude und es konnten nun jeweils bis zu 20 Seminaristinnen aufgenommen werden. Auch unverheiratete weltliche Frauen und Witwen zwischen dem 17. und 30. Lebensjahr wurden zur Ausbildung zugelassen. Die Kosten betrugen für interne Schülerinnen 250 Mark pro Vierteljahr, für die Externen 100 Mark. Zusätzlich kamen 15 Mark für gestellte Lehrmittel und 20 Mark für eine Geige hinzu. Die Anwärterinnen mußten
26 Samariter, Nr.26. März 1896. 27 Ebenda. 28 Vgl. Evangelisches Diakonissenhaus für die Grafschaft Mark und das Siegerland in Witten. Eine Festschrift zum 50jährigen Bestehen 1890-1940. Herausgegeben von der Leitung des Diakonissenhauses Witten 1940, S.106.
159 bei guter Gesundheit sein, über eine abgeschlossene Volksschulausbildung verfügen, sowie eine Anlage zum Singen und für weibliche Handarbeiten mitbringen.29 Die Ausbildungsinhalte wurden erweitert, der theoretische Unterricht intensiviert: »Neben den Stunden, die der inneren Vertiefung und der allgemeinen Fortbildung dienen (Glaubenslehre, Geschichte und Kirchengeschichte, Deutsch, Literatur, Geographie, Rechnen usw.) stehen die speziellen Berufsstunden, in welchen die Anleitung dazu gegeben wird, den Kindern zu erzählen und sie zu beschäftigen: Biblische Geschichte, Anschauungsunterricht, Geschichten Erzählen, Singen, Spielen, Handfertigkeit usw. Auch der Handarbeit wird besondere Sorgfalt zugewandt, und ebenso wird das Geigenspielen gepflegt, dessen Kenntnis die Kleinkinderschullehrerin außerordentlich entlasten kann, wenn sie statt die eigene Stimme anzustrengen, einmal die Geige zur Hand nehmen darf.«30 1913/14 wurden die Fächer wie folgt aufgeteilt:31 Allgemeine Bildung: Nr. Unterrichtsfächer 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Bibelkunde Geschichte des Kirchenliedes Glaubenslehre Deutsch Rechnen Weltgeschichte Erdkunde Naturkunde Turnen Bürgerkunde (im Winter statt der Glaubenslehre)
Stunden 2 1 1 4 1 1 1 1 1 1
Berufsausbildung: Nr. Unterrichtsfächer
Stunden
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
1 2 1 1 1 1 1 2 2 3 1 1
Geschichte der Pädagogik Erziehungslehre Erzählen von Märchen, Fabeln uun dergl. Erzählen von biblischen Geschichten Theorie der Anschauung Kinderlieder und Spiele Gesundheitslehre Weibliche Handarbeiten Zeichnen Fröbelsche Beschäftigungen Violinunterricht Methode des ersten Elementarunterrichts
29 Vgl. Neunzehnter Jahresbericht über das Evangelische Diakonissenhaus für die Grafschaft Mark und Siegerland in Witten a.d. Ruhr vom 1. April 1909 bis 31. März 1910, S.24f. 30 Zwanzigster Jahresbericht über das Evangelische Diakonissenhaus für die Grafschaft Mark und das Siegerland in Witten a.d. Ruhr vom 1. April 1910 bis 31. März 1911, S.8. 31 Nordrhein-Westfälisches Staatssarchiv: Regierung Arnsberg II.1772.
160 Praktischer Unterricht: »Der praktische Unterricht soll sich so vollziehen, daß je zwei Schülerinnen 14 Tage lang beständig in der Übungsschule tätig sind und daß alle Schülerinnen jeden Tag 1 Stunde hospitieren. In dieser Hospitation werden alle in Frage kommenden Uebungen durchgenommen.«32 In der Woche wurde der Stoff wie folgt verteilt: Stunde
Montag
Dienstag
Mittwoch Donnerst. Freitag
Samstag
8-9
Kirchenlied
Erdkunde
Bibelkunde
Grammatik
Bibelkunde
Gesundheitsl.
9-91/2
P
A
U
S
E
91/2-101/2
Hospitieren in der Kleinkinderschule
101/2-111/2
Handarbeit
Literatur
Rechnen
--
Erziehungsl.
101/2-111/2
Turnen
Lektüre
--
Bibl.Geschichte
Glaubens- -lehre
2-3
Violinunterr. Kurs I
--
--
--
Zeichnen
--
3-4
Violinunterr. Kurs II
Erziehungskunde
Erzählen
Handarbeit
Zeichnen
--
4-41/2
P
A
U
S
E
41/2-51/2
Anschau- Naturung kunde
Spiel + Lied
Weltgesch.
Handfertigk.
--
51/2-61/2
Meth.d. Elementarunterr.
--
Gesch. der Pädagogik
Handfertigkeit
--
Beschäftigungslehre
Literatur
Eine wichtige Ergänzung zur einjährigen Ausbildung im Mutterhaus war die regelmäßige Fortbildung der Schwestern. Sie sollte dazu beitragen, daß die »Schulschwestern auf ihren oft einsamen Posten nicht veröden und geistig verkümmern, sondern innerliche Gemeinschaft untereinander und mit dem Mutterhause halten, auch immer aufs neue für ihre Arbeit Anregung und Befruchtung empfangen«33. Die Fortbildung umfaßte die alljährliche Schulschwesternkonferenz am Mittwoch nach Ostern im Mutterhaus in Witten, auf der theoretische und praktische Fragen erörtert wurden, ferner zwei allgemeine Lehrproben in der Seminarschule in Witten und drei bis vier Bezirkslehrproben. 32 33
Ebenda. Samariter 8. März 1905.
161 Als Beispiel für die Fortbildung sei hier der Ablauf einer Bezirkslehrprobe vorgestellt. Die Lehrprobe umfaßte fünf Teile, darunter vier praktische Übungen: Erzählung einer biblischen Geschichte, Anschauungsunterricht, Auswendiglernen und eine Beschäftigungsaufgabe sowie eine theoretische Besprechung. Etwa zehn Tage vor der geplanten Lehrprobe erhielten alle Schwestern eines Bezirks eine Einladung mit den Aufgabestellungen: »Jede Einzelne geht an die schriftliche Ausarbeitung der Aufgaben und spricht sie auch in der Schule mit ihren Kindern durch (mit Ausnahme der Schwester, in deren Kleinkinderschule die Lehrprobe stattfinden soll; E.K.); denn keine ist ja sicher, daß sie nicht bei der Lehrprobe eins dieser Themen zu behandeln bekommt.«34 In dem vorliegenden Fallbeispiel wurden folgende Aufgaben vergeben: »1. Biblische Geschichte: Jesus und Petrus auf dem Meere 2. Anschauung: Das Brot und seine Zubereitung. 3. Auswendig: »Von Jesu will ich singen« 4. Beschäftigung: Bauen. 5. Theoretisches zur Besprechung: Versprechen und Drohen in der Erziehung.«35 Zur Lehrprobe waren nicht nur die Schwestern des jeweiligen Bezirks und der Anstaltsgeistliche, der die Aufsicht über das Kleinkinderschulwesen führte, anwesend, sondern auch der Ortsgeistliche mit seiner Ehefrau. Nach dem Eingangslied forderte der Leiter der Lehrprobe eine der anwesenden Schwestern zur Unterweisung in die biblische Geschichte auf. Anhand eines Bildes führte die Schwester in die Thematik ein, um dann die Geschichte zu erzählen. Dazwischen stellte sie Fragen, »um die Kinder noch mehr anzuregen, entnimmt aus der Geschichte einige Anwendungen und Lehren für das menschliche Leben, und läßt dann die Kinder den Spruch nachsprechen ›Rufe mich an in der Not, so will ich Dich erretten, so sollst du mich preisen.‹«36 Der Abschluß dieses Teils der Lehrproben bildete ein Lied. Anschließend überzeugte sich der Anstaltsgeistliche durch Fragen davon, daß die Geschichte von Jesus auf dem Meer von den Kindern verstanden wurde. »Um die Kinder vor geistiger Uebermüdung zu bewahren, läßt nun Schwester R. (Leiterin der gastgebenden Kleinkinderschule; E.K.) einige Arm- und Beinbewegungen machen und dazu geeignete Liedchen singen.«37 Danach erhielt eine weitere Schwester die Aufforderung das nächste Thema, den Anschauungsunterricht »Das Brot und seine Zubereitung«, vorzuführen. Sie zeigte den Kindern verschiedene Brotsorten und besprach, ausgehend von dem Pausenbrot der Kinder, die Beschaffenheit der verschiedenen Brotsorten. Anhand von pantomimischen Spielen vermittelte sie den Kindern die Arbeit des Brotbackens. Zur Abwechs34 35
Ebenda. Ebenda.
36 37
Ebenda. Ebenda.
162 lung wurden anschließend wieder Bewegungsübungen durchgeführt, bevor die nächste Lehrprobenkandidatin mit den Kindern das Lied »Von Jesu will ich singen, er ist so gut und schön; Er liebt auch die Geringen, mag Kindlein gerne sehn.«38 auswendig lernte. Danach beschäftigte man die Kinder zirka zwanzig Minuten mit Kreisspielen und gab ihnen im Rahmen der letzten Lehrprobe die Möglichkeit, mit Bausteinen nach Anleitung zu bauen. Nach dem Schlußgesang und einem Gebet wurden die Kinder entlassen. Für die Schwestern begann nun der zweite Teil der Fortbildungsveranstaltung. Nach einer Kaffeepause fand eine kritische Betrachtung der einzelnen Lehrproben statt, dabei wurde insbesondere auf die Klarheit der besprochenen Inhalte, die grammatischen Fehler der Schwestern und den allgemeinen Ablauf eingegangen. Es schloß sich die Besprechung der theoretischen Aufgabe an, danach folgten Berichte des Anstaltsgeistlichen aus dem Mutterhaus und über neue Weltereignisse. »Der Gesang eines geistlichen Liedes, die Vorlesung eines Bibelabschnittes, Gebet und Segen bilden den Schluß.«39 Neben den jährlichen Konferenzen und den überregionalen beziehungsweise regionalen Konferenzen sollte der ständige Austausch durch wöchentliche »Schulkränzchen« ermöglicht werden. Diese Treffen dienten dem kollegialen Austausch von Erfahrungen in der pädagogischen Arbeit in den Institutionen vor Ort sowie der gemeinsamen Vorbereitung der »zu erzählenden biblischen Geschichten und Märchen und ... dem zu erteilenden Anschauungsunterricht«40. 6.4 Die Ausbildung der katholischen Erzieherinnen Wenn es auch vereinzelt Ausbildungsstätten für katholische Ordensfrauen gab41, so blieben die meisten katholischen Ordensfrauen ohne eine spezielle Ausbildung. Pfarrer Gutbrod schreibt zur Vor- und Ausbildung: »Erwünscht wäre es, wenn die Leiterin eine höhere, allgemeine Bildung genossen hätte. Doch für nothwendig halte ich das nicht. Ein Jahr Praxis an einer gut geleiteten Anstalt dürfte genü38 Ebenda. 39 Ebenda. 40 Dreizehnter Jahresbericht über das Evangelische Diakonissenhaus für die Grafschaft Mark und das Siegerland in Witten a.d. Ruhr vom 1.April 1903 bis 31.März 1904, S.6. 41 Ab 1843 richteten die Armen Schulschwestern in München, ab 1852 die Schul- und Krankenschwestern in Finthen bei Mainz und ab 1858 die Armen Dienstmägde Jesu Christi in Dernbach im Westerwald Kurse für Schulschwestern zur Vorbereitung auf die Tätigkeit in den Kinderbewahranstalten und Bewahrschulen ein. Vgl. Derschau, Dietrich von: Die Fachkräfte in den katholischen Kindergärten. Zur Geschichte ihrer Ausbildung. In: Thomas Schnabel (Hrsg.): Versorgen, bilden, erziehen 1912-1987. Festschrift des Zentralverbandes katholischer Kindergärten und Kinderhorte in Deutschland. Freiburg im Breisgau 1987, S.173.
163 gen.«42 Noch 1901 empfiehlt Pfarrer Johanny die Ausbildung der Erzieherin »soweit es notwendig ist ... Nun, vielleicht ist in der Nähe eine Kreisstadt oder eine größere Gemeinde, wo Klosterschwestern eine Bewahrschule leiten. Für diesen Fall wäre ja eine Schwierigkeit behoben; die Person könnte jeden Tag dorthingehen. Ist das aber nicht möglich, so ist sicher ein Klösterchen zu finden, welches eine solche Person etwa auf drei Wochen gerne aufnimmt. Die Lehrerin braucht ja nicht gleich eine Meisterin zu sein; es genügt, wenn sie den Hergang weiß, wenn sie gesehen hat, wie es die Schwestern machen.«43 Dagegen wies Emy Gordon 1898 in der Zeitschrift »Charitas« auf die Notwendigkeit der Erzieherinnenausbildung hin.44 1897 wurde in Würzburg ein dreimonatiger Kurs zur Ausbildung von katholischen Kindergärtnerinnen eingerichtet.45 Dieser kann als Beginn der »systematischen Ausbildung von katholischen Laienkräften betrachtet werden«46. Der Unterricht bestand aus einem praktischen und theoretischen Teil. Innerhalb der praktischen Ausbildung arbeiteten die Schülerinnen in einem katholischen Kindergarten und im Bereich der Haushaltspflege. Außerdem unterwies man sie im Umgang mit den Fröbelschen Beschäftigungsmaterialien. Der theoretische Unterricht umfaßte Erziehungslehre, in die die Beschäftigung und Unterhaltung der Kinder einschließlich Fröbelscher Arm-, Hand- und Fingerspiele eingeschlossen waren, »Anleitung zum Erzählen, Redeform und Gesprächston, Belohnung und Bestrafung kleiner Kinder«47. Außerdem vermittelte man Kenntnisse in der Gesundheitspflege. Die Kursdauer war angesichts der angesprochenen Stofffülle sehr kurz, so daß eine intensive Vermittlung der Inhalte kaum möglich war. 1906 gründete man in Aachen, 1909 in Münster und 1914 in Freiburg weitere katholische Ausbildungsstätten.48 Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieben viele Ordensfrauen ohne spezielle schulische Vorbildung für die pädagogische Arbeit in den Kinderbewahranstalten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden vermehrt Kurse für die in der Praxis stehenden Ordensfrauen eingerichtet.49 In Köln bewarben sich auch vereinzelt katholische Ordensfrauen für die Ausbildung an der »Kindergärtnerin-Bildungsanstalt«50. Die Mehrheit der in der Praxis vor Ort stehenden Ordensfrauen scheinen aber keine spezielle Ausbildung 42 Gutbrod, F.X.: Die Kinderbewahr-Anstalt in ihrem Zwecke und in den Mitteln zur Erreichung dieses Zweckes. Augsburg 1884, S.21. 43 Johanny, K.: Eine Kleinkinderschule. In: Charitas. Zeitschrift für die Werke der Nächstenliebe im katholischen Deutschland. Nr.2. Siebenter Jahrgang 1902, S.35. Wenn auch hier offensichtlich die Ausbildung des weltlichen Personals gemeint ist, so kann angenommen werden, daß für die Ausbildung der Ordensfrauen ähnliche Maßstäbe angelegt wurden. 44 Vgl. Derschau, Dietrich von: Die Fachkräfte in der katholischen Ausbildung. A.a.O., S.174. 45 Vgl. a.a.O., S.175. 46 Ebenda. 47 A.a.O., S.175f. 48 Vgl. a.a.O., S.176. 49 Vgl. Historisches Archiv des Erzbistums Köln: Generalia 23.19.I. 50 Historisches Archiv der Stadt Köln: 40-44.323a.
164 erhalten zu haben. So wurde in Bochum in den Akten für katholische Ordensfrauen im Jahr 1908 keine pädagogische Ausbildung angegeben, während zur gleichen Zeit Diakonissen im Mutterhaus in Bielefeld ausgebildet wurden. Die beiden Erzieherinnen der Kinderbewahranstalt des Vaterländischen Frauenvereins waren ebenfalls ausgebildete Kindergärtnerinnen.51 6.5 Zusammenfassung Während in katholischen Kreisen offensichtlich lange die Meinung vorherrschte, daß für die Arbeit in der Kinderbewahranstalt keine spezielle pädagogische Ausbildung notwendig sei, war die Arbeit im Kindergarten bereits in der Gründungsphase auf eine gründliche theoretische und praktische Vorbereitung ausgerichtet. Auch in evangelischen Kreisen setzte sich früh die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Ausbildung für die Arbeit in der Kleinkinderschule durch. In den ersten Jahrzehnten war die Lehrzeit sehr praxisorientiert, religiöse Fächer standen im Vordergrund. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert wurden zunehmend pädagogische Inhalte wichtig, wie das Beispiel der Ausbildung in Witten zeigt. Frühzeitig traten ergänzend zur evangelischen Ausbildung Fortbildungsveranstaltungen. Zum Ende des Untersuchungszeitraumes stimmten die Stundentafeln der staatlichen Ausbildungsverordnung mit jenen des Diakonissenhauses in Witten inhaltlich weitgehend überein. In Witten nahmen die allgemeinbildenden Fächer einen breiten Platz ein. Dies stand im Zusammenhang mit der Vorbildung der Schülerinnen. Während bei der staatlichen Ausbildung der Besuch einer einjährigen Frauenschule Voraussetzung war, konnten in Witten Frauen mit Volksschulabschluß aufgenommen werden. Dort war der Anteil der spezifisch religiösen Fächer mit 41/2 Stunden relativ hoch. Es ist zu vermuten, daß religiöse Inhalte auch in anderen Fächern ihren Niederschlag fanden. In der staatlichen Ausbildung hingegen waren religiöse Fragen in das Fach Erziehungslehre integriert. Die Stundenzahl der pädagogischen und praktischen Fächer differierte dagegen kaum, allerdings ist über die inhaltliche Ausgestaltung der Unterrichtsfächer keine Aussage getroffen. Zum Teil lassen sich jedoch in Bezug auf die Vorstellungen der praktischen Arbeit vor Ort, wie sie in Fachbüchern und -zeitschriften ihren Niederschlag fanden, Rückschlüsse auf die inhaltliche Ausgestaltung der Fächer ziehen. Insgesamt wird deutlich, daß der Anteil der praktischen Fächer höher liegt, als der Anteil der theoretischen Inhalte. Daraus läßt sich schließen, daß weniger Wert auf ein theoretisches Verständnis der psychischen und sozialen Entwicklung der Kinder und der daraus abzuleitenden pädagogischen Handlungen gelegt wurde. Vielmehr lag der Schwerpunkt der Ausbildung mehr auf einer schnellen Verwertbarkeit didaktischer und methodischer Handlungselemente. 51
Vgl. Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg II.D.60.
7 Die Ausstattung in den Kinderbewahranstalten unter besonderer Berücksichtigung der Einrichtungen in Köln, Krefeld und Bochum Es sind nur spärliche Daten zur Ausstattung der Kinderbewahranstalten der Städte Köln, Krefeld und Bochum zu finden. Diese Daten - Berichte und Erinnerungen, Interviews und ähnliches - werden den Veröffentlichungen zur Ausstattung gegenübergestellt. Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß die Forderungen, die in der pädagogischen Fachliteratur vertreten wurden, Maximalforderungen waren, die sich zum Teil an den neueren pädagogischen Einsichten orientierten. Vermutlich waren die Rahmenbedingungen in den Kinderbewahranstalten vor Ort, aufgrund der schwierigen finanziellen Situation, weniger positiv. 7.1 Die räumliche Situation Die räumliche Situation in den verschiedenen Kinderbewahranstalten unterschieden sich nur unwesentlich. Die Kinder waren häufig in einem großen Saal untergebracht, einige Anstalten verfügten über einen zusätzlichen Spielsaal, die meisten hatten einen Hof oder Garten. In der nach der Aufhebung der Klostergesetze wieder neueröffneten von einer Ordensschwester geleiteten Kinderbewahranstalt in der Kölner Pfarrei St. Severin waren die Kinder (ca. 130) »in 3 Zimmern verteilt .. Eine Abteilung von ungefähr 30 Kindern war von den anderen getrennt als Kinder besser situierter .. mehrzahlender Eltern. Die übrigen zerfielen dem Alter nach in zwei Abtheilungen, die jüngeren Kinder vom 2. Lebensjahre an waren in einer Anzahl von 30 in einem verhältnismäßig kleinen Zimmer untergebracht und wurden von einem erwachsenen Mädchen beaufsichtigt. Die älteren unter denen sich auch noch 6 jährige befanden, wurden wie auch die .. genannte Abteilung in einem geräumigen Zimmer von einer Nonne geleitet.«1 Zu der Anstalt gehörte ein kleiner mit Kies bestreuter, frei liegender Hof. Häufig wurde die pädagogische Arbeit provisorisch in angemieteten Räumen begonnen, die sich oft als ungeeignet erwiesen. So beschwerte sich eine Erzieherin der städtischen Kinderbewahranstalt in Köln 1907 bei der städtischen Schulbehörde über die unzureichenden Zustände ihrer Anstalt: »Der Kindergarten wird in einem Vergnügungslokale abgehalten und findet Conzert oder Ball statt, sind hier mit großer Mühe die Bier- und Zigarrendünste auszulüften. Wir Erwachsene fühlen uns unbehaglich in dieser Atmosphäre, nicht davon zu reden, daß die kleinen Lungen für die schlechte Luft empfänglich sind. Auch weiß ich nicht, wo ichmeine täglichen Bewegungs-Spiele ausführen soll. Früher durfte ich den angren1
Historisches Archiv der Stadt Köln: XII-1-736.
E. Krieg, Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt, DOI 10.1007/978-3-531-92848-7_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
166 zenden Saal benutzen, seit drei Monaten jedoch ist mir das Betreten des Saales nicht mehr gestattet und kann ich wirklich in meinem niedrigen Arbeitsraum kaum ein Kreisspiel ausführen, geschweige denn mit den Kindern marschieren.«2 Auch weisen die häufigen Umzüge während der Gründungsphasen darauf hin, daß über längere Zeit Provisorien in Kauf genommen wurden. In Langendreer-Kaltenhardt wurde im Juni 1896 eine evangelische Kinderbewahranstalt eröffnet.3 Nachdem die Verwaltung der Zeche Mansfeld der Anstalt ein Grundstück geschenkt hatte, konnte ein eigenes Gebäude mit »Lehrsaal« und einer »Wohnung für die Lehrerin«4 errichtet werden. In der Bochumer evangelischen Kinderbewahranstalt in der Fahrendellerstraße hatte der Schulsaal eine Größe »von 10,51/2 m mit 3 Fenstern, die aber durch das hohe Nachbarhaus zugebaut sind. Der kleine Saal ist furchtbar eng, 4,51/2 m. Die Kinder müßen immer fest in ihren Bänken sitzen bleiben. Im ganzen sind stets über 100 Kinder vorhanden.«5 In den Revisionsberichten der Krefelder Behörde wurden bezüglich der Räumlichkeiten zwischen 1900 und 1903 bei zwölf Kinderbewahranstalten Mängel beanstandet, die zum Teil behoben werden konnten. Zwei Schulen erwiesen sich bezüglich der Räumlichkeiten als zu klein, bei fünf Institutionen wurde die geringe Größe des Spielhofs beanstandet. Einige Betreuerinnen lösten das Problem, indem sie einen öffentlichen Spielplatz oder öffentliche Plätze benutzten, beziehungsweise mit den älteren Kindern bei gutem Wetter spazierengingen. In sechs Einrichtungen fehlte der Sand oder war unsauber, da er sich mit der darunter liegenden Erde vermischt hatte. Man empfahl diesen Institutionen die Sandspielfläche zu pflastern, um eine Vermischung von Sand und Erde zu vermeiden. Bei einigen Anstalten wurde der defekte Boden gerügt und der Mangel an Sauberkeit sowie der fehlende Neuanstrich. In einigen Einrichtungen war nach Meinung der Revisoren die Zahl der Toiletten nicht ausreichend. In einem Fall wurde aufgrund der finanziellen Lage Abstand von der Forderung nach mehr Toiletten genommen.6 Insgesamt war die räumliche Situation so beschaffen, daß den Kindern nur wenig Freiraum zum Spielen eingeräumt werden konnte. Die Mängel in den Einrichtungen, wie sie oben angeführt sind, resultierten aus den Folgen der engen Finanzsituation und der Überlastungen der Bezugspersonen. 7.2 Das Mobiliar Das Mobiliar bestand häufig aus Bänken. Nicht alle Kinderbewahranstalten waren mit Tischen ausgestattet. Für eine optimal eingerichtete Kinderbewahranstalt wurden 1886 »kleine Bänke mit Lehnen je für 6 Kinder. Tische zu den Beschäf2 3 4 5 6
Historisches Archiv der Stadt Köln: 40-44.322.I. Märkischer Sprecher: 1896. Nr.131. Vgl. diese Arbeit, S.89. Archiv Sarepta: 1259. Stadtarchiv Krefeld: 4.1135.
167 tigungen je für 12 Kinder«7 gefordert. 1911 verlangten Fachautorinnen viersitzige Tische und Bänke, »damit es leicht ist, die Kinder herauszunehmen«8. In den Maximalforderungen für das Mobiliar macht sich von 1885 bis 1911 ein Wandel deutlich. Während sich 1885 noch 12 Kinder am Tisch gegenüber sitzen sollten, wurde 1911 gefordert, daß an einem Tisch nur vier Kinder der Lehrerin zugewandt sitzen sollten, damit sie während der Beschäftigungen den Übungen der Bezugsperson folgen könnten. Diese Veränderung stand in einem engen Zusammenhang mit der sich wandelnden pädagogischen Haltung. In der Literatur wurden zunehmend mehr didaktisches Material empfohlen.9 Möglicherweise entwickelten die Erzieherinnen auch eine veränderte Haltung zum Freispiels und weiteten dessen Zeiten aus. Die kürzeren Bänke erlaubten einem Kind, ohne größere Störung der anderen Kinder, neue Spiel- und Arbeitsmaterialien zu holen. Allerdings scheint dieses Optimum nicht immer erreicht worden zu sein: »Als auffallenden Mangel habe ich oft das Fehlen der Tische für die Kinder gefunden. Manchmal sind auch nur so viele Tische vorhanden, daß die Kinder zu beiden Seiten des Tisches sitzen müssen. Eine Kleinkinderschule ohne Tische entspricht wirklich nicht den einfachsten Anforderungen. Wohin sollen die Kinder ihr Frühstücksbrot legen? Sie sollen doch lernen, anständig am Tische zu essen. Es ist in verschiedener Richtung unzulässig, daß die Kinder während der Beschäftigung vor den Bänkchen auf dem Boden kauern. Sitzen aber an beiden Seiten des Tisches Kinder, so wendet eine Gruppe der Tante immer den Rücken zu, kann also die Vorarbeiten der Kindergärtnerin nicht sehen. Darum sollen in einer Kleinkinderschule für alle Kinder Tische vorhanden sein.«10 Der Tisch der Bezugsperson sollte nach der Forderung von 1911 eine »schräg verstellbare Platte (haben; E.K.), welche mit Linoleum bezogen wird. Dadurch wird diese Tischplatte zugleich Tafel zum Vormalen.«11 Die Ausstattung mit Mobiliar bestand auch nach der Jahrhundertwende in der Mehrheit aus Bänken. Anscheinend waren Tische nun ebenfalls mehr zu selbstverständlichen Einrichtungsgegenständen geworden. Eine Neuanschaffung nach den Vorstellungen der evangelischen Monatszeitschrift, dürfte für die meisten Institutionen für Unterschichtkinder unerschwinglich gewesen sein. Wie Praxisberichte zeigen, waren Tische und Stühle eher die Ausnahme. Folgende Beispiele zeigen die Mängelsituationen in den Kinderbewahranstalten: 7 8 9 10
Oberlin-Blatt. 1886, S.30. Die christliche Kleinkinderpflege. 1911, S.117. Vgl. diese Arbeit, S.198ff, 209f. Die christliche Kleinkinderpflege 1911. Ebenda. Hier wird in der Pädagogik die Nähe zum schulischen Lernen deutlich. Die Kinder sollten so sitzen, daß sie die Lehrerin gut sehen konnten, um den Anweisungen folgen zu können. Auch in der Frühphase der Kinderbewahranstalten waren die Bänke vielfach so angeordnet, daß die Kinder hintereinander saßen, mit dem Gesicht der Erzieherin zugewandt. 11 Die christliche Kleinkinderpflege: Ebenda.
168 In den Krefelder Revisionsberichten von 1902 wird das Fehlen von Schulbänken in einer Institution kritisiert. Erst 1903 wurden nach nochmaliger Abmahnung die fehlenden Sitzmöbel beschafft.12 Fehlende Möbelausstattung führte oft dazu, daß nicht alle angemeldeten Kinder aufgenommen werden konnten, wie folgendes Schreiben aus dem Jahr 1905 zeigt: »Zur Zeit sind in der Berichtsliste des städtischen Kindergartens, Niederichstraße Nr.3, 90 Kinder eingetragen, von denen augenblicklich 78 die Anstalt besuchen; 8 sind entschuldigt. Weitere 10 Kinder sind noch angemeldet, kann selbe aber nicht aufnehmen, weil keine Sitzgelegenheit vorhanden ist. Wenn die Kinder bequem sitzen sollen, können nur 70 Kinder untergebracht werden. Es müßten demnach noch 2 Tische und 4 Bänke hinzukommen, alsdann könnten auch die angemeldeten 10 Kinder aufgenommen werden.«13 Wie das Beispiel der im Jahre 1895 in Köln Sülz gegründeten Niederlassung der Vinzentinerinnen aus dem Mutterhaus Köln-Nippes zeigt, führten finanzielle Notsituationen offensichtlich zu Provisorien. Die Kinder der Kinderbewahranstalt »saßen auf Kisten und Tischen, Schreiner Viethen hat sie später umsonst in Stühle und Tischchen umgearbeitet«14. 7.3 Spiel- und Beschäftigungsmaterialien Zu den Spiel- und Arbeitsmaterialien waren nur spärliche Unterlagen zu finden. Deshalb werden hier vor allem die Vorstellungen der damaligen Fachliteratur vorgestellt. Im evangelischen Oberlin-Blatt wurden 1866 folgende Beschäftungs- und Spielmaterialien gefordert: biblische Bilder, Anschauungsbilder, ein Fröbelscher Baukasten, Legetäfelchen, Legestäbchen, Verschränkungsstäbchen, Flechtnadeln, Flechtblätter, bunte Perlen zum Aufreihen, Tafeln zum Malen, ein Gehseil, ein Spielplatz mit Sandhaufen, Turngeräte, Sandspielzeug, Schiebkarren, Harken und Spaten, Spielbälle, Puppen mit Wiege oder Bettchen, kleine Papphelme, Fahnen und Bilderbücher.15 Im Jahr 1911 verlangte man darüber hinaus, daß für jedes Kind »eine Schiefertafel, am besten ohne Liniatur, dazu einen Schieferstift mit Holzhülle« vorhanden sein solle.16 Außerdem müsse »für jedes Kind .. auch ein Buntstift angeschafft werden. Am besten geeignet sind die Oelkreidestifte, auch in Holzhülle .. Freilich kann damit nur auf Papier gemalt werden. Von der Tafel läßt sich die Oelkreide nicht abwischen ... Für jedes Kind (braucht man; E.K.) einen Baukasten, eine Schere, eine Flecht- und Ausstechnadel, ein Kästchen für Perlenmosaik, einen Turnstab. Für das Ausstechen sind Unterlagen nötig.«17 Insgesamt wurde betont, daß ausreichend Material vorhanden sein sollte. Es ist zu 12 13 14 15 16 17
Vgl. Stadtarchiv Krefeld: 4.1135. Historisches Archiv der Stadt Köln: 40-44.320. Archiv der Vinzentinerinnen Köln-Nippes: Näheres über d. Gründung d. St. Vinzenzhauses Köln-Sülz. Oberlin-Blatt: A.a.O., S.31. Die christliche Kleinkinderpflege: Ebenda. A.a.O., S.117f.
169 vermuten, daß diese Maximalforderungen nur selten erreicht wurden, so daß häufig aus finanziellen Gründen die Ausstattung mit Spielmaterial sehr gering war. Die katholischen Institutionen standen der Fröbelschen Pädagogik bis in das 20. Jahrhundert ablehnend gegenüber. Die beiden Ordensfrauen Athanasia und Eusebia, die ein Anleitungsbuch für die praktische Arbeit in den Kinderbewahranstalten veröffentlichten - das von Katholiken auch nach der Jahrhundertwende noch empfohlen wurde -, schlugen an Spiel- und Arbeitsmaterialien vor: »Puppen, Bälle, Bauhölzer, Bilderbücher, Instrumente für Musik, Trommeln, Fahnen, Säbel, Soldaten, Wägelchen, Kreisel, Schäfchen, Pferdchen, Schubkärrchen, Schaufeln, Rechen usw., aber nur ja keine Schaukelpferde18 .. Schiefertafeln mit Griffeln zum Malen ... Stäbchen, Ringe, Bogen zum Einflechten, bunter Papierstreifchen usw.«19 Auch wenn sich nach der Jahrhundertwende katholische Autorinnen20 vereinzelt bemühten, Fröbelsche Materialien in den katholischen Einrichtungen einzuführen, standen vermutlich die meisten Erzieherinnen in der Praxis vor Ort diesen Angeboten ablehnend gegenüber. Einerseits waren die finanziellen Mittel häufig sehr knapp, andererseits wurde - wie schon erwähnt die Fröbelsche Pädagogik bis ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend abgelehnt. Zudem waren die Ausbildungsmöglichkeiten für katholische Erzieherinnen noch sehr beschränkt, so daß im katholischen Bereich noch viele Frauen tätig waren, die außer einer Hospitation kaum eine weitere Ausbildung erhalten hatten.21 In Interviews in Bochum berichteten Frauen, die zwischen 1910 und 1916 Anstalten der Vinzentinerinnen (Mutterhaus Paderborn) besuchten, daß aufgrund von Geldmangel nur wenig Spielmaterial vorhanden gewesen sei. Die Damen berichteten, daß dagegen Kreis-, Sing- und Marschierspiele zur Beschäftigung der Kinder gehörten. Außerdem seien Geschichten erzählt worden, man habe Gedichte auswendig gelernt und Gebete eingeübt. Zahlreiche Artikel in den evangelischen Fachzeitschriften wiesen auf den materiellen Notstand hin. Die Autor/innen schilderten, wie man kostenlose Materialien beschaffen und zu didaktisch wertvollem Spielgut umfunktionieren könne. Auch berichteten Erzieherinnen in diesen Zeitschriften über ihre pädagogische Alltagsarbeit und die Mühe, die sie auf sich nahmen, um Material zu beschaffen und herzustellen. Schwester L. schreibt 1903: »Wie gerne spielen die Mädchen mit ›Sesseln‹, ›Sophas‹, ›Tischchen‹, ›Bettchen‹, ›Schränkchen‹ u.s.w. Und was die Hauptsache dabei ist, all’ diese Möbelchen können mit so geringen Mitteln hergestellt werden. Ausgediente Gratulations-, Einladungs- und dergleichen Kar18 In der Benutzung der Schaukelpferde wurde eine sittliche Gefahr gesehen, da aufgrund der Bewegungen die Geschlechtsorgane der Kinder gereizt würden. 19 Schwestern Athanasia und Eusebia: Nützliche Beschäftigungen für die Kleinen. Vademecum für Kleinkinderschulen und die Familie. Dritte verbesserte Auflage. Mainz 1896, S.12. 20 Vgl. Gordon, Emy: Die katholische Kindergärtnerin in Schule und Haus. Stuttgart und Wien 1902. Strobel, Regine: Lehrbuch für die katholische Kindergärtnerin. Essen-Ruhr 1908. 21 Vgl. diese Arbeit, S.162ff.
170 ten können dazu verwendet werden. Nach Neujahr bitte ich in verschiedenen Familien, wo ich viele solcher Karten vermute, um dieselben, und so bekomme ich einen großen Vorrat verschiedener Größen und Qualitäten zusammen. Die starken werden zu Möbeln, die dünnen zu kleinen Körbchen, die mit künstlichen Blumen und Moos gefüllt werden, verwendet ... Wir sammeln Cichorienbilder, mit denen die Kinder in den Läden beschenkt werden. Ich klebe sie auf und befestige sie an Hölzchen, so daß sie aufrecht stehen. Wie prächtig verwenden sie dann meine Buben zum Bauen!«22 In den Zeitschriften wurde vorgeschlagen, Naturmaterialien wie Muscheln, Kastanien, Eicheln, Steine und ähnliches zu sammeln, diese für freies Legen zu verwenden. Für den gleichen Zweck und zum Legen nach Vorlage sollten Abfallmaterialien wie die oben erwähnten Postkarten, Kartonreste und Kartons, auf denen Knöpfe aufgenäht waren, und Holzabfälle besorgt werden. Papier- und Pappabfälle seien in Druckereien und einschlägigen Geschäften zu beschaffen. Die Abfallprodukte wurden von den Bezugspersonen zum Gebrauch in den Kinderbewahranstalten umgearbeitet. Auch mußten Materialien, die offensichtlich für die erzieherische Arbeit zum Kauf angeboten wurden, zum Teil durch die Bezugspersonen umgearbeitet werden, um ihrer pädagogischen Funktion zu entsprechen: »Es ist ja mancherlei, was in den letzten Jahren für die Beschäftigung der vorschulpflichtigen Kinder auf den Markt gebracht ist. Unter diesen Versuchen sind unbedingt die Holznägel das Beste, freilich müssen sie eine Verwandlung von weiß in bunt mit sich vornehmen lassen, sonst wird’s auch nichts mit ihnen. Da mit ihrer verschiedenen Größe, die nicht einmal so ganz regel- und standmäßig ist, kein bestimmtes Arbeiten möglich ist wie mit den bekannten Fröbelschen Stäbchen, so muß man sie eben durch die Farbe zu einem wirklich anregenden Beschäftigungsgegenstande der Kinder machen ... Da kaufte ich ... rot, grün, gelb, blau, violett, rührte jedes allein und warf ›Nägel‹ von den verschiedenen Größen in je eine Farbe. So erhielt ich 5 Farben: auf den Rest der Farben goß ich nochmals Wasser, oder mische auch zwei Farbenreste zusammen und erhielt hellere Schattierungen. So hatte ich also dem so wichtigen Prinzip Fröbels, den Farbensinn zu fördern, Rechnung getragen.«23 Das Sammeln und Umarbeiten der kostenlosen Materialien erforderte von den Bezugspersonen einen hohen Zeitaufwand, der zum Teil außerhalb der Arbeitszeit in der Freizeit und auch zum Teil während der Anwesenheit der Kinder in den Kinderbewahranstalten erbracht werden mußte. Damit ging nicht nur Zeit für die pädagogische Arbeit mit den Kindern verloren, sondern darüber hinaus wurden Kraft und Phantasie der Bezugspersonen durch die oben genannten Vorbereitungsarbeiten absorbiert, die dann häufig zur Vorbereitung von Beschäftigungen und der Auseinandersetzung mit den kindlichen Problemen fehlten. Außerdem beschnitten solche Arbeiten die dringend benötigte Zeit zur Erholung und Entspannung, um 22 23
Die christliche Kleinkinderpflege. 1903, S.15. Die christliche Kleinkinderpflege. 1904, S.43f.
171 über einen langen Zeitraum der schwierigen Aufgabe der Kinderbetreuung gewachsen zu sein. Wegen der eher schwierigen pädagogischen Rahmenbedingungen, der beengten Räumlichkeiten, der mangelhaften Ausstattung mit Mobiliar sowie Spiel- und Beschäftigungsmaterial waren die Erzieherinnen auf ruhige Tätigkeiten und gemeinsame Spiele angewiesen. Aufgrund der ungünstigen Erzieherinnen-Kind-Relation waren Aktivitäten, die auch während des Freispiels mit unkontrollierterBewegung und einem hohen Lärmpegel einhergingen, kaum möglich. 7.4 Erzieherinnen-Kind-Relation in den Institutionen in Köln, Krefeld und Bochum Die Größe der Kinderbewahranstalten stand in einem engen Zusammenhang mit den Erfordernissen der Umgebung der Kinderbewahranstalt, ihrer baulichen Situation und der Anzahl des Personals. Weitere wichtige Punkte waren die Entwicklung der Zahlen der Kinder in einer Gemeinde und die Ausbreitung der Institutionen. Die Gruppengröße in Bochum bewegte sich 1892 in den einzelnen Anstalten zwischen 70 und 115 Kindern. Die Anstalt des Vaterländischen Frauenvereins der Kolonie Stahlhausen, die dem Bochumer Verein gehörte, betreute dagegen 220 Kinder.24 Diese wurden von zwei Erzieherinnen und zwei Gehilfinnen versorgt, so daß auf 55 Kinder eine Bezugsperson kam und auf 110 Kinder eine hauptamtliche Erzieherin.25 1908 bewegte sich die Größe der Institutionen in den katholischen Anstalten zwischen 45 und 100 Kindern, davon hatte eine Einrichtung zwei Abteilungen, die anderen jeweils eine. In den evangelischen Anstalten bewegte sich die Anzahl der Kinder zwischen 40 und 180. Die Institution mit 40 Kindern und eine Institution mit 120 Kindern hatten jeweils eine Klasse, während alle anderen zwei Gruppen hatten. Die Einrichtung des Vaterländischen Frauenvereins gab 350 Kinder mit zwei Klassen und zwei Leiterinnen an.26 Es ist nicht mehr zu klären, wieviel pädagogisches Personal in den jeweiligen Institutionen, mit Ausnahme des Bochumer Vereins, zur Verfügung stand. Die Anstaltsgrößen für Krefeld lassen sich nach den Unterlagen nur noch zum Teil nachvollziehen. Für den August 1882 lagen die Zahlen aufgrund der Revisionsberichte der evangelischen Institutionen vor. Zwischen 120 bis 180 Kinder waren auf den Listen verzeichnet. AmTag des Revisionsbesuchs waren in allen Einrichtungen wesentlich weniger Kinder anwesend. Die Zahl der anwesenden 24 25
Vgl. Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg I.894. Vgl. Märkischer Sprecher, 1902. Nr.95. In anderen Institutionen sah die Situation nicht günstiger aus. Die oben genannte Anstalt in Hamm wurde durchschnittlich von 50 bis 60 Kindern besucht. »Die Gesamtzahl unserer Kinder im Laufe des Jahres betrug 100.« Die Kinder wurden von einer Ordensfrau, die daneben noch den Haushalt versorgte und in Notfällen in der Krankenpflege eingesetzt wurde, betreut. Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg: II E 810. 26 Staatsarchiv Münster: II D. 60.
172 Kinder schwankte zwischen 90 und 155 Kinder.27 Bei allen Institutionen wurde eine ausgebildete Leiterin und eine Gehilfin angegeben, so daß auf eine ausgebildete Kraft zwischen 120 und 180 der angemeldeten Kinder kamen, auf beide Bezugspersonen zwischen 60 und 90 Kinder.28 Dagegen wurde in den Jahren 1900 bis 1903 in den städtischen Revisionsberichten eine Besuchszahl zwischen 2029 und 80 Kindern angegeben.30 Über die Anzahl und die Ausbildung des Betreuungspersonals wurden keine Angaben gemacht. Während der Jahre 1884/85 schwankte die Zahl der Kinder, die die drei städtischen Kinderbewahranstalten in Köln besuchten, zwischen 156 bis 235. Im Sommer wurden die Institutionen durchschnittlich von 50 bis 60 Kindern, im Winter von 60 bis 80 Kindern besucht.31 Angaben zu der Anzahl der Bezugspersonen fehlen. Der Besuch der sechs kirchlichen Einrichtungen wurde mit 60 bis 155 Kindern angegeben, der der sechs privaten Träger mit insgesamt 96 Kindern.32 Im Jahr 1908 besuchten durchschnittlich 41 bis 100 Kinder die neun städtischen Einrichtungen, während in den übrigen 28 Institutionen die Zahl der Kinder zwischen 833 und 160 betrug.34 Die Entwicklung der Erzieher-Kind Relation gestaltete sich in den beiden evangelischen Kinderbewahranstalten in Alt-Köln wie folgt:35 Jahr
Antonsgasse Kinder Diakonisse Gehilfin
Ferkulum Kinder Diakonisse Gehilfin
1874 1879 1891/92 1901
100 150 153 90
100 130 135 118
1 2 1 1
1 1 1
1 1 1 1
1 1 1 1
In beiden Institutionen wurden 1874 nur jeweils 100 Kinder von einer ausgebildeten Diakonisse und einer nicht ausgebildeten Gehilfin versorgt, folglich kamen auf jede Bezugsperson 50 Kinder. Die Anzahl der Kinder nahm in den folgenden Jahren weiter zu, so daß 1879 in der Antonsgasse eine Diakonisse jeweils 75 Kinder betreute, während sich in Ferkulum zum gleichen Zeitpunkt jeweils zwei Bezugspersonen - eine ausgebildete Diakonisse und eine unausgebildete Gehilfin um 65 Kinder kümmerten. Bis 1891/92 stieg die Zahl der Kinder noch einmal geringfügig an. Die Erzieher-Kind Relation änderte sich kaum, allerdings wurden die Kinder in der Antonsgasse nunmehr von einer ausgebildeten Diakonisse und 27 Die niedrige Besuchszahl kann mit der Zeit der Revision zusammenhängen. Ende August konnten sich vermutlich viele Kinder aufgrund der Witterung eher draußen in der häuslichen Umgebung aufhalten, als in den Zeiten ungünstiger Witterung. 28 Stadtarchiv Krefeld: Nachlaß L.F. Seyffardt. 40.15.233. 29 Hier wurde ein Jahr zuvor die räumliche Enge kritisiert. 30 Stadtarchiv Krefeld: 4.1135. 31 Verwaltungsbericht 1886/87 S.93. 32 Ebenda. 33 Diese war eine private Anstalt und wurde eher von Kindern der Mittelschicht besucht. 34 Verwaltungsbericht 1908, S.166f. 35 Becker-Jakli, Barbara: »Fürchtet Gott, ehret den König«. Evangelisches Leben im linksrheinischen Köln 1850-1918. Köln 1988, S.315.
173 einer unausgebildeten Gehillfin betreut. Bis 1901 sank die Zahl der Kinder in beiden Anstalten. In der Antonsgasse reduzierte sich die Zahl auf 90 Kinder, so daß auf eine Bezugsperson 45 Kinder kamen, in Ferkulum verringerte sich die Ziffer auf 118 Kinder, so daß auf jede Bezugsperson 59 Kinder kamen. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß die Zahl der Bezugspersonen sich über einen Zeitraum von 27 Jahren nicht änderte. Auch in der Zeit der hohen Kinderzahl nahm die Anzahl der Bezugspersonen nicht zu. Das sogenannte Schulgeld war vermutlich ein wichtiger Faktor der Finanzierung,36 so daß angenommen werden kann, daß die Größe der Gruppen auch als Möglichkeit gesehen wurde, die Finanzierung sicherzustellen. 7.5 Betreuungszeiten und Versorgung mit einer warmen Mahlzeit in den Institutionen in Köln, Krefeld und Bochum Die Öffnungszeiten richteten sich nach den jeweiligen Bedürfnissen des Umfeldes. In den Städten Köln und Krefeld, die von einem hohen Anteil außerhäuslich erwerbstätiger Mütter geprägt waren, öffnete man die Kinderbewahranstalten häufig ganztags. Die Kinder bekamen dort meistens ein Mittagessen. In den beiden Kölner kommunalen Ganztagseinrichtungen erhielten die Kinder im Jahr 1907 täglich eine Mittagssuppe mit einer Scheibe Graubrot. Dreimal enthielt die Suppe Fleisch oder Wurst, dreimal wurde sie auf der Grundlage von Milch zubereitet. Zur Nachmittagsvesper bekamen die Kinder ein Brötchen mit Milch.37 Zwei der städtischen Anstalten waren von acht bis vier Uhr am Nachmittag geöffnet. Sie befanden sich beide in Alt-Köln. Die anderen städtischen Einrichtungen wurden zwischen zwölf und zwei Uhr geschlossen. Die meisten der kirchlichen Institutionen hatten von sieben oder acht Uhr am Morgen bis um fünf oder sechs Uhr am Abend durchgehend geöffnet.38 In Bochum blieben die Kinderbewahranstalten während der Mittagszeit geschlossen. In allen Städten nahmen die Kinder ein Frühstück ein, das sie in der Regel von zu Hause mitbrachten. Die regelmäßigen Mahlzeiten in den Anstalten dienten auch der gesundheitlichen Fürsorge, da die Kinder der Unterschicht häufig unter Fehl- und Mangelernährung litten.39 7.6 Zusammenfassung Die Rahmenbedingungen in den Institutionen waren sehr problematisch. Die unzureichenden räumlichen Verhältnisse, mangelnde Ausstattung mit Möbeln sowie Spiel- und Beschäftigungsmitteln und die ungünstige Erzieherinnen-Kind-Rela36 Vgl. diese Arbeit, S.136ff. 37 Historisches Archiv der Stadt Köln: 40-44.320.I. 38 Vgl. Verwaltungsberichte 1887/88 bis 1908. 39 In Bochum veranstaltete der Vaterländische Frauenverein für Schulkinder der Unterschicht mehrwöchige Milchkuren. Offensichtlich waren solche Kuren notwendig, um den Gesundheitszustand der Arbeiterkinder zu heben.
174 tion ließen - selbst wenn die Erzieherinnen es gewollt hätten - nur Spiele und Beschäftigungen zu, die disziplinierend wirkten. Die Ausstattung mit Möbeln veränderte sich im Laufe der Zeit. Bestand die Einrichtung vor der Jahrhundertwende zum Teil noch aus Bänken ohne Tische, so gehörten nach der Jahrhundertwende häufig Bänke und Tische zum Standard. In den Fachpublikationen wurden zunehmend kürzere Bänke und Tische gefordert. Die Kinder sollten so sitzen, daß sie der Erzieherin zugewandt waren. Verglichen zu der Zeit vor der Jahrhundertwende maß man dem Spiel- und Beschäftigungsmaterial in den evangelischen Zeitschriften eine zunehmend höhere didaktische Bedeutung zu. Dies weist auf die vermehrte Einbeziehung Fröbelscher Materialien hin. Dagegen empfahlen katholische Autorinnen auch nach der Jahrhundertwende noch vorwiegend konventionelles Spielmaterial, wie Puppen, Bälle, Bauhölzer, Helme, Fahnen, Trommeln und Schaufeln. Vereinzelt setzten sich Autorinnen aber auch für das Fröbelsche Beschäftigungsmaterial ein. Die zunehmende Befürwortung des didaktischen Materials deutet auf eine Änderung derpädagogischen Einstellung, die zur Folge hatte, daß das Lernen und Üben von Fertigkeiten und Fähigkeiten zunehmend an Bedeutung gewann. Die Forderungen nach und Vorschläge zur Verbesserung der Rahmenbedingungen, wie räumliche Bedingungen, Ausstattung mit Mobiliar sowie Spiel- und Beschäftigungsmaterialien konnte sich in der Praxis vor Ort kaum durchsetzen. Wie die Praxisbeispiele aus den Fachzeitschriften und die Berichte aus den Institutionen der Städte Köln, Krefeld und Bochum zeigen, waren die finanziellen Ressourcen für die Erfüllung dieser Forderungen häufig zu knapp bemessen. Die Erzieherinnen waren aufgrund dieser Situation auf Spieleund Beschäftigungen angewiesen, die wenig Material erforderten. Hinzu kommt, daß die langen Öffnungszeiten in Ganztagseinrichtungen an die physischen und psychischen Ressourcen der Erzieherinnen hohe Anforderungen stellten. Bedenkt man noch, daß die Ordensfrauen - diese Gruppe war unter den Erzieherinnen in den Einrichtungen der dreiuntersuchten Städte am stärksten vertreten - in den Niederlassungen häufig noch zu anderen Tätigkeiten herangezogen wurden, so ist davon auszugehen, daß aufgrund der hohen Arbeitsbelastung innovative Vorschläge nur unzureichend aufgenommen und umgesetzt werden konnten. Die Erzieherinnen konnten aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen in der Regel nur disziplinierend auf die Kinder einwirken und mußten jede freiere Entfaltung der Kinder unterbinden. Diese disziplinierende Pädagogik traf allerdings auch die Intentionen der kommunalen Verantwortungsträger der drei untersuchten Städte. Welche Vorstellungen die Theoretiker der öffentlichen Kleinkinderziehung entwickelten, wird im nächsten Kapitel zu zeigen sein. Dabei werden die Unterschiede und die Entwicklungen der drei verschiedenen pädagogischen Ansätze (Volkskindergarten, evangelische Kleinkinderschule und katholische Kinderbewahranstalt) - die im Deutschen Kaiserreich bestimmend waren diskutiert.
8 Die pädagogische Arbeit in den Kinderbewahranstalten
Die konkrete pädagogisch-praktische Arbeit in den Kinderbewahranstalten läßt sich schwer rekonstruieren, da wenig Material vorhanden ist. In den drei Städten Köln, Krefeld und Bochum existieren nur in einigen wenigen Ausnahmefällen Unterlagen zur Arbeit des pädagogischen Personals. Anhand von Praxisberichten aus Fachzeitschriften lassen sich die Arbeitsbedingungen und die praktisch-pädagogische Arbeit darstellen. Es ist davon auszugehen, daß diese auch auf die Institutionen der drei untersuchten Städte übertragbar sind. In Broschüren, Zeitschriften und Büchern wurden von den verschiedenen pädagogischen Richtungen Hilfen und Handlungsanweisungen für die praktische Arbeit in den Kinderbewahranstalten erteilt. Wenn auch nicht von diesen direkt auf die pädagogische Arbeit vor Ort rückgeschlossen werden kann, so zeigen sie eine Tendenz über die Entwicklung der inhaltlichen Arbeit in den Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung im Kaiserreich und weisen auf verschiedene pädagogische Richtungen und Ansätze. Im Folgenden werden die drei Hauptrichtungen vorgestellt und diskutiert. Dabei werden das Menschenbild und die daraus sich entwickelnde Zielsetzung sowie Vorschläge zur praktischen Umsetzung vorgestellt. 8.1 Pädagogische Ansätze in den Volkskindergärten Volkskindergärten waren in der Regel eine Einrichtung von nichtkirchlichen Verbänden, wie dem Fröbelverband, dem Vaterländischen Frauenverein und anderen bürgerlichen Gruppierungen sowie einigen kommunalen Institutionen für Arbeiterkinder. Die Vertreter der Kindergärten und der Volkskindergärten beriefen sich auf Fröbel, wichen aber erheblich von seiner pädagogischen Theorie ab,1 die »unlöslich mit seinen philosophisch-weltanschaulichen Gedanken verbunden« war.2 Für die Entwicklung der Volkskindergärten waren Bertha von Marenholtz-Bülow und Henriette Schrader-Breymann von Bedeutung. Das Weltbild von MarenholtzBülow und Schrader-Breymann unterschied sich weitgehend vom Fröbelschen Weltbild. Beide Frauen lösten die Fröbelsche Methode aus dem metaphysischenund philosophischen Zusammenhang heraus und setzten diese oft nur noch me1 Vgl. Denner, Erika: Das Problem der Orthodoxie in der Fröbelnachfolge. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte des Kindergartens im 19. Jahrhundert. Phil. Diss. Erlangen-Nürnberg 1983. Dies.: Das Fröbelverständnis der Fröbelianer. Studien zur Fröbelrezeption im 19. Jahrhundert. Bad Heilbrunn/Obb. 1988. 2 Klafki, Wolfgang: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. Zweite erweiterte Auflage. Weinheim 1963, S.87.
E. Krieg, Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt, DOI 10.1007/978-3-531-92848-7_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
176 chanisch ein. Die pädagogischen Konzeptionen von Marenholtz-Bülow und Schrader-Breymann wichen erheblich voneinander ab. 8.1.1 Die pädagogigischen Vorstellungen von Bertha von Marenholtz-Bülow Das Hauptanliegen von Marenholtz-Bülow bestand darin, die Kinder der Unterschicht durch Gründung eigener Institutionen, den Volkskindergärten, sittlich zu bilden. Ihre pädagogischen Vorstellungen hingen eng zusammen mit ihrer gesellschaftspolitischen Analyse. Eine der Hauptursachen für die sozialen Probleme der Zeit sah sie »in der großen Kluft, welche die rohe große Masse von den Gebildeten trennt und sie unreif für die neue Entwicklungsstufe der Jetztzeit bezeichnet. Durch Trennung und Isolierung des einen Theils der Gesellschaft von dem anderen ist das Gleichgewicht gestört und bleibt die ersehnte Harmonie unerreichbar.«3 In der Unzufriedenheit, der mit der Arbeitsscheu verbundenen Genußsucht und der Selbstsucht der Individuen sah Marenholtz-Bülow die Ursachen für den Zustand der gesellschaftspolitischen Situation.4 Die Gesellschaft bedürfe der Überwindung »des herrschenden gemeinen Egoismus und der Erweckung der Liebe, welche sich als Gemeinnützigkeit auf allen Gebieten des Lebens bewährte, diese Liebe wird nur gelehrt durch Liebe. Der Boden aber, aus dem sie hervorwächst, das ist die Familie, wenn sie ist, wie sie sein soll!«5 Damit die Familien wieder dieser Aufgabe gerecht werden könnten, forderte sie einerseits die Höherbildung der Frau6, andererseits Einrichtungen, »die in der Jetztzeit allein nicht mehr ausreichende Familienerziehung schon vor der Schule unterstützen und die gänzliche Vernachlässigung der Kinder in der Masse verhinderten«7. Marenholtz-Bülows gesellschaftspolitische und pädagogische Vorstellungen waren eingebunden in ihre Weltanschauung der Kulturstufentheorie. Nach dieser durchlaufe der heranwachsende Mensch eine ähnliche Entwicklung wie die Menschheit in ihrer Geschichte:8 »In der beginnenden Entwicklung des Menschengeschlechts wurden Rohheit und Barbarei durch den Kultus des Schönen überwunden, welcher die Erscheinungen der Sinnenwelt vergeistigt.«9 Analog der Entwicklung der Menschheit entwickelten sich beim Kind die Triebe: »Wie diese 3 Marenholtz-Bülow, Bertha von: Die Erscheinungen der Zeit und die Aufgaben der Erziehung. Mahnruf zur Bethätigung an der Lösung der erziehlichen Aufgaben der Gegenwart. Dresden 1879, S.4f. 4 Vgl. a.a.O., S.5f. 5 A.a.O., S.9. 6 Die Höherbildung der Frau war bei Marenholtz-Bülow auf die Interessenssphäre der Familie und Erziehung beschränkt. Eine Gleichstellung mit dem männlichen Geschlecht war damit nicht gemeint. Vgl. Marenholtz-Bülow, Bertha von: Die Arbeit und die neue Erziehung nach Fröbels Methode. Berlin 1866, S.100ff. 7 Marenholtz-Bülow, Bertha von: Die Erscheinungen der Zeit ... a.a.O., S.21. 8 Vgl. Marenholtz-Bülow, Bertha von: Die Arbeit ... a.a.O., S.44f. 9 Marenholtz-Bülow, Bertha von: Theoretisches und praktisches Handbuch der Fröbelschen Erziehungslehre. Teil 1. In: Erika Denner: Das Fröbelverständnis ... a.a.O., S.36.
177 zuerst als bloße Naturmenschen, nur mit ihrer Selbsterhaltung und der Befriedigung ihrer körperlichen und sinnlichen Bedürfnisse beschäftigt waren, so auch das Kind, das zunächst nur sich selber und seine Bedürfnisse empfindet ... Mit dem ersten Erwachen der höhern, der Seelentriebe, verwirklichte die Menschheit zunächst erst alle Familienbeziehungen. Auch das Kind tritt dann - und zwar schon nach den ersten Monaten seines Daseins - in Beziehung zur Familie, welche mit der Mutter beginnt. Mit der daraus folgenden Entwicklung der Geisteskräfte erscheinen dann die höchsten Triebe: des Wahren, Schönen und Guten, welche zu Wissenschaft, Kunst, Sittlichkeit und Religion führen.«10 Durch die Beschäftigung der Kleinkinder mit den Fröbelschen Materialien entwickele sich der »Sinn für Formen, für Ebenmaß und Harmonie, das Zusammenstellen von Formen, Farben u.s.w. übt die Combination und den Geschmack, mithin ist die Phantasie, der Schönheitssinn, fortwährend thätig.«11 In der Versittlichung des Menschen durch die ästhetische Bildung sah Marenholtz-Bülow ein Mittel, den sozialen Problemen ihrer Zeit entgegenzuwirken. Verknüpft waren ihre gesellschaftspolitischen und pädagogischen Intentionen und Theorien mit der Erziehung zur Arbeit: »Die, in ihren Folgen geradezu vernichtend wirkende Arbeitsscheu in den auf Erwerb angewiesenen Klassen, ist wohl nur allein durch frühe Gewöhnung an Thätigkeit und Uebung der Arbeitsgeschicklichkeit in der Kindheit zu überwinden, wie sie durch die Fröbelsche Methode zu erreichen stehen. Zugleich mit einer wirklichen Liebe zur Thätigkeit und mit Erweckung des Erfindungsgeistes. Die in solcher Weise zu erzielende persönliche Befriedigung durch die produktive Thätigkeit möchte außerdem das beste Mittel bieten, der zumeist aus der Arbeitsscheu entspringenden Genußsucht, wie sie die gegenwärtige Jugend in wahrhaft fanatischer Weise beherrscht, entgegenzutreten. Es existiert noch keine Erziehungsweise, welche so sicher die schlummernde künstlerische Begabung und den Schönheitssinn im allgemeinen weckt, wie die Fröbelsche. Durch die damit angebahnte ästhetische Bildung wird eins der sichersten Mittel geboten, an die Stelle der vom Volke gesuchten rohen Genüsse veredeltere zu setzen, und somit eine wichtige Seite der Versittlichung zu fördern.«12 Der Volkskindergarten war ein Ersatz für die familiäre Erziehung. Er übernahm Aufgaben, die die Unterschichtfamilie nicht erfüllen konnte: »Die Gemeinsamkeit der Kinder für Arbeit und Pflichterfüllung, verbunden mit richtiger Leitung, Ordnung und Gesetzlichkeit, kann allein den Grund zur Sittlichkeit vollständig legen.«13 Die Kinder wurden an Ordnung und Reinlichkeit gewöhnt. Sie wurden neben den Fröbelschen Beschäftigungen zu Tätigkeiten angehalten, die 10 11 12 13
Marenholtz-Bülow, Bertha von: Die Arbeit ... a.a.O., S.153. A.a.O., S.28. Marenholtz-Bülow, Bertha von: Die Erscheinungen der Zeit ... a.a.O., S.24f. Marenholtz-Bülow, Bertha von: Der Kindergarten, des Kindes erste Werkstätte. Dresden 1878, S.37.
178 auf das spätere Arbeitsleben vorbereiteten. »Dazu dienen z.B. das Matten- und Korbflechten, das Bandweben, an einem eigens dazu eingerichteten kleinen Webstuhl, das Thonmodellieren, Papierarbeiten und Ausschneiden für Conditorei- und Buchbinder-Bedarf u. dergl. m. Diese Dinge können selbst schon im Kindergarten als kleiner Erwerbszweig dienen, sollen aber den Kindern nur Mittel sein, ihre Liebe zu Eltern, Geschwistern, Wohlthätern u.s.w. thätig ausdrücken können.«14 8.1.2 Die pädagogischen Vorstellungen von Henriette Schrader-Breymann Standen bei Marenholtz-Bülow die Arbeitserziehung und der Umgang mit Fröbelschen Beschäftigungsmitteln im Vordergrund, so führte Schrader-Breymann die hauswirtschaftliche Betätigung sowie den Monatsgegenstand in den Volkskindergarten ein und entwickelte den Begriff der geistigen Mütterlichkeit15. Schrader-Breymann interpretierte die sozialen Probleme ihrer Zeit als eine überhandnehmende Entsittlichung und vermeintlich zunehmende Arbeitsunlust: »Auf dieser Abneigung gegen die Arbeit beruht auch das Umsichgreifen der socialistischen Ideen unter der großen Menge, welcher die in neuerer Zeit hineingelegten ethischen und nationalökonomischen Ideen fremd sind, und welche sich von der Durchführung des socialdemokratischen Staates lediglich weniger Arbeit und mehr Genuß verspricht. Und wieder stehen diese Hoffnungen in enger Beziehung zu dem Mangel an Familiensinn und Gemütsbildung, wie sich aus der vielfach ausgesprochenen Abneigung gegen die Religion und dem Bestreben, die Familie in die größere Gemeinschaft des Staates aufgehen zu lassen, ergiebt. Unter den Gegenmitteln gegen die Socialdemokratie ist gewiß ein wichtiges die Wiederbelebung der Lust zu der Arbeit und zur Häuslichkeit, und das ist wohl der Mühe wert, einen Weg zu suchen, wie schon in früher Jugend an diese Neigung anerzogen, angewöhnt und konsequent gebildet werden kann.«16 In der Anleitung des Kindes zur »schaffenden Tätigkeit« sah Schrader-Breymann den Hauptzweck der Fröbelschen Erziehung. Nach ihrer Interpretation war 14 Marenholtz-Bülow, Bertha von: Die Arbeit ... a.a.O., S.54. 15 Geistige Mütterlichkeit meint die Bildung und Erziehung der Hausmütterlichkeit. »Das ewig Bleibende in dem Berufe der Frau ist also ihre Bestimmung zur directen Erzieherin der Menschheitskinder. Das Neue, welches in unserer Zeit auf diesem Gebiete in Erscheinung treten muß - ist die speciellere Vorbereitung zum Mutter- resp. Erzieherberufe und die Erweiterung der Kreise, in welchen die Frau erzieherisch zu wirken und überhaupt zu arbeiten hat.« ((Hoffmann, Erika (Hrsg.): Henriette Schrader-Breymann. (Kleine pädagogische Texte). Weinheim 1962, S.13)). Schrader-Breymann forderte die Verlängerung der Schulausbildung der Mädchen und eine grundlegende Vorbereitung für Haus und Familie. »Wissenschaftliche, künstlerische und gewerbliche Studien dürfen das Mädchen nie der Familie entfremden, sondern müssen stets mit der Ausübung der häuslichen Pflichten Hand in Hand gehen.« (A.a.O., S.17). Im Gegensatz zu MarenholtzBülow befürwortete sie, entsprechend der Zeiterfordernis, auch Ausbildungsgänge und die Erwerbstätigkeit außerhalb der »mütterlichen« Berufe. Die Grundlage aller weiblichen Bildung müsse aber die Erziehung und Bildung zur Mütterlichkeit sein. Vgl. diese Arbeit, S.211. 16 Hoffmann, Erika: A.a.O., S.60.
179 Fröbels größtes Verdienst, »daß er in seinen Beschäftigungen das richtige Material nicht ... zum Spiel, sondern zu einer der Natur und den Kräften des Kindes angemessene, seinen Körper und seinen Geist entwickelnden Arbeit gegeben und gezeigt hat, wie das Material verwendet werden muß. Wenn nun bei der Leitung des Volkskindergartens davon ausgegangen wird ... (daß er; E.K.) eine möglichst der Familie nachgebildete Stätte zur naturgemäßen körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes unter liebevoller mütterlicher Pflege und verständnißvollem Eingehen auf die einzelne Individualität; ein möglichst der Familie ähnliches Leben entstehen soll und kann; nun so ist für diese Altersstufe der Kinder im Volkskindergarten die Möglichkeit gegeben, sowohl durch die Fröbelschen Beschäftigungen ganz allmählich Sinn und Fähigkeit für systematisch entwickelnden Arbeit, als auch durch geordnete Mitwirkung bei der Erhaltung der Ordnung und Reinlichkeit des Locales, bei der Aufbewahrung des Beschäftigungsmaterials und dgl. die Kinder zu häuslicher Tätigkeit, zu Reinlichkeit und Ordnung zu gewöhnen. Tritt noch die Pflege von Pflanzen und Blumen, die Abwartung von kleinen Tieren, wie Fischen, Vögeln, Mäusen und werden die Kinder mit anderen häuslichen Geschäften z.B. Kochen in einfacher praktischer Weise bekannt gemacht, so kann der Volkskindergarten in allen Dingen wirklich eine gute Familie ersetzen, und auch der besten große Hülfe gewähren.«17 Damit das Familienprinzip auch in Volkskindergärten durchzuführen sei, wollte Schrader-Breymann das Problem der großen Gruppen18 umgehen, indem sie den Einsatz von Frauen aus wohlhabenden Kreisen als Hilfskräfte forderte.19 Im Pestalozzi-Fröbel-Haus20 löste sie das Problem, indem sie ältere Schülerinnen des Kindergärtnerinnenseminars jeweils ein Semester lang mehrmals in der Woche mit Kleingruppen arbeiten ließ. Diese Seminaristinnen wurden von einer geprüften Kindergärtnerin in ihrer Arbeit angeleitet und unterstützt. Jede Schülerin hatte sich nicht nur um ihre Kinder zu kümmern, sondern auch eine enge Beziehung zu den Familien der Kinder zu pflegen. Ziel war es, auf diese Weise einen engen Kontakt zwischen der Leiterin der Kleingruppe und den ihr anvertrauten Kindern herzustellen.21 Die anderen Kinder waren in dieser Zeit in ihrer Gruppe. Eine Gruppe hatte maximal 30 Kinder. Die Aufteilung derselben erfolgte altershomogen: 17 A.a.O., S.61. 18 Aufgrund der mangelnden Zahlungsfähigkeit der Unterschichtfamilien mußten in den Volkskindergärten mehr Kinder aufgenommen werden als in den Kindergärten. Letztere erhoben wesentlich höhere Elternbeiträge. 19 Vgl. Schrader-Breymann, Henriette: Häusliche Beschäftigung und Gartenarbeit als Erziehungsmittel im Pestalozzi-Fröbel-Hause. Berlin 1893, S.16f. 20 Ab den siebziger Jahren übernahm Schrader-Breymann in Berlin den von Marenholtz-Bülow gegründeten Volkskindergarten, den sie zum Pestalozzi-Fröbel-Haus ausbaute. Ihr Anliegen war es, ausgehend von der Vorstellung, daß sowohl die Arbeiter- als auch die Bürgerschicht der sittlichen Bildung bedürfen, eine umfassende Bildungseinrichtung zu schaffen. Zum Pestalozzi-Fröbel-Haus gehörten neben dem Volkskindergarten eine Arbeitsschule, eine Elementarklasse, ein Kindergärtnerinnenseminar, Koch- und Haushaltungsschulen für die verschiedenen Stände und ein Mädchenheim für Seminaristinnen und Schülerinnen. Vgl. Schrader-Breymann, Henriette: Der Volkskindergarten im Pestalozzi-Fröbel-Hause. Berlin 1890, S.1f.
180 »Die III. Abtheilung: Kinder von .. II. .. .. .. .. I. .. .. .. .. Vermittlungsklasse: .. .. Elementarklasse: .. ..
2 1/2 - 3 1/2 Jahren. 3 1/2 - 4 1/2 .. 4 1/2 - 5 1/2 .. 5 1/2 - 6 .. 6-7 - 7 1/2 ..
In den 3 Abtheilungen und der Vermittlungsklasse werden die Fröbelschen Beschäftigungen in logischer Reihenfolge betrieben, in den Gruppen hingegen waltet freiere Gestaltung des gebotenen Beschäftigungsstoffes.«22 Schrader-Breymann führte den Monatsgegenstand ein, um die Kinder vor Zersplitterung zu bewahren. Die schnellebige Zeit bewirke Oberflächlichkeit und Zerstreutheit: »Das Kind muß früh Gelegenheit finden zur Vertiefung und Konzentration der Anschauungen und Thatkraft, zur Erfassung des einheitlichen Zusammenhangs aller Dinge.«23 Der Monatsgegenstand stellte das charakteristische Element der Jahreszeit und des betreffenden Monats heraus, stand in einem Zusammenhang mit dem Lebenskreis der Kinder und erwuchs aus ihren Tätigkeiten. Gegenstände sollten die Tier- oder Pflanzenwelt veranschaulichen. Man wollte Kindern die Wechselbeziehungen zwischen Pflanzen, Tieren und anderen Gegenständen vermitteln.24 Schrader-Breymann gab eine genaue Liste der Monatsgegenstände an. Im ersten Jahr sollten im Januar der Tischler, im Februar das Pferd und der Sperling, im März die Schneeglöckchen, im April die Taube und die Erbse, im Mai die Birke, im Juni die Biene, im Juli das Getreide, Mehl und Brot, im August die Ernte und der Kuchen, im September das Eichkätzchen und die Eichel, im Oktober der Apfel, im November das Wasser, der Dampf und das Eis sowie im Dezember die Tanne oder Fichte behandelt werden. Im zweiten Jahr wurden, entsprechend der Einteilung des ersten Jahres die Meise, das Wintergrün, das Veilchen, die Hühnereier und Ostereier, der Flieder und die Maiblumen, die Kuh, Futter, Milch, Butter und Käse, Wasser im Juli und im August Fisch, sowie die Wasserpflanzen in beiden Monaten besprochen.In den folgenden Monaten standen die Themen Kartoffel und Stärkemehl, das erste Ofenfeuer, die Uhr und im Dezember wieder die Tanne auf dem Stundenplan.25 In diese Monatsgegenstände fügte man die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten ein. Am Beispiel des Monatsgegenstandes »Erbse« verdeutlicht Schrader-Breymann die Vorgehensweise. 15 bis 20 Kinder im Alter von vier bis fünf beziehungsweise fünfeinhalb Jahren mußten am ersten Tag Erbsen, welche mit Wicken und Linsen vermischt waren, 21 22
Vgl. a.a.O., S.17. Ebenda. Das Pestalozzi-Fröbel-Haus durfte bis zu 20 Kinder im Alter zwischen sechs und sieben Jahren in die Elementarklasse aufnehmen. Vgl. ebenda. 23 Schrader-Breymann, Henriette: Häusliche Beschäftigung ... a.a.O., S.18f. 24 Vgl. a.a.O., S.23. 25 Vgl. a.a.O., S.26f.
181 auslesen. Dabei sollte nur auf die Gespräche der Kinder eingegangen, aber keine Belehrungen gegeben werden. Am zweiten Tag waren die schadhaften Erbsen von den guten zu trennen, die für die Saat im Garten bestimmt waren. Jedes Kind bekam ein Säckchen, worin es seine Erbsen aufbewahren konnte. Am dritten Tag wurden die schadhaften Erbsen an die Hühner, Tauben und Sperlinge verfüttert. Am vierten Tag durften die Kinder die Erbsen zum Keimen auf feuchte Unterlagen legen. In der folgenden Zeit wurde das Keimen der Erbsen beobachtet und die Keimlinge später eingepflanzt. Gleichzeitig wurden Schutzvorrichtungen für die Erbsen aus Wolle von aufgetrennten Strümpfen, Papier und Stäben gebaut. Das Auftrennen der Strümpfe war als Beschäftigung für den fünften Tag vorgesehen.26 Im Sommer wurden die Erbsen geerntet und mit Hilfe der Kinder gekocht.27 Die pädagogischen Konzepte von Marenholtz-Bülow und Schrader-Breymann waren jeweils in deren gesellschaftspolitisches Denken eingebunden. Es ging beiden Pädagoginnen nicht um eine grundsätzliche Verbesserung der sozialen Situation der Unterschichtbevölkerung, sondern nur um eine Milderung des Elends. Dabei individualisierten beide die sozialen Probleme und entschieden sich in ihren Lösungsangeboten für eine individuelle Hilfe: die Erziehung des Kindes und die Wiederherstellung der Familie. Hob Marenholtz-Bülow in ihrem pädagogischen Konzept die Versittlichung des heranwachsenden Menschen durch Kunst- und Arbeitserziehung über den Einsatz der Fröbelschen Materialien hervor, so legte Schrader-Breymann ihrerseits den Schwerpunkt auf die häusliche Tätigkeit und den Monatsgegenstand. Bei aller Unterschiedlichkeit führten beide Konzeptionen zur Verschulung und Mechanisierung der Tätigkeiten und der Fröbelschen Beschäftigungen, das heißt, daß der Fröbelsche Grundgedanke »Spiel als die ›freie Darstellung des Innern‹ verloren« ging.28 Marenholtz-Bülow verstand zwar »das Spiel des Kindes als die freie Äußerung seiner Triebe«29, aber die Begriffe Spiel und Arbeit wurden synonym verwendet. Dagegen unterschied Fröbel zwischen Spiel und Arbeit. Spiel sei ein »›Tun um der Tätigkeit willen‹ Arbeit ist ›Tätigkeit um des Werkes willen‹«30. Spiel entspräche der Aktivität des frühen Kindesalters, Arbeit dagegen der des Schulkindalters. Die Fröbelschen Spielmittel sind bei Schrader-Breymann »nur noch Darstellungsmittel für ausgewählte Unterrichtsgegenstände«31. Der Gedanke einer emanzipatorischen Erziehung als Basis der Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen32 war in den pädagogischen Konzepten der beiden Fröbelschülerinnen Marenholtz26 Vgl. a.a.O., S.34ff. 27 Vgl. a.a.O., S.38. 28 Denner, Erika: Das Fröbelverständnis ... a.a.O., S.60. 29 Marenholtz-Bülow, Bertha: Theoretisches und praktisches Handbuch, Kassel 1886, In: Ebenda. 30 Denner, Erika: A.a.O., S.61f. 31 A.a.O., S.65 32 Vgl. Fröbel, Friedrich: Über Wesen und Begriff der Erziehung, 1821. In: Ausgewählte pädagogische Schriften, besorgt von Julius Scheveling. Paderborn 1965, S.5.
182 Bülow und Schrader-Breymann nicht mehr enthalten. Vielmehr stand bei ihren Erziehungsvorstellungen die kritiklose Anpassung an vorgegebene gesellschaftliche Verhältnisse und die Abwehr der sozialdemokratischen Partei im Vordergrund. In letzteren sahen sie eine Gefahr für die Stabilität der Gesellschaft. Sie erhofften sich durch gezielte Erziehung zur Versittlichung der unteren Bevölkerungsschicht beizutragen und damit den nach ihren Einschätzungen gesellschaftlichen und politischen Gefahren entgegenzuwirken. In den Volkskindergärten wurden die pädagogischen Inhalte in Lektionen eingeteilt und bekommen dadurch einen lehrplanmäßigen Charakter. Dies zeigen die folgenden Beispiele aus der Erziehungspraxis sehr deutlich. 8.1.3 Zur Praxis der Volkskindergärten In den Volkskindergärten orientierte man sich an den Konzepten der beiden Fröbelianerinnen, wobei insbesondere die Arbeitserziehung, die häusliche Tätigkeit und der Monatsgegenstand im Mittelpunkt der Arbeit vor Ort standen. In diese Aktivitäten wurden die Fröbelschen Beschäftigungsmaterialien eingebunden. Am Beispiel der Arbeit von M. Damrow und Martha Pudmensky läßt sich die weitere Ausgestaltung der pädagogischen Betätigung in Volkskindergärten konkretisieren. Beide Autorinnen berichten aus ihren praktischen Erfahrungen. Damrow war Leiterin der Charlottenburger Schulkindergärten, Pudmensky arbeitete im Pestalozzi-Fröbel-Haus. In den Volkskindergärten gab es eine Ordnung der einzelnen Tätigkeiten. Dem Stundenplan von Damrow zufolge fiel die planmäßige Erziehungsarbeit in die Vormittagszeit, während der Nachmittag nach einer ausgedehnten Ruhepause durch Spiel, Spaziergänge, Haus- und Gartenarbeit ausgefüllt wurde. Man teilte die Kinder in drei Klassen ein. Die Klasse III wurde von Dreijährigen besucht, die Klasse II von Vierjährigen und die Klasse I und IB von Fünfjährigen und schulunreifen Kindern.33 Klasse III
Klasse II
Klasse I und IB
9-91/2
Versammlung Blumen- und Tierpflege
9-91/4
Versammlung
9-91/4
91/2-10
Beschäftigung, Spiel
91/4-93/4 93/4-101/4
Unterricht 91/4-10 Blumen- u.Tierpflege
10-11
Frühstück Ruhen
101/4-11
Arbeitsunterricht
10-101/4 101/4-11
Pause Arbeitsunterricht
11-12
Turnen Bewegungsspiel
11-12
Frühstück Ruhen
11-12
Frühstück Ruhen
12-1
Turnen, Spiel Gartenbau
12-1
Turnen, Spiel Gartenbau
Blumenund Tierpflege Unterricht
183 Nachmittags fand keine Alterstrennung statt. Die Kinder der Klasse III hatten von 12 Uhr bis 3 Uhr Mittagspause, die Kinder der beiden anderen Klassen von 1 Uhr bis 3 Uhr. Für alle drei Klassen standen bis 5 Uhr ein Spaziergang, Spiel und Beschäftigung auf dem Programm, für die beiden älteren Jahrgänge noch zusätzlich Haus- und Gartenarbeit. Der Stundenplan von Damrow war zum Teil von den pädagogischen Vorstellungen des Schulkindergartens, dem Ziel der körperlichen Gesunderhaltung und der geistigen Entwicklung des Unterschichtkindes geprägt. Da die Familie wegen der notwendigen Erwerbstätigkeit der Mutter den Kindern häufig nicht die notwendige Pflege und Erziehung entgegenbringen könne, müsse durch öffentliche Institutionen zur Beaufsichtigung und Erziehung der Kinder Ersatz geschaffen werden. Verknüpft wurde dieser Ansatz mit der Vorstellung von dem »drohenden Gespenst der Rassenverschlechterung«, wenn man auch erst in späterer Zeit feststellen müsse, ob »ungeeignete Pflege und mangelhafte Erziehung im frühen Kindesalter daran mitschuldig sind ... Doch wie viele Menschenpflanzen könntenkräftiger und lebenstüchtiger heranreifen, wenn sie den dumpfen Wohnungen entrissen und in einem geeigneten Garten die geeignete Pflege fänden.«34 Der Stundenplan vermittelt einen Eindruck der Einteilung der Tätigkeiten in Volkskindergärten. Die Aufteilung der Beschäftigungssequenzen für die jüngsten Kinder wich stark von denen der älteren ab. Hier wurden lange Phasen mit langen Ruhezeiten angegeben. Bei den älteren Kindern und denjenigen, die unmittelbar vor der Einschulung standen, beziehungsweise den von der Schule zurückgestell ten Kindern, waren die Einheiten kürzer und sehr an der Zeiteinteilung der Schule orientiert. Für den Unterricht und den Arbeitsunterricht sah man jeweils eine dreiviertel Stunde vor, die zwischen neun und elf Uhr von der viertelstündigen Blumen- und Tierpflege eingeleitet und einer ebensolangen Pause später unterbrochen wurde. Die langen Ruhephasen in allen drei Stundenplänen deuten auf die besondere Fürsorge zur Gesunderhaltung der Kinder hin, ebenso die täglichen Turnstunden, Bewegungsspiele und die Arbeit an der frischen Luft im Garten sowie die nachmittäglichen Spaziergänge, die mindestens einmal in der Woche 33
Damrow, M.: Verfassung und Erziehungsplan des Kindergartens. Langensalza 1912, S.13f. Der erste Schulkindergarten wurde in Charlottenburg gegründet. In kurzer Zeit folgten weitere Neugründungen. Damrow war Leiterin dieser Institutionen. Diese wurden von den Kindern besucht, die als schulunreif galten und vom Schulbesuch zurückgestellt wurden. 34 A.a.O., S.3. Hatten schon Marenholtz-Bülow und Schrader-Breymann die soziale Frage im 19. Jahrhundert systemimmanent und individualisierend interpretiert, so verschärft Damrow diese in Bezug auf einen rassenhygienischen Zusammenhang. Wenn auch Damrow zugute gehalten werden muß, daß in ihrer Pädagogik die Milderung des Elends der Unterschichtkinder durch individuelle Hilfe im Vordergrund stand, so weist diese argumentative Wendung, die seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts auch in anderen Bereichen der Sozialpädagogik und der Gesundheitspolitik zu finden ist, in eine gefährliche Richtung. Auch dieser Gedankengang führte letztlich zum Massenmord des Dritten Reiches. Zur Entwicklung der eugenischen und rassenhygienischen Lehre vgl. Reyer, Jürgen: Alte Eugenik und Wohlfahrtspflege. Entwertung und Funktionalisierung der Fürsorge vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Freiburg im Breisgau 1991.
184 angesetzt wurden. Einmal in der Woche badete man die Kinder.35 Auch der Ernährung wurde ein wichtiger Stellenwert zugemessen: »Der Schularzt findet unter den jüngsten Volksschülern immer einen großen Prozentsatz Unterernährter, der durch den Kindergarten herabgemindert werden kann. Vormittags erhalten die Kinder, die nichts von zu Hause mitbringen, Milch und Zubrot. Das Mittagessen wird entweder im Kindergarten selbst bereitet oder der Schulspeisung angegliedert. Nachmittags wird abwechselnd Milch, Kakao oder Suppe mit Zubrot gereicht. Dann und wann kann Obst gegeben werden.«36 Der Unterricht stand aber eindeutig im Mittelpunkt der älteren Kinder. Er dauerte bei den vierbis fünfjährigen Kindern eineinviertel Stunden, das betraf 5/8 aller Beschäftigungen, bei den fünf- bis sechsjährigen Kindern dagegen eineinhalb Stunden, das entsprach 3/4 aller Angebote, wobei das Kind »erleben, schauen und schaffen« sollte.37 Anschauung und Sprechen, Erzählen, Memorieren, Singen, Bewegungsspiel, Turnen, Hausarbeit, Blumenpflege und Gartenarbeit, Tierpflege, Spaziergänge und Arbeitsunterricht durch die Fröbelschen Beschäftigungsmitteln waren Inhalte der pädagogischen Arbeit in dem Konzept von Damrow. In ihrem Erziehungsplan gab sie zu den einzelnen »Fächern« dezidierte Anweisungen. Diese sollten als roter Faden dienen und keine »Norm für unbedingt zu befolgende Stoffanordnung sein«38. Als Beispiel für die Ausfüllung der einzelnen Inhalte stelle ich den Lernbereich »Anschauung und Sprechen« vor. »Die Anschauung durchdringt ebenso wie die Arbeit das gesamte Kindergartenwesen ... Mit dem Anschauen allein ist es bei den Kleinen nicht getan. Sie müssen auch anhören, antasten, im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Wenn möglich, sind auch Geschmack und Geruch zu betätigen. Alle Sinne sollen entwickelt und geübt werden ... Mit dozierenden Worten läßt .. (sich das Kind; E.K.) nicht abspeisen ... Es will stets etwas tun. Es will handeln und sich dabei erzählen.«39 Während jüngere Kinder Fragen stellten, die von der Erzieherin beantwortet wurden, war bei den älteren Kindern das Verhältnis zwischen Fragenden und Antwortenden umgekehrt. Die »Anschauung« orientierte sich bei den Kleinen an dem Erlebten, während die Älteren an die Inhalte herangeführt wurden: »Von Geburt an sammelt das Kind Erfahrungen. Auch der Kindergarten verhilft ihm dazu. Da wäscht es sich die Hände und sieh, sie werden rein. Es hilft sein kleines Frühstücksbrettchen scheuern, und es wird ebenfalls rein. Es planscht dabei, und sein Schürzchen wird naß. Es hat Durst. Das Wasser löscht ihn. Regen ist auch Wasser und die Blumen trinken ihn. Das größere Kind findet, daß das kalte Wasser gut zum Trinken, das warme gut zum Reinigen ist. Es steht in einer Fußlache. Aber es fließt die schräge Ebene 35 36 37
Vgl. a.a.O., S.14. Ebenda. A.a.O., S.31.
38 39
Ebenda. A.a.O., S.35.
185 hinab. Es steht in Teich und See, aber es fließt im Fluß.In den Oberklassen erfährt das Kind, woher das Wasser kommt, wohin es geht. Es beobachtet Regen, Schnee und Eis. Es wird an eine Quelle, an einen Bach, an einen Fluß geführt. Es sieht Schiffe und Dampfboote fahren. Es fragt, wo sie hinwollen und hört nun von dem Meere, das noch viel viel größer ist als der See, den es gesehen hat. Es sieht, wie die Segelschiffe durch den Wind vorwärts bewegt werden und beobachtet die treibende Kraft des Dampfes bei Dampfer und Eisenbahn. So schreitet die Anschauung in konzentrischen Kreisen vorwärts und führt das Kind von der Natur zur Kultur und Zivilisation ... Die Themen sind unter sich in organischen Zusammenhang zu stellen. Eins kann sich aus dem andern entwickeln, so daß der ›Unterricht‹ » lückenlos sich fortführen läßt.«40 Im Lernbereich »Anschauungen und Sprechen« führte Damrow »Beispiele zur Stoffverteilung« auf, ohne diese jedoch genauer zu spezifizieren: »Klasse III: Ball, Würfel, Puppe, Hand, Haus, Wasser, Garten, Straße, Park, Vogel, Hund, Pferd usw.; Klasse II: Ball und Würfel - Vergleich, Blumen, Bäume, Tiere, Wasser, Wald, Vom Samenkorn, Regen - Schnee - Wind, Jahreszeiten, Von Sonne - Mond - Sternen, Feuer - Licht, Handwerker; Klasse I und IB: Blumen, Bäume, Wald, Tiere, Wasser, Früchte, Vom Samenkorn zum Brot, Jahreszeiten, Von der Zeitrechnung, Die Uhr, Kohle, Handwerker.«41 Auch bei den anderen Lehrbereichen sind tabellarische Beispiele zur Stoffverteilung anfgeführt, die sich auf Vorschläge zu Geschichten, Märchen und Erzählungen zum Erzählen, Reime und Fingerspiele zum Memorieren, Lieder zum Singen, Spiele und Lieder für Bewegungsspiele sowie Gang-, Frei-, Bein-, Rumpf-, Kopfübungen und Übungen mit Geräten für das Turnen, bezogen42. Ebenso wurden Tätigkeitsbeispiele für die Bereiche Hausarbeit, Blumenpflege, Gartenarbeit und Tierpflege vorgestellt und Orte, die bei Spaziergängen aufgesucht werden können, angegeben43. Auch zu den Fröbelschen Beschäftigungsmitteln wurden tabellarische Stoffpläne zu den eher theoretischen Ausführungen angefügt und diese durch praktische Ratschläge ergänzt44. Die verschiedenen Lernbereiche waren mit moralischer Erziehung verknüpft: Die Erzählung, die sich an den Lernbereich Anschauung anschließt, »führt das Interesse weiter und setzt eine mächtige Seelenkraft in Bewegung, die Phantasie. Diese im Kind so lebendige Kraft darf der Kindergarten nicht unterdrücken, sondern muß sie pflegen und in die rechten Bahnen lenken. Die Märchenwelt tut sich den Kindern auf. Neben seinen eigenen Erlebnissen lernt es die anderer kennen. Es vergißt sich selbst und lernt in andere sich hineindenken, sichhineinfühlen. Das Ich verschwindet in dem Du. Mitfreude und Mitleid bewegen die kleinen Herzen. Sie begeistern sich für das Gute und verabscheuen den Bösewicht. Sie wollen auch so fleißig sein wie Schneewittchen und die Gold40 41 42
A.a.O., S.37. A.a.O., S.38. Vgl. a.a.O., S.38ff.
43 44
Vgl. a.a.O., S.51ff. Vgl. a.a.O., S.54ff.
186 marie. Das Märchen als Kunstwerk hilft die Kinder zum Schönen erziehen. Die ethische Wirkung ist auf das Gute gerichtet und bereitet durch die sich von selbst ergebende Moralentwicklung den Religionsunterricht in der Schule vor.«45 Die verschiedenen Lernbereiche und die Arbeit mit den Fröbelschen Beschäftigungsmitteln hatten die Aufgabe, Kindern die Grundlagen zur proletarischen Sittlichkeit zu vermitteln. Dies wird auch in der folgenden Aussage deutlich: Das Bewegungsspiel diente nicht nur dem Nachgeben des Bewegungsdrangs der Kinder und der Förderung ihrer körperlichen Entwicklung sowie Gesundheit, sondern wies »noch andere, ethische, Erziehungsmomente auf. Während das Kind hier so recht seiner Natur nachgehen, eben spielen darf, wird es gleichzeitig gewöhnt, sich dem Ganzen unterzuordnen, sich als Glied der Gemeinschaft zu fühlen, sich mit seinen Kameraden zu vertragen. Es lernt zugunsten anderer zu verzichten. Es nimmt sich selbst in Zucht, da ohne das ein gemeinsames Spielen nicht möglich ist. Spielend macht das Kind die Kultur sich zu eigen. Es ahmt die Tätigkeit des Landmannes, des Handwerkers nach. Es wird, indem es sich in andere hineindenken lernt, auf das Leben vorbereitet.«46 Der Turnunterricht diente unter anderem der Körper- und Willensbildung, die für »wohlgestaltete, gesunde Kinder einen so hohen Stellenwert besitzt« und für die Entwicklung des schulunreifen Kindes eine noch größere Bedeutsamkeit habe: »Es lernt Geistesgegenwart, aufs Wort gehorchen, seine Kräfte aufs äußerste anzuspannen, schnell erfassen, schnell auszuführen.«47 Es zeigt sich, daß die verschiedenen Lernbereiche, wie auch die Arbeit mit den Fröbelschen Beschäftigungsmitteln48, neben der Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung in den Dienst der Sozialdisziplinierung gestellt wurde. Die Kinder sollten sich über diese Angebote unter anderem in Gehorsam, Unterordnung, Anerkennung ihrer Klassenzugehörigkeit und Fleiß einüben. Die unmittelbare Anleitung zur Umsetzung der einzelnen Lernebreiche und dem Einsatz der Fröbelschen Beschäftigungsmittel ist bei Damrow nicht zu finden. Am Beispiel von den Ausführungen von Pudmensky lassen sich die praktischen Umsetzungen verdeutlichen. Die Ausgestaltung eines Monatsgegenstandes wurde von Pudmensky am Beispiel des Themas »Kuh« aus dem Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin aufgezeigt. Die Kinder beschäftigten sich unter Anleitung zweimal in der Woche mit diesem Thema. Aus dieser Beschreibung läßt sich schließen, daß eine Seminaristin mit einer kleinen Gruppe arbeitete.49
45 46 47 48 49
A.a.O., S.38. A.a.O., S.45. A.a.O., S.49. Vgl. diese Arbeit, S.222ff. Vgl. diese Arbeit, S.179.
187 Am ersten Vormittag schnitten die Kinder das Gras und erfuhren, daß das Gras wächst. Sie lernten, vorsichtig mit scharfen Geräten (Sichel und Schere) umzugehen, damit sie sich nicht verletzten. Die Arbeit regte die Kinder zum »verständnisvollen Beobachten der Natur an, übt seine Kräfte und Sinne und läßt sie Ursache und Wirkung erkennen«50. Am zweiten Vormittag brachten die Kinder das Gras zu einem Bauernhof und lernten dabei die Kuh und den Stall kennen. Sie beobachteten das Melken, tranken die frische Milch und nahmen mehrere Liter mit in die Institution. Am dritten Vormittag wurde Milchreis gekocht und ein Teil der Milch für die Produktion von saurer Milch vorbereitet. »Wie aufmerksam mußten die Kinder bei der Arbeit sein, wie behutsam und vorsichtig waren sie. Nützliche Tätigkeit, Schaffen für andere, weckt Lust und Freude; Wert und Bedeutung der Arbeit wird gefühlt.«51 Der fünfte Vormittag diente der Butter- und Käsezubereitung, an der die Kinder aktiven Anteil nahmen. »Am sechsten Vormittag läßt Bild und Gedicht: Grasmähen (Mutter- und Koselied) die Kinder all ihr eigen Erlebtes im Zusammenhang wiederfinden. Liebe und Dankbarkeit gegen Gott, den Geber alles Guten, gegen die Menschen, Tiere und Pflanzen wird geweckt und gepflegt.«52 Am siebten Vormittag verzehrten die Kinder an mit Gräsern geschmückten Tischen im Garten die hergestellten Lebensmittel. »Ein schönes Bild und Gedicht: Feierabend läßt am achten Vormittag das erlebte stimmungsvoll austönen in künstlerisch poetischer Verklärung.«53 Nach der Exkursion zum Bauernhof ergaben sich zum Beispiel folgende Fröbelsche Beschäftigungen: »Bauen: Kuhstall Ausnähen: Kuh, Milchbecher Ausschneiden: Raufe Ausstechen: Schwalbe Stäbchen- und Erbsenlegen: Futtergabel und Milchkanne Buntmachen: Kuh Tonen: Milcheimer, Milchkanne Falten: Milchkanne, Melkschemel Zupfen: Stallbesen Perlreihen: weisse Kette«54 50 Pudmensky, Martha: Bildungsstoffe für den Kindergarten. Die Kuh. In: Kindergarten. Zeitschrift für entwickelnde Erziehung in Familie, Kindergarten und Schule. Hrsg. Deutscher Fröbel Verband. Berlin 1905, S.160. 51 A.a.O., S.161. 52 Ebenda. 53 A.a.O., S.162. 54 Ebenda.
188 Das Erlebte, Bildbetrachtungen und Gedichtsinhalte hielten die Kinder in ihren freien Zeichnungen fest. Erzählungen, Lieder Reigen und Spiele, wie »Alle Wiesen sind grün; Frau Schwalbe ist ‘ne Schwätzerin« rundeten die Einheiten ab. Das Beispiel des Rahmenthemas mutet modern an. Die handlungsorientierte und themenbezogene Methode stand im Mittelpunkt, ebenso wie es bei Damrow gefordert wird. Damit stellten die pädagogischen Inhalte und praktische Umsetzung ein Fortschritt in der zeitgenössischen Pädagogik dar. Jedoch sind auch bei beiden Pädagog/innen Verschulungstendenzen wahrzunehmen, wie die Zergliederung des Lehrstoffes in einzelne exakte Arbeitsabschnitte und das gleichzeitige Durchexerzieren der Fröbelschen Beschäftigungsmittel innerhalb der Einheiten bei der Darstellung von Pudmensky zeigen. In diesen skizzierten Tagesläufen wird die Orientierung an Marenholtz-Bülow und Schrader-Breymann deutlich. In die Konzeption von Damrow floß die Kulturstufentheorie und, mit ihr verknüpft, die Trieblehre ein.55 In den Konzeptionen von Damrow und Pudmensky standen die Arbeitserziehung, die hauswirtschaftliche Tätigkeit und der Monatsgegenstand im Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit. Der Tagesablauf, wie ihn Damrow vorstellte, zeigte eine deutliche Tendenz zur Verschulung. Während der Einsatz Fröbelscher Materialien bei Pudmensky in erster Linie der Vertiefung des Lehrinhaltes diente, stand bei Damrow die Arbeitserziehung im Vordergrund. Die Einübung moralisch-sittlichen Verhaltens, wie Gehorsam, Unterordnung und Achtung des fremden Eigentums, wurde mit dieser Erziehung verknüpft. Gleichzeitig sollten kognitive Fähigkeiten geschult werden. Darüber hinaus sollte die Arbeit des Volkskindergartens auch auf das Familienleben Einfluß nehmen, wie in einem Aufsatz von Goldschmidt deutlich wird: »In bedeutsamerer Weise als die Volksschule wirkt der Volkskindergarten zurück auf die Familien. Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung, der Sinn für das Schöne, Edle wird durch die Kleinen unbewußt auf die Familien übertragen. Die Liedchen aus dem Kindergarten verdrängen die rohen Gassenhauer, die das Kind sonst hört. Die zierlichen Arbeiten der Kleinen schmücken das bescheidene Heim des Hauses und lenken auch den Sinn der Mutter auf das Formschöne, das so billig sich herstellen läßt.«56 8.2 Pädagogische Ansätze in evangelischen Kleinkindanstalten Die Vertreter der evangelischen Kirche setzten die sozialpolitischen Probleme in Zusammenhang mit dem Verfall des religiös-sittlichen Verhaltens. Damit hinge eine Anfälligkeit für Unzufriedenheit und politische Auflehnung unter der Arbeiterschaft zusammen: »Ein Geist der Verbitterung, der Auflehnung und Vernei55 Vgl. Damrow, M.: A.a.O., S.32ff. 56 Goldschmidt, Henriette: Die internationale Bedeutung Friedrich Fröbels für Familien- und Volkserziehung. In: Kindergarten, Bewahranstalt und Elementarklasse. Heft 6, 1904, S.167.
189 nung hält noch ganze Massen unseres Volkes in seinem Bann und hört nicht auf, alle christliche, sittliche und staatliche Ordnung zu unterwühlen und zu gefährden. Wie üben wir da erfolgreiche Gegenwirkung? Wie bessern, wie heilen wir? Der Mittel die angepriesen werden sind viele, aber eins bleibt das beste und muß es bleiben: Weckung und Stärkung persönlichen Glaubenslebens. Das muß den Kern und das Mark aller Mithilfe an dem Aufbau unserer Gemeinden bilden ... Lebendigen Glauben gilt es zu wecken, und wenn er erwacht ist, zu pflegen und zu fördern, damit dann durch ihn auch wieder andere geweckt und gefördert werden. Es mag trivial klingen, aber persönliches, lebendiges, christliches Glaubensleben ist wirklich das Universalheilmittel, ohne das es in einer Gemeinde und in einem Volke nicht wirksam besser werden kann. In unseren Tagen geschieht viel christlich-peripherische Liebesarbeit und muß geschehen, auf dem sozialen Gebiet, dem Gebiet der Presse, dem Gebiet der Weltanschauungsfragen und -Kämpfe usw. Möchte nur durch die Fülle der Arbeit, die hier geleistet wird, nicht das Wichtigste zu kurz kommen, möchte dadurch nicht das Zentralste vernachlässigt werden: die Herzen dahin zu bringen, daß sie, von dem lebendigen Heiland im Innersten ergriffen und überwunden, in persönlicher, bewußter Bekehrung sich ihm ganz übergeben und dann als lebendige Christen von seinem Geist sich immer treuer treiben und leiten lassen. Ganze Christen zu erziehen, vollgläubige Menschen, Menschen ihres Heils gewiß, ein Licht und Salz in der Welt sind, das muß das Ziel sein, das sich unsere Evangeliumsverkündigung steckt.«57 Die sozialen Probleme werden von der evangelischen Kirche mit zunehmender Glaubenslosigkeit und der Entsittlichung breiter Bevölkerungskreise in einen engen Zusammenhang gestellt. Dementsprechend sieht sie in der Stärkung des Glaubens, und damit in einer nichthinterfragbaren Instanz, einen wichtigen Beitrag zur Befriedung breiter Bevölkerungsgruppen und gleichzeitig zur Stabilisierung der tradierten Strukturen und der staatlichen Ordnung. Den sozialen Hilfsmaßnahmen wird dabei nur flankierende Bedeutung zugemessen. Der Kirche ging es in ihrem Bemühen nicht um eine grundsätzlicheVeränderung der Lebenssituation der Unterschichtbevölkerung, sondern nur um Abmilderung der schlimmsten Auswüchse. Der Familie wurde eine wichtige Funktion in diesem Rahmen zugewiesen. Da aber insbesondere die Unterschichtfamilien die an sie gestellten Erwartungen nicht entsprechen konnten, mußte die soziale und sozialpädagogische Arbeit an die elterliche Stelle treten: »Auf die Sittlichkeit der Eltern, welche ja der Hauptgrund der Verwahrlosung der Jugend in dem frühen Lebensalter ist, kann der Staat gar keinen Einfluß haben; es stehen ihm keine Mittel zu Gebote, die Eltern zu zwingen, ihre Pflichten gegen ihre kleinen Kinder zu erfüllen.«58 Auch die 57 Synodalarchiv Bochum: Verhandlungen der Kreis-Synode Bochum. Witten den 15. Juni 1909. Dortmund 1909, S.5. 58 Ranke, J.Fr.: Die Gründung, Unterhaltung und Leitung von Krippen, Bewahranstalten und Kleinkinderschulen. Elberfeld 1887, S.17.
190 Möglichkeiten der Kirche, wie Predigt, Seelsorge und Kirchenzucht, reichten nicht aus. »Hier kann nur die freie christliche Liebe, deren Thätigkeiten man unter den Namen Innere Mission zusammenfaßt, helfen. Und sie hat geholfen und hilft immer.«59 Die Bewahranstalten sind Einrichtungen der »christlichen Barmherzigkeit, um der Verwahrlosung der Jugend in der frühesten Kindheit vorzubeugen.«60 Die Kirche mißt der frühkindlichen Erziehung für die weitere Entwicklung des Individuums eine hohe Bedeutung zu. Da die Eltern nach ihrer Meinung ihren pädagogischen Aufgaben einschließlich der religiösen Erziehung nicht mehr genügend nachkommen, müssen die evangelischen Kleinkindinstituionen diese Lücke schließen. Die Erziehungsarbeit in den evangelischen Kleinkindinstitutionen war in die kirchliche Glaubenslehre eingebunden:61 »Das Z i e l der Erziehung im engsten Sinne des Wortes ist, daß der Zögling sich in seinem Tun und Lassen von dem in dem Worte Gottes geoffenbarten Willen Gottes und von seinem durch das Wort Gottes gebildeten Gewissen leiten läßt, den eigenen Willen aufgibt und Gottes Willen zu dem seinigen macht.«62 Der frühkindlichen Erziehung wurde ein wichtiger Stellenwert zugemessen. Sie ist »die wichtigste, nicht nur ... hinsichtlich der leiblichen, sondern auch bei der geistigen Erziehung.«63 Auf dieser Erziehung baue die folgende auf. Bis zum sechsten Lebensjahr müsse die Gewöhnung an das Gute geleistet sein, da später das Versäumte »nur sehr schwer und oft gar nicht nachgeholt werden« könne.64 Die Gewöhnung an das Gute war nicht das eigentliche Ziel der Erziehung, wurde aber als die Grundlage zur Willensbildung angesehen. »Die Vernachlässigung dieser Erziehungsarbeit erschwert sehr den Kampf gegen das Böse, auch wenn dieses als solches erkannt wird. Wie schwer wird es z.B. einem Menschen, welcher nicht an Gehorsam, Wahrhaftigkeit, Arbeitsamkeit usw. gewöhnt ist, zu folgen, wahr und arbeitsam zu sein, auch wenn er den Ungehorsam, die Lüge und die Trägheit als Sünde erkennt!«65 59 A.a.O., S.18. 60 A.a.O., S.29. 61 Im Folgenden werden vor allem die pädagogischen Vorstellungen von J.Fr. Ranke und Zeitschriftenartikel zur Verdeutlichung des Menschenbildes, der pädagogischen Zielsetzungen, Bildungsinhalte und methodische Umsetzungen diskutiert. Ranke war Direktor der Bildungsanstalt für Kleinkinderlehrerinnen im Oberlinhaus zu Nowawes bei Potsdam. Sein Werk »Die Erziehung und Beschäftigung kleiner Kinder in Kleinkinderschulen und Familien« erschien in erster Auflage schon vor 1870 und erreichte bis ins 20. Jahrhundert mehrere Auflagen. 1911 erschien die elfte Auflage. In Nowawes erhielten die ersten Diakonissen von Witten vor der Gründung einer eigenen Ausbildungsstätte ihre Ausbildung. Vgl. diese Arbeit, S.158. Die Bezeichnung für Institutionen war regional unterschiedlich. In den Unterlagen der evangelischen Institutionen wurden die Einrichtungen für Unterschichtkinder durchgängig als Kleinkinderschulen bezeichnet. Deshalb wird in dem folgenden Kapitel diese auch unter diesem Namen als Unterscheidungsmerkmal zu den Volkskindergärten und katholischen Institutionen geführt. 62 Ranke, J.Fr.: Die Erziehung und Beschäftigung kleiner Kinder in Kleinkinderschulen und Familien. 11. Auflage. Elberfeld 1911, S.31. 63 A.a.O., S.2. 64 A.a.O., S.32. 65 Ebenda.
191 Die Vorstellung von der Sündhaftigkeit des Menschen war Grundlage der evangelischen Erziehung. In diesem Zusammenhang nahm die Erziehung zur Frömmigkeit einen hervorragenden Platz in den pädagogischen Vorstellungen ein: »Das Ziel der Erziehung ist, daß in dem Menschen das durch die Sünde verlorene Ebenbild Gottes wiederhergestellt, daß der Mensch mit Gott vereinigt, ein seliges Kind Gottes werde.«66 Die Aufgabe der Kleinkinderschule war es, in den Kindern die Grundlagen zur Frömmigkeit zu legen, da viele von ihnen im Elternhaus keine religiöse Erziehung erhielten. Die Erziehung zur Frömmigkeit umfaßte neben der Unterweisung in biblischer Geschichte und der Anleitung zum Beten auch die sittliche Erziehung sowie Gehorsam gegenüber Gottes Geboten. Nach den Berichten der Schwesternkonferenzen stand der »biblische Geschichtsunterricht« im Mittelpunkt der Pädagogik. Die ersten Eindrücke seien die tiefsten, deshalb sind »die ersten 6 Lebensjahre .. für die Entwicklung wichtiger als die 3 Universitätsjahre ... Im frühesten Kindesalter wird der Weg zum gottgefälligen Leben gelegt ... große Unbarmherzigkeit wäre die Kindertaufe ohne nachfolgende Lehre. Kinder sind auch am empfänglichsten für die göttliche Dinge ... Sie können glauben, lieben, beten und haben ein zartes Gewissen.«67 Vor dem Unterricht sammelten sich die Kinder innerlich. Der Hauptzweck des Unterrichts ist, »den Kindern den Heiland so lieb zu machen, daß sie wie ein unzerreißbares Band des Glaubens und der Liebe mit ihm verbunden werden und bleiben«68. Durch die religiöse Erziehung, der Erziehung zur Frömmigkeit, sollten die Kinder mehr und mehr in das Kindschaftsverhältnis mit Gott hineinwachsen und dann auch lernen, heilig, als Kinder Gottes, nach seinem Willen zu leben.69 Bei allem kindlichen Vertrauen müsse die Ehrfurcht vor Gott entwickelt werden, damit das Kind sich scheut »seine Gebote zu übertreten, weil .. (es; E.K.) ihn nicht betrüben will, weil es ihm weh tut und es so häßlich und undankbar ist«70. Aber Kinder sollten keine Furcht, sondern Liebe zu Gott empfinden. Sie dürften nicht erschreckt oder eingeschüchtert werden. In der religiösen Erziehung »muß die Freude vorherrschen«71. Die religiöse Erziehung erweise sich wirksam im sittlichen Streben. Grundlegend sei dabei, daß in erster Linie »Pietät gegen alle gottgewollte Autorität (geübt wird; E.K.), vornehmlich gegen die Eltern«72. Die Hauptprobleme der Zeit hingen mit dem Verlust der Anerkennung des vierten Gebotes zusammen. Damit stellt die Kirche einen Zusammenhang zwischen den sozialen Problemen und einer nicht 66 A.a.O., S.72. 67 Siebold: Der biblische Geschichtsunterricht in der Kleinkinderschule. In: Bericht über die Kinderschwesterntage von 1897 und 1898. 2. Kinderschwesterntag am 17.-19. Juli 1898. (Als Manuskript für die Schwestern gedruckt), S.17f. 68 A.a.O., S.19. 69 Vgl. Fliedner, Carl: Die Erziehung zur Frömmigkeit. Kinderschwestern-Konferenz, 9.-12. August 1908. In: Blätter aus dem Westf. Diakonissenhaus Sarepta bei Bielefeld. Nr.1-3 1908, S.8. 70 A.a.O., S.9. 71 Ebenda. 72 A.a.O., S.10.
192 hinterfragbare Autorität her. Um den nach ihrer Analyse gesellschaftlichen Problemen entgegenzuwirken, sei es notwendig, die Obrigkeitsgläubigkeit wieder fest in der Erziehung der Kinder zu verwurzeln. Deshalb sei es notwendig, den Kindern »das 4. Gebot besonders heilig und groß zu machen«73. Mit der Verwurzelung der Autorität als nicht hinterfragbare gottgewollte Instanz wird eine Erziehung zu einem kritiklosen und obrigkeitshörigen Menschen intendiert. Teil der Erziehung zur Anerkennung der Autorität in der Gesellschaft war die frühe Gewöhnung an Gehorsam. In der Befolgung dieser Tugend sah man gleichzeitig die Absicherung der tradierten gesellschaftlichen Ordnung und der bestehenden Machtstrukturen. Man vertrat die Ansicht, die den Kindern auferlegten Gebote so zu formulieren, daß sie dem Kind verständlich seien. Eine Begründung der Befehle sei jedoch nicht notwendig, das Kind hatte den gegebenen Geboten zu folgen. Die Gewöhnung an Gehorsam in der Kleinkindinstitution sei schwierig, »weil der Ungehorsam bei ihnen durch die Schuld der Eltern schon recht groß geworden ist. Erleichtert wird aber die Gewöhnung der einzelnen Kinder an Gehorsam, wenn in der Schule der Geist des Gehorsams herrscht; das einzelne Kind wird dann von diesem Geiste so in Zucht genommen, daß es nicht leicht wagt, anders als die anderen Kinder zu handeln.«74 Das Kind, das erst kurze Zeit in der Anstalt war, sei allmählich zum Befolgen der Befehle zu führen. Am Anfang sollte es nicht zu viele Gebote und Befehle erhalten. Vielmehr würde in den ersten Tagen »lieber gar nicht zum Sprechen oder zu dieser oder jener Tätigkeit .. (aufgefordert; E.K.); man übersehe es, wenn man alle Kinder zu einer Tätigkeit auffordert und ein Kind, welches erst seit kurzer Zeit die Schule besucht, dieser Aufforderung nicht nachkommt. Man kann solchen Kindern noch in besonderer Weise den Gehorsam erleichtern suchen, indem man z.B. das Kind an der Hand nimmt und es an den Ort führt, an welchen es etwa gehen soll, es bei gemeinschaftlichen Spielen neben sich nimmt, usw.«75 Außerdem, so sagen die evangelischen Autoren, müßten sich die Kinder in Wahrhaftigkeit und Liebe üben, letzteres dadurch, daß sie von dem abzugeben bereit sind, »was sie Gutes empfangen«76. »Eine schwere Probe der Liebe ist es schon, selbst nichts zu haben und sich zu freuen, neidlos, wenn andere genießen. Wie leicht erwacht da der häßliche, blasse Neid. Man wird diese zweite Stufe nicht erreichen, wenn man nicht bei der ersten angefangen hat zu üben das Lieben ohne Lohne.«77 Ziel der religiös-sittlichen Erziehung war es, Kinder vertraut zu machen mit dem Gefühl des Mitleids anderen Menschen und Kreaturen gegenüber. Sie sollten lernen, die Größe und Schönheit der göttlichen Schöpfung zu lieben und zu bewundern. Gleichzeitig intendierte diese Pädagogik, bei den Kindern 73 74 75 76
Ebenda. Ranke, J.Fr.: Die Erziehung ... a.a.O. S.37. Ebenda. Fliedner, Carl: A.a.O., S.11.
193 ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber der herrschenden Schicht zu erzeugen. Verbunden war dies mit der Erziehung zur Zufriedenheit mit dem eigenen gesellschaftlichen Stand und damit mit dem Ziel verknüpft, zur Aussöhnung der Klassen beizutragen. Weitere Ziele der evangelischen Kleinkindpädagogik waren die Erziehung zur Sittsamkeit, Bescheidenheit, Höflichkeit, zur Verträgichkeit, Reinlichkeit, Ordnung und zur dienenden Arbeit.78 Die Gewöhnung an die dienende Arbeit beginne schon ab dem dritten Lebensjahr. Sie müsse allen Kindern, ob reich oder arm, zur sittlichen Pflicht werden, so erledigten die Kinder in der Kleinkinderschule alle Arbeiten selbst, die von ihnen ausgeführt werden konnten. Zum Beispiel gehörten das Ordnen der Spielsachen, das Verteilen der Butterbrote und anderes mehr zu ihren Arbeitsaufgaben. Auch der Unterricht selbst diente der Gewöhnung an die dienende Arbeit. Tätigkeiten, die zur Arbeit im engeren Sinn gehörten, wie Korbflechten und das Anfertigen von Strohmatten sollten unterlassen werden, da die Kinder zu jung seien und auch der Aufwand zu groß sei. Durch diese Tätigkeiten würde »die Spielzeit der Kinder zu sehr verkürzt; denn die Arbeiten müssen längere Zeit nacheinander vorgenommen werden; dadurch wird die leibliche Gesundheit der Kinder sehr beeinträchtigt«79. Der leiblichen Erziehung wurde eine wichtige Funktion zugewiesen. Der Vorstand und die Erzieherin hätten darauf zu achten, daß die Kinder »reinlich und ordentlich gekleidet« zur Einrichtung kämen.80 »In Kleinkinderschulen macht man besonders in großen Städten die Erfahrung, daß die armen Kleinen, die bleich und kränklich aufgenommen wurden, schon nach wenigen Wochen anfangen aufzuleben und sich erholen.«81 Der Aufenthaltsraum der Kinder sollte geräumig und gut lüftbar sein. Für jedes Kind müsse mindestens 1,3 m2 zur Verfügung stehen, die Fenster sollten Lüftungsmöglichkeiten (Oberlicht oder Luftscheiben) haben und es sei zu lüften sowohl vor der Ankunft der Kinder als auch während des Aufenthaltes im Freien.82 Die Betreuerinnen hatten den Auftrag, für ausreichende Bewegung zu sorgen, da man langes Stillsitzen ablehnte. Wenn die Kinder nicht, wie im Sommer, einen großen Teil auf dem Spielplatz zubringen konnten, unterbrach man die Phasen des Stillsitzens durch kleine Bewegungsübungen auf folgende Art und Weise: »Auf! Setzt euch! Rechts um! Front! Kehrt! Rechte Hand auf! Nieder!« und so weiter.83 Marschier- und Bewegungsübungen dienten ebenfalls dem Zweck der körperlichen Entwicklung und der Gesunderhaltung des Kindes. Kinder, die über Mittag in der Anstalt blieben, mußten die Möglichkeiten 77 78 79 80 81 82 83
A.a.O., S.12. Vgl. Ranke, J.Fr.: Die Erziehung ... a.a.O., S.37ff. A.a.O., S.61. A.a.O., S.25. A.a.O., S.17. Vgl. ebenda. A.a.O., S.21.
194 haben, zu ruhen und zu schlafen. Die Erzieherin hatte darauf zu achten, daß die Kinder das zweite Frühstück und das Vesperbrot mitbrachten. Bei besonderen Notzuständen der Eltern wurde den Kindern ein Stück Brot zugeteilt, sofern es die finanzielle Situation der Institution zuließ.84 Zum Brot reichte man bei Bedarf Wasser. »Wird die Schule von vielen Kindern sehr armer Eltern besucht, welche vielleicht am Mittag gar nicht oder nur kurze Zeit nach Hause kommen, so können die Kinder in der Kleinkinderschule auch mittags gespeist werden.«85 Die vermutlich aus dem Jahr 1875 stammenden Instruktionen sahen folgende Stundenplanordnung für die Kinderbewahranstalten vor:86 V O R M I T T A G Uhr 1
Montag
Dienstag
Mittwoch Donnerst. Freitag
8- /210
Die Kinder versammeln sich und spielen frei
1
biblische Geschichte
/210-10 1
10- /211
Die Kinder frühstücken und spielen frei
1
Turnen
Kreisspiel Turnen
Papierfalten
Netzzeichnen
/211-11 1
11- /212
Kreisspiel Turnen
Stäbchen- Bauen legen
Sonnabend
Kreisspiel
Ausstechen
Kreisspiel
Geschichten erzählen
Reinigen der Schule
Anziehen der Kinder und Schluß N A C H M I T T A G 1-2 1
Die Kinder versammeln sich und spielen frei
2- /23
Anschauungsstunde
1
Vesperbrotessen, Kreisspiel, Anziehen der Kinder und Schluß
/23-3
Geschichten erzählen
Lehrprobe
Anschauungsstunde
Im Stundenplan war jeweils eine halbe Stunde für Beschäftigungen angesetzt, die Frühstückspause und das Freispiel eingeschlossen. Für das freie Spiel nach der Ankunft der Kinder am Vormittag wurden eineinhalb Stunden und am Nachmittag eine Stunde eingeplant. Es standen den Kindern maximal zweidreiviertel Stunden reine Spielzeit zu, wenn man die Frühstückspause87 mit einbezieht. Die 84 Vgl. a.a.O., S.12. 85 Ebenda. 86 Sarepta Archiv: 39. 87 Es ist nicht bekannt, wie man die halbstündige Frühstückspause und das damit verbundene Freispiel gestaltete. Wurde sie ähnlich wie bei den katholischen Schwestern Athanasia und Eusebia ausgefüllt, so verminderte sich die Freispielphase. (Vgl. diese Arbeit, S.204f).
195 religiöse Erziehung im engeren Sinn und die Unterweisung in biblischer Geschichte nahmen eine halbe Stunde pro Tag in Anspruch, während für die anderen Beschäftigungen insgesamt eineinhalb Stunden veranschlagt wurden. »Der Dienst in der Kleinkinderschule soll die Pflege der Kinder nach Leib, Seele und Geist zu seiner Aufgabe haben und sie zu lösen suchen in den dreifachen Tätigkeiten von I. Unterricht, II. Beschäftigung, III. Spiel.«88 Die Unterweisung in die biblische Geschichte stand im Dienst der Seelsorge, sie ist auch der »Herzpunkt unserer Arbeit an den Kindern ... (sie steht im; E.K.) Zusammenhang mit den übrigen Beschäftigungen«89. Alle Beschäftigungen »sind ein Ganzes, da sie von einem geschlossenen Geist geboten und geübt werden. Und sie müssen ein Ganzes sein, da sie im Dienst der Persönlichkeit des Kindes stehen, sie einheitlich zu bauen, nicht zu zersplittern.«90 Es ist die Aufgabe der Arbeit der Diakonissen in den Kinderbewahranstalten, »die Seele des Kindes zu fassen und für den Heiland zu begeistern; die ganze Seele, das ganze Geistesleben zu fassen und für den Heiland begeistern! Das ganze Geistesleben, nicht nur das Denken, sondern das Denken, Fühlen und Wollen in eins.«91 Die evangelische Glaubenslehre sollte durch die eine entsprechende Erziehung soweit in der Psyche des Kindes verankert werden, daß diese zum inneren Kontrollinstrument jeglichen Verhaltens im späteren Erwachsenenleben wird. Beschäftigungen nahmen in der evangelischen Pädagogik einen breiten Raum ein und wurden als Verbindung von Unterricht und Spiel betrachtet, die Sinneswahrnehmung und Feinmotorik sowie »den Charakter durch die Ordnung und Beharrlichkeit (bilden; E.K.) ... (sie; E.K.) bieten mannigfache Anknüpfung zur Belehrung und geistige Anregung. Sie wecken Lust zu nützlicher Tätigkeit, ohne die Anstrengung der wirklichen Arbeit zu fordern ... Vom Spiel unterscheiden sich die Beschäftigungen dadurch, daß sie eine bestimmte Aufgabe stellen, die Fleiß und Ausdauer fordert, daß sie die Kinder gewissermaßen durch Schweigen und durch Tätigkeit der Hände isolieren, daß sie nach einer festen Regel, auf bestimmtes Kommando getrieben werden.«92 Zu den Beschäftigungen zählten Linsenlegen, Perlen anschnüren, Läppchenzupfen, Ausstechen, Ausnähen, Zeichnen in der Netzfläche. Die Beschäftigungen wurden exakt nach Vorschrift mit genau abgezähltem Material durchgeführt. Zeitgenössischen Angaben zufolge führten die Kinder diese Beschäftigungen gern aus. Sie stellten selbst etwas her und seien freudig zu kleinen Dienstleistungen bereit: »Welche Freude drum auch wenns heißt, zupfen, Perlen anschnüren, Bauen oder was es sei ... Die einfachste, 88 O.N. (Nach einer Vorlage ergänzt und erweitert von M. v. R.): Die Beschäftigung der Kinder in der Kleinkinderschule. In: Blätter aus dem Westf. Diakonissenhaus Sarepta bei Bielefeld. A.a.O., S.17. 89 Die Schmelzhütte. Blätter aus dem Westf. Diakonissenhaus Sarepta bei Bielefeld. Nr. 10. Oktober 1909, S.60. 90 Ebenda. 91 A.a.O., S.61. 92 O.N. (Nach einer Vorlage ergänzt ...): A.a.O., S.17.
196 und wenigste Mühe machende Beschäftigung ist wohl das Zupfen.93 ... Kinder und Tanten vielleicht auch lieben die Veränderung, so haben wir die Bänke beim Zupfen nicht schulmäßig hintereinander stehen, sondern an den Wänden entlang 3 /4 der ganzen Schule manchmal doppelreihig, dabei sitzen die Hinteren aber auf Tischen erhöht, somit macht das Ganze eher den Eindruck einer großen Kinderstube. 3-4 Mädchen dürfen helfen Läppchen austeilen, ein jedes hat die ihm zugeteilten Bänke zu versorgen. Dadurch hat man selbst die Hände frei und Gelegenheit das Ganze im Auge zu haben einzelnen Kindern nachzuhelfen und sich auch mal an dem lieblichen Bild erfreuen soviel eifrige und fleißige Kinderhändchen zu sehen. Durch Finger aufheben melden sich die Kinder, wenn sie ein neues Läppchen brauchen ... Sehr wohltuend ist es nach der Unruhe des Freispiels, wenn die Kinder nun einmal ganz stille sind. Wenn man ihnen selbst im Flüstertone sagt das Osterhäschen wolle nur gezupftes wobei nicht geschwätzt würde; oder - jetzt darf man nur ganz leise sprechen so leise wie die Mäuse, dann gehts. - Zupfen und Perlen anschnüren sind Beschäftigungen die wohl jede Schwester betreibt. Beim Perlen anschnüren sitzen die Kinder an Tischen und zwar in jeder Bank eins weniger wie gewöhnlich, da sie zu den Beschäftigungen mehr Platz gebrauchen und leicht in Unruhe kommen, wenn sie zu eng sitzen ... Das Austeilen wenigstens der Förmchen und Bänder besorgen wieder sehr nett die Kinder ... Jedes Kind bekommt ein Pappförmchen, die wohl in jeder Schule zu diesem Zweck vorhanden sind. - Man achte darauf, daß die Kinder recht bequem sitzen, die Bänke nicht zu weit abstehen. Die Größeren kann man anhalten, daß sie nicht alles bunt durcheinander anschnüren, sondern etwa eine rote, eine blaue Perle sich immer wiederholend, sie denken sich schon selbst etwas aus und ihr Farben- und Schönheitssinn wird geübt. - Linsen legen ist eine sehr einfache mühelose Beschäftigung. Als ich junge Schwester war, nahm die ältere Schwester Kreide und zeichnete jedem Kind etwas auf den Tisch dessen Umrisse die Kinder mit Linsen belegten. Heute hat mans viel bequemer. Schon die schön aufgezeichneten Pappdeckel 15 cm im Quadrat mit Tieren, Haushaltungsgegenständen kurz allem möglichen was ihr Interesse erregt machen den Kindern viel Freude ... Zum Ausstechen bedient man sich Nadeln mit kurzen Holzgriffen und am besten dicken Filzdecken ... Mit verwunderlicher Ausdauer und Sorgsamkeit stechen die Kinder ihre kleinen Bildchen aus und glückselig dürfen sie es dann wenn es fertig ist mit nach Hause nehmen. - Zum Stäbchenlegen nahm man früher Schusterzinne. Jetzt bekommt man für wenige Pfennige 5 cm lange Stäbchen. Das Stäbchenlegen ist äußerst interessant, wenn man den Kindern eine Geschichte erzählt und sie dann das was in der Geschichte liegt an Erlebnissen und vorkommenden Gegenständen von den Stäbchen bauen läßt. Man zeichnet es ihnen an der Wandtafel vor ... Man gewöhne die Kinder an strikten Gehorsam, dann kann man 93
Vgl. diese Arbeit, S.220f.
197 ihnen ruhig die Freude gönnen, daß sie sich gegenseitig Gedanken austauschen, was es ihnen ja doppelt lieb macht. Ein kurz und bestimmt ausgesprochenes Kommando wie etwa: ›Hände auf den Rücken‹ muß sie dann zum Stillesein und Aufmerken bringen. Zwischendurch ein Liedchen gesungen belebt die Sache auch sehr wie z.B. beim Bauen einer Lokomotive ›Zug, Zug, Zug, Eisenbahn‹. Wie bei allem so spricht auch bei den Beschäftigungen sehr die Gewöhnung mit, die ersten Male wird alles mehr Schwierigkeiten machen wie nachher ... Nun das Ausschneiden, dazu kann man eigentlich nur die Großen heranziehen. 2 Tische mit 24 Kindern während die übrigen zupfen oder Perlen anschnüren ... wir haben kleine, vorn ganz stumpfe Scheren ohne Spitze ... Zum Zweck des Ausschneidens kann man sich Zeitschriften schenken lassen ... (Das Flechten; E.K.) haben wir nur im Freispiel betrieben und immer nur mit wenigen Kindern zugleich, da heißt es einfach warten«94 für jedes einzelne Kind bis es an die Reihe kommt. Der Anschauungsunterricht wecke und schärfe die Sinne und schaffe ein Verständnis für Gottes Werke: »Die Voraussetzung eines dankbaren Herzens ist ein offenes Auge. Auch die äußeren Dinge sollen ja im Dienst unserer Seele stehen, daß wir Gott näher kommen und ihm danken. Aber der Anschauungsunterricht steht auch im Dienst der Wahrheit, der Lauterkeit, der Wahrhaftigkeit. Alle unsere Sinne sind so vielen Gefahren ausgesetzt. Durch den Anschauungsunterricht wollen wir die Kinder die Wahrheit sehen und aussprechen, die Wirklichkeit fassen lehren.«95 Aber auch die Bewegung dürfe nicht zu kurz kommen. »In der Kinderschule handelt es sich ja bei allem nicht nur um den Leib, sondern zum mindesten auch um die Seele. All’ unser Dienst an den Kindern in der Kinderschule ist Seelsorge.«96 Die Kinder benötigten das Turnen, da sie einen starken Bewegungsdrang hätten. Es ist »eine Qual .. für das Kind .. lang still zu sitzen«97. »Aber noch in einer anderer Weise bringen die körperlichen Übungen Gewinn für die Seele. Wir gewöhnen unsere Kinder dadurch an Zucht. Wir gewöhnen sie dadurch, alle Befehle rasch mit dem Ohr aufzunehmen, richtig zu fassen, in den Willen überzuführen, von dem Willen in die Nerven, in die Muskeln, in die Tat, und das alles so rasch, daß alle diese mancherlei Funktionen vom Hören bis zum Tun wie in eins zusammenfallen. Das gibt eine Zucht fürs Fühlen, Denken und Wollen, eine Zucht der Seele. Und ich möchte bitten, die Leibesübungen nicht zu unterschätzen. Sie sind ein wertvolles Hilfsmittel, die Kinder zur Freiheit zu führen, also sie Gott näher zu bringen.«98 Die Bewegungserziehung beurteilte man in zweifacher Richtung. Einerseits kam man dem Bedürfnis der Kinder nach Bewegung entge94 Sarepta Archiv: 538. 95 Die Schmelzhütte. Blätter aus dem Westf. Diakonissenhaus Sarepta bei Bielefeld. Nr. 10, Oktober 1909, S.59. 96 A.a.O:, S.61. 97 A.a.O., S.89. 98 Ebenda.
198 gen, andererseits gewöhnte man die Kinder auf diese Weise an Gehorsam und an das Ausführen von vorgeschriebenen Bewegungen nach Befehlen. Es wurde die Einübung in Unterordnung unter einen fremden Willen, die fraglose Anerkennung von Befehlen der Obrigkeit geübt. Diese Erziehung kann auch als Vorbildung für die spätere Fabrikarbeit interpretiert werden.99 Die Intentionen der Bewegungserziehung wurden verknüpft mit der Vorstellung von Gottes Geboten und damit in eine außerirdische und nicht rational überprüfbare Instanz gehoben. Das Spielen sei ebenso ein Naturtrieb wie der Bewegungsdrang. Durch das gemeinsame Spiel würde der Naturtrieb »Selbstsucht« eingeschränkt: »Beim gemeinsamen Spiel müssen sie lernen, sich in Zucht zu nehmen, Liebe und Selbstverleugnung üben. Es wird dadurch die soziale Anlage im Kind geweckt, die Gemeinschaftsart, und sie lernen, um dieser willen sich selber einzuschränken; da wird Selbstverleugnung ausgebildet, eine der obersten Forderungen des Heilandes.«100 Am Ende des 19. Jahrhunderts war eine Änderung der Pädagogik in den evangelischen Einrichtungen zu beobachten. Insgesamt legte man größeren Wert auf mehr Spiel- und Arbeitsmaterialien. Fröbelsche Spielmittel und an Fröbel angelehnte Beschäftigungsmaterialien fanden Eingang in diese Kleinkindinstitutionen. Um die Jahrhundertwende sollten zunehmend Tätigkeiten angeboten werden und wurden offensichtlich angeboten, die mit einem Lerneffekt verknüpft waren. Die Materialien schulten den Farb- und Formsinn, zudem vermittelten sie Kindern die Fähigkeit, Mengen zu unterscheiden, sie zuzuordnen und ähnliches mehr. Beim Spiel mit gefärbten Holznägeln101 bestand das Lernziel darin, den Farben- und Mengenbegriff zu üben. Den Kindern wurden diese Materialien zur freien Beschäftigung überlassen. Sie bauten damit verschiedene Dinge: »So vergeht die Zeit außerordentlich rasch; aber der Freiheit des Kindes muß zum Schluß die Autorität des Lehrenden entgegentreten oder mit anderen Worten: auf die Ungebundenheit muß Ordnung folgen ... (Am Schluß der freien Tätigkeit mit den bunten Holznägeln, die von der Erzieherin und den Kindern Bohnen und Erbsen genannt werden, fragt die Erzieherin; E.K.) ›Wer wohl die meisten Erbsen und Bohnen von Euch hat?‹ oder ›ich möchte die Erbsen und Bohnen nach der Farbe abgezählt haben‹ oder ›die 5 großen, roten Soldaten sollen zuerst mir zugezählt werden‹ usw.«102 Nach der Jahrhundertwende sind darüber hinaus deutliche Bemühungen zu verspüren, die Beschäftigungen in einen größeren Rahmen zu stellen, sie in einen »Monatsgegenstand« einzubetten. Es wurden in den Fachzeitschriften zunehmend Monatspläne vorgestellt, die eine Motivationsphase, Anschauungen, Exkursionen 99 100 101 102
Vgl. diese Arbeit, S.219ff. Die Schmelzhütte ... a.a.O., S.59. Vgl. diese Arbeit, S.170. Die christliche Kleinkinderpflege. 1904, S.44.
199 und Beschäftigungen einschlossen. Für den Monat September schlug man zum Beispiel das Thema »Markt« vor, und regte an, mit einer Gesprächsrunde anhand folgender Fragen zu beginnen: »Was will die Mutter dort auf dem Markt? Was für Dinge gibt es auf dem Markt zu kaufen?«103 In der ersten Woche behandelte die Erzieherin den »Fleischmarkt«, in der zweiten »Butter, Käse, Eier«, in der dritten den »Geflügel- und Fischmarkt« und in der vierten Woche den »Obst- und Gemüsemarkt«104. Neben einem Marktbesuch und einer Gesprächsanleitung wurden Spiele, Lieder, Gedichte und Erzählungen vorgeschlagen. Die Beschäftigungen stimmte man auf das Monatsthema ab. »Bauen mit Postkarten oder Bausteinen: Marktbuden und Hallen, das Zollhaus, an dem die Landleute mit ihren Waren vorüberkommen, Tische für Waren und Kisten. Legen mit Eichelnäpfchen, Muscheln, Legetäfelchen: Korb, Markttasche, Fischbottig, Käfig für das Geflügel. Ausstechen: Wage, Marktkorb. Ausnähen: Markttasche, Portemonnaie, Fisch. Malen auf der Schiefertafel: Alle schon genannten Gegenstände, auch der ganze Markt und die Geschichte können gemalt werden. Falten: Tisch, Fisch, Bank, Marktbude, Tuch der Marktfrauen. Buntmachen mit Buntstiften: aus Modezeitungen Damen, die einkaufen gehen, Körbe aus einem Korbwarenkatalog. Ausschneiden: Waage und Gewichte aus dem Katalog von Eisenwaren, Gemüsepflanzen aus einem Gärtnerkatalog. Modellieren aus Ton: Hühner, Fisch, Ei, Rüben, Obsttorten usw. Stäbchenarbeit: Korb, Käfig, Marktbude. Perlenmosaik: Portemonnaie, Geldstücke, Gemüsepflanzen. Mit Holznägeln kann auch die Geschichte und ein Markt gestellt werden«105 Bei der zunehmenden Einbeziehung der Fröbelschen Materialien wird eine Orientierung an den beiden Hauptprotagonistinnen Marenholtz-Bülow und Schrader-Breymann deutlich. Der Einsatz Fröbelscher Beschäftigungsmittel und der Materialien, die man in Anlehnung an Fröbel selbst herstellte, geschah in verschulter Weise. Bei der Behandlung des Monatsgegenstandes wurden die verschiedenartigen, den Fröbelschen Beschäftigungsmitteln nachempfundenen Materialien bis zur Eintönigkeit durchexerziert. Alle Tätigkeiten und Spiele standen in enger Verbindung zu dem Ziel evangelischer Vorstellungen, der Heranbildung eines sittlichen Menschen. Man beabsichtigte dadurch, das Kind an Tugenden wie Gehorsam, Disziplin, Ordnung, Fleiß und Unterordnung so zu gewöhnen, daß diese ihm gleichsam zur zweiten Natur wurden. Durch die Verknüpfung der Tugenden mit dem nach protestanti103 104 105
Die christliche Kleinkinderpflege. 1908, S.120. Ebenda. A.a.O., S.121.
200 scher Vorstellung herrschenden göttlichen Willen nahm man dem Menschen außerdem die Möglichkeit, Erziehung kritisch zu hinterfragen. Durch diese Erziehung sollte eine Persönlichkeitsstruktur herausgebildet werden, die sich kritiklos den kirchlichen und weltlichen Autoritäten unterordnet. Damit dienten oben erwähnte Tugenden politischen Zwecken, der Absicherung der gesellschaftlichen Ordnung und kirchlichen Machtbasis. Sie waren aber auch für ökonomische Interessen von Bedeutung. Unterordnung, Disziplin, Fleiß, die Schulung der Feinmotorik und des exakten Arbeitens waren Grundfähigkeiten und -fertigkeiten, die innerhalb der sich rasch verändernden Produktionsbedingungen (maschinelle Fertigung, Arbeitsteilung) von großer Bedeutung waren. 8.3 Pädagogische Ansätze in katholischen Kleinkindanstalten106 Im Gegensatz zur evangelischen Kleinkinderziehung schlossen sich die katholischen Träger sehr spät unter einem Dachverband zusammen. Erst 1897 wurde durch Lorenz Werthmann der Caritasverband gegründet.107 Im Jahre 1916 schlossen sich die katholischen Erzieherinnen im »Verband kath. Kleinkindanstalten Deutschlands« zusammen.108 Ab diesem Zeitpunkt gab es ein Zentralorgan der katholischen öffentlichen Kleinkinderziehung. Auch die Zahl der Buchveröffentlichungen war wesentlich niedriger als im evangelischen Bereich. Das Hauptwerk über die Arbeit in katholischen Kinderbewahranstalten von den Schwestern Athanasia und Eusebia wurde 1890 erstmals veröffentlicht und erreichte mehrere Auflagen.109 Noch 1902 wurde es von Emy Gordon an erster Stelle im Kapitel »Verzeichnis einiger der wichtigsten Bücher über die Praxis im Kindergarten« aufgeführt.110 Im Folgenden werden die wichtigsten Inhalte der Einstellung der Vertreter der katholischen Kirche zur sozialen Frage und zur Glaubenslehre in ihrer Bedeutung für die katholische Pädagogik in den Kinderbewahranstalten vorgestellt. Die Vertreter der katholischen Kirche sahen einen Zusammenhang zwischen den sozialen Problemen und dem Abfall breiter Bevölkerungsschichten vom katholischen Glauben. Der Rationalismus und der Liberalismus habe zur Aufwei106 Dieses Kapitel basiert auf meiner Dissertation Katholische Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Bern, New York und Paris 1987. (Europäische Hochschulschriften. Reihe XI Pädagogik. Bd. 317). In dieser Arbeit untersuchte ich den Zusammenhang von katholischen Erziehungsvorstellungen und der kirchlichen Glaubenslehre. Da die katholischen Einrichtungen und ihre Pädagogik zu den drei großen Richtungen , die im Kaisserreich innerhalb der öffentlichen Kleinkinderziehung vertreten waren, gehörte, werden die Ergebnisse der Dissertation an dieser Stelle überblickartig vorgestellt. 107 Vgl. Borgmann, Karl (Hrsg.): Lorenz Werthmann - Reden und Schriften -. Freiburg 1958, S.53. 108 Vgl. Beeking, Joseph: Grundriß der Kinder- und Jugendfürsorge. Freiburg 1929, S.78. 109 Schwestern Athanasia und Eusebia: Nützliche Beschäftigungen für die Kleinen. Vademecum für Kleinkinderschulen und die Familie. Dritte verbesserte Auflage. Mainz 1896. 110 Vgl. Gordon, Emy: Die katholische Kindergärtnerin in Schule und Haus. Angehenden Kindergärtnerinnen und Müttern gewidmet. Stuttgart und Wien 1902, S.43.
201 chung der katholischen Lehre geführt.111 Diese Lehren leugneten die göttliche Autorität und die auf göttlichen Prinzipien beruhende Ordnung und böten keine Möglichkeit, die »wilden Leidenschaften« des Menschen zu bändigen: »Ist einmal die Oberherrlichkeit Gottes über den einzelnen wie über die menschliche Gesellschaft geläugnet, dann gibt es folgerichtig auch keine öffentliche Religion, und alle religiösen Angelegenheiten finden kaum mehr Beachtung. Auf ihre vermeintliche Souveränität gestützt, ist die Menge stets zu Unruhen und Aufruhr geneigt; sind Pflicht und Gewissen dahin, so bleibt zu deren Zügelung nur noch die Gewalt übrig, die aber für sich nicht allein im Stande ist, die Begierden des Volkes im Zaume zu halten. Augenscheinlich beweist der tägliche Kampf gegen die Socialisten und andere aufrührerische Rotten, die schon längst sich darangemacht haben, die Gesellschaft von Grund aus zu zerstören.«112 Um die Probleme der Zeit zu heilen, müsse der katholische Glauben wieder in der breiten Bevölkerungsschicht verankert werden. Soziale Maßnahmen trügen gleichzeitig zur Milderung der Auswüchse der Industrialisierung bei und förderten die Aussöhnung der Schichten. Ebenso wie die evangelische Konfession stellt die katholische Kirche einen Zusammenhang zwischen dem Abfall vom Glauben und der damit einhergehenden Entsittlichung breiter Bevölkungskreise und sozialen Frage sowie der Entstehung der Sozialdemokratie her. Die Forderungen der letzteren sieht sie als unbillig an, da nach ihren Vorstellungen das Individuum sich mit der von Gott zugewiesenen Rolle zu bescheiden habe. Auf dieser ideologischen Basis setzt sie ihren Kampf gegen fortschrittliche Gruppierungen und für die Erhaltung der stattlichen Ordnung an. Der Familie wurde dabei die Aufgabe zugewiesen, ein »Bollwerk der Ordnung«113 zu sein. Die häusliche Erziehung könne der Ansteckung vor »verkehrter Tagesmeinung« vorbeugen: »Die Welt des Kindes ist das Haus. Mag daher der Weltgeist noch so schlecht sein, herrscht in der Familie ein guter christlicher Geist, so nimmt es diesen an.«114 Da die Familienverhältnisse oft zerrüttet seien, müßten andere Institutionen an ihre Stelle treten. »Um dem zerrütteten Familienleben eines vom Sozialismus und Materialismus beinahe versunkenen, von Kapitalismus und Großindustrie tyrannisierten Volkes aufzuhelfen, ist da einzusetzen, wo die christliche Liebe noch am ehesten verstanden wird, wo die Empfänglichkeit noch nicht verdrängt ist von der Gleichgültigkeit und Verstockt-
111
Vgl. Andelfinger, Aug.: Der Sozialismus und die Arbeitgeber. Regensburg 1892, S.25f. Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Die Arbeiterfrage und das Christenthum. Mainz 1864, S.104f. Lehmkuhl, Aug.: Die sociale Noth und der kirchliche Einfluß. Freiburg i.Br. 1892, S.4f und S.25f. Moufang, Christoph: Die sociale Frage und der Verein der deutschen Katholiken. Mainz 1874, S.3f. 112 Leo XIII.: Libertias (Über die menschliche Freiheit.) Enzyklika erlassen am 20. Juni 1888. In: Rundschreiben. Dritte Sammlung. Freiburg i.Br. o.J., S.28. 113 Dominikus, Bischof von Limburg: Fastenhirtenbrief. In: Amtsblatt des Bisthums Limburg. Nr.2. 5. Februar 1902, S.4. 114 Clericus, Friedrich: Zehn Gebote katholischer Kindererziehung. Zweite Auflage. Mainz 1866, S.13.
202 heit - das ist in der Kinderwelt.«115 Die Kinderbewahranstalten hatten die Aufgabe, einen Ersatz für das zerrüttete Familienleben zu bieten. Verknüpft waren diese Intentionen mit der Vorstellung von der hohen prägenden Bedeutung in der frühkindlichen Phase. Die katholische Pädagogik im Allgemeinen und die Erziehung innerhalb der Kinderbewahranstalten basierten auf der katholischen Glaubenslehre. Grundlage der katholischen Glaubenslehre ist die Vorstellung von der Existenz Gottes und eines außerirdischen Weiterlebens nach dem Tod. Diese wird verknüpft mit der Möglichkeit, als Mensch die ewige Seligkeit durch ein gottgefälliges Leben zu erreichen oder durch ein sündhaftes Leben der ewigen Verdammnis zu verfallen. Aufgrund der Erbschuld sei in jedem Menschen der Hang zur Sünde angelegt, und es gelte ihn durch eine rigide Erziehung zu bekämpfen.116 Deshalb sollen »die Kleinen so erzogen werden zum einzigen Ziele, das wir haben, nämlich Gott ähnlich zu werden«117. Infragestellung der gesellschaftlichen Rollenverteilung wird mit der Auflehnung gegen Gottes Gebote gleichgesetzt. Diesem Hang zur Auflehnung müsse durch eine rigide Erziehung vorgebeugt werden. Die religiöse Erziehung ist Grundlage der gesamten Erziehung: »Alles was mit den Kindern geschieht, was ihnen erzählt und gezeigt wird, soll diesem Ziel dienstbar sein. Zeigst Du dem Kind eine Blume, so sprich zu ihm: ›Gott hat sie gemacht‹; genießt es das mitgebrachte Brot, so belehre es: ›Das kommt von Gott!‹ Das Kind selbst, wenn auch noch so jung, muß sich allmählich seiner hohen Bestimmung bewußt werden. Diese wird ihm stufenmäßig klar werden durch die Liebe, die ihm entgegengebracht wird. ›Es freut mich, daß ich so viele brave Kinder sehe; die braven Kinder habe ich sehr lieb und der liebe Gott im Himmel hat sie noch lieber. Bei uns sind schon viele brave Kinder; jetzt werden es noch mehr; das freut mich.‹«118 Die religiöse Erziehung im engeren Sinn befaßte sich mit dem Beten, dem Erzählen von lehrreichen und erbaulichen Geschichten moralischen Inhalts sowie leichtverständlichen biblischen Geschichten. Wegen der prinzipiellen Sündhaftigkeit des Menschen nahm die Erziehung zum Gehorsam einen wichtigen Platz im Rahmen der Erziehung in der Kinderbewahranstalt ein: »Die Gewöhnung an Gehorsam aus Liebe zu Gott (ist; E.K.) die kostbarste Frucht einer guten Bewahrschule, die ohne Zweifel den Grund legt zum wahrhaft tugendhaften Leben für die späteren Jahre. So haben alle: Kind, Eltern, Gemeinde, Schule, die ganze Gesellschaft das größte Interesse an der Kinderbewahrschule. In diesem Sinne ist also richtig der Satz, der die Devise der Kinderbewahr-Anstalt in Berlin bildet: Wer die Jugend hat, dem gehört die Gene115 Königstein: Fürsorge für noch nicht schulpflichtige Kinder. Rede auf dem 8. Charitastag am 6. Oktober 1903. In: Charitas. Zeitschrift für die Werke der Nächstenliebe im katholischen Deutschland. Jg.9. 1905, S.33. 116 Vgl. Krieg, Elsbeth: A.a.O, S.22ff. 117 Schwestern Athanasia und Eusebia: A.a.O., S.4. 118 A.a.O., S.4f.
203 Generation. In ganz besonderer Weise ist die Kirche interessiert bei der Kinderbewahrschule. Die Religion ist ja das Fundament aller Bildung. Wer aus Furcht vor dem allgegenwärtigen Gott das Böse unterläßt, hält viel sicherer stand in der Gefahr, als wer nur aus Anstandsrücksichten die Verletzung der sittlichen Ordnung unterläßt.«119 Durch die Androhung einer außerirdischen Strafinstanz sollten die kirchlichen Normen und Werte zu einer inneren Kontrollinstanz bei den Kindern werden, die auch im späteren Erwachsenenleben wirksam sein würde. Ziel der Gehorsamkeitserziehung war, daß die Kinder »lernen, gern, schnell und pünktlich zu gehorchen.«120 Die beiden Schwestern Athanasia und Eusebia schlugen vor, für größere, gehorsame Kinder jeden Samstag Striche ins goldene Buch einzutragen. Die Plätze wurden am Ende des Monats »nach dem Verdienste in Fleiß und Gehorsam« gewechselt.121 Die gehorsamen und fleißigen Kinder bekamen am Monatsende zur Belohnung ein Papierkreuz oder Papierstern als kleines Geschenk. »Auf Kommando machen die Kleinen recht häufig kleine Übungen des Gehorsams beim Wechsel der Beschäftigung oder wenn sie etwas ermüdet oder unruhig scheinen, z.B.: Alle Kinder zeigen mit dem Finger nach oben, nach unten, nach dem Fenster, nach der Thür! usw. Eine Hand hoch! Andere Hand hoch! usw... Ähnliche Übungen geschehen mit den Augen, dem Kopfe usw. Alles trägt zur Übung im Gehorsam bei, am meisten die Achtsamkeit der Leiterin auf pünktliche Erfüllung dessen, was geboten ist, auf daß der Gehorsam durch Übung zur festen Grundlage eines guten Lebens wird.«122 Die Erziehung zur Sittsamkeit, Ordnung und Pünktlichkeit, Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit und Arbeitsamkeit waren weitere wichtige Ziele der katholischen Erziehung. Eine einmal eingeführte Ordnung war streng beizubehalten: »Kommt aber so ein Gassenkind, dem, weil es nicht unter Aufsicht stand, zu seinem sittlichen Verkommen alle Freiheiten gestattet waren, jetzt in die Bewahrschule, so fügt sich so ein Kind nicht gern in die Ordnung. Gewöhnlich sucht es durch Weinen und Schreien seinen Willen durchzusetzen und trotzt oft Tage lang. Man gebe sich ja nicht den Schein, als ob man sich rühren lasse von solchen Thrähnen. Kalt und kurz sei das Benehmen gegen derartige Kinder. Die geduldige Ausdauer wird zuletzt triumphieren über den jungen Trotzkopf, und einmal besiegt, ist ein solches Kerlchen zu vielem Guten fähig.«123 Im Folgenden gibt der Stundenplan der Schwestern Athanasia und Eusebia einen Überblick über den Zeitplan der pädagogischen Arbeit in katholischen Kinderbewahranstalten:124 119 120 121 122 123 124
Königstein: A.a.O., S.34. Schwestern Athanasia und Eusebia: A.a.O., S.5. Ebenda. A.a.O., S.6. A.a.O., S.9. A.a.O., S.15.
21/4 - 21/2 21/2 - 23/4 23/4 - 31/2 31/2 - 33/4 33/4 - 4 4
1 - 1 /4 11/4 - 11/2 1 1 /2 - 21/4
1
8 - 8 /2 81/2 - 83/4 3 8 /4 - 9 9 - 91/4 91/4 - 91/2 91/2 - 101/4 101/4 - 101/2 101/2 - 103/4 103/4 - 11 11
1
Stunden.
Annahme der Kinder. Lied. Revision. Gebet. Flechten oder Stricken; die Kleineren schlafen. Zählen und Benennen der Dinge. Verschen lernen. Essen und Spielzeit im Freien. Kreisspiele im Freien. Lied. Gebet. Ankleiden. Revision. Hinausführen.
Nachmittag:
Nachmittag:
Annahme der Kinder. Lied. Revision. Gebet. Malen oder Flechten. Die Kleineren schlafen. Gesang mit Körperbewegung. Anleitung zur Höflichkeit. Essen und Spielzeit im Freien. Bildertafel. Sprechübung. Lied. Schlußgebet. Ankleiden. Revision. Hinausführen.
Annahme der Kinder. Lied. Revision. Gebet. Religiöse Unterhaltung. Stumme Körperbewegung, Bildchen. Gebete oder Verschen lernen. Essen und Spielzeit im Freien. Erzählen aus der bibl. Geschichte. Gesang. Schlußgebet. Ankleiden. Revision. Hinausführen.
Dienstag und Freitag.
Annahme der Kinder. Lied. Revision. Gebet. Religiöse Unterhaltung. Stumme Körperbewegung, Bildchen. Gebete oder Verschen lernen. Essen und Spielzeit im Freien. Erzählen aus der bibl. Geschichte. Gesang mit Körperbewegung. Schlußgebet. Ankleiden. Revision. Hinausführen.
Montag und Donnerstag.
VII. Stundenplan der Kleinkinder-Bewahrschule.
Annahme der Kinder. Lied. Revision. Gebet. Stricken oder Malen; die Kleineren schlafen. Gesang mit Körperbewegung. Benennen und Zählen der Dinge. Essen und Spielzeit im Freien. Erheiternde sittliche Erzählung. Lied. Gebet. Ankleiden. Revision. Hinausführen.
Nachmittag:
Annahme der Kinder. Lied. Revision. Gebet. Religiöse Unterhaltung. Stumme Körperbewegung, Bildchen. Gebete oder Verschen lernen. Essen und Spielzeit im Freien. Abfragen d. Erzählten a. d. bibl. Gesch. Verschen. Schlußgebet. Ankleiden. Revision. Hinausführen.
Mittwoch und Samstag.
204
205 Bei der Betrachtung des Stundenplans fällt auf daß die Tätigkeitssequenzen sehr kurz waren. Sie umfaßten fast ausschließlich nur 15 Minuten. Nur drei längere Sequenzen waren in dem Stundenplan vorgesehen. Zwei derselben, jeweils vormittags und nachmittags, beinhalteten »Essen und Spielzeit im Freien«, die Hofpausen. Diese 45 Minuten Spielzeit schränkte man aber wieder durch eine Reihe anderer Tätigkeiten ein. Die Spielzeiten wurden »durch Folgendes ausgefüllt: a. Das reihenweise Hinausführen der Kleinen mit geschlossenen Mündchen und ganz leisem Tritt. b. Das Austeilen der Körbchen oder ihres Inhaltes. c. Das Essen und Trinken. d. Das Einsammeln der Körbchen. e. Das Führen der Kinder zum besonderen Ort. f. Das Spielen. g. Das Hineinführen in die Schule. Eine solche bestimmte Ordnung ist für die Spielstunde einzuführen; man gehe auch nicht leicht davon ab, damit nicht die Spielstunde wieder alles verdirbt, was man in der Schule erstrebt.«125 Bei dieser Einteilung der Hofpause blieb für das eigentliche Spiel kaum Zeit. Den Kindern standen nach Abzug der anderen Tätigkeiten, für das selbsttätige Spiel maximal zwanzig Minuten zu, vermutlich eher weniger. Im freien Spiel sahen katholische Autorinnen die Gefahr, daß die eingeführte Ordnung untergraben würde. Neben der Hofpause wurde für den Nachmittag eine 45minütige Beschäftigung für die älteren Kinder vorgeschlagen, während die jüngeren Kinder schliefen. Diese Beschäftigungen waren die einzigen, für die man Material benötigte, während alle anderen Tätigkeiten ohne Material ausgeführt werden konnten. Die kurzen Beschäftigungssequenzen standen auch im Zusammenhang mit der Vorstellung von der Erbschuld und jener Einstellung, die im Menschen und auch Kind eine stärkere Neigung zum Bösen als zum Guten sah. Noch 1917 schrieb Johanna Huber, daß »in dem Ablassen müssen .. mehr erzieherischer Wert als in dem Ausleben lassen« liege.126 Die Schwestern Athanasia und Eusebia bemerkten, daß »zur Aufrechterhaltung einer guten Ordnung .. vorzüglich die Einführung und pünktliche Beobachtung eines den Ortsverhältnissen entsprechenden, festgesetzten Stundenplanes oder Beschäftigungsplanes (dient; E.K.) ... Man wechsele pünktlich mit den einzelnen Beschäftigungen nach dem Plan und hüte sich besonders davor, zu lange bei einem Gegenstande zu bleiben. Besser ist es, einige Minuten früher als zu spät aufzuhören.«127 125 A.a.O., S.161. 126 Huber, Johanna: Die religiös-sittliche Unterweisung des Kleinkindes im Kindergarten u. in der Familie. Kempten-München 1917, S.30. 127 Schwestern Athanasia und Eusebia: A.a.O., S.7.
206 Der Grundsatz der Erziehung in den katholischen Kinderbewahranstalten läßt sich wie folgt zusammenfassen: »›Immer beaufsichtigt, immer beschäftigt.‹ Das sei der Grundsatz für eine gute Anstalt. Damit wird ... das Böse im Keim erstickt und der gute Samen in gutes Erdreich gesenkt, welches hundertfältige Frucht bringt. Bedenken wir, was auf diese Weise geleistet werden kann, für die Zeit und die Ewigkeit der Kinder, besonders in Anstalten, woselbst diese von 7 Uhr morgens bis sechs Uhr abends untergebracht sind. - Da wird ein schlechter Einfluß, außer der Anstalt, doch kaum viel Schaden anrichten!«128 Abgesehen davon, daß Martha die pädagogischen Einflußmöglichkeiten der Kinderbewahranstalt bei weitem überschätzte, wird hier deutlich, daß durch die katholische Erziehung ein Beitrag zur Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung geleistet werden sollte. Die kurzen Sequenzen der Tätigkeiten, die rigiden Regeln, Spiele und Beschäftigungen wurde mit der Vorstellung der starken Neigung zur Sünde begründet, die durch eine rigide Erziehung im Interesse der Erreichung des Lebensziels der ewigen Seligkeit zu begegnen sei. Intendiert war durch diese Erziehung eine Persönlichkeitstruktur, die sich fremden Aurtoritäten und fremden Reglement unterwirft. Auch die von den Schwestern Athanasia und Eusebia vorgeschlagenen Beschäftigungen dienten diesem Ziel. Einen breiten Raum im Tageslauf nahm die religiöse Erziehung im engeren Sinn ein. Bezieht man Anfangs- und Schlußgebet der Vor- und Nachmittage in die religiöse Erziehung ein, so dauerte die Unterweisung täglich mindestens eine Stunde. Da während der Gesangszeit am Dienstag und Freitag auch religiöse Lieder gesungen wurden, erhöhte sich die Stundenzahl zusätzlich. Im Mittelpunkt der religiösen Erziehung standen das Gebet, die biblische Geschichte und die Vermittlung von anderen religiösen Themen wie »Gott unser Vater im Himmel«, »Gottes Macht«, »Gott belohnt das Gute und bestraft das Böse«, »Die heiligen Schutzengel«, »Das Kleid der Unschuld« und andere mehr.129 Diese Inhalte besprach man in der Einheit »religiöse Unterhaltung«. Mindestens viermal am Tag wurde mit den Kindern gebetet. Die katholischen Anleitungsbücher zur pädagogischen Arbeit in den Kinderbewahranstalten enthielten eine breite Palette von Gebeten. Die Inhalte der Gebete waren mit moralischen Verhaltensregeln und der Vorstellung von der Sanktionsinstanz Gottes verknüpft. Einige ausgewählte Gebete mögen als Beispiele dienen: Lieber Gott, nun segne mich, Auf den Knieen bitt’ ich Dich. Gieb mir einen guten Sinn, Daß ich immer folgsam bin. Mach’ mein Auge hell, Meine Füße schnell, Meine Hand bereit
Und mein Herz erfreut, Heut’ und allezeit Deinen heil’gen Willen Freudig zu erfüllen. Hör’ in Jesu Namen Dies Gebetchen! Amen.130
207 Mein Gott und Vater, höre mich! Für meine Eltern bitte ich, Erhalt’, beschütz’ und segne sie, Belohne ihre Sorg und Müh! Erhöre stets ihr frommes Fleh’n, Daß sie an mir nur Gutes seh’n. Amen.131 Schutzengel mein, ich bitte Dich, Bewahre vor der Sünde mich; Begleit’ am Abend mich zur Ruh’ Und ruf’ mir in den Träumen zu. Mit deinen Flügeln decke mich
Und früh am Morgen wecke mich, Treib mich zu Fleiß und Arbeit an, Und mach’, daß ich mich freuen kann.132 Gehorsam ist die erste Pflicht Für Kinder allezeit, Ein gutes Kind vergißt das nicht Und folgt mit Freudigkeit. Ich bin ein armes, kleines Kind Und meine Kraft ist schwach, Möchte gerne selig werden, Und weiß nicht, wie ich’s mach.133
Den Kindern wurden über diese Gebete Normen wie Gehorsamkeit, Fleiß, Disziplin und Ordnung vermittelt. Durch deren Verknüpfung mit der Sanktionsinstanz Gottes und dem Weiterleben nach dem Tod durfte die Notwendigkeit der Befolgung der Normen nicht hinterfragt werden. Die Unterweisung in die biblische Geschichte und Heiligenlegenden verknüpfte man mit ähnlichen Verhaltensregeln. In der Einheit»Anleitung zur Höflichkeit«wurdenVerhaltensweisen»beim Erwachen, beim Aufstehen, beim An- und Auskleiden, beim Essen, gegen die Eltern und Geschwister, gegen Verwandte, gegen Wohlthäter, gegen alte Leute usw.« besprochen.134 Erzählungen, Sprüche und Verse dienten der Unterstützung dieser Inhalte: Bist du sittsam und bescheiden, kann jedermann dich leiden.135 Was denkt ein braves Kind beim Aufstehen? Wenn ich aus meinem Bettchen geh’ Denk’ ich, daß mich mein Engel seh’, Und zieh’ geschwind die Kleider an, Daß jedermann mich sehen kann.136
128 Martha: Winke für Leiterinnen von Bewahranstalten, aus welchen auch Eltern, Kindergärtnerinnen, Bonnen und Kindermädchen manches lernen können. Donauwörth 1902, S.28. 129 Vgl. Schwestern Athanasia und Eusebia: A.a.O., S.17ff. 130 A.a.O., S.34.
Wie macht’s ein braves Kind auf der Straße? Draußen muß ich sittsam sein, Nicht schlagen, zanken oder schrei’n; Gott sieht immer, was wir thu’n, Seine Blicke auf uns ruh’n.137
131 A.a.O., S.39. 132 A.a.O., S.40. 133 Martha: A.a.O., S.38. 134 Schwestern Athanasia und Eusebia: A.a.O., S.53. 135 A.a.O., S.54. 136 Ebenda. 137 A.a.O., S.55.
208 Darf ein Kind auch fröhlich spielen? Lustig wie ein Vögelein Darf ein kleines Kind wohl sein; Immer fröhlich bei dem Spiel, Nicht zu lang und nicht zuviel.138
Wie beträgt sich ein artiges Kind in der Kinderschule? Sitz’recht still auf meinemPlätzchen, Sage aber laut mein Sätzchen; Beten, Singen, Jubilieren Wird als braves Kind mich zieren.139
Ebenso wie die oben angeführten Verse hatten viele der angeführten Lieder einen religiösen und/oder sittlichen Inhalt. Auch die Erzählungen und Spiele waren mit Verhaltensanweisungen verknüpft. Durch das Memorieren dieser Verse, wie auch der Gebete und Lieder, wurden Inhalte vermittelt, die dazu beitragen sollten, ebenso wie über die Gehorsamkeitserziehung, die soziale Kontrolle über das eigene Verhalten irreversibel im Individuum zu verankern. Die »Stummen Körperbewegungen« und »Bildchen«, die täglich durchzuführen seien, dienten hauptsächlich der Einübung in Gehorsam und Disziplin. Auf kurze Kommandos wurden fest vorgeschriebene Bewegungen ausgeführt.140 Auch Übungen, die unter dem Begriff »Förderung der intellektuellen Fähigkeiten« eingeordnet werden können, wie »Benennen und Zählen der Dinge« und »Sprechübungen«, dienten der Einübung in Disziplin, Ordnung und Gehorsam. Die Kinder zeigten nach Befehl zum Beispiel bestimmte Dinge und übten, die Tätigkeiten richtig zu benennen. Verschiedene Dinge und Ereignisse wurden besprochen, gezeigte Gegenstände gezählt und anderes mehr. Beim Unterricht, zu dem sowohl die Sprechübungen, das Benennen und Zählen der Dinge als auch das Lernen von Liedern und Versen, das Erzählen und Abfragen von Geschichten gehörten, erwartete man von dem Kind festgelegte Verhaltensweisen. So müsse es, sobald es aufgerufen wird »mit ineinandergelegten Händchen vor der Brust haltend aufstehen und laut, mit deutlichen Worten antworten. Die anderen lassen dann ihre Finger sogleich ab; Aufspringen, Rufen, Vorsagen darf man nicht einschleichen lassen.«141 Die angeleiteten Spiele und Beschäftigungen dauerten jeweils nur eine viertel Stunde, dagegen wurde für Tätigkeiten wie Malen, Flechten, Steinchenlegen und Bauen insgesamt eine dreiviertel Stunde am Nachmittag angesetzt. Diese Arbeiten sollten, nach den Schwestern Athanasia und Eusebia, nur von den älteren Kindern durchgeführt werden, die jüngeren Kinder hielten in diesem Zeitraum ihren Mittagsschlaf. Die beiden Schwestern nannten diese Tätigkeiten der älteren Kinder Beschäftigungsspiele. Die Kinder hatten bei denselben »ihre bestimmten Plätze, die sie ohne Erlaubnis der Ordnung wegen nicht wechseln dürfen.«142 Während die Beschäftigungsvorschläge der Schwestern noch sehr beschränkt 138 139 140 141 142
Ebenda. Ebenda. Vgl. diese Arbeit, S.226f. Schwestern Athanasia und Eusebia: A.a.O., S.14. A.a.O., S.217.
209 waren, verwiesen Emy Gordon und Regine Strobel143 auf Fröbelsche Beschäftigungsangebote, wie den Ball, die Kugel, die Walze und den Würfel in mehrfach geteilter Form, Legetäfelchen, Stäbchen und Ringe zum Legen, Ausstechen, Ausnähen und Falten.144 Die Beschäftigung mit diesen Gegenständen geschah nach einer strengen Ordnung und dauerte, Gordon zufolge, eine halbe bis dreiviertel Stunde.145 Wenn auch die beiden Autorinnen während des Tagesverlaufs für die verschiedenen Spiele und Beschäftigungen jeweils mehr Zeit einplanten, so bestanden beide doch auf der exakten Einhaltung der vorgegebenen Ordnung. Auch Johanna Huber sah noch 1917 in der Überwachung der Kinder und einer rigiden Erziehung die Haupttätigkeit der Erzieherin in den Kleinkindinstitutionen. Gordons Inhalte hatten, von der Einführung der Fröbelschen Materialien abgesehen, große Ähnlichkeit mit denen der Schwestern Athanasia und Eusebia. Dagegen bezog Strobel Tätigkeiten mit ein, die ganze Einheiten zu einem bestimmten Thema umfaßten und Exkursionen, Übungen, Bewegungsspiele, Lieder und Erzählungen einschlossen, ähnlich den Praktiken der Volkskindergärten und den Empfehlungen evangelischer Autorinnen. Ihre beiden ausführlichen Beispiele zum Tagesablauf, jeweils für Sommer und Winter, lassen aber solche Einheiten nicht erkennen. Die Beispiele ähnelten den Inhalten der beiden Ordensschwestern. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß eine Entwicklung innerhalb der Pädagogik der Vorschulerziehung für Arbeiterkinder nur in ersten Ansätzen festzustellen war. Man empfahl die Übernahme der Fröbelschen Materialien und die Einführung der Haus- und Gartenarbeit. Bei Gordon standen diese Tätigkeiten als Einzelbeschäftigung zusammenhanglos neben den übrigen Angeboten. Strobel beschrieb zwar dem Monatsgegenstand nachempfundene Einheiten, in ihren beiden Praxisbeispielen kamen jedoch solche Einheiten nicht zum Tragen. Im Ganzen gesehen ist bei den Autorinnen nach der Jahrhundertwende noch eine starke Orientierung an dem Buch der Ordensschwestern Athanasia und Eusebia festzustellen. Die Spiele, Beschäftigungen und der rigide Tagesablauf standen bei allen katholischen Autorinnen in einem engen Zusammenhang mit der Vorstellung der Erbschuld. Die religiöse Erziehung und die Erziehung zum Gehorsam standen im Mittelpunkt der katholischen Pädagogik in den Kinderbewahranstalten. Ziel der Erziehung war es, das »stärkere Böse« im Kind zu bekämpfen. Die Heranbildung eines unterwürfigen Katholiken und Staatsbürgers, der weder die kirchliche Macht noch die gesellschaftspolitische Ordnung in Frage stellte, sollte die kirchlichen Interessen absichern und die politische Herrschaft aufrechterhalten. Die Schulung der Feinmotorik, die Einübung des exakten und disziplinierten Arbeitens geschah in jeder Hinsicht im Interesse der Unternehmer. 143 144 145
Vgl. Gordon, Emy: A.a.O. Strobel, Regine: Lehrbuch für die katholische Kindergärtnerin. Essen-Ruhr 1908. Vgl. diese Arbeit, S.222ff. Vgl. Gordon, Emy: A.a.O., S.21.
210 8.4 Vergleich der pädagogischen Ansätze Die drei verschiedenen pädagogischen Ansätze der institutionellen Betreuung von Arbeiterkindern - dem Volkskindergarten, die evangelischen Kleinkindanstalten und die katholischen Kinderbewahranstalten - weisen einige Gemeinsamkeiten auf, weichen aber teilweise stark voneinander ab. Im Folgenden werden anhand einiger exemplarischer Beispiele die Gemeinsamkeiten und Unterschiede anhand der Dimensionen Politik, Kultur und Sozialstruktur analysiert. Diese drei Dimensionen sind auf das engste miteinander verknüpft und lassen sich nicht unabhängig voneinander betrachten. Dagegen können die pädagogischen Intentionen bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklungen und Interessen relativ klar abgegrenzt untersucht werden. Diese Analyse ist einem eigenen Unterkapitel gewidmet. In allen drei pädagogischen Ansätzen wird von einer gleichen kulturellen Grundeinstellung ausgegangen, die sich bei genauer Betrachtung jedoch ausdifferenzieren: Zum einen betrifft das das Bild vom Kind, zum anderen das bürgerliche Familienideal. Das Kind wird als Mängelwesen interpretiert. Diese Vorstellung verband man mit der Idee von der basalen lebensgeschichtlich folgenreichen Phase der frühen Kindheit, die durch eine hohe Formbarkeit geprägt sei. In diesem Kontext gewann die Familie und die enge Mutter-Kind-Beziehung an Bedeutung. Sie ist der Ort, in dem die Erziehung in der frühkindlichen Phase ihren natürlichen Platz hat und die Frau ihrer weiblichen Bestimmung gemäß leben kann. Dies war eine damals gesellschaftlich anerkannte Position146.Von den Pädagog/innen der drei Ansätze wurde dementsprechend die Familie als Basis der Gesellschaft verstanden. Man wies ihr die Aufgabe zu, dem Kind die gesellschaftlich anerkannten Normen und Werte zu vermitteln. Nach Einschätzung der Vertreter/innen der drei pädagogischen Richtungen, wie auch der Vertreter von Politik und Wirtschaft147, konnten proletarische Familie diese Aufgabe nicht mehr erfüllen: Einerseits waren viele Mütter aufgrund der notwendigen Erwerbstätigkeit über lange Zeiten von zu Hause abwesend. Andererseits wurden ihnen erzieherische Fähigkeiten abgesprochen. Die öffentliche Kleinkinderziehung trat hier als Ersatz subsidiär an die Stelle der Familie. Ihr wurde die Aufgabe zugewiesen, das Kind vor psychischer und physischer Vewahrlosung zu bewahren und es gleichzeitig in eine proletarische Sittlichkeit hinein zu sozialisieren, die ihm in Zukunft ermöglichen würde, sein Los fraglos zu akzeptieren148. Verbunden wurde 146 Vgl. Reyer, Jürgen: Einführung in die Geschichte des Kindergartens und der Grundschule. Bad Heilbrunn 2006, S.61ff. Rabe-Kleeberg, Ursula: Mütterlichkeit und Profession - oder: Mütterlichkeit, eine Achillesferse der Fachlichkeit? In: Angelika Diller und Thomas Rauschenbach (Hrsg.): Reform oder Ende der Erzieherinnenausbildung? Beiträge zu einer kontroversen Fachdebatte. München 2006, S.98f. (Deutsches Jugendinstitut Hrsg.: DJI-Fachforum Bildung und Erziehung. Bd. 4). 147 Vgl. diese Arbeit, S.111ff, 176ff,189f, 201f. 148 Vgl. diese Arbeit, S.177ff, 190ff, 202ff.
211 diese Uminterpretation des bürgerlichen Familienideals von den Protagonistinnen des Volkskindergartens mit der Vorstellung der geistigen Mütterlichkeit, nach der die Mutterschaft aus dem biologischen Kontext gelöst wurde und die weiblich anerkannte Rolle auch in der öffentlichen Kleinkinderziehung gelebt werden konnte149. Dies eröffente den bürgerlichen Frauen eine gesellschaftlich akzeptierte Berufstätigkeit und erfüllte damit eine der Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung150. Wenn auch von den Vertreter/innen der beiden Kirchen die geistige Mütterlichkeit nicht direkt thematisiert wurde, so dachte man doch den geistigen Stand, den Dienst an Gott und die Bestimmung der weiblichen Rolle, die Aufgabe der Erziehung der Kinder in den Kleinkindeinrichtungen, implizit zusammen. Bei den Aufgaben, die die Protagonist/innen der drei Ansätze der Kleinkindpädagogik im Kontext politischer und sozialer Einschätzungen zuwiesen, lassen sich ebenfalls Grundübereinstimmungen finden, aber auch eine Reihe von Unterschieden herausarbeiten. In allen allen drei Richtungen intepretierte man ausgehend von einem patriarchalisch-hierarchischen Gesellschaftsbild die sozialen Probleme der Zeit individualisierend als Folge des sittlichen Versagens breiter Bevölkerungsschichten und dem Verfall der Familien. In diesem Kontext wurden die sozialdemokratische und die gewerkschaftliche Bewegung als Gegenpol der gesellschaftlichen Ordnung wahrgenommen. Der Kampf der Arbeiterbewegung nach Gleichberechtigung und Emanzipation der Proletarier verstanden die Vertreter/innen aller drei Richtungen als unbillige Forderungen und sahen diese politische Richtung tendenziell als Bedrohung der bestehenden und der von den Pädagog/innen anerkannten gesellschaftspolitischen Verhältnisse. Ihr Engagement in der Pädagogik war deshalb mit dem Ziel verknüpft, durch Erziehung zur Stabilisierung der tradierten gesellschaftlichen Strukturen und Ordnungen beizutragen und die Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung zu bekämpfen. In der Interpretation der Ursachen der zeitgenössischen Probleme sind jedoch Unterschiede zwischen den drei Protagtonist/innen festzustellen. Während die Vertreter/innen des Volkskindergartens die »Unsittlichkeit und Arbeitsscheu« breiter Bevölkerungsschichten im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen und mangelnder Bildung interpretierten151, entwickeln beide christliche Konfessionen einen anderen Begründungszusammenhang. Sie konstatierten einen religiössittlichen Verfall, der in einer zunehmenden Glaubenslosigkeit breiter Bevölkerungsgruppen gründet. In diesem Kontext wurde die soziale Problematik mit den 149 Vgl. Konrad, Michael: Der Kindergarten. Seine Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Freiburg im Breisgau 2004, S.96. Rabe-Kleberg, Ursula: A.a.O., S.101ff. 150 Die Verknüpfung von Mütterlichkeit mit beruflicher Tätigkeit ist bezüglich berufspolitischer Positionen und professionellen Handelns nicht unkritisch zu sehen. Vgl. Rabe-Kleberg, Ursula: A.a.O., S.99ff. Sachße, Christoph: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 18711929. Frankfurt am Main 1986, S.111ff. 151 Vgl. diese Arbeit, S.176ff, 178ff.
212 Folgen der Erbschuld, dem Hang zum Bösen, und der Situation der jeweiligen Kirche interpretiert. Aufgrund der Verweltlichung des gesellschaftlichen Lebens und der Abwendung breiter Bevölkerungskreise von den Lehren der christlichen Kirchen könne die Entsittlichung als Folge der Erbschuld nicht mehr gebannt werden152. Entsprechend der Ursachenerklärung der Vertreter/innen der drei pädagogischen Richtungen, unterschieden sich die Ziele, die in den theoretischen Abhandlungen und praktisch-pädagogischen Vorschlägen formuliert wurden. Zwar wollten alle drei eine neue Sittlichkeit in der Arbeiterschaft verankern und dadurch zur Befriedung des Proletariats beizutragen, aber in ihren weiteren Begründungszusammenhängen werden starke Unterschiede deutlich: Während das pädagogische Denken von Marenholtz-Bülow auf der Kulturstufentheorie basierte und bei Schrader-Breymann die Idee der Mütterlichkeit im Vordergrund stand, betonen die Vertreter/innen der beiden christlichen Konfessionen die Gefahr der prinzipiellen Sündhaftigkeit des Individuums als Folge der Erbschuld. Jedoch wurde in den evangelischen pädagogichen Schriften diese weniger stark betont, sondern die Heilsgewißheit des Menschen und die Möglichkeit der durch die Erbschuld verloren gegangenen Wiederherstellung der Ebenbildlichkeit Gottes hervorgehoben153. Aufgrund der divergierenden Vorstellungen unterschieden sich die Lösungsstrategien zur sozialen Frage und zur Bekämpfung der Arbeiterbewegung. Marenholtz-Bülow wollte durch Ästhethik und Kunst sowie durch Arbeitserziehung die Versittlichung des Individuums errreichen. Bei Schrader-Breymann dagegen standen zur Erreichung dieses Ziels hauswirtschaftlich-mütterliche Tätigkeiten zur Stärkung der sittlichen und erzieherischen Kraft der Familien im Vordergrund154. Für beide Pädagoginnen nahm die Arbeit mit den Fröbelschen Materialien, entsprechend des jeweiligen Grundverständnisses, einen wichtigen Platz im pädagogischen Denken und Handeln ein. Insgesamt entwickelte Schrader-Breymann eine umfassende pädagogische Konzeption, die mit ihren Einrichtungen weit über die Grenzen der Kleinkinderziehung hinausreichte155. Dagegen forderten die kirchlichen Vertreter/innen, daß das jeweilige konfessionelle Gedankengut Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung sein müsse. Deshalb wurde religiöse Erziehung, verknüpft mit der Vermittlung sittlicher Tugenden, wie zum Beispiel Gehorsam, Disziplin und Fleiß, eine besondere Bedeutung in den pädagogischen Zielen eingeräumt156. Insgesamt wird in den Bewertungen der Ursachen der Probleme der Zeit und den Entwürfen diese zu lösen ein Unbehagen mit den Veränderungsprozessen in Folge der Umstellung von der Agrar- zur Industriekultur und 152 153 154 155 156
Vgl. diese Arbeit, S.188ff, 200ff. Vgl. diese Arbeit, S.191ff. Vgl. diese Arbeit, S.178ff. Vgl. diese Arbeit, S.179. Vgl. diese Arbeit, S.190ff, 202ff.
213 den damit verbunden Urbanisierungsprozessen deutlich. Die sozialen Verwerfungen, das schnelle Ansteigen der Bevölkerung in den Städten, die Modernisierungsprozesse in der Industrie und im Leben der Bevölkerung führte bei der bürgerlichen Schicht zur Verunsicherung und der Furcht, ihre gerade errungene Machtstellung nicht mehr erhalten zu können157. Auch in den pädagogischen Konzeptionen unterschieden sich die Vertreter/innen der drei Richtungen. Marenholtz-Bülow lehnte die Erbschuld zwar nicht ab,158 diese kam aber in ihrer Pädagogik nicht zum Tragen. In ihrer Konzeption war die Kulturstufentheorie von Bedeutung. Durch Fröbelsche Materialien würde »das Künstlerische und Ästhetische, das Ideale überhaupt in der Kinderseele« geweckt.159 Schrader-Breymann hingegen sah in der Einführung des Familienprinzips und des Monatsgegenstands eine wichtige Grundlage zur sittlichen Erziehung. Sie beuge der Zersplitterung, Oberflächlichkeit und Zerstreutheit vor der modernen Welt vor160. Dagegen betrachteten die Pädagog/innen beider kirchlicher Konfessionen unerwünschtes kindliches Verhalten als Folge der prinzipiellen Sündhaftigkeit des Menschen. Diese Folgen galt es ihrer Meinung nach durch eine entsprechende Erziehung zu unterdrücken und auf der Basis der religiösen Erziehung das Kind zur Sittlichkeit zu führen. Die evanglische Pädagogik präferierte jedoch eine weniger rigide Erziehung als katholischenVertreterinnen. Dies kann im Zusammenhang mit der Vorstellung der Heilsgewissheit und der pädagogischen Aufgabe, das Kind durch entsprechende Erziehung zur Ebenbildlichkeit Gottes zu führen, interpretiert werden161. Diese unterschiedlichen sozialgesellschaftlichen und kulturellen Analysen schlagen sich auch in den Vorschlägen zur pädagogischen Praxis nieder. Anhand ausgewählter pädagogischer Inhalte werden im Folgenden exemplarisch maßgebliche Differenzen in den pädagogischen Auffassungen diskutiert: Stundenplan, Freispiel, religiöse Erziehung, Erziehung zum Gehorsam, körperliche Pflege, Bewegungserziehung und Beschäftigungen. 157 Vgl. Berg, Christa und Ulrich Herrmann: Industriegesellschaft und Kulturkrise. Ambivalenzen der Epoche des Zweiten Deutschen Kaiserreichs 1870-1918. In: Christa Berg: (Hrsg:) Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd.IV. 1870-1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des ersten Weltkriegs. München 1991, S.10f. Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung. Frankfurt am Main 1985, S.69ff. Sachße, Christoph: A.a.O., S.20ff. Vgl. diese Arbeit, S.125ff. 158 Vgl. Denner, Erika: Das Problem der Orthodoxie ... a.a.O., S.76. Nach Fröbel ist im Gegensatz zu Marenholtz-Bülow der Mensch »prinzipiell gut, das heißt analytisch-konstruktiv, bewußt und produktiv. Den nicht-produktiven, bewußtlos lebenden Menschen kennt Fröbel auch. Diese Entfremdung kommt durch falsche Erziehung, durch soziale Einflüsse zustande.« Heiland, Helmut: Friedrich Fröbel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1982. (Rowohlts Monographien. Hrsg. Kurt und Beate Kusenberg), S.76. 159 Marenholtz-Bülow, Bertha von: Die Arbeit ... a.a.O., S.28. 160 Vgl. diese Arbeit, S.180. 161 Vgl. diese Arbeit, S.191ff.
214 Beim Vergleich der Stundentafeln fällt auf, daß für die Phasen der Spiele und Beschäftigungen eine unterschiedliche Zeitdauer angegeben wurde. Im Stundenplan von Damrow variierten diese zwischen einer halben und einer Stunde. Die Anfangsphase beziehungsweise die Pause wurde bei den Kindern ab dem vierten Lebensjahr jeweils auf eine viertel Stunde begrenzt. In den evangelischen Instruktionen sah man Phasen von einer halben Stunde und mehr vor. Während der Sommermonate sollte bei gutem Wetter der größte Teil des Tages im Hof verbracht werden. Der Stundenplan der katholischen Ordensfrauen Athanasia und Eusebia dagegen war in kurze Sequenzen eingeteilt, die in der Mehrheit einen Zeitraum von einer viertel Stunde umfaßten. Dieser Stundenplan war rigide einzuhalten162. Das Freispiel wurde in Damrows Plan nicht erwähnt.163 Es ist aber denkbar, daß in den Phasen der Versammlung - bei der Klasse III eine halbe Stunde und der Klasse II sowie in der Pause der Klassen I und IB eine viertel Stunde, möglicherweise auch in der Ruhepause frei gespielt werden durfte. Die Autor/innen der evangelischen Kleinkinderschulen schlugen dagegen lange Zeiten von bis zu drei Stunden bei der Ankunft am Vor- und Nachmittag und der Frühstückspause für das Freispiel vor. Dagegen sahen katholische Autorinnen im Freispiel eher die Gefahr der Aufweichung einer einmal gegebenen Ordnung. Im Spiel ohne Anleitung befürchtete man, daß sich das stärkere Böse durchsetze. Aus diesem Grund waren die Freispielphasen sehr kurz gehalten164. Bei der Analyse der Stundenpläne und des Freispiels der drei pädagogischen Konzeptionen fällt auf, daß die katholische Vorstellung rigider war als die evangelische und die des Volkskindergartens. Dies liegt offensichtlich darin begründet, daß innerhalb der katholischen Pädagogik die Folgen der Erbschuld, das heißt die Gefahr der Durchsetzung des stärkeren Bösen, einen höreren Stellenwert als in der protestantischen Richtung hatte. In der evangelischen Konfession wird zwar auch die prinzipielle Sündhaftigkeit als Folge der Erbschuld anerkannt165, aber in den zeitgenössischen pädagogischen Schriften standen die Entwicklung positiver Gefühle gegen Gott und erwünschtes Handeln aus Dankbarkeit ihm gegenüber und seinen irdischen Vertreter/innen im Vordergrund. Dagegen hatte in der Pädagogik des Volkskindergartens die Erbschuld keine Bedeutung, Nach der Fröbelschen Lehre wurde das prinzipiell Gute im Kind betont166. Dies sei durch entsprechendes pädagogisches Handeln zu fördern. 162 Vgl. diese Arbeit, S.182, 194, 204. 163 Vgl. diese Arbeit, S.182ff. Damrow war, wie schon erwähnt, Leiterin der Schulkindergärten. Ihr pädagogisches Anliegen schien vor allem in der körperlichen Kräftigung der Kinder und in der Kompensation der Entwicklungsdefizite zu liegen, die sie auf die Sozialisationsbedingungen der Unterschichtkinder zurückführte. 164 Vgl. diese Arbeit, S.194f, 204f. 165 Vgl. Härle, Wilfried: Dogmatik. 3.,überarb.Aufl. (de Gruyter Lehrb.). Berlin, New York 2007, S.461ff. 166 Vgl. Heiland, Helmut: Friedrich Fröbel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1982, S.76.
215 Die religiöse Erziehung hatte bei beiden kirchlichen Einrichtungen einen hervorgehobenen Stellenwert. Dies liegt in den entsprechenden gesellschaftlichen Analysen begründet, nach der die sozialen Probleme der Zeit mit der Entchristlichung und der mangenden religiösen Erziehung in der Familie in Verbindung gebracht wurden. Den Einrichtungen hatten die Aufgabe einen Ersatz für diesen Mangel zu bieten. Den Kindern sollten täglich biblische oder religiös-sittliche Geschichten erzählt werden. Man lernte und sprach Gebete mit ihnen und sang religiöse Lieder. Nach der Instruktion der beiden katholischen Ordensschwestern Athanasia und Eusebia war die Beschäftigung mit religiösen Inhalten über mehrere Zeiteinheiten zu verteilen. Die Gebete und Lieder waren mit einem sittlichen Verhaltenskodex verknüpft, die von den Kindern internalisiert werden und damit als Maßstab für ihr Verhalten in ihrem Kinder- und späteren Erwachsenendasein gelten sollte. Dagegen wollte man in den Volkskindergärten die religiöse Erziehung in das allgemeine Geschehen einbetten. Die Kinder seien anhand von Erlebnissen aus ihrer Umwelt zur Religiosität zu führen. Religion wurde hier als Teil der Gesamtpädagogik verstanden, die organisch in das Tagesgeschehen einzugliedern waren167. Entsprechend den unterschiedlichen politischen und sozialen Einschätzungen sowie den kulturellen Hintergründen stand insgesamt die Erziehung zum Gehorsam bei den kirchlichen Autor/innen stärker im Mittelpunkt als bei den Vertreterinnen der Volkskindergärten, wenn auch bei diesen Gehorsam und Unterordnung unter die Autorität der Erzieherin ebenfalls bedeutsam waren. Die stärkere Betonung der Gehorsamkeitserziehung in den Schriften der beiden christlichen Vertreter/innen stand im Zusammenhang mit den Glaubenslehren der beiden Kirchen, nach der die weltliche Obrigkeit Stellvertreter Gottes seien und der Gehorsam oder Ungehorsam gegen diese gleichgesetzt wurde mit dem gegenüber Gott und seinen Geboten. Das menschliche Verhalten unterlag nach dieser Interpretation der göttlichen Sanktionsinstanz. Auch hier erweist sich die katholische Pädagogik rigider als die evangelische. Dies zeigt sich unter anderem in der Handhabung der Eingewöhnungsphase, in der den Kindern bei der Einübung in den Gehorsam gegenüber der Autorität der Erzieherinnen einen gewissen Spielraum einräumt werden sollte. Aber trotz dieser abgemilderten Form wurde auch dort die Gehorsamserziehung prinzipiell als Grundlage der pädagogischen Arbeit verstanden168. Durch die Verknüpfung der Gehorsamforderung mit dem göttlichen Willen und den spezifischen Methoden der Einübung in Gehorsam und Unterordnung sollten Dispositionen für ein Verhalten im späteren Erwachsenenleben gelegt werden, die auf eine kritiklose Akzeptanz der gegebenen gesellschaftspolitischen Verhältnisse und dem Proletariererleben zielte. 167 168
Vgl. diese Arbeit, S.186f. Vgl. diese Arbeit, S.203.
216 Bei den Autor/innen der Volkskindergärten standen die körperliche Pflege, die Gesunderhaltung und die Kompensation von Entwicklungsdefiziten im Vordergrund. Diese sollten mit einer moralisch-sittlichen Erziehung verknüpft werden, die mit Sozialisationsdefiziten der Unterschichtkinder begründet wurden. Dagegen war das Hauptziel der konfessionellen Autorinnen, bei den katholischen ausgeprägter als bei den evangelischen, die Erziehung zu einem christlich-moralisch orientierten Menschen. Die Erziehung zur körperlichen Entwicklung und die Ausbildung der kognitiven und motorischen Fähigkeiten wurden dem oben genannten Erziehungsziel zugeordnet. Diese Zielvorstellung waren ebenso, wie bei der Gehorsamkeitserziehung mit den jeweiligen kirchlichen Lehren und der Einschätzung sozialer Probleme verknüpft169. Der Bewegungserziehung wurde in denVolkskindergärten einen breiten Raum eingeräumt. Täglich standen nach dem Stundenplan von Damrow eine Stunde für Turnen zur Verfügung, wobei in der Klasse III für diese Stunden »Turnen, Bewegungserziehung«, für die Klassen II und I beziehungsweise IB »Turnen, Spiel, Gartenbau« angegeben wurden170, so daß für jede der unterschiedlichen Altersgruppen pro Woche sechs Stunden zur Verfügung standen. Die Bewegungserziehung wurde in den Dienst der Gesundheitsförderung gestellt, aber auch gleichzeitig dienten diese und andere Bewegungsübungen und -spiele der Erziehung zum Gehorsam. Auch die evangelischen Autor/innen betonten die Notwendigkeit der Bewegungserziehung, da Kinder nicht lange stillsitzen könnten. Im täglichen Wechsel wurde entweder eine halbe Stunde für Turnen oder für Bewegungsspiele eingeräumt, so daß pro Woche insgesamt drei Stunden für die Bewegungserziehung zur Verfügung standen. Neben der gesundheitheitlichen Förderung sahen die evangelischen Pädagog/innen ebenso wie die Autor/innen der Volkskindergärten in der Bewegungserziehung die Möglichkeit, Gehorsamkeit zu vermitteln. Dagegen beurteilten die beiden Ordensschwestern Athanasia und Eusebia die Bewegungserziehung in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Erziehung zum Gehorsam und erst in zweiter Linie als Notwendigkeit, die Stillsitzphasen durch Bewegungen zu unterbrechen. Turnen war auf dem Stundenplan der beiden Ordensschwestern nicht verzeichnet. Die Bewegungserziehung beschränkte sich dort auf Gesang mit Körperbewegungen und Kreisspiele. Für sie war zweimal in der Woche am Vor- und Nachmittag jeweils eine viertel Stunde, an den anderen Tagen nur nachmittags jeweils eine viertelstündige Übung vorgesehen171. Insgesamt standen pro Woche zwei Stunden für diesen Bereich zur Verfügung. Die beiden Autorinnen zählten auch Körperbewegungen und Bildchen machen172 zur Bewegungserziehung. Jedoch handelt es sich bei diesen Übungen ausschließlich 169 170 171 172
Vgl. diese Arbeit, S.183ff, 193f, 197f, 200ff. Damrow, a.a.O., S.13f. Vgl. diese Arbeit, S.182f, 186, 194, 197f, 204. Vgl. diese Arbeit, S.226f.
217 um eng begrenzte feinmotorische Beschäftigungen, so daß sie mit Bewegungsangeboten über verschiedenartige Spiele oder dem Turnunterricht der beiden anderen pädagogischen Ansätze nicht verglichen werden können. Für die übrigen Beschäftigungen schlugen die Autorinnen der Volkskindergärten vor, sie unter ein Rahmenthema zu stellen. Es sollten Themen behandelt werden, die den Interessen der Kinder entsprächen und an deren Erfahrungen anknüpften. In diesen waren sinnliche Erfahrungen, aktives Handeln und Exkursionen eingeschlossen. Allerdings gab Schrader-Breymann in ihrem Plan der Monatsgegenstände feste Themen für jeden Monat vor. Auch der Ablauf des vorgestellten Monatsgegenstandes bei Pudmensky ist genau durch einzelne Sequenzen festgelegt. Neben diesen vorgegebenen Anordnungen sollte den Kindern auch die Möglichkeit eingeräumt werden, frei mit den Fröbelschen Materialien im Rahmen des gemeinsamen Themas umzugehen, das heißt, mit ihnen zu spielen. Die Kinder sollten ferner zur freien Gestaltung angeregt werden. Die evangelischen Autor/innen bezogen früher als die katholischen Pädagog/innen das Fröbelsche Beschäftigungsmaterial in ihre pädagogischen Vorschläge mit ein. Diesen waren im vorgestellten Stundenplan täglich eine halbe Stunde gewidmet. Die anderen Beschäftigungen bezogen sich auf erzählende und betrachtende Aktivitäten. Nach der Jahrhundertwende wurden zunehmend Möglichkeiten der Behandlung von Rahmenthemen für die pädagogische Arbeit in den evangelischen Publikationen vorgestellt. Allerdings scheint es, als sollte die Einbeziehung der Fröbelschen Materialien rigider gestaltet werden. Die Anweisungen schlugen Arbeitsmöglichkeiten vor, die sehr ins Detail gingen, während die Vorschläge zur Arbeit mit den Beschäftigungsmitteln von den Autorinnen der Volkskindergärten173 großzügiger behandelt wurden. Vor der Jahrhundertwende lehnten katholische Pädagoginnen die Fröbelschen Pädagogik weitgehend ab. Bei den Ordensschwester Athanasia und Eusebia standen erzählende, betrachtende und zu memorierende Aktivitäten im Vordergrund. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts änderte sich allmählich die Haltung zur Fröbelschen Pädagogik. Einige Autorinnen, die als Vorkämpferinnen für den Einsatz der Fröbelschen Materialien in katholischen Institutionen gelten, versuchten mit ihren Schriften Elemente dieser Pädagogik in katholischen Kreisen bekannt zu machen. Allerdings wurden diese Materialien eher als isolierte Tätigkeitsmöglichkeiten angesehen, die nur sehr eingeschränkt eingesetzt werden sollten. Die Behandlung von themengebundenen Schwerpunkten, wie den Monatsgegenständen, wurde zu dieser Zeit nicht thematisiert174. 173
Vgl. Kindergarten. Zeitschrift des Fröbel-Verbandes. Die Zeitschrift wandte sich sowohl an Erzieherinnen der Kindergärten (Einrichtungen, die in der überwiegenden Mehrzahl von Kindern aus der bürgerlichen Schicht besucht wurden) als auch an Erzieherinnen der Volkskindergärten, die in der überwiegenden Mehrzahl von Unterschichtkindern besucht wurden. 174 Vgl. diese Arbeit, S.209.
218 Die Einbeziehung einiger Fröbelscher Beschäftigungsmittel wurde den kirchlichen Pädagog/innen dadurch erleichtert, daß die Fröbelianer/innen die Fröbelsche Pädagogik aus ihrem metaphysischen und politischen Zusammenhang herauslösten. Die beiden Hauptvertreterinnen der Volkskindergärten trugen zur Mechanisierung und Verschulung der Fröbelschen Pädagogik bei. Dies kam den rigiden Erziehungskonzeptionen der konfessionellen Pädagogi/nnen entgegen und ermöglichte die Übernahme einiger Fröbelscher Elemente in die Erziehungsarbeit der kirchlichen Einrichtungen. Die Einschätzung der gesellschaftspolitischen Entwicklung und die Strategien zur Lösung der sozialen Probleme hatten bei den Pädagog/innen der drei Richtungen der öffentlichen Kleinkinderziehung - von der Lehre der Erbschuld abgesehen - unübersehbare Gemeinsamkeiten. Die Konzeption der Arbeitserziehung, die Marenholtz-Bülow vertrat, und die hausmütterlichen Tätigkeiten sowie der Monatsgegenstand, die Schrader-Breymann entwikkelte, standen im Zusammenhang mit den gesellschaftspolitischen Einstellungen beider Frauen. Diese wichen in ihren Grundaussagen nicht von der gesellschaftspolitischen Einschätzung der kirchlichen Autor/innen ab. Jedoch waren diese in die jeweiligen kirchlichen Vorstellungen und ihren spezifischen Glaubenslehren eingebettet. Aufgrund der gleichen politischen Zielrichtung konnten die pädagogischen Konzeptionen von Marenholtz-Bülow und Schrader-Breymann problemlos in den Katalog der pädagogischen Maßnahmen kirchlicher Einrichtungen aufgenommen und mit der Glaubenslehre beider Konfessionen verknüpft werden. Grundsätzliche pädagogische Positionen mußten bei der Übernahme einiger Fröbelscher Elemente und verschiedener Aspekte der Volkskindergartenpädagogik nicht aufgegeben werden. Die Erziehungsvorstellungen der Vertreterinnen der Volkskindergärten waren allerdings weniger rigide als die der kirchlichen Vertreter. Dies liegt auch in der Distanz zum Erbschuldgedanken und damit in einer positiveren Einstellung zum Kind begründet. Allen Vertreter/innen der drei pädagogischen Ansätze ist aber das Ziel gemeinsam, die Kinder dahingehend zu erziehen, daß sie ihre Triebe und Bedürfnisse kontrollieren lernen und die tradierten gesellschaftlichen Normen und Werte soweit internalisieren, daß sie in ihrem späteren Erwachsenenleben ihre eigene gesellschaftliche Stellung akzeptieren und eine Bewußtwerdung ihrer Benachteiligung und damit ein Eintreten für ihre sozialen Interessen verhindert wird. Verknüpft war dieses Anliegen mit den Bemühungen, über die Pädagogik den Kindern Arbeitertugenden, wie Fleiß, Disziplin, Fähigkeit zur Unterordnung und so weiter, nahezubringen. 8.5 Exkurs: Zusammenhänge zwischen ökonomischer Entwicklung und pädagogischen Konzepten in den Kinderbewahranstalten In diesem Kapitel wird die Frage diskutiert, welche Spiele und Beschäftigungen, die in den Kinderbewahranstalten mit den Kindern durchgeführt wurden, geeig-
219 net waren, Grundfertigkeiten und -fähigkeiten zu vermitteln, die für die Arbeit in der Fabrik Grundvoraussetzungen darstellten. Es kann hier nicht darum gehen, inwieweit die Unternehmer in die Pädagogik der vorschulischen Erziehung direkt eingegriffen haben. Ein solcher Zusammenhang läßt sich nicht nachweisen. In diesem Kapitel werden aber Überlegungen angestellt, inwieweit die Pädagogik im Sinne eines Zeitgeistes auf die Notwendigkeiten der Zeit in erzieherischen Vorstellungen reagierte. Der Arbeitsprozeß wandelte sich damals von einer ganzheitlich orientierten, handwerksmäßigen Arbeit zur Fabrikproduktion, die aus einzelnen Arbeitsschritten bestand. 8.5.1 Anforderungen an den modernen Industriearbeiter Die deutsche Wirtschaft war bis in die achtziger Jahre aufgrund mangelnder Qualität in der Weltwirtschaft nicht konkurrenzfähig. Die deutschen Fabriken produzierten vorwiegend billige Massenartikel, »zu deren Herstellung ungelernte Arbeiter, Frauen und Kinder genügten«175. Die Arbeiter waren auf bestimmte Teilarbeiten und Handgriffe in den einzelnen Betrieben gedrillt: »Es fehlte ihnen die Anpassungsfähigkeit an andere Produktionsobjekte und Produktionsweisen.«176 Die Ausbildung der Arbeiter war handwerklich geprägt und entsprach in der Regel nicht den Anforderungen der Fabrikproduktion. Ein solch ausgebildeter Arbeiter war an selbständige Arbeit gewöhnt, hatte sein individuelles Arbeitsverfahren gefunden und arbeitete mit Bedächtigkeit. Handwerkliche Tätigkeiten erforderten kein präzises und exaktes Arbeiten. Diesem Arbeiter fehlten in der Regel Kenntnisse zu den Meßmethoden.177 Es wurde über den Mangel an Tüchtigkeit und Fachbildung bezüglich der »Arbeitskräfte aus der Mitte des deutschen Handwerkes, Gewerbes und der Industrie«, über »die große Mittelmäßigkeit oder Einseitigkeit der Ausbildung, ja oft der volle Mangel jedweder, auch nur einigermaßen hinreichenden Vorbildung für den Beruf« geklagt.178 Die Disziplin der Arbeiter des 19. Jahrhunderts wurde häufig bemängelt. Man beanstandete zudem die Fehlzeiten durch Fernbleiben von der Arbeit nach Sonn- und Feiertagen, zu Kirmeszeiten und ähnlichen Veranstaltungen sowie die Einschränkung der Arbeitsdisziplin durch den Genuß alkoholischer Getränke: »Die gewerbliche Thätigkeit wird durch das Ausbleiben einzelner oder mehrerer Arbeiter an den auf Sonn- und Festtagen folgenden Werktagen, sowie durch den übermäßigen Genuß geistiger Getränke vor und während der Arbeitstage und der Arbeitszeit erheblich beeinträchtigt, auch die Sicherheit des Betriebs der industriellen Unternehmungen gefährdet und die zum erfolgreichen Geschäftsbetrieb 175 Dehen, Peter: Die deutschen Industrieschulen in wohlfahrts-, wirtschafts- und bildungsgeschichtlicher Beleuchtung. München 1928, S.16. 176 A.a.O., S.17. 177 Vgl. a.a.O., S.26f. 178 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln: 1.57.5.
220 notwendige Disciplin erschüttert.«179 Um diesen und ähnlichen Problemen entgegenzuwirken, wurde früh die Einführung eines polytechnischen Unterrichts, des sogenannten Knabenhandarbeitsunterrichts, diskutiert. Ziel des Knabenhandarbeitsunterrichts in der Volksschule war, daß »die Kinder sehen und ihre Hände gebrauchen lernen, hier muß der Formensinn entwickelt und die Herzen mit Liebe zur Arbeit erfüllt werden. Dann erst wird die Thätigkeit der Fachschulen auf breitem, festen Grunde ruhen. Mit der Übung in geeigneter, erzieherischer Handthätigkeit würde dem Knaben aber nicht bloß eine neue, vielfach brauchbare Fertigkeit, eine gewandte Hand mit ins Leben gegeben werden, sie erweckt und entfaltet in ihm auch eine wertvolle Neigung zu häuslicher Beschäftigung, welche ihn später von mancherlei unnötigen, erschlaffendem, die sinnlichen Leidenschaften großziehenden Verbrauch zurückzuhalten vermag. Diese Lust an der häuslichen Arbeit hält den Mann fern vom Wirtshaus und fesselt ihn an die Familie. Der so gekräftigte häusliche Sinn, die Stärkung des Familienlebens, die mit den Früchten des Fleißes wachsende Zufriedenheit würden einen nicht hoch genug zu schätzenden idealen und volkswirtschaftlichen Gewinn bedeuten.«180 Nach einer Studie des Berliner Stadtrats Dr. Weigert, so wurde weiter angeführt, erhielten in Paris 40.000 Volksschüler Handfertigkeitsunterricht, zu diesen kamen 23.000 Kinder, die in Kindergärten durch Fröbelarbeiten vorgebildet waren.181 Dies zeigt, daß man auch in den Fröbelschen Beschäftigungen, die in den Institutionen der öffentlichen Kleinkinderziehung durchgeführt wurden, das Ziel sah, den Kindern Arbeitertugenden und -fertigkeiten sowie -fähigkeiten zu vermitteln. Auch die Vertreterinnen der Volkskindergärten betrachteten die Beschäftigungen als ein Mittel der Erziehung zur Arbeitsfähigkeit.182 Im folgenden Kapitel wird anhand von Beispielen aufgezeigt, wie eng Fröbelsche und andere Beschäftigungen inhaltlich verbunden waren mit den Erfordernissen der Fabrikarbeit. 8.5.2 Spiele und Beschäftigungen, die als Vorübung auf Industriearbeit angesehen werden können Eine wichtige Grunderfordernis der industriellen Arbeit war die Unterordnung in eine straffe Zeiteinteilung. Wurden in der vorindustriellen Zeiteinteilung die Menschen von den natürlichen Rhythmen des Tages und der Jahreszeit sowie den individuellen Erfordernissen und Bedürfnissen bestimmt, so diktierte nun der »schrille Pfiff« der Fabrik den Tagesablauf. Sowohl Arbeitsbeginn und -ende als auch die Pausen wurden in den Fabrikordnungen exakt festgelegt. Darüber hinaus bestimmte die Maschine das Arbeitstempo. Die Anpassungsleistungen der Arbei179 180 181 182
Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Köln: 1.57.11. Ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. diese Arbeit, S.176ff.
221 ter an die fremdbestimmte Zeiteinteilung und das von der Maschine diktierte Arbeitstempo waren schwierig. Berichte in Zeitungen, Petitionen und ähnlichem über häufige Fehl- und Ausfallzeiten zeugen davon. In genau festgelegten Stundenplänen183 der Kinderbewahranstalten mit dem festgesetzten Beginn und Ende sowie dem Wechsel der einzelnen Tätigkeiten in einem Viertel- bis Halbstundentakt wurde die Notwendigkeit, sich an vorgeschriebene Zeiten zu halten, nachvollzogen. Die Kinder mußten zu einem festgeschriebenen Zeitpunkt mit einem gewissen Spielraum, der bei den Schwestern Athanasia und Eusebia kürzer als in den Einrichtungen der Volkskindergärten und der evangelischen Träger war, in die Einrichtung kommen. Der eigentliche Beginn der von der Erzieherin geleiteten Aktivitäten wurde dagegen bei allen drei Richtungen der öffentlichen Kleinkinderziehung genau angegeben. Die Tätigkeiten wechselten am Vormittag nach den hier vorgestellten Stundenplänen in den Volkskindergärten vier- bis fünfmal, in den evangelischen Kleinkinderschulen sechsmal und in den katholischen Kinderbewahranstalten neunmal. Während in den Volkskindergärten und in den evangelischen Kleinkinderschulen der Stundenplan den jeweiligen Verhältnissen angepaßt wurde (Verlängerung der Spielzeit im Freien bei guter Witterung), legten die katholischen Autorinnen großen Wert auf die genaue Einhaltung eines einmal festgelegten Plans. Nach diesen Plänen fand ein ständiger Wechsel von ruhigen, konzentrierten Tätigkeiten und Beschäftigungen statt, die mit Bewegung und mehr Unruhe verbunden waren. Einerseits schlug sich hier die Erkenntnis nieder, daß langes Stillsitzen nicht der Entwicklung von Kleinkindern entspricht, andererseits aber verlangte ein ständiger Wechsel von Beschäftigungen dem Kind ein hohes Maß an Flexibilität angesichts vorgeschriebener Tätigkeiten ab. Das Kind wurde durch diese straffen Stundenpläne daran gewöhnt, sich rigiden fremdbestimmten Zeiteinteilungen zu unterwerfen. Durch diese Pläne, dem Wechsel der Beschäftigungen, lernten die Kinder, sich einem von außen bestimmten Zeit- und Arbeitsrhythmus unterzuordnen. Bei der Betrachtung der vorgeschlagenen einzelnen Beschäftigungen fällt auf, daß Übungen, die die Grob- und Feinmotorik schulten, im Vordergrund standen. Gleichzeitig wurden diese mit der Gewöhnung an Gehorsam, Disziplin, Fleiß, Ordnung und Sauberkeit verknüpft. Im Folgenden verdeutlichen einige Beispiele diese Zusammenhänge. Weitverbreitet war das sogenannte »Fleckchenzupfen«. Die Häufigkeit dieser Betätigung mag darin begründet gewesen sein, daß das Material für diese Beschäftigungsart leicht und preiswert zu besorgen war. Gleichzeitig konnte man große Gruppen gefahrlos und mit wenig Aufwand beschäftigen: »Eine Lieblingsbeschäftigung bei ihnen war das sogenannte Zupfen. Deshalb freuten sich die Schwestern immer, wenn man ihnen recht viele weiße und bunte Läppchen be183
Vgl. diese Arbeit, S.182, 194, 204.
222 sorgte, aus denen dann die Fäden zu ziehen waren; denn sonst wollen ihre Kleinen die Läppchen nicht haben.«184 »Es eignet sich diese Beschäftigung .. durch ihre große Geräuschlosigkeit wie keine andere für die stille Stunde, also die Stunde, in welcher der größte Teil der Kinder das Nachmittagsschläfchen hält.«185 Aber auch in der Gesamtgruppe wurde diese Beschäftigung durchgeführt. In den großen Kindergruppen ermöglichte diese Tätigkeit den Erzieherinnen eine kleine Atempause. Die Kinder saßen ruhig an ihren Plätzen. Sie konzentrierten sich genau auf das Fädenausziehen und brauchten in der Regel wenig Hilfe von der Bezugsperson. Gleichzeitig konnten die ausgezupften Fäden zu weiterem Spielmaterial weiterverarbeitet werden: »Das Fleckchengezupfte verwenden wir in unserer Anstalt zum Ausstopfen von Tieren.«186 Eine andere Erzieherin ließ die Kinder kleine Besen daraus binden. Eine weitere Erzieherin empfahl ein Lied, damit das Zupfen nicht zu stumpfsinnig wurde: »Ich sitze und zupfe, Und siehe, ich rupfe, Die Fädchen heraus. Es macht mir Vergnügen, Seh’ ich sie da liegen So rot, weiß und blau.«187 Das Fleckchenzupfen lief nach einer bestimmten Ordnung ab. Nach Martha teilt »ein größeres Kind .. die Fleckchen aus und gibt jedem Kind nur ein solches. Ist dieses gezupft, hebt es den Finger in die Höhe, um ein weiteres zu erhalten usw. Damit wird verschiedenes bezweckt. Einmal bleibt der Eifer rege, dann wird das Zupfen gründlicher besorgt (wobei man allerdings auch die Ermahnung einflechten muß: ›Ein Fädchen nach dem andern, nur langsam aber schön zupfen!‹).«188 Das Fleckchenzupfen diente der Gewöhnung an exaktes und konzentriertes Arbeiten. Durch die festgesetzte Ordnung übten die Kinder Disziplin und Unterordnung. Das Kind wurde zum Fleiß angespornt. Erst wenn es ein Läppchen fertig gezupft hatte, bekam es ein neues. Ähnlichen Zwecken dienten die aus den Fröbelschen Beschäftigungsmitteln übernommenen Tätigkeiten, wie das Bauen, das Stäbchen- und Ringelegen, das Verschränken, Ausstechen, das Ausnähen, das Flechten, das Schnüren und Falten. Die Kinder führten die Arbeiten nach vorgegebenen Formen aus: »Nach dem Vor- und Nachbauen soll auch ein Freibauen gestattet werden, wie überhaupt bei allen Gaben nach dem gemeinsamen Spiel auch ein Freispiel erlaubt werden 184 125 Jahre Arme Dienstmägde Jesu Christi. Hrsg. von der Generalleitung der Armen Dienstmägde Jesu Christi. Dernbach/Westerwald 1976, S.56. 185 Die christliche Kleinkinderpflege. 1905, S.27. 186 A.a.O., S.28. 187 Ebenda. 188 Martha: A.a.O., S.17.
223 soll.«189 Die Tätigkeiten wurden isoliert nebeneinander in den Einrichtungen eingesetzt oder in ein größeres Rahmenthema eingebettet, analog den vorgestellten Beispielen.190 Zur Veranschaulichung stelle ich das Stäbchenlegen, das Verschränken und die Erbsenarbeiten nach den Anweisungen von Regine Strobel exemplarisch vor. Beim Stäbchenlegen wurden »kantige Holzstäbchen von 5 Zentimeter Länge« benutzt.191 »Die Kindergärtnerin läßt die eine oder andere Form von den Kindern legen und belebt dieselben durch ihre Plauderei oder Besprechung, durch eine angebrachte Erzählung, durch ein Lied, ein Gedichtchen ... Man fängt mit einem Stäbchen an und vergleicht es mit ähnlichen Gegenständen, wie z.B. mit einem Griffel, einem Stock, einem Bleistift usw. Dann folgen Übungen mit zwei Stäbchen, woraus ein Kreuz gelegt wird, ein Dach, ein Hammer, ein Dreschflegel usw. Übungen mit drei Stäbchen: Tor, Bett, Tisch usw. ... so fährt man fort, bis man bei 10 Stäbchen angelangt ist. Diese Gabe soll dem Kinde die Zahl von eins bis zehn veranschaulichen - Beim Freispiel mit den Stäbchen können mehrere Kinder zusammen größere Formen legen.«192 Beispiele für Formen des Stäbchenlegens
Winkel
Peitsche
Dreieck
Schaufel
Gabel
Der Wert des Stäbchenlegens wurde in der Vorübung für das Zeichnen gesehen: »Das Kind zeichnet sozusagen mittelst der Stäbchen die Umrisse der verschiedensten Formen und Gestalten und erlangt dadurch die Fähigkeit, dieselben zu erfassen. Außer dem Formen- und Gestaltsinn erhält der Tätigkeitstrieb reiche Anregung, da das Kind alle möglichen Gegenstände nachbildet.«193 Darüber hinaus übte es durch das Zählen und die verschiedenfarbigen Stäbchen den Zahlen- und Farbsinn. Beim Verschränken wurden Verschränkungsstäbe »nach dem 1. Flechtgesetz« über- und untereinander geschoben.194 Beispiel für eine Verschränkungsform
189 190 191 192 193 194
Strobel, Regine: A.a.O., S.23. Vgl. diese Arbeit, S.209f, 217f. Strobel, Regine: A.a.O., S.28. A.a.O., S.30. A.a.O., S.30. A.a.O., S.32.
224 Ähnlich wie beim Stäbchenlegen wurden zuerst anhand eines Verschränkungsstabes die Eigenschaften behandelt und Vergleiche zu anderen Gegenständen angestellt: »Dann geht man zu 2 Stäben über, läßt allerlei Tätigkeiten damit nachahmen, wie Geige spielen, Trommel schlagen, Schere auf- und zumachen usw. Bereits mit 3 Stäben kann das Verschränken beginnen nach dem Flechtgesetz eins auf eins nieder.«195 Erst mit vier Verschränkungsstäbchen war ein festes Gebilde zu gestalten. Danach wurden nach und nach mehr Stäbchen genommen. Man vertrat jedoch die Ansicht, daß Kinder im vorschulischen Alter nur die elementaren Aufgabenstellungen erfüllen könnten. Schwierigere Formen seien nur für größere Kinder geeignet: »Bei dieser Beschäftigung wird schon eine größere Anforderung an die Kraft des Kindes gestellt. Die Hand und das Auge werden besonders gebildet, erstere durch die dazu erforderliche Geschicklichkeit, letztere durch das Auffinden von Stellen, an denen sich die Stäbe haltbar verbinden lassen und durch das Anschauen der fertigen Formen. Das Kind muß große Sorgfalt und Ausdauer beim Vollenden der Gebilde üben, da diese durch die geringste unbedachte Schiebung der Stäbe zestört werden.«196 Bei den Erbsenarbeiten wurden zugespitzte Stäbchen mittels weicher Erbsen, die vorher eingeweicht wurden, miteinander verbunden.
Fenster
Spaten
Leiter
Beispiele für Erbsenarbeiten
Gartenzaun
Ähnlich wie bei den schon vorgestellten Beschäftigungen lernten die Kinder neue Materialien kennen und diese mit anderen Gegenständen zu vergleichen. Von einer Erbse und einem Stäbchen ausgehend (Stock, Nagel und so weiter) bis zu mehreren, werden verschiedene Formen gesteckt. Auch hier meinte man, daß nur die ersten ganz leichten Übungen von Kindern im vorschulischen Alter ausgeführt werden könnten. Die Erbsenarbeiten wurden als »Hand- und Fingergymnastik« angesehen, das Kind lernte »plastische Formen in reichem Maße zu gestalten ... Auch wird die Geduld und Ausdauer des schaffenden Kindes besonders geübt, da ohne diese die Arbeit nicht gelingen kann, das Kind aber selbst dem Ziele zustrebt, da es Freude an diesen hübschen Gegenständen findet.«197 Die oben vorgestellten Beschäftigungen, einschließlich des Fleckchenzupfens, dem Bauen nach Vorschrift, dem Flechten, dem Formenlegen, dem Falten und anderen Tätigkeiten, dienten der Übung exakter Arbeit, der Disziplin, Geduld, Ausdauer und der Ordnung. Sie »üben das Auge im Anfassen der Formen, 195 196 197
Ebenda. A.a.O., S.33. A.a.O., S.59.
225 Farben und Zahlen, übt die rechte und die linke Hand, weckt und fördert die Lust zur Beschäftigung; das Vergnügen, wenn etwas schön und gut fertig wird, erzeugt Sinn für Nützliches und Schönes.«198 Den Fröbelschen Beschäftigungsmitteln wurden von den Befürworter/innen, Theoretiker/innen und Praktikerinnen der Institutionen für Unterschichtkinder ein großer Nutzen für die Wirtschaft zugeschrieben:199 »Welch große soziale Bedeutung hat es, daß durch das Fröbelsche Beschäftigungsmaterial, wie es im Kindergarten zur Anwendung kommt, so früh die Freude an der Arbeit im jungen Menschen geweckt wird. Der amerikanische Pädagoge Dewey sagt: ›Wer könnte es nicht beobachten, oder weiß es nicht aus eigener Erfahrung, wie sehr die Jugend nach Betätigung ihrer manuellen und ihrer allgemeinen Körperkräfte verlangt. Ehe wir nicht in der ersten Kindheit und Jugend die Triebe des Schaffens systematisch ausbilden, ihnen eine allgemeine soziale Richtung geben, wozu der Kindergarten den Anfang macht, eher sind wir nicht in der Lage, die Quelle unserer wirtschaftlichen Übelstände auch nur einzudämmen, geschweige denn diese Übelstände gründlich zu beseitigen.‹ Wer wollte leugnen, daß bei den großen Aufgaben der Industrie, bei der Entwicklung der Mechanik, im Maschinenzeitalter, eine Methode, die das Selbständigwerden, die Veredlung der Persönlichkeit auch des geringsten Arbeiters bezweckt, von ungeheurer, sozialpädagogischer, ja politischer Bedeutung ist? Aber auch der technische Wert ist ein großer. Je mehr die Maschinen dem Menschen die rohe Arbeit abnehmen, desto notwendiger ist es, daß einerseits die menschliche Hand früh gekräftigt und verfeinert werde, andererseits, daß der Arbeiter zum Bewußtsein des sittlichen Wertes der Arbeit überhaupt und seiner speziellen Arbeit gelange, daß er sie im Zusammenhang mit den Leistungen der Kultur sieht, daß er dadurch auch die geringste achten lerne als notwendigen Teil eines großen Ganzen. Durch die Fröbelsche Methode aber zieht sich der Grundzug nach Einheitlichkeit; sie ermöglicht dem in stetiger Selbsttätigkeit seiner Glieder und Sinne, seines Geistes und Gemüthes geübten Menschen eine Selbständigkeit, der es später leicht wird, die geeigneten Mittel zu finden und anzuwenden und in seinem Geiste und seinem Gefühle das Bewußtsein der sozialen Bedeutung seiner, wenn auch scheinbar geringen Arbeit, auszubilden und mit Interesse das Ganze zu umfassen, als dessen Glied er sich und seine Arbeit erkannt hat.«200 Der Fröbelschen Pädagogik wurde nicht nur die Aufgabe zugewiesen, die Feinmotorik der Kinder auszubilden, sie an Disziplin und Ordnung zu gewöhnen, man betrachtete sie auch als Grundlage für die Anerkennung der gesellschaftspolitischen Ordnung im späteren Erwachsenenleben und erwartete eine bedingungslose Unterordnung. 198 Martha: A.a.O., S.17. 199 Vgl. diese Arbeit, S.177ff. 200 Mecke, Hanna: Warum brauchen wir Kindergärten und Kinderhorte? Eine Mahnung an Gemeinden und Fabrikanten. Bamberg 1910. (Abhandlungen zum Verständnis von Friedrich Fröbels Erziehungslehre. Hrsg. Hanna Mecke), S.21f.
226 Ebenso wie der Umgang und die Übung mit unterschiedlichen Beschäftigungsmaterialien müssen die verschiedenen Übungen der Bewegungserziehung diesen Erziehungszielen zugeordnet werden. Die Schwestern Athanasia und Eusebia schlugen in ihrem Wochenplan tägliche Übungen vor, die sie »Stumme Körperbewegungen« und »Bildchen« nannten. Bei den »Stummen Körperbewegungen« tupften 1. die Kinder »in bestimmten Zwischenräumen 1 mal mit dem Zeigefinger auf den Tisch, danach mit beiden Zeigefingern. 2. 1 mal mit der flachen Hand auf den Tisch, erst leise, dann laut (abwechselnd).« Andere in diesem Kontext stehende Übungen lauteten wie folgt: »11. Eine Hand hoch, mit der andern 3 mal auf den Schoß schlagen, dann mit den Händen wechseln. ... 29. 2 mal die Hände kreuzweise übereinander legen und dann 3 mal in die Hände klatschen. ... Diese und ähnliche Übungen, die man nach Belieben und Bedürfnis noch sehr erweitern und vermehren kann, machen den Kindern sehr viel Vergnügen. Jede einzelne kann wenigstens vier- bis fünfmal nacheinander vorgenommen werden, ehe man zu einer folgenden Übung übergeht. Fünf bis höchstens sechs Übungen genügen für eine ganze Woche, und selbst diese sind den Kindern erst recht lieb, wenn sie oft, sehr oft wiederholt werden. Die Zeit für diese Stummübungen soll nicht über 12 Minuten dauern. Den Schluß der stummen Übungen kann jedesmal ein lebendes Bildchen machen.«201 Bei den »Bildchen« handelte es sich um Übungen, bei denen mit dem Körper eine unbewegliche Haltung eingenommen wurde. »1. 1 Fingerchen auf den Mund legen, Haltung ganz aufrecht. 2. 2 Zeigefinger kreuzweise auf den Mund. 3. 2 Hände flach auf den Tisch legen, Augen zum Himmel. ... 6. Rechte Hand auf linker Schulter, linke Hand auf rechter Schulter. ... 16. 2 Hände bittend erheben, Augen nach oben! 17. Gefaltete Händchen erheben, Köpfchen senken! 18. Beide Ärmchen weit ausstrecken. 19. Beide Händchen zum Schießen bereit halten.«202 Diese Übungen waren stupide. Das Kind wurde zu einem willenlosen Objekt von Übungen gemacht. Es erlebte sich als ein nach Befehlen funktionierendes Teil. Die »Bewegungsspiele« dienten der Vorübung zur willenlosen Anpassung an die eintönige, in viele Einzeltätigkeiten zerlegte Fabrikarbeit. Das Kind sollte sich in das Funktionieren des zukünftigen Arbeiters als Rädchen der Maschine einüben. 201 202
Schwestern Athanasia und Eusebia: A.a.O., S.163f. A.a.O., S.165f.
227 Offensichtlich konnten diese Übungen nur unter Zwang durchgeführt werden, da die beiden Schwestern selbst zugaben, daß den Kindern erst nach mehrmaliger Wiederholung die Körperbewegungen lieb seien. Gleichzeitig beinhalteten diese Übungen ein anachronistisches Moment. Nach den demutsvollen Übungen 16, 17 und 18 nahm die Übung 19 einen aggressiven Charakter an. Diese Wendung deutet auf den militaristischen Zeitgeist hin. In Liedern, Versen und Spielen wurde immer wieder das Soldatenleben nachvollzogen und verherrlicht.203 Marschierübungen waren in den Kinderbewahranstalten jeglicher Couleur weitverbreitet: »Das Marschieren läßt eine Unzahl von Varianten zu. Die Kleinen gehen einzeln, zu zweien, dreien u.s.f. in geraden oder gebogenen Linien, einige Schritte rechts, einige links, ›Füßchen geschlossen, Füßchen auswärts, das ist schön, so laßt uns im Kreise gehn‹. Sie gehen im militärischen Schritt, gewöhnen sich an eine gute Haltung und sind sich ihrer Handlung durch das erklärende (gesprochene oder gesungene) Wort genau bewußt. Statt wild herumzutollen, erlangen die Kinder die Fähigkeit, sich anmutig zu bewegen; statt zu schreien, gewöhnen sie sich an melodischen Gesang.«204 Wenn auch die Mehrzahl der Marschierlieder eher harmlos war, so flossen beim Marschieren militärische Traditionen mit ein. Einige Marschierlieder hatten einen militaristischen Inhalt, wie das folgende Beispiel zeigt: »Eins, zwei, drei, vier, eins, zwei drei vier, eins, zwei drei vier; Gewehr auf! Richtet euch! Schultert das Gewehr auf und marschiert.«205 Auch die folgenden Übungen besaßen eindeutig einen militaristischen Charakter. »1. Stellet - euch! Bei ›stellet‹ wartet man ein wenig, dann sagt man erst ›euch‹. (Die Kinder müssen alle Übungen präzis ausführen.) 2. Setzet - euch! Erste Mädchenbank, erste Knabenbank stellet euch! setzet euch! ... 3. Stellet - euch! Drehet euch nach rechts! (Die Wendung geschieht auf dem Absatz des rechten Schuhes durch eine Schwenkung.) Das Gesicht der Bank zu! Der ganze übrige Körper bleibt ruhig.«206 Bei diesen und ähnlichen Übungen, zu denen auch die vorgenannten Übungen der Autor/innen zu zählen sind, wurde die Bewegung des gesamten Körpers in Einzelbewegungen zerlegt. Das Kind hatte nach Befehlen nur mit einem bestimmten Körperteil zu reagieren, es wurde so selbst zu einem Maschinenteil. Gleichzeitig 203 Vgl. Krieg, Elsbeth: Vorwärts, Marsch und frisch voran! Erziehung zum Militarismus: Beispiel Kaiserreich. In: enfant t. Zeitschrift für Kindheit. Nr.1. Berlin 1991, S.87ff. 204 Gordon, Emy: A.a.O., S.21f. 205 Schwestern Athanasia und Eusebia: A.a.O., S.168. 206 A.a.O., S.176.
228 lernten die Kinder, sich Befehlen einer fremden Autorität unterzuordnen, ihnen auf das Wort zu gehorchen. Man gewöhnte das Kind an Disziplin und präzise Ausführungen von fremdbestimmten und exakten Bewegungen. Die Intention dieser Erziehung war es, den Kindern schichtspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten anzutrainieren, damit sie sich in ihrem späteren Arbeiterdasein einerseits mit ihrer gesellschaftlichen Rolle bescheiden und andererseits sich ihren Vorgesetzten im Betrieb kritiklos unterordnen. So diente die Erziehung weniger den Interessen der Kinder, sondern nutzte in erster Linie den Arbeitgebern. 8.6 Praxisbeispiele der Kinderbewahranstalten Aufgrund der spärlichen Quellenlage ist eine exakte Wiedergabe des pädagogischen Alltags in den Kinderbewahranstalten vor Ort nicht möglich. Es existieren nur einzelne Berichte, die eine Vorstellung der damaligen Erziehungswirklichkeit vermitteln. Für eine katholische Kleinkindinstitution in Hamm/Westfalen liegt ein Bericht vor, der vermutlich im Zusammenhang mit den Bemühungen der katholischen Pfarrgemeinde, die Klostergesetze abzuwenden, von Sr. Romana am 25. November 1875 geschrieben wurde. Die Anstalt in Hamm war von 8.30 Uhr bis 11.00 Uhr und von 13.00 Uhr bis 16.00 Uhr geöffnet. »Von 81/2 bis 91/2 Uhr spielten die Kinder in ihrer kindlichen Weise, im Winter in ihrem großen Saale, im Sommer in den freien Environs des Hauses. Um 91/2 Uhr wird ein Gebet verrichtet, dann werden Liedchen gesungen, religiösen, weltlichen und patriotischen Inhaltes ... Der eigentliche Unterricht ... besteht darin, daß die Kinder Tafeln bekommen und darauf Zahlen malen, Buchstaben nach alphabetischen Tafeln abschreiben und zählen lernen. Es werden ihnen Geschichten erzählt aus der Märchenwelt und dem Kinderleben etc. etc. Dieses Alles aber geschieht in ungezwungener Form, mehr spielend und zu dem Zwecke, um die kleine Schaar zu beschäftigen, in Ruhe zu halten und zu amüsieren ... Die Spielsachen, welche die Anstalt bietet sind für Mädchen Puppen und Kochapparate, für Knaben Brummkreisel, Bälle etc. etc.«207 Aus dem Bericht wird deutlich, daß damals nur wenig Spiel- und Beschäftigungsmaterial vorhanden war. Die Beschäftigungen umfaßten hauptsächlich das Beten, Singen, das Erzählen von Geschichten und einige Tätigkeiten, die dem Schulunterricht vorgriffen, wie das Schreiben und Auswendiglernen von Zahlen und Buchstaben. Im Bericht wurde über das Erzählen religiöser Geschichten nichts ausgesagt. Dies mag darin begründet sein, daß Schwester Romana aus Furcht vor der drohenden Schließung aufgrund des Klostergesetzes208 ihre Institution als eine neutrale und nicht religiös geprägte Anstalt darzustellen versuchte. Dem Freispiel kam hier große Bedeutung zu. 207 208
Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg II.E.810. Vgl. diese Arbeit, S.94ff.
229 Eine evangelische Schulschwester erinnerte sich an ihre Kinderzeit, in der sie eine Kinderbewahranstalt besuchte:209 »Unsere alte Warteschule ... gehörte unzweifelhaft zu den besten der damaligen Zeit ... Es herrschte gute Zucht und Ordnung in der Schule, an Liebe fehlte es auch nicht.«210 Die Kinderbewahranstalt war in einer ehemaligen Wohnung untergebracht und bestand aus einem größeren und kleinen Raum sowie einer ehemaligen Küche, die der Kleiderablage diente. Die Kinder wurden von einer Gruppenleiterin und einer Gehilfin betreut. Die Gruppenleiterin beschäftigte die großen Kinder, die Gehilfin kümmerte sich um die Kleinen. »Der Unterricht, so darf ich wohl sagen, begann mit dem Liede: ›Nun reibet euch die Aeuglein wach, die Schwalben zwitschern schon am Dach.‹ usw ... Nachmittags wurde als Schlußlied ›Laß mich gehen‹ gesungen.«211 »Die Hauptbeschäftigung für die größeren Kinder bestand in Lesen, Schreiben, Stricken und Zupfen, auch wurde viel auswendig gelernt. Sehr deutlich erinnere ich mich, das Lied: ›Als Jesus von seiner Mutter ging‹ alle 10 Verse gelernt zu haben. Die ›Kleinen‹ lernten die Buchstaben und wir ›Großen‹ waren nicht wenig stolz, wenn wir den Auftrag erhielten, mit ihnen zu üben ... Das Zupfen war auch nicht eitel Vergnügen. Denn die Läppchen waren oft aus festen Stoffen, z.B. aus Sammet, da taten die kleinen Finger weh, und es half nichts daß wir, wie unsere Kinder es tun, sagten: ›Der geht nicht‹, ich glaube: wir dachten gar nicht daran. Vom Spielen habe ich fast keine Erinnerungen; wir haben auch nicht viel gespielt, dazu hatten wir auch keine Zeit. Unser Spielplatz ... bestand aus einem kleinen, gepflasterten Hof ... In einer Ecke lag auch ein Sandhaufen. Es gab auch einige hölzerne Sandformen, einmal war ich so glücklich, ein kleines Butterfaß zum Spielen zu bekommen; dieses Glück habe ich nicht vergessen, aber auch nicht, daß es von sehr kurzer Dauer war; viel zu früh, nach meinem Dafürhalten, wurde wieder eingesammelt.«212 Aus den Berichten wird deutlich, daß nur wenig Spiel- und Beschäftigungsmaterial vorhanden war. Offensichtlich reichte das Material nicht für alle Kinder. Freies Spiel war aus diesem Grunde kaum möglich. Auch hier wurden die Kinder vorwiegend mit Beten, Singen, Geschichten erzählen, Gedichte und Gebete auswendig lernen sowie mit Übungen schulischer Inhalte, wie Buchstaben und Zahlen lernen und Schreiben, beschäftigt. Letztere Beschäftigungen finden sich zum Teil bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes. Als Beispiele für die pädagogische Praxis nach der Jahrhundertwende stelle ich den Bericht aus einer Institution in Baden-Lichtental und eine Beschreibung von Hanna Mecke vor. Zunächst der Bericht aus Baden-Lichtental: »Bis 91/2 Uhr 209 Die Autorin gibt nur eine ungenaue Zeit an. Sie spricht von einer Zeit von 40 bis 50 Jahren vor 1917. Demnach bezieht sich ihr Bericht auf die Zeit in den Kinderbewahranstalten zwischen 1867 und 1877. 210 Die christliche Kleinkinderpflege. 1917, S.38. 211 A.a.O., S.39. 212 A.a.O., S.47.
230 herrscht unbedingte Bewegungsfreiheit, da wird zuerst der Spielschrank erstürmt ... Puppen und Bilderbücher, Tafeln und bunte Kreide, Soldatenhelme und Baukästen, Perlen und bunte Flicken, Papier, aus dem man Schiffe und Kästchen, Hexenstiegen und Himmelsleitern und viele andere Wunderdinge machen kann ... Auch Kaufladen, Arche Noah, Bauklötze, Schaukelpferd und Puppenwagen werden aus den Ecken geholt, und bald bilden sich reizende, kleine Gruppen. Erschallt jedoch das Zeichen zum Einpacken, so regen sich im Nu alle Händchen ... Nach 5 Minuten ist Ordnung. Stramm wie die Soldaten steht die kleine Schar an der Tür, wo die Taschentuchparade und Musterung der Schmutznäschen stattfindet. Auch der Kamm erscheint und fährt glättend über manchen Wuschelkopf. Nun geht es im Taktschritt in die Garderobe, wo mit Hilfe von Wasser und Seife die Toilette vervollständigt wird. Um 10 Uhr sitzt jedes an seinem Platz, und wenn’s ganz mäuschenstill geworden ist, wird ›die Musik‹ (Harmonium) aufgeklappt, und unbeschreiblich lieblich ertönt das Lied: ›Weil ich Jesu Schäflein bin‹ und das Morgengebet der Kleinen. Nun gibts eine Lektion, eine biblische Geschichte, Sprechübungen, Anschauungslektion oder ein neues Lied. Ist das lange Stillsitzen überstanden, wird zum Turnen angetreten ... Um 1/212 Uhr wird mit verheißungsvollem Geräusch das Küchenfenster in die Höhe geschoben. (Die Kinder aßen in der Institution zu Mittag; E.K.) ... Nach einer abermaligen Waschung sucht sich jedes Kind seinen Platz auf einem Liegestuhl. Bald schlafen sie tief und fest ... Wer ausgeschlafen hat, findet an seinem Platz eine Arbeit präpariert, über die er sich mit Eifer hermacht ... Sie können flechten, falten, nähen, stricken, malen, ausschneiden und kleben ... Nach getaner Arbeit wird das wohlverdiente ›Schleckselbrot‹ verzehrt, noch ein wenig gesungen, zum Schluß das liebe alte Abendlied der Kinder ›Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude‹.«213 Diese Einrichtung war relativ gut mit Spielmaterial ausgestattet, das in der Phase des Freispiels benutzt werden konnte. Da die Öffnungszeit nicht genau angegeben wurde, kann die Freispielzeit nur ungefähr eingeschätzt werden. Vermutlich wurde die Einrichtung um acht Uhr geöffnet, so daß den Kindern eine Zeit von maximal einundeinhalb Stunden zum freien Spiel zur Verfügung stand. Von der Freispielzeit abgesehen, nahmen die Phasen des Stillsitzens einen breiten Raum ein. Für Bewegungsübungen war nur ein kurzer Zeitraum eingeplant. Aus der Beschreibung wird die Arbeit mit Fröbelschen Materialien ersichtlich. Die Einbindung der verschiedenen Tätigkeiten in ein Schwerpunktthema, wie es in den Fachzeitschriften angesprochen wurde,214 ist nicht erkennbar. Die verschiedenen Beschäftigungen standen offensichtlich in keinem thematischen Zusammenhang. 213 214
Die christliche Kleinkinderpflege. 1913, S.43f. Vgl. diese Arbeit, S.180, 187f, 198f.
231 Im Tageslauf, den Hanna Mecke vorstellte, wurde dagegen ein Rahmenthema bearbeitet: »Die erste Stunde, während sich die Kinder sammeln, gehört dem Freispiel, das möglichst im Garten stattfindet, denn die Kinder, meist aus Keller- und Dachwohnungen kommend, brauchen viel frische, reine Luft, dazu auch freien Raum zur Befriedigung ihres Bewegungsdranges ... Nirgends übt es diese lieber als auf dem Sandhaufen, der das Zentrum jeden Spielplatzes sein sollte.«215 Nach der ersten Stunde Freispiel sammelten sich die Kinder mit der Erzieherin im Kreis. Es wird »ein kindliches Morgenlied gesungen, ein kurzes Gebet schließt sich an. Heut heißt’s vielleicht: ›Lieber Gott, wir danken Dir, daß wir alle gesund sind‹, oder morgen: ›Wir danken Dir, daß Du die Sonne hast auf unser Beet scheinen lassen.‹ ... Nun darf ein Kind, zuerst das Hausväterchen, das für die andern gesorgt hat, in die Mitte des Kreises treten und etwas vorturnen.«216 Bei diesen Übungen übten und kräftigten die Kinder alle Muskeln. Diese sich täglich wiederholenden Turnübungen dienten, neben der Beherrschung der Motorik, auch der Erziehung zum Gehorsam. Nach den gemeinsamen Bewegungsübungen, die auch durch Lieder unterstützt wurden, fanden zu bestimmten Themen Gespräche statt, die maximal eine viertel Stunde dauerten. Der Gesprächsgegenstand, von Hanna Mecke »Einheitspunkt« genannt, stand »einige Wochen im Mittelpunkt aller Besprechungen und Beschäftigungen, er ergibt sich aus dem Erlebten der Kinder, er bewahrt uns und die Kinder vor Zersplitterung ... Wir bringen dem Anschauungskreis des Kindes, z.B. durch einige Wochen einen Vertreter des Tier- oder des Pflanzen-, des Mineralreiches; oder wir besuchen einen Handwerker in seiner Werkstatt und ahmen sein Tun nach in den verschiedensten Spielen und Beschäftigungen. Wie wir uns den Jahreszeiten anpassen, so müssen wir natürlich auch den Einheitspunkt wählen, welchen alle Kinder kennen.«217 Im Rahmen des Themas »Tauben« hatten die Kinder dem Zimmermann geholfen, ein Taubenhaus zu bauen: »War diese Hilfe auch nur eine illusorische, so erschien sie den Kindern wesentlich und erfreute sie und stärkte deshalb ihre Arbeitslust.«218 Mit der Erzieherin holten die Kinder von einem Gut Tauben mit ihren Jungen. Die Kinder pflegten und beobachteten die Tauben. »Bei der anschaulichen Plauderei ist’s den Kindern nun interessant, an der ausgestopften Taube alles Beobachtete zu reproduzieren, und so gewinnen sie zwanglos Grundbegriffe der Form, Farbe, Zahl, vor allem aber stellen sie die Lebensäußerungen dar und schärfen dabei Sinnen- und Sprachkraft; haben doch nun die Worte einen lebendigen Inhalt. Im anschaulichen Bewegungsspiel folgt der Plauderei als der ruhenden Beschäftigung die frohe Bewegung im Darstellen des Taubenhauses, 215 216 217 218
Mecke, Hanna: A.a.O., S.10. A.a.O., S.11. A.a.O., S.12f. A.a.O., S.13.
232 dem Aus- und Einfliegen der Tauben, dem Futterholen usw.«219 In der sich anschließenden »Fröbelschen Beschäftigung« wurde mit Fröbelschen Materialien, den acht Würfeln, den Legetäfelchen oder Stäbchen das Bewegungsspiel umgesetzt. Jedes Kind baute oder legte sein Taubenhaus. Mit Papiertauben und -schnitzeln spielten die Kinder. Sie ließen die Papiertauben in das gebaute Haus ein- und ausfliegen, fütterten sie mit Papierschnitzeln. »Das Kind befriedigt instinktiv den ererbten Bautrieb, es gestaltet zwanglos weiter andere Formen, die aber alle belebte Produkte sind, Produkte seiner Schaffenskraft. Sein Formen-, Zahlen- und Richtungssinn wird im selbsttätigen Spiel entwickelt, das Augenmaß und die Handgeschicklichkeit geübt. Es lernt Rücksicht nehmen auf die Mitspieler, es muß das Eigentum der anderen achten usw. Ein andermal wird das Taubenhaus flächenartig mit Legetäfelchen dargestellt oder umrißlich mit Stäbchen. So gewinnt das Kind durch die es nie ermüdende sondern von ihm instinktiv gesuchte Wiederholung klare und tiefe Eindrücke der Eigenschaften und Tätigkeiten seiner Umgebung. Und diese sind dann wertvolle Grundlagen für die Begriffsbildung, welche Aufgabe der Schule ist; denn es lernt in stetem Üben seines Gemüts, seines Geistes und seiner Sinne den Inhalt der Sprache erfassen.«220 In den Praxisberichten ist eine Entwicklung erkennbar. Vor der Jahrhundertwende war der Tageslauf vor allem durch Beschäftigungen geprägt, die kaum Material beanspruchten. In der beschränkten Zeit des freien Spiels stand den Kindern in den Institutionen sehr wenig Spielmaterial zur Verfügung. Berichten zufolge, die nach der Jahrhundertwende entstanden, wurden zum Teil auch Beschäftigungen durchgeführt, die mit erhöhtem Materialverbrauch verbunden waren. Auch stand den Kindern in beiden Einrichtungen mehr Material zum freien Spiel zur Verfügung. Die Hinwendung zur Betätigung mit Fröbelschen Materialien ist erkennbar, und in dem Beispiel von Mecke221 wird das Bemühen deutlich, die Kenntnisse der Kinder in die pädagogische Arbeit miteinzubeziehen. Aber auch hier arbeitete man erzieherinnenorientiert. Der Tagesablauf und die Inhalte waren verschult. 8.7 Zur pädagogischen Praxis in den Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld und Bochum Die Quellenlage zur pädagogischen Praxis der Kinderbewahranstalten in den drei Städten ist sehr schwierig, da es nur wenige Zeugnisse gibt, die Auskunft darüber 219 Ebenda. 220 A.a.O., S.18. 221 Mecke war Leiterin des Evangelischen Fröbelseminars in Kassel, so daß ihr Bericht vermutlich eine optimale Arbeitssituation wiedergibt. Dieser Bericht und andere zeigen, daß der Fortschritt in der pädagogischen Arbeit sehr unterschiedlich war. Die Möglichkeiten der Erzieherinnen hingen sehr stark von den räumlichen und materiellen Bedingungen ab. Aber auch der Ausbildungsstand der Bezugspersonen hatte vermutlich Auswirkungen auf die Praxis in den Einrichtungen.
233 geben. Anhand der spärlichen Berichte wird aber eine Entwicklung sichtbar. Für Köln lag nur ein Bericht aus der Kinderbewahranstalt der Firma Felten & Guilleaume in Mülheim vor. Die Institution wurde 1889 für die Kinder der Arbeiter des Carlswerks gegründet. Die Leitung übertrug man den Vinzentinerinnen aus dem Mutterhaus Köln-Nippes. Der Bericht ist undatiert, scheint aber noch vor 1908 verfaßt worden zu sein, da dem Stundenplan zufolge die Institution offensichtlich in der Mittagszeit geschlossen war. Ab 1908 wurde die Einrichtung ganztags geöffnet. Die Kinder bekamen eine warme Mittagsmahlzeit. »Die Kinder selbst werden angehalten: 1. Zur Reinlichkeit, Ordnungsliebe, Höflichkeit, Frömmigkeit, zum Gehorsam etc. 2. Durch kleine Anschauungs-SprechSprach-Zähl- und Gesangsübungen sucht man Geist und Herz der Kleinen zu bilden sie dadurch für die Elementarschule schon etwas vorzubereiten. 3. Durch verschiedene mechanische Uebungen werden die Sinne der Kinder geschärft und durch fleißige körperliche Bewegungen die Gesundheit gepflegt.«222 In der Institution stand die sittlich-moralische Erziehung im Vordergrund. Aber auch die Vorbereitung auf die Schule und die Gesundheitspflege waren Zielsetzungen der pädagogischen Arbeit dieser Kinderbewahranstalt. Die Kinder waren in zwei Gruppen aufgeteilt. In der Gruppe der Jüngeren befanden sich die Kinder zwischen 2-31/2 Jahren, und die Gruppe der Älteren umfaßte Kinder zwischen 31/2 und 6 Jahren. Für die Stufe der jüngeren Kinder »besteht die Aufgabe der Leiterin hauptsächlich darin, die Kleinen zu beaufsichtigen, körperlich zu pflegen, gut zu gewöhnen; ferner durch kleine Sprechübungen, Einübung von Gebeten und Verschen, sowie durch leicht faßliche Erzählungen die Kinderchen soviel wie möglich körperlich und geistig zu entwickeln.«223 Die pädagogische Arbeit in der Gruppe der älteren Kinder baute auf die Arbeitsinhalte der jüngeren Gruppe auf. Als Erziehungsinhalte wurden folgende Punkte aufgeführt: »Einübung von Gebeten, Erzählungen aus biblischer Geschichte, Anschauungsunterricht mit Anknüpfung von Sprach- und Sprechübungen, Deklamation von passenden Gedichten, kleine Zwiegespräche, Handhabung von Baukasten u. dgl., Zahlen von 1 - 100, namentlich aber die Bildung der sittlichen Tugenden.«224 Bei guter Witterung hielten sich beide Gruppen möglichst oft im Freien auf und spielten unter »Anleitung und Aufsicht der Leiterin.«225 Der beigefügte Stundenplan gibt nur Auskunft über den Tagesablauf am Montag, zu den Inhalten der anderen Tage werden keine Angaben gemacht.
222 223 224 225
Firmenarchiv Felten & Guilleaume: II A c 2 E. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
234 »Morgens von 71/2 bis 81/2 versammeln sich die Kinder; Inspection der Proprietät. 81/2 bis 9 Uhr: Bewegungsspiele abwechselnd mit den Händen u. Füßen. 9 - 10 Uhr: Aufstellen in Reihen, gehen nach den Aborten, dann marschieren in graden Reihen auf dem Spielplatz mit Gesang. 10 - 11 Uhr: Morgengebet, eine Viertelstunde kleine religiöse Erzählung, singen, aufstehen, niedersetzen, 10 Minuten Anfangsübungen mit Zählen, darnach gemeinschaftliche Spiele -111/4 Uhr: Nachhausegehen. Nachmittags von 1 - 2 Uhr versammeln sich die Kinder. 2 - 3 Uhr: Ruhe. 3 - 4 Uhr: Aufstehen, 10 Minuten marschiren im Zimmer, dann gehen nach den Aborten, hierauf selbstgewählte Spiele unter Aufsicht der Leiterin. 4 - 5 Uhr: Aufstellen in Reihen, gehen ruhig in den Schulsaal, austeilen der Butterbrote, 20 Minuten zum Essen unter Stillschweigen, Wassertrinken, patriotische Lieder. 5 Uhr: Abendgebet, Anziehen der Kleider, Nachhausegehen.«226 Den Kindern wurden längere Freispielphasen eingeräumt, morgens und nachmittags jeweils bis zu einer Stunde. Hinzu kam nach dem zehnminütigen Marschieren im Zimmer und dem Gang zur Toilette eine lange Phase des selbstgewählten Spiels, die ungefähr eineinhalb Stunden umfaßt haben dürfte. Die Beschäftigungsinhalte und -zeiten ähnelten stark den Vorschlägen der beiden katholischen Schwestern Athanasia und Eusebia.227 Religiöse Unterweisung und Bewegungsübungen standen im Mittelpunkt. Der Umgang mit Materialien wurde hier nicht erwähnt. Allerdings kann über den Ablauf der anderen Tage keine Aussage gemacht werden, da - wie schon angemerkt - dazu keine Unterlagen vorhanden sind. Für Krefeld existieren nur Unterlagen der Jahre 1881 und 1882. In diesen Jahren entstanden knappe Revisionsberichte über die evangelischen Institutionen. Die Revisionen wurden von Pastor Fay und dem Stadtverordneten Seyffardt durchgeführt. Den Berichten ist zu entnehmen, daß man den Kindern während der Vorführstunden vorwiegend Geschichten erzählte. Es wurde aber auch geturnt, gesungen oder mit »Birkhölzer« gebaut.228 Aussagen zu einem Stundenplan können nicht gemacht werden. Ein Artikel vom 18. November 1900 berichtete: »Eigentlicher Unterricht wird ja nicht erteilt und darf nicht erteilt werden, wohl werden die Gemüter der Kleinen durch hübsche, teils einfache biblische, teils andersartige Erzählungen, durch Spiele und Gesang anmutiger Kinderlieder angeregt und zugleich durch sorgfältige Beaufsichtigung vor nachteiligen Einflüssen bewahrt.«229 226 Ebenda. 227 Vgl. diese Arbeit, S.203ff. 228 Vgl. Stadtarchiv Krelfeld: Nachlaß L.F. Seyffardt 40.15.233. 229 Evangelischer Gemeindeverband Krefeld: Kirchlicher Anzeiger für die Gemeinde Krefeld vom 18. November 1900.
235 Für Bochum existierten zwei knappe Erinnerungen von zwei Frauen aus der Gemeinde Wattenscheid. Außerdem wurden Interviews mit drei Frauen durchgeführt, die Institutionen in den damaligen Stadtgrenzen von Bochum besuchten. Diese Einrichtungen unterstanden den Vinzentinerinnen aus dem Mutterhaus Paderborn. Darüber hinaus liegt ein Interview mit einer Diakonisse aus dem Mutterhaus Witten vor, die in den letzten Jahren vor Kriegsbeginn als Helferin in der evangelischen Einrichtung in Bochum-Langendreer arbeitete. Allen Berichten zufolge führte man mit den Kindern Spiele durch, die wenig Material erforderten. Singen, das Erzählen von Geschichten und Auswendiglernen von Gedichten standen im Vordergrund der täglichen Beschäftigungen. Die beiden Damen aus Wattenscheid230 besuchten zwischen 1913 und 1915 eine katholische Bewahranstalt. Ihren Erinnerungen zufolge saßen »alle Kinder .. still an den Tischen .. und spielten mit einem Spielzeug ... Da das Spielzeug sehr knapp war, wurde viel mit den Kindern gesungen und gespielt.«231 In der Anstalt stand ein großer Ofen, »der mit einem Gitter abgegrenzt wurde. Die Schwester und die Helferin mußten im Winter den Ofen jeden Morgen anheizen, da es sehr kalt war, und es lange brauchte, bis der Raum warm war, saßen alle Kinder mit der Schwester auf Bänken um den Ofen herum und wärmten sich. Dabei wurden ihnen Geschichten erzählt. Außerdem frühstückten alle Kinder gemeinsam am warmen Ofen.«232 Im Gegensatz zu dem Praxisbericht von Hanna Mecke zeigen die angeführten Berichte aus Köln, Krefeld und Bochum, daß Spiele und Beschäftigungen im Vordergrund standen, die mit wenig Materialaufwand verbunden waren. Wie die Berichte zur Finanzierung der Einrichtungen zeigen,233 war die finanzielle Lage der Kinderbewahranstalten in der Regel so angespannt, daß mit der Anschaffung von Verbrauchs- und Beschäftigungsmaterialien äußerst sparsam umgegangen werden mußte. Aber auch die Beschäftigungen und Spiele innerhalb der angeführten Institutionen waren offensichtlich von dem Ziel geprägt, den Kindern die gesellschaftlichen Normen und Werte zu vermitteln, wie Gehorsamkeit, Disziplin, Ordnung, Unterordnung und anderes mehr. Allerdings muß auch diese Praxis mit der Arbeitssituation in den Einrichtungen gesehen werden. Die Gruppen waren sehr groß, so daß eine freiere Arbeit kaum denkbar war. 8.8 Zusammenfassung Betrachtet man Handlungsanweisungen und Praxisberichte aus den Institutionen für Arbeiterkinder, so fällt auf, daß es eine Weiterentwicklung der pädagogischen Inhalte und Methoden gab. Standen vor der Jahrhundertwende Spiele und Be230 231 232 233
Wattenscheid ist heute ein Stadtteil von Bochum. Stadtarchiv Bochum: Quicklebendiger Kindergarten. 100 Jahre Kindergarten. Festschrift, S.7. Ebenda. Vgl. diese Arbeit, S.136ff.
236 schäftigungen im Vordergrund, die wenig oder kein Material erforderten, so wurden nach der Jahrhundertwende aufwendigere Beschäftigungsmittel propagiert und zum Teil auch eingesetzt. Fröbelsche Materialien beziehungsweise daran angelehnte didaktische Beschäftigungsmittel, die zum Teil von den Erzieherinnen hergestellt wurden, fanden vermehrt Eingang in die pädagogische Arbeit. Diese Tendenz zeigt ein verändertes pädagogisches Bewußtsein bei den Theoretiker/innen, zum Teil auch bei Trägern und Praktikerinnen. Diese Entwicklung kann nicht unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung interpretiert werden. Die industrielle Produktion forderte zunehmend Arbeiter, die sich vorgegebenen Zeitstrukturen, einem durchrationalisierten, arbeitsteiligen Prozeß anpassen mußten und in der Lage waren, präzise Arbeitsvorgänge durchzuführen. Die rigiden Stundenpläne, der Einsatz der Fröbelschen Materialien und die verschiedenen Beschäftigungen trugen zur Einübung in Grundfähigkeiten und -fertigkeiten bei, die für eine Industriearbeit notwendig waren. Gleichzeitig wurden mit diesen pädagogischen Maßnahmen politische Ziele verfolgt. Der Stundenplan, die Spiele und Beschäftigungen förderten eine Persönlichkeitsstruktur, die sich in die vorgegebene gesellschaftliche Ordnung problemlos integrieren ließ. Die damalige Pädagogik umfaßte außerdem die Erziehung zu Patriotismus und Militarismus. Die Autor/innen der christlichen Konfessionen verbanden Erziehungsziele und -inhalte mit der kirchlichen Glaubenslehre, das heißt mit der Vorstellung der Erbschuld. Die rigide Erziehung wurde mit dem Bösen im Kind begründet. Man drohte ihm im Verlauf dieser Erziehung mit dem Verlust der ewigen Seligkeit. Dies geschah bei den katholischen Pädagoginnen stärker als bei den evangelischen Autor/innen, die die Heilsgewißheit des Menschen hervorhoben und für eine etwas weniger rigide Erziehung eintraten. Durch ihre pädagogischen Prämissen sollten bei beiden KirchenVerhaltensweisen vermittelt werden, die sowohl der Erhaltung der Machtstellung der Kirchen als auch der staatlichen Herrschaft dienten. Die pädagogischen Vorstellungen der damaligen Zeit wurden noch lange aufrechterhalten, obwohl sie die Bedürfnisse der Kinder nur unzureichend berücksichtigten. Dies ist auch im Zusammenhang mit den schwierigen Rahmenbedingungen zu sehen. Durch die großen Gruppen, die unzulänglichen Räumlichkeiten und die häufig langen Öffnungszeiten waren die Erzieherinnen überbeansprucht, so daß ein Engagement zur Verbesserung der pädagogischen Arbeit in der Praxis vor Ort häufig über die physischen und psychischen Kräfte ging. Aufgrund der schwierigen Arbeitsbedingungen blieb den Frauen in den Einrichtungen oft gar nicht viel anderes übrig, als ihre pädagogische Arbeit auf die Beaufsichtigung und Beschäftigung der Kinder zu beschränken und sie auf diese Weise »ruhigzustellen«. Gleichwohl vertrat die Mehrheit der Theoretiker/innen und Praktikerinnen eine politische und pädagogische Einstellung, die eher der konservativen, staatstragenden Richtung zuzuordnen ist.
9
Schlußbetrachtung
In der vorliegenden Arbeit wurde die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung im Deutschen Kaiserreich untersucht. Von der Hypothese ausgehend, daß die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung im Kaiserreich in starkem Maße mit außerpädagogischen Faktoren vernetzt war, lagen dieser Arbeit bezugnehmend auf Wehler - die vier Untersuchungskategorien politische Herrschaft, Ökonomie, Sozialstruktur und Kultur zugrunde. Um die vielfältigen Verflechtungen der Pädagogik mit anderen gesellschaftlichen Systemen aufzuzeigen, wurde die Untersuchung im Mikrobereich des erzieherischen Feldes angelegt. Sie beschäftigt sich konkret mit einem pädagogischen Sektor - der öffentlichen Kleinkinderziehung - in einem überschaubaren Zeitraum (1871-1914) und erstreckt sich auf die Analyse von drei Städten, die zwar einer Region angehören, aber unterschiedliche ökonomische Strukturen, verschiedene demographische und soziale Entwicklungen sowie kulturelle Hintergründe und Traditionsbindungen aufweisen. Anhand des in dieser Arbeit analysierten Materials lassen sich eine Vielfalt miteinander vernetzter Faktoren und Motive für die Entwicklung der Institutionen zur Betreuung und Erziehung noch nicht schulpflichtiger Kinder nachweisen. Eine entscheidende Voraussetzung für die Ausbreitung der Institutionen öffentlicher Kleinkinderziehung in Köln, Krefeld und Bochum lag in der ökonomischen Struktur der drei Städte. Sie hatte wesentlichen Einfluß auf die demographische Entwicklung, aber auch auf die Ausprägung sozialer Probleme. In Köln erhöhte sich die Zahl der Institutionen besonders stark in den Jahren der Stadterweiterung und der drei Eingemeindungen (1888, 1910 und 1914), in Krefeld in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende und in Bochum bald nach der Jahrhundertwende. In Köln befand sich die Mehrheit der Institutionen in den Industriebezirken, in denen der Anteil der Arbeiterfamilien überdurchschnittlich hoch war.1 Schon früh hatte die Verlagerung der Produktionsstätten in die Außenbezirke von Köln begonnen, deren Bevölkerungszahl rasch anwuchs. In Krefeld erhöhte sich die Zahl der Einrichtungen mit dem Einsetzen der Wirtschaftskrise kurz nach der Reichsgründung und dem damit verbundenen Zuzug der arbeitslos gewordenen Handweber. Die Umstellung von der Haus- auf die Fabrikproduktion in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts führte zu einem erhöhten Bedarf an Kleinkindinstitutionen, um den Müttern die außerhäusliche Er1
Vgl. diese Arbeit, S.70.
E. Krieg, Immer beaufsichtigt – immer beschäftigt, DOI 10.1007/978-3-531-92848-7_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
238 werbsarbeit zu ermöglichen. Die zum Ende des selben Jahrhunderts erneut einsetzende und bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts andauernde Wirtschaftskrise führte zu einer Stagnation der Bevölkerungszahl sowie zu einem Rückgang der Kinderzahl. Mit einer mehrjährigen Verspätung wirkte sich diese Situation auf die Zahl der Institutionen aus. Mit der anschließenden Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und dem Ansteigen der Einwohnerzahlen nahm ihre Zahl wieder zu. In den Jahren der ökonomischen Krise in Krefeld herrschte in der Bochumer Wirtschaft eine langanhaltende Hochkonjunktur. Sie hatte einen sprunghaften Anstieg der Bevölkerungszahl zur Folge, unter anderem bedingt durch Zuwanderungen aus der näheren und ferneren Umgebung sowie aus den Gebieten östlich der Oder. Insbesondere die vorwiegend polnisch sprechenden Fernwanderer stellten die kommunalen Verantwortungsträger vor schwierige Integrationsprobleme. Die Anstaltszahlen nahmen nach der Jahrhundertwende erheblich zu und überflügelten die Krefelds. Bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes glichen sich die Enrichtungszahlen der beiden Städte dann wieder an. Der Vergleich zwischen Krefeld und Bochum zeigt, daß die in der Literatur vertretene These2, die Müttererwerbstätigkeit sei ein bestimmender Einflußfaktor für die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung, modifiziert werden muß. Für Bochum kommen neben der demographischen Entwicklung in erster Linie soziale Erwägungen in Betracht, da aufgrund der ökonomischen Struktur nur wenige Mütter einer Erwerbsarbeit nachgingen. Die Zuwanderungsproblematik, aber auch die hohe Belastung der Mütter durch die Subsistenzwirtschaft und Umweltbelastungen (schwierigere Reinigungsprobleme durch eine größere Verschmutzung der Umwelt) machten Institutionen zur Betreuung und Erziehung noch nicht schulpflichtiger Kinder notwendig. Die Institutionen sollten die Mütter entlasten, hatten aber auch die Funktion, die Kinder der Zuwanderer an städtische Lebensformen zu gewöhnen und sie im Erlernen der deutschen Sprache zu unterstützen. Schon die Gründung der ersten Einrichtungen ab 1878 war mit den sozialen Problemen aufgrund der Wirtschaftskrise nach der Reichsgründung verknüpft. Die Institutionen sollten, wie wiederholt betont wurde, die Kinder vor physischer und psychischer Verwahrlosung bewahren und ihnen sittliche Grundtugenden vermitteln, da die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in erster Linie dem sittlichen Versagen der Unterschichtfamilien zugeschrieben wurde. Auch in Krefeld nahmen die Institutionen mit der Verschärfung der sozialen Frage im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung zu. Zudem war hier die spezifische Wirtschaftsstruktur ein wichtiger Faktor. Aufgrund der Arbeitslosigkeit zogen viele 2 Vgl. Erning, Günter: Anfänge der öffentlichen Kleinkinderziehung im preußischen Verwaltungsbezirk Düsseldorf von ca. 1800 bis 1918. Nach amtlichen Unterlagen. In: Pädagogische Rundschau. Nr. 36/1982. Reyer, Jürgen: Wenn die Mütter arbeiten gingen ... Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert in Deutschland. Köln 1983. Zwerger, Brigitte: Bewahranstalt - Kleinkinderschule - Kindergarten. Aspekte nichtfamilialer Kleinkinderziehung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Weinheim und Basel 1980.
239 der arbeitlos gewordenen Heimweber in die noch von der Hausindustrie geprägte Industriestadt. In Köln dagegen sank die Zahl der Institutionen. Dies ist auch auf die Auswirkungen des Kulturkampfes3 zurückzuführen. Das Klostergesetz von 1875 verbot den katholischen Orden und Kongregationen jegliche Tätgkeiten außerhalb der Krankenpflege. Während in Bochum zur Zeit der Inkrafttretung dieses Gesetzes noch keine Kinderbewahranstalten bestanden und die Trägerschaft der Mehrheit der Krefelder Einrichtungen in den Händen von nichtkatholischen Bürgern lag, waren die meisten Institutionen in Köln katholisch und wurden von Ordensfrauen geleitet. In Krefeld konnte für die beiden noch im gleichen Jahr (1875) geschlossenen katholischen Einrichtungen schnell Ersatz geschaffen werden, während sich die Situation in Köln schwieriger gestaltete. Zwar wurden durch die Mehrheit der liberalen Stadtverordneten erste kommunale Einrichtungen als Kampfmaßnahme gegen die katholische Kirche und ihre politischen Vertreter geschaffen, doch reichte dies nicht aus, um die Schließung katholischer Institutionen zu kompensieren. Ökonomische Probleme der Stadtregierung setzten den liberalen Ambitionen enge Grenzen. Insgesamt fällt der hohe Versorgungsgrad mit Einrichtungen in den beiden Städten Krefeld und Bochum gegenüber Köln auf. Eine der Ursachen liegt in der unterschiedlichen Tradition: In Krefeld war das weltanschaulich bedingte soziale Engagement der Mennoniten und in Bochum die Bergarbeitertradition von Bedeutung.4 Beim Vergleich der Beweggründe des Engagements für die öffentliche Kleinkinderziehung bei den kommunalen Führungseliten5 und den Vertretern der drei im Deutschen Kaiserreich vorherrschenden pädagogischen Ansätze6 fällt die Ähnlichkeit der Motive auf. Ihre Gemeinsamkeiten liegen in der Interpretation gesellschaftspolitischer Probleme: Die unzulängliche Lebenssituation breiter Bevölkerungskreise wurde eher als individuelles moralisches Versagen interpretiert und weniger auf die ökonomische oder sozialpolitische Situation in den Städten zurückgeführt.7 Die beiden großen christlichen Kirchen sahen zudem die Ursache dieses vermeintlichen moralischen Versagens in der Entchristlichung der Gesellschaft.8 In der jeweils anderen Konfession wurde zudem eine Gefahr für den Glauben gesehen. In dieser Interpretation kommt die Konkurrenz um die Erhaltung des gesellschaftlichen Einflusses zum Ausdruck. Die sozialen Probleme wurden als Gefahr für das kommunale Ordnungsgefüge wahrgenommen und als Ursache für die Erstarkung der Sozialdemokratie sowie der Gewerkschaftsbewegung verstanden.9 Von den Kinderbewahranstalten erhoffte man sich einen Bei3 4 5 6 7 8 9
Vgl. diese Arbeit, S.68, 97ff. Vgl. diese Arbeit, S.71ff, 75ff, 90ff. Vgl. diese Arbeit, S.111ff. Vgl. diese Arbeit, S.175ff. Vgl. diese Arbeit, S.113ff, 176f. Vgl. diese Arbeit, S.188ff, 200ff. Vgl. diese Arbeit, S.125ff, 127ff.
240 trag zur Versittlichung der Unterschichtbevölkerung und damit als Teil von Maßnahmen zur sozialen Daseinsfürsorge eine Entschärfung der sozialen Konflikte. Eine solche Versittlichung sollte vor allem durch die Stärkung des Glaubens erreicht werden, die der Attraktivität der sozialdemokratischen Bewegung und Gewerkschaftsbewegung den Boden entziehen sollte.10 Den Kleinkindinstitutionen wurde somit die Aufgabe der Beeinflussung von Wertvorstellungen, Verhaltensnormen und politischen Orientierungen der Unterschichten zugewiesen. Sie übernahmen damit auch die Funktion der sozialen Kontrolle. Ziel der Pädagogik in den Einrichtungen war die Verankerung sittlicher Tugenden wie Gehorsam, Dankbarkeit, Ordnung, Disziplin und Fleiß.11 Dies steht in einem engen Zusammenhang mit den Erwartungen der Unternehmer, daß in den Kindern die Grundlagen für die Primärtugenden und -fertigkeiten - wie Zeit- und Arbeitsdisziplin sowie Fähigkeit zur Präzisionsarbeit - für ihre spätere Arbeit in den Fabriken gelegt werden.12 Gleichzeitig wurden den Kinderbewahranstalten die Aufgabe zugewiesen, die physische, die gesundheitliche Entwicklung der Kinder zu unterstützen. Darüber hinaus sollten die Institutionen den Müttern in den Städten mit einem hohen Anteil an Frauenarbeitsplätzen - Köln und Krefeld - die Erwerbsarbeit ermöglichen. Die Einrichtungen sollten in Bochum und zum Teil auch in Köln die Mütter entlasten, damit diese unbelastet durch Formen der Subsistenzwirtschaft zur Finanzierung des Familienbudgets beitragen konnten. Die Erwerbsarbeit der Mütter oder die Subsistenzwirtschaft trug zur minimalen ökonomischen Absicherung der Arbeiterhaushalte bei. Dadurch konnte häufig verhindert werden, daß diese Familien der Armenfürsorge zur Last fielen, die aus dem kommunalen Haushaltsbudget bestritten wurde.13 Bei der Analyse der pädagogischen Konzeptionen sowie in den Praxisbeispielen aus der Arbeit der Kinderbewahranstalten wurde deutlich, daß die erzieherische Arbeit stark von den gesellschaftlichen Einstellungen und der Interpretation der gesellschaftlichen Lage geprägt war. Es standen Beschäftigungen und Spiele im Vordergrund, die auf die Förderung von sittlichen Tugenden und Grundfertigkeiten zielten. So nahmen Übungen einen breiten Raum ein, die mit Disziplin, Fleiß und Gehorchen verknüpft waren. Die Spiele und Lieder sowie Geschichten hatten Texte zum Inhalt, die unter anderem auf Dankbarkeit und Demut hinzielten. In den kirchlichen Konzepten wurden diese Inhalte mit religiösen Motiven verbunden. Der Stundenplan setzte einen zum Teil engen Ordnungsrahmen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wird eine zunehmende Didaktisierung der Pädagogik erkennbar. Effektiviert wurde damit die Förderung von Grundfertigkeiten, die sich in der späteren Fabrikarbeit verwerten ließen.14 Verknüpft blieb die Ein10 11 12 13 14
Vgl. diese Arbeit, S.125ff, 188ff, 200ff. Vgl. diese Arbeit, S.176ff, 190ff, 202ff. Vgl. diese Arbeit, S.219ff. Vgl. diese Arbeit, S.118f. Vgl. diese Arbeit, S.198ff, 209f, 220ff.
241 beziehung der didaktischen Beschäftigungen mit der Einübung in sittliche Tugenden. Die Erziehung zielte - während des ganzen Untersuchungszeitraums - auf eine Anpassung der Unterschichtkinder an die bestehenden gesellschaftlichen Normen mit dem Ziel, sozialen Konfliktstoff zu entschärfen, ohne die Verhältnisse zugunsten dieser Kinder und ihrer Familien grundlegend verbessern zu müssen. Wie diese knapp skizzierten Zusammenhänge zeigen, sind pädagogische Entwicklungen vielfältig mit außerpädagogischen Faktoren vernetzt. Deshalb greift eine Betrachtung der pädagogischen Geschichte aus der Binnensicht zu kurz, um Entwicklungen der Institutionen und ihre pädagogische Ausprägung zu erklären. Die Hintergründe, die diese Entwicklung beeinflußten, bleiben vielfach unscharf, und es kann nur mit großem Vorbehalt rekonstruiert werden, welche Ursachen zum Beispiel für die Ausbreitung der Institutionen oder für die Entwicklung und Durchsetzung pädagogischer Konzepte vorrangig verantwortlich waren. Ungeeignet als Ausgangspunkt für eine historische Analyse ist aber die Präferenz einer einzelnen der Wehlerschen Kategorien - wie zum Beispiel Politik oder Ökonomie - für die Erfassung der vielfältigen Zusammenhänge, die die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung beeinflußt haben. In der vorliegenden Arbeit konnte die Präferenz einer bestimmten Untersuchungsdimension nicht ausgemacht werden. Vielmehr wird deutlich, daß erst in der Verflechtung der vier Wehlerschen Kategorien die Interdependenzen von pädagogischen und außerpädagogischen Faktoren sichtbar werden. Politische Interessen, ökonomische Strukturen und Entwicklungen, soziale Situation und kulturelle Hintergründe hatten insgesamt einen bestimmenden Einfluß auf die Ausbreitung der pädagogischen Institutionen in den untersuchten Städten Köln, Krefeld und Bochum. Sie beeinflußten ebenfalls die pädagogische Entwicklung der Institutionen. Es zeigt sich jedoch auch, daß die vier Kategorien nicht immer scharf zu trennen sind. Wehler unterliegt gelegentlich einer Hierarchisierung der Kategorien, in der Politik und Ökonomie einen besonderen Stellenwert einnehmen, während Kultur und Sozialstruktur eher unterrepräsentiert sind.15 Wie jedoch in der vorliegenden Arbeit deutlich wird, sind die vier Dimensionen, zumindest in Bezug auf die Thematik der Untersuchung, auf vielfältige Art miteinander vernetzt. Zugleich hat die Arbeit nachweisen können, daß Analysen im Mikrobereich der quantitativen Entwicklung von öffentlicher Kleinkinderziehung geeignet sind, Motive der kommunalen Funktionsträger und die politischen, ökonomischen, sozialen sowie die kulturellen Rahmenbedingungen und die unterschiedlichenstrukturellen Entwicklungsfaktoren innerhalb eines überschaubaren Raumes her15 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Sechste bibliographisch erneuerte Auflage. Göttingen 1988.
242 auszuarbeiten. Durch die Bestimmung der Gemeinsamkeiten und Differenzen der drei Städte können die jeweiligen Bedingungsfaktoren für die Entwicklung analysiert und damit die Verflechtung der pädagogischen Entwicklung mit außerpädagogischen Faktoren als weitgehend gesichertes Ergebnis festgehalten werden. Bei einer Makrostudie besteht dagegen die Gefahr, daß die verschiedenen Einflußfaktoren aufgrund der größeren Untersuchungseinheiten unscharf bleiben. Ausschließlich im Bereich der Analyse der verschiedenen, im Untersuchungszeitraum diskutierten pädagogischen Konzeptionen wurde auf den Makrobereich zurückgegriffen, da dieser von nicht regional begrenzter Bedeutung war. Auch hier zeigte sich, daß verschiedene Interessen, Anschauungen und weltanschauliche Hintergründe die Entwicklung von Konzepten beeinflußten. So konnte verdeutlicht werden, daß in diese pädagogischen Grundüberzeugungen auch die politische Einstellung sowie die Einschätzung der sozialen Situation miteinflossen. Zudem prägten wirtschaftliche Faktoren ihre Entwicklung. Wie aus den Praxisberichten sowie den Schilderungen der pädagogischen Arbeit und deren Rahmenbedingungen in den drei Städten erschlossen werden kann, spiegelt die Praxis vor Ort die Zugehörigkeit der Träger zu einer pädagogischen Richtung wider. Allerdings war der Ansatz der Fröbel-Nachfolgerinnen unmittelbar für die überwiegende Mehrzahl der Einrichtungen vor der Wende zum 20. Jahrhundert noch kaum von Bedeutung, da die Einrichtungen der kirchlichen Träger in der Mehrheit waren. Auch dürfte die Kostenintensität dieses Ansatzes die Verbreitung der Ideen Fröbels auch nach der Transformation durch seine Nachfolgerinnen erschwert haben, da bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes die materiellen Rahmenbedingungen unzureichend waren. Die Unterlagen aus Köln, Krefeld und Bochum weisen in diese Richtung.16 Insgesamt wurde deutlich, daß sich Ursachenerklärung für die gesellschaftlichen Probleme und die daraus abgeleitete Zielsetzung für die öffentliche Kleinkinderziehung im Kaiserreich durch die kommunalen Verantwortungsträger und die Vertreter der drei im Kaiserreich vorherrschenden pädagogischen Konzepte kaum unterschied. So kann durchaus von einer impliziten Interessenkoalition von städtischer Führungsschicht und Pädagog/innen gesprochen werden. Insgesamt zeigt sich in der Arbeit, daß die pädagogischen Einrichtungen sowohl in ihrer quantitativen Entwicklung - der zahlenmäßigen Ausbreitung -, als auch in den qualitativen Veränderungen - der pädagogischen Rahmenbedingungen und Konzepte - stark von außerpädagogischen Faktoren geprägt sind. Erziehungstheorie und -praxis wurden nicht ausschließlich von pädagogischen Intentionen und Theorien bestimmt. Vielmehr sind sie mit konkreten gesellschaftlichen Bedingungen verknüpft, die ihre Kerne in den Dimensionen politische Herrschaft, Ökonomie, Sozialstruktur und Kultur haben. Die Ergebnisse der historischen 16
Vgl. diese Arbeit, S.232ff.
243 Studie lassen die Frage offen, welche Strukturparallelen und welche typischen Konstellationsmuster heute für die Entwicklung von Bedeutung sind. Auch heute wird die Entwicklung der öffentlichen Kleinkinderziehung von vielfältigen Faktoren beeinflußt, die außerhalb der pädagogischen Intentionen angesiedelt sind. So stehen die Institutionen der öffenlichen Kleinkinderziehung, bedingt durch Veränderungen individueller Erfahrungsräume von Kindern sowie gesellschaftlicher und ökologischer Problemlagen, vor großen Herausforderungen. Schlaglichtartig seien genannt: Mehr als ein Drittel aller Kinder wachsen in Einkindfamilien auf. Gleichzeitig schwinden die Möglichkeiten zu Peergroup-Erfahrungen in unmittelbarer Nachbarschaft. 15% der Kinder in Westdeutschland und 18% in Ostdeutschland (1989) wachsen mit nur einem Elternteil auf. Die Erfahrungsräume grenzen sich räumlich, zeitlich und strukturell immer weiter gegeneinander ab, sie verinseln sich. Ein wichtiger Erfahrungsträger sind für Kinder die Massenmedien. Dagegen schwindet, inbesondere in Städten, die Möglichkeit zur aktiven Erschließung der unmittelbaren Lebensumwelt.17 Auf diesem Hintergrund intensivierte sich in den achtziger Jahren die Diskussion um institutionell-organisatorische Reformen und um Veränderungen pädagogischer Handlungsrepertoires. Ein Teil dieser Reformen wurde in Modellversuchen erprobt. Sie reichten von Innovationen pädagogischer Konzeptionen wie Rhythmisierung des Tagesablaufs, institutionelle Öffnung nach innen und außen, erweiterte Altersmischungen18 bis hin zum quantitativen Ausbau der Kindergärten19 und zu Modellen neuer Kooperationsformen zwischen Träger und Unterneh-
17 Vgl. Fölling-Albers (Hrsg.): Veränderte Kindheit - Veränderte Grundschule. Frankfurt am Main 1989. (Beiträge zur Reform der Grundschule. Bd. 75). Harms, Gerd und Christa Preissing (Hrsg.): Kinderalltag. Beiträge zur Analyse der Veränderung von Kindheit. Berlin 1988. Hentig, Hartmut von: Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft. München und Wien 1993, S.26ff. Preuss-Lausitz, Ulf: Die Kinder des Jahrhunderts. Zur Pädagogik der Vielfalt im Jahr 2000. Weinheim und Basel 1993, S.37ff. Rolff, Hans-Günter und Peter Zimmermann: Kindheit im Wandel. Eine Einführung in die Sozialisation im Kindesalter. Weinheim und Basel 1985, S.57ff, 67ff. 18 Vgl. Berger, Irene; Hedi Colberg-Schrader und Marianne Krug (Hrsg.): Land-Kinder-Gärten. Ein Projektbuch des Deutschen Jugendinstituts. Freiburg im Breisgau 1992. Colberg-Schrader, Hedi und Marianne Krug: Leben und lernen in Kindertagesstätten. Bericht über ein kooperatives Projekt des Deutschen Jugendinstituts und der Arbeiterwohlfahrt. München 1984. Deutsches Jugendinstitut. Projektgruppe Orte für Kinder (Hrsg.): DJI Projekt Orte für Kinder. Erste zentrale Arbeitstagung der TeilnehmerInnen aus den Modellstandorten. Vorhaben, Methoden, Planung, Umsetzung. München 1992. 19 Dies betraf die Kleinkindinstitutionen im Westtteil der Bundesrepublik, während im Ostteil die Einrichtungen abgebaut wurden. Letzteres stand im Zusammenhang mit den seinerzeit konstatierten Überkapazitäten, Geburtenrückgang und der hohen Erwerbslosigkeit. Vgl. Huppertz, Norbert: Fünf Jahre deutscher Einheit - auch im Kindergarten. Eine kleine Bilanz. In: Kindergarten heute. Nr. 11-12/1994, S.16ff. Neubauer, Ralf: Klar unter der Wasserlinie. In: Die Zeit. Nr. 21/1992, S.34. Sontheimer, Michael: Land ohne Kinder. In: Die Zeit. Nr. 41/1994, S.37f.
244 men20 sowie Konzepten, die den regionalen Besonderheiten Rechnung trugen.21 Damit wurde einerseits auf die Veränderungen der Aufwachsensbedingungen von Kindern reagiert, andererseits trugen diese Innovationen den neuen Lebensentwürfen von Frauen nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf und den Bedürfnissen von Unternehmen nach qualifizierten Arbeitnehmerinnen Rechnung.22 Dagegen hat heute die Bildunsgförderung junger Kinder an Wichtigkeit gewonnen. Schon vor der Debatte um die PISA-Studien diskutierte man in Fachkreisen die Bedeutung der Bildung in frühen Jahren. Einzelne Modellversuche wurden initiiert.23 Der »Arbeitsstab Forum Bildung« forderte im Kontext der Diskussion um den 20 Vgl. Devivere, Beate von: Neue sozialpolitische Arrangements zur Kinderbetreuung. Interview mit Harald Seehausen. In: Theorie und Praxis Sozialpädagogik. Nr. 3/1994, S.169ff. Gerzer-Sass, Annemarie: Kinderbetreuung im Nebeneinander von Arbeits- und Lebenswelt. Die neuen Formen müssen den vielfältigen Bedürfnissen von Erwachsenen und Kindern Rechnung tragen. In: Frankfurter Rundschau. Nr. 213/1992, S.16. Fellmeth, Rainer und Conrad Lay: Wenn die Firma den Kindergarten bezahlt. Im Ballungsgebiet Rhein-Main gehen Unternehmen und die Stadt Frankfurt neue Wege/Betriebs- und Wohnortnähe. In: Frankfurter Rundschau. Nr. 223/1992, S.6. Koenig, Eckart: Familie - Beruf - Teilzeitarbeit. In: Harald Seehausen (Hrsg.): Arbeitswelt kontra Familienwelt? - Zur Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Kindertagesstätte. Sozialpolitisches Forum ‘89. Dokumentation. Frankfurt am Main. O.J., S.55. Seehausen, Harald: Arbeitswelt, Familie, Kindertagesstätte: Ein Konfliktdreieck. In: Diskurs. Nr. 1/1991, S.24. Ders.: Arbeitgeber investieren in Kindergärten. DJI Bulletin. Heft 21, 1992. Ders.: Neue Orte für Kinder. Betriebliche Förderung von Kinderbetreuung? In: Welt des Kindes. Nr. 1/1992, S.14. 21 Vgl. Berger, Irene, Hedi Colberg-Schrader und Marianne Krug: A.a.O. Gerzer-Sass, Annemarie: A.a.O., S.16. Deutsches Jugendinstitut Projektgruppe Orte für Kinder (Hrsg.): A.a.O. 22 Hier sind Arbeitskräftemangel in bestimmten Branchen, hohe Ausbildungskosten und schnelle Veralterung beruflicher Qualifikation bei längerem Aussetzen aus dem Beruf und damit das Bemühen, Arbeitnehmerinnen im Arbeitsleben zu halten sowie vielfältige Flexibilisierung der Arbeitszeitregelungen zu nennen. Vgl. Fellmeth, Rainer und Conrad Lay: A.a.O., S.6. Koenig, Eckart: A.a.O., S.55. 23 GEW, Hauptvorstand (Hrsg.): Rahmenplan fühkindlicher Bildung. Ein Diskussionsentwurf der GEW. Beschlossen vom GEW-Bundesfachgruppenausschuss »Sozialpädagogische Berufe« am 21. 9. 2002. Elschenbroich, Donata: Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. München 2001. Dies.: Rechtzeitig das Verlernen lernen. Die Milchstraße am Horizont des Kindergartens. Neue Ausbildungsformen und Bildungsinhalte in der Frühpädagogik. In: klein & groß 2/1999, S.50ff. Krieg, Elsbeth (Hrsg.): STEP-Kitapraxis 1: Beobachten - Interpretieren - Handeln. Münster 2004. Dies. (Hrsg.): STEP-Kitapraxis 2: Die pädagogische Bedeutung des Raumes. Münster 2004. Dies. (Hrsg.): STEP-Kitapraxis 3: Projektarbeit mit Kindern. Münster 2004. Dies. (Hrsg.): STEP-Kitapraxis 4: Eltern- und Öffentlichkeitsarbeit. Münster 2004. Dies. (Hrsg.): STEP-Kitapraxis 5: Jungen und Mädchen im Kindergarten. Münster 2004. Dies. und Helmuth Krieg: STEP-Kitapraxis 6: Bildungsprozesse der Erzieherinnen. Münster 2004. Dies.: Bilden, fördern und gestalten in der Kita. Ergebnisse des STEP-Projekts. Münster 2008. Dies. und Elisabeth Krüger: Kinder verstehen lernen. Beobachtung - Eine Technik für sich. In: Welt des Kindes 4/2000, S.20ff. Laewen, Hans-Joachim und Beate Andres (Hrsg.): Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Bausteine zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Weinheim, Berlin und Basel 2002. Dies. (Hrsg.): Forscher, Künstler, Konstrukteure. Werkstattbuch zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Weinheim, Berlin und Basel 2002. Laewen, Hans-Joachim, Neumann, Karl und Zimmer, Jürgen (Hg.): Der Situationsansatz - Vergangenheit und Zukunft. Theoretische Grundlagen und praktische Relevanz.Seelze/Velber 1997.
245 Erhalt des Wirtschaftsstandortes Deutschland und dem Bedarf nach mehr qualifizierten Fachkräften eine Verbesserung der Bildungsbeteiligung aller Bevölkerungsgruppen. Im Elementarbereich sollte das Interesse der Kinder an naturwissenschaftlichen und technischen Fragen sowie der Sprache gefördert werden.24 Mit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studien Ende 2001 beschleunigte und verbreiterte sich die Debatte um die Notwendigkeit einer gezielten Bildungsförderung im Elementarbereich.25 Es wurde konstatiert, daß die Kindertageseinrichtungen nur unzureichend dem im Kinder- und Jugendhilfegestz26 verankterten Bildungsauftrag genügten. Die Förderung der Bildungs- und Entwicklungsprozesse junger Kindern rückte von nun an in das Zentrum der Diskussion. Insbesondere die konstatierte Benachteiligung von Kindern aus armen und bildungsfernen Familien sowie mit Migrationshintergrund gilt es auszugleichen.27 Hinzu kommen neuere Erkenntnisse in Pädagogik, Psychologie und Sozialisationsfor24 Arbeitsstab Forum Bildung in der Geschäftsstelle der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung: Kompetenzen als Ziele von Bildung und Qualifikation - Bericht der Expertengruppe des Forums Bildung. Bonn 14.2.2001. (Unveröffentlichtes Manuskript) Ders: Empfehlungen des Forums Bildung. Bonn 19.11.2001. www.forum-bildung.de. Hocke, Norbert: Bildungsrevolution in Deutschland. Die zwölf Empfehlungen des Forums Bildung im Überblick. In: klein & groß 1/2002, S.6ff. 25 Vgl. Baden-Württembergischer Handwerkstag (BWHT): Konsequenzen aus PISA. Positionen des Handwerks. Juli 2002. (Schriftenreihe Baden-Württembergischer Handwerkstag). BMFSFJ (Hrsg.): Auf den Anfang kommt es an! Perspektiven der Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland. Weinheim, Basel und Berlin 2003. Diskowski, Detlef, Xenia Roth und Beate Irskens: Nachdenken über Steuerungsmöglichkeiten durch Bildungsstandandards - neue Initiativen aus den Bundesländern. Dialog auf dem Podium. In: Detlef Diskowski und Eva Hammes - Di Bernardo (Hrsg.): Lernkulturen und Bildungsstandards. Kindergarten und Schule zwischen Vielfalt und Verbindlichkeit. Baltmannsweiler 2004, S.48ff. Fthenakis, Wassilios E.: Zur Neukonzeption von Bildung i. d. Frühen Kindheit. In: Ders. (Hrsg.): Elementarpädag. nach Pisa. Wie aus Kindertagesst. Bildungseinrichtg. werden können. Freibg i.Br. 2003, S.18ff. Grimm, Andrea (Hrsg.): Auf den Anfang kommt es an! Frühes lernen und die Folgen für Ausbildung und Beruf der Erzieherin. Loccum 2005 (Loccumer Protokolle 57/03). Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände: »Für das Wohl unserer Kinder! PISA und die Reform des Elementarbereichs«. Diskussionsbeitrag der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU) für eine grundlegende Reform der Bildungs- und Erziehungsarbeit im Bereich der Kindergärten und Kindertagesstätten im Land Hessen. April 2002. (Unveröffentlichtes Manuskript). 26 Vgl. Münder, Johannes u.a. Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum Kinder- und Jugendhilfegesetz. Münster, S.125ff. 27 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin 2005, S.154ff. Dass.: 13. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin 2009, S.44ff. Heinzel, Friederike u.a.: Kindheit und Lebenswelt. In: Horst Bartnitzky u.a. (Hrsg.): Kursbuch Grundschule. Frankfurt am Main 2009, S.166ff. Merten, Roland: Armutszeugnis Kinderarmut. Kinderarmut in Deutschland - mehr als nur ein Randphänomen. In: Grundschule aktuell, Zeitschrift des Grundschulverbandes, 2007/2, S.3ff. Palentien, Christian: Aufwachsen in Armut - Aufwachsen in Bildungsarmut. Über den Zusammenhang von Armut und Schulerfolg. In: Zeitschrift für Pädagogik. Heft 2/2005, S.154ff. Rauschenbach, Thomas: Ungleichheit im Elementarbereich. In: Dietlind Fischer und Volker Elsenbast (Hrsg.): Zur Gerechtigkeit im Bildungssystem. Münster u.a. 2007, S.123ff. Walper, Sabine: Sozialisation in Armut. In: Hurrelmann, Klaus, Matthias Grundmann und Sabine Walper (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung. 7, vollst. überarb. Aufl. Weinheim und Basel 2008, S.204ff.
246 schung28 und die Paradigmenwechsel zum Ko-Konstruktivismus, zu den intuitiven Theorien und multiplen Intelligenzen29, die ein neues Lernverständnis implizieren. Der Elementarbereich wird erneut als unverzichtbarer Teil des Bildungswesens verstanden30, der Kindern vielfältige Möglichkeiten bietet, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten umfassend auszubilden. Alle Bundesländer Deutschlands haben Bildungspläne entwickelt31 und die Jugendministerkonferenz sowie Kultusministerkonferenz verabschiedeten einen Rahmenplan für die Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen.32 Als Bildungsbereiche werden dort Sprache, Schrift und Kommunikation, personale und soziale Entwicklung, Werteerziehung und religi28
Vgl. Andresen, Sabine und Klaus Hurrelmann: Kindheit. Weinheim und Basel 2010. Braun, Anna Katharina: Wie Gefühle unser Gehirn verändern. Oder: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr? In: Forum Loccum 4/2003, S.7ff. BMFSFJ (Hrsg.): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. A.a.0., S.105ff. Hurrelmann, Klaus, Matthias Grundmann und Sabine Walper (Hrsg.): A.a.O. Mietzel, Gerd: Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens. Sechste, korrigierte Auflage. Göttingen u.a. 2001. Ders.: Kindheit und Jugend. Vierte, vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim 2002. Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt 2001. Singer, Wolf: In der Bildung gilt: Je früher, desto besser. In: Psychologie heute 1999/12, S.60ff. Ders.: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt am Main 2002. Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg und Berlin 2002. 29 Vgl. Boer, Heike de: Lernen als soziale Interaktion. In: Dies., Karlheinz Burk und Friederike Heinzel (Hrsg.): Lehren und Lernen in jahrgangsgemischten Klassen. Frankfurt am Main 2007, S.44-54. Dahlberg, Gunilla: Kinder und Pädagogen als Co-Konstrukteure von Wissen und Kultur. Frühpädagogik in postmoderner Perspektive. In: Wassilios E. Fhtenakis und Pamela Oberhuemer (Hrsg.): Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt. Wiesbaden 2004, S.13ff. Dies., Peter Moss und Alan Pence: Beyond Qualitiy in Early Childhood and Care. Postmodern Perspektives. 6th. Reprinted. London and Philadelphia 2004. Gardner, Howard: Abschied vom IQ. Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenzen. Stuttgart 1991. Ders.: Der ungeschulte Kopf. Wie Kinder denken. Zweite Auflage. Stuttgart 1994. Ders.: Erziehung und kognitive Revolution. In: Thilo Fitzner u.a.: (Hrsg.): Schulen ans Netz - Unterricht und PC. Bad Boll 1997. Krieg, Elsbeth und Helmuth Krieg: Bilden, fördern und gestalten in der Kita. A.a.O., S.44ff. Möller, Kornelia: Die naturwissenschaftliche Perspektive im Sachunterricht. Ziele, Probleme und Forschungsergebnisse. In: Fölling-Albers, Maria u.a. (Hg.): Jahrbuch III. Fragen der Praxis - Befunde der Forschung. Seelze/Velber 2001. Younnis, James: Soziale Konstruktion und psychische Entwicklung. Frankfurt am Main 1994. 30 In der Geschichte des Elementarbereichs wurde dem Kindergarten immer wieder explizit die Aufgabe der Bildungsförderung zugesprochen und er als Teil des Schulsystems gedacht. Bereits Fröbel wies ihm diese Aufgaben zu. Dies wurde von der Rudolstädter Lehrerversammlung 1848 in einer Petition an die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche aufgegriffen. Auch in der Rechsschulkonferenz gab es eine Gruppe, die einen Kontext zur Schule herstellte. Während der Reformperiode Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre wurde dem Kindergarten Bildungsfunktionen zugewiesen und er als Teil des allgemeinen Bildungsbereich begriffen. Vgl. Deutscher Bildungsrat: Strukturplan für das Bildungswesen. Empfehlungen der Bildungskommission. Stuttgart 1973, S.40ff, 98ff. Heiland, Helmut: Friedrich Fröbel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (Rowohlts Monograhien. Hrsg.: Kurt und Beate Kusenberg). Reinbek bei Hamburg 1982, S.115ff. Reyer, Jürgen: Einführung in die Geschichte des Kindergartens und der Volksschule. Bad Heilbrunn 2008. S.66ff, 132ff. 31 Sasse, Ada: Aufwachsen mit Schrift: Zugänge zur Schriftkultur in den Bildungsprogrammen der Bundesländer für den Elementarbereich. In: Bernhard Hofmann und Dies.: Übergänge. Kinder und Schrift zwischen Kindergarten und Schule. Berlin 2005, 192ff. www.bildungsserver.de/zeigen.html?seite-2027.
247 öse Bildung, Mathematik, Naturwissenschaft und Technik, musische Bildung und Umgang mit Medien, Körper, Bewegung und Gesundheit sowie Natur und kulturelle Umwelten angeführt.33 Allerdings wird sich gegen eine »Fächerorientierung oder Orientierung an Wissenschaftsdisziplinen« ausgesprochen, da diese »dem Elementarbereich fremd« ist.34 Vielmehr sollen sich die Bereiche durch angemessene Lernarrangements gegenseitig durchdringen. Programme und Beobachtungskonzepte zu verschiedenen Bildungsbereichen, zur partnerschaftlichen Formen der Elternarbeit und Vernetzung mit verschiedenen Institutionen und Behörden sowie zur Zusammenarbeit von Kindergarten und Schule werden entwickelt und erprobt.35 Nicht alle Konzepte sind unkritisch zu sehen. So konstatiert Röbe, daß die Gefahr nicht zu übersehen ist, »dass der Kindergarten einen schulisch verengten Leistungsbegriff übernimmt und schon sog. ›skills‹, wie das Schreiben des Namens, der korrekte Gebrauch der Schere, das Vervollständigen eines Satzes ... oder das Heraushören von Einzellauten aus einem gesprochenen Wort bereits für zentrale Indikatoren künftigen Schulerfolgs gehalten werden.«36 32 Jugendministerkonferenz: Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen. In: Detlef Diskowski und Eva Hammes-Di Bernardo: A.a.O., S.226ff. 33 Vgl. a.a.O., S.231f. 34 A.a.O., S.230. 35 Vgl. Bertelsmann Stiftung, Bundespräsidialamt (Hrsg.): Familie, Bildung, Vielfalt. Den demographischen Wandel gestalten. Gütersloh 2009; www.bertelsmannstiftung.de Friedrich, Gerhard und Viola de Galgóczy: Komm mit ins Zahlenland. Eine spielerische Entdeckungsreise in die Welt der Mathematik. Zweite Auflage. Freiburg im Breisgau 2004. Hebenstreit-Müller, Sabine und Anette Lepenies (Hrsg.): Early Excellence: Der positive Blick auf Kinder, Eltern und Erzieherinnen. Neue Studie zu einem Erfolgsmodell. Berlin 2007. Krieg, Elsbeth: Bildung, Professionalisierung und Kooperation von Erzieherinnen und Erziehern. In: Astrid Kaiser u.a. (Hrsg.): Bildung und Erziehung. (Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Hg. Wolfgang Jantzen. Bd.3). Stuttgart 2010, S.276f. Küspert, Petra und Wolfgang Schneider: Hören, lauschen, lernen. Sprachspiele für Kinder im Vorschulalter. Würzburger Trainingsprogr. zur Vorbereitg. a.d. Erwerb d. Schriftsprache. 2.Aufl. Göttingen 2000. Leu, Hans-Rudolf u.a.: Bildungs- und Lerngeschichten. Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten, dokumentieren und unterstützen. Zweite Auflage. Weimar und Berlin 2007. McKinsey & Company: Eine Chance für Neugier. Materialien zur frühkindlichen Bildung. Ein gemeinsamer Ausgangspunkt für die Diskussion in den Bildungswerkstätten. Weinheim und Basel 2005. www.mckinsey-bildet.de PIK - Profis Kitas. Programm zur Professionalisierung von Frühpädagogen in Deutschland. Robert Bosch Stiftung. www.profi-in-kitas.de. Steudel, Antje: Beobachtung in Kindertageseinrichtungen. Entwicklung einer professionellen Methode für die pädagogische Praxis. Weinheim und München 2008, S.81ff. Stöbe-Blossey, Sybille: Familienzentren in Nordrhein-Westfalen - eine neue Steuerung von niedrigschwelligen Angeboten für Kinder und Familien. In: Angelika Diller, Martina Heitkötter und Thomas Rauschenbach (Hrsg.): Familie im Zentrum. Kinderfördernde und elternunterstützende Einrichtungen - aktuelle Entwicklungslinien und Herausforderungen. München 2008, S.195ff. TransKigs. Stärkung der Bildungs- und Erziehungsqualität in Kindertageseinrichtung und Grundschule. Gestaltung des Übergangs. www.transkigs.de. WiFF - Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. Bundesministerium für Bildung und Forschung. www.weiterbildungsinitiative.de www.bildungsserver.de/zeigen.hmtl?seite=2299, www.bildungsserver.de/zeigen.hmtl?seite=2641, www.bildungsserver.de/zeigen.hmtl?seite=26995, www.bildungsserver.de/zeigen.hmtl?seite=4899. 36 Röbe, Edeltraud: »Leistung in den frühen Kindheitsjahren: Was heißt das für Kinder, Erzieher/innen, Grundschullehrer/innen?« In: Detlef Diskowski und Eva Hammes-Di Bernardo (Hrsg.): A.a.O., S.23.
248 An anderer Stelle führt Röbe aus: »Situative, reflexartige Maßnahmen sind kein Ersatz für ein Bildungskonzept. Auch wenn sie heute in moderner Aufmachung daherkommen, spiegeln sie die Machart so mancher Schnellförderprogramme aus den 70er Jahren und sind als Alarmzeichen für längst überholte Reaktionsmuster zu sehen. Isoliertes Training von Fertigkeit über Arbeitsmappen und Computerprogramme, die aus Pappschablonen ausgeschnippelten zigfachen Entchen oder Engelchen an den Fensterscheiben und die Invasion an Mandalas, die als Beleg für Anstrengung und Durchhaltevermögen gelten, sie zeigen die Sogwirkung der Schule, die - ebenso verengt - den Kindern das Entscheidene schuldig bleibt: Bildung«.37 Im Rahmen der PISA-Diskussionen und des Bolognaprozesses werden seit dem Jahr 2003 an Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen und Universitäten Bachelorstudiengänge für Pädagog/innen etabliert38, da zur Bewältigung der hohen Anforderungen in der Arbeit mit Kindern die Fachschulausbildung unzureichend ist. Kindheitspädagog/innen benötigen unter anderem vertiefte wissenschaftsbasierte Kenntnisse in den verschiedenen Disziplinen und die Fähigkeit, diese in der Praxis vor Ort reflexiv einbringen zu können. Insbesondere benötigen sie einen forschenden Habitus, der es ihnen einerseits ermöglicht, die Ideen, Fragen und intuitiven Theorien der Kinder wahrzunehmen und sie sensibel in ihren Forschungsprozessen begleiten zu können. Andererseits sind Kindheitspädagog/innen gehalten, wissenschaftliche Recherchen durchzuführen, um den Anschluß an die schnell fortschreitende Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu erhalten, aber auch in ihren Einrichtungen Praxis- und Evaluationsforschungen durchzuführen. In jüngster Zeit wird im Kontext des Ausbaus der Plätze für Kinder unter drei Jahren einerseits auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf rekurriert. Andererseits wird die Notwendigkeit gesehen »die Chancen einer 37 Dies.: Übergänge von der ›situativen‹ zur bildungsorientierten Kindergartenarbeit. In: Liselotte Denner und Eva Schumacher (Hrsg.): Übergänge im Elementar- und Primarbereich reflektieren und gestalten. Beiträge zu einer grundlegenden Bildung. Bad Heilbrunn Obb. 2004, S.210. Zur Kritik siehe auch: Kalicki, Bernhard: Lernen und Lernunterstützung in der frühen Kindheit. In: Unsere Jugend 2010, S.204; Krieg, Elsbeth und Helmuth Krieg: Bilden, fördern und gestalten. A.a.O., S.47ff, 57ff.; Elsbeth Krieg, Meinig, Birgit und Simone Wustrack: Von der Kindertagesstätte zum Familienzentrum. Entwicklungen und Herausvorderungen für die Praxis. Hannover 2010; Steudel, Antje: A.a.O. S.81ff. 38 Diller Angelika und Thomas Rauschenbach (Hrsg.): Reform oder Ende der Erzieherinnenausbildung? Beitr. zu einer kontroversen Fachdebatte. DJI (Hrsg.): DJI-Fachforum Bildg. u.Erziehg. Bd.4. München 2006. Fthenakis, Wassilios E.: Die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern: Strategiekonzept zur Weiterentwicklung von Ausbildungsqualität. In: Ders. und Pamela Oberhuemer (Hrsg.): Ausbildungsqualität. Strategiekonzepte zur Weiterentwicklung der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Neuwied, Kriftel und Berlin 2002, S.15-38. Hoffmann, Hilmar: Traditionsbrüche in der Erzieherinnenausbildung oder die Folgen von Bologna. In: Betrifft Kinder. Heft 5/2005, S.29ff. Krieg,Elsbeth: Bildung,Professionalisierung u.Kooperation v.Erzieherinnen u.Erziehern.A.a.O.,S.277f. Dies. und Anette Schneider-Vollmann: Bachelor-Studiengang Elementarpädagogik - in Kooperation von Fachhochschule und Fachschulen. In: Eva Hammes-Di Bernardo und Sabine Hebenstreit-Müller (Hrsg.): Innovationsprojekt Frühpädagogik. Professionalität im Verbund von Praxis, Forschung, Aus- und Weiterbildung. Baltmannsweiler 2005. Robert Bosch Stiftung (Hrsg.): Frühpädagogik studieren - ein Orientierungsrahmen für Hochschulen. Stuttgart 2008.
249 kompensatorischen Förderung von Kindern« zu nutzen, »die zu Hause wenig Ressourcen und Anregungen für Bildung erhalten«39.Diese neueren Entwicklungen zeigen, daß Innovationen im pädagogischen Bereich nicht nur von innerinstitutionellen Bedingungen und im engeren Sinne pädagogischen Intentionen abhängen, sondern daß diese mit vielfältigen außerpädagogischen Faktoren verbunden und zum Teil als Reaktionen auf sie zu interpretieren sind. Das heißt, quantitative und qualitative Entwicklungen im pädagogischen und sozialpädagogischen Bereich sind eng mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und deren Veränderungen verknüpft. Die gesellschaftlichen Strukturen stellen sich aber heute im Gegensatz zum Deutschen Kaiserreich wesentlich differenzierter dar. Waren damals zum Beispiel die Zuordnung der Schichten, die gesellschaftlichen Werte und Normen, die Lebensformen relativ überschaubar, so zeigt sich die heutige Gesellschaft wesentlich komplexer und unübersichtlicher. Deshalb gilt es in der heutigen Phase von der Moderne zur Postmoderne die verschiedenen Ebenen mit den vier Dimensionen zu verknüpfen, die ihrerseits auf historische und traditionelle Kontexte sowie Technologie und Wissenschaft zu erweitern sind.40 Dies betrifft auf der Makroebene der beschleunigte Wandel der letzten Jahrzehnte in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sowie die fortschreitende Technisierung und Informatisierung. Das verändert mentale Strukturen und schlägt sich in der Kultur und im sozialen Zusammenleben nieder.41 Dazu gehören die Globalisierung der Märkte, die sowohl für die Schwellenländer als auch etablierten Ländern zwar vielfältige Chancen eröffnen, aber auch mit hohen Risiken verbunden sind. Zunehmend wird erkannt, daß die natürlichen Ressourcen begrenzt sind und die ökologischen Probleme dramatisch zunehmen. Die beschleunigte Entwicklung in der Technologie und der Wissenschaft stellen alle Beteiligten, Staaten und Individuen, vor neue Herausforderungen. Alte Konzepte und Gewissheiten werden in der nachindustriellen Gesellschaft abgelöst durch Komplexität, Subjektivität, Multiperspektivität, Diversität und Diskontinuität.42 Diese eng miteinander vernetzten Entwicklungen erfordern vom Individuum neue Kompetenzen, wie »Denken und Durchschauen komplexer Prozesse, Analyseund Planungskompetenz, logistisches Denken, Dispositionswissen, kommunikative Kompetenz, Teamfähigkeit, Problemlösefähigkeit etc.«.43 Die vielfältigen Entwicklungen nehmen auf die Meso- und Mikroebene mittelbar und unmittelbar 39 Riedel, Birgit: Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige: Ausbauziele und Ausbaurealitäten. In: Christian Bethke und Sonja Adelheid Schreiner (Hrsg.): Die Jüngsten kommen. Kinder unter drei in Kindertageseinrichtungen. Weimar und Berlin 2009, S.41. 40 Vgl. Dahlberg, Gunilla, Peter Moss, und Alan Pence: A.a.O., S.14ff. 41 Vgl. a.a.O., S.8ff; Krieg, Elsbeth und Helmuth Krieg: Bilden, fördern und gestalten. A.a..O., S.39. 42 Vgl. Dahlberg, Gunilla, Peter Moss und Alan Pence: A.a.O., S.22ff. Krieg, Elsbeth und Helmuth Krieg: A.a.O., S.39f. Moss, Peter: Jenseits der Qualitätsdiskussion: Kindertageseinrichtungen in postmoderner Perspektive. In: Hedi Colberg-Schrader und Pamela Oberhuemer (Hrsg.): Qualifizieren für Europa. Praxiskulturen, Ausbildungskonzepte, Initiativen. Baltmannsweiler 2000, S.4ff.
250 Einfluß. Daß betrifft zum Beispiel Probleme, die mit Migrationsbewegungen, Arbeitslosigkeit und Armut in Familien, Veränderungen der Familienformen, Technisierung und Mediatisierung des Kinderlebens und anderen Zeiterscheinungen verbunden sind. Gleichermaßen sind dazu Diskussionen und Vereinbarungen der Jugendministerkonferenz, verschiedenen Verbänden sowie Gesetze, Verordnungen und Vorgaben über Bildungspläne auf der Ebene der Bundesländer sowie die für das pädagogische Marktsegment entwickelten Konzepte und Materialien zu zählen. Sie nehmen Einfluß auf die unmittelbare pädagogische Arbeit der Einrichtungen. Gleichzeitig ist die einzelne Institution in ihre umgebende Kultur eingebunden, die spezifische Erfordernisse an sie stellt. Dies betrifft unter anderem die Wirtschafts-, Sozial- und Siedlungsstruktur des Einzugsgebiets, die Trägerschaft sowie die Größe der Einrichtung, die Ausbildung des Personals und die Gruppenstruktur. In diesem Kontext ist jede Institution gehalten, ihr spezifisches pädagogisches Profil zu entwickeln, das einerseits die gesellschaftlichen Herausforderungen annimmt, aber auch gleichzeitig in diesem Rahmen Konzepte kritisch dahingehend prüft, inwieweit sie in sich geschlossen und unveränderbar zu übernehmen oder inwieweit sie so offen sind, so daß sie flexibel auf die gegebene Situation transformiert werden können.44 In diesem Zusammenhang ist nach den Interessen und Ansprüchen von Politik und Wirtschaft nach schnellen und verwertbaren Ergebnissen zu fragen und zu überprüfen, inwieweit diesem Druck standgehalten werden kann. Der Wunsch des Kindes und sein Recht seine Persönlichkeit allseitig auszubilden, sollte ein Schwerpunkt in der pädagogischen Konzeption und Praxis einnehmen, ohne die notwendige Vorbereitung auf gesellschaftliche Anforderungen aus dem Blick zu verlieren. Dazu gehört die Förderung der kognitiven, emotionalen, sozialen und vielsinnlichen Fähigkeiten, die es dem einzelnen Kind ermöglicht, sich über verschiedene »Sprachen« auszudrücken und als bedeutsame Persönlichkeit im Austausch mit anderen Kindern und Erwachsenen zu erleben. In diesem Rahmen sind die Eltern als unverzichtbarer Teil der Einrichtung einzubeziehen. Historische Studien, wie die vorliegende, können sich nicht an pragmatischen Nutzungsperspektiven etwa im Hinblick auf die Gestaltung pädagogischer Arbeit oder ihrer institutionellen Rahmenbedingungen orientieren. Sie können aber wegen der tendenziell geringeren Komplexität des Untersuchungsfeldes Paradigmen für das Untersuchungsdesign aktualitätsbezogener empirischer Forschung im Bereich pädagogischer Institutionen und pädagogischen Praxishandeln geben. Auch in dieser Hinsicht leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur erziehungswissenschaftlichen Forschung. 43 Holtappels, Heinz Günter: Schulkultur und Innovation - Ansätze, Trends und Perspektiven der Schulentwicklung. In: Ders. (Hrsg.): Entwicklung von Schulkultur. Ansätze und Wege schulischer Erneuerung. Neuwied, Kriftel/Ts. und Berlin 1995, S.13. 44 Zu einem Konzept, das ein Modell aus dem Ausland auf die Bedingungen von Einrichtungen einer Stadt in einem Projekt zu tranformieren suchten vgl. Krieg, Elsbeth und Helmuth Krieg: A.a.O.
10 Literatur und Anhang
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Bochum 21.192 33.440 47.601 65.551 136.916 143.176
280 Zunahme der Polen in Bochum nach den Volkszählungen2 1890 1900 1905 1.120 1.841 4.673
1910 6.269
Entwicklung der Kleinkinder3 Jahr Köln 1871 12.943 1880 17.350 1890 34.225 1900 45.419 1910 57.339
Bochum 2.871 6.401 7.396 9.317 20.582
Krefeld 6.886 11.172 14.789 11.118 12.508
Entwicklung der Kinderbewahranstalten in Köln, Krefeld, Bochum4 Jahr Köln Krefeld 1871 13 55 1880 12 9 1890 29 14 1900 34 19 1910 40 17 1914 56 22
Bochum 1 3 106 11 21 22
Versorgungsgrad der 2- bis 6-jährigen Kinder in Prozent Jahr Köln Krefeld 1890 13 12 1900 12 14
Bochum 18 16
Demographische Entwicklung in Langendreer7 Jahr insgesamt 1839 1.515 1871 4.859 1885 10.151 1895 15.046 1905 23.111
Außenbezirke 563 (37%) 2.982 (61%) 6.611 (65%) 9.421 (63%) 15.308 (66%)
davon im Dorf 952 (63%) 1.877 (39%) 3.540 (35%) 5.625 (37%) 7.803 (34%)
1 Crew, David: Bochum. Sozialgeschichte einer Industriestadt 1869-1914. Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1980. (Sozialgeschichtliche Bibliothek: Hrsg. Dieter Groh), S.37. Silbergleit, Heinrich: Preußens Städte. Denkschrift zum 100jährigen Jubiläum der Städteordnung vom 19. November 1808. Berlin 1908, S.4. Jasper, Karlbernhard: A.a.O., S.37. Stadtarchiv Krefeld: Verwaltungsberichte 1871 bis 1914. Stadtarchiv Bochum: Verwaltungsberichte 1871 bis 1914. 2 Wachowiak, St.: Die Polen in Rheinland-Westfalen. Leipzig 1916, S.18. 3 Silbergleit, Heinrich: A.a.O., S.12ff. Preußische Statistik 1871-1910. 4 Verwaltungsberichte für die Stadt Köln 1884 bis 1908. Adreßbücher für die Stadt Köln 1871 bis 1911. Stadtarchiv Köln: Abt. 40-44.318. Verwaltungsberichte für die Stadt Krefeld 1872 bis 1914. Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg: I 894; II D 60; II D 620. Märkischer Sprecher 1871-1914 5 Die Anstaltszahlen liegen für Krefeld erst ab 1872 vor. 6 Für Bochum lagen nur für die Jahre 1892, 1902, 1908 und 1912 genaue Daten vor. Die anderen Daten beziehen sich auf Berechnungen aufgrund der Veröffentlichungen im Märkischen Sprecher. 1899 wurden im Adressbuch insgesamt neun Einrichtungen angegeben. Vgl. Staatsarchiv Münster: Regierung Arnsberg: I 894; II D 60; II D 620. Märkischer Sprecher 1971 bis 1914. 7 Stadtarchiv Bochum: AL 1047. AL 243.