Joan Garner
Immer war die Angst zu Gast
Irrlicht Band 349
Leise verließen die beiden Frauen den Raum. Als sie den V...
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Joan Garner
Immer war die Angst zu Gast
Irrlicht Band 349
Leise verließen die beiden Frauen den Raum. Als sie den Vorraum erreicht hatten, in den auch die große Freitreppe mündete, hielten sie für einen Moment erschrocken inne. Sie hatten Geräusche gehört, ein unterdrücktes Atmen und das Knarren eines Dielenbrettes. Hester hielt es in der Dunkelheit nun nicht mehr länger aus. Sie schaltete die Stablampe ein und ließ den Lichtkegel über die Treppe gleiten. Als der Strahl den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, riß das Licht eine unheimliche Gestalt aus dem Dunkeln. Es war die Gestalt eines Mannes. Die Haut seines bloßen Oberkörpers schimmerte bleich im Schein der Stablampe. Auf seinem Kopf befand sich die gefiederte Maske, und in seiner Faust hielt er ein blutiges Messer mit krummer Schneide!
Der Nebel hatte sie bis in die Obstplantagen verfolgt. Erst als sie mit ihrem alten Ford langsam den Gebirgsfuß der Sierra Nevada hinauffuhren, lichtete sich der dichte Januarnebel allmählich. Hester Parks warf einen verstohlenen Blick zurück auf die San Francisco Bay. Irgendwo in weiter Ferne konnte sie die Spitzen der Golden Gate Bridge aus dem Nebel hervorstechen sehen. Aber sie waren von der Metropole bereits so weit entfernt, daß die junge Journalistin keine weiteren Einzelheiten mehr erkennen konnte. Seufzend wandte sich Hester an ihren Fahrer. »Der Januar ist nicht gerade die angenehmste Zeit für einen Trip in die Berge«, stellte sie nüchtern fest und schlang ihren wattierten Parker noch enger um ihre Schultern. Die Heizung des klapprigen Ford kam kaum gegen die feuchte Kälte an, die durch die Ritzen des Wagens hereindrang. »In unserem Beruf muß man mit vielen Unannehmlichkeiten zurechtkommen«, erwiderte Frank Scranto gelassen. »Nebel und Kälte sind noch die angenehmeren Widrigkeiten, finde ich.« Frank Scranto war Fotograf und arbeitete für dieselbe Illustrierte wie Hester Parks. Er verfügte über mehr Berufserfahrung als seine junge Kollegin, eine Tatsache, die er ihr etwas zu oft unter die Nase rieb. Hester bedachte ihren Kollegen mit einem verärgerten Seitenblick. Natürlich lag es ihr fern, sich bei Frank über das Wetter und den Nebel zu beschweren. Sie hatte genau gewußt, was sie in den Bergen erwarten würde. Und sie war bereit, diese Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Eigentlich hatte sie mit dem Fotografen nur ein Gespräch beginnen wollen. Aber wie so oft würgte der Mann mit den schwarzen lockigen
Haaren, die immer ein wenig ungebändigt wirkten, das Gespräch ab, ehe es sich richtig entwickeln konnte. Frank Scranto war kein sehr gesprächsfreudiger Mensch. Dabei war er Hester nicht einmal unsympathisch. Das markante männliche Gesicht des Fotografen verriet seine italienische Abstammung. Das leicht vorgeschobene Kinn war immer von einem Bartschatten umgeben, und seine Lippen zeigten oft ein schelmisches, hintergründiges Lächeln. Dieses Lächeln umspielte auch in diesem Augenblick seine Lippen, als er leicht vornübergebeugt durch die Windschutzscheibe seines alten Ford starrte. Vor ihnen wand sich die Straße in seichten Serpentinen den Gebirgsfuß der Sierra Nevada hinauf. Schade, daß Frank nicht auch etwas von der Redseligkeit der Italiener mitbekommen hat, dachte Hester. Die Aussicht, die lange, beschwerliche Reise mit einem fast stummen Mann machen zu müssen, hob ihre Stimmung nicht gerade. Hester richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung. Die letzten Obstplantagen lagen längst hinter ihnen, aber bis zu ihrem Ziel war es noch ein weiter Weg! Die junge Journalistin versuchte an etwas Erfreuliches zu denken. Und während ihr Blick über die Gebirgszüge glitt, die dem Sierra Nevada-Gebirge vorgelagert waren, dachte sie daran, welcher glücklichen Fügung sie es zu verdanken hatte, daß sie diese Reise unternehmen durfte. Als Hester Diana Courtland vor einigen Wochen einen Fragenkatalog und ein Foto mit Lebenslauf zuschickte, hatte sie nicht wirklich damit gerechnet, bei der Frau des berühmten Millionärs einen Interview-Termin zu bekommen. Seit dem schrecklichen Tod ihres Mannes lebte die verwitwete Diana Courtland zurückgezogen in einem Landhaus weitab von jeglicher Zivilisation in der Sierra Nevada. Vor dem tragischen Tod ihres Mannes war Diana Courtland eine angesehene Frau
gewesen. Es wurde in San Francisco kein Bankett abgehalten, bei dem sie und ihr Mann nicht eingeladen waren. Es gab keinen Wohltätigkeitsball und keinen Empfang, auf dem sie nicht an der Seite ihres Mannes zu sehen war. Die Boulevardblätter und Frauenzeitschriften berichteten in fast jeder Ausgabe von dem exquisiten Leben der schönen Frau. So auch die Fairy, die Frauenzeitschrift, für die Hester arbeitete. In der Fairy gab es sogar eine ganze Artikelserie, die jeden Monat ein Interview mit Diana Courtland zu einem bestimmten Thema herausgebracht hatte. Aber das war lange vor Hesters Zeit gewesen. Die junge Journalistin arbeitete erst seit drei Monaten im Team der Fairy. Der grausame Mord an dem Millionär Eddi Courtland lag bei ihrem Eintritt in die Redaktion schon ein halbes Jahr zurück. Nach einer schmutzigen und niederträchtigen Kampagne im Konkurrenzblatt der Fairy zog sich Diana aus dem öffentlichen Leben zurück. Seitdem hatte Diana Courtland nie wieder ein Interview gegeben! Hester hatte sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, dies zu ändern. Vor ihrem Aufbruch hatte Hester noch einmal die Artikel des Konkurrenzblattes durchgelesen. Madame Frisco hieß die Frauenzeitschrift, und eine gewisse Pamela Crowler behauptete darin hartnäckig, Diana Courtland hätte ihren Gatten aus Eifersucht umgebracht. Die Gerichte konnten die Anschuldigungen, die in der Madame Frisco erhoben wurden, nicht bestätigen. Diana Courtland wurde unschuldig gesprochen. Aber da der wahre Mörder des Millionärs nie gefunden wurde, hielt Madame Frisco das Gerücht im Umlauf, Diana hätte ihren Mann getötet. In Hesters Augen war das Verhalten dieser Pamela Crowler verabscheuungswürdig. Es war offensichtlich, daß die Journalistin die Anschuldigungen gegen Diana Courtland nur aufrechterhielt, um die Auflage des Frauenmagazins in die
Höhe zu treiben. Spektakuläre Artikel verkauften sich eben immer noch am besten. Aber Hester war der festen Überzeugung, daß die Wahrheit dabei nicht zu kurz kommen und die Würde eines Menschen dem Journalismus nicht geopfert werden durfte. Daß sie mit diesen Vorsätzen nicht ganz falsch lag, bewies ihr schließlich auch die Einladung, die sie von Diana Courtland erhalten hatte. Es würde das erste Interview sein, das die einst so angesehene Frau nach dem Tod ihres Mannes geben würde! Für diese Leistung hatte sie ein dickes Lob ihres Chefredakteurs geerntet. »Ich war mir sicher, daß es ein Gewinn für die Fairy sein würde, Sie in unser Team aufzunehmen«, hatte der gewichtige Mann gesagt. Und er hatte Hester für ihr Vorhaben den besten Fotografen zur Seite gestellt, über den die Illustrierte verfügte: Frank Scranto! Hester war stolz auf ihre Leistung. Und sie war sich sicher, daß sich der beschwerliche Weg in die Abgeschiedenheit der Sierra Nevada lohnen würde. Bei diesen Gedanken wurde Hester wieder behaglicher zumute. Zufrieden lehnte sie sich in den Autositz zurück und genoß den herrlichen Ausblick auf die Sierra Nevada. Das Gebirge türmte sich wie eine braune schroffe Wand vor ihr auf. Die Gipfel verschwanden irgendwo in einem Meer aus regenschweren Wolken. Aber den unwirtlichen Eindruck, den der massive Fels bei Hester hinterließ, vertrieb die junge Journalistin mit dem Gedanken, bald der bekanntesten Frau von San Francisco gegenüberzustehen. Sicher würde das Interview einen günstigen Einfluß auf ihre Karriere haben, da war sich Hester hundertprozentig sicher. Hätte Hester in diesem Moment geahnt, was das Gebirge für Schrecken für sie bereithielt, sie wäre sofort bereit gewesen, auf das Interview zu verzichten und umzukehren. Aber so nahm das Grauen seinen Lauf…
*
»Wieso kann sich ein Starfotograf wie du eigentlich kein vernünftiges Auto leisten!« schimpfte Hester. Die müden Scheibenwischer des alten Ford kämpften vergeblich gegen die Fluten an, die sich aus den Wolken auf den Wagen zu entladen schienen. Frank mußte sich nun noch weiter vorbeugen, um überhaupt noch etwas erkennen zu können. »Mein Ford hat mich noch nie im Stich gelassen«, erwiderte Frank leicht gekränkt. »Es sind nur noch wenige Meilen. Wir müßten bald angekommen sein!« Hester schaute erneut auf die Karte, die sie auf ihren Knien ausgebreitet hatte. Der letzte Ort, den sie vor etwa einer Stunde passiert hatten, hieß Placerville. Die armselige Ansammlung von windschiefen Häusern hatte nicht sehr einladend auf die beiden gewirkt. Trotzdem hatte Frank Scranto unter den argwöhnischen Blicken der Bewohner einige Fotos geschossen. Aber kurz nachdem sie den Ort verlassen hatten, setzte plötzlich der Regen ein. Der kalte Wind peitschte das Regenwasser gegen die Windschutzscheiben. Wie ein Sturzbach floß der Regen an der Scheibe hinab und machte es fast unmöglich, irgend etwas zu erkennen. »Wir müssen anhalten«, forderte Hester schließlich. »Ich habe keine Lust, in einem Abgrund zu zerschellen!« Frank nickte. Die Fahrt durch den Regen hatte ihn sehr angestrengt. Trotz der Kälte, die im Wagen herrschte, standen Schweißperlen auf seiner Stirn. »Du hast recht«, stimmte er zu. »Diese Strecke ist ein Alptraum!«
Frank steuerte den Ford an die Felswand und ließ den Motor ersterben. Hester atmete einmal tief durch und strich sich mit einer nervösen Handbewegung durch das lange blonde Haar. Den Reißverschluß des wattierten Anoraks hatte sie bis zum Kinn hochgezogen. Trotzdem war ihr die Kälte in die Glieder gekrochen. Die junge Frau verspürte Lust, den engen Wagen zu verlassen und sich ein wenig die Füße zu vertreten. Aber leider mußte sie diesen Impuls unterdrücken, denn sie wäre in wenigen Sekunden völlig durchnäßt gewesen. Statt dessen machte sich Hester im Fond des Wagens zu schaffen. Sie wühlte in ihrem Gepäck herum. Als sie die Thermoskanne endlich gefunden hatte, mußte sie enttäuscht feststellen, daß sie bereits leer war. »Verflucht!« hörte die junge Journalistin in diesem Augenblick ihren Kollegen schimpfen. »Du hättest statt deiner ominösen Fotoausrüstung vielleicht lieber eine Thermoskanne mehr einstecken sollen«, entgegnete Hester, die glaubte, Franks Fluchen beziehe sich auf die leere Thermoskanne. »Das meinte ich gar nicht«, sagte Frank ungehalten. »Es fängt an zu schneien!« Hester wandte sich um und starrte aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört. Es war plötzlich gespenstisch still geworden, und riesige Schneeflocken schwebten vom Himmel. Sie fielen so dicht, daß der fallende Schnee wie eine fließende weiße Wand wirkte. »O nein!« hauchte Hester. Sie hatte plötzlich das Bild vor Augen, mit dem verstockten Frank zusammen in dem Ford einzuschneien. Sie wußte, daß diese Region der Sierra Nevada im Januar manchmal von Schneestürmen heimgesucht wurde. Aber daß ausgerechnet sie in so ein Unwetter geraten würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Hester sah ihren Begleiter von der Seite an. »Natürlich hast du keine Schneeketten dabei!« sagte sie, wobei sie sich wunderte, woher sie plötzlich die Kraft für diesen Sarkasmus nahm. Frank Scranto zuckte nur bedauernd mit den Schultern. »Ich bin doch kein Expeditionsunternehmen«, versuchte er sich zu rechtfertigen. Hester schüttelte ergeben den Kopf und schaute an die Wagendecke. »Prima, dann werden wir hier eben überwintern«, meinte sie. »Immerhin haben wir noch ein paar Kekse. Aber die werden uns vor dem Erfrieren auch nicht retten!« »Red keinen Unsinn!« fuhr Frank die junge Frau gereizt an. »Ich werde eben aussteigen und vorgehen. Du setzt dich hinters Steuer und folgst mir vorsichtig. So sollten wir es eigentlich bis zum Anwesen der Courtlands schaffen!« Noch ehe Hester einen Einwand erheben konnte, hatte Frank den Ford schon verlassen. Hester seufzte und rutschte hinter das Steuer. Obwohl Frank nur wenige Schritte vor der Kühlerhaube stand, konnte sie ihn nur als undeutlichen Schemen erkennen. Frank winkte ungeduldig, und Hester startete den Wagen. Im Schrittempo folgte sie der schattenhaften Gestalt inmitten der wirbelnden Schneeflocken. Hester mußte ihr ganzes Fahrkönnen aufbringen, um den schweren Wagen von der Stelle zu bekommen. Der Schneebelag auf der Straße war bereits so dicht, daß die Räder teilweise nicht mehr faßten und durchdrehten. Plötzlich war Frank im dichten Schneegestöber verschwunden. Dann tauchte unvermittelt ein dunkler Schemen an einer anderen Stelle auf. Die schattenhafte Gestalt winkte mit sonderbar hölzern wirkenden Armbewegungen und
schrie ihr irgend etwas zu, was Hester aber nicht verstand und was sich in ihren Ohren wie ein weinerlicher Singsang anhörte. Hester riß das Steuer herum und ahnte im gleichen Augenblick, daß sie einen Fehler begangen hatte. Der Wagen geriet aus der Spur und legte sich quer. Dann schlidderten die Räder über einen vereisten Schneebuckel, der sich auf einer kleinen Anhöhe im eisigen Wind gebildet hatte. Ein unheilvolles Rucken ging durch den Wagen. Hester trat die Bremse bis zum Bodenblech durch. Aber die Räder schlitterten weiter über die verschneite Straße. Hester verlor nun endgültig die Kontrolle über den Wagen. Der Ford drehte sich um seine eigene Achse und rutschte die Anhöhe hinunter. Aus den Augenwinkeln sah Hester plötzlich Frank auftauchen, der auf den Wagen zugelaufen kam. Nur eine Sekunde später prallte der junge Fotograf mit dem Auto zusammen. Hester schrie auf und ließ das Lenkrad los. Verzweifelt versuchte sie die Autotür zu öffnen, um sich in Sicherheit zu bringen. Aber ihre steifgefrorenen Finger glitten immer wieder an dem Griff ab. Und dann war der Wagen zu schnell, um ihn noch gefahrlos verlassen zu können. Wie ein Schlitten raste der Ford die Anhöhe hinab. Dann schälte sich auf einmal etwas ganz Dunkles aus dem hellen Schneetreiben, etwas Finsteres, das selbst die Schneeflocken zu verschlucken schien. Ein Abgrund! schoß es Hester durch den Kopf. Ich rase genau auf einen Abgrund zu! Mit einem entsetzten Aufschrei schlug sie die Hände vor die Augen. Jeden Moment mußte sie ein Gefühl der Schwerelosigkeit überkommen, wenn der Ford im freien Fall über die Felskante stürzte… Aber statt des sonderbaren Gefühls im Magen, das Hester erwartete, spürte die junge Frau plötzlich, daß sie nach vorne
geschleudert wurde. Es gab einen Knall und ein häßliches, kreischendes Geräusch, dann schlug Hester mit dem Kopf gegen das Lenkrad und verlor das Bewußtsein…
*
Als Hester wieder zu sich kam, fühlte sie Hände, die über ihre Handgelenke und ihren Hals strichen. Dann schlang sich ein Arm um ihren Nacken, und ein anderer schob sich unter ihre Kniegelenke. Benommen blinzelte Hester. Nur undeutlich erkannte sie einen Mann, der sich über sie beugte. »Frank?« stieß sie mit krächzender Stimme hervor. Der Mann erwiderte etwas, was sie nicht genau verstand. Aber am Klang der Stimme erkannte sie, daß sie es mit einem Fremden zu tun hatte. Und dann sah sie die langen, glatten, schwarzen Haare, die warm und angenehm über ihr Gesicht strichen. Sah sie das dunkle, ledern wirkende Gesicht und die braunen schrägstehenden Augen, die sie geheimnisvoll musterten. Es waren diese Augen, die sie am meisten erschreckten. Denn das eine bewegte sich unabhängig von dem anderen, wie bei einem Chamäleon! Hester schrie schrill auf und wollte sich gegen die Umarmung des unheimlichen Mannes wehren. Aber sie bereute diese unbedachte Bewegung sofort. Wie ein Messer fuhr ihr der Schmerz durch den Kopf. Ihre Glieder fühlten sich zerschlagen und wund an. »Haben Sie keine Angst«, hörte sie plötzlich die Stimme des Mannes dicht an ihrem Ohr. »Mrs. Courtland schickt mich, um nach Ihnen zu suchen. Als das Schneetreiben einsetzte, hat
sie sich Sorgen um ihre Gäste gemacht. Und wie es aussieht, zu Recht!« Erst jetzt bedachte Hester den Fremden mit einem prüfenden Blick. Und sie erkannte augenblicklich, daß es sich bei dem Mann um einen Indianer handelte, der sie anscheinend gerade aus dem schrottreifen Ford zu bergen versuchte. »Bitte bewegen Sie sich nicht«, sagte der Indianer mit ruhiger Stimme. »Ich habe Sie gleich aus der Blechkiste befreit.« So gut sie vermochte, unterstützte Hester die Bemühungen des Indianers. Und schließlich gelang es ihm, die junge Frau aus dem Auto herauszuziehen. Der Indianer setzte Hester auf einem Felsbrocken ab. Im gleichen Moment hätte Hester beinahe losgeschrien, denn sie sah nun den Ford und begriff, wie nahe sie dem Tod gewesen war. Das Auto hing schon mit einem Vorderrad über dem Abhang. Der schneeverklebte Reifen drehte sich noch träge im Leeren. Das andere Vorderrad war total zerquetscht. Die Kühlerhaube war an dieser Seite gegen einen mannshohen Felsblock geknallt. Hester hatte den Stein nicht sehen können, da er vom Schnee bedeckt gewesen war. Aber nun hatte ihn die Erschütterung von der Schneeschicht befreit. Und Hester konnte die Buchstaben entziffern, die in den Stein gemeißelt waren: Courtland House stand dort geschrieben. Und darunter befand sich ein Pfeil, der zu einer kleinen Senke wies. Hester schüttelte fassungslos den Kopf. Wie es aussah, hatte ihr der Wegweiser zum Haus ihrer Gastgeberin das Leben gerettet! Aber in diesem Moment fiel ihr wieder ein, daß sie nicht allein gewesen war. »Mein Gott, wo ist Frank?« fragte sie mit zitternder Stimme.
Der Indianer legte Hester eine Wolldecke über die Schulter. »Ich werde Ihren Partner suchen«, versprach er und ließ sich von Hester beschreiben, wo sie Frank zuletzt gesehen hatte. Gleich darauf war der Mann verschwunden. Hester blieb mit ihren Ängsten allein zurück. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen. Nur noch wenige Flocken schwebten durch die eisige Luft. Wenig später sah die Journalistin zwei Gestalten die Anhöhe herunterkommen. Hester atmete erleichtert auf, als sie erkannte, daß es Frank Scranto war, den der sonderbare Indianer stützte. »Ich dachte schon, jetzt wäre es um uns beide geschehen«, sagte Frank, als er den Felsblock erreicht hatte, und strich Hester erleichtert durch das wirre Haar. Dann besah er sich seinen Wagen und stieß hörbar die Luft aus. »Meine alte Mühle ist hin«, sagte er schwermütig. »Aber ich bin froh, daß wir beide noch am Leben sind. Und sogar die Fotoausrüstung hat überlebt!« Hester erkannte, daß Frank den Schock schon überwunden hatte. Aber ihr zitterten immer noch die Glieder, und so war sie auf die Hilfe der beiden Männer angewiesen, als sie sich endlich auf den Weg zum Anwesen der Courtlands machten. »Wie heißen Sie eigentlich?« wollte Hester wissen, als der Indianer seinen Arm unter ihre Achsel schob, um sie beim Gehen zu stützen. »Man nennt mich Squint Eye«, erklärte er mit einem etwas schiefen Lächeln. Hester erwiderte dieses Lächeln. »Schielendes Auge« ist ein passender, wenn auch unschöner Name, dachte sie dabei. Aber die Indianer hatten eine Vorliebe dafür, mit den Namen auch die Eigenschaften der Menschen zu benennen, wie sie wußte. Und im stillen schämte sie sich ein wenig dafür, daß sie sich
einen Moment vor diesen befremdenden Augen gefürchtet hatte.
*
Das prasselnde Feuer in dem großen Kamin aus Feldsteinen ließ Hester die Kälte schnell wieder vergessen. Nachdem Squint Eye die beiden Verunglückten in das prächtige Landhaus gebracht hatte, war der Indianer noch einmal zu dem Ford zurückgegangen, um das Gepäck der beiden Gäste zu holen. Nun saß Hester in frischen, trockenen Kleidern vor dem Kamin und nippte an einem Glühwein, den Squint Eye für sie zubereitet hatte. Diana Courtland saß in einem großen barocken Sessel und beobachtete ihre Gäste mit sorgenvoller Miene. Hester fand, daß die Frau des Millionärs trotz des vielen Leides, das sie hatte durchmachen müssen, immer noch sehr gut aussah. Das brünette Haar war kurz geschnitten und umrahmte in weichen Wellen das schmale Gesicht. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters war ihre Haut glatt und faltenlos. Die feingeschnittene, schmale Nase verlieh dem schönen Gesicht mit den vollen Lippen genau den Ausdruck, der für Diana Courtland immer typisch gewesen war und der den unzähligen Leserinnen der Frauenzeitschriften bis heute im Gedächtnis geblieben war. Nur ihre grünen Augen wirkten ruhiger und ein wenig trauriger als früher, aber Hester fand, daß Diana dadurch nur noch hübscher wirkte. »Ich bin ja so froh, daß Squint Eye Sie noch rechtzeitig gefunden hat«, sagte Diana Courtland in diesem Augenblick, und die Erleichterung war ihrer Stimme deutlich anzuhören.
»Wenn man lange genug in diesen Bergen wohnt, bekommt man ein Gefühl für das Wetter. Und die hoch aufgetürmten Wolken heute morgen verrieten nichts Gutes.« Hester schauderte, als sie an den Unfall zurückdachte. Wie leicht hätte alles in einer Katastrophe enden können! Aber sie schüttelte ihre Erinnerungen ab und wandte sich ihrer Gastgeberin zu. »Es muß anfangs sehr schwer für Sie gewesen sein, dem gesellschaftlichen Leben in San Francisco den Rücken zu kehren. War die Einsamkeit der Sierra Nevada nicht erdrückend?« Diana lächelte die junge Journalistin milde an. Dann legte sie ihre schmale Hand auf die Lehne des Sessels und strich gedankenverloren über den Samtbezug. »Es ist hier gar nicht so einsam, wie Sie vielleicht glauben«, antwortete Diana geheimnisvoll. »Und außerdem habe ich vor dem Tod meines Mannes viel Zeit mit ihm zusammen an diesem Ort verbracht. Hier existieren nur angenehme Erinnerungen. Aber in San Francisco springt mir aus jeder Ecke das Mißtrauen entgegen – und der Verdacht, ich hätte meinen Mann getötet!« Hester schwieg betreten. Sie spürte plötzlich, was es für eine Frau bedeuten mußte, mit so einem ungeheuerlichen Verdacht leben zu müssen. In diesem Moment betrat Frank den großen Empfangssaal. Er hatte seine Fotoausrüstung umgehängt und fing sofort an zu fotografieren. Hester war ein wenig verärgert, weil er mit seinem ungestümen Benehmen die vertrauliche Atmosphäre zerstörte. »Sie haben einen wunderschönen Landsitz«, sagte er, während er den großen Kamin mit den beiden Frauen davor ins Visier nahm. »Die Leserinnen der Fairy wird es interessieren, wie eine Frau lebt, die ihren Mann…«
Frank hielt plötzlich inne und ließ den Fotoapparat schuldbewußt sinken. »Entschuldigen Sie…«, stammelte er. »Ich wollte Sie nicht kränken!« Diana war blaß geworden. Und Hester kam es so vor, als würden plötzlich Schatten über die Augen der Millionärin huschen. Doch dann faßte sich die Frau wieder. »Es ist schon gut«, sagte sie merklich kühler als zuvor. »Ihr Gerede beweist nur einmal mehr, daß Gerüchte nicht totzukriegen sind.« Mit diesen Worten erhob sich Diana Courtland und entschuldigte sich mit einem schwachen Nicken. »Squint Eye hat ein Dinner für Sie vorbereitet. In einer halben Stunde treffen wir uns im Speisesaal.« Damit verschwand sie durch die schwere Flügeltür. »Bravo!« stieß Hester entnervt hervor. »Mach nur weiter so, und du kannst die Artikelserie über Diana Courtland vergessen. Ich war gerade dabei, mich mit der Frau anzufreunden!« Frank kaute schuldbewußt auf seiner Unterlippe herum und starrte auf den handgeknüpften Teppich zu seinen Füßen. »Es soll nicht noch einmal vorkommen«, versprach er kleinlaut. Hester schüttelte resigniert den Kopf. »Warum mußt du ausgerechnet in solch einer Situation so redselig werden? Du bist doch sonst so stumm wie ein Fisch!« Hester war sich bewußt, daß sie Frank beleidigt hatte. Aber sie war sehr wütend und brachte die Kraft nicht auf, sich bei ihrem Kollegen zu entschuldigen. Statt dessen stand sie auf und verließ ebenfalls den Saal. Sie wollte sich in dem Zimmer, das Squint Eye ihr zugewiesen hatte, für das Dinner zurechtmachen. Hesters Zimmer lag in einem Seitenflügel des großzügig angelegten Hauses. Es mußte Eddi Courtland eine Menge Geld gekostet haben, das Baumaterial in die Berge schaffen zu
lassen. Und wie es aussah, hatte er keine Kosten und Mühen gescheut, in dieser abgeschiedenen Gegend einen kleinen Palast in Form eines ausgedehnten Landhauses zu errichten. Selbst das Gästezimmer, das Hester zugewiesen wurde, glich einem komfortablen Appartement. Ein großes rundes Bett stand in der Mitte, und erlesene Möbel gaben dem Raum eine stilvolle, exquisite Ausstrahlung. Hester holte das Diktiergerät, das sie in der Tasche getragen hatte, hervor und legte es auf den Schreibtisch. Viele Informationen hatte sie dank Frank bisher nicht erhalten, aber sie wollte das Gerät immer mit sich herumtragen und die aufgezeichneten Gespräche später in ihrer Redaktion auswerten. Hester zog sich für das Dinner um und verstaute das Diktiergerät in einer unscheinbaren Tasche in dem fliederfarbenen Kostüm. Dann trat die junge Frau ans Fenster und schaute hinaus. Der Schneefall war wieder heftiger geworden. Die Flocken fielen dicht, und Hester konnte kaum etwas erkennen. Irgendwo glaubte sie die Umrisse einiger Felsen und Sträucher zu erkennen, aber alles war bereits mit einer hohen Schneedecke bedeckt. Wie sollen wir nur wieder zurückkommen? fragte sich Hester in diesem Augenblick. Der Ford war nicht mehr fahrtüchtig, und bis jemand kam, um ihn zu reparieren, würden Tage vergehen, denn Hester glaubte kaum, daß sich bei diesem Wetter jemand in die Berge hinauftraute. Plötzlich glaubte Hester einen menschlichen Schemen im Schneegestöber zu sehen. Es war eine sonderbare Gestalt, die sich merkwürdig hölzern und unbeholfen bewegte – und der Kopf schien riesengroß zu sein.
Hester mußte unwillkürlich an die winkende Gestalt im Schneegestöber denken, die sie gesehen hatte, kurz bevor sie die Kontrolle über den Ford verloren hatte. Und plötzlich wußte sie, daß es nicht Frank gewesen war, den sie gesehen zu haben glaubte. Es war jener gespenstische Schemen, der sich dort draußen unter ihrem Fenster durch den Schnee kämpfte! Er hatte gewunken und Hester zu der unbedachten Reaktion verleitet, die schließlich den Unfall verursacht hatte! Diese Erkenntnis packte Hester wie der würgende Griff eines Raubtieres und ließ sie nicht mehr los. Hester riß das Fenster auf. Kalter Wind und eisige Schneeflocken trieben ihr ins Gesicht. »Hallo, ist da jemand?« schrie sie in die weiße Hölle hinaus. Aber die Gestalt war plötzlich verschwunden. Nur das Heulen des Windes war zu hören und ein sonderbarer weinerlicher Singsang! Hester starrte angestrengt hinaus, aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte den Schemen nicht wieder entdecken. Dann war auch der Gesang verweht, und Hester war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Schnell schloß sie das Fenster wieder. Wahrscheinlich habe ich mich geirrt, und der Schnee hat mir einen Streich gespielt, dachte sie. Aber so ganz überzeugt war sie davon nicht. Schließlich löste sich die junge Journalistin vom Fenster und trat vor den Spiegel. Sie richtete ihr langes Haar und zog den Lippenstift nach, denn sie wollte auf den Fotos, die Frank schoß, gepflegt und adrett wirken. Ein Foto von einer Journalistin, der die Strapazen des Tages anzusehen waren, würde man nicht in der Fairy abdrucken. Den kleinen Zwischenfall vergaß sie schnell wieder.
*
»Sie können selbstverständlich in meinem Haus übernachten«, sagte Diana Courtland. »Bei diesem Unwetter ist die Straße nach Placerville unpassierbar. Selbst Squint Eye würde es mit meinem Landrover nicht schaffen. Erst wenn das Schneetreiben zu Ende ist, könnte man versuchen, nach Placerville zu kommen. Aber so lange werden Sie meine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen müssen!« Hester tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Es freut mich sehr, daß Sie uns dieses großzügige Angebot machen«, sagte sie sichtlich erleichtert. »Wenn ich ehrlich bin, steckt mir der Schrecken des Unfalls immer noch in den Knochen. Ich bin froh, wenn ich bei diesem Wetter nicht noch einmal mit einem Auto die schwierige Paßstraße befahren muß!« Squint Eye, der für Diana Courtland ein »Mädchen für alles« war, betrat den Speisesaal und deckte den Tisch ab. Hester lobte den Indianer für seine Kochkünste und erntete dafür ein freundliches Lächeln. Den schielenden Blick des Indianers empfand Hester allerdings immer noch als unheimlich. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie sich an den Mann gewöhnt hatte. Die junge Journalistin richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Gastgeberin. Sie wollte das unterbrochene Gespräch wieder aufnehmen, und sie hoffte, daß Frank ihr diesmal keinen Strich durch die Rechnung machen würde. »Wie kommt es eigentlich, daß Sie mir die Ehre zuteil werden ließen, Sie in Ihrer Abgeschiedenheit besuchen zu dürfen?« fragte sie über den Tisch hinweg. »Es war Ihr Lebenslauf, der mich dazu bewog«, gestand Diana Courtland. »Sie sind eine Frau, die sich mit ehrlichen Mitteln einen Weg im Berufsleben gesucht hat. Und
Ehrlichkeit ist eine Tugend, die ich hochschätze. Ich wünschte, all Ihre Kolleginnen würden nach diesem Prinzip arbeiten.« Hester gab sich geschmeichelt, und sie überhörte den kleinen Seitenschlag gegen Pamela Crowler nicht, die für die unwürdige Kampagne gegen Diana Courtland verantwortlich zeichnete. »Ich kann Ihnen versichern, daß ich nicht in dieselbe Kerbe schlagen werde wie Miß Pamela Crowler, die ich persönlich nicht kenne. Und an dieser Stelle wollte ich mich bei Ihnen auch noch einmal für das unglückliche Verhalten meines Kollegen entschuldigen.« Hester bedachte Frank mit einem auffordernden Seitenblick. Der Fotograf nickte daraufhin zustimmend, blieb aber stumm. Hester stellte Diana Courtland noch ein paar Fragen, aber die junge Journalistin bemerkte schnell, daß ihre Gastgeberin befangen und wenig aussagefreudig war. Schließlich schickte Hester Frank Scranto los, um ein paar Fotos von dem Landhaus zu schießen. Er sollte sich auch Squint Eye widmen und ihn ein wenig über seine Arbeit ausfragen. Frank verstand den Hinweis und verschwand. Als die beiden Frauen endlich allein waren, forderte Diana ihren Gast auf, sie in den Kaminsaal zu begleiten. Dort saßen sie dann lange zusammen. Die Millionärin taute schnell auf und zeigte sich nach einigen Fragen aufgeräumt und fröhlich. Ihr schien es Freude zu bereiten, endlich einmal wieder mit einem Menschen aus San Francisco reden zu können. Für Hester war es ein aufschlußreiches Gespräch. Und sie mußte sogar einmal die Kassette in ihrem Diktiergerät auswechseln, da die erste schon bald voll war. Hester war müde, aber zufrieden, als sie am Abend ihr Zimmer betrat. Diana hatte ihr erlaubt, sich von den Sachen zu bedienen, die in dem geschnitzten Schrank in ihrem Zimmer
hingen. Hester öffnete die geschwungenen Schranktüren und stieß einen anerkennenden Pfiff durch die Zähne aus. Der geräumige Schrank war mit Kleidern und Kostümen gefüllt. Sogar Unterwäsche und Nachtzeug waren vorhanden. Hester wählte ein bodenlanges, seidiges Nachthemd aus. Es war schon immer ihr Wunsch gewesen, so ein Nachthemd zu tragen, aber bisher war sie nie dazu gekommen, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Voller Vorfreude entkleidete sie sich und begab sich unter die Dusche. Dann streifte sie das Nachthemd über. Ein wohliger Schauer durchrieselte ihren Körper, als sie den kühlen, glatten Stoff auf der nackten Haut spürte. Sie drehte sich im Kreis und betrachtete sich in einem großen Spiegel, der fast vom Boden bis zur hohen Decke reichte. Hester war zufrieden mit sich und der Welt – und müde. Die Kopfschmerzen, Auswirkungen des Unfalls, machten sich wieder bemerkbar. Schließlich ging Hester zum Bett und schlug die Decke auf. Sie wollte sich schon hinlegen, da wich sie plötzlich mit einem spitzen Schrei zurück! Auf dem Kopfkissen lag eine große Vogelkralle! Wie im Todeskampf waren die Krallen zu einer Klaue verkrümmt. Am Stumpf klebte dunkles, getrocknetes Blut. Hesters Atem ging stoßweise. Nur langsam erholte sie sich von dem Schreck. Mit angehaltenem Atem näherte sie sich dem grausigen Fund. Wer, um alles in der Welt, legt mir eine abgehackte Vogelkralle aufs Kopfkissen? dachte Hester angewidert. Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht hat Squint Eye mit dieser Beigabe die bösen Geister aus dem Zimmer vertreiben wollen, überlegte sie.
Mit spitzen Fingern ergriff sie das Vogelbein. Als ihre Fingerspitzen die rauhe, kalte Kralle berührten, hätte sie ihre Hand am liebsten wieder weggezogen, aber sie biß die Zähne zusammen und hob die Kralle vom Kopfkissen. Dann eilte sie zum Fenster, öffnete es und schleuderte das eklige Ding hinaus in den Schnee. Hester atmete auf. Sie glaubte nun mit Sicherheit, daß Squint Eye für diese Überraschung verantwortlich war. Aber sicher steckte keine böse Absicht dahinter. Squint Eye war ein Indianer, und vielleicht gehörte es zu den Bräuchen seines Stammes, Frauen Vogelkrallen aufs Kopfkissen zu legen. Bei diesem Gedanken mußte Hester unwillkürlich schmunzeln. Sie schloß das Fenster wieder und kroch mit einem zwiespältigen Gefühl in das große Bett. Das Kopfkissen ließ sie allerdings unberührt. »Morgen werde ich Squint Eye auf die Vögelkralle ansprechen«, nahm sie sich vor. Dann löschte sie das Licht und schloß erschöpft die Augen.
*
Erschrocken fuhr Hester aus dem Schlaf und starrte in die Dunkelheit. Irgend etwas hatte sie geweckt. Vorsichtig richtete sich die junge Frau in ihrem Bett auf. Und dann hörte sie es wieder: Ein sonderbarer, weinerlicher Singsang wehte durch den Raum! Bei dem Klang der fremdartigen Melodie und der sonderbaren, schrillen Laute kroch Hester eine Gänsehaut über den Rücken. Es handelte sich um dieselben Laute, wie sie der Schemen im Schneegestöber von sich gegeben hatte!
Angespannt lauschte sie, während sie wie versteinert in ihrem Bett saß. Hester vermochte nicht zu sagen, ob es eine Männerstimme oder eine Frauenstimme war, die dort auf so befremdliche Weise einen klagenden Gesang anstimmte. Aber sie wußte plötzlich, daß sie es herausfinden mußte. Trotz ihrer Furcht erhob sie sich aus ihrem Bett. Sie wollte die Ursache dieses Gesangs ergründen. Ihre journalistische Neugierde war erwacht! Hester streifte sich einen wollenen Morgenmantel über und verstaute das Diktiergerät in einer der Taschen. Dann lauschte sie wieder. Der Gesang hatte für eine Weile aufgehört. Aber wenig später setzte das klagende Gewimmer wieder ein. Barfuß schritt Hester auf die Tür zu und öffnete sie geräuschlos. Dann spähte sie in den dunklen Korridor hinaus. Aber in der Finsternis war nichts zu erkennen. Dafür erklang nun jedoch der klagende Gesang um so deutlicher. Hester löste sich von der Tür und trat in den Korridor hinaus. Einen Augenblick verharrte sie lauschend. Dann bewegte sie sich vorsichtig in die Richtung, aus der sie den Gesang vermutete. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Nach einer Weile gelangte sie in einen abgelegenen Teil des Seitenflügels. Diana hatte ihr erzählt, daß sie diesen Teil des Hauses nicht mehr nutzte. Als ihr Mann noch lebte, hatten sich dort die Räume befunden, wo die Kunstschätze und Handarbeiten der Indianer aufbewahrt wurden, die ihr Mann sammelte. Es war eine sonderbare Leidenschaft von Eddi Courtland gewesen, sich mit den Kunstschätzen der Indianer zu umgeben. Eine Leidenschaft, die Diana nie mit ihrem Mann geteilt hatte. Da sich unter den Sammlerstücken auch wertvolle, für die Indianerstämme unentbehrliche Kultgegenstände befunden hatten, war Eddi Courtland irgendwann wegen seiner Sammlerleidenschaft ins Gerede gekommen. Die
Indianerstämme hatten ihre Kunstschätze zurückgefordert, die ihre Väter und Vorväter meist durch undurchsichtige Transaktionen verloren hatten – oder die teilweise sogar gestohlen worden waren. Aber Eddi hatte ihnen diese Bitte abgeschlagen. Erst nach seinem Tod hatte Diana begonnen, die Sammlung aufzulösen und an die rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Nun standen die Räume größtenteils leer. Nur ein paar wertlose Dinge wurden dort noch verwahrt. An all dies mußte Hester Parks denken, als sie sich mit unsicheren Schritten der Quelle des beängstigenden Gesanges näherte. Schließlich erreichte die junge Journalistin eine Tür. Sie hielt einen Augenblick inne und legte ihr Ohr lauschend gegen das Türblatt – der Gesang verstummte plötzlich. Und dann überstürzten sich die Ereignisse! Hester vernahm ein sonderbares Rauschen in der Luft. So, als würde ein großer Vogel durch den Korridor fliegen. Unwillkürlich zuckte die junge Frau zusammen. Und dann schälte sich plötzlich ein Schemen aus dem Dunkel des Korridors. Eine Gestalt stürzte vom Ende des Ganges direkt auf Hester zu! Der Schrei, den die junge Frau ausstoßen wollte, blieb ihr vor Angst im Hals stecken. Nur ein trockenes Krächzen brachte sie hervor. Dann hatte die Gestalt sie erreicht. Sie hatte einen riesigen Kopf, von dem eine Unzahl von Federn abzustehen schien. Und nun wußte die junge Journalistin auch, woher das sonderbare Rauschen kam. Es war dieser gefiederte, riesige Kopf! Hester hörte es jetzt ganz deutlich, als die Gestalt an ihr vorüberhuschte und den Korridor hinunterlief. Für einen Moment blieb Hester wie erstarrt stehen, doch dann wirbelte sie herum, um zu sehen, wohin die seltsame Erscheinung lief. Aber von dem gespenstischen Wesen war
nichts mehr zu entdecken. Die Gestalt mit dem großen, gefiederten Kopf war spurlos verschwunden!
*
Hester war noch einige bange Minuten lang durch die verlassenen Korridore des alten Landhauses gestreift, ohne dabei jedoch der unheimlichen Erscheinung ein zweites Mal zu begegnen. Schließlich hatte sie sich in ihr Zimmer zurückbegeben und war kurz darauf in einen unruhigen Schlaf gefallen. Am anderen Morgen wußte Hester nicht mehr so genau, ob sie die unheimliche Begegnung in der Nacht nur geträumt oder ob sie wirklich stattgefunden hatte. Aber letztendlich glaubte sie eher an die erste Möglichkeit und schrieb den äußerst realistischen Traum den Nachwirkungen des Unfalls zu. Aber dann fiel ihr plötzlich das Diktiergerät wieder ein. Schnell holte sie das Gerät aus der Tasche des Morgenmantels und spulte die Kassette zurück. Eine eisige Gänsehaut kroch ihr über den Rücken, als sie den gespenstischen Gesang aus dem kleinen Lautsprecher des Gerätes vernahm. Schnell schaltete sie das Diktiergerät aus und verstaute die Kassette in der dafür vorgesehenen Tasche. Also kein böser Traum, dachte Hester verwirrt. Sollte am Ende wieder Squint Eye für den Spuk verantwortlich sein? Hester nahm sich vor, den Indianer zur gegebenen Zeit zur Rede zu stellen. Nachdem Hester sich frisch gemacht hatte, begab sie sich ans Fenster und schaute in die verschneite Landschaft hinaus. In der Nacht mußte noch mehr Schnee gefallen sein, denn alles war unter einer dicken, meterhohen Schneedecke verborgen.
Die seichten Erhebungen ließen nur noch erahnen, was sich wo befand. Hester atmete einmal tief durch und genoß den wunderschönen Anblick, den die verträumte Schneelandschaft an diesem Morgen bot. Doch dann wurde ihr schlagartig bewußt, daß unter diesen Umständen an eine Heimkehr noch immer nicht zu denken war. Die Gebirgsstraße war ganz sicher hoffnungslos verschneit. Hester mußte damit rechnen, noch einen weiteren Tag auf dem Landsitz der Courtlands zu verbringen. Eine Vorstellung, die ihr gar nicht so ganz unangenehm erschien. Das große Gemäuer barg einige Geheimnisse. Geheimnisse, die es zu ergründen galt und die sie in ihren Artikel mit einbauen konnte. Eine halbe Stunde später traf Hester ihren Kollegen Frank Scranto im Speisesaal. Die Millionärin dagegen war anscheinend noch nicht aufgestanden. Frank saß mißmutig vor seinem Kaffee und starrte gedankenverloren vor sich hin. »In diesem noblen Haus scheinen die Leute erst um die Mittagszeit aufzustehen«, beschwerte er sich bei Hester. »Ich mußte mir meinen Kaffee selber brauen!« Hester zückte nur mit den Schultern. »Ich fürchte, wir müssen noch einen Tag hierbleiben«, stellte sie fest. Franks Laune verbesserte sich durch diesen Hinweis nicht gerade. »Ich weiß«, gab er mürrisch zurück. »Ich bin schon seit einigen Stunden auf den Beinen. Und ich habe versucht, mit der Redaktion der Fairy zu sprechen, um ihnen zu sagen, daß wir das Interview nicht bis zur nächsten Nummer abliefern können. Aber die Leitungen sind alle tot. Wie es aussieht, sind wir hier oben in der Sierra Nevada von der Außenwelt abgeschnitten!«
Hester seufzte ergeben. Die ganze Sache mit dem Interview begann einen eigenartigen Verlauf zu nehmen, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen. So setzte sich die Journalistin neben ihren Kollegen und schenkte sich etwas von dem Kaffee ein, den Frank gebraut hatte. Nach dem ersten Schluck verstand sie allerdings, warum ihr Kollege so schlechte Laune hatte: Der Kaffee schmeckte fürchterlich. Aber ehe Hester in die Küche gehen konnte, um einen neuen Kaffee aufzusetzen, öffnete sich plötzlich die Flügeltür, und Diana Courtland betrat den Raum. Die Millionärin wirkte gepflegt und ausgeruht. Allerdings machte die Frau, die gestern noch so ruhig und ausgeglichen gewirkt hatte, heute irgendwie einen nervösen und angespannten Eindruck. Hester ahnte plötzlich, daß ihre Gastgeberin irgend etwas beunruhigte. Sie brauchte auch nicht lange zu warten, bis sie erfuhr, was der Grund für Diana Courtlands Nervosität war. »Ich muß mich bei Ihnen wegen der schlechten Bewirtung entschuldigen«, setzte Diana an, »aber Squint Eye geht es heute nicht besonders gut.« Sie schüttelte den Kopf und setzte sich niedergeschlagen an die lange Tafel. »Was fehlt ihm denn?« wollte Hester wissen. Ihr Interesse war sofort geweckt. Mit einer Hand griff sie in die Tasche und aktivierte ihr Diktiergerät. Sie hatte am Morgen gleich eine neue Kassette eingelegt, denn sie wollte nicht, daß ihr irgend etwas entging. Diana zuckte nur vage mit den schmalen Schultern. »Ich weiß nicht so recht«, sagte sie. »Er behauptet, daß ein böser Geist mein Haus aufgesucht hätte und nun sein Unwesen hier treibt.« Diana schaute Hester mit ihren grünen Augen entschuldigend an. »Squint Eye gehört zum Stamm der Hopi-
Indianer, und er ist sehr abergläubisch. Seit Sonnenaufgang sitzt er in seinem Zimmer und singt.« »Er singt?« wunderte sich Frank. »Ja«, bestätigte Diana Courtland. »Es ist eine Art Beschwörung, mit der er den bösen Geist wieder vertreiben will! Ich fürchte, wir müssen heute selbst für unsere Verpflegung sorgen. Ich bin nur keine sehr gute Köchin.« Hester winkte ab. »Ich werde für Squint Eye einspringen. Wenn uns das Wetter schon dazu zwingt, Ihre Gastfreundschaft noch länger in Anspruch zu nehmen, dann werde ich versuchen, das Beste daraus zu machen.« Mit diesen Worten machte sich Hester auf den Weg in die Küche, und eine halbe Stunde später servierte sie ein köstliches Frühstück. Die ganze Zeit über hatte Hester Parks an die sonderbaren Begebenheiten in der Nacht denken müssen. Sogar das Interview, das sie nach dem Frühstück mit Diana Courtland geführt hatte, hatte die Journalistin von ihren Gedanken nicht ablenken können. Schließlich hatte sie Diana um die Erlaubnis gebeten, Squint Eye aufsuchen und mit ihm sprechen zu dürfen. Die Millionärin war erleichtert gewesen, als Hester diesen Wunsch äußerte. »Vielleicht erreichen Sie etwas bei Squint Eye. Er scheint die Sache mit diesem bösen Geist sehr ernst zu nehmen!« Nun stand Hester vor der Tür des Indianers und klopfte leise an. Aber niemand gab ihr Antwort. Daraufhin legte Hester ein Ohr gegen das Türblatt und lauschte. Ein leiser, monotoner Singsang war zu vernehmen. Ein Gesang, der mit dem, den Hester auf Tonband aufgenommen hatte, keinerlei Ähnlichkeit hatte. Hester gab sich einen Ruck und griff nach der Türklinke. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür und schaute in den dämmerigen Raum.
Squint Eye hockte auf dem Parkett, nur mit einer Jeans bekleidet. Er hatte die Augen geschlossen und schwankte langsam vor und zurück, während er monoton vor sich hinsang. Um den Indianer befand sich ein gemalter Kreis mit verworrenem Muster. Offenbar war Hester mitten in eine jener geheimnisvollen mystischen Zeremonien geplatzt, die die Hopi-Indianer seit Generationen zu bestimmten Anlässen abhielten. Hester sah ein, daß sie Squint Eye nicht stören durfte. Sie wollte sich gerade abwenden, um das Zimmer ebenso leise wieder zu verlassen, wie sie es betreten hatte, da öffnete der Indianer plötzlich die Augen. Hester schauderte unter dem befremdlichen Blick seiner schielenden Augen, doch dann meinte sie plötzlich so etwas wie Angst in dem Blick lesen zu können. »Bleiben Sie ruhig hier«, sagte Squint Eye mit noch leicht entrückter Stimme. Er deutete auf einen abgewetzten Sessel in einer Ecke des Zimmers. Hester Parks nahm Platz und wartete. »Sie sind wegen des bösen Geistes gekommen!« stellte der Indianer unumwunden fest. »Es ist schlimm, wenn ein Haus von einem bösen Geist aufgesucht wird. Wir können alle sterben!« Hester spürte mit leichter Verärgerung, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken kroch. Aber schließlich schüttelte sie ihre Furcht ab. Sie glaubte doch gar nicht an Geister! »Haben Sie mir die ekelhafte Vogelkralle auf mein Kopfkissen gelegt?« fragte sie übergangslos. »Ich verstehe ja, daß Sie die bösen Geister vertreiben wollen. Aber finden Sie nicht, daß eine Vogelkralle auf dem Kopfkissen einer Frau doch die Grenze des guten Geschmacks überschreitet.«
Squint Eye hörte geduldig und ohne erkennbare Regung zu. »Wie sah diese Vogelkralle genau aus?« wollte er schließlich wissen. Hester beschrieb sie ihm. Plötzlich wirkte der Indianer nachdenklich. »Wenn Ihre Beschreibung stimmt, müßte es sich um die Kralle eines Truthahns gehandelt haben. Sie müssen wissen, daß der Truthahn für die Hopi-Indianer ein äußerst nützliches Tier darstellt. Er ist der Hauptlieferant von Frischfleisch. Ich würde mir nie erlauben, dieses Her dadurch zu entehren, indem ich einen Körperteil für Beschwörungen oder Gegenzauber verwenden würde. Jemand anderes muß sich da einen üblen Scherz erlaubt haben. Vielleicht ist sogar der böse Geist dafür verantwortlich!« Hester glaubte plötzlich, daß sie bei Squint Eye nichts Brauchbares erfahren würde. Je mehr Fragen sie stellte, desto undurchschaubarer wurde die ganze Geschichte. Sie wollte sich schon erheben, um den Raum zu verlassen, da hielt Squint Eye sie zurück. »Sie sind nicht zu mir gekommen, um sich über die Truthahnkralle zu beschweren«, stellte er fest. »Ich habe Sie vergangene Nacht gesehen, wie Sie in den Korridoren des Hauses herumirrten. Ich habe mich ruhig verhalten, weil man in der Nacht die Aufmerksamkeit des bösen Geistes nicht auf sich lenken soll. Aber ich glaube, Sie haben ihn gesehen. Ihre Augen haben es mir verraten!« Hester hielt plötzlich den Atem an und ließ sich in den Sessel zurückfallen. »Sie haben recht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe eine sonderbare Gestalt gesehen. Sie hat gesungen und hatte einen großen Kopf voller Federn…« Hester konnte nicht weitersprechen, denn das Gesicht des Indianers hatte sich plötzlich vor lauter Angst zu einer
abstoßenden Grimasse verzogen. Squint Eye schloß plötzlich die Augen und stimmte wieder seinen monotonen Singsang an. Hester wartete einige Minuten, ob der Indianer wieder aus seinem tranceartigen Zustand erwachen würde, um mit ihr zu sprechen. Aber dies schien nicht in seiner Absicht zu liegen. Also erhob sich die junge Journalistin und verließ das Zimmer des Indianers. Und wenn er mir nur etwas vorspielt? fragte sie sich unwillkürlich. Vielleicht steckt er hinter dieser nächtlichen Erscheinung? Aber Hester konnte sich nicht erklären, warum Squint Eye so etwas getan haben sollte. Schließlich schob sie die lästigen Gedanken beiseite und klopfte bei Frank Scranto an. Der Fotograf war gerade damit beschäftigt, seine Fotoausrüstung zu putzen. »Laß uns rausgehen und ein paar Aufnahmen von der Landschaft und dem Haus machen«, schlug Hester vor. Frank zeigte sich sofort begeistert. Und Hester ahnte plötzlich, daß der junge Mann unter der Untätigkeit mehr litt, als er sich eingestehen wollte. Auch der Umstand, daß sie hier weitab von der Zivilisation von der Außenwelt abgeschnitten waren, zerrte an seinen Nerven. »In fünf Minuten treffen wir uns unten in der Eingangshalle«, schlug Hester vor. Dann begab sie sich auf ihr Zimmer, um sich den Wetterbedingungen entsprechend anzuziehen.
*
Diana Courtland hatte sich dazu bereit erklärt, die beiden zu begleiten. Und so waren sie schließlich zu dritt, als sie in den kalten Januartag hinausgingen. »So einen heftigen Wintereinbruch haben wir schon seit etlichen Jahren nicht mehr gehabt«, erläuterte die Millionärin, während sich Frank nach einem geeigneten Fotoobjekt umschaute. Schließlich entschied er sich für das verschneite Eingangsportal. Von den prächtigen Marmorstufen, die zu dem säulenbewehrten Eingang hinaufführten, waren nur noch die oberen beiden Stufen zu sehen. Der Rest lag unter der meterhohen Schneedecke begraben. Diana trug einen schicken, mintgrünen Mantel aus Kaschmir und veranlaßte Frank zu wahren Begeisterungsrufen, als sie elegant vor den Säulen posierte. Der Fotograf verschoß einen ganzen Film. Hester hatte die Gelegenheit genutzt und war ein wenig herumgeschlendert. Sie war froh, von Diana die Erlaubnis bekommen zu haben, sich aus dem Kleiderschrank bedienen zu können, der in ihrem Zimmer stand. Hester war für den längeren Aufenthalt in einer winterkalten, verschneiten Landschaft nicht ausgerüstet gewesen. Nun aber steckte sie in einem molligen Angorapullover, über dem sie den gefütterten Anorak trug. Die Pumps hatte sie gegen fellgefütterte Stiefel ausgetauscht. Hester ließ ihren Blick schweifen. Doch plötzlich stockte sie. Unter einem der Fenster waren deutlich die Abdrücke von schweren Stiefeln zu sehen! Die Fußspuren führten vom Haus weg und verloren sich irgendwo hangaufwärts. Hester musterte die steilen, unter der Schneedecke immer noch abweisend wirkenden Berghänge. Und sie fragte sich, wer nach dem heftigen Schneetreiben die Villa verlassen hatte, um in den Bergen zu verschwinden. Denn soweit Hester es
überblicken konnte, führten keine Spuren wieder zurück zum Haus. Jemand mußte also das Haus verlassen haben. Da aber alle anwesend waren, stellte sich die Frage, wer dieser Unbekannte gewesen sein mochte. War es am Ende der böse Geist gewesen, dem Hester in der Nacht begegnet war? Hester spürte wieder ihren journalistischen Instinkt erwachen. Und sie wußte plötzlich, daß sie dem sonderbaren Geheimnis auf die Spur kommen mußte. Vielleicht würde sich daraus noch eine aufregende Story ergeben… Diana und Frank waren unbemerkt zu der jungen Journalistin aufgeschlossen. »Hester, was haben Sie?« wollte Diana wissen. Hester wies auf die Spuren im Schnee. »Irgend jemand hat das Haus verlassen und ist in die Berge gegangen«, stellte sie fest. »Wer könnte das gewesen sein?« Diana schienen die Spuren nicht zu beunruhigen. »Oben in den Bergen befindet sich ein Indianerreservat«, erläuterte sie. »Ein Stamm der Hopi-Indianer lebt dort seit langem ungestört und in Harmonie mit seiner Kultur. Ab und zu besuchen sie mich oder Squint Eye, der ebenfalls zu diesem Stamm gehört.« Hester wurde hellhörig. Sie mußte plötzlich wieder an ihre Begegnung in der Nacht denken. War es möglich, daß einer der Hopi-Indianer in der Nacht auf den Korridoren des Landhauses herumspukte? Aber warum sollte er so etwas tun? Hester wäre eine schlechte Journalistin gewesen, wenn sie nicht schon eine Idee gehabt hätte. Sie wandte sich an Diana. »Könnte es sein, daß sich in der ehemaligen Sammlung Ihres verstorbenen Gatten noch irgend etwas befindet, worauf die Hopi-Indianer Anspruch erheben könnten?« wollte sie wissen.
Die Millionärin sah die Journalistin verständnislos an. »Soviel ich weiß, habe ich den Hopi-Indianern alles zurückgegeben, was ihnen gehörte«, antwortete sie. »Könnte es denn sein, daß sich jemand für den Frevel, den Ihr Mann begangen hat, noch im nachhinein rächen will?« An der erstarrten Miene, die Diana ihr plötzlich zeigte, konnte Hester ablesen, daß sie mit ihren Fragen zu weit gegangen war. Auch Frank warf ihr einen verständnislosen Blick zu. »Entschuldigen Sie«, beeilte sich Hester, die Situation zu entschärfen. »Aber ich glaube, das Gerede von Squint Eye über den bösen Geist hat mich ein wenig verwirrt.« Über die Truthahnkralle und ihre unheimliche Begegnung schwieg sie lieber. Diana Courtland schüttelte milde den Kopf. »Die HopiIndianer sind meine Freunde«, behauptete sie. »Für den bösen Geist, den Squint Eye in meinem Haus vermutet, muß es eine andere Erklärung geben!« Mit diesen Worten wandte sich die Millionärin ab und ging zurück ins Haus. »Diesmal hast du wohl ein Bravo verdient«, meinte Frank, bevor auch er hineinging. Nur Hester blieb noch eine Weile stehen und starrte den Spuren hinterher. Und plötzlich glaubte sie in weiter Ferne, irgendwo zwischen den schroffen Felsen, an denen sich der Schnee nicht hatte halten können, eine Gestalt zu sehen. Es war ein Schemen mit einem großen, gefiederten Kopf. Und er winkte Hester höhnisch zu. Die Journalistin schloß die Augen und schüttelte benommen den Kopf. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Erscheinung verschwunden. Ich sehe schon Gespenster, dachte Hester mit Unbehagen und wandte sich zum Haus…
*
Diana Courtland schien den kleinen Zwischenfall bereits vergessen zu haben, als sie sich zum Lunch im Speisesaal versammelten. Sie gab sich ausgelassen und plauderte über ihr Leben in der Einsamkeit der Sierra Nevada. Da Squint Eye sich immer noch seinen mystischen Gesängen widmete, hatte Hester sich darangemacht, das Essen zu kochen. Beruhigt hatte sie dabei festgestellt, daß der Vorratsraum des Hauses gut gefüllt war. Sie würden also nicht Hunger leiden müssen, selbst wenn sie einen ganzen Monat in dem Anwesen der Courtlands festgehalten werden sollten. Und wie es aussah, konnte es wirklich noch so lange dauern, bis der Weg in das Tal und nach Placerville wieder befahrbar war, denn die unbarmherzige Kälte, die nun über die Berge hereinbrach, ließ den Schnee zu Eis erstarren und machte selbst einen kleinen Spaziergang zu einem gefährlichen Unterfangen. »Haben Sie denn nie Angst so allein in diesem großen Haus?« wollte Hester in diesem Augenblick wissen. Ihr Diktiergerät war, wie immer zu solchen Gelegenheiten, eingeschaltet. »Nein«, behauptete die Millionärin. »Ich habe ja bereits erwähnt, daß die Gegend nicht ganz so verlassen und einsam ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Ich erhalte oft Besuch.« Hester legte eine Pause ein und tischte den nächsten Gang auf. »Sie sind nicht nur eine ausgezeichnete Journalistin, sondern auch eine wunderbare Köchin«, lobte Diana die junge Frau.
Hester lächelte geschmeichelt. Und mit einem Seitenblick auf Frank sagte sie: »Es soll ja schon so manchen fähigen Menschen gegeben haben, der in seinem Beruf Außergewöhnliches leistete, der aber kläglich hätte verhungern müssen, wenn er im Haushalt auf sich allein gestellt gewesen wäre!« Der Fotograf grinste nur säuerlich und widmete sich etwas verschämt dem köstlichen Mahl. Frank wußte, daß diese Worte auf ihn gemünzt waren, aber er verkniff sich eine Bemerkung. Nach dem Lunch zog Diana Courtland sich in ihre Zimmer zurück. Frank machte sich an die Arbeit und entwickelte die ersten Filme in seiner tragbaren Dunkelkammer. Dabei handelte es sich um einen koffergroßen, völlig abgedunkelten Kasten, der durch zwei eingearbeitete Handschuhe zu bedienen war. Diese mobile Dunkelkammer war eine Erfindung des Fotografen und hatte ihm schon oft gute Dienste geleistet. Hester Parks nutzte die Zeit, um sich in jenem Teil des Gebäudes umzuschauen, wo ihr in der Nacht der seltsame Schemen begegnet war. Etwas unheimlich war ihr schon zumute, als sie den langen Korridor durchschritt. Trotz der Deckenbeleuchtung herrschte nur ein unheimliches Zwielicht, in dem man vieles nicht erkennen konnte. Es war völlig still in diesem Teil des Hauses. Hester hielt für einen Augenblick inne und lauschte in diese ungewohnte Stille hinein. Die Journalistin war in einer Großstadt aufgewachsen. In San Francisco gab es keinen Ort, an dem es nicht irgendwelche Geräusche gab. Die absolute Stille in dem einsam gelegenen Landhaus kam ihr daher unnatürlich und beängstigend vor. Hester schob die lästigen Gedanken beiseite und setzte ihren Weg fort. Bald darauf hatte sie das Ende des langen Korridors erreicht. Hier hatte der unheimliche Fremde gelauert.
Aber was hatte er hier gewollt? Daß es sich bei der Erscheinung nicht um einen bösen Geist handelte, davon war Hester überzeugt. Vielleicht hat er hier etwas gesucht? mutmaßte die junge Journalistin. Hester näherte sich der hintersten Tür und probierte die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen. Geräuschlos glitt sie auf, und Hester bot sich ein Blick in einen unordentlichen Raum. Die Möbel und die anderen Gegenstände, mit denen der Raum vollgestellt war, waren nur notdürftig mit Plastikplanen und weißen Leinentüchern abgedeckt. Überall lag fingerdick der Staub. Hester trat ans Fenster und öffnete den Vorhang. Das hereinfallende Licht ließ den Raum jedoch nur noch trostloser erscheinen als auf den ersten Blick. Hester schlenderte durch die Reihen von ausgedienten Möbeln und entdeckte unter mancher Plane sonderbare Gegenstände, die einem Museum entsprungen zu sein schienen. Hester mutmaßte, daß es sich bei den geschnitzten Fetischen, Holzfiguren und Masken um Stücke aus der ehemaligen Sammlung von Eddi Courtland handelte. Wahrscheinlich stellten diese Stücke keinen besonderen Wert dar. Und da niemand auf diese Dinge Anspruch erhoben hatte, verstaubten sie nun in einem abgelegenen Zimmer. Aber plötzlich stockte Hester. Ihr war etwas aufgefallen: ein frisches weißes Leinentuch ohne die typische Staubschicht. Die junge Journalistin zögerte nur einen Augenblick, dann ergriff sie einen Zipfel des Tuches und zog es von dem Gegenstand, den es verdeckte. Hester wich mit einem unterdrückten Aufschrei zurück. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, dem unheimlichen Schemen gegenüberzustehen, aber dann bemerkte sie ihren Irrtum.
Die fast naturgetreue Nachbildung eines Menschen war aus dunklem Holz gearbeitet. Es handelte sich um einen Mann, der im Schneidersitz auf dem Boden kauerte. Aber das eigentlich Befremdliche an dieser Figur war der Kopf. Er war übermäßig groß, und bunte Federn standen in Büscheln von diesem Kopf ab. Hester, die sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, umrundete die Figur langsam. Dabei stellte sie fest, daß es sich bei dem Kopf um eine aufwendige Maske handelte. Sie umschloß den ganzen Kopf des Mannes und war über und über mit großen Federn versehen. Genauso könnte der Mann ausgesehen haben, den ich heute nacht als Schemen gesehen habe, dachte Hester. Vielleicht handelt es sich bei dieser kostbaren Figur um einen wichtigen Gegenstand aus der Mythologie der Hopi-Indianer, spekulierte sie weiter. Und in ihr keimte wieder der Verdacht auf, daß vielleicht doch die Hopi-Indianer hinter den sonderbaren Vorkommnissen steckten. Und Squint Eye hält sich in dem Landhaus auf, um Diana immer im Auge zu behalten, überlegte Hester. Vielleicht wollen sie sich doch für den Frevel rächen, den Eddi Courtland beging, als er die Fetische der Indianer in seinen Besitz brachte! Hester war plötzlich davon überzeugt, einer heißen Story auf der Spur zu sein. Rasch deckte sie die Figur wieder zu und nahm sich vor, mit Frank so schnell wie möglich an diesen Ort zurückzukehren, um ein paar Aufnahmen von der geheimnisvollen Figur zu machen. Dann verließ die junge Journalistin den Raum wieder. Sie sah noch in den angrenzenden Räumen nach, aber dort wirkte alles unberührt. Die Staubschicht auf den Dingen kündete davon, daß diese Räume lange nicht mehr betreten worden waren.
Da Hester nichts anderes vorhatte, wollte sie Squint Eye noch einen Besuch abstatten. Vielleicht konnte sie von dem Indianer noch etwas erfahren, das ihren Verdacht erhärtete. Aber Squint Eye befand sich nicht mehr in seinem Zimmer. Der Raum war leer. Sogar der Kreis mit den seltsamen Symbolen, den der Indianer auf den Holzfußboden gemalt hatte, war verschwunden. Enttäuscht verließ Hester den Raum. Den Rest des Tages verbrachte sie allein in ihrem Zimmer. Sie hatte Frank Scranto noch dazu überreden wollen, in dem abgelegenen Zimmer ein paar Aufnahmen zu machen, aber Frank war so sehr in seine Arbeit vertieft, daß er sie auf den morgigen Tag vertröstete. Schließlich hatte Hester sich ein Buch aus der Bibliothek des Hauses ausgeliehen und sich damit auf ihr Zimmer zurückgezogen. Das Buch beschäftigte sich mit den Riten und Bräuchen der Hopi-Indianer. Hester erhoffte sich durch die Lektüre einige Aufklärung über die Bedeutung des Mannes mit der großen Federmaske. Aber sosehr sie auch suchte, sie konnte keinen Hinweis auf diese Maske entdecken. Schließlich schlief sie über dem Buch ein.
*
Nachts wurde Hester wieder von dem eigenartigen Singsang geweckt, der sie schon in der Nacht zuvor aus dem Schlaf gerissen hatte. Die junge Journalistin war sofort hellwach. Insgeheim hatte sie gehofft, dem geheimnisvollen Maskenträger noch einmal
zu begegnen. Und sie hatte sich einen Plan zurechtgelegt, wie sie dem Fremden gegenübertreten würde. Hester holte die Stablampe unter ihrem Kopfkissen hervor und streifte sich den Morgenmantel über. Auf leisen Sohlen schlich sie dann zur Tür und befand sich wenig später auf dem dunklen Korridor. Hester lauschte. Es war derselbe weinerliche Singsang, den sie auch gestern nacht gehört hatte. Und wie es schien, kam er wieder aus dem hinteren Teil des Korridors. Von dort, wo die Räume mit den ausgedienten Möbeln und den Resten der Sammlung von Eddi Courtland lagen. Hester kämpfte gegen das wachsende Unbehagen an, als sie der Quelle des unheimlichen Gesangs Schritt für Schritt näher kam. Noch hatte sie die Stablampe nicht eingeschaltet, schließlich wollte sie ihr Kommen nicht vorzeitig verraten. Als Hester das Ende des Korridors erreicht hatte, fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, Frank vorher über ihren Plan zu unterrichten. Mit dem Fotografen an ihrer Seite hätte sie bestimmt nicht so viel Angst empfunden wie jetzt allein, als sie der hintersten Tür genau gegenüberstand. Aber für eine Umkehr war es nun zu spät. Langsam streckte Hester ihre Hand aus. Stück für Stück schob sie sich der Türklinke entgegen. Aber bevor ihre Hand die Tür erreichen konnte, wurde diese plötzlich von innen aufgerissen! Erschrocken wich Hester einen Schritt zurück. Vor ihr baute sich ein mächtiger Schatten auf. Eine Gestalt mit einem übergroßen Kopf, der mit Federn gespickt zu sein schien. Reflexartig fuhr die Hand mit der Stablampe in die Höhe. Hester betätigte den Schalter, und der blendende Lichtstrahl erfaßte die unheimliche Gestalt in dem Türrahmen. Doch im selben Augenblick bereute Hester ihr Vorgehen. Der Anblick war einfach zu grauenerregend. Wie eine Fratze
starrte sie die Maske an und schien sie und ihre Angst zu verhöhnen. Hester schluckte trocken, versuchte tapfer, gegen ihre Angst anzukämpfen. »Wer… wer sind Sie?« stammelte sie. Aber statt eine Antwort zu geben, begann die Gestalt wieder mit dem weinerlichen Gesang. Hester jagte es einen Schauer über den Rücken, als sich die Gestalt in Bewegung setzte. Plötzlich ruckte ein Arm in die Höhe, und im Licht der Stablampe blitzte die geschliffene Klinge eines gebogenen Messers auf. Nun konnte Hester nicht länger an sich halten. Mit einem schrillen Aufschrei wich sie zurück. Aber die schreckliche Gestalt folgte ihr auf dem Fuß, das Messer ganz bedrohlich erhoben. Hester wirbelte herum und rannte um ihr Leben. Daß sie ihre Taschenlampe dabei verlor, bemerkte sie gar nicht. Wie von Furien gehetzt stürmte sie den Korridor hinunter. Sie traute sich nicht, sich nach ihrem Verfolger umzuschauen. Sie wollte nur fort von diesem schrecklichen Ort. Hester erreichte die große Treppe und hetzte die Stufen hinunter. Ihre Lungen brannten vor Anstrengung. Doch plötzlich verfingen sich ihre Füße in dem bodenlangen Morgenmantel. Hester strauchelte und drohte zu stürzen. Aber da klammerte sich plötzlich eine Faust um ihren Oberarm. Hester wurde emporgerissen und kam wieder auf die Beine. Sie sah sich einem dunklen Schatten gegenüber und schrie gellend auf. Jetzt hat er mich doch noch erwischt! dachte Hester voller Entsetzen. Die junge Frau begann verzweifelt um sich zu schlagen. Sie schrie ihre Angst heraus, bis ihre Stimme ganz heiser wurde.
»Beruhigen Sie sich doch!« hörte Hester plötzlich eine eindringliche, beruhigende Stimme. Überrascht hielt die junge Frau inne und lauschte. Von dem weinerlichen Singsang war nichts mehr zu hören. Statt dessen flammte plötzlich das Licht auf und tauchte die breite Treppe in helles, freundliches Licht. »Was geht da oben vor sich?« hörte Hester die Stimme von Diana vom Fuß der Treppe. Und erst jetzt sah sie sich die Gestalt genauer an, die sie immer noch am Oberarm festhielt. Der Mann hatte ein tiefbraunes Gesicht, wie es nur Menschen zu eigen war, die lange der Sonne und der frischen, rauhen Bergluft ausgesetzt waren. Seine weit auseinanderstehenden, schmalen Augen sahen sie durchdringend an. Die schmale Nase und der zu einem sanften Lächeln verzogene Mund wirkten auf Hester sympathisch und vertrauenerweckend. Schüchtern lächelte Hester den Mann an. Erst jetzt gewahrte sie, daß sein schwarzes, von silbergrauen Strähnen durchsetztes Haar naß war. Auch auf der zerschlissenen Wildlederjacke befanden sich noch Reste von tauendem Schnee. Sofort erwachte Hesters Mißtrauen wieder. »Wer sind Sie?« wollte sie mit lauerndem Unterton wissen. »Dan Macon ist ein Freund des Hauses«, antwortete Diana anstelle des Mannes. Die Millionärin war die Treppe heraufgekommen und stellte sich neben den Mann. »Welche Überraschung! Ich habe gar nicht gewußt, daß du dich zur Zeit in den Bergen aufhältst!« Endlich ließ Dan Macon den Arm von Hester los. »Ich hatte im Hopi-Reservat zu tun, als mich das Unwetter überraschte«, erklärte der Mann und sah Hester dabei unentwegt an. »Ich wollte bei Ihnen nach dem Rechten sehen. Aber ich habe die
Unwegsamkeit des verschneiten Geländes unterschätzt. Darum bin ich erst jetzt eingetroffen!« Dann wandte sich der Mann an die Millionärin. »Wie ich sehe, haben Sie Besuch«, sagte er. »Das ist Hester Parks«, beeilte Diana sich, dem Mann ihren Gast vorzustellen. »Sie ist Mitarbeiterin der Fairy und wollte mit mir ein Interview durchführen. Aber dann kam der Schneesturm. Seitdem sitzt sie mit ihrem Fotografen bei mir fest.« Dan Macon wandte sich wieder an Hester. Er musterte sie aufmerksam. Der jungen Journalistin wurde plötzlich bewußt, wie unordentlich und aufgelöst sie auf den Mann wirken mußte. Schnell raffte sie den Morgenmantel zusammen, der ihr von der Schulter gerutscht war, und ordnete ihr Haar. »Ich hoffe, daß Sie nicht aus demselben Grund gekommen sind wie diese Pamela Crowler. Wenn Sie glauben, daß Diana mit dem Tod ihres Mannes etwas zu tun hat, muß ich Sie leider enttäuschen. Die Gerichte haben sie doch eindeutig freigesprochen.« »Miß Parks gehört nicht zu dieser Sorte Journalistinnen«, versicherte Diana. »Sonst hätte ich ihr diesen Termin auch nie gewährt.« »Dann bin ich zufrieden«, sagte Dan Macon leichthin, und sein Gesicht wirkte wieder eine Spur freundlicher. »Aber darf ich fragen, was Sie eben so erschreckt hat? Als Squint Eye mir die Tür öffnete, habe ich einen markerschütternden Schrei gehört. Ich bin sofort die Treppen hochgelaufen, um nach dem Rechten zu sehen. Aber da kamen Sie mir auch schon entgegen!« Hester schaute verlegen auf die Stufen. Sie kam sich plötzlich albern und dumm vor. »Ich hatte eine sonderbare Begegnung«, antwortete sie daher vage.
Diana runzelte die Stirn. Dann legte sie Hester einen Arm um die Schultern. »Sie wirken ja ganz verstört! Squint Eye braut uns jetzt einen starken Kaffee, wir setzen uns gemeinsam in die Küche, und dann erzählen Sie uns alles, ja?« Hester sah Diana dankbar an und nickte. Kurz darauf saßen sie in der Küche. Hester wärmte sich die Hände an der heißen Tasse. Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie Squint Eye, der in der Küche herumhantierte, als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Wo war der Indianer den ganzen Abend gewesen? War er es am Ende, der hinter der Maske mit den Federn steckte? Hester wurde diesen Verdacht einfach nicht los. »Und nun erzählen Sie einmal, was Sie so erschreckt hat«, forderte Diana die junge Frau auf. Hester überlegte einen Augenblick, entschied sich aber dann dafür, der Millionärin und Dan Macon alles zu erzählen. Sie berichtete über den Mann mit der Maske und über die seltsame geschnitzte Figur, die sie gefunden hatte. Auch über ihren Verdacht klärte sie die beiden auf. Die ganze Zeit über beobachtete sie Squint Eye. Aber den Indianer schien die Geschichte nicht sonderlich zu beeindrucken. »Sehr sonderbar«, sagte Dan Macon in diesem Augenblick. »Ich kenne mich in der Mythologie der Hopi-Indianer sehr gut aus, schließlich arbeite ich seit Jahren als Sheriff in dem Indianerreservat. Aber von einer Holzfigur mit Federmaske ist mir bisher noch nichts zu Ohren gekommen. Sicher, bei den Hopi-Indianern spielen Masken eine große Rolle. Aber von einer Maske, wie Sie sie beschrieben haben, weiß ich nichts!« Dan Macon wandte sich an Squint Eye, doch der Indianer zuckte nur mit den Schultern. »Es ist der böse Geist«, sagte er nur.
Dan Macon zog die Augenbrauen zusammen. »Wir werden dieser Sache jetzt auf den Grund gehen«, entschied er. »Wenn dieser Unbekannte noch im Haus ist, werden wir ihn finden!«
*
Zuerst sahen sie sich die Räume an, in denen die ausgedienten Möbel und die Reste der Sammlung gelagert wurden. Den Raum am Ende des Korridors, wo Hester die lebensgroße geschnitzte Figur gesehen hatte, betraten sie, nachdem sie die Beleuchtung angeschaltet hatten. Vor der Tür lag noch Hesters Stablampe, die sie dort fallen gelassen hatte. Aber Hester erlebte eine herbe Enttäuschung, als sie den Platz, wo die Figur gestanden hatte, leer vorfand. Eine dicke Staubschicht bedeckte an dieser Stelle den Boden. Nichts wies darauf hin, daß hier vor wenigen Stunden noch eine schwere, große Figur gestanden hatte. »Sonderbar«, murmelte Hester und schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich habe diese Figur genau hier stehen gesehen!« Sie sahen daraufhin noch in den anderen Räumen nach, aber auch dort befand sich die Figur mit der Federmaske nicht. »Vielleicht haben Sie das Ganze nur geträumt«, versuchte Diana Hester zu beruhigen. »In dieser Abgeschiedenheit spielt die Phantasie oft verrückt!« »Ich habe nicht geträumt!« fuhr Hester die Millionärin unfreundlich an. »Ich habe diese Figur mit eigenen Augen gesehen. Und auch die Gestalt, die mich mit einem Messer bedrohte, habe ich gesehen!« Dan Macon und Diana tauschten einen ratlosen Blick. Doch plötzlich hatte Hester einen Einfall. Sie besaß ja noch die
Aufnahme des Gesanges, die sie in der ersten Nacht gemacht hatte, als sie das Diktiergerät mitgenommen hatte! Hester führte die beiden in ihr Zimmer. Dort suchte sie unter den bespielten Kassetten nach der, auf der sie den weinerlichen Gesang des Maskierten aufgenommen hatte. »Hier ist sie!« rief sie triumphierend, als sie die kleine Kassette endlich gefunden hatte. »Hier drauf befindet sich der gespenstische Gesang, den der Maskierte immer von sich gibt. Es ist unheimlich. Sie werden es gleich hören!« Hester legte die Kassette ein und drückte auf den Wiedergabeknopf. Gebannt warteten sie eine Weile, aber außer einem statischen Rauschen war nichts zu hören. Verärgert spulte Hester die Kassette vor – mit demselben Ergebnis. Es war nur ein verhaltenes Rauschen und Knistern zu hören. Resigniert ließ Hester die Schultern hängen. Sie konnte sich auf die ganze Geschichte keinen Reim machen. Dan Macon legte der jungen Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, wir werden für alles eine vernünftige Erklärung finden«, sagte er einfühlsam. Aber Hester sah den Mann nur aus ausdruckslosen Augen an. Bin ich dabei, den Verstand zu verlieren? dachte sie verzweifelt. Macht die ungewohnte Einsamkeit mich wirklich krank, wie Diana behauptet? Hester fand auf diese Fragen keine befriedigende Antwort. »Am besten legen wir uns jetzt alle schlafen«, schlug Diana aufmunternd vor. In Hesters Ohren klangen ihre Worte ein wenig zu fröhlich und aufgesetzt. Offenbar wollte die Millionärin die peinliche Situation überspielen.
Aber Hester war zu müde, um noch auf irgend etwas einzugehen. Schließlich schickte sie sich in ihr Schicksal und begab sich mit hängenden Schultern auf ihr Zimmer.
*
Am anderen Morgen trafen sich alle beim Frühstück im Speisesaal wieder. Squint Eye hatte seine Arbeit wieder aufgenommen. Er wirkte gut gelaunt. Von der Sorge um den bösen Geist, der das Landhaus befallen haben sollte, war ihm nichts mehr anzumerken. Als Hester sich an den großen Tisch setzte, fühlte sie sich noch ein wenig befangen. Dan Macon lächelte sie offen an. Er schien den nächtlichen Vorfall schon vergessen zu haben. Nicht aber Hester. Sie schämte sich wegen des hysterischen Auftritts und fürchtete, daß sie kein gutes Bild vor dem Sheriff abgegeben hatte. Verärgert wischte Hester die Gedanken beiseite. Im Grunde kann es mir doch egal sein, was Dan Macon von mir denkt, versuchte sie sich einzureden. Aber tief im Innern ahnte sie, daß dem nicht so war. Der junge gutaussehende Mann hatte einen starken Eindruck bei Hester hinterlassen. Ein Umstand, der sie leicht verwirrte, denn bisher war ihr noch kein Mann begegnet, für den sie ein wirkliches Interesse entwickeln konnte. Bei Dan Macon, das spürte sie an diesem Morgen ganz deutlich, verhielt es sich ganz anders! Hester versuchte, ein zwangloses Gespräch in Gang zu bringen, aber was sie auch sagte, in ihren Ohren klang jedes Wort albern und unwichtig. Schließlich zog sie es vor zu schweigen und widmete sich ihrem Frühstück.
In diesem Moment tauchte Frank Scranto auf. Er machte ein erstauntes Gesicht, als er die anderen bereits beim Frühstück fand. Offenbar hatte er erwartet, wieder als erster aufgestanden zu sein. Seine Miene hellte sich sofort auf, als ihm der Geruch von frischem Kaffee in die Nase stieg. Dann erst bemerkte er den Fremden am Tisch. »Guten Morgen«, sagte er in seiner wortkargen Art, als er alle Blicke auf sich ruhen sah. Der Fotograf wurde Dan Macon vorgestellt. Und Frank zeigte sofort reges Interesse, als er erfuhr, daß Dan ein Reservatsheriff war. Er nahm neben dem Sheriff Platz und ließ sich von Squint Eye einen Kaffee einschenken. »Ist Ihnen heute nicht irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« wollte Dan schließlich von Hesters Kollegen wissen. Frank runzelte die Stirn und schüttelte verneinend den Kopf. »Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier«, gab er zu. »Diese herrliche Stille übt eine sehr beruhigende Wirkung auf mich aus. Ist denn heute nacht irgend etwas geschehen?« Hester seufzte leise. Sie wünschte sich, über so ein dickes Fell zu verfügen, wie es Frank offensichtlich hatte. Und nun mußte sie ihrem Kollegen auch noch erzählen, was sich in dieser Nacht zugetragen hatte! Hester hätte es am liebsten vermieden, dieses Thema wieder anzuschneiden, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als noch einmal von den unheimlichen Ereignissen zu berichten. Frank hörte ihr ohne sichtbare Gefühlsregung zu. Genüßlich schlürfte er seinen Kaffee, während er den Ausführungen Hesters lauschte. »Sonderbar«, war der einzige Kommentar, zu dem er sich hinreißen ließ. »Ich habe die Umgebung des Landhauses heute morgen noch einmal nach Spuren untersucht«, sagte Dan, als Hester
mit ihrer Erzählung zum Ende gekommen war. »Aber ich konnte nichts Verdächtiges feststellen. Nur meine Spuren und die von Squint Eye habe ich gefunden. Die Spuren, die Sie gestern entdeckten, sind bereits verweht.« Hester war erstaunt, daß Dan die Mühe nicht gescheut hatte, ihre Geschichte noch einmal zu überprüfen. Anscheinend nahm er die Sache doch ernster, als sie zunächst angenommen hatte. »Vielleicht hat sich unser Indianer nur einen üblen Scherz erlaubt«, sagte Frank leichthin. »Schließlich war Squint Eye gestern nachmittag plötzlich spurlos verschwunden!« »Das glaube ich kaum«, verteidigte Dan Macon den Indianer. »Ein Hopi-Indianer würde niemals mit den bösen Mächten spielen. Dieser Stamm ist sehr abergläubisch.« »Im übrigen kommt es ab und zu vor, daß Squint Eye ohne jede Vorankündigung verschwindet«, setzte Diana Courtland hinzu. »Schließlich ist er ein freier Mensch. Und ihn treibt es manchmal in die Natur. Ihm ist daraus kein Vorwurf zu machen!« Frank zuckte nur mit den Schultern. »Ich habe ja auch nur versucht, eine plausible Erklärung für das zu finden, was meiner Kollegin zugestoßen ist«, rechtfertigte er sich. »Ich kenne Hester sehr gut. Sie ist nicht der Typ, der zu übertriebenen Reaktionen neigt. Eine Journalistin verläßt sich immer auf das, was sie sieht. Für Träume und Visionen bleibt da wirklich nur wenig Platz.« Hester lächelte ihren Kollegen dankbar an. »Das mit den Träumen und Visionen, die keinen Platz in Ihrem Leben haben, ist bedauerlich«, sagte Dan plötzlich, an Hester gewandt. »Wenn man die Träume verdrängt, holen sie einen irgendwann als Alptraum wieder ein. So jedenfalls habe ich es von den Hopi-Indianern gelernt.«
Hester sah Dan überrascht an, und mit einem kribbeligen Gefühl im Magen mußte sie feststellen, daß der Blick des Mannes sie merkwürdig berührte. Die junge Journalistin lächelte verlegen. »Also bleibt das Rätsel um den Mann mit der Vogelmaske vorerst ungeklärt«, gab sie zu. »Wir sollten die Sache vorerst auf sich beruhen lassen, einverstanden?«
*
Nach dem Frühstück suchte Dan Macon Hester in ihrem Zimmer auf. Hester hatte sich wieder dem Buch über die HopiIndianer gewidmet. Sie saß am Fenster und blätterte in dem Buch herum, auf der Suche nach einer Abbildung der gefiederten Maske. Als es an der Tür klopfte, dachte Hester erst, es wäre ihr Kollege Frank Scranto. Als sie aber die Zimmertür öffnete, stand ihr Dan Macon gegenüber. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, sagte er mit einem Blick auf das dicke Buch in Hesters Hand. »O nein«, beeilte Hester sich zu versichern. »Im Gegenteil, ich freue mich über Ihren Besuch.« Dan lächelte und schaute Hester aus seinen schmalen Augen eindringlich an. Die junge Frau fühlte ein angenehmes Kribbeln, das ihr wie eine warme Dusche den Rücken hinunterrann. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit mir einen Spaziergang unternehmen möchten. Ich will nach der Straße sehen und feststellen, warum die Telefonleitung tot ist.« »Gerne«, antwortete Hester. »Ich ziehe mich nur noch rasch um.«
Zwanzig Minuten später trafen sich die beiden in der Vorhalle. Dan trug wieder seine zerschlissene Wildlederjacke und eine dazu passende Lederhose. Hester fand, daß Dan sehr abenteuerlich und geheimnisvoll darin wirkte. Und sie mußte sich eingestehen, daß sie den Reservatsheriff immer sympathischer fand. Draußen herrschte immer noch eisige Kälte. Ein schneidender Wind fegte über den Bergkamm und brachte gefrorenen Schnee mit sich. Die beiden erreichten nach einer kurzen Strecke den verunglückten Ford. Dan begutachtete den Wagen. »Sie haben wirklich Glück gehabt«, stellte er fest. »Wenn Sie den Stein verfehlt hätten, wären Sie mit dem Wagen in die Schlucht gestürzt!« Hester erschauderte bei diesem Gedanken. Dan, der diese Reaktion bemerkte, legte beruhigend einen Arm um Hesters Schultern. »Aber Gott sei Dank leben Sie. Es wäre sehr schade gewesen, wenn mir das Vergnügen verwehrt gewesen wäre, Sie kennenzulernen.« Hester lächelte geschmeichelt und schmiegte sich unwillkürlich in Dans starke Arme. Doch dann lösten sich die beiden wieder voneinander, als würden sie sich bewußt, daß sie doch noch Fremde waren. Sie folgten der verschneiten Straße ein Stück, doch schließlich konnten sie nicht mehr erkennen, wo der Weg verlief. Gewaltige Schneeverwehungen machten ein Vorwärtskommen fast unmöglich. Nach einer Weile hielt Dan inne. »Es hat keinen Sinn«, sagte er. »Die Straße ist unpassierbar. Selbst zu Fuß läßt sich hier nur wenig ausrichten. Ich fürchte, Sie müssen Ihre Abreise noch um einige Tage verschieben!« Hester hatte plötzlich gar nichts mehr dagegen, noch länger in der Einsamkeit der Sierra Nevada festzusitzen. Solange Dan
Macon in ihrer Nähe war, würde sie sich sogar in der Arktis wohl fühlen. Dan suchte die nähere Umgebung ab, um den Verteilerkasten für den Telefonanschluß zu finden. Es dauerte eine Weile, ehe er den wetterfesten Plastikkasten unter dem Schnee gefunden hatte. Mit den Händen schaufelte er die Box frei. »Eddi Courtland hat damals ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, um diese Telefonleitung verlegen zu lassen«, erklärte Dan, während er den Schnee beiseite schaufelte. »Es ist das einzige Telefon im Umkreis von mehreren Meilen.« Bald hatte er den grauen Kasten freigelegt. Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, daß jemand den Verteilerkasten mutwillig zerstört hatte. Das Schloß war aufgebrochen, und die Drähte waren durchgeschnitten worden! Dan schüttelte verwirrt den Kopf. »Das Ganze sieht mir sehr nach Vandalismus aus«, sagte er gedankenverloren. »Und wenn wir hier in San Francisco wären, würde ich dies auch annehmen. Aber in der Einsamkeit des Gebirges würde doch niemand so etwas Wichtiges wie einen Telefonanschluß mutwillig zerstören!« »Vielleicht habe ich den Verteilerkasten mit dem Ford gestreift«, gab Hester zu bedenken. Aber Dan schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er entschieden, »hier hat jemand die Telefonleitung systematisch zerstört. Es würde Tage dauern, den Schaden wieder zu beheben!« Dan wirkte plötzlich sehr nachdenklich. Besorgt ließ er den Blick über die weite Landschaft schweifen und grübelte. »Am besten erzählen wir Diana nichts von unserem Fund«, sagte er schließlich. »Sie würde sich nur unnötige Sorgen machen. Sie zeigt es zwar nicht, aber die Geschichte mit dem
Mann mit der Vogelmaske beschäftigt sie doch mehr, als sie zugibt. Ich kenne sie schon lange und kann dies beurteilen.« Hester sah schuldbewußt zu Boden. »Machen Sie sich keine Vorwürfe«, meinte Dan Macon aufmunternd. »Sie trifft keine Schuld. Es ist nur der ungeklärte Mord an ihrem Mann, der Diana immer noch beschäftigt. Ich wäre froh, wenn der wahre Mörder endlich gefunden würde, denn dann erst kommt Diana wieder zur Ruhe!« Dan warf etwas Schnee über den zerstörten Telefonkasten. Dann traten sie den Rückweg an.
*
Nach dem Lunch kündigte Dan Macon an, daß er zum Reservat zurückkehren müsse. Hester war ein wenig enttäuscht, bemühte sich aber, sich nichts anmerken zu lassen. »Irgend etwas geht im Reservat vor sich«, erklärte Dan und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Die Indianer sind unruhig und gereizt. Ich fürchte, daß meine Anwesenheit im Reservat zwingend notwendig ist. Aber sobald sich die Lage wieder entspannt hat, werde ich wiederkommen. Ich hoffe nur, daß das Wetter bald umschwingt und wir wieder Kontakt zur Außenwelt bekommen.« Dan wandte sich an Squint Eye und unterhielt sich leise mit dem Hopi-Indianer. Und nachdem er sich von allen verabschiedet hatte, nahm er Hester noch einmal beiseite. »Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder«, flüsterte er ihr ins Ohr. Hesters Herz machte einen Freudensprung, als sie den vertraulichen Unterton in der Stimme des Mannes bemerkte. Und statt einer Antwort hauchte sie Dan spontan einen Kuß auf
die Lippen. Dann wandte sie sich rasch ab und eilte die Stufen zu ihrem Zimmer empor. »Auf Wiedersehen!« rief Dan ihr noch nach. Als Hester ihr Zimmer erreichte, begab sie sich sofort ans Fenster. Sie verbarg sich hinter dem Vorhang und beobachtete, wie Dan das Haus verließ. So stand sie noch lange da, auch noch, als Dan nur noch ein kleiner schwarzer Punkt war, der kaum noch wahrzunehmen war. Verdammt, ich liebe ihn! dachte Hester und fühlte, wie ihr Puls sich augenblicklich beschleunigte.
*
Hester und ihre Gastgeberin Diana Courtland hatten den Abend gemeinsam vor dem Kamin verbracht. Frank Scranto hatte die beiden Frauen verlassen, als er spürte, daß er bei dem Gespräch unwillkommen war. Er gab vor, mit der Kamera im Haus nach passenden Motiven für die Artikelserie zu suchen, und zog sich zurück. Zwischen Hester und Diana bahnte sich eine Freundschaft an. Im Laufe des Gesprächs mußten sie feststellen, daß sie viele Gemeinsamkeiten besaßen. Zwar verfügte Hester nicht über so viel Geld wie die Millionärin, aber dafür waren sie sich im Gefühlsleben sehr ähnlich. »Seit dem Tod meines Mannes habe ich keine Ruhe mehr gefunden«, hatte Diana berichtet. »Ich werde nachts von Alpträumen heimgesucht, in denen mein Mann mir erscheint und mich anklagend auffordert, endlich seinen Mörder zu finden!« An diese Worte mußte Hester nun denken, als sie sich ins Bett begab. Diana hatte ihr viele private Dinge anvertraut. Eine
Pamela Crowler hätte aus diesen Informationen eine reißerische Story entworfen – da war sich Hester hundertprozentig sicher. Aber Hester hatte sich vorgenommen, diese vertraulichen Informationen nicht zu verwenden. Aus diesem Grund hatte sie auch im Laufe des Gespräches irgendwann das Diktiergerät abgeschaltet. Es muß schrecklich sein, mit der Tatsache leben zu müssen, nicht zu wissen, wer den eigenen Mann getötet hat, dachte Hester noch, als sie es sich im Bett gemütlich machte. Und sie ahnte, daß ihre eigenen Alpträume, wenn es denn welche waren, nur ein vager Schatten gegen die Ängste waren, die Diana Nacht für Nacht heimsuchten. Gedankenverloren blickte Hester aus dem Fenster. Es war eine sternenklare Nacht. Und während sie schläfrig in den Sternenhimmel schaute, versuchte Hester ihre wirren Gedanken zu ordnen. Aber sie gab dieses Unterfangen rasch wieder auf. Zu viele Fragen blieben ungeklärt, und am Ende überlegte sie, ob Dan mit seiner Vermutung vielleicht recht behalten sollte. Daß nämlich ihre verdrängten Träume und Visionen sich in der Stille und Abgeschiedenheit als Alpträume bei ihr zurückmeldeten? Hester seufzte bei den Gedanken an den jungen Reservatsheriff leise auf. Sie versuchte sich sein anziehendes, sympathisches Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Und als es ihr endlich gelungen war, schlief sie ein… Als Hester mitten in der Nacht erwachte, fühlte sie sich richtig glücklich. Vage erinnerte sie sich an einen schönen Traum, in dem Dan Macon eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hatte! Aber warum bin ich aus diesem Traum erwacht? fragte sich Hester enttäuscht. Sie hätte noch nächtelang weiterträumen können, wenn es nach ihr gegangen wäre.
Aber dann hörte sie wieder dieses klagende, weinerliche Singen und wußte schlagartig, warum sie wach geworden war. Die letzten Erinnerungen an den schönen Traum zerrissen wie Nebelfetzen in der Sommersonne. Nicht schon wieder! dachte Hester verärgert, als sie den gespenstischen Tönen lauschte, die vom Korridor in ihr Zimmer drangen. Trotzig nahm sie sich vor, den Singsang diesmal zu ignorieren. Sie verkroch sich unter ihre Bettdecke und preßte das Kissen auf ihre Ohren. Aber ihre Neugierde machte sie unruhig. Sie wußte, daß sie es in ihrem Versteck nicht lange würde aushalten können. Schon hob sie das Kissen ein wenig an, um doch noch etwas von dem unheimlichen Gesang vernehmen zu können. Hester schnaufte verärgert, als sie die Bettdecke von sich schleuderte und sich aus dem Bett erhob. Sie griff sich das Diktiergerät, überzeugte sich davon, daß es funktionierte, und bewaffnete sich noch zusätzlich mit einer Stablampe. Dann schlüpfte sie in den Morgenmantel. Diesmal werde ich anders vorgehen, nahm sie sich vor. Lautlos öffnete sie die Zimmertür und schlich hinaus in den langen Korridor. Aber diesmal wandte sie sich nicht zum dunklen Ende des Ganges, sondern setzte sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung. Sie passierte die Treppe und stand wenig später vor der Tür ihres Kollegen. Diesmal würde sie einen Zeugen mitnehmen. Und Frank würde seine Kamera mit dem Nachtobjektiv einstecken! Zaghaft klopfte sie an die Tür des Fotografen. Als sie keine Antwort erhielt, klopfte sie heftiger. Hester wartete vergebens. Frank Scranto schien wieder in einen todesähnlichen Schlaf gefallen zu sein. Verärgert biß sich Hester auf die Unterlippe. Der klagende Gesang vom anderen Ende des Korridors war immer noch zu
vernehmen. Kurz entschlossen griff die junge Journalistin nach der Türklinke. Die Tür war nicht verschlossen, und Hester huschte in den dahinterliegenden Raum. Erst als sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, schaltete sie das Licht an. Rasch sah sie sich in dem Zimmer um. Zu ihrer Überraschung mußte sie feststellen, daß das Bett leer war. Und wie es aussah, hatte Frank sein Bett diese Nacht noch nicht benutzt! Hester runzelte die Stirn. Auf Zehenspitzen schlich sie durch den Raum und rief zaghaft Franks Namen. Aber niemand antwortete ihr. Dann sah sie in dem angrenzenden Bad nach. Doch auch hier hielt sich ihr Kollege nicht auf. Hester fluchte leise. Wenn Frank nicht da ist, werde ich eben allein mit seiner Kamera losziehen! dachte sie und schaute sich nach dem Fotoapparat um. Aber auch der Fotoapparat war nirgendwo zu finden. Nun wurde die junge Frau allmählich unruhig. Wo war Frank. Scranto nur geblieben? Hester wußte sich keinen Reim auf seine Abwesenheit zu machen. Schließlich verließ sie das Zimmer wieder. Auf dem Korridor hielt sie einen Augenblick lauschend inne. Der weinerliche Singsang war nicht mehr zu hören. Vorsichtig schlich Hester den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie ging an ihrer Tür vorbei und befand sich wenig später im hinteren Teil des Korridors. Mit angehaltenem Atem lauschte sie an der letzten Tür. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts Verdächtiges hören. Hester überlegte einen Augenblick, entschloß sich aber dann, die Tür zu öffnen. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, ergriff sie die Türklinke und stieß die Tür auf.
Im selben Augenblick schaltete sie die Stablampe ein. Suchend ließ sie den Lichtstrahl durch das unheimliche Zimmer gleiten. An der Stelle, wo sie am Tage zuvor die Holzfigur mit der gefiederten Maske gesehen hatte, verharrte der Strahl. Hester schluckte. Der Platz war nicht mehr leer. Ein dunkles Bündel lag dort auf dem Boden. Und als Hester vorsichtig näher trat, erkannte sie die Arme und Beine eines Menschen. Und dann traf der Strahl das Gesicht des Mannes, der dort in merkwürdig verrenkter Haltung am Boden lag. Brutal riß der grelle Lichtkegel das Gesicht von Frank Scranto aus dem Dunkeln! Es wirkte sonderbar bleich und leblos. Ein dünner getrockneter Blutfaden zog sich vom Mundwinkel über die linke Wange und mündete auf dem Holzfußboden in einer dunklen Lache geronnenen Blutes. »Frank!« stieß Hester entsetzt hervor. Rasch kniete sie sich nieder und fühlte an der Halsschlagader nach dem Puls des Fotografen. Aber die Haut fühlte sich unnatürlich kalt und trocken an. Unter ihren tastenden Fingerspitzen rührte sich nicht der kleinste Hauch von Leben. In diesem Moment begriff Hester, daß Frank Scranto tot war! Mit einem entsetzten Aufschrei fuhr die junge Journalistin hoch. Schritt für Schritt wich sie rückwärts aus dem unheimlichen Raum. Und erst als sie den Korridor erreicht hatte, wirbelte sie herum und rannte, was ihre Beine hergaben…
*
»Er ist tot!« rief Hester außer sich, als sie in die Privaträume der Millionärin stürmte. Hester hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, an der Schlafzimmertür von Diana Courtland anzuklopfen. Nun stand sie nach Atem ringend mitten im Raum und starrte die verstört dreinblickende Diana mit ganz weit aufgerissenen Augen an. »Er ist tot!« »Wer ist tot?« fragte Diana verschlafen. Sie schien noch nicht ganz zu begreifen, was der sonderbare Auftritt ihres Gastes zu bedeuten hatte. »Frank Scranto, mein Kollege!« stieß Hester aufgebracht hervor. »Er liegt im hintersten Zimmer des Korridors und ist tot. Jemand muß ihn ermordet haben!« Erst als Hester diesen ungeheuerlichen Verdacht ausgesprochen hatte, schien ihr bewußt zu werden, was diese Behauptung für die beiden Frauen bedeutete. Der Mörder konnte sich noch immer im Landhaus aufhalten! Augenblicklich war auch Diana hellwach. Rasch verließ sie ihr Bett, streifte sich einen Morgenmantel über und faßte Hester an den Schultern. »Sind Sie sich sicher?« fragte sie eindringlich. »Ich habe seine Leiche vor einer Minute gefunden«, sprudelte Hester hervor. »Sein Körper ist bereits kalt. Er muß schon seit längerem dort liegen!« Diana schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich hoffe, Sie irren sich«, sagte sie. Aber ihrer Stimme war deutlich anzuhören, wie unwohl sich die Frau plötzlich in ihrer Haut fühlte. »Wir wollen Squint Eye wecken und nach dem Rechten sehen«, entschied sie schließlich. Rasch eilten die beiden Frauen durch das Haus. Diana öffnete die Zimmertür von Squint Eye, ohne anzuklopfen. Entschlossen drehte sie das Licht an.
»Squint Eye, du mußt aufstehen, in dem Haus gehen sonderbare Dinge vor…« Weiter kam die Millionärin nicht, denn sie mußte feststellen, daß das Bett des Indianers leer war. Wie es aussah, hatte Squint Eye seine Unterkunft fluchtartig verlassen. »Er ist wieder ausgeflogen«, stellte Diana mit leicht verärgertem Unterton fest. »Dann müssen wir uns allein um die Angelegenheit kümmern!« Hester bewunderte in diesem Augenblick den Mut der Millionärin. Mit zittrigen Knien folgte sie der Frau. Aber bevor sie sich in den oberen Korridor begaben, trat Diana an einen verschlossenen Schrank. Sie öffnete das robuste Schloß und machte sich im Inneren des Schrankes zu schaffen. Kurz darauf kam sie mit einem Revolver wieder zum Vorschein. »Ich will dem Mörder nicht ganz unvorbereitet entgegentreten, wenn es denn einen gibt«, kommentierte sie. Dann setzten sich die beiden Frauen in Bewegung.
*
Frank Scrantos Leiche lag immer noch so da, wie Hester sie vorgefunden hatte. Diana schaltete das Licht an. Leise, als fürchteten sie, Frank im Schlaf zu stören, näherten sie sich dem Fotografen. Dann kniete sich Diana neben die Leiche und untersuchte sie. »Kein Zweifel, der Mann ist tot«, sagte die Millionärin mit rauher Stimme. Dann drehte sie den Leichnam um. Genau über dem Herzen befand sich ein breiter Einstich. Das weiße Hemd hatte sich an dieser Stelle rot gefärbt.
Als Diana die Wunde sah, wurde sie plötzlich leichenblaß. Mit zitternden Händen suchte sie Hesters Arm und stützte sich an der jungen Journalistin ab. Hester zog die Millionärin auf die Beine. Besorgt sah sie sie dann an. »An solch einer Wunde ist auch mein Mann gestorben«, hauchte Diana. Hester spürte, wie sich ihre Haut im Nacken zusammenzog. »Wir müssen schnell fort von hier!« stieß sie hervor. Diana nickte, konnte ihren Blick jedoch nicht von der schrecklichen Wunde abwenden, an der der Fotograf gestorben war. Hester zog die Millionärin mit sich fort. Aber kaum hatten die beiden Frauen den Korridor erreicht, ertönte plötzlich eine sonderbare Melodie. Die beiden Frauen erstarrten. »Hören Sie das?« stammelte Hester. »Da ist er wieder, dieser schreckliche Gesang!« »Kommen Sie«, forderte Diana die Journalistin auf. »Wer immer der Verursacher dieses Gesanges ist, er führt nichts Gutes im Schilde!« Die beiden Frauen rannten Hand in Hand den Korridor entlang. Dann hatten sie die Treppe erreicht. So schnell sie konnten, hetzten sie die Stufen hinab. Erst als sie die Privaträume der Millionärin erreicht hatten, hielten die beiden Frauen inne. Diana machte sich sofort an ihrem Wandschrank zu schaffen. Sie warf Hester ein paar Sachen zu. »Ziehen Sie das an. Wir müssen das Haus so schnell wie möglich verlassen!« Noch nie war ihr das Ankleiden so zeitraubend und langsam erschienen wie jetzt, als ihr der Tod im Nacken saß. Und es schien Hester, als wäre eine kleine Ewigkeit vergangen, bis sie
die Hose, den Pullover und den dicken Mantel endlich übergezogen hatte. In diesem Moment erlosch plötzlich das Licht. Irgend jemand mußte die Hauptsicherung herausgedreht haben! Diana ergriff Hesters Hand. Ihre Finger zitterten und waren schweißnaß. »Ich hoffe, es ist richtig, was wir nun tun«, sagte sie. »Aber ich glaube, daß wir draußen dem Mörder eher entkommen können als in dem verwinkelten Landhaus. Hier könnte er uns überall auflauern. Aber im Freien können wir uns dem Mörder wirklich besser erwehren!« Hester nickte nur, und als ihr einfiel, daß Diana diese Geste im Dunkeln nicht sehen konnte, drückte sie zur Bestätigung ihre Hand. Auch sie wollte dieses schreckliche Haus so schnell wie möglich verlassen. »Am besten gehen wir in die Richtung, wo das Indianerreservat liegt«, schlug Hester flüsternd vor. »Wir können den Spuren von Dan Macon folgen. Denn der Weg hinab ins Tal nach Placerville ist hoffnungslos verschneit. Dan meinte, es wäre zwecklos, diesen Weg einzuschlagen!« »Einverstanden«, erwiderte Diana. Leise verließen die beiden Frauen den Raum. Als sie den Vorraum erreicht hatten, in den auch die große Freitreppe mündete, hielten sie für einen Moment erschrocken inne. Sie hatten Geräusche gehört, ein unterdrücktes Atmen und das Knarren eines Dielenbrettes. Hester hielt es in der Dunkelheit nun nicht mehr länger aus. Sie schaltete die Stablampe ein und ließ den Lichtkegel über die Treppe gleiten. Als der Strahl den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, riß das Licht eine unheimliche Gestalt aus dem Dunkeln. Es war die Gestalt eines Mannes. Die Haut seines bloßen Oberkörpers schimmerte bleich im Schein der Stablampe. Auf seinem Kopf befand sich die gefiederte Maske, und in seiner Faust hielt er ein blutiges Messer mit krummer Schneide!
Hester und Diana schrien entsetzt auf. Die Millionärin riß den Revolver empor und gab einen Schuß auf den Maskierten ab. Doch zu ihrer Enttäuschung verfehlte sie ihr Ziel. Blitzschnell hatte der Mann sich geduckt und war in der Dunkelheit verschwunden. Hester und Diana wirbelten herum und rannten auf die Portaltür zu. In heller Panik rissen sie die Flügeltüren auf und stürmten ins Freie. Sie rannten, so schnell es der hohe Schnee erlaubte, den Berghang hinauf. Dabei hatten sie das Gefühl, daß ihnen das schaurige Gelächter des Mörders noch lange nachhallte…
*
»Es war also nicht Squint Eye«, sagte Hester außer Atem, als sie schon ein gutes Stück vom Landhaus entfernt waren. »Der Mann mit der Maske hatte eine bleiche weiße Haut. Die von Squint Eye ist dunkel!« »Ich habe keinen Augenblick geglaubt, daß Squint Eye hinter der Maske steckt«, entgegnete Diana, während sie sich an einen großen Felsblock lehnte, um einen Augenblick zu verschnaufen. »Aber wer ist es dann?« wollte Hester wissen. Diana zuckte nur mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie verzweifelt. »Ich Weiß nur, daß mein armer Mann an genau so einer Wunde gestorben ist, wie sie Frank Scranto zugefügt wurde!« Hester legte der Millionärin beruhigend eine Hand auf den Unterarm. »Bald haben wir das Reservat erreicht«, versuchte sie Diana aufzumuntern. »Dan Macon wird uns helfen, den Unbekannten mit der Maske zur Strecke zu bringen. Jedenfalls
weiß ich jetzt, daß ich keiner Halluzination zum Opfer gefallen bin!« »Laß uns weitergehen, bevor dieser Kerl uns noch einholt«, sagte Diana. Inzwischen dämmerte der Morgen über der Sierra Nevada. Hester konnte die Stablampe ausschalten, da sie die Spuren von Dan Macon nun auch ohne künstliche Lichtquelle erkennen konnten. Von nun an ging es steiler bergauf. Die Spuren, die Dan Macon im tiefen Schnee hinterlassen hatte, waren in dem unwegsamen Gelände nur noch schwer auszumachen. Teilweise waren die Spuren durch Schneewehen verschüttet, oder Tiere hatten sie durchkreuzt und unkenntlich gemacht. Den beiden Frauen gelang es aber immer wieder, die Fußtritte des Reservatsheriffs zu entdecken. Der Aufstieg war anstrengend und forderte die ganze Kraft und Konzentration der Frauen. Sie achteten nicht mehr darauf, ob sie der Mann mit der Maske verfolgte oder nicht. Sie waren nur von dem einen Gedanken besessen, der sie unaufhörlich weitertrieb: endlich das rettende Indianerreservat zu erreichen! Auf einer Anhöhe legten sie wieder eine kurze Pause ein. Die Beine schmerzten ihnen von der ungewohnten Anstrengung. Im Windschatten eines großen Felsblocks kauerten sie sich nieder. »Wir hätten etwas Proviant und Wasser mitnehmen müssen«, stellte Hester fest. Sie verspürte unbändigen Durst und Hunger. Um den Durst ein wenig zu mildern, nahmen die Frauen eine Handvoll Schnee und erfrischten sich damit, so gut es ging. Hester ließ den Blick über das stark abfallende Gelände schweifen, das sie hinter sich gelassen hatten. Sie befanden sich auf einem langgestreckten Felsvorsprung, der sich wie eine Serpentine den steilen Felshang hinaufwand.
Hester beugte sich ein wenig vor, um an der Felswand hinunterschauen zu können. Weit unter sich konnte sie ihre eigenen Spuren auf dem schmalen Grat erkennen, den sie vor einer Viertelstunde passiert hatten. Und plötzlich glaubte sie einen Schatten zu sehen! Hester stockte der Atem, als sie unwillkürlich an den Mann mit der gefiederten Maske denken mußte. Die junge Journalistin kniff die Augen zusammen und starrte in die blendend weiße Schneelandschaft hinab. Aber von dem Schatten war nichts mehr zu erkennen. Ich sehe schon Gespenster, dachte sie und wandte sich wieder Diana zu. »Ob es noch weit ist?« fragte Hester und rieb sich müde die Augen. »Wir müssen noch über den Kamm hinüber«, entgegnete Diana matt. »Dahinter befindet sich das Reservat in einer Talsenke.« Hester schaute die Felswand hinauf und stöhnte leise. Sie würden noch ein gutes Stück zurücklegen müssen, ehe sie die Sicherheit des Reservats erreicht hätten. »Laß uns weitergehen«, sagte sie schließlich und zog die Millionärin dann wieder auf die Beine. »Morgen werde ich einen scheußlichen Muskelkater haben«, klagte Diana. »Wenn das alles ist, was wir zu befürchten haben, nehme ich den Muskelkater gerne in Kauf«, erwiderte Hester. Und Diana, die wußte, worauf Hester anspielte, schwieg betroffen und setzte sich in Bewegung.
*
Der Wind heulte an der Felswand entlang und erfaßte die beiden Frauen, die der Kälte schutzlos ausgeliefert waren. Der Felssims, auf dem sie sich bewegten, war an dieser Stelle nur zwei Fuß breit. Hester und Diana gingen mit dem Rücken an der Felswand und bewegten sich sehr behutsam vorwärts. Hester hatte unterdessen das untrügliche Gefühl, daß sie verfolgt wurden. Der beunruhigende Schatten war ihr im Laufe der letzten Stunden noch einige Male aufgefallen. Aber nie konnte sie deutlich erkennen, ob es sich um ein Tier oder tatsächlich um den Mann mit der gefiederten Maske handelte. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Hester nervös. Bisher hatte sie der Millionärin ihre Beobachtung verschwiegen. Sie wollte Diana nicht unnötig beunruhigen. Aber inzwischen gelang es der jungen Journalistin nicht mehr, ihre Angst zu verbergen. »Was hast du?« fragte Diana besorgt. »Seit einer halben Stunde wirkst du so nervös!« Der Umgangston der beiden Frauen war freundschaftlich und vertraut geworden. Die ungewöhnliche Situation hatte die beiden zusammengeschweißt. Hester wollte gerade eine fadenscheinige Begründung abgeben, als Diana plötzlich entsetzt aufschrie. Hester lief eine Gänsehaut über den Rücken. Sie ahnte, daß Diana den Unbekannten nun auch entdeckt hatte, und gleich darauf bestätigte sich ihr Verdacht. Der Mann mit der gefiederten Maske hatte den Knick der Felswand umrundet und war plötzlich nur noch einige Schritte von den Frauen entfernt! Nur mit größter Mühe gelang es Hester, den Impuls zur kopflosen Flucht zu unterdrücken. Jede unbedachte Bewegung konnte für sie den Tod bedeuten, denn unter ihnen fiel die Felswand fast senkrecht ab. Einen Sturz aus dieser Höhe würde niemand überleben!
Langsam näherte sich der unheimliche Mann den beiden verängstigten Frauen. Dabei stimmte er wieder seinen weinerlichen Gesang an. Diana, die dem unheimlichen Mann am nächsten war, verlor ihre Beherrschung. Mit fahrigen Bewegungen machte sie sich an ihrer Manteltasche zu schaffen. Kurz darauf hielt sie den blitzenden Revolver in ihrer Faust. Mit zitternder Hand richtete sie die Waffe auf den Unbekannten. »Bleiben Sie stehen!« schrie Diana mit sich überschlagender Stimme. Aber der Mann zeigte sich unbeeindruckt. Schritt für Schritt kam er auf die beiden Frauen zu und sang dabei sein unheimliches Lied. Dianas Finger krümmte sich in einem Reflex aus Angst und Hilflosigkeit. Die Kugel schlug dicht neben dem maskierten Kopf in der Felswand ein und heulte als Querschläger durch die winterliche Luft. Der Mann stockte einen Augenblick. Aber Hester hatte keine Zeit, so etwas wie Triumph zu empfinden, denn Diana hatte der Rückschlag der Waffe aus dem Gleichgewicht gebracht. Mit rudernden Armen kämpfte die Millionärin um ihr Gleichgewicht. Dabei fiel ihr die Waffe aus der Hand. Trudelnd stürzte der blitzende Revolver in die Tiefe. Und dann rutschte Diana mit einem Fuß von der Kante des Felsgrates. Langsam, fast wie in Zeitlupe, neigte sich ihr Körper über den Abgrund. Diana schrie vor Entsetzen. Aber Hester griff blitzschnell zu. Sie bekam die Millionärin am Arm zu packen. Es riß Hester von den Beinen, als sie das ganze Gewicht von Diana halten mußte. Die Journalistin schlug der Länge
nach hin. Verzweifelt krallte sie sich mit der freien Hand an dem schroffen Felsen fest, mit der anderen Hand umklammerte sie den Arm von Diana! Hilflos hing Diana über dem Abgrund, nur von Hester am Arm gehalten. Mit Tränen in den Augen sah die Millionärin zu Hester empor. »Bitte laß mich nicht los!« flehte sie mit zitternder Stimme. »Versuche dich mit der anderen Hand irgendwo festzuhalten«, stöhnte Hester. Sie spürte, daß sie das Gewicht der Frau nicht lange würde halten können. Schon begannen ihre Finger, die sich in den Mantelstoff gekrallt hatten, zu verkrampfen. Millimeter um Millimeter rutschte der Stoff unter ihrer Hand. »O nein!« stöhnte Diana in diesem Augenblick. Und Hester, die ihrer Freundin in die Augen schaute, sah mit Entsetzen den Ausdruck namenloser Panik. Hester wandte den Kopf und schaute in die Richtung, in die auch Diana blickte. Vor Schreck hätte sie die Millionärin fast losgelassen, denn direkt über ihr stand der Mann mit der gefiederten Maske. In seiner Hand schimmerte der krumme Dolch, den er zum Stoß hoch über seinem Kopf hielt. Sein weinerlicher Gesang klang nun verhöhnend und siegessicher. Gleich wird die Klinge meinen Rücken durchbohren, dachte Hester und kniff in der Erwartung des Schmerzes die Augen fest zusammen. Aber Diana werde ich nicht loslassen! dachte sie trotzig, obwohl sie genau wußte, daß das gar nicht möglich war. Nur wenige Sekunden konnte sie die Frau noch halten, dann würde Diana unweigerlich in die Tiefe stürzen. Plötzlich unterbrach ein Schuß den gespenstischen Gesang des Mannes.
Hester riß die Augen wieder auf. Der Mann mit der gefiederten Maske stand wie erstarrt da. Kein Laut drang mehr unter der Maske hervor. Immer noch hielt er das Messer über seinen Kopf, doch dann kippte er auf einmal wie ein Brett zur Seite. Ohne einen Laut auszustoßen, stürzte der Unheimliche in die Schlucht. Sein Körper überschlug sich noch mehrmals in der Luft, ehe er irgendwo in der Tiefe auf den Schnee aufschlug. Hester blieb keine Zeit, über das nachzudenken, was sie soeben gesehen hatte, denn der Mantelstoff glitt nun unaufhaltsam durch ihre Finger – und somit auch das Leben von Diana! »Nein!« rief Hester verzweifelt und dachte schon, nun wäre alles aus, aber da waren plötzlich mehrere Hände, die nach der Millionärin griffen, sie packten und in die Höhe zerrten. Keuchend blieb Hester auf dem kalten Boden liegen. »Du hast es geschafft«, hörte sie die vertraute Stimme von Dan Macon. Dann fühlte sie seine Hände, die ihr unter die Arme griffen und sie sachte emporhoben. Schluchzend sank sie dem Reservatsheriff in die Arme. Als Hester sich wieder beruhigt hatte, sah sie auch Squint Eye, der sich um Diana kümmerte. Die beiden Männer hatten Wasserflaschen und Proviant mit. Und als die beiden Frauen den Schrecken einigermaßen überwunden hatten, machten sie sich mit Heißhunger über die Sachen her.
*
Hester war erstaunt, als sie das Indianerreservat erreichten. Sie waren von ihrem Ziel nicht mehr weit entfernt gewesen, als sie der Unbekannte mit der gefiederten Maske eingeholt hatte. So
hatte es nur noch eine halbe Stunde gedauert, bis die erschöpften Frauen in Begleitung der beiden Männer die große Talsenke erreicht hatten. Unterwegs hatten sie Dan Macon über alle Vorkommnisse im Landhaus unterrichtet. Die westliche Flanke der Talsenke war mit terrassenförmig angeordneten, flachen Häusern bebaut. Die Hopi-Indianer gehörten zu den seßhaften Indianerstämmen. Sie lebten nicht in Zelten, sondern in Häusern aus Steinen und gebackenen Ziegeln, die mit Lehm verbunden waren. Die Häuser mit den flachen Dächern waren verwinkelt und verschachtelt, überall standen Leitern herum, die die Häuser miteinander verbanden. Das Ganze machte auf Hester den Eindruck, als wäre die Wohnanlage von einem extravaganten Architekten entworfen worden. An der gegenüberliegenden Seite des Tals befand sich eine kleine Blockhütte. Sie war das Büro und der Wohnraum des Sheriffs. Dorthin brachte Dan Macon die beiden Frauen. »Es ist besser, wenn Sie in der Blockhütte bleiben«, sagte Dan bedauernd. »Die Hopi-Indianer bereiten sich auf eine wichtige Zeremonie vor, bei der sie nicht gestört werden wollen. Die Geschichte mit der gefiederten Maske hat die Indianer beunruhigt. Sie befürchten, daß der böse Geist ihre heiligen Riten entweihen will.« Aber Hester und Diana verspürten momentan sowieso keine Lust, sich in dem Reservat umzuschauen. Sie waren müde und wollten sich nur ausruhen. »Wie kommt es, daß du plötzlich aufgetaucht bist?« wollte Hester von Dan wissen. »Das habt ihr nur Squint Eye zu verdanken«, erklärte er. »Er hatte in der Nacht den sonderbaren Singsang gehört und den Mann mit der gefiederten Maske gesehen. Natürlich glaubte er sofort, darin ein Zeichen des bösen Geistes zu erkennen. Er spürte wohl die Gefahr, die von diesem Geist
ausging. Er hat sich sofort auf den Weg ins Reservat gemacht, um mich und seine Brüder vor der Gefahr zu warnen.« »Und uns hat er mit diesem Wahnsinnigen allein gelassen«, beschwerte sich Diana. »Squint Eye ist kein guter Kämpfer«, rechtfertigte Dan das Verhalten des Indianers. »Er ist so eine Art Medizinmann und würde einem Geist nie mit bloßer Körperkraft entgegentreten! Und vor allem wußte er nichts vom Tod Frank Scrantos. Squint Eye glaubte, daß der Fotograf euch vor Angriffen schützen würde.« »Aber dieser Mann, der uns verfolgte und der für den Tod von Frank Scranto verantwortlich ist, war kein Geist«, stellte Hester richtig. Dan nickte zustimmend. »Natürlich nicht«, sagte er. »Aber diesen Beweis werde ich noch antreten müssen. Erst dann werden sich die aufgeheizten Gemüter der Hopi-Indianer wieder abkühlen.« Hester und Diana hüllten sich in die warmen Decken, die Dan Macon ihnen gegeben hatte. Der Reservatsheriff seufzte auf. »Am besten, Sie legen sich jetzt schlafen. Morgen früh müssen wir leider wieder aufbrechen. Die Indianer werden es nicht dulden, daß sich Fremde länger hier aufhalten!« »Heißt das, wir müssen den beschwerlichen Weg ein zweites Mal auf uns nehmen?« fragte Diana fassungslos. Sie hatte sich immer noch nicht ganz von dem Schock erholt, dem Tod nur knapp entronnen zu sein. »Squint Eye und ich werden Sie selbstverständlich begleiten. Über die schwierigen Passagen werden wir Sie tragen!« »Das sind ja schöne Aussichten«, sagte Diana schicksalsergeben.
Erschöpft legten sich die beiden Frauen in die Feldbetten, die Dan für sie aufgestellt hatte, und kurz darauf schliefen sie tief und fest.
*
Der Abstieg am folgenden Morgen gestaltete sich einfacher, als Hester und Diana befürchtet hatten. Die durchtrainierten Männer trugen die Frauen die meiste Zeit über auf ihren Rücken. Hester konnte der ganzen Situation sogar noch eine lustige Seite abgewinnen. Und da Dan sich hauptsächlich der jungen Journalistin annahm, war sie über den Verlauf der ungewöhnlichen Reise wirklich ganz glücklich. Aber dann setzte der Schneefall wieder ein, und Hesters Hoffnungen, das Gebirge schnell hinter sich lassen zu können, schwanden dahin. Zur Mittagszeit kam die Gruppe beim Landhaus an. Hester und Diana überfielen die Erinnerungen an den toten Frank Scranto wieder, als sie das verlassene Haus betraten. »Ich werde mich sofort um den Toten kümmern«, sagte Dan und ging allein die Stufen zum oberen Korridor hinauf. Hester, Diana und Squint Eye zogen sich in die Küche zurück. Sie hatten großen Hunger auf eine warme, reichhaltige Mahlzeit. Kaum fünf Minuten später kam Dan Macon schon wieder zurück. »Die Leiche ist verschwunden«, sagte er betreten. »Ich schätze, daß der Mörder den Toten beiseite geschafft hat, bevor er sich an die Verfolgung seiner neuen Opfer machte.« Hester spürte, wie ihr das Grauen die Kehle hinaufstieg. Sie würde vielleicht noch einige Tage in diesem verfluchten Haus verbringen müssen, ohne zu wissen, wo sich die Leiche des
armen Frank Scranto befand. Vielleicht stieß sie durch Zufall auf seine Leiche. Beim Duschen oder wenn sie in den Vorratsraum ging! Dan, der merkte, wie unbehaglich sich die junge Journalistin fühlte, versprach, gemeinsam mit Squint Eye das ganze Haus nach der Leiche abzusuchen. Und während sich Hester und Diana um das Essen kümmerten, machten sich die beiden Männer an die undankbare Aufgabe, die Leiche von Frank Scranto zu suchen. Als nach einer Stunde das Essen fertig war, hatten sie die Leiche immer noch nicht gefunden. »Ich nehme an, der Unbekannte hat sein Opfer irgendwo in den Bergen versteckt«, mutmaßte Dan, als sie sich zum Essen an den großen Tisch gesetzt hatten. Hester spürte, daß sie plötzlich keinen Appetit mehr hatte. Mißmutig starrte sie auf ihren gefüllten Teller. »Ich muß euch leider gleich wieder verlassen«, wartete Dan mit einer neuen Horrorbotschaft auf. »Ich muß in die Berge gehen, um den Mann mit der Maske zu identifizieren. Als zuständiger Sheriff bleibt mir keine andere Wahl. Außerdem muß ich den Hopi-Indianern beweisen, daß es sich bei dem Mann mit der gefiederten Maske nicht um einen bösen Geist handelt, sondern um einen grausamen Verbrecher. Ich bin mir allerdings über seine Motive noch nicht im klaren.« Dan schaute Diana und Hester fragend an. Offenbar glaubte er, daß die Frauen ihm einen brauchbaren Hinweis liefern konnten, aber sie zuckten nur ratlos mit den Schultern. »Ich weiß nur, daß mein Mann auf die gleiche Weise ermordet wurde wie dieser beklagenswerte Fotograf«, sagte Diana. »Wir werden seine Motive schon noch herausbekommen«, behauptete Dan. »Auf jeden Fall kann der Mörder euch jetzt
nicht mehr gefährlich werden, denn er liegt mit einer Kugel im Kopf und zerschmettert am Fuße der Steilwand.« Auch Diana schien nun keinen Hunger mehr zu verspüren. Dan, der erst jetzt merkte, was er mit seinen Worten angerichtet hatte, versuchte sich in aller Form für sein rücksichtsloses Verhalten zu entschuldigen. Allerdings schien Squint Eye und dem Sheriff die Geschichte nicht auf den Magen geschlagen zu sein, denn sie langten kräftig zu. Eine Stunde später war es dann soweit. Dan Macon verabschiedete sich von den beiden Frauen. »Squint Eye wird bei euch bleiben«, sagte er zum Abschied. »Ich bin so schnell wie möglich wieder hier!« Dan hauchte Hester einen Kuß auf die Wange. »Du bist eine tapfere Frau, und ich beginne mich in dich zu verlieben«, hauchte er ihr ins Ohr, ohne daß die anderen es hörten. Dann wandte er sich abrupt um und verließ mit raschen Schritten das Landhaus.
*
»Muß das wirklich sein?« fragte Diana Courtland, als sie Hester auf den langen Korridor folgte. »Wir wollen doch herausfinden, was der Maskierte in den hinteren Räumen zu suchen hatte«, entgegnete Hester. »Irgend etwas muß den Mann immer wieder hierhergetrieben haben.« »Aber sollten wir nicht besser warten, bis Macon zurück ist? Schließlich ist er der Sheriff und dafür zuständig, den Fall aufzuklären!« »Sicher«, lenkte Hester ein, »aber wir können Dan ein wenig helfen, indem wir ein paar Nachforschungen anstellen. Und schließlich gibt es da ja noch den Verdacht, daß der Mord
an Eddi Courtland und der an Frank Scranto in irgendeiner Beziehung zueinander stehen!« Dieses Argument überzeugte Diana schließlich. Wenn es darum ging, den wahren Mörder ihres Mannes zu entlarven, dann konnte die Millionärin sogar ihre Angst vergessen. Die beiden Frauen betraten den hinteren Raum. Ein Rest des Tageslichtes drang durch die Fenster und tauchte das Zimmer in ein fahles, nebliges Licht. Die Sonne wurde durch dunkle Wolkenbänke verdeckt. Es stand zu befürchten, daß der Schneefall jeden Augenblick wieder einsetzen würde. Hester kämpfte gegen das mulmige Gefühl im Magen an, als sie den Raum erneut einer gründlichen Prüfung unterzog. Die Stelle, an der Frank Scranto tot dagelegen hatte, war leer. Nicht einmal von der Blutlache auf dem Holzfußboden war noch eine Spur zu entdecken. Hester und Diana sahen sich aufmerksam um. Sie deckten die Gegenstände ab, entfernten verstaubte Leinentücher und milchig gewordene Plastikplanen. Bei dieser Gelegenheit entdeckten sie in einem Schrank die geschnitzte Holzfigur. Die gefiederte Maske fehlte jedoch. Hester sah nun, daß es sich bei der Figur um eine schlechte Nachbildung eines im Schneidersitz hockenden Indianers handelte. Ohne die gefiederte Maske wirkte die Figur gewöhnlich und stümperhaft gearbeitet. »Ich fürchte, außer Staub werden wir hier nichts finden«, sagte Diana in diesem Augenblick. Ihr war anzusehen, daß sie den Raum so schnell wie möglich wieder verlassen wollte. Hester schüttelte ratlos den Kopf. Es war zum Verrücktwerden! Die alten, ausgedienten Möbel und die wenigen Gegenstände aus der ehemaligen Sammlung von Eddi Courtland gaben nichts her. Die Sachen wirkten so gewöhnlich, daß Hester sich nur schwer vorstellen konnte, daß
jemand wegen dieses wertlosen Zeugs einen Mord begehen würde. Was war in diesem Raum vorgefallen? stellte Hester sich die entscheidende Frage. Und plötzlich erinnerte sie sich an die letzten Worte von Frank Scranto. Er wollte mit seinen Kamera durch das Landhaus streifen und lohnenswerte Motive suchen. War er bei seiner Suche fündig geworden? Und wenn ja, wo war dann seine Kamera? Ohne wirklich an einen Erfolg zu glauben, begann Hester den Boden nach der Kamera abzusuchen. Sie schaute unter Schränken, Stühlen und Statuen nach. »Wir sollten die Suche aufgeben«, meinte Diana. »Wir werden hier nichts finden.« Aber in diesem Augenblick hatte Hester etwas entdeckt, einen matt schimmernden Gegenstand unter einer dunklen Kommode! Hester kniete sich auf den Boden und tastete mit der Hand unter der Kommode herum. Und dann bekamen ihre Finger einen metallischen, kalten Gegenstand zu fassen. Kurz darauf zog sie die Fotokamera ihres Kollegen unter dem verstaubten Möbelstück hervor. »Franks Kamera«, sagte Hester triumphierend und hielt das teure Gerät wie eine Trophäe in die Höhe. »Wenn wir Glück haben, finden wir darauf etwas Brauchbares!« »Aber dafür müßten wir den Film erst mal entwickeln lassen. Der nächste Fotoladen befindet sich einige Meilen entfernt. Es ist hoffnungslos.« Hester schüttelte siegessicher den Kopf. »Frank führt immer eine tragbare Dunkelkammer mit sich. Es ist nur ein kleiner schwarzer Kasten. Für unsere Zwecke müßte er ausreichen!« Die junge Journalistin machte sich sofort an die Arbeit. Sie verfügte über genügend Grundkenntnisse, um den Film, der sich in der Kamera befunden hatte, korrekt zu entwickeln.
Dafür zog sie sich in Franks Zimmer zurück. Über eine Stunde arbeitete sie fieberhaft an der Entwicklung des Filmes. Anschließend fertigte sie einen Kontaktabzug an. Mit dem nassen Fotopapier begab sie sich in das Kaminzimmer, wo sich Diana und Squint Eye aufhielten. »Ich glaube, ich habe etwas entdeckt«, kündigte sie an, als sie den Raum betrat. Neugierig beugten sich die drei über das feuchte Fotopapier. Es waren genau dreißig Aufnahmen vom Inneren des Landhauses. Die letzten Aufnahmen hatte Frank Scranto dem Korridor gewidmet, in dem Hester die gespenstische Erscheinung gesehen hatte. Offenbar wollte er über ein paar Aufnahmen verfügen, wenn sich doch noch herausstellte, daß an den sonderbaren Erscheinungen doch etwas dran war. Aber diese Eingebung war dem Starfotografen zum Verhängnis geworden! Hester hielt unwillkürlich den Atem an, als sie sich die Aufnahmen, die ihr Kollege von dem hinteren Zimmer gemacht hatte, genauer besah. Ein Mann war dort abgebildet. An seinem überraschten Gesichtsausdruck konnte Hester erkennen, daß das Auftauchen des Fotografen ihn unvorbereitet getroffen hatte, denn er war anscheinend gerade damit beschäftigt, seine Verkleidung anzulegen. Die gefiederte Maske in seinen Händen ließ da keinen Zweifel offen. »Er hat seinen eigenen Mörder fotografiert!« stieß Diana entsetzt hervor. »Dieser Kerl hat Frank Scranto umgebracht, weil der hinter sein Geheimnis gekommen war!« Diana richtete sich auf und starrte Hester in das bleiche Gesicht. Die junge Frau schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen. Auch Squint Eye wurde nun auf den besorgniserregenden Zustand der jungen Journalistin aufmerksam. Sofort holte er einen Stuhl herbei und schob ihn Hester unter.
Die junge Frau setzte sich teilnahmslos. Ihre Augen starrten ausdruckslos ins Leere. »Was ist mit dir los, Hester?« wollte Diana besorgt wissen. Langsam wandte Hester den Kopf und starrte der Millionärin fassungslos in die Augen. »Der Mörder!« wisperte sie fast ohne Stimme. »Ich habe ihn auf dem Foto wiedererkannt. Es ist Oscar Frampton. Der Fotograf, der eng mit Pamela Crowler, der Starjournalistin der Madame Frisco, zusammenarbeitet…«
*
Im Kamin brannte ein beruhigendes Feuer. Hester und Diana starrten stumm in die Flammen. Squint Eye hatte sich in die Küche begeben, um für die Frauen ein Mahl zu bereiten. Draußen war die Nacht über die Sierra Nevada hereingebrochen. Hester seufzte hörbar auf. »Ich verstehe die Zusammenhänge immer noch nicht«, sagte sie, ohne dabei von den Flammen aufzusehen. »Was hat es zu bedeuten, daß Oscar Frampton dieses Theater mit der gefiederten Maske inszeniert hat?« Hester wußte nun, daß Oscar Frampton die geschnitzte Holzfigur nur dazu benutzt hatte, um sie zu erschrecken. Wahrscheinlich war sogar die gefiederte Maske nur ein Instrument, um die Menschen im Landhaus zu verschrecken. Sie stand in keinerlei Beziehung zu der Kultur der HopiIndianer! »Ich verstehe bloß nicht, warum Oscar Frampton uns erschrecken wollte!« überlegte Hester laut. Diana zuckte nur mit den Schultern. Sie konnte sich am wenigsten einen Reim auf die Dinge machen. Sie war verwirrt
und hoffte nur, daß Dan Macon bald zurückkehren würde. »Ich weiß es auch nicht«, sagte sie tonlos. »Es ist sonderbar. Oscar Frampton und Pamela Crowler bilden ein unzertrennliches Team. Hat er beschlossen, auf eigene Faust etwas zu unternehmen? Vielleicht wollte er bloß ein paar Aufnahmen von dem Landhaus machen, um das Bildmaterial für Pamelas unwürdige Artikel zu besorgen. Wahrscheinlich planten sie einen neuen Feldzug gegen dich!« Diana schüttelte ungläubig den Kopf. »Mir hat er seinen Besuch wenigstens nicht angekündigt«, sagte sie brüskiert. »Ich hätte ihm sowieso nicht gestattet, mein Haus zu fotografieren, wenn ich gewußt hätte, daß er für diese Pamela Crowler arbeitet.« »Darum hat er wahrscheinlich gar nicht erst gefragt«, vermutete Hester. Aber ihr war immer noch nicht klar, warum Oscar Frampton sich als maskierter Geist verkleidete und selbst vor einem Mord nicht zurückschreckte. Auch fiel ihr jetzt wieder ihre erste Begegnung mit dem Maskierten ein. Damals, als Hester mit dem Ford durch das Schneegestöber gefahren war, hatte der Maskierte sie absichtlich in eine falsche Richtung gelenkt, um einen Unfall zu provozieren. »Das Ganze ergibt einfach keinen Sinn!« stöhnte Hester verzweifelt auf. In diesem Moment setzte wieder der weinerliche Singsang ein! Hester und Diana sahen sich mit weit auf gerissenen Augen an. Sie hatten geglaubt, der Spuk hätte mit dem Tod von Oscar Frampton sein Ende gefunden. Wieso hörten sie nun plötzlich wieder diesen schrecklichen Gesang? Auf einmal erlosch die elektrische Beleuchtung. Das zuckende Feuer des Kamins warf gespenstische Schatten an die Wände. Hester und Diana waren wie gelähmt vor Angst. In
jeder Ecke vermuteten sie einen Feind, der nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, sie anzugreifen. Diana erhob sich langsam aus ihrem Sessel. »Squint Eye!« rief sie verzweifelt. »Squint Eye, komm sofort ins Kaminzimmer!« Aber der Indianer meldete sich nicht. Statt dessen schwang plötzlich die Flügeltür des Kaminzimmers auf. Leise und gespenstisch, wie von Geisterhand. Und dann sahen sie ihn. Er stand in der dunklen Türöffnung, nur von dem rötlichen Schein des Feuers beleuchtet: der Mann mit der gefiederten Maske! Mit einem Sprung war der Maskierte im Kaminzimmer. Der unheimliche Gesang drang dumpf und weinerlich hinter der Maske hervor. Unwillkürlich griff Hester in ihre Jackentasche. Dort befand sich wie immer ihr Diktiergerät. Schnell drückte sie die Aufnahmetaste. Plötzlich zog der Maskierte einen krummen, langen Dolch aus dem Gürtel. Die Waffe zuckte in die Höhe, blitzte unheilvoll im Widerschein der Flammen. Tänzelnd bewegte sich die Gestalt auf die beiden Frauen zu. »Wir werden sterben«, flüsterte Diana voller Entsetzen. »Wir werden alle sterben!« Schritt für Schritt wich Diana vor dem Maskierten und seinem Messer zurück. Doch Hester blieb wie gebannt stehen. Konzentriert starrte sie auf die Maske, als versuchte sie, den Stoff und die Federn mit ihren Blicken zu durchdringen, um in das Gesicht sehen zu können, das sich hinter der Maske verbarg. »Hester, sieh dich vor!« rief Diana ihrer neugewonnenen Freundin zu. »Dieser Verrückte wird dich töten!« Aber Hester war auf einmal ganz entspannt und brachte es sogar fertig zu lächeln, bitter und vorwurfsvoll allerdings.
»Hinter dieser Maske steckt kein Mann«, sagte Hester mit fester Stimme. Die Gestalt mit der Maske verharrte für einen Augenblick, ohne allerdings den Gesang zu unterbrechen. Drohend ließ die unheimliche Erscheinung das Messer in der Luft kreisen. Aber Hester wich keinen Schritt zurück. Statt dessen besah sie sich die Kleidung der unheimlichen Gestalt. Sie trug schwarze weitfallende Gewänder, so daß die Konturen des Körpers nicht ins Auge fielen. Aber Hester war längst aufgefallen, daß dieser Maskierte nicht über die kräftige Statur seines Vorgängers verfügte. Er wirkte kleiner und zierlicher. Die Hände waren schmaler und gepflegt. Frauenhände! Doch dann hatte die Maskierte Hester fast erreicht. Jeden Augenblick konnte sich das Messer zum tödlichen Stoß herabsenken. Hester sah die unheimliche Gestalt herausfordernd an. »Sie können Ihre Maske abnehmen, Pamela. Ich weiß, daß Sie hinter der gefiederten Maske stecken. Aber Sie wirken längst nicht so überzeugend wie Ihr Kollege Oscar Frampton, der jetzt tot am Fuße eines Abgrunds liegt. Und ich bin überzeugt, daß Sie nicht über so ein hartes Herz verfügen, um zwei wehrlose Frauen kaltblütig umzubringen!« Einen Augenblick herrschte absolute Stille in dem Raum. Nur das Knistern des Feuers war zu vernehmen. Dann warf der Maskierte seinen Kopf zurück und verfiel in ein kreischendes Gelächter. Eine Hand löste sich vom Knauf des Dolches und zog die Maske vom Kopf. Darunter erschien das ovale Gesicht von Pamela Crowler! »Glückwunsch«, sagte die Starjournalistin Pamela Crowler und lachte höhnisch. Sie schüttelte ihr kastanienrotes Haar, das ihr bis auf die Schultern herabfiel. Die braunen Augen musterten Hester abschätzend. »Ich muß zugeben, daß ich eine
ebenbürtige Konkurrentin vor mir habe«, stellte sie spöttisch fest. In diesem Moment meldete sich Diana Courtland zu Wort. Sie war hinter Hester getreten und starrte verwirrt auf den ungebetenen Gast. »Was haben Sie in meinem Haus verloren?« fragte sie mit fester Stimme. »Ich fordere Sie auf, meinen Besitz unverzüglich zu verlassen!« Pamela sah Diana über Hesters Schulter hinweg herablassend an. Dann vollführte sie eine weit ausholende Geste mit dem Messer und deutete in den Raum hinein. »Ihren Besitz!« stieß sie verächtlich hervor. »Dies alles sollte einmal mir gehören. Eddi hat es mir versprochen! Aber er hat sein Versprechen nicht eingehalten. Doch seitdem betrachte ich das gesamte Vermögen von Eddi Courtland als mein rechtmäßiges Eigentum!« Diana starrte die Frau mit den kastanienroten Haaren verständnislos an. »Sie sind eine naive, verwöhnte Frau«, fuhr Pamela in mißbilligendem Tonfall fort. »Ihren Mann haben Sie nie wirklich gekannt. Oder wußten Sie, daß er ein Verhältnis mit einer der bekanntesten Journalistinnen in San Francisco hatte?« »Das ist nicht wahr!« stieß Diana entsetzt hervor. »Sie lügen. Eddi hätte sich nie mit einer skrupellosen Frau, wie Sie es sind, eingelassen. Vor allen Dingen war er mir immer treu!« Hester konnte an der Stimme der Millionärin erkennen, daß sie sich in dieser Beziehung nicht so sicher war, wie sie vorgab, doch für sie war ihr ehemaliger Mann nur noch der, den sie in Erinnerung behalten wollte: der liebende und fürsorgliche Ehemann. »Sie glauben doch selbst nicht, was Sie sagen«, stellte Pamela nüchtern fest. »In San Francisco war es ein offenes
Geheimnis, daß Ihr Mann ab und zu einen Seitensprung wagte.« Diana stieß Hester beiseite und wollte sich auf Pamela stürzen. Aber da ruckte plötzlich der Dolch in die Richtung der Millionärin und stoppte den Angriff. »Eddi hatte mir versprochen, sich von seiner Frau zu trennen und mich zu heiraten«, fuhr Pamela ungerührt fort. »Er hat mich unsterblich geliebt. Ich hätte ihn zum glücklichsten Mann der Welt gemacht und den Reichtum an seiner Seite genossen. Aber Sie haben ihn nicht losgelassen. Sie haben ihn an sich gekettet, so daß er schließlich sein Vorhaben aufgab!« »Das ist nicht wahr!« stieß Diana aufgebracht hervor. »Er hat nie vorgehabt, sich von mir scheiden zu lassen!« Pamela musterte ihr Gegenüber feindselig. Aber ehe die Starjournalistin etwas Unbedachtes tun konnte, trat Hester dazwischen. »Ihnen als Journalistin hätte ich eigentlich mehr Scharfsinn zugetraut«, sagte Hester und beobachtete, welche Reaktion ihre Worte bei Pamela hervorriefen. Aber die Frau sah sie nur verächtlich an. »Sie sind auf den ältesten Trick hereingefallen, den sich verheiratete Männer je ausgedacht haben, um sich ihre Geliebte gefügig zu machen. Sie sind Eddi Courtland auf den Leim gegangen!« Pamela Crowler gab ein bösartiges Knurren von sich. Wie eine Raubkatze, die in die Enge getrieben wurde, klang sie. Hester wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Zu spät bemerkte sie, daß sie mit ihrer Provokation zu weit gegangen war. »Du unterschätzt mich!« schrie Pamela und ließ ihren Dolch wieder in die Höhe zucken. »Natürlich habe ich Eddi durchschaut. Und er hat diesen Frevel teuer bezahlen müssen. Und du täuschst dich abermals, wenn du glaubst, ich könnte niemanden kaltblütig ermorden. Wenn jemand es verdient hat,
wird er von mir den Tod empfangen – so wie auch Eddi Courtland von mir den Tod empfangen hat! Und nun ist Diana an der Reihe. Sie ist an dem Frevel, den ihr Mann an mir beging, ebenso schuldig wie er. Und wenn du mir nicht mit deinem unerwarteten Besuch dazwischengekommen wärst, hätte ich mein Vorhaben schon längst durchgeführt. Aber so mußte ich mich auch noch um dich und deinen lästigen Fotografen kümmern. Meinen treuen Partner hat dein Auftauchen das Leben gekostet. Er war der einzige Mann, der wirklich in allen Situationen zu mir gehalten hat. Und nun ist er tot. Dafür wirst du bezahlen!« Hester verschlug es die Sprache. Wenn sie sich eben nicht verhört hatte, hatte Pamela Crowler gerade den Mord an dem Millionär Eddi Courtland gestanden! Und sie hatte weitere Morddrohungen ausgestoßen! »Sie sind eine grausame Mörderin, genauso wie Ihr skrupelloser Kollege Oscar Frampton!« schrie Diana außer sich vor Entsetzen. Wie versteinert stand sie da und starrte auf die Frau mit dem Dolch in der Faust. »Ja, ich habe Eddi für das, was er mir angetan hat, getötet«, ließ Pamela nicht ohne Stolz verlauten. In ihren Augen glomm plötzlich ein wahnsinniges Feuer. Und dieser Eindruck, das ahnte Hester, war nicht nur auf die Flammen im Kamin zurückzuführen, die sich auf dem haßverzerrten Gesicht der Starjournalistin spiegelten. Es war der Irrsinn, der in ihren Augen funkelte! Hester unternahm einen letzten Versuch, Pamela wieder zu beruhigen. Sie hoffte immer noch, daß Squint Eye jeden Moment auftauchen würde. Wo bleibt der Indianer nur? dachte Hester besorgt. Aber dann raffte sie all ihren Mut zusammen. Sie mußte Pamela irgendwie beschäftigen, um Zeit zu gewinnen!
»Bei Eddi Courtland ist es Ihnen vielleicht gelungen, den Verdacht von sich auf Diana zu lenken«, gab sie zu bedenken. »Aber diesmal werden Sie nicht so einfach davonkommen. Wenn Sie uns auch umbringen, wird bestimmt jeder wissen, wer es getan hat!« Pamela stieß nur ein verächtliches Lachen aus. »Du unterschätzt mich schon wieder. Ich habe euren indianischen Hausdiener in der Küche unschädlich gemacht. Er weilt jetzt im Land der Träume. Aber nachdem ich euch getötet habe, werde ich es so arrangieren, daß es aussieht, als ob der Indianer euch getötet hätte. Die aufwendige Maskerade mit der gefiederten Maske wird sich schließlich doch noch auszahlen. Jeder wird glauben, der Indianer hätte euch in dem fanatischen Glauben getötet, damit die bösen Geister aus dem Haus zu vertreiben. Diese Wilden sind zu allem fähig!« Hester und Diana sahen Pamela fassungslos an. Und Hester wußte plötzlich, daß sie von Pamela keine Gnade erwarten durfte. Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken ließ Pamela plötzlich den mörderischen Dolch auf Diana herabfahren! Hester reagierte blitzschnell. Sie sprang auf Diana zu und stieß sie beiseite. Die Millionärin geriet ins Straucheln und stürzte. Das rettete ihr das Leben. Die rasiermesserscharfe Klinge verfehlte das Herz der Millionärin und streifte statt dessen nur den Oberarm der Frau. Diana schrie auf, als der kalte Stahl die Muskelstränge des Oberarms durchschnitt. Aber sie war dem tödlichen Stoß entronnen. Wütend wandte sich Pamela nun an Hester. Der Wahnsinn blitzte jetzt unübersehbar in ihren braunen Augen. Weder zuckte der Dolch in die Höhe, verharrte dort einen Augenblick und fuhr dann auf die junge Journalistin herab.
Hester war vor Schreck wie gelähmt. Wie unter Hypnose mußte sie mit ansehen, wie sich der Dolch ihrer Brust näherte – doch bevor der tödliche Stahl ihre Haut verletzen konnte, wurde Pamela plötzlich zurückgerissen. Sie kippte nach hinten weg und schlug unsanft auf den Boden. Hinter ihr stand Dan Macon. Mit flinken Bewegungen entwand er der Starjournalistin den gefährlichen Dolch. »Das Spiel ist aus, Pamela Crowler«, sagte Dan mit ruhiger Stimme. Dann holte er ein paar Handschellen aus seiner Lederjacke hervor und schloß sie energisch um die Handgelenk der Mörderin. Hester sank Dan mit einem erleichterten Ausruf in die Arme. »Gott sei Dank, daß du endlich gekommen bist!« stieß sie glücklich hervor. »Pamela wollte uns alle umbringen.« Behutsam löste Dan sich aus der Umarmung. Dann wandte er sich an Diana und besah sich ihre Verletzung. »Wir werden einen Verband machen müssen«, sagte er. »Aber in ein paar Wochen werden Sie von der Wunde nichts mehr spüren.« Sie begaben sich in die Küche, wo sie den armen Squint Eye von seinen Fesseln befreiten. Pamela hatte ihm eine gußeiserne Bratpfanne über den Schädel geschlagen. Benommen richtete sich der Indianer auf. »Ist der böse Geist nun endlich fort?« wollte er wissen.
*
»Als ich den toten Mann am Fuße der Schlucht endlich erreicht hatte, machte ich mich sofort daran, ihm die Maske vom Kopf
zu reißen«, erklärte Dan Macon, als sie bei einem starken Kaffee in der Küche versammelt waren. Dan hatte die Gefangene in einem der Gästezimmer ans Bett gekettet. Pamela Crowler war in einen apathischen Zustand verfallen. Sie starrte nur ausdruckslos vor sich hin und reagierte auf keine Ansprache. Hester und Diana hatten Dan mittlerweile über die Vorkommnisse unterrichtet, die sich ereignet hatten, nachdem der Sheriff das Landhaus verlassen hatte. »Ich erkannte den Kerl sofort«, fuhr Dan fort. »Zu oft hatte ich ihn in Begleitung von Pamela Crowler gesehen, als sie ihre unselige Kampagne gegen Diana führten. Ich wußte sofort, daß Pamela sich ebenfalls in der Sierra Nevada aufhalten mußte, wenn ihr Fotograf anwesend war. Ich schloß daraus, daß die Gefahr für die Bewohner des Landhauses noch nicht vorüber war. Sofort machte ich mich auf den Weg. Und wie es aussieht, bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen. Mit den Beweisen auf dem Diktiergerät wird es nicht schwerfallen, Pamela Crowler den Mord an Eddi Courtland nachzuweisen. Und der Mörder von Frank Scranto hat seine Strafe bereits erhalten. Er liegt tot im unwegsamen Gelände der Sierra Nevada!« Als die Menschen, die sich in der Küche versammelt hatten, sich nichts mehr zu sagen hatten und die Müdigkeit ihnen in den Gesichtern geschrieben stand, begann draußen ein neuer Tag. Die Wolkendecke hatte sich über Nacht gelichtet. Der wärmende Sonnenschein glitzerte nun auf der dichten Schneedecke. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Weg hinab ins Tal wieder frei war. Hester, die am Küchenfenster stand und in die verschneite Landschaft hinausschaute, freute sich über diesen Umstand.
Aber gleichzeitig beschlich sie ein wehmütiges Gefühl. Werde ich Dan Macon je wiedersehen? fragte sie sich traurig. Diana und Squint Eye hatten die Küche bereits verlassen, als Dan von hinten an Hester herantrat und einen Arm um ihre Schultern legte. »Wenn dies alles überstanden ist«, sagte er leise, »darf ich dich dann in San Francisco einmal besuchen?« Freudestrahlend wandte Hester sich zu dem jungen Mann um. »Ich hatte schon befürchtet, du würdest mich das nie fragen«, sagte sie und fiel ihm glücklich um den Hals.