Geister-
Krimi � Nr. 30 � 30
Gerald Morphy �
In den Krallen des � Albino �
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Geister-
Krimi � Nr. 30 � 30
Gerald Morphy �
In den Krallen des � Albino �
2 �
November an der Seine. Ein neuer Tag kroch über die Dächer von Paris. Noch schlief die Stadt traumlos unter einer Nebelglocke. Graue Fassaden abseits der lichterflimmernden Boulevards, drohende Torbögen und dunkle Gassen im fahlen Licht des Morgens. Der Wind strich durch Steinschluchten, fing sich wimmernd in Kaminen und peitschte um Hausecken. Der Schein der Straßenlampen erstickte fast im Dunst, der die Konturen der Häuser auflöste und verhüllte. Warum habe ich kein Taxi genommen? dachte Lucienne Dantec. Sie hielt sich in der Mitte der holprigen Straße. Hohe Absätze klapperten über das Pflaster. Ängstliche Blicke suchten finstere Hauseingänge ab. Die Nerven streikten. Löste sich dort ein Schatten aus dem Gelbbraun einer Mietskaserne? War das noch das Echo der eigenen Schritte? Warum ließ sich kein Mensch blicken? Lucienne fröstelte, schaute sich immer wieder gehetzt um. Aber nichts rührte sich in der leeren Straße. Nur das Laub einer Efeuhecke raschelte. Ein Vogel piepste im Schlaf. Sein gequälter Ruf ließ Lucienne zusammenfahren. Ein Hund bellte. Der Deckel einer Mülltonne fiel, scheppernd zu Boden. Noch einhundert Schritte, dachte Lucienne, die von einem Ball in der medizinischen Fakultät der Universität Sorbonne zurückkehrte und leichtsinnigerweise jede männliche Begleitung abgelehnt hatte. Jetzt bereute sie diese unbedachte Prüderie. Das Mädchen bog in die Rue Lobineau im 6. Arrondissement. Sie hatte dort ein Zimmer gemietet. Plötzlich besiegte ein bleicher Mond für Sekunden die Finsternis, schob sich hinter einer Wolkenbank hervor. Die Sicht besserte sich für einen Augenblick. Das Mädchen prallte entsetzt zurück. 3 �
Wie aus dem Boden gewachsen tauchte ein Mann auf, mehr als zwei Meter groß, ein Hüne. Er trug einen frischen Verband um den Hals. Blutiger Mull hob sich scharf ab gegen der schwarzen Anstaltspyjama. Der Schädel war kahlrasiert, aber auf der Brust schimmerte dichter, heller Flaum. Selbst auf den ungewöhnlich großen Händen zwischen den Fingern wucherte und spross in dichten Büscheln farbloses Haar. Rötliche Augen glühten wie Feuerräder. Wulstige Lippen klafften. Wie gebannt starrte das Mädchen auf den Albino, der sich mit einem Grunzen aus heiserer Kehle langsam in Bewegung setzte, schwerfällig, mit vorgewölbten, muskelbepackten Schultern. In der Rechten hielt das Ungetüm eine Stricknadel. Licht brach sich funkelnd im Stahl. Der Schrei gefror in Luciennes Kehle, als die Erinnerung auf sie einstürmte wie ein Orkan. Sie verdiente ihr Brot mit Gerichtsberichten für verschiedene Zeitungen. Sie hatte auch über diesen Mann berichtet. Es war Gobineau, der Frauenmörder, hingerichtet vor Jahresfrist. Sein Kopf war unter die Guillotine gefallen. Lucienne taumelte zurück. Gobineau setzte nach. Er genoss die Qualen seines Opfers. Die gefährliche lange Nadel in seiner Faust zielte schwankend auf das Herz des Mädchens. Auf diese Art hatte er mehr als ein Dutzend Frauen getötet, war einem Blutrausch verfallen, der einzig und allein vom Scharfrichter gestoppt werden konnte. Welcher Hölle war das Scheusal entstiegen, um seine unseligen Taten zu wiederholen? Lucienne wandte sich zitternd zur Flucht. Die Nadel zuckte vor, verfehlte sie um Haaresbreite, bohrte sich knirschend in den Verputz des Hauses, während Lucienne zur Seite ausbrach, um ihr Leben lief. Das Mädchen verlor einen Schuh, schleuderte den anderen davon, weil er nur hinderte. Lucienne ließ ihre Handtasche fal4 �
len. Die Schöße ihres blauen Mantels flatterten wie die Schwingen eines verängstigten Vogels. Gobineau kicherte schrill, atemlos, genoss die Hetzjagd. Er hatte sie bislang alle zur Strecke gebracht. Keine war ihm entkommen. Er hatte ihnen stets in der Nacht aufgelauert, weil er Tageslicht nicht vertrug, in dunklen Kellerräumen schlief, um sich zu erheben, wenn die Dunkelheit hereinbrach. Der Riese setzte dem Mädchen in gewaltigen Sätzen nach, rannte barfuss über das kalte, feuchte Pflaster, bereit, sein Mordinstrument in warmes Fleisch zu bohren, ein Leben auszulöschen, das Mädchen zu ermorden, wie es sein animalischer Instinkt befahl. Die Nadel wippte bei jedem Satz des Albino, der unaufhaltsam den Vorsprung verkürzte, Lucienne näher kam – hechelnd, gierig, wie einem Rausch verfallen. Lucienne suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Sie begriff, daß sie zu langsam war, nicht mehr entkommen konnte, wenn nicht ein Wunder geschah. Da gewahrte sie in ihrer Not eine Gartenpforte, die nicht geschlossen war. Sie schlüpfte hinein, verriegelte die Tür, lehnte sich keuchend dagegen. Auf der anderen Seite winselte enttäuscht das Scheusal, versuchte mit Gewalt einzudringen, sprang dann an der Mauer hoch. Behaarte Hände schoben sich über die Krone. Die Stricknadel ragte zwischen den schmutzigen Klauen auf wie eine Antenne. Unaufhaltsam schob sich die wüste Fratze des Albinos über das Hindernis. Schon schwang Gobineau das Bein über die steinerne Einfassung, ritt auf der Mauerkrone, ein klobiger Koloss, vom Mond ausgeleuchtet. Sein Atem stand wie ein weißer Federbusch in der kühlen Nachtluft. Ein gurgelnder Triumphschrei zerfetzte die Stille der Novembernacht. Lucienne – fast ohnmächtig vor Angst – stürmte davon, achtete nicht auf das Klatschen nackter Sohlen, die hart auf dem Stein5 �
plattenweg landeten, der in wilden Kurven durch einen verwahrlosten Garten führte. Wilder Wein – längst entlaubt – rankte sich um verwitterte Eisenstangen, schob seine Geisterfinger in den düsteren Nachthimmel. Das ungewisse Licht verhalf einer Gruppe von Wacholderbüschen inmitten eines wuchernden Steingartens zu einem gespenstischen Leben. Eine Fledermaus segelte stumm durch die Nacht. Lucienne eilte dem Haus entgegen, abgehetzt, erschöpft. Sie spielte schon mit dem Gedanken, zu resignieren, aufzugeben, sich zu fügen, lieber ein Ende mit Schrecken in Kauf zu nehmen als einen Schrecken ohne Ende. Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben wurde ihr bewußt, wie allein ein Mensch in einer großen Stadt sein konnte, allein unter Millionen, zu einem einsamen Tod verurteilt. Lucienne erreichte einen Seiteneingang der baufälligen Villa, die sie immer für unbewohnt gehalten hatte. Sie pochte an die Tür. Dann brach die Angst aus ihr heraus, sie legte alle Verzweiflung in einen gellenden Schrei. Wimmernd brach sie zusammen, als niemand ihr antwortete und Gobineau sie erreichte. Der Mörder lachte gurgelnd, riß sein Opfer an den Haaren hoch. Hass verzerrte die groben Züge. Heißer Atem strich über Luciennes nackten Hals. Stoff riß unter gierigen Klauen. Langsam hob Gobineau die Stricknadel zum tödlichen Stoß, zielte auf das Herz seines Opfers. Seine rötlichen Augen funkelten. * »Eine unverzeihliche Nachlässigkeit meinerseits, Mademoiselle«, sagte Professor Marc Cabanis bedauernd und knetete seine langen, dünnen Finger durch, daß die Gelenke knackten. »Ich habe vergessen, den Burschen so zu verwahren, 6 �
daß er kein Unheil anrichten kann. Er ist im Grunde ein harmloser Fall für die Psychiatrie, sobald er kein weibliches Wesen zu Gesicht bekommt. Ich brauche ihn für eine Versuchsreihe.« Lucienne, die auf einem Plüschsofa im Wohnzimmer des Gelehrten sich von den Schrecken der vergangenen Stunde erholte, richtete sich auf. Trotz der Beruhigungsspritze, die der Professor ihr verabreicht hatte, prangten hektische rote Flecken auf ihren Wangen. »Es ist Gobineau. Ich irre mich niemals«, rief das Mädchen. »Ich habe mich eingehend mit dem Fall beschäftigt und in sämtlichen Zeitungen darüber berichtet. Ich war sogar dabei, als das Ungeheuer im Februar vergangenen Jahres hingerichtet wurde.« Eindringlich schaute das Mädchen seinen Retter an. Der Professor war in letzter Sekunde aufgetaucht. Er hatte als Fachmann den Unhold mit Leichtigkeit gebändigt und wieder dort verwahrt, wo er hingehörte, nämlich in die Zelle im Kellergeschoß des weitläufigen Hauses. Auf eine merkwürdig servile Art hatte das Scheusal den Befehlen des Wissenschaftlers Folge geleistet. Marc Cabanis schüttelte den Kopf. »Sie glauben doch nicht an Wiedergeburt, oder?« erkundigte er sich. »Ihre überreizte Phantasie hat Ihnen einen Streich gespielt. Ihr Irrtum ist entschuldbar. Auch Gobineau pflegte seine Opfer mit einer Stricknadel zu bearbeiten. Möglicherweise ist auch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen meinem Patienten und dem Massenmörder nicht zu leugnen. Aber ich kann Ihnen die Personalunterlagen des armen Schizophrenen zeigen, der Sie belästigt hat. Der Mann ist nicht mit Gobineau identisch.« »Können Sie das beweisen?« forschte Lucienne Dantec. »Ach, ihr Zeitungsleute.« Der Professor lachte. »Immer mißtrauisch, immer den Tatsachen verhaftet. Was werden Sie über dieses Vorkommnis berichten? Gibt das nicht eine phantastische Story, die Ihnen die Leser aus der Hand reißen werden?« 7 �
»Schon möglich«, bekannte Lucienne, die sich zunehmend erholte. Neugier war ihr Beruf. Der Wissensdurst verdrängte die Angst. »Ich muß erst gründlich recherchieren. Können Sie mir dabei helfen?« Lucienne Dantec erhob sich von ihrem Lager, zupfte ihr weißes Kleid zurecht und ordnete ihre Frisur. Sie trug die pechschwarzen Haare schulterlang. Sie bildeten einen interessanten Kontrast zu ihren blauen Augen. Lucienne war hübsch. Sie wußte es. Sie konnte viel erreichen. Besonders bei Männern, die ihr meist nach kurzer Zeit zu Füßen lagen. Aber bei diesem verschrobenen Gelehrten war sie sich ihrer Sache nicht so sicher. Einen solchen Mann konnte man nicht mit den Waffen einer Frau besiegen. Er hatte sich zurückgezogen wie eine Schnecke in ihr Haus, lebte seinen Studien, bereits ein wenig menschenscheu, trotz seiner knapp vierzig Jahre. Aber irgendwo in diesem selbstgeschmiedeten Panzer, der den Professor schützend umgab, mußte es eine schwache Stelle geben. Und Lucienne vertraute ihrer Menschenkenntnis. Sie schwor sich, den wunden Punkt in der Verteidigung des Mannes aufzuspüren, die Festung zu nehmen und sich Cabanis als Helfer zu sichern. »Wenn Sie mir die Karteikarte dieser Person zeigen würden, wäre ich Ihnen sehr verpflichtet«, eröffnete das Mädchen etwas steif und konventionell die Belagerung. Ein wachsamer Blick aus grauen Augen hinter einer dickglasigen Hornbrille, die die Pupillen des Trägers zu Froschaugen verzerrte, traf Lucienne. Marc Cabanis trug eine ungebügelte Hose mit zahlreichen blankgescheuerten Stellen, ungeputzte Schuhe, die einst braun gewesen sein mussten, und einen schmuddeligen Pullover. »Ich tue es nur, damit Sie mir endlich Glauben schenken«, murmelte der Professor, der vor zwei Jahrzehnten die Fachwelt als 8 �
Biogenetiker mit seinen Forschungsergebnissen in Erstaunen versetzt hatte, mittlerweile aber selbst von engsten Kollegen gemieden wurde und sich Privatgelehrter nannte. Es hatte vor vielen Jahren einen Aufsehen erregenden Prozess gegeben, der mit einer Verurteilung Cabanis endete, und zwar wegen Vivisektion in mehr als dreihundert Fällen. Schon damals hatte der Professor einen erschreckenden Mangel an moralischer Einsicht offenbart und beteuert, er werde auch in Zukunft bedingungslos Opfer bringen auf dem Altar der Wissenschaft. »Kommen Sie«, bat Marc Cabanis und schreckte Lucienne aus ihren Gedanken. Sie folgte dem Professor auf den dunklen Korridor. Ein merkwürdiger Geruch lag in allen Räumen, der irgendwie an ein Krankenhaus erinnerte. Vielleicht auch an die Anatomie. So roch Formalin. Marc Cabanis betrat sein Labor. Er knipste das Licht an und bat seinen unfreiwilligen Besuch an einen mannshohen Stahlschrank, in dem er seine Aufzeichnungen und Karteien verwahrte. Interessiert blickte sich das Mädchen um. Hier gab es nichts Überflüssiges. Alles war zweckmäßig, nüchtern. Nichts erinnerte an die Küche eines Alchimisten. Im Gegensatz zu dem Besitzer selbst und den anderen Räumen herrschte in diesem Versuchsraum eine verblüffende Sauberkeit. Erlmeierkolben, Mörser und Bunsenbrenner standen neben endlosen Stellagen voller Reagenzgläser. Marc Cabanis beugte sich murmelnd über seine Kartei, die aus verschiedenfarbigen Karten bestand, die mit bunten Kartenreitern besetzt waren. Seine feinen Finger mit den schmutzigen Nägeln liefen geschickt die Reihe entlang. Er war so kurzsichtig, daß er sich weit vorbeugen mußte. Hinter einem hellgrünen Vorhang aus Plastik summte eine 9 �
Maschine, und Lucienne Dantec benutzte die Gelegenheit, um einen Blick darauf zu werfen. Sie verstand nicht genug von diesen Dingen, um den Sinn der Anlage zu begreifen, unterschied aber deutlich den Computer mit seinen flackernden Lichtern von den verschiedenen Glasflaschen, die mit ihm gekoppelt waren. Über feine Drähte aus Gold liefen unbekannte Impulse zu den chemischen Lösungen, die brodelnd und dampfend rätselhafte Metamorphosen durchliefen. Mit Mühe unterdrückte Lucienne Dantec einen Schrei des Entsetzens. In der Ursuppe schwamm bleich und steril ein Keimling, ein menschliches Embryo, verbunden mit einer künstlichen Plazenta. Der Professor wirbelte herum. Aus stumpfen Augen musterte er das Mädchen. Er beherrschte sich nur mühsam. In seinem Asketengesicht arbeitete es. »Sie können Ihren Beruf nicht verleugnen, Mademoiselle«, sagte Cabanis heiser. »Diese Anlage ist geheim. Bitte, missbrauchen Sie mein Vertrauen nicht. Sie könnten mein Lebenswerk zerstören, wenn Sie vorzeitig darüber berichten. Die Konkurrenz schläft nicht. Wir nähern uns unaufhaltsam dem Jahre Zweitausend. Dinge, die noch vor kurzem unerreichbar erschienen, sind mittlerweile zur Routine geworden.« »Was bezwecken Sie mit dieser Anlage?« blieb Lucienne am Ball. »Ich untersuche die krankhafte Veränderung menschlicher Gewebezellen, um es einmal auf eine allgemein verständliche Formel zu bringen«, antwortete Marc Cabanis zögernd. »Sie bekämpfen also? den Krebs?« fragte Lucienne. »Gewissermaßen«, bestätigte der Professor schnell. Seine hervorquellenden Fischaugen hinter den dicken Bril10 �
lengläsern versuchten die Reaktion Luciennes zu beobachten. Der Professor hielt den Kopf ein wenig schief. Er schwenkte eine blaue Karteikarte und reichte sie dem Mädchen. »Hier steht alles über meinen Patienten«, sagte Cabanis und deutete auf die Karte. Lucienne studierte die Aufzeichnungen des Professors, die so klein und zittrig gehalten waren, daß sie Mühe hatte, die einzelnen Worte zu entziffern. Danach handelte es sich bei dem Scheusal um Maurice Benard, vierunddreißig Jahre alt, Bauernknecht aus der Bretagne, von seinem siebten Lebensjahre an schizophren, in seinem Heimatort bekannt durch seine übernatürlichen Kräfte. Ein Somnambule. Ein Schlafwandler. »Dürfte ich ihn noch einmal sehen?« bat Lucienne. Der Professor schaute sie überrascht an. »Legen Sie wirklich Wert darauf?« fragte Cabanis ungläubig. »Nach allem, was Sie heute nacht bedauerlicherweise durchmachen mussten, hätte ich Verständnis dafür, wenn Sie auf eine zweite Begegnung verzichteten, Mademoiselle.« »Ich bin Gerichtsreporterin«, blieb Lucienne Dantec standhaft. »Ich habe so viele unappetitliche Bilder gesehen, Verhandlungen verfolgt und Gerichtsakten studiert, daß ich glaube, der Situation gewachsen zu sein. Was mich vorhin auf der Straße in Panik versetzte, war der überraschende Angriff, zumal meine Nerven durch den einsamen nächtlichen Heimweg ohnehin überreizt waren.« »Wie Sie wünschen«, sagte Marc Cabanis. »Ich habe nichts zu verbergen. Folgen Sie mir!« Sie benutzten einen Fahrstuhl, der sie in die Unterwelt brachte. Dazu stellten sie sich einfach auf ein bestimmtes Fliesenquadrat im Labor, und der Professor löste eine hydraulische Vorrichtung aus. Dieser Teil des Fußbodens glitt geräuschlos nach unten. 11 �
»Wirkt etwas überspannt, ist aber sehr zweckmäßig«, erläuterte Cabanis verlegen. »Ich bin meist allein während meiner Arbeit. Wenn ich Benard zu Versuchszwecken betäubt habe, hätte ich Schwierigkeiten, ihn wieder in den Keller zu schaffen. Dieser Aufzug hilft mir sehr. Mit einem leisen Ruck blieb die fahrbare Plattform stehen, die nach dem Prinzip eines Gabelstaplers arbeitete. »Ich darf vorausgehen?« fragte Cabanis höflich, und Lucienne folgte ihm, ohne zu zögern. Sie war eine gute Sportlerin. Sicher konnte sie nichts ausrichten gegen den bärenstarken Albino. Aber der knapp mittelgroße, hagere Professor war kein Gegner für sie. Wahrscheinlich war er hilflos, sobald er die Brille verlor. Sie gingen einen langen, feuchten Bogengang hinunter. Überall hingen Spinnweben. Nackte Glühbirnen baumelten von der Decke, spendeten ein kaum ausreichendes Licht. Es roch nach Moder und Fäulnis. Marc Cabanis beschleunigte seine Schritte. Er ging noch immer voraus, ohne sich umzudrehen. Fast schien es, als hätte er die Frau vergessen, deren Bekanntschaft er auf so ungewöhnliche Weise gemacht hatte. Bisweilen führte der einsame Mann Selbstgespräche. Er begleitete seine undeutlich gemurmelten Worte mit weit ausholenden Gesten, als verteidigte er sich vor einem imaginären Gerichtshof. Sie schritten durch eine Stahltür, die ungemein widerstandsfähig schien und sich nur schwer öffnen ließ. Cabanis mußte sich mit aller Kraft dagegen stemmen, um sie zu bewegen. Lucienne spähte über seine Schulter und erblickte drei Käfige. Im hintersten hockte auf einer Schütte Stroh der Albino, zusammengerollt wie ein furchtsames Kind. Als er die Schritte hörte, warf der Unhold den zottigen Kopf herum, sprang auf die bloßen Füße und drängte sich winselnd an die Gitterstäbe. Leise klirrten die Ketten, die den Unglücklichen an seinen Platz fessel12 �
ten. Er preßte seine wüste Larve gegen die Gitterstäbe und lallte unverständliche Laute. »Du hast mich in arge Verlegenheit gebracht«, rief Cabanis vorwurfsvoll. »Ich weiß. Ich trage die Schuld. Du bist nicht verantwortlich zu machen. Aber nun Überzeuge die Dame, daß du nicht Gobineau bist, sondern Benard. Sage es ihr laut und deutlich. Sie hat dich armen Tropf mit diesem Frauenmörder verwechselt.« Cabanis trat furchtlos bis dicht an das Gitter. Zwischen ihm und diesem Geschöpf der Nacht bestanden Bindungen, die es dem Albino wohl unmöglich machten, seinen Ernährer und Pfleger zu töten. Als das Ungeheuer aber der Frau ansichtig wurde, geriet er außer Rand und Band. Es rüttelte an dem Gitter und stieß gellende Schreie aus, die Lucienne Dantec erzittern ließen. Noch einmal wurde ihr bewußt, welcher Gefahr sie entronnen war. »Können Sie mir seine Handgelenke zeigen?« bat Lucienne mit schwacher Stimme. Die Begegnung ging fast über ihre Kräfte. Aber sie mußte sich Gewissheit verschaffen. »Warum?« fragte der Professor argwöhnisch. Er musterte seine Begleiterin, die sich wohlweislich von den Klauen des Albino fernhielt, aufmerksam. Sie standen jetzt in der Nachbarzelle. »Zeige mal dein Handgelenk!« befahl Cabanis, als er von Lucienne keine Antwort erhielt. Der Professor mußte seinen Befehl wiederholen. Der Albino hing hechelnd in seinem Kerker und hatte nur Augen für die Frau. Da trat Cabanis kurzerhand zu seinem Schutzbefohlenen und riß ihn zur Seite. Er packte das Handgelenk des Albino und verdrehte ihm den Arm. Lucienne trat mit angehaltenem Atem näher. Ihr Blick suchte 13 �
die Verwachsung der Handgelenkknochen, die ein charakteristisches Merkmal des hingerichteten Frauenmörders war. Ungläubig starrte die Frau auf das Überbein, das deutlich unter der wachsgelben Haut saß und aus dem hellen zottigen Fell ragte. »Ich irre mich nicht«, flüsterte Lucienne. »Das ist tatsächlich Gobineau. Sein Fingerabdruck wird es beweisen.« »Tatsächlich?« schrie Cabanis mit Fistelstimme. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern funkelten tückisch. Er ließ den Albino frei, stieß Lucienne zurück und huschte aus dem Zellenkäfig. Klirrend fiel die schwere Tür ins Schloß. Die Gitterstäbe reichten bis an die Decke. Es gab keinen zweiten Ausgang. Mit bebenden Händen zog Cabanis einen Schlüsselbund aus der Tasche und sperrte ab. Schnaufend richtete er sich auf. »Sie hätten mein Haus noch vor zehn Minuten unbehelligt verlassen dürfen«, beteuerte Marc Cabanis mit schriller Stimme. »Hätten Sie doch niemals entdeckt, daß dies hier Gobineau ist. Jetzt muß ich Sie auf Eis legen, bis meine Experimente abgeschlossen sind, bin womöglich gezwungen, Sie zu töten. Dabei bin ich kein Verbrecher. Ich diene mit meinen schwachen Kräften einzig und allein dem Fortschritt der Wissenschaft.« Cabanis sah sehr bekümmert aus. Der Albino geriet abermals in eine schreckliche Aufregung. Er zerrte wütend an seinen Ketten. Nur wenige Schritte und die durchbrochene, Zellenwand aus zolldicken Eisenstangen trennten ihn von seinem Opfer. Die Nerven des Ungeheuers waren dieser Belastung nicht gewachsen. Geifernd und brüllend drängte es seinen muskelbepackten Leib gegen die Trennwand. Lucienne wich in die äußerste Ecke ihrer schmalen Zelle zurück. Sie beobachtete die gespreizten Klauen ihres abstoßenden Nachbarn und wimmerte: »Haben Sie Mitleid, Professor! Lassen Sie mich heraus! Ich 14 �
werde keiner Menschenseele von meiner Entdeckung erzählen.« Marc Cabanis lachte verschmitzt. »Ich traue doch keiner Frau. Noch dazu, wenn sie für eine Zeitung arbeitet. Nein, meine Liebe, Sie müssen schon hier bleiben. Wer weiß, wahrscheinlich überlasse ich Sie sogar unserem gemeinsamen Freund. Er versteht sich auf sein Handwerk. Ich selbst könnte einer Frau nämlich keinen Schmerz zufügen. Aber irgendwie müssen wir das Problem ja lösen. Und Sie sind wirklich ein Problem für mich. Ich verfluche meine Unachtsamkeit. Es wird für uns alle Folgen zeitigen. Ich habe so eine dumpfe Ahnung.« * Der hellblaue Citroen 2 CV rollte vor dem Haus Nummer 21 in der Rue Lobineau aus. Ein junger Mann sprang aus dem Wagen. Er war mittelgroß. Das weiche dunkle Haar bedeckte die Ohren und reichte im Nacken bis auf den Kragen der Wildlederjacke. Der Besucher nickte der Concierge zu und wollte die Treppe hinaufeilen, ein Zeichen, daß er sich auskannte. Die Frau am Fuße der Treppe aber steckte ihren Kopf durch das Fenster und rief: »Monsieur Leblanc, Ihre Verlobte ist nicht zu Hause. Sie brauchen gar nicht erst hinaufzugehen.« Pierre Leblanc stoppte abrupt. Etwas in der Stimme der Concierge ließ ihn aufhorchen. Er schaute in das fette, faltige Gesicht der Frau, betrachtete die Lockenwickler in ihrem rostroten Haar und die Flecken auf ihrem geblümten Morgenrock. »Wissen Sie vielleicht…?« begann Pierre Leblanc zögernd. Er war mit Lucienne verabredet und extra deswegen einen Tag eher zurückgekehrt. Er hatte seine Eltern in Marseille besucht. Madame Lemon lächelte zufrieden. Es gehörte zu einer guten 15 �
Concierge, immer etwas mehr zu wissen als alle anderen Hausbewohner. Das sicherte ihr eine Vormachtstellung innerhalb der kleinen Gemeinschaft. Es verhalf zu manchem Trinkgeld. Aber in diesem Fall war wohl nichts zu holen. Leblanc studierte an der Sorbonne und schlug sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Immerhin gedachte Frau Lemon, ihren Sieg auszukosten. Wenigstens das durfte sie noch vom Leben erwarten. Der eigene Mann hatte sich zu Tode getrunken. Die einzige Tochter hatte geheiratet und war schleunigst ausgezogen. Freunde gab es nicht. So überwachte Madame Lemon besonders aufmerksam die Beziehungen anderer. »Das Fräulein ist gestern abend zu einem Ball gegangen und noch nicht zurückgekehrt«, trompetete die Concierge und hing mit ihrem halben Oberkörper aus dem Schalterfenster. Ihre sanften blauen Augen richteten sich mit einiger Anstrengung auf Leblanc, der etwa sechs Stufen höher stand. Der junge Mann wußte sich zu beherrschen, aber sein Vertrauen zu seiner Verlobten war zum ersten Mal erschüttert. »Zu welchem Ball?« fragte Leblanc. »Ein Medizinstudent hat sie abgeholt«, berichtete Madame Lemon atemlos. »Sie hatte sich wirklich hübsch gemacht. Draußen im Wagen wartete noch eine Gruppe junger Menschen. Sie sind alle zusammen abgefahren. Warum sie Mademoiselle Dantec geholt haben, weiß ich gar nicht. Denn im Grunde hatten sich schon drei Pärchen gefunden. Ihre Verlobte schien zu keinem der Männer zu gehören.« »Aber es ist jetzt fast Mittag«, murmelte Pierre Leblanc. »Das ist nicht Luciennes Art. Ob wohl etwas passiert ist?« »Ach, junger Mann«, winkte die Concierge ab, »es ist das geschehen, was in solchen Fällen unvermeidlich ist. Sie werden das Leben schon noch kennenlernen.« »Nicht Lucienne«, widersprach Pierre mit allem Idealismus sei16 �
ner Jugend. »Ich kann mich auf sie verlassen. Sie muß verunglückt sein. Ja, das ist es.« »Fragen Sie doch auf dem Polizeirevier nach«, schlug Madame Lemon hinterlistig vor. Sie weidete sich am Anblick des ratlosen Mannes, der nervös auf seiner Unterlippe herumkaute. Pierre Leblanc horchte auf. Dann verließ er schnell das Haus. Er benutzte nicht erst seinen Wagen. Das für das 6. Arrondissement zuständige Revier lag in der Rue de Tournon. Das waren keine fünf Minuten zu Fuß, und Parkplätze waren Mangelware im Viertel nördlich des Jardin du Luxembourg. Pierre Leblanc stürmte in das Wachlokal. Ein Corporal musterte ihn aufmerksam. Er trug die blaue Uniform der Flics. Auf der Oberlippe saß wie festgeklebt ein bleistiftdünner Schnurrbart, »Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben«, stammelte Pierre Leblanc atemlos und musterte die Steckbriefe an der Wand argwöhnisch. Hier roch es förmlich nach Verbrechen. Die Unruhe des jungen Mannes steigerte sich. »Darf ich mal Ihren Ausweis sehen?« forderte der Uniformierte gelassen und streckte die Hand aus, ohne seinen Besuch anzusehen. Seine Stimme verriet Routine. So empörend das auf jemanden wirken mochte, der seinen Fall für den dringendsten der Welt hielt, so trug die scheinbare Schlafmützigkeit des Beamten doch dazu bei, die Dinge sachlich zu behandeln und nicht weiter zu verwirren. Pierre Leblanc wies sich aus. »Jetzt die Personalien der Vermissten«, erklärte der Polizist, bereit, sich Notizen zu machen. Ungeduldig gab der junge Mann Auskunft. »Seit wann verschwunden?« forschte der Beamte. Als er die Antwort bekam, warf er den Bleistift auf den Tisch, 17 �
lehnte sich zurück und kreuzte die Arme. »Mademoiselle Lucienne Dantec ist volljährig. Sie ist auf einen Ball gegangen. Wenn sie bis heute Mittag nicht zurückgekehrt ist, so hat das wenig zu bedeuten. Kommen Sie in drei Tagen wieder.« »Aber…«, stammelte Pierre empört. Der Polizist schwieg einfach. Der junge Mann stürmte hinaus. Er versuchte vergeblich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Polizei hatte jede Hilfe verweigert, weil sie den Fall nicht für dringend hielt. Aber er, Pierre Leblanc, kannte seine Verlobte. Lucienne war kein Flittchen, die sich Eskapaden leistete, wie der Flip sie angedeutet hatte. Es war ohnehin ein Wunder, daß sie sich entschlossen hatte, den Ball zu besuchen. Sie tanzte gern, aber nur mit einem bestimmten Mann. Es mußte schon einen besonderen Grund haben, wenn sich Luciennes Heimkehr so über Gebühr verzögerte. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte Pierre Leblanc mit seiner Verlobten telefoniert. Lucienne hatte sich auf das Wiedersehen gefreut wie ein Kind. Sie konnte das Rendezvous gar nicht vergessen haben. Pierre Leblanc ging in eine Fernsprechzelle und rief die Concierge an. Sie konnte aber keine Neuigkeiten mitteilen. Die Namen derjenigen, die Lucienne abgeholt hatten, wußte auch sie nicht. Die medizinische Fakultät anzurufen, in deren Räumen das Tanzvergnügen stattgefunden hatte, schien auch sinnlos zu sein. Das weitläufige Gebäude mit den Scharen von Tutoren und Studenten bot keine Aussicht, gerade den herauszufinden, der Lucienne begleitet hatte, zumal es von ihm nur eine vage Personenbeschreibung gab. Es hatte auch keinen Zweck, irgendwelche Zeitungsredaktionen anzurufen, für die Lucienne arbeitete. Sie war freie Mitarbeiterin. Niemand vermißte sie, wenn sie sich nicht sehen ließ. Verzweifelt suchte Pierre Leblanc nach einem Ausweg. Mutlos 18 �
trat er den Rückzug an. Er schlenderte die Rue Tournon entlang, bog in die Rue Lobineau und sah schon in der Ferne seinen Wagen stehen, als ein etwa achtjähriges Mädchen seine Aufmerksamkeit erregte. Leblanc blieb wie angewurzelt stehen. Die Kleine spielte mit anderen Kindern Ball. Sie trug ein dunkelblaues Seidentuch um den Hals geknotet. Es zeigte einen stolzen Napoleon zu Pferde. Ungläubig starrte Pierre Leblanc auf das Halstuch. Genau das gleiche hatte er Lucienne von einer Korsikareise mitgebracht. Leblanc trat zu dem Mädchen. »Wo hast du das Halstuch her?« fragte er. Die Kleine unterbrach ihr Spiel und schaute den Fremden mißtrauisch an. »Sind Sie von der Polizei, Monsieur?« erkundigte sich das Mädchen spöttisch und schickte sich an, wegzurennen. Pierre hielt das Kind am Arm fest. »Nein«, sagte er schnell. »Ich bin nicht von der Polizei. Ich suche meine Verlobte. Sie ist verschwunden.« »Und das ist ihr Halstuch?« forschte das Mädchen. Die Kleine hatte schwarzes Kraushaar und einen ziemlich dunklen Teint. Wahrscheinlich rollte Araberblut in ihren Adern. »Ich nehme es an«, sagte Pierre. »Jedenfalls hatte sie genau so ein Halstuch. Ich habe es ihr aus Korsika mitgebracht.« Das Mädchen nahm das Tuch ab und reichte es Leblanc. »Ich habe es dort an der Mauer gefunden«, gestand die Kleine. Sie zeigte auf ein Grundstück an der Ecke. Hinter der zerbröckelnden Mauer ragte eine düstere Villa auf. »Danke«, murmelte Pierre Leblanc. Er wollte dem Mädchen einen Franc zustecken, aber die Kleine wehrte sich mit den Worten: »Ich darf von Unbekannten keine Geschenke annehmen, Monsieur.« »Schon gut«, sagte Pierre Leblanc lächelnd und überquerte die 19 �
Straße, während die Kinder ihr Spiel wieder aufnahmen. Vergeblich suchte der junge Mann ein Namensschild an dem Gebäude. Die Gartenpforte war verriegelt. Wie tot lag das Haus inmitten eines verwilderten Gartens. Es gab auch keine Klingel, kein Anzeichen, daß die Villa bewohnt war. Kein Rauch kräuselte sich über dem reparaturbedürftigen Schornstein. Alles an diesem Bauwerk atmete Verfall und Vergänglichkeit. Pierre Leblanc hämmerte gegen die Tür des Hauptgebäudes. Nichts rührte sich hinter der Pforte. »Der Professor macht nicht auf, Monsieur«, rief die Finderin des Halstuches. »Es ist zwecklos.« »Hat er kein Telefon?« rief Leblanc zurück. »Nein«, gab das Kind Auskunft.« Er bezieht weder eine Zeitung, noch Strom, noch Gas. Er will mit niemandem Verbindung haben. Solange er hier wohnt, habe ich ihn erst einmal zu Gesicht bekommen. Er lebt wie ein Einsiedler.« Pierre Leblanc bedankte sich. Nachdenklich spielte er mit dem Halstuch. Wenn es hier gelegen hatte, mußte sich Lucienne auf dem Heimweg befunden haben, und zwar zu Fuß. Da sie nicht zu Hause anzutreffen war, mußte ihr hier, kaum einhundert Schritte vor ihrer Wohnung, etwas zugestoßen sein. Da es keine Spuren eines Verbrechens gab, konnte Lucienne nur entführt worden sein. Entweder war sie mit einem Auto fortgeschafft worden oder sie steckte in dieser Villa. Der Kreis hatte sich geschlossen, und es klang alles sehr logisch, obwohl nicht sehr überzeugend. Welchen Grund mochte ein alter Menschenfeind wie dieser angebliche Professor haben, sich plötzlich die Gesellschaft eines jungen Mädchens aufzuhalsen? Die Sache wurde immer rätselhafter. Andererseits gab es keine 20 �
andere Spur. Pierre Leblanc entschloss sich, dieser vagen Fährte zu folgen. Er mußte in das Haus eindringen. Wenn der Bewohner nicht öffnete, eben ohne dessen Genehmigung. Pierre Leblanc sprang an der Mauer hoch, machte einen Klimmzug und landete auf der Krone, die erfreulicherweise nicht mit Glasscherben oder Stahlspitzen gespickt war. Pierre Leblanc sah einen verwilderten Garten mit kahlen Bäumen und ein Gewächshaus, dessen Scheiben so verdreckt waren, daß man keinen Blick ins Innere werfen konnte. Das Laub der Bäume bedeckte den ungepflegten Rasen. Ein Kiesweg führte zur Villa. Pierre Leblanc sprang von seiner hohen Warte. Kein Wachhund schlug an, niemand verwehrte dem Eindringling einen Besuch in der Villa. Langsam bewegte sich der junge Mann durch das unbekannte Gelände. Er atmete auf, als er sicher sein durfte, keinem bissigen Wachhund in die Quere zu kommen. Tote Fensterhöhlen glotzten auf den weitläufigen, ungepflegten Garten. Selbst die Wege waren teilweise zugewachsen. Später konnte Pierre Leblanc nicht angeben, warum er überhaupt in das Gewächshaus eingedrungen war. Seine Handlung entsprang wohl der fixen Idee, Lucienne Dantec stecke irgendwo auf diesem schwer zugänglichen Gelände und brauche Hilfe. Da wollte der junge Mann eben nichts auslassen und systematisch vorgehen. Die Tür zum Glashaus schwang leicht zurück. Sie war frisch geölt und schien häufig benutzt zu werden. Es herrschte ein geheimnisvolles Halbdunkel. Die Sonne konnte nicht durch die teils verschmutzten, teils mit weißer Farbe bestrichenen Scheiben dringen. Die Luft war schwül und stickig. Eine spanische Wand aus Bambusmatten versperrte die Sicht. Pierre Leblanc schätzte die Temperatur in dem Raum auf etwa 21 �
vierundzwanzig Grad und die Luftfeuchtigkeit auf mindestens achtundneunzig Prozent. Die Glasbahnen waren tropfnass, und in allen Ecken nistete Schimmel und verpestete die Atemluft. Pierre Leblanc horchte eine Weile, ehe er es wagte, weiter vorzudringen. Er stolperte eine einzige Stufe hinunter. Seine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Hier nahm die Helligkeit noch mehr ab. Eine einzige Lichtröhre hing unter der Decke und tauchte den langen schmalen Raum in ultraviolettes Licht. Beiderseits des Mittelganges reihte sich Becken an Becken. Pierre Leblanc trat an einen der Behälter und prallte entsetzt zurück. In einer wasserhellen Nährlösung trieb ein quallenartiges Lebewesen, nicht Mensch noch Tier. In einem Greisenhaften Schädel blitzten muntere dunkle Augen. Statt des Rumpfes existierte nur ein durchsichtiger, unförmiger Hautsack. Deutlich zu erkennen waren darin die Verdauungsorgane und ein pulsierendes Herz. Der Homunkulus besaß weder Geh- noch Greifwerkzeuge. Die Hirnschale bestand nicht aus Knochen, sondern aus einer offenbar weichen, plastikartigen Masse, die sich ständig verformte und in die ursprüngliche Gestalt zurückkehrte, sobald das abstoßende Wesen sich von der Beckenwand löste und seinen ruhelosen Körper nach dem Prinzip durch den Glaskäfig katapultierte, nach dem sich gewöhnlich nur Tintenfische vorwärts zu bewegen pflegen. Pierre Leblanc erkannte Kiemenbüschel dort, wo bei Menschen die Kinnwinkel sitzen. Ähnliche Schauder hatte er nur empfunden beim Betrachten eines Axolotl im Aquarium des Zoos von Vincennes. Auch die Farbe dieses Wassermolches, der im Larvenstadium bereits geschlechtsreif wird, stimmte mit der dieses ekelerregenden Fabelwesens überein, das vor Pierre Leblanc durch die Nährlösung paddelte und den Besucher überhaupt 22 �
nicht beachtete. Pierre Leblanc schwankte zwischen Neugier und Entsetzen. Er schalt sich einen Narren und setzte seinen Weg fort. Schlimmer konnte es kaum noch kommen. Tatsächlich sah er auch nichts weiter als Kreuzungsprodukte zwischen Kaulquappen und Fischen, Fischen und Molchen, die samt und sonders Übergangsstadien darstellten und etwas erschreckend Menschliches an sich hatten. Bei allen waren der Kopf, die Augen und auch die Mundpartie auf sehr natürliche Weise entwickelt. Der junge Mann verließ das Gewächshaus. Er hatte über das Studium dieser rätselhaften Wesen fast den Zweck seines Besuches vergessen und atmete tief durch, als er wieder im Freien stand. Er wußte nicht, was den Besitzer dieser Versuchsanlagen zu den wahnwitzigen Experimenten bewegt hatte, nahm aber noch immer an, daß alles seine Ordnung habe und nichts Verbotenes geschehen war. Als angehender Kybernetiker war Pierre nur allzu bereit, die Gebiete anderer Fakultäten zu respektieren und selbst Vorstöße auf unbekanntes Territorium zu billigen. Er empfand sogar etwas wie Hochachtung vor den Forschungsprodukten jenes ruhelosen Geistes, der dieses Gewächshaus mit den Ergebnissen seiner Experimente gefüllt hatte. Pierre Leblanc bewegte sich ziemlich sorglos weiter, erreichte eine verwitterte Tür, einen Lieferanteneingang und hämmerte mit beiden Fäusten dagegen, als er keine Klingel entdeckte. Wenig später erklangen Schritte. Die Tür schwang zurück, und Pierre Leblanc stand jenem bebrillten Mann gegenüber, den seine Verlobte von einer weniger liebenswürdigen Seite kennen gelernt hatte. Diesmal jedenfalls verbeugte sich der Professor formvollendet und murmelte seinen Namen. Pierre Leblanc machte sich ebenfalls bekannt und schüttelte eine merkwürdig kalte Hand, die sich ihm prompt entgegen23 �
streckte. »Was verschafft mir die Ehre?« fragte Marc Cabanis, ohne im mindesten verwundert zu sein, daß der Gast einfach über die Mauer geklettert sein mußte. Jedenfalls verriet er keine Neugier und beherrschte sich meisterhaft. »Ich suche meine Verlobte, Mademoiselle Lucienne Dantec«, erklärte Pierre Leblanc, nun doch etwas verlegen. Cabanis, der einen weißen Kittel trug und grüne Gummihandschuhe, flößte dem jungen Mann weder Angst ein noch weckte die Erscheinung des Professors irgendwelches Misstrauen. Er kannte diese Typen aus der Sorbonne, wo sie zu Häuf auftraten, immer ein wenig zerstreut, schrullig, sonderbar, nur ihrem Spezialwissen verhaftet, ohne sonderlich ausgeprägten Sinn für Äußerlichkeiten und das wirkliche Leben. »Doch nicht bei mir, Monsieur«, erwiderte Cabanis spöttisch. »Wie kommen Sie nur darauf?« »Das Halstuch führte mich her, die einzige Spur, die ich fand, als ich versuchte, das rätselhafte Verschwinden meiner Verlobten aufzuklären«, erläuterte Leblanc. »Die Kleine, die das Tuch gefunden hatte, verwies mich an Sie.« Die buschigen eisgrauen Augenbrauen des Professors schnellten in die Höhe. Er hielt die Tür noch immer so, als wollte er sie jeden Augenblick zuwerfen. »Da dachte ich mir, Sie hätten vielleicht vergangene Nacht etwas beobachtet, das geeignet wäre, Licht in das Dunkel dieses Falles zu bringen«, sagte Pierre Leblanc schnell. »Ich muß Sie enttäuschen, junger Mann«, erwiderte Marc Cabanis, der fast einen Kopf kleiner war als Pierre und viel schmächtiger. »Ich lebe sehr zurückgezogen, widme mich meinen Forschungen und kümmere mich keinen Deut um das, was außerhalb dieser Mauern vorgeht. Aber warten Sie mal, lassen Sie mich überlegen!« 24 �
Der Professor legte eine kurze Pause ein, um die Spannung zu erhöhen. Seine trüben Augen hinter den dicken Brillengläsern zwinkerten nervös. »Ich habe einen anstrengenden Tag gehabt und war bereits zu Bett gegangen, konnte aber nicht schlafen, aufgewühlt durch eine Folge von Versuchen, die den krönenden Abschluss einer langen Arbeit bedeuten. Ich stand auf, um mir einen wichtigen Einfall zu notieren. Mein Notizblock lag auf dem Fensterbrett. Als ich ihn holte, stoppte draußen ein Auto. Zwei Männer sprangen heraus und packten ein junges Mädchen, das mitten auf der Straße ging, wohl nach Hause wollte.« »Das würden Sie vor der Polizei bezeugen?« rief Pierre Leblanc erregt und packte in seinem Überschwang der Gefühle den Professor am Arm. »Nicht gern«, murmelte Cabanis. »Aber wenn ich Ihnen damit helfen kann. Natürlich ist meine Zeit begrenzt.« »Ich verstehe«, sagte Pierre Leblanc. »Vorerst genügt es wohl, wenn Sie mir eine schriftliche Bestätigung geben. Schildern Sie kurz Ihre Beobachtung! Die Polizei nimmt mich nämlich nicht ernst. Der Wachhabende auf dem zuständigen Revier tat so, als verschwände jedes wohlerzogene Mädchen regelmäßig für ein oder zwei Tage.« Marc Cabanis lächelte flüchtig. »Kommen Sie herein, junger Mann«, sagte er und trat zur Seite. Sie gingen in die Bibliothek. Naturwissenschaftliche Bücher stapelten sich in Regalen, die vom Fußboden bis unter die Decke reichten und alle vier Wände des gewiss nicht kleinen Raumes bedeckten. Eine Trittleiter, auf der verschiedene Wälzer mit Lesezeichen aus Zeitungsfetzen lagen, verriet, daß der Hausherr seine Fachliteratur emsig nutzte. »Nehmen Sie doch Platz, Monsieur…«, stammelte der Profes25 �
sor und wies auf einen Ledersessel. »Leblanc«, half Pierre aus. »Entschuldigen Sie«, sagte der Professor lächelnd. Er setzte sich an seinen mächtigen Schreibtisch, der mit Papierstößen bedeckt war. Nach einigem Suchen fand Cabanis einen Kugelschreiber und legte sich einen Notizblock zurecht. Er begann zu schreiben und schien keine Schwierigkeiten zu haben, die richtigen Formulierungen zu finden, denn er hielt nicht einmal inne. Pierre Leblanc fand Muße, sich umzuschauen. Die Tür zum Nebenraum stand offen. Dort befand sich offenbar das Laboratorium des Professors, nicht weniger imposant als die Bibliothek. Mit bläulichem Licht flackerte ein Bunsenbrenner neben einem Erlmeierkolben, der von einer gelben Flüssigkeit bis zum Rand gefüllt war.. Pierre Leblanc stutzte. Unter einem grünen Plastikvorhang lugten die Spitzen zweier Damenschuhe hervor. Ähnliche besaß Lucienne. Pierre Leblanc erstarrte. Seine Neugier war geweckt. Er wußte nur nicht, wie er sich Zutritt verschaffen sollte, ohne das Misstrauen des Professors zu wecken. Der junge Mann lehnte sich etwas zurück, um das Labor besser einsehen zu können. Sein Blick fiel auf eine schwarze Krokodilledertasche, die am Ende des langen Experimentiertisches lag. Es war kein Zweifel möglich. Lucienne mußte in diesem Haus sein. Der Professor hatte gelogen. Er schwindelte gerade schriftlich, um seinem Besucher noch mehr Sand in die Augen zu streuen. »Ich glaube, Sie bemühen sich vergeblich, Professor«, sagte Pierre Leblanc eisig. »Ich weiß jetzt, wo ich Lucienne suchen muß.« »Wirklich?« 26 �
Nur die schrille Stimme des Professors verriet die Aufregung, die ihn befallen hatte. Er starrte seinen Besucher entgeistert an. Dahn fiel sein Blick auf die Verbindungstür zum Labor, und er nickte; böse. »Ich hätte das Zeug rechtzeitig verbrennen sollen«, entfuhr es Cabanis wütend. »Aber ich wollte die Schuhe und die Handtasche behalten, um eine Spur legen zu können, die die Polizei bei etwaigen Nachforschungen in die Irre locken sollte. Sie sind mir zuvorgekommen. Ich habe nicht mit Ihrem Besuch gerechnet. Jedenfalls nicht so schnell. Sie sollten Detektiv werden, junger Mann.« Pierre Leblanc sprang auf. »Versuchen Sie nicht noch einmal, mich hinters Licht zu führen«, schrie Pierre Leblanc und stürzte sich auf den Professor. Er packte ihn an den Aufschlägen des weißen Kittels und riß ihn hoch. »Was haben Sie mit meiner Lucienne gemacht, Sie Schuft?« brüllte Pierre Leblanc. »Warum haben Sie sie umgebracht?« »Davon kann keine Rede sein«, erwiderte Cabanis gelassen, ohne sich im mindesten zu wehren. »Die Sachen habe ich auf der Straße eingesammelt, nachdem ich Ihrer Verlobten – na, sagen wir, Asyl gewährt habe. Offenbar ist mir das Halstuch entgangen.« »Asyl?« fragte Pierre Leblanc verständnislos. »Wovor ist Sie geflohen? Wer hat sie bedroht?« »Ein gefährlicher Irrer, der offenbar aus einer Anstalt entspringen konnte«, erklärte Marc Cabanis. »Er hat Ihre Lucienne überfallen und versucht, sie mit Hilfe einer Stricknadel ins Jenseits zu befördern. Sie konnte in letzter Sekunde entwischen, rettete sich in den Garten und gelangte in mein Haus. Der Verrückte gab auf, als ich ihm entgegentrat.« »Sie lügen doch schon wieder«, protestierte Pierre Leblanc laut27 �
stark. »Lucienne hätte doch wenigstens anschließend nach Hause gehen können. Schließlich muß man die Polizei alarmieren. Die wußte aber offenbar, nichts.« »Langsam, langsam, junger Freund«, wehrte der Professor ab. »Für einen angehenden Wissenschaftler sind Sie reichlich impulsiv. Sie vergessen, daß Ihre Verlobte einen schweren Schock erlitten hat. Es ist nicht jedem gegeben, sich um Mitternacht mit einer nadelspitzen Stricknadel traktieren zu lassen, ohne daß die Nerven streiken.« »Lucienne ist verletzt?« »Das habe ich nicht gesagt. Jedenfalls werden Sie vergeblich nach einer äußerlichen Wunde suchen, Monsieur.« »Ich begreife«, seufzte Pierre Leblanc und lockerte seinen Griff. »Wenn Sie wollen, bringe ich Sie zu Ihrer Verlobten, damit Sie sich überzeugen können, daß ich die Wahrheit gesprochen habe«, bot Marc Cabanis an. »Ich persönlich halte es für falsch. Aber ich habe Mitleid mit Ihnen. Kommen Sie!« »Was soll ich im Labor?« fragte Pierre Leblanc mißtrauisch. Vorwurfsvoll schüttelte der Professor den Kopf. »Sind Sie immer so argwöhnisch?« spottete Cabanis. »Sie sollten nicht so viel Gewicht auf das bekannte Sprichwort legen. Volksweisheiten taugen im allgemeinen nichts. Sie sind wissenschaftlich nicht nachprüfbar und bisweilen von einer bizarren Logik.« »Schon möglich«, räumte der junge Mann ein. »Aber Sie werden verstehen, daß ich nicht mehr jedes Wort glaube, das Sie von sich geben. Selbst Ihr Gewächshaus, das ich besichtigt habe, erscheint mir plötzlich in einem ganz anderen Licht.« »Sie waren dort?« fragte Marc Cabanis leichthin. »Wie hat es Ihnen gefallen? Ach so, ich vergaß, daß Sie nicht meiner Fakultät angehören. Außerdem wird es kaum einen Lehrstuhl in ganz Frankreich geben, der ähnliche Forschungsergebnisse bieten 28 �
kann, wie ich sie in jahrelangen Ketten mühseliger Experimente erzielt habe.« »Das glaube ich gern«, sagte Pierre Leblanc. »Nicht jeder Professor wagt sich an diese Grenzgebiete heran. Die meisten wollen davon nichts wissen. Denn irgendwo gibt es ein Tabu, das man nicht ungestraft verletzt. Wir sollten uns hüten, den letzten Schleier zu zerreißen.« »Sie reden wie ein alter Landpfarrer«, Marc Cabanis grinste, während er den jungen Mann mit sanfter Gewalt Richtung Labor schob. »Sind Sie sicher, daß Sie die richtigen Fächer an der Sorbonne belegt haben? Wie wäre es mit Theologie? Das müßte Ihnen sehr liegen, nach allem, was Sie hier geäußert haben. Sie sind voller Mitleid, Hilfsbereitschaft, Liebe und Ehrfurcht. Sie beschämen mich. Aber vielleicht ist das nur der Altersunterschied. Sobald man die Dreißig hinter sich hat, sieht man vieles in einem anderen Licht.« Sie betraten das Labor. Hinter dem grünen Plastikvorhang brummte der Computer. Der Bunsenbrenner fauchte. »Wohin jetzt?« fragte Pierre Leblanc. »Dort entlang«, erklärte der Professor. »Die Räume sind unzureichend. Sie haben recht. Aber ich bezahle alles aus eigener Tasche. Da muß man sich bisweilen bescheiden. Und ich habe mich an dieses ganz unmögliche Haus, das sich so wenig für meine Arbeit eignet, inzwischen gewöhnt. Sie haben ja selbst gesehen, was ich in dem Gewächshaus geschaffen habe. Die Anlage ist beispielhaft.« »Was stellt das Ganze eigentlich dar?« erkundigte sich Pierre Leblanc und steuerte auf den Vorhang zu. »Nun, ich versuche, verschiedene Gen-Codes zu entschleiern. Sie wissen wahrscheinlich, daß alles Leben auf einer einzigen Formel basiert, die den Molekülen befiehlt, wie sie sich zu entwickeln haben. Daß es so verschiedene Formen des Lebens gibt, 29 �
verdanken wir der Tatsache der Mutation.« »Nicht nur«, widersprach Pierre Leblanc. »Na schön«, resignierte Professor Cabanis. »Ich wollte Ihnen…« In diesem Augenblick schlug er zu. Er hatte unbemerkt einen schweren kupfernen Stößel ergriffen und zum Schlag ausgeholt. Pierre Leblanc ging voraus, ahnungslos. Der Hieb erwischte ihn am Hinterkopf. Ein weißglühender Blitz fraß sich durch seinen Schädel. Mit einem Schmerzensschrei griff Pierre nach der getroffenen Stelle. Er schwankte benommen. »Ein besonders zäher Bursche«, mäkelte Cabanis und schlug noch einmal zu, mit aller Kraft, die in seinem mageren Körper steckte. Pierre Leblanc ging stöhnend in die Knie. Er hockte am Boden, versuchte seinen Kopf zu schützen. »Ist das die Möglichkeit?« staunte Marc Cabanis und eröffnete ein wildes Trommelfeuer. Stück für Stück zwang er Pierre Leblanc zu Boden. Nach einem harten Treffer gegen die rechte Schläfe fiel der junge Mann zur Seite und streckte sich. Von seinem dunklen Haarschopf tropfte Blut, rann über sein bleiches Gesicht. Der junge Mann lag auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen. Er stöhnte leise, Marc Cabanis kniete nieder, untersuchte sein Opfer flüchtig. Nachdenklich betrachtete der Professor den blutigrot verschmierten Kupferstößel, der ihm als Waffe gedient hatte. »Ich sollte ihm den Rest geben«, murmelte der Professor. »Ich kann nicht halb Paris in meinem Keller beherbergen. Ich habe nur zwei Zellen. Eine braucht Gobineau, in der anderen sitzt das Mädchen. Wer ist der nächste?« Einem plötzlichen Entschluss folgend schleuderte Marc Cabanis die Tatwaffe von sich. »Ich bin kein Mörder«, erklärte der 30 �
Professor, der mehr und mehr in seine alte Gewohnheit verfiel, zu sich selber zu reden. »Ich bin Wissenschaftler, verdammt noch mal, und kein Bösewicht in einem Kriminalstück. Ist es meine Schuld, daß ich dauernd gestört werde und mich dann zur Wehr setzen muß? Ich will nichts als arbeiten und forschen. Solange mir keiner in die Quere kommt, bin ich der friedlichste Mensch der Welt.« Cabanis packte den Bewusstlosen unter den Armen. Seine Kraft reichte nicht aus, Leblanc hochzuheben. Er schleifte ihn einfach hinter sich her. Die Füße des jungen Mannes baumelten dabei hin und her wie die gerissenen Fäden einer Marionette. Der Kopf war zur Seite gesunken. Leblanc blutete heftig aus zahlreichen Wunden am Kopf. Er hinterließ eine deutliche Spur auf dem spiegelblanken Fußboden aus Kunststoffplatten. Die Fährte endete auf einem bestimmten Quadrat in der Mitte des Raumes. Professor Marc Cabanis betätigte die Hydraulik und entschwand mit seinem Opfer in der Unterwelt, die sich in zahllosen Gängen und Verliesen unter der gesamten Villa hinzog. * Das aufflackernde Bewußtsein Pierre Leblancs hielt den Eindruck fest, daß weiche Frauenhände ihn streichelten, und er nahm sofort an, daß er träume. Erst als die Berührung sich wiederholte und eine nur zu bekannte Stimme seinen Namen rief, versuchte er, sich aufzurichten. Mit einem Stöhnen gab er auf, ließ seinen schmerzenden Kopf zurücksinken und merkte, daß jemand ihm ein Kissen untergeschoben hatte. Mühsam öffnete Pierre Leblanc die Augen, versuchte sich zu orientieren und erkannte Lucienne. Leblanc lächelte gequält. 31 �
»Lucienne«, flüsterte der Verletzte. Er stemmte sich hoch, landete auf den Ellenbogen und verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes. »Warum weinst du, Lucienne?« erkundigte sich der junge Mann verständnislos. »Was ist passiert?« Mühsam erinnerte sich der Student, während Lucienne Dantec schweigend neben ihm saß und ihn anschaute. Pierre Leblanc warf verwundert einen Blick in die Runde und erkannte, daß sie sich in einer kahlen Zelle befanden. Es war feucht und kühl. Der Boden bestand aus grauem Zement. »Wer…?« fragte Leblanc, sprach jedoch nicht zu Ende. Marc Cabanis fiel ihm ein, der verschrobene Professor mit dem blitzsauberen Labor und den hinterhältigen Methoden, etwaige Zeugen strafwürdiger Vorfälle aus dem Verkehr zu ziehen. »Wie hat er dich erwischt?« forschte Pierre Leblanc und richtete sich entschlossen auf. Er sah seine Verlobte an, nahm zärtlich ihren Kopf zwischen seine Hände. Leblanc wollte Lucienne küssen. Gerade neigte er sich nach vorn, wollte die Augen schließen, da fiel sein Blick auf die Nachbarzelle. Er prallte entsetzt zurück. Sie waren nicht allein. Im benachbarten Käfig harrte ein Monstrum aus, das nicht seinesgleichen hatte auf der Welt. Das Licht einer trüben Lampe spiegelte sich in einem bulligen, glattrasierten Schädel. Rötliche Augen funkelten und blitzten, ein wenig zusammengekniffen. Überall auf dem ungeschlachten Leib sprossen helle, flaumige Haare, dicht wie ein Pelz. Der Albino trug einen frischen Verband um den Hals. »Wer ist das?« stieß Pierre Leblanc atemlos hervor. Lucienne kam nicht dazu, ihm zu antworten. Das Ungetüm setzte sich in Bewegung, in Verzückung geraten 32 �
durch den Anblick dessen, was er sein Leben lang entbehrt hatte: Liebe, Zuneigung, Verständnis. Der Albino raste, wollte teilhaben an diesem Glück. Gobineau rüttelte an den Gitterstäben, setzte seine gewaltige Körperkraft ein, um die Stäbe aus ihrer Verankerung zu reißen, sich Einlass zu verschaffen. Dabei hing der Blick seiner scheußlichen roten, blutunterlaufenen Augen ständig an dem Mädchen. Das Paar wich zurück, unfähig, irgend etwas zu unternehmen, zu fliehen oder dem Rasen des Unholds Einhalt zu gebieten. Zitternd drängten sich die beiden Menschen in die entfernteste Ecke ihres winzigen Verlieses, ständig in Angst, der Albino könne doch noch durchbrechen. Gobineau legte sich mächtig ins Zeug. Wie ein weißer Federbusch stand sein fauliger Atem in der Kühle des Gewölbes, während er die großen Füße gegen winzige Unebenheiten des Bodens und die muskelbepackten Schultern gegen die Trennwand stemmte und mit seinen Fäusten die Eisenstangen umkrallte. Im Zementsockel des Gitters zeigten sich Sprünge, winzige Haarrisse. Das Scheusal verdoppelte die Anstrengungen. Gobineau winselte. Schaum stand vor seinem Mund, tropfte vom Kinn. Immer wieder angelte die Pranke des Unholds nach Lucienne Dantec, die sich eng an ihren Gefährten preßte, schluchzend das Gesicht verbarg. »Er schafft es nicht«, versuchte Leblanc seine Freundin zu trösten, obwohl ihm mulmig zumute war. Zu hart ging der Albino an seine Aufgabe heran, die ein blutiges Ende nehmen mußte, wenn es ihm gelang, einzubrechen. Pierre Leblanc wußte, daß jeder Widerstand sinnlos sein mußte, sobald Gobineau das Gitter beseitigt hatte. Es gab gegen dieses Ungetüm kein Mittel. Dieser Koloss, der vor Anstrengung 33 �
schnaufte, ließ sich nicht aufhalten. Gobineau heulte und tobte, geriet immer mehr in Wut. Und er bewies, daß er noch denken konnte, eine Spur Kombinationsgabe besaß. Er konzentrierte seine Anstrengung auf einen der Risse im Zementsockel. Er kratzte darin herum, pulte kleine Steinsplitter heraus, verbreiterte die schmale Öffnung. In fieberhafter Eile kratzte und scharrte der Unhold, unterbrach seine Arbeit nur, um aufzuspringen und nach dem Mädchen zu greifen, dessen lockende Nähe ihn anspornte wie nichts auf der Welt. »Wenn doch endlich Cabanis käme, dieser Schurke!« preßte Pierre Leblanc hervor. »Er kann uns doch nicht in Gesellschaft dieses gefährlichen Irren lassen.. Was hat er mit uns vor? Soll ihm der Albino nur die Arbeit abnehmen?« Lucienne Dantec erklärte Pierre, warum Professor Cabanis sie in seine Gewalt gebracht und gefangen gesetzt hatte. »Gobineau sagst du?« fragte Leblanc ungläubig. »Er ist doch hingerichtet worden. Unmöglich! Das kann er nicht sein. Du irrst dich.« »Leider nicht. Und diese Entdeckung könnte Marc Cabanis gefährlich werden. Er arbeitet an einem Experiment, dessen Tragweite ich noch nicht begriffen habe.« Das Mädchen verstummte erschrocken. Der Albino schien wieder einen seiner Wutanfälle zu bekommen. Er zerrte und riß mit aller Kraft an einer senkrechten Strebe, riß sie aus der Verankerung. Die klobigen Fäuste schlossen sich wie Schraubstöcke um das Eisen. Mit einem letzten Ruck bog der Albino die Stange nach oben, schaffte eine erste Bresche. Sein gewaltiger Arm schob sich bis zum Schultergelenk durch die Öffnung. Die Krallen mit den schmutzigen Nägeln grapschten nach dem entsetzt aufschreienden Mädchen. 34 �
»Was sollen wir denn jetzt machen?« schrie Pierre Leblanc verzweifelt, während er die Tentakeln des Ungeheuers beobachtete, die mit wedelnden Bewegungen nach dem Opfer griffen. Der Unhold stellte fest, daß es noch nicht langte, die ungeheure Anstrengung nicht die ersehnten Früchte brachte. Für einen Augenblick schien Gobineau zu resignieren. Er kauerte sich in eine Ecke, die Knie bis zu den Ohren hochgezogen. Seine missmutige Fratze signalisierte dumpfe Enttäuschung. Das Wesen greinte. Dann jagte der Albino wieder hoch, stürzte sich erneut auf das Hindernis und bearbeitete es mit verdoppelter Kraft. Pierre Leblanc riß sich aus der Umarmung des Mädchens. Er rannte zur Zellentür, untersuchte das Schloß. Schließlich mußte er irgend etwas tun, sich einen Ausweg einfallen lassen. Sonst schaffte es der Albino am Ende doch noch und ließ seine mörderischen Instinkte an Lucienne aus. Das Sicherheitsschloss war nicht zu knacken. Das stellte Pierre Leblanc auf den ersten Blick fest. Verzweifelt kehrte er zurück. »Wir werden zusammen sterben«, flüsterte Lucienne Dantec mit erstickter Stimme. »Ich bin froh, daß du mich gefunden hast. War es sehr schwer?« * Pierre Leblanc begriff. Dankbar ergriff er die Gelegenheit, sich abzulenken, den Burschen in seinem Rücken zu vergessen, der mit verbissenem Eifer arbeitete. Der Student berichtete über seine Bemühungen, das Schicksal des Mädchens aufzuklären, Lucienne zu finden, schmückte die Schwierigkeiten mit einer verständnislosen Polizei sogar noch ein wenig aus. Dabei bemühte er sich, Fassung zu bewahren, ruhig und gelassen zu sprechen, als wären sie sicher wie in 35 �
Abrahams Schoß. Seine Verlobte klammerte sich an ihn. Ihr Blick hing an seinen Lippen. Sie war ständig bemüht, sich von den schrecklichen Geräuschen in ihrem Rücken nicht sichtlich in Panik versetzen zu lassen. Sie erinnerten an zwei Kinder, die dem Unheil dadurch zu entgehen hoffen, daß sie die Augen schließen. Sie spielten einander etwas vor, um sich Halt und Hoffnung zu schenken, die es nicht mehr gab. Denn mit verbissenem Eifer arbeitete sich der Mordalbino vor, quälte sich ab, versuchte, die stählerne Gitterwand zu beseitigen, eine Lücke zu schaffen. Lucienne zitterte wie Espenlaub in den Armen des jungen Mannes. Pierre Leblanc hatte es noch schwerer. Denn er schaute über die wohlgeformte Schulter des Mädchens in die scheußliche Fratze des weißfelligen, rotäugigen Ungeheuers, Minuten verstrichen, zäh wie Melasse, randvoll mit Angst und Verzweiflung, die nicht laut werden sollte. Dann stieß Pierre Leblanc scharf die Luft aus, seufzte abgrundtief, unfähig, die schreckliche Wirklichkeit länger zu verbergen. Das Mädchen wirbelte herum. Lucienne Dantec schrie entsetzt auf. Gerade schob sich das Monstrum durch eine Bresche, zwängte sich durch die winzige Öffnung. Stahlspitzen schrammten über die Haut, rissen blutige Striemen, dort, wo sie nackt war. Stoff fetzte. Hechelnd schob sich der Albino vorwärts. Schon stemmten muskulöse Arme den gewaltigen Oberkörper hoch, versuchte das Scheusal, Unterleib und Beine nachzuziehen. Die Fußspitzen schleiften in einem schrecklichen Geräusch über den kahlen Boden der Nachbarzelle. Schluchzend wich Lucienne Dantec zurück, halb wahnsinnig vor Angst, drängte sich in die entfernteste Ecke des engen 36 �
Gefängnisses. Verzweifelt sah sich Pierre Leblanc nach einer Waffe um, nach irgend etwas, womit er dem häßlichen Angreifer Einhalt gebieten konnte. Aber es gab nichts in der Zelle, was man als Abwehrmittel benutzen konnte. Schutzlos waren sie der Willkür des unberechenbaren, tobenden Albino ausgeliefert. Sie schienen verloren! Gobineau begriff seine Chance. Der Albino winselte hündisch. Geifer tropfte von seinem zottigen Maul. Die Augen rotierten wie Feuerräder. Gobineau schaffte es. Er arbeitete sich vor, ohne auf die Schmerzen zu achten, die er sich selbst zufügte. Zu groß war seine Gier nach diesem Opfer. Zu lange hatte er das Mädchen so dicht vor der Nase gehabt, ohne zupacken zu können, in Schach gehalten durch die scheinbar unbezwingbare Trennwand. Jetzt sah er sich am Ziel. Triumphierend riß der Mordalbino das Maul auf. Faulige Zähne klafften. Ein gurgelnder Schrei ließ das unterirdische Gewölbe erzittern. So brüllte eine Bestie vor dem Schlagen der Beute, ein wildes Tier im Angesicht der Tat. Aber was dort Zwang bedeutete, in einer feindlichen Umwelt zu überleben, sich zu ernähren, verkehrte sich hier in das perverse Gegenteil, einer Unnatürlichkeit, wie sie nur unter Menschen anzutreffen war. Gobineau wuchtete seinen klobigen Leib empor, kam auf die großen Füße, richtete sich auf. Er überragte die beiden gut um Haupteslänge. Sein blutgetränkter Halsverband leuchtete gespenstisch im ungewissen Licht der Zellen. Schwerfällig setzte sich der Mörder in Bewegung. Die muskelbepackten Schultern rollten und pendelten. Nackte Füße schlurften über Beton. Dann streckte der Weißhaarige mit einem satanischen Grinsen 37 �
die Pranken aus, griff unbeherrscht nach dem Mädchen. Vergeblich fiel Pierre Leblanc dem Ungeheuer in den Arm. Mit einem wütenden Schnaufen wischte Gobineau den Studenten aus dem Weg, schaffte sich freie Bahn. Seine funkelnden Augen verfolgten Lucienne Dantec, wohin immer sie floh in einem sinnlosen Wettlauf mit dem nahenden Tod. Wieder griff Leblanc an. Sofort sauste die Pranke des Scheusals herum, wirbelte durch die Luft und traf Leblanc an der Kinnlade. Mit einem erstickten Schrei flog der Student zurück, stieß hart gegen die Zellentür. Sein Kopf schlug mit einem dumpfen Knall gegen eine Eisenstrebe. Es wurde ihm schwarz vor den Augen. Stöhnend ging der Getroffene in die Knie. Gobineau hatte freie Bahn. Er breitete die Tatzen aus, scheuchte Lucienne vor sich her, verfehlte sie einmal, als sie unter seinem muskulösen Arm hinwegtauchte, setzte hemmungslos sein Knie ein. Er drängte sein Opfer in die Ecke. Seine Pranken krallten sich in Luciennes Hals. Das Mädchen riß sich los. Knurrend setzte Gobineau einen neuen Griff an. Diesmal bekam er Luciennes langes Haar zu fassen. Seine Finger krallten sich darin fest. Er riß ihr den Kopf nach hinten. Schmatzend und knurrend näherte sich Gobineau seinem wehrlosen Opfer. Paralysiert von dem Schmerz harrte Lucienne Dantec aus. Die Kehle des Mädchens lag ungeschützt. Hell und zart schimmerte der weiße Hals, brachte den Albino vollends um den Verstand. Gobineau reckte das Nussknackerkinn vor. Zwei Reihen überstehender Raffzähne wurden freigelegt, bereit, sich in das warme Fleisch des Mädchens zu bohren. Lucienne Dantec erstarrte. 38 �
Noch einmal brach sich ihre Not und ihre Verzweiflung in einem grauenvollen Schrei Bahn. * Das ältere Ehepaar erregte in der Polizeipräfektur von Paris einiges Aufsehen. Es geschah eben nicht jeden Tag, daß jemand in korsischer Landestracht durch die hohen düsteren Flure schritt. Die beiden Alten hielten sich rührenderweise an den Händen und versuchten mit großen Augen, Namensschilder an den Türen zu entziffern. Sie bewegten beim Lesen die Lippen wie Leute, die ungeübt sind, und stritten sich bei jedem Fehler, den sie begingen. Sie korrigierten einander so laut und energisch, daß selbst tiefschlafende Beamte aufschreckten. Einige der Kriminalbeamten boten ihre Hilfe an, aber der Korse, der seinen Namen mit Claude Leblanc angab, wies jede Einmischung entrüstet zurück. Claude Leblanc hatte ein Ehrfurcht gebietendes Gesicht, in das ein hartes, einfaches Leben seine Spuren gegraben hatte. Nase und Augen verrieten den arabisch-berberischen Einschlag, den die Korsen nie ganz verleugnen können. »Da ist es«, sagte Leblanc schließlich triumphierend. »Ich wußte, daß wir ihn hier finden.« Er nahm seine Kopfbedeckung ab und pochte an die Tür. »Kommissar Malgrin«, buchstabierte die untersetzte Frau, die ihren Mann begleitete. Augenscheinlich hielt sich niemand im Zimmer auf. Die beiden alten Leute erhielten keine Antwort auf ihr dringendes Klopfen. Mit korsischer Dickschädeligkeit drückte Leblanc die Türklinke herunter. Das Zimmer war nicht abgesperrt. Leblanc trat ein und sah einen jungen Mann, der gerade telefonierte. Es mußte ein sehr lustiges Gespräch sein. Der Beamte, der graues, welliges 39 �
Haar hatte, kicherte albern und gebrauchte Kosenamen, die weder Leblanc noch seine Frau jemals in ihrem Leben gehört hatte. »Moment, cherie. Ich habe Besuch«, sagte der Mann am Telefon und legte den Hörer beiseite. »Kann sie uns jetzt noch hören?« fragte Leblanc mißtrauisch. »Wie bitte? Ach so. Das macht nichts. Sie arbeitet in einer Abteilung unseres Hauses. Übrigens, mein Name ist Boulanger. Was möchten Sie?« sprudelte der Polizist hervor, der einen blauen Anzug trug und grellbunte Strümpfe. »Ich möchte Kommissar Robert Malgrin sprechen«, erklärte der Korse und strich sich mit der flachen Hand über sein kurz geschnittenes graues Haar, dessen Spärlichkeit und Lage irgendwie an die Frisur Caesars erinnerte. »Der Chef ist in einer Besprechung«, antwortete Boulanger steif. »Dann warten wir hier«, entschied Leblanc. Er wies seiner Frau einen Platz zu und blieb selbst wie ein Ladestock neben der Tür stehen, die Kopfbedeckung in der Hand. »Wollen Sie nicht lieber draußen…?« begann Boulanger, verstummte aber unter dem kühlen Blick der stahlblauen Augen. Diese Bauern haben eine merkwürdige Auffassung von zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Großstadt, dachte Boulanger belustigt. Die betrachten sich mehr als meine Gäste. Vermutlich erwarten sie noch, daß ich ihnen Brot und Salz anbiete und einen Schluck Wein. Achselzuckend nahm er wieder den Hörer auf und plauderte mit seiner Gesprächspartnerin, die eine helle Stimme hatte. Geduldig wartete Leblanc, ließ sich von Boulanger nicht einmal den Grund seines Kommens entlocken und harrte aus, bis sich die Tür ungestüm öffnete und ein Herr auftauchte, der einem 40 �
Modejournal entstiegen zu sein schien. Er trug einen dezenten grauen Zweireiher, eine gepunktete Fliege und ein teures blaues Hemd. Seine Manschettenknöpfe stammten sicher nicht aus dem Warenhaus Prieunic. »Was kann ich für Sie tun?« fragte Robert Malgrin. »Es handelt sich um meinen Sohn, Monsieur«, berichtete der Korse. »Was ist mit ihm?« Malgrin war der jüngste Kommissar Frankreichs und knapp sechsundzwanzig Jahre alt. Böse Zungen behaupteten, er übe den Beruf des Kriminalisten nur als Hobby aus. Tatsächlich diente er ihm sicher nicht als Broterwerb. Malgrin war seit seiner Geburt reich und unabhängig. Nur hielt er es für verwerflich, sein Vermögen auf irgendeinem Gutshof zu genießen und seine Tage als Parasit zu verbringen. Er bestand darauf, nicht bevorzugt zu werden und schonte sich weniger als mancher seiner Kollegen, der sich aufrieb, weil er annahm, schon die nächste Beförderung würde endlich die finanzielle Misere seiner Familie beseitigen. »Mein Sohn ist verschwunden«, erklärte Leblanc bekümmert. »Hm, Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben? Da sind Sie hier aber falsch. Dies ist die Mordkommission«, sagte Malgrin lächelnd. »Das ist mir egal«, brummte der korsische Dickschädel. »Ich kenne nur Sie. Ich spreche nicht zu einem Fremden über meine Probleme.« »Sie kennen mich, Monsieur?« »Ja, aus der Zeitung. Ich komme aus dem Hinterland von Ajaccio. Aber ich lese jeden Morgen meine Zeitung, ehe ich in den Weinbergen arbeite. Und da wurde über sie berichtet. Es hat mir gefallen, wie Sie den Gangster Quinton fertiggemacht haben, der die Millionärstochter entführt und in einer gut belüfteten Kiste 41 �
im Wald vergraben hatte. Da sagte ich mir, wenn du jemals Ärger hast, gehst du zu diesem Mann.« »Wir haben unsere Aufgaben genau aufgegliedert«, gab ihm Kommissar Malgrin zu verstehen. »Da kann man nichts machen. Wenn Ihr Sohn tot wäre, ermordet, würde ich mich um den Fall kümmern. Aber das ist Gott sei Dank nicht so, Gehen Sie bitte in den vierten Stock, Zimmer 118. Ich werde Sie telefonisch anmelden. Der Sachbearbeiter, ist ein alter Freund von mir. Bei ihm sind Sie in guten Händen. Und glauben Sie niemals, ich wäre der fähigste Kriminalist Frankreichs. Das haben die Zeitungsfritzen aus mir gemacht. Die Hälfte auch meiner Arbeit ist langweilige Routine. Weiß Gott, es gibt Tage, da möchte ich gern mit Ihnen tauschen. Die Arbeit in frischer Luft, in den Weinbergen, ist auch nicht zu verachten. Ich kenne das. Ich habe als Junge bei meiner Tante geholfen, um mein Taschengeld aufzubessern.« »Sie waren immer reich«, erwiderte Leblanc ungläubig. »Ich kenne Ihre Lebensgeschichte.« »Sie kennen das, was die Zeitungen daraus gemacht haben«, korrigierte Malgrin belustigt. »Ich wurde immer sehr kurz gehalten. Mein Vater pflegte zu sagen, man müßte erst lernen, Geld zu verdienen. Geld auszugeben fiele selbst dem Dümmsten nicht schwer.« »Monsieur«, seufzte der alte Leblanc, »ich habe das erste Flugzeug nach Paris genommen, um meinem Sohn zu helfen. Sie dürfen mich nicht wegschicken. Sie müssen mich anhören! Ich habe nur zu Ihnen Vertrauen.« »Bon, trinken wir zusammen eine Tasse Kaffee in meinem Büro«, entschied der Kommissar. »Boulanger, veranlassen Sie das!«' »Jawohl, Chef«, dienerte der Sergeant. Malgrin bat seine Besucher nach nebenan. Ehrfürchtig schaute Madame Leblanc sich um. 42 �
»Sie ist eine große Bewunderin von Ihnen«, bemerkte Leblanc grinsend. Er nahm seiner Frau den Weidenkorb ab, zog ein grünes Tuch zur Seite und brachte eine Flasche Rotwein zum Vorschein. »Für Sie«, sagte der Korse. »Selbst gekeltert. Ein herrlicher Jahrgang. Den gebe ich niemals für Geld ab. Ich schenke ihn nur meinen besten Freunden.« Malgrin erstarrte. Verdammt noch mal, dachte er, wir sind hier nicht in Korsika. Ich lasse mich nicht bestechen. Aber was soll ich machen? Der Alte meint es nicht böse. Er will mir zeigen, daß er etwas für mich übrig hat. In Korsika bringt man vielleicht Wein mit, wenn man zur Polizei geht. Er kennt es nicht anders. »Danke.« Der Kommissar nickte. »Ich werde ihn trinken, wenn es einen besonderen Anlass gibt. Ein vorzüglicher Tropfen.« »Trinken Sie ihn, sobald Sie meinen Sohn gefunden haben«, bat der Alte verschmitzt. »Ich bin sicher, daß etwas passiert ist. Pierre, mein Junge, hat uns besucht und uns mitgeteilt, daß er heiraten möchte. Er hat uns ein Bild seiner Verlobten gezeigt. Wir kannten sie noch nicht, weil es heute Mode zu sein scheint, die betroffenen Eltern als letzte zu verständigen. Das gab es zu meiner Zeit nicht. Die große Stadt verdirbt Sitte und Anstand.« »Vielleicht«, schränkte Malgrin ein, der nicht erpicht darauf war, sich die Anschauungen des Korsen vortragen zu lassen. Er war es als Polizist gewohnt, nüchtern und klar zu denken, ohne falsche Sentimentalität. Er hatte sich nur an Tatsachen zu halten. An beweisbare, unumstößliche Tatsachen. »Mein Sohn verlangte, daß wir ihm sein Erbteil auszahlen und sofort nach Paris überweisen. Er hat ein Konto bei der Credit Lyonnais. Wir mussten wohl oder übel zustimmen. Ich bin nur ein einfacher Weinbauer. Mein Sohn ist Student. Er muß wissen, was er tut. Er ist alt genug. Er nannte uns auch einen Termin für 43 �
die Hochzeit. Wir versprachen zu kommen. Dann fuhr er zurück, weil er sich Sorgen machte. Er hatte versucht, seine Verlobte telefonisch zu erreichen. Aber sie schien nicht zu Hause zu sein. Sagen Sie selbst, Herr Kommissar, darf ein junges Mädchen, das auf sich hält, allein das Haus verlassen?« »In Paris schon. Die meisten müssen zur Arbeit«, erwiderte Robert Malgrin vorsichtig. »Natürlich«, triumphierte Claude Leblanc. »Sie gehen zur Arbeit. Damit sie Geld für Schminke verdienen und auch tagsüber unter Männern sind. Ich aber sage: die Frau gehört an den Herd.« Leblanc bekam einen Rippenstoß von seiner Frau, die nie in das Gespräch eingriff, aber aufmerksam zuhörte. »Sie wollten von Ihrem Sohn erzählen«, lenkte der Kommissar das Gespräch wieder in die richtige Bahn. »Ich wollte ihn anrufen, weil ich nicht ganz sicher war, ob ich die richtige Kontonummer aufgeschrieben hatte. Ich bin sehr vorsichtig in Gelddingen«, fuhr Claude Leblanc fort. »Ich konnte Pierre nicht erreichen. Seine Zimmerwirtin sagte, er sei nicht nach Hause gekommen. Sie habe ihn nicht gesehen.« »Vielleicht ist er direkt zu seiner Verlobten gefahren«, vermutete Robert Malgrin. Leblanc sah ihn an. »Den Verdacht hatte ich auch, also kramte ich die Adresse von Mademoiselle Dantec heraus. Die Auskunft besorgte mir ihre Telefonnummer. Ich rief an. Ich wurde mit einer Madame Lemon verbunden, der Concierge. Sie berichtete, mein Sohn sei gekommen und habe seine Verlobte nicht angetroffen. Er sei besorgt gewesen, weil Mademoiselle Dantec die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen sei. Er habe den Verdacht geäußert, dem Mädchen sei etwas Schlimmes passiert. Er habe sich auf die Suche gemacht. Jetzt ist er auch verschwunden.« 44 �
»Haben Sie Bilder der beiden Vermissten?« forschte der Kommissar. Der Korse nickte und zückte seine Brieftasche. Er legte zwei Farbaufnahmen auf den Schreibtisch. Malgrin betrachtete sie eingehend und rief dann nach seinem Sergeant. Boulanger brachte den Kaffee und erhielt den Auftrag, die Vermisstenanmeldungen der letzten Tage durchzugehen, die Verzeichnisse der nicht identifizierten Toten und das Ergebnis umgehend zu melden. Boulanger bedachte die beiden alten Leute mit einem wütenden Blick. Er fühlte sich ständig überlastet. »Passen Sie auf«, sagte Malgrin, während sie Kaffee tranken, »ich bringe Sie jetzt in ein anständiges Hotel. Dann sehen wir weiter. Ich kümmere mich um die Sache. Hier haben Sie meine Telefonnummer. Falls es Ihnen zu lange dauert, rufen Sie mich ruhig an. Einverstanden?« »Sie werden es schaffen, Monsieur«, sagte der Korse. Seine Frau versuchte vergeblich, Malgrin die Hand zu küssen. Der Kommissar telefonierte nach seinem privaten Wagen, einem riesigen Citroen DS. Dann gingen sie hinunter. Das Ehepaar nahm stolz im Fond Platz. Malgrin setzte sich neben den Fahrer, den er aus eigener Tasche bezahlte, weil er es leid war, ständig um einen der schäbigen Dienstwagen zu kämpfen, den das Amt zur Verfügung stellte – jedenfalls manchmal, wenn gerade einer frei war. »Rue Lobineau«, befahl der Kommissar. Claude Leblanc, scheinbar aller Sorgen ledig, genoss die Fahrt durch die belebten Straßen. Manchmal kniff er die Augen zu, wenn eine Verkehrssituation zu brenzlig wurde. »Das ist eure Art der Blutrache«, spottete der alte Korse. Mal45 �
grin lachte nur. � * »Zurück, du Bestie!« schrillte Marc Cabanis. Der Professor hielt eine Peitsche in der Rechten und einen geladenen Revolver in der Linken. Erbarmungslos schlug er auf den breiten Rücken des Albino ein. Blutige Striemen zeigten sich auf dem ohnehin zerkratzten und zerschundenen Körper; per Gobineaus. Der Albino wich zitternd zurück. Cabanis drosch den Burschen förmlich vor sich her, jagte ihn durch die offene, Zellentür in das eigene Gefängnis, wo der Riese sich greinend auf sein Strohlager warf. »Ich hoffe, ich bin rechtzeitig aufgetaucht«, sagte der Professor und schaute auf Lucienne Dantec, die ohnmächtig auf der Erde lag. Pierre Leblanc kniete neben seiner Verlobten und streichelte hilflos ihr Gesicht, verstört und geschockt durch den entsetzlichen Angriff des Frauenmörders. »Sie müssen nicht glauben, daß ich nicht gegen alles gewappnet wäre«, erläuterte Cabanis. »Ich überwache diesen Trakt ständig über eine Fernsehkamera. Ich weiß nicht, ob Sie den Apparat schon entdeckt haben. Dort oben steckt er.« Stolz wies Cabanis auf eine Ecke der Zelle. »Warum haben Sie es dann erst soweit kommen lassen?« beklagte sich der Student bitter, ohne den Kopf zu heben. Besorgt beobachtete Leblanc seine Verlobte, die schwer atmete. Ihr Puls flatterte. »Ich war mit einem sehr wichtigen Experiment beschäftigt«, entschuldigte sich Marc Cabanis. Seine dicken, verzerrten Froschaugen hinter den Brillengläsern 46 �
funkelten und verkündeten einen ungesunden Stolz. Lucienne seufzte und erwachte langsam aus ihrer Ohnmacht. Verwirrt öffnete sie die Augen, blickte verständnislos um sich und erkannte Pierre Leblanc. Dann schüttelte ein Weinkrampf den zarten Mädchenkörper. Mit tränenüberströmtem Gesicht flüchtete sich Lucienne Dantec an die Brust ihres Begleiters. Mechanisch strich ihr Pierre Leblanc über das Haar. In diesem Augenblick dachte er an Flucht. Es galt, den Professor zu überrumpeln, ihn zu entwaffnen. Dies hier war die Hölle. Das hielt kein normaler Mensch aus. Es schien, als hätte der Professor die geheimsten Gedanken seines Gefangenen gelesen. Er schüttelte grinsend den Kopf. »Tut mir leid, Leblanc«, feixte Marc Cabanis. »Ich kann Sie noch nicht auf freien Fuß setzen. Und versuchen Sie es nicht mit Gewalt. Es würde Ihnen schlecht bekommen.« »Aber hier können wir nicht bleiben«, beschwerte sich der Student. »Das gebe ich zu, mein Lieber. Das ist nicht möglich. Ich werde Sie mit in meine Wohnung nehmen. Sie sind ein intelligenter junger Mann. Sie könnten mir bei meiner Arbeit zur Hand gehen.« »Selbstverständlich«, rief Leblanc erfreut. »Ihre kleine Verlobte ketten wir inzwischen irgendwo an. Das muß sein. Sie ist gewissermaßen meine Geisel. Sobald Sie, Leblanc, das Weite suchen und womöglich die Polizei holen, stirbt Mademoiselle Dantec unter den Krallen des Albino. Ist das klar? Vergessen Sie niemals, daß ich nichts mehr zu verlieren habe!« »Ich bin mit allem einverstanden. Wenn Sie uns nur aus diesem schrecklichen Keller entlassen und der unerträglichen Nachbarschaft dieses Wahnsinnigen«, rief der Student erleichtert. Das Angebot des Professors – eine winzige Verbesserung der 47 �
Lage – erschien Pierre Leblanc schon als ein gewaltiger Schritt auf dem Wege zur Freiheit. Und Lucienne konnte endlich aufatmen. Denn natürlich würde der widerwärtige Unhold seine Angriffe so lange erneuern, bis er zum Ziel gelangte. Er war unbelehrbar und unbezähmbar in seinem mörderischen Verlangen nach Blut. »Wie kommt es eigentlich, daß Sie eine solche Macht über den Burschen ausüben?« fragte Leblanc. »Mich hat er einfach zur Seite geschleudert, als ich Lucienne beistehen wollte. Ich konnte nichts gegen ihn ausrichten. Und wenn ich Sie anschaue, muß ich sagen, daß Sie nicht gerade kräftiger gebaut sind als ich.« »Richtig«, bestätigte Marc Cabanis ernst. »Das ist auch keine Frage der körperlichen Kraft.« Der Professor zögerte, weiterzusprechen. »Kommt es daher, daß Sie ihn kleiden und ernähren?« hakte Pierre Leblanc nach. »Ist es diese Art von Zuneigung, die der Löwe im Käfig seinem vertrauten Wärter entgegenbringt?« »Mehr«, korrigierte Marc Cabanis seufzend. Pierre Leblanc schwieg, wartete stumm auf eine Erklärung. Der Professor kämpfte sichtlich mit sich. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Sie haben schon so viel gesehen und werden noch einen solchen Einblick in mein Leben bekommen«, sagte Marc Cabanis, »daß es auf dieses Detail auch nicht mehr ankommt. Gobineau ist – mein Bruder!« Entgeistert starrte Leblanc auf den Professor, der sich müde über die Augen strich. Cabanis stand auf dem Gang. Pierre Leblanc und seine Verlobte hielten sich noch in der Zelle auf, deren Tür jetzt weit offen stand. Das Licht im Gewölbe war schlecht. Trotzdem bemerkte Pierre, wie es im Gesicht des Professors arbeitete und zuckte. »Das ist eine lange Geschichte«, fuhr Cabanis verbittert fort. 48 �
»Der Name Gobineau hatte in meinem Heimatort nie einen guten Klang. Wir stellten Generationen von Tagedieben und Trinkern. Ich war die einzige Ausnahme. Ich fiel in der Dorfschule auf, wurde vom Pfarrer gefördert und besuchte auf Gemeindekosten ein Gymnasium bis zur Reifeprüfung. Mit zweiundzwanzig Jahren bereits schloß ich mein Studium ab. Summa cum laude natürlich. Dann geschahen diese grauenvollen Frauenmorde. Mein Bruder wurde entlarvt und verhaftet. Er wurde hingerichtet. Da habe ich schleunigst meinen Namen ändern lassen.« »Aber er wurde nicht hingerichtet«, widersprach Pierre Leblanc. »Dort sitzt er doch. Sie haben es selbst gesagt.« Cabanis lächelte flüchtig. Wieder trat dieser Ausdruck unbeherrschten Stolzes in seine häßlichen Fischaugen. Er nickte bedächtig. »Das hängt mit meinen Experimenten zusammen«, gab der Professor Auskunft. »Sobald ich den Gen-Code eines toten oder lebenden Menschen ermittelt habe anhand einer von mir entwickelten Bestimmungsmethode, die revolutionierend ist auf dem Gebiete der Biogenetik, ist der Rest reine Routine. Ich speichere die Daten im Computer, der wiederum Befehle an meine chemische Versuchsanlage ausspuckt. Ich arbeite auf der Basis von Aminosäuren. Ihnen brauche ich ja wohl kaum zu erklären, daß es sich dabei um die Grundbausteine des Lebens handelt.« Man sah es Cabanis an, daß er gern über seine Arbeit berichtete. Er hatte wohl nur selten Gelegenheit dazu. Er lebte mutterseelenallein in diesem riesigen Haus, inmitten der Produkte seiner scheußlichen Experimente. Wahrscheinlich war er den ganzen Tag auf den Beinen, um seine Anlagen zu überprüfen. Für einen einzelnen Menschen bedeutete das ein immenses Arbeitspensum. Lucienne Dantec erholte sich zusehends. Sie vergewisserte sich 49 �
mit einem schnellen Blick, daß von dem Albino keine unmittelbare Gefahr drohte, und erschauerte. Lucienne hielt sich für ein modernes, aufgeklärtes Mädchen. Sie hatte es gelernt, sich im Leichenschauhaus zu beherrschen, wenn Angehörige eine Leiche zu identifizieren hatten und schreiend zusammenbrachen. Sie schrieb über Krieg und Tod mit jenem kühlen Understatement, das sie anscheinend der unerklärlichen Gefühlskälte verdankte. Und das wiederum wurde von einer Gerichtsreporterin gefordert. Es gehörte zu ihrem Markenzeichen. Sie hatte es schnell gelernt. Ihr Umgang mit Studenten tat ein übriges. Diese Herren gaben sich auch stets so, als trügen sie einen Stein anstelle des Herzens und bestünden nur aus glasklarem Intellekt, ohne jede Emotion. Dabei kannte Lucienne Dantec die angehenden Wissenschaftler besser. Sie trugen nur eine Maske. Wem zuliebe eigentlich? »Lassen Sie uns hinaufgehen, Professor«, bat Pierre Leblanc. Marc Cabanis fixierte den jungen Mann. »Sie denken an Flucht?« forschte er. »Vergessen Sie es! Ich habe einen Revolver und kann damit umgehen. Muß ich es Ihnen erst beweisen, Monsieur?« »Nicht nötig, Professor.« Leblanc winkte ab. »Ich glaube es Ihnen auch so. Im übrigen denke ich keineswegs daran, zu flüchten. Und zwar aus zwei Gründen: einmal genügt es mir, meine Verlobte aus der Nachbarschaft dieses Scheusals zu befreien, zweitens bin ich wirklich brennend an Ihren Forschungsergebnissen interessiert.« Pierre Leblanc verstand es, mit Menschen Umzugehen. Seine Methode versagte bei diesem Eigenbrötler schon deswegen nicht, weil Marc Cabanis für Komplimente sehr empfänglich war. Ihm fehlte das große Publikum. Er arbeitete bislang nur für seine Notizen und Aufzeichnungen. Ob sie jemals gedruckt werden würden, hing nicht von ihm ab, Ebenso wenig wie die 50 �
Frage, ob er damit vor einen größeren Kreis von Fachkollegen treten durfte, sich ihrem Urteil stellen. Es gehörte der verbissene, fast missionarische Eifer eines Marc Cabanis dazu, trotz aller Isolierung, aller Enttäuschung so hart zu arbeiten. Er kannte es wohl nicht anders. Und es war kein Wunder, daß er wunderlich geworden war. Inwieweit er bereits geisteskrank war, wagte Pierre Leblanc nicht zu entscheiden. Sie gingen den langen Gang entlang bis zu der fahrbaren Plattform. Licht fiel von oben in den Sehacht. Pierre stützte seine Begleiterin. Lucienne bat um eine Zigarette. Sie rauchte hastig und nervös. Sie hatte keine Gelegenheit, sich unbeobachtet mit ihrem Verlobten zu verständigen. Sie wußte nur, daß Pierre alles tun würde, um sie aus diesem Gefängnis zu befreien. Sie hätte gern geholfen. Aber Marc Cabanis, mißtrauisch wie immer, überwachte jede Geste, jedes Mienenspiel und hielt seinen Revolver ständig schussbereit. Sie fuhren nach oben. Auf Knopf druck hatte sich die Hydraulik eingeschaltet. Ein leises Surren ertönte. Mit einem Rück hielt der eigenwillige Fahrstuhl, der mühelos auch die Schwersten Lasten transportieren konnte. Sie standen in Cabanis Labor. »Sie haben nicht zufällig etwas Essbares im Haus?« fragte Pierre Leblanc. »Ich bin auch sicher, daß niemand etwas gegen einen guten Kaffee einzuwenden hätte.« »Ich lege auf derlei Dinge keinen Wert«, antwortete der Professor achselzuckend. »Ich esse sehr unregelmäßig. Meist vergesse ich es. Außerdem vergessen Sie unsere Abmachungen. Ich habe gesagt, ich würde Ihre Verlobte anketten. Sie werden verstehen, wenn ich meine Vorsichtsmaßnahmen treffe, Monsieur.« Cabanis hatte gesprochen, ohne die Stimme zu heben. Er 51 �
sprach, fast ohne die Lippen zu bewegen und haspelte die Worte herunter, als fände er selbst keinen Gefallen an ihnen. Verständigung schien ihm ebenso unwichtig wie andere Dinge, die bei einem normalen Sterblichen einen großen Raum einnahmen. »Das ist Ihr gutes Recht«, sagte Pierre Leblanc, scheinbar gleichgültig und seinem Schicksal ergeben. Er stand in der Nähe einer Stellage, in der ein halbes Dutzend Reihen Reagenzgläser aufgebaut war. Die meisten waren durch einen Kork verschlossen, andere nur durch einen Wattebausch. Sie enthielten die verschiedensten Lösungen, Laugen und Säuren. Pierre Leblanc bedauerte es, daß Chemie niemals zu seinen Lieblingsfächern in der Schule gehört hatte. Sonst hätte er leicht anhand der Färbung erste Schlüsse ziehen können. So mußte er auf das Glück vertrauen. Er suchte sich einen Behälter aus, dessen oberer Teil mit einem milchigen Nebel gefüllt war. Mit einem Ruck brachte er das Reagenzglas an sich, entfernte blitzschnell den Wattepfropfen und schüttete den dampfenden Inhalt in das hagere Gesicht des Professors. Ein scharfer, stechender Geruch drang sofort in die Nase Leblancs. Da wußte er, daß er eine ziemlich scharfe, ätzende Flüssigkeit erwischt hatte, etwas, was Cabanis ganz und gar nicht bekommen konnte. Der Professor heulte auf wie ein getretener Hund. Er schlug beide Hände vor das Gesicht, brüllte wie am Spieß. Er riß sich die Brille von der Nase, zerkratzte sich die Haut, krümmte sich vor Schmerzen und ging langsam in die Knie. Die Schußwaffe und die Dompteurs-Peitsche hatte er fallen lassen. Der Revolver war unter den Tresen geglitten. »Nichts wie weg!« brüllte Pierre Leblanc. Seine Verlobte reagierte schnell und nach erstaunlich kurzer Schrecksekunde. Sie erreichte noch vor ihm die Tür. 52 �
Sie kannten sich in dem Haus nicht recht aus. So geschah es, daß sie unnötige Umwege einlegten, ehe sie durch eine Tür anstatt auf die Straße – wie sie erwartet hatten – im Garten landeten. »Zur Mauer!« keuchte Lucienne Dantec. Sie erinnerte sich an die offene Gartenpforte. Vielleicht blieb ihnen das Glück hold. Sie hetzten die Kieswege hinunter, die bleich wie ein Netzwerk von Adern durch den Irrgarten verliefen. Steine spritzten unter ihren Sohlen weg. Sie ließen die Gewächshäuser links liegen. Das Schmerzensgebrüll des Professors war längst verstummt. »Der braucht eine Weile, bis er wieder klar denken kann«, sagte Lucienne Dantec. »Und ich bedaure ihn nicht. Er hat sich das selbst zuzuschreiben. Dieser Teufel mit seinem Albino!« »Darüber denke ich später nach«, erwiderte Pierre Leblanc atemlos. »Erst einmal verschwinden, ein paar Kilometer zwischen uns und diesen gemeingefährlichen Narren legen.« »Wirst du ihn anzeigen?« fragte Lucienne Dantec. »Bestimmt. Es ist besser, wenn ihm das Handwerk gelegt wird, ehe er noch größeres Unheil anrichten kann.« Der junge Mann nickte grimmig und wich einem tiefhängenden Ast aus. Taufeuchtes Gras peitschte die Beine der Flüchtenden. Dunkle Lebensbäume wiegten sich im Wind. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Hohl und unheimlich schallte der Schrei durch den verwilderten Garten, der sich mit tausend Ranken und Knollen, Blättern und Strünken dagegen wehrte, die sichere Beute freizugeben. Aber unaufhaltsam bahnten sich die beiden einen Weg. Pierre Leblanc hatte die Spitze übernommen. Schon erkannte er die Mauer – ein düsterer wuchtiger Riegel zwischen dem Reich des Professor Cabanis und der Welt der Lebenden. Der Schein einer Straßenlaterne spendete jenseits des Hindernisses Trost. 53 �
Abgehetzt erreichte das Paar das Ziel. Der Rest konnte nur ein Kinderspiel sein. »Du kletterst zuerst hinüber, Lucienne!« befahl Pierre Leblanc. »Du kennst das ja. Ich halte dir die Steigbügel. Du erklimmst die Mauerkrone und setzt dich breitbeinig darauf. Dann sitzt du fester und kannst mir anschließend hinaufhelfen.« Lucienne nickte nur. Der Atem wurde ihr knapp. Ihr Busen wogte. Sie spürte ihre Kräfte erlahmen. Der anstrengende Lauf hatte sie ziemlich mitgenommen; Ihre Kondition war nicht die beste. Sie konnte sich an ihre letzte Sportstunde nicht mehr erinnern. Pierre Leblanc stemmte sich mit der Schulter gegen das Mauerwerk. Der Geruch von feuchtem Moos stieg in seine Nase. Er faltete die Hände. Lucienne Dantec raffte ihr Kleid, das ziemlich mitgenommen war. Sie schob ihren zierlichen Fuß in den »Steigbügel«, nahm ein wenig Schwung und schnellte sich hoch, gestützt von dem schwankenden Leblanc. Lucienne Dantec griff nach der Mauerkrone, erwischte sie mit den Fingerspitzen, zog sich hoch. Verzweifelt klemmte sie einen Arm fest. Ohne Pierre hätte sie es nie geschafft. Er half ihr mit letzter Kraft. Unendlich langsam schob sich Luciennes Kopf über die Mauer. Sie warf einen ersten Blick auf die nächtliche Straße, ihr Körper verkrampfte. Sie öffnete den Mund zu einem gellenden Schrei… * »Hier entlang, Herr Kommissar«, bat Madame Lemon und stieß eine Tür auf, trat zur Seite und konnte ihren Blick nicht von dem sportlichen, breitschultrigen Malgrin losreißen, Malgrin verzog keine Miene. Er war aus dem Alter heraus, da 54 �
er sich fragte, was das andere Geschlecht von ihm halten mochte. Er wußte es inzwischen. Er wirkte auf Frauen. Malgrin war wählerisch geworden. Er reihte nur noch besonders seltene oder exotische Blüten ein in den Strauß, den er im Laufe der Jahre so eifrig gesammelt hatte, daß er darüber nicht zum Heiraten gekommen war. »Warten Sie, Monsieur«, sagte die alte Korsin. Sie zog eine Flasche mit geweihtem Wasser aus den unergründlichen Tiefen ihres schwarzen Umschlagtuches und besprengte damit die Türschwelle. Sie tat es mit solchem Ernst, daß Malgrin geduldig wartete. Er selbst hielt nicht so viel davon, aber er sah nicht ein, warum die alte Dame es nicht tun sollte. Sie kam schließlich fast um vor Sorge wegen des Verschwindens ihres einzigen Sohnes. Claude Leblanc starrte unterdessen aus zusammengekniffenen Augen auf die bunten Poster und Wandzeitungen, mit denen Lucienne Dantec ihr Zimmer geschmückt hatte. Ein Bild von Che Guevara betrachtete er mit Interesse, ohne den Mann zu erkennen. Seine rechte Hand krampfte sich um eine Knoblauchzehe, ein bewährtes Mittel gegen Dämonen, Vampire und Magier. Denn auch er war überzeugt, daß es bei dem Verschwinden des jungen Paares nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Nur hielt er andere Mittelchen parat, um das Böse und Verderben bringende zu bannen. Madame Leblanc schlug ein Kreuzzeichen und nickte dann zufrieden. Sie hatte alles getan, um dem Kommissar den Weg zu ebnen. Der Rest mußte durch den Kriminalbeamten getan werden. Aber was – so fragte sich Claudine Leblanc – konnten Erfahrung und Routine, Spürsinn und Verstandesschärfe bewirken, wenn nicht das eine dazukam, das alle Werke gelingen ließ? Malgrin betrat das Zimmer und schaute sich um. 55 �
Lucienne Dantec besaß Geschmack und die Fähigkeit, einen Raum bestmöglich auszunutzen. Alle Möbel standen genau dort, wo Malgrin selber sie auch aufgebaut hätte. Er hasste Leute, die leere Zimmer voll stopften und dann behaupteten, sie fühlten sich darin zu Hause. Auf dem Nachttisch stand ein Bild Pierre Leblancs. Mutter Leblanc betrachtete es voller Rührung, während der Kriminalbeamte Schubfächer durchstöberte. Madame Lemon stand dabei und berichtete unaufgefordert, wie sie beobachtet hatte, daß eine Schar junger, ausgelassener Menschen Lucienne Dantec abgeholt hätte. Lucienne habe ein Ballkleid getragen. Sie sei nicht mehr nach Hause gekommen. Bei dieser Feststellung bekam die Stimme der lauten Concierge einen tragischen Klang. Durch ihre traurige Miene und die großen gläubigen Augen, die sich langsam mit Tränen zu füllen schienen, signalisierte die Frau Mitgefühl. Claude Leblanc starrte finster geradeaus. Claudine Leblanc aber begann zu schluchzen. Sie zog ein Spitzentaschentuch aus dem weiten Ärmel des Folklore-Gewandes und drückte es in ihr Gesicht. Ihre Schultern zuckten. Malgrin stand in dem Durcheinander und sortierte vergeblich den Inhalt der verschiedensten Behältnisse. Da war nichts, was Aufschluss geben konnte über den Bekanntenkreis der Vermissten. Madame Lemon – ermuntert durch den Erfolg ihrer ersten Erklärung – ging jetzt in die Vollen. Mit bewegten Worten schilderte sie, wie der junge Leblanc aufgetaucht war. Er müsse direkt vom Bahnhof in das Haus seiner Verlobten geeilt sein. Madame Lemon erging sich in Einzelheiten über das halb erschöpfte, halb glückliche Aussehen des gut gewachsenen jungen Mannes, dem man die Ähnlichkeit mit seinem Vater ansah. Hier horchte selbst Madame Leblanc auf, und der alte Korse 56 �
plinkerte irritiert mit den Augen. Zu Hause, unter der Dorfeiche, hätte er diese Frau überhaupt nicht beachtet. Sie hätte ihm allenfalls den Aperitif servieren oder eine Packung Zigaretten aus dem Automaten ziehen dürfen. Auf Korsika – jedenfalls in den Dörfern – war der Mann noch etwas wert. Da schwiegen die Frauen und ließen sich belehren. Da war jemand unmöglich, der ständig vorgab, allein durch seine Aufmerksamkeit könne der ganze Fall im Handumdrehen aufgeklärt werden. Wo doch jeder sehen konnte, daß hier übernatürliche Kräfte im Spiel waren, das Wirken böser Geister. Claude Leblanc preßte die Knoblauchzehe in seiner Hosentasche und beobachtete Malgrin bei der Arbeit. Der Kommissar durchsuchte das Zimmer nach einem System, das Erfahrung verriet. Er beschäftigte sich schließlich mit dem Bett der Lucienne Dantec. Zuerst brachte er etwas zum Vorschein, was dem alten Korsen die Schamröte ins Gesicht trieb. Er hätte seine Frau verstoßen, wenn sie jemals in einem solch sündhaften Aufzug im Ehebett aufgekreuzt wäre. Außerdem war es dafür um ein paar Jahre zu spät gewesen. Ein verächtliches Lächeln kräuselte seinen Mund, als Madame Lemon einen Schrei des Entzückens ausstieß und ihr der Kommissar das durchsichtige Nachtgewand zuwarf. Malgrin hob gerade die Matratze an. Er stieß einen Pfiff aus. Zufrieden zog er ein grünes Notizbuch heraus und schlug die1 Seiten um. Er fand Namen und Telefonnummern en masse, offenbar Anschriften von Bekannten und Freunden des jungen Mädchens, aber auch von Zeitungen, Nachrichtenbüros und Beamten des Justizdienstes. Robert Malgrin erinnerte sich daran, daß Lucienne Dantec Gerichtsreporterin war. »Wohin ist Monsieur Leblanc gegangen, als er hier seine Verlobte nicht antraf?« erkundigte sich der Kommissar. 57 �
»Er meinte, ihr sei etwas passiert und wollte die Polizei alarmieren«, berichtete die Concierge. »Ich habe ihn selbst ermuntert, weil ich mir doch denken konnte, daß solch ein reizendes Mädchen, das einen so netten jungen Mann kennt, nicht auf Abwege geraten würde, Ich bin überzeugt, daß Mademoiselle Dantec irgendwelchen Verbrechern in die Hände gefallen ist.« »Die nächste Polizeiwache ist in der Rue de Tournon, nicht wahr?« vergewisserte sich der Kommissar. Madame Lemon nickte eifrig. »Soll ich Sie hinbringen?« bot sie an. Robert Malgrin winkte ab. »Gehen wir«, entschied er knapp. »Wir dürfen Sie begleiten, Monsieur?« freute sich der alte Leblanc, der seine Mütze verlegen in den Händen hielt. »Sicher«, sagte der Kommissär. »Sie haben doch ein Recht darauf, alles aus erster Hand zu erfahren.« »Ich würde umkommen im Hotel«, seufzte Claudine Leblanc. »Was mich wirklich fertigmachen würde, wäre diese endlose Warterei. Ich kann die engen Hotelzimmer nicht ausstehen.« »Ich habe Angst, Monsieur«, bekannte Claude Leblanc, der an das denken mochte, was sie erwartete. Er räumte seinen Gefühlen keinen allzu großen Raum ein, jedenfalls bemühte er sich darum. Dieses Geständnis mochte ihn daher einige Überwindung gekostet haben. Es zeigte, wie besorgt der alte Mann war. Malgrin betrachtete diesen Charakterkopf mit den kurzgeschorenen weißen Haaren und wünschte sich, er möge auf die gleiche Art alt werden, mit so viel Gesundheit und Würde. Sie verließen das Haus in der Rue Lobineau. Malgrin nannte seinem Fahrer das neue Ziel. Jean trug eine Lederjacke, eine grüne Hose und ein Sporthemd mit offenem Kragen. Er wirkte wie ein Freund seines Arbeitgebers. Malgrin hätte es niemals fertig gebracht, ihn in eine Chauf58 �
feursuniform zu zwingen. Das überließ er den Neureichen, die gern mit denen protzten, die von ihnen abhängig waren. »Ich möchte Sie nicht bedrängen, Monsieur«, begann Claude Leblanc unsicher und erntete ein spöttisches Grinsen, »aber ich würde gern wissen, ob Sie schon eine Spur entdeckt haben?« »Nichts.« Robert Malgrin schüttelte den Kopf. »Ich hätte es Ihnen sofort gesagt. Ich kann mich durchaus in Ihre Lage versetzen. Aber leider sieht es in Wirklichkeit anders aus als in den Büchern oder Fernsehkrimis. Da passt immer eins zum anderen. Tatsächlich aber ist die Arbeit eines Kriminalisten meist ein nervenaufreibendes Geduldsspiel. Aber sobald ich ein Ende des Fadens in Händen halte, verspreche ich Ihnen, daß es sehr schnell geht. Ich bin bekannt dafür. Einen ersten Ansatzpunkt brauche ich, dann läuft alles wie geschmiert. Stimmts, Jean?« »Richtig, Monsieur«, bestätigte der Fahrer. Er war ein junger Bursche und hatte früher Rennen gefahren. Dabei war er sehr vom Pech verfolgt worden. Nach ersten beachtlichen Erfolgen hatte er seinen Beruf wegen schwerer Verletzungen an den Nagel hängen müssen. Er hatte sich in einer Kurve in Le Mans überschlagen. Sein Wagen war in Brand geraten, er selbst im Krankenhaus gelandet. Dort hatte ihn Malgrin besucht, der ein begeisterter Motorsportanhänger war. Jean Baptiste hatte nach einer gewissen Bedenkzeit das Angebot Malgrins angenommen. Jetzt arbeiteten sie bereits vier Jahre zusammen. Beide Seiten hatten von dem Teamwork profitiert. Jean Baptiste hatte seinen Chef mehrmals aus brenzligen Situationen herauskutschiert, in denen die Nerven eines normalen Fahrers längst gestreikt hätten. Da war besonders die Gangsterfalle in einer Tiefgarage zu nennen. Fast hatte es so ausgesehen, als wäre Jean Baptiste nicht mehr durch die Sperre gekommen, die von der Bande aufgebaut worden war. Er hatte es dennoch geschafft – dank seiner überlegenen Fahrkünste und seines 59 �
Mutes, ja, seiner Leidenschaft, außergewöhnliche Wagnisse einzugehen. Der Citroen rollte vor der Wache in der Rue de Tournon aus. Malgrin erwartete nicht, daß ihm sein Chauffeur die Tür aufhielt. Baptiste hatte es am Anfang mit Leichenbittermiene getan, weil er glaubte, es gehörte dazu. Jeder Fahrer hielt jedem Chef in jedem Film den Wagenschlag auf und zog die Mütze, während er einen Katzenbuckel machte. »Erst nach meinem ersten Schlaganfall, hatte Malgrin gespottet. Damit war das Verhältnis geklärt worden. Sie verstanden sich prächtig und gaben ein gutes Gespann ab, obwohl Jean Baptiste niemals eine Neigung bekundet hatte, in den Polizeidienst zu treten. Er liebte die Freiheit. Eine Beschäftigung wie bei Malgrin – das war gerade das Richtige für Baptiste. Oft fachsimpelten sie auf längeren Dienstreisen über ihr gemeinsames Hobby. Malgrin hatte während seiner Schulzeit Sandbahnrennen gefahren. Er verstand eine Menge von Kurventechnik und Motoren. »Hier entlang«, sagte der Kommissar und hielt dem korsischen Ehepaar die Tür zum Wachlokal auf. »Jetzt werden wir vielleicht erfahren, wohin Ihr Sohn sich gewandt hat, nachdem er die Polizei mit seinem Besuch beehrt hatte.« »Ja«, murmelte Claude Leblanc. Er war wirklich ein wenig enttäuscht. Niemand zückte einen Revolver. Niemand riskierte sein Leben. Es ging alles so sachlich und logisch zu, daß es dem Korsen fast ein wenig fad vorgekommen wäre, hätte nicht das Schicksal seines Sohnes und das seiner zukünftigen Schwiegertochter auf dem Spiel gestanden. *
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»Was ist denn?« fragte Pierre Leblanc erschrocken. Sie waren ihrem Ziel so nahe, daß er einfach nicht glauben mochte, daß noch etwas schief gehen konnte. Lucienne Dantec war nicht fähig zu antworten. Der Schreck hatte ihr die Sprache verschlagen. Anstatt sich an der Mauerkrone festzuklammern, stieß sie sich ab. Pierre Leblanc konnte sie nicht halten. Lucienne Dantec landete im Gras. Sie lag auf dem Boden, vergrub das Gesicht in den Armen und schluchzte. Ihr langes schwarzes Haar umgab sie wie ein Mantel. Pierre Leblanc wollte ratlos zu ihr eilen, weil er nicht wußte, was Lucienne Schreckliches entdeckt hatte. Er wollte sich danach erkundigen, da erhielt er eine Antwort, die ihn erschauern ließ. Jenseits der Mauer war ein Schleifen und Kratzen zu hören. Jemand versuchte, das Hindernis zu nehmen und in den Garten zu gelangen. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Leblanc den Frauenmörder Gobineau, der sich keuchend heraufarbeitete. In der rechten Hand hielt er eine Stricknadel. Das Metall glänzte und funkelte gefährlich im Schein einer Straßenlaterne. Gobineau grinste über sein verwüstetes Gesicht, in dem sich die animalischen Instinkte spiegelten, die diesen klobigen Körper beseelten. »Komm, Lucienne!« zischelte Pierre und riß seine Verlobte hoch. Gobineau sprang mit einem mächtigen Satz von der Mauer, landete mit klatschenden Fußsohlen auf einer Steinplatte und rappelte sich knurrend auf. Seine häßlichen Augen suchten das Mädchen, deretwillen er ganz andere Anstrengungen auf sich genommen hätte. »Komm!« drängte der junge Leblanc verzweifelt. »Wohin?« fragte die Gerichtsreporterin tonlos. 61 �
Es schien, als hätte Lucienne Dantec sich selbst aufgegeben. Ihr Herz hielt die ständigen Aufregungen nicht mehr aus. Sie hatte seit Stunden nichts gegessen. Sie fühlte sich müde und zerschlagen. Sie wollte nicht mehr. Mochte Gobineau mit ihr machen, was er wollte. Sollte er doch sein schauriges Werk vollenden. Dann war er wenigstens so lange beschäftigt, daß Pierre Leblanc entkommen konnte. Dann hat mein Tod wenigstens noch einen Sinn, dachte das Mädchen. »Los!« brüllte Pierre Leblanc und riß die Widerstrebende hinter sich her, rannte quer durch den Garten, wieder auf das Haus zu. Marc Cabanis mochte ein skrupelloser Mann sein, aber hatte er nicht schon zweimal in höchster Not helfend eingegriffen? Warum sollte er es nicht wieder tun? Und er würde niemals dulden, daß in seiner unmittelbaren Umgebung jemand ermordet wurde – und sei es auch nur, weil seine schwachen Nerven einem Todesschrei nicht gewachsen waren. Gobineau lachte glucksend und kicherte gleich darauf so schrill, daß die beiden Gejagten zusammenzuckten. Noch hielten sie einen winzigen Vorsprung. Pierre Leblanc erkannte, daß sie es bis zur Villa des Professors nicht mehr schafften. Dazu war Gobineau zu schnell. Er schloß mit mächtigen Bocksprüngen auf, hob bereits drohend die ausgefallene Mordwaffe, die aus seiner Faust ragte. »Hier hinein!« forderte Pierre japsend. Sie huschten in das Gewächshaus, das Pierre Leblanc bereits bei seinem ersten Ausflug in den Garten des Professors erkundet hatte. Er wußte, daß es auf der anderen Seite der Anlage eine zweite Tür gab. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Seiteneingang der Villa. Sie tauchten in das geheimnisvolle Dunkel des Glashauses, in dem die Luft zum Schneiden war. Es roch unter beschlagenen 62 �
Scheiben nach Moder und Humus. Das ultraviolette Licht tat ein übriges. Es bedurfte nicht dieser scheußlichen Präparate, die – zu einem Leben ohne Schlaf verdammt – ruhelos in ihren gläsernen Becken trieben, um einem das Gefühl zu geben, man stoße vor in eine unbekannte, grauenvolle Welt. Erst diesmal nahm Pierre Leblanc Einzelheiten wahr, die ihm auf seiner ersten Exkursion verborgen geblieben waren. Und er konnte es sich nicht leisten, blind durch diese Gänge zu tappen, sich führen zu lassen wie seine Begleiterin. Denn er hielt die Spitze. Wenn er versagte, holte Gobineau sie ein. Und dann war es um das hilflose Mädchen geschehen. Pierre Leblanc machte sich keine Illusionen. Er hatte niemals die Kraft, diesen Koloss zu stoppen, ihm die Beute streitig zu machen. Gobineau aber kannte nur ein Ziel. Er besaß keine menschlichen Regungen. Er anerkannte kein Gesetz – es sei denn das seiner Stärke, seiner hemmungslosen Gier nach Blut. Einmal – in einer Biegung – wagte Lucienne Dantec, die Augen zu öffnen. Sie sah vor sich eine Stellage mit bleichen Hirnschalen, über die Käseglocken gestülpt waren. Aus dem dunklen, feuchten Humus darunter aber sprossen Pilze aus rosigem Fleisch, wie sie noch kein Menschenauge vorher erblickt hatte. Diese grässliche Masse war überzogen von einer klaren, schleimigen Haut. Ekel würgte Lucienne Dantec. Wäre das hechelnde Scheusal hinter ihr nicht gewesen, sie hätte keinen Fuß mehr vor den anderen gesetzt. So aber folgte sie zitternd Pierre, klammerte sich an dessen Hand und versuchte, ihm mit geschlossenen Augen zu folgen. Der Boden bestand im Gewächshaus aus gestampftem Lehm. Lucienne Dantec – ganz darauf konzentriert, diese Anstrengung zu bewältigen, diesen Spurt um ihr Leben auszuhalten – hatte den Mörder hinter sich fast vergessen. Sie gab sich ganz dem 63 �
Rhythmus des Laufens hin, hatte nichts im Ohr als den eigenen unregelmäßigen Atem und kämpfte mit Seitenstichen. Ihre Beine wurden schwer wie Blei. Dann gab ihr ein Zwischenfall neue Kraft, der ihr fast das Leben gekostet hätte. Unbemerkt hatte sich Gobineau näher herangeschoben an seine begehrte Beute. Er streckte die Klauen aus, erwischte das Opfer an der Schulter. Seine Krallen drangen durch den Stoff bis auf das nackte Fleisch, gruben sich in den Körper der aufschreienden Lucienne. Stoff zerriss. Schreiend befreite sich das Mädchen. Halb nackt machte es sich noch einmal davon, entging um Haaresbreite der tödlichen Gefahr. Pierre Leblanc riß Lucienne durch eine Tür, die aus einem Holzrahmen bestand und einer Schicht durchsichtigen Plastiks. Und das Wunder geschah! Gobineau blieb aufheulend zurück, stierte aus Glotzaugen hinter dem Pärchen her, wagte aber nicht mehr, die beiden zu verfolgen. Schneller als ihnen lieb war, begriffen Lucienne Dantec und Pierre Leblanc, warum der Unhold die Jagd abbrach. In diesem Teil der ausgedehnten Anlage züchtete Professor Cabanis fleischfressende Pflanzen von einer Größe, wie sie Leblanc noch nicht gesehen hatte. Entsetzt starrte er auf das grüne, züngelnde Inferno. Wie eine Wand standen zahllose Gewächse auf, Nesselfäden mit lähmenden Gift züngelten durch das Zwielicht. Blätter – breit wie Samuraischwerter – bogen sich zur Seite, klappten sternförmig auseinander, wurden lautlos eingerollt und gaben kunterbunte, mörderische Blüten frei. Aus deren gefleckten Kelchen schössen Zungen, leckten nach den entsetzten Flüchtlingen. Eine Pflanze ließ sich von der Decke herabgleiten, ein braungrünes Fallnetz, das die beiden Menschen im Handumdrehen 64 �
umschlang, umklammerte, einhüllte. Verdauungssäfte – milchig weiß und übel riechend – schossen in Taschen, die wie Treteisen auseinanderklafften, bereit, die Nahrung aufzunehmen, zu binden und zu verarbeiten. Schreiend zerriss Lucienne das Netz, das sie umgarnte und mit einer klebrigen, süßlich duftenden Masse überschüttete. Sie rannte weiter. Ihr Finger berührte eine Fangtasche mit drohend geöffneten, gezackten Hälften. Das riesengroße Gewächs schloß sich knirschend. Zu früh! Noch einmal entging das Mädchen der tödlichen Falle. »Nichts wie raus!« rief Pierre Leblanc verzweifelt, wehrte sich gegen den Würgegriff einer Liane, die plötzlich in allen Farben des Regenbogens schillerte und glühte, erregt durch den Vorgeschmack auf zu verdauendes Fleisch. Dies war wirklich eine grüne Hölle. Eine Machete hätte man haben sollen. So aber kämpfte sich Pierre Leblanc mit bloßen Händen durch das Gewirr, das von beiden Seiten den Gang blockierte, mit weit ausladenden Fangarmen, Polypen gleich. Lucienne Dantec schrie gellend auf. Mit ausgestrecktem Finger deutete sie zitternd auf einen wandernden Busch, der den jenseitigen Ausgang verstellte. Pierre Leblanc hielt trotz seiner Angst inne, schnappte nach Luft. Grellbunte Zweige wirbelten und wedelten durch die Luft. Zahllose Augen stierten auf die Beute. Wie Beeren sprossen diese furchterregenden Augäpfel aus den Enden der bleichen Ranken dieses Gewächses, daß wie eine Qualle auf die beiden Menschen zufloss – schleimig, riesengroß, ekelerregend. »Zurück!« brüllte Pierre Leblanc. 65 �
Aber Lucienne war nicht fähig, sich zu bewegen. Sie stand wie zur Salzsäule erstarrt im Dampfbad des Glashauses und stierte auf den wandernden Busch. Welcher abartigen Versuchsreihe verdankte dieses Fabelwesen seine: Existenz? Hatte der Professor rücksichtslos Gen-Codes miteinander vertauscht, ergänzt, erweitert, verfälscht? Es gab keine Antwort auf diese Frage. Unter anderen Umständen hätte das Leben auf dieser Erde sehr wohl eine ähnliche Entwicklung erfahren können. Cabanis hatte durch seine Experimente nur aufgezeigt, was auch möglich gewesen wäre. Aber er hatte dabei Grenzen überschritten, Tabus zerstört, die jeden Betrachter entsetzen mussten. »Komm!« drängte Pierre. Sie wichen langsam zurück. Der mörderische Busch folgte ihnen beharrlich, gierig, beutelüstern. Mit seinen biegsamen Rankenarmen ertastete er sich den Weg. Bei Berührung eines Hindernisses zuckten die Augen am Ende der Zweige zurück wie die Fühler einer Schnecke. Das Pärchen wagte sich aus Angst vor einem heimtückischen Überfall nicht umzudrehen, sondern wich rückwärts, unverwandt den Blick auf das rätselhafte Scheusal gerichtet, das als einziges Wesen in diesem Raum fähig war, sich fortzubewegen. »Drüben wartet Gobineau«, flüsterte Lucienne heiser. Hier wartet überall jemand darauf, uns den Garaus zu machen«, erwiderte Pierre verzweifelt. »Ob wir jemals dieser Falle entrinnen?« »Woher tauchte eigentlich Gobineau so plötzlich auf?« fragte Lucienne. »Der Professor hatte ihn doch in die Zelle gejagt.« »Cabanis hat ihn herausgeholt, als wir flüchteten, und hat ihn dorthin gebracht, wo wir auftauchen mussten: an die Gartenmauer«, erläuterte Pierre Leblanc. »Sicher ist Cabanis in der Nähe«, meinte das Mädchen. Hoff66 �
nung schwang in ihrer Stimme. Sie war bereits soweit, daß sie den verschrobenen Professor als das kleinste aller denkbaren übel ansah. Die Gruselfiguren in dieser Anlage jedenfalls jagten ihr eine größere Angst ein, kaum, daß sie sich von dem Schock der Begegnung mit Gobineau erholt hatte. Lucienne Dantec kämpfte sich frei, als eine der scheußlichen, fleischfressenden Pflanzen versuchte, über den Rand des Beetes in den Mittelgang zu reichen, um die lockende Beute zu erhaschen. Dann stieß Lucienne mit dem Rücken gegen die Verbindungstür. »Nichts wie raus!« schrie Pierre Leblanc, dem dieser wandernde Mörderbusch bedrohlich nahe kam. Lucienne blickte sich ängstlich um. Gobineau, der – gerade noch hechelnd und nicht bereit, den gefährlichen Raum zu betreten – hinter der durchsichtigen Plastikwand herumgesprungen war, schien wie vom Erdboden verschluckt. Statt dessen stand Marc Cabanis dort, eine kurzläufige Schrotflinte in den feinen Händen, die so wenig fähig schienen, Gewalt anzuwenden. Und doch sprachen die Augen des Professors Bände, lag sein rechter Zeigefinger am Abzugshahn der Waffe. »Beeilen Sie sich!« krächzte Marc Cabanis. »Sonst garantiere ich für nichts. Der Busch dort ist giftig. Eine einzige Berührung, und Sie fallen gelähmt zu Boden.« Widerwillig zog sich das Paar zurück, rettete sich vor dem wandernden Busch, nur, um sich wieder dem Professor auszuliefern. »Marsch! Zurück ins Haus!« kommandierte Marc Cabanis. Triumph schwang in seiner Stimme. Ungeduldig winkte er mit dem matt glänzenden, brünierten Lauf der Schrotflinte, deren 67 �
Ladung auf so kurze Entfernung eine verheerende Wirkung haben mußte, da die Garbe nicht streute, sondern geschlossen und mit geballter Wucht ins Ziel fetzen würde. »Wo ist Gobineau?« fragte Lucienne Dantec zitternd. Ihre Blicke wanderten ängstlich umher, suchten die entferntesten und dunkelsten Ecken des Treibhauses zu durchforschen. »Ich habe ihn ins Haus zurückgeschickt«, erwiderte Cabanis. »Und er hat Ihnen einfach gehorcht – brav wie ein Kind?« fragte die Gerichtsreporterin. Sie legte so viel scheinbaren Respekt in ihre Stimme, daß Cabanis irritiert blinzelte Er war es nicht gewohnt, daß man ihm mit Hochachtung begegnete. Er hatte seine Mitmenschen bislang nur als Denunzianten und Häscher erlebt, als Richter, Staatsanwälte, Gerichtsbüttel, Neugierige, Hämische und Neidische. Das hatte eine tiefe Abneigung gegen die Gesellschaft in ihm herangezüchtet, den Wunsch nach Einsamkeit, Unabhängigkeit wach werden lassen. Cabanis war ein armer Isolierter. Und das wiederum hatte seine Psyche verwirrt und krank gemacht. Jetzt ging er mit Riesenschritten dem letzten Stadium entgegen. Der Mann wurde gemeingefährlich. Lucienne Dantec wußte, daß sie Cabanis wie ein rohes Ei behandeln mußte, wollte sie ihn nicht zu einer Kurzschlußhandlung treiben, die nur darin gipfeln konnte, daß er seine Gefangenen abschlachtete. Oder diese scheußliche Arbeit seinem abstoßenden Bruder überließ. »Gehen wir«, spottete Cabanis. »Ich sehe, der kleine Ausflug ist Ihnen nicht sonderlich bekommen. Wie wäre es, wenn Sie uns zur Abwechslung ein leckeres Mahl zubereiten würden, meine Gnädigste? Ich denke, wir alle haben uns ein Essen redlich verdient. Und wenn ich Aufregung hatte, werde ich immer ziemlich hungrig.« Cabanis lachte heiser. 68 �
Der Professor führte seine unfreiwilligen Gäste durch ungefährliche Teile seiner Treibhausanlage, nicht, ohne unterwegs Thermometer und Hydrometer abzulesen und sich deren Werte einzuprägen. Er gab hier und da Erläuterungen ab, die niemand hören wollte. »Ein Grad Temperaturschwankung könnte ganze Kolonien meiner lieben Kleinen vernichten«, erklärte Marc Cabanis. »Und es wäre schade darum. Es steckt so viel Arbeit dahinter. Ich brauchte Jahrzehnte, um einen solchen Rückschlag zu überwinden.« Sie verließen das Glashaus, durchquerten den Garten und näherten sich der Villa, die riesengroß und stumm vor ihnen lag, als hütete sie ein düsteres Geheimnis. Einmal blieb Lucienne Dantec wie angewurzelt stehen. Sie starrte auf ein erleuchtetes Fenster im ersten Stock. Hinter der Gardine – er hob sich wie ein Scherenschnitt ab gegen den helleren Hintergrund – stand Gobineau und schaute herunter. Seine Pranke krallte sich in den weißen Stoff der Gardine. »Er scheint Ihnen nicht aufs Wort zu gehorchen«, sagte Pierre Leblanc. »Ich dachte, der Bursche befände sich wieder in sicherem Gewahrsam. Sie können ihn doch nicht frei herumlaufen lassen.« »Solange ich bei Ihnen bin, tut er Ihnen nichts. Außerdem habe ich ihm eine Spritze verpasst«, entgegnete Marc Cabanis. »Seien Sie unbesorgt. Unser kleines Essen im intimsten Kreis wird ungestört verlaufen. Ich freue mich darauf.« »Ich habe schon bessere Einladungen bekommen«, stellte Pierre Leblanc fest, der langsam seinen trockenen Humor wieder fand. Er schien resigniert und jeden Gedanken an Flucht aufgegeben zu haben. Er hatte wohl eingesehen, daß es kein Entrinnen gab. Nicht für beide. Vielleicht für den jungen Mann, aber niemals für das Mädchen. Und Leblanc schien uneigennützig 69 �
genug zu denken, um nichts auf eigene Faust und allein zum eigenen Vorteil zu unternehmen. Sie gingen ins Haus. * »Nun ja«, sagte der Flic. »Er war hier. Ein junger Mann, gut aussehend, sportlicher Typ. Etwa so groß. Er wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben, Herr Kommissar.« »Das wissen wir längst«, brummte Malgrin ungeduldig. »Bei einem Laien verstünde ich eine solche Personalbeschreibung schon. Aber für einen Polizisten ist Ihre Beobachtungsgabe erschreckend schwach entwickelt. Den Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen.« Der Corporal senkte den Kopf und lief rot an. Man sah ihm die Zweifel an. Er wußte nicht, ob er sich gegen den direkten Angriff verteidigen sollte oder ob es taktisch richtiger war, wieder einmal demütig zu schweigen. Es sprach für ihn, daß er sich für die erste Möglichkeit entschied. »Ich hatte einen harten Tag hinter mir und kein Computer«, begehrte der Uniformierte auf, der Wachhabender in der Polizeistation Rue de Tournon war. »Außerdem habe ich den Mann nicht für allzu seriös gehalten, nachdem ich erfuhr, daß er seine Verlobte suchte, die nachts nicht nach Hause gekommen war. So etwas soll vorkommen, meine ich.« »Richtig«, entgegnete der Kommissar. »Nur sind mittlerweile die Eltern dieses Mannes hier und haben mich alarmiert. Denn inzwischen ist auch der junge Mann verschwunden, der seine Verlobte suchte.« »Dann handelt es sich möglicherweise doch um ein Verbrechen?« horchte der Corporal auf. Er zwirbelte seinen Schnurrbart, der bleistiftdünn war und unmittelbar über der Oberlippe wie festgeleimt saß. Das Haar des Polizisten glänzte vor 70 �
Pomade. Er war einer dieser jungen ehrgeizigen Männer, die sich ständig pflegen und zurechtzumachen wie eine Ware, die besser geht, wenn sie ansprechend verpackt ist – gleichgültig, ob sie etwas taugt oder nicht. »Wohin ,ist der Junge gegangen?« forschte Malgrin und musterte sein Gegenüber durchdringend. »Warten Sie«, bat der Corporal und dachte angestrengt nach. »Er ging nach rechts. Ja, ich bin sicher. Er ging nach rechts. Ich wollte nämlich wissen, was er für einen Wagentyp fuhr. Deshalb habe ich ihn beobachtet.« »Und was fuhr er?« hakte Malgrin nach. »Er hatte überhaupt kein Fahrzeug dabei«, erwiderte der Flic. Malgrin nickte nachdenklich. Dann wandte er sich an die Eltern des Vermissten. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich mich hier in der Gegend ein wenig umsehen«, sagte der Kommissar. »Irgendwo auf dem Wege von der Polizeiwache zu seinem Wagen muß Ihr Sohn verschwunden sein. Es gibt sicherlich Zeugen.« »Wahrscheinlich ist er unterwegs auf eine erste Spur gestoßen«, bemerkte der Corporal mit blitzenden Augen. »Möglich«, brummte Malgrin. Sie gingen hinaus. Malgrin brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß der Corporal auch ihnen nachschaute. Dieser Mann tat das immer. Ständig verglich er sich mit anderen. Erstaunlicherweise schnitt er dabei immer hervorragend ab – jedenfalls in seinen eigenen Augen. Sicher war er der Meinung, er selbst wäre schwungvoller und damit wirkungsvoller an diesen Fall herangegangen. Aber er kam nie dazu. Das war ein Unterschied, der wirklich zählte. Es blieb für diesen jungen ehrgeizigen Polizisten immer ein Traum, einmal unter den Gangstern der Hauptstadt aufzuräumen. 71 �
»Was halten Sie von der Sache, Monsieur?« erkundigte sich Claude Leblanc vorsichtig. Malgrin sah in das faltige Gesicht des Korsen. Ihre Blicke begegneten sich. Leblanc hatte dunkelbraune Augen, in denen noch ein wenig von dem Feuer glomm, das ihn in der Jugend beseelt haben mochte. »Es ist noch zu früh, um überhaupt etwas zu sagen«, erwiderte Malgrin. »Genau genommen bearbeite ich noch gar keinen Fall. Wir haben einen vagen Verdacht. Er könnte sich bestätigen. Er kann sich aber auch sehr einfach klären: Ihr Sohn hat seine Verlobte gefunden. Die beiden sind in irgendein Hotel gegangen, um sich zu amüsieren.« »Nicht mein Sohn«, begehrte die Frau auf. Zorn loderte in ihren dunklen Augen. »Ich verstehe, daß Ihnen dieser Gedanke nicht behagt«, sagte Malgrin lächelnd. »Aber an den muß sich jede Mutter einmal gewöhnen. Ich jedenfalls hätte es getan, wenn ich an Stelle Ihres Sohnes gewesen wäre – immer vorausgesetzt, er hat Lucienne Dantec tatsächlich aufgespürt. Da ist doch eine Wiedersehensfeier genau das richtige. Und da Sie, Monsieur Leblanc, ihm versprochen hatten, das Geld zu überweisen, brauchte er nicht allzu sparsam mit seinem Monatsscheck umzugehen.« »Vielleicht haben Sie recht«, fauchte Claude Leblanc. »Vermutlich wäre das sogar die bessere Lösung. Obwohl mir auch diese Möglichkeit nicht sonderlich behagt. Ich denke anders. Ich arbeite schwer für mein Geld. Ich möchte nicht, daß mein Sohn es durchbringt.« »Es gibt schlechtere Gelegenheiten, sein Geld zu verjubeln«, konterte Malgrin missmutig. »Außerdem müssen Sie sich damit abfinden, daß Ihr Sohn einer anderen Generation angehört. Die hat jede falsche Bescheidenheit abgelegt. Und das ist gut so.« »Sie befürworten das noch?« begehrte Madame Leblanc auf. 72 �
»Aus den verschiedensten Gründen«, antwortete der Kommissar aufgeräumt. »Einer ist, daß ich es hasse, plötzlich auf zwei Leichen zu stoßen.« »Jesus und Maria«, kreischte die alte Frau und schlug das Kreuzzeichen. »Können Sie einen erschrecken.« »Ich wollte Ihnen nur klarmachen, daß Sie keinen Grund haben, böse zu sein, wenn ich Ihre Kinder wirklich in einem Hotel aufstöbere. Weiß Gott, ich wünsche sogar, daß es so kommt. Denn meine Vorahnungen trügen mich selten. Und im Augenblick habe ich ein sehr schlechtes Gefühl in der Magengegend.« Der Citroen des Kommissars fuhr im Schritt-Tempo hinter der Gruppe her. Der Chauffeur hatte in langen Jahren gelernt, geduldig zu warten, bis Malgrin ihn wieder brauchte. Sie gelangten auf ihrem Weg entlang der Rue de Tournon in die Rue Lobineau, genau an die Ecke, an der Lucienne Dantec dem Unhold begegnet war, der sie in die Villa des Professors getrieben hatte. Aufmerksam betrachtete Malgrin die Häuserfronten. Hier, abseits der großen Boulevards, herrschten Mietskasernen vor und triste Mehrfamilienhäuser. Irgendwo plärrte ein Radio. Eine Frau rief ihr Kind. Sie stand auf dem Balkon, eine bunte Kittelschürze an, hängte sich über die Brüstung, schaute nach allen Seiten. »Georgette«, schrie die füllige Dame mit weittragender Stimme. »Georgette, wo bist du?« Malgrin war immer bereit, zu helfen. Aber auch er entdeckte das Kind nicht. Ein einsamer roter Kinderball lag in einem Torweg. Der Kommissar hob ihn auf. »Gehört der Ihnen?« fragte er die schwarzhaarige, dickbusige Dame. Er mußte den Kopf in den Nacken legen, um hinauf73 �
schauen zu können, und blickte in ein fleischiges, erhitztes Gesicht mit vollen, üppigen Lippen. »Ja, Monsieur«, bestätigte die einsame Ruferin auf dem grauen Balkon, dessen Stein verwittert war und nach frischer Farbe schrie. Die Frau auf dem Balkon wurde blaß um die Nasenspitze. »Ich komme!« rief sie. Ihre Stimme klang schrill vor Angst. Malgrin begriff nicht, warum die Mutter so in Panik geraten war. Warum sollte ein Kind nicht einen Ball im Stich lassen, um sich einem anderen interessanten Spiel zuzuwenden? Madame Punard zeigte sich erfreut, als sich herausstellte, daß der unbekannte Gesprächspartner Kommissar der Kriminalpolizei war. »Ich glaube, daß Georgette entführt wurde«, flüsterte die Frau und warf einen scheuen Blick in Richtung der alten Villa, die inmitten eines riesigen verwilderten Parks lag. »Das war der Professor«, fügte die Frau ängstlich hinzu. »Malgrin wurde hellhörig. »Wie kommen Sie darauf?« »Ganz einfach«, wisperte die Dame. »Meine Tochter hatte ein Halstuch gefunden – dort – an der Mauer. Später kam ein junger Mann, der seine Verlobte suchte. Er behauptete, ihr gehöre dieses Halstuch. Dann ging er in das Haus des Professors.« »Können Sie den Mann beschreiben?« hakte Malgrin nach. »Tut mir leid. Ich habe ihn nicht gesehen. Ich berichte nur, was meine Töchter beobachtet hat.« Madame Punard zückte mit der Achsel und betrachtete eingehend den Kommissar. »Das ist Pierre gewesen«, seufzte Madame Leblanc. »Vielleicht«, dämpfte Malgrin ihren Optimismus. »Wir brauchen ja nur hinüberzugehen und uns zu erkundigen«, schlug Monsieur Leblanc vor. »Der Professor weiß sicherlich, wo Pierre abgeblieben ist.« 74 �
»Wie heißt er?« wandte sich der Kommissar an Madame Punard. »Cabanis«, erwiderte die Frau. »Er ist ein komischer Wicht. Vor ein paar Jahren ist er eingezogen, aber die Male, da ich ihn zu Gesicht bekommen habe, kann ich an den Fingern einer Hand abzählen. Er lebt wie ein Einsiedler hinter diesen dicken Mauern, schirmt sich gegen seine Nachbarn ab.« »Sicher hat er etwas zu verbergen«, mutmaßte Claude Leblanc. »Langsam, langsam«, mahnte Robert Malgrin. »Nicht jeder, der gern allein, bleibt, ist ein Gesetzesbrecher. Immerhin kann es nicht schaden, wenn ich mir den Professor einmal näher ansehe.« Malgrin winkte seinem Fahrer. Jean Baptiste fuhr vor und kurbelte das Seitenfenster herunter. »Ruf die Zentrale an, Jean!« befahl Malgrin. »Ich brauche alle Unterlagen über einen Professor Marc Cabanis.« »In Ordnung, Chef.« Jean nickte und griff zum Autotelefon. »Sie bleiben hier! Setzen Sie sich in den Wagen!« ordnete Malgrin an. »Ich selbst werde also die Höhle des Löwen betreten. Sollte ich in einer Stunde nicht da sein, alarmieren Sie die Präfektur.« Robert Malgrin, ein großer schlanker Mann, geschmackvoll gekleidet, überquerte die Fahrbahn. Er hatte dunkles, welliges Haar. Eigentlich erinnerte er mehr an einen Playboy, der einem Hobby nachging. Niemand sah ihm den Kriminalbeamten an, der Routinenachforschungen anstellte. Eher hätte man ihn für einen erfolgreichen Geschäftsmann j gehalten. Vergeblich suchte Malgrin nach einer Klingel. Er pochte an die Fronttür. Im Innern des Hauses wurden schlurfende Schritte laut. Ein Schlüssel drehte sich geräuschvoll im Schloß. Eine Sicherheitskette klirrte. Quietschend öffnete sich die Tür einen Spalt. 75 �
Fischaugen hinter dicken Brillengläsern funkelten den Besucher an. Malgrin hielt seinen Dienstausweis hin. »Ich suche Professor Cabanis«, erklärte der Kommissar. Seine Stimme klang ruhig und beherrscht. »Das bin ich«, erwiderte der Kurzsichtig« Die Tür schwang vollends zurück. Einladend wies eine schmutzige Hand den Weg. Robert Malgrin nahm das Angebot dankend an. Er betrat einen dunklen, kühlen Flur. Es roch wie in einem Krankenhaus. »Wollen Sie ablegen?« fragte Cabanis mit schriller Stimme. »Nicht nötig. Ich bleibe nicht lange«, erwiderte Malgrin und blickte sich suchend um. Da zuckte er zusammen. * »Welch eine absurde Situation«, sagte Pierre Leblanc. »Sie, ein hochintelligenter Mann, wissen sich nicht anders zu helfen, als uns mit einer Schußwaffe zu bedrohen.« »Außergewöhnliche Bedingungen rechtfertigen außergewöhnliche Maßnahmen«, wehrte sich Marc Cabanis. Er hielt das Gewehr auf den Knien. Der Professor und der Student saßen sich gegenüber. Lucienne Dantec hantierte in der angrenzenden Küche. Die Verbindungstür stand offen. Es gab nur einen Ausweg aus diesem Raum, der fensterlos war: durch das Esszimmer, in dem die beiden Männer sich aufhielten. Selbst wenn sie bereit gewesen wäre, Pierre im Stich zu lassen und ihr Heil in der Flucht zu suchen, hätte Lucienne den Professor passieren müssen. Und Cabanis sah nicht so aus, als hätte er das geschehen lassen. »Sie werden mir langsam zur Last«, mäkelte Cabanis. »Sie stö76 �
ren mich in meiner Arbeit. Ich versäume kostbare Zeit.« »Ich wüsste eine einfache Lösung: lassen Sie uns frei!« schlug Pierre Leblanc vor. »Dazu ist es zu spät.« Cabanis schüttelte den Kopf. »Ich habe verschiedene Gesetze gebrochen. Ich würde auf ein paar Jahrzehnte hinter Gittern verschwinden und könnte meine Arbeiten nicht mehr beenden. Das würde ich nicht überleben.« »Glauben Sie nicht, daß die Welt auf die wahnwitzigen Produkte Ihrer Experimente verzichten könnte?« startete der junge Mann einen Angriff, der darauf abzielte, Cabanis aus der Fassung zu bringen und ihn zu einem Fehler zu veranlassen. Pierre Leblanc wußte nur zu genau, daß ihre Rettung allein in der Flucht lag. Cabanis konnte niemals wagen, sie wieder auf freien Fuß zu setzen. Wahrscheinlich dachte er bereits über eine Möglichkeit nach, seine beiden Gefangenen schnell und ohne Aufsehen verschwinden zu lassen, sie endgültig auf eine Reise ohne Wiederkehr zu schicken. Lucienne Dantec bereitete aus dem wenigen, was die Vorratsbehälter hergaben, eine Mahlzeit. Die Zutaten verrieten, daß Cabanis nicht gerade zu den Feinschmeckern zu rechnen war. »Sie beide essen zuerst«, sagte der Professor grinsend. Er stellte sich neben das Fenster im Esszimmer. Sein Blick fiel auf die Straße. Er sah eine Gruppe von Menschen beieinander stehen, die zur Villa herüberschauten. In Cabanis Kopf klingelte es Alarm. Er hatte eine feine Nase für Polizisten. Dieser hochgewachsene elegante Herr hätte einer sein können. Er schaute forschend herüber. Vorsichtig zog sich Cabanis vom Fenster zurück. »Schluss damit!« befahl der Professor unwirsch. Er winkte ungeduldig mit dem Gewehr. Erstaunt ließ Pierre Leblanc vom Essen ab. Lucienne Dantec hatte ohnehin nichts angerührt. 77 �
»Ich bringe euch in den Keller«, erklärte der Professor. »Warum so eilig?« begehrte Leblanc auf. »Mund halten und Beeilung!« drängte Marc Cabanis. Sie eilten durch das düstere Treppenhaus. Im Erdgeschoß, auf der Diele, hockte eine riesige gefleckte Katze und zeigte fauchend den rosaroten Schlund mit den nadelspitzen Zähnen. Lucienne klammerte sich erschrocken an Pierre Leblanc. Ihre Nerven waren so empfindlich geworden, daß sie sogar vor einem Kanarienvogel die Flucht ergriffen hätte. Sie wurden im Eiltempo ins Labor bugsiert und stellten sich auf die bewusste Hebebühne. Cabanis grinste nur. »Nein«, er schüttelte den Kopf, »diesmal nicht. Wir würden zu eng beieinander sein, und Sie könnten mir das Gewehr entreißen. Also hier entlang, wenn ich bitten darf!« Er führte seine Gefangenen vor das Haus in den Garten. Einen Augenblick dachte Pierre Leblanc daran, laut um Hilfe zu rufen. Aber er verwarf diesen Plan wieder. Er hätte damit nur den Professor wütend gemacht und möglicherweise zu einer Torheit angestachelt. Cabanis war ohnehin erregt. Pierre Leblanc aber wußte, wie langsam und umständlich Nachbarn auf Hilferufe reagierten, immer bedacht, nicht in unerquickliche Affären verstrickt zu werden oder gar mit der Polizei in Kontakt zu kommen. Cabanis hätte seine Gefangenen seelenruhig beseitigen können, ehe einer der Nachbarn zum Telefon gegriffen hätte, um seine Wahrnehmungen den Gesetzeshütern zu melden. »Dort in das Gebüsch!« befahl Cabanis. Seine Stimme war schrill vor Erregung. Was hatte er gesehen, als er aus dem Fenster geschaut hatte? Nahte etwa schon der Retter? War Polizei aufgekreuzt, um Cabanis unschädlich zu machen? 78 �
Pierre Leblanc konnte diese Möglichkeit nicht ganz ausschließen. Gobineau war von Cabanis auf die Straße gelassen worden, während seine Gefangenen den Ausbruchsversuch gewagt hatten. Gobineau hatte den Flüchtigen den Weg abgeschnitten. Vielleicht aber hatte ihn dabei jemand gesehen? Pierre Leblanc bückte sich, um herabhängenden Zweigen auszuweichen. »Was soll dieses Theater?« murrte der Student. »Heben Sie den Deckel dort auf!« befahl Cabanis. Pierre Leblanc schob vorjähriges Laub zur Seite, das den Einstieg tarnte. Dann öffnete er den Schacht. Er sah eine runde, schulterbreite Röhre, die genau senkrecht in die Erde hinabführte. »Da gehe ich nicht hinunter«, sagte Pierre Leblanc, weil er der Sache tatsächlich nicht traute und um Zeit herauszuschinden. »Sie haben keine Wahl!« zischte Marc Cabanis. »Lassen Sie sich hinunter, oder ich drücke ab! Sie vergessen anscheinend immer wieder, daß ich längst nichts mehr zu verlieren habe. Ich könnte Sie aus reiner Bosheit töten, nur, um Sie mit ins Verderben zu reißen. Das ist Ihnen offenbar bei allem Scharfsinn völlig entgangen.« Pierre Leblanc resignierte. Vorsichtig schob er sich – Füße voran – in die hautenge Röhre. Seine Füße tasteten nach einem Halt. Er spürte eiserne Krampen unter den Sohlen. Die Streben waren in die Tunnelwände eingelassen. Pierre Leblanc warf einen Blick nach oben. Er sah das ängstliche Gesicht seiner Verlobten, die zu ihm hinunterschaute, und das hämische Antlitz des Professors, dessen dicke Brillengläser das Licht blitzend brachen und reflektierten. Pierre Leblanc tastete sich tiefer in die finstere Röhre vor. Es roch nach feuchtem Moos. Spinnennetze zerrissen unter seiner 79 �
Berührung, legten sich wie Schleier unangenehm über Gesicht und Nacken. Dann verlor Pierre den Halt. Die unterste Eisenstrebe war absichtlich so angebracht, daß sie bei geringster Belastung nachgab. Ein eisiger Schreck durchzuckte den jungen Mann, als er plötzlich frei in der Luft hing. Zwar hatte er in letzter Sekunde versucht, sich an einer Eisenkrampe festzuhalten, aber seine feuchten Finger glitten ab. Er stürzte in die Tiefe. Wie ein Torpedo sauste Pierre Leblanc in den Schlund der Erde. Die Höllenfahrt schien kein Ende zu nehmen. Leblancs Schrei widerhallte an den engen Wänden. Die Röhre machte einen scharfen Knick, führte fast waagerecht weiter. Das bremste die Geschwindigkeit des Abgestürzten erheblich. Pierre konnte aufatmen. Er spreizte die Hände, suchte nach einem Halt. Aber nirgends fand er eine Möglichkeit, sich festzuklammern, die Fahrt ins Ungewisse zu unterbrechen. Schließlich landete Pierre Leblanc in einer Art Grabkammer, tief unterhalb des Grundwasserspiegels. Das machte sich in der ungenügend isolierten Zelle dadurch bemerkbar, daß der Fußboden knietief unter Wasser stand. Mit mäßigem Tempo landete der Gefangene in der stinkenden, morastigen Brühe, die an den Wänden hochschwappte und mit einem widerlichen Geräusch wieder zurücktropfte. Hier unten herrschte eine ägyptische Finsternis. Die Luft war abgestanden und legte sich beklemmend auf die Brust des Gefangenen, der sich vergeblich zu orientieren versuchte. Wo blieb Lucienne? Was hatte der wahnsinnige Professor mit ihr vor? * 80 �
»Was haben Sie mit Pierre angestellt?« schrie Lucienne Dantec verzweifelt, und der Professor sah sich veranlasst, drohend die Schrotflinte auf sie zu richten. »Marsch ins Haus!« befahl Cabanis. »Sonst landen Sie da, wo Ihr Freund abgeblieben ist. Und ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß dort noch niemand überlebt hat. Wer dort hinabgefahren ist, der hat die Welt nie wieder gesehen.« »Wir… Pierre ist nicht der erste?« stammelte Lucienne Dantec entsetzt. Sie ahnte, was ihr blühte, wenn der eher verschwiegene Professor Marc Cabanis sie so unverblümt auf dunkle Flecken in seiner Vergangenheit aufklärte. Cabanis war äußerst gereizt. Hektische rote Flecken prangten auf seinen eingefallenen Wangen. Er stieß Lucienne vor sich her. Immer wieder bohrte er ihr den Lauf der Schußwaffe in den Rücken, trieb sie zur Eile an. Im Haus bugsierte er seine Gefangene in das Labor. Gobineau empfing seinen Herrn und Meister winselnd wie ein Hund. Er konnte den Blick nicht von Lucienne lassen, wagte aber nicht, handgreiflich zu werden. Angst und Gier stritten sich in der Brust des häßlichen Unholds. Furcht vor seinem Bruder gewann die Oberhand. Mochte der Teufel wissen, mit welchen unmenschlichen Torturen, Elektroschocks und Hieben Marc Cabanis diese dämonische Macht über sein Geschöpf errungen und behauptet hatte. Cabanis versetzte dem riesigen Burschen einen gehörigen Tritt. »Scher dich nach oben! Oder willst du wieder in deine Zelle zurück?« giftete der Professor. Das Scheusal trollte sich mürrisch, blickte sich immer wieder nach der Frau um und grinste satanisch, als wäre er überzeugt, doch noch zum Ziel zu gelangen. 81 �
»Machen Sie den rechten Arm frei!« befahl Cabanis unwirsch. »Und wenn Sie mich erschießen, ich tue es nicht«, blieb Lucienne Dantec standhaft. Cabanis richtete sich steil auf. Sein spitzes Gesicht erinnerte mit dem faltigen, dünnen Hals an eine Kobra vor dem Angriff. Seine verzerrten Froschaugen hinter den dicken Gläsern fixierten die Gefangene. Cabanis sagte nichts. Lucienne nahm das Duell an. Sie hielt dem Vipernblick des Professors stand, bis er den Blick senkte und nickte. »Gut«, sagte Cabanis, »dann muß ich mir eben etwas anderes einfallen lassen.« Dabei wandte er sich halb ab. Urplötzlich schnellte er herum. Der Kolben der schweren Schrotflinte knallte unter das Kinn Lucienne Dantec. Mit einem spitzen Schmerzensschrei fiel die Gerichtsreporterin zu Boden, blieb benommen liegen. Wie in Trance ließ sie alles mit sich geschehen. Cabanis streifte ihr den Ärmel des Ballkleides hoch, das Lucienne Dantec noch immer trug und das schon erheblich gelitten hatte. Mit geübten Griffen holte Cabanis eine Injektionsspritze aus der Sterilisationsschale und packte eine 18er Kanüle aus. Er fischte eine Ampulle aus dem Medizinschrank, feilte die Spitze an und schob die Nadel hinein. Langsam zog er die Spritze auf, desinfizierte Luciennes Armbeuge und jagte die Nadel unter die Haut. Der Professor drückte den Kolben herunter. Gleichzeitig massierte er mit dem Daumen der Linken die Stelle, in die er die helle Flüssigkeit injizierte. Lucienne Dantec merkte, daß ihr siedendheiß wurde. Dann hatte sie das Gefühl, zu sterben. Sie fror plötzlich entsetzlich. Die Kälte begann in den Füßen. Sie kletterte langsam höher, ergriff Besitz vom ganzen Körper. Lucienne vermochte sich nicht mehr 82 �
zu rühren. Sie wollte sprechen und brachte keinen Ton über die Lippen. Ihr Gesicht war wie eine gefrorene Maske. Mit Entsetzen stellte Lucienne fest, daß selbst die Augen ihr nicht mehr gehorchten. Sie konnte nur noch auf einen festen Punkt vor sich starren. Zufrieden beugte sich Cabanis über sein Opfer, überprüfte die Reflexe und nickte anerkennend. «Sie können sich nicht rühren und nicht regen. Selbst Ihre Atmung ist auf ein Minimum gesunken. Ihr Bedarf an Sauerstoff ist erstaunlich gering. Sie können kein Lebenszeichen von sich geben. Ein Laie würde Sie für tot halten. Aber Sie hören alles. Ihr Bewußtsein funktioniert. Nichts entgeht Ihnen. Jetzt stellen Sie sich eine Sekunde vor, ich würde mein Spiel auf die Spitze treiben und einen Totenschein ausstellen. Ich könnte das. Ich besitze entsprechende Formulare. Und es wäre ein leichtes, einen Bestattungsunternehmer damit zu beauftragen, Sie endgültig verschwinden zu lassen. Die machen das sehr nett und würdevoll.« Gabanis kicherte diabolisch. »Ich begnüge mich damit, Sie in einen Schrank zu stellen. Sie werden dort so lange ausharren, bis ich meinen Besuch abgefertigt habe. Dann erlöse ich Sie aus Ihrer Totenstarre. Ich muß mich beeilen, der Herr wird ungeduldig.« Marc Cabanis packte Lucienne Dantec um die Hüfte und schleifte sie mit einiger Anstrengung in das angrenzende Zimmer, in dem er allerhand Gerumpel aufbewahrte. Er legte sie einfach auf den Boden, umstellte sie mit alten Kartons und deckte sie mit einer stinkigen Wolldecke zu. Dann huschte er hinaus und knipste das Licht aus. Der Schalter befand sich im Labor, neben dem Abstellraum. Der irre Professor rieb sich grinsend die Hände. Er hatte seine Verhältnisse soweit geordnet, daß er einen Besuch verkraften konnte. Die ungeduldigen Faustschläge des 83 �
Besuchers hallten durch das weite Haus. Lange konnte die morsche Tür einer solchen Behandlung nicht gewachsen sein. Marc Cabanis schlurfte die Stufen und den langen Korridor hinunter und öffnete mit einem Ruck die Tür. »Kommissar Malgrin«, murmelte der junge Mann. »Sind Sie nicht ein bisschen jung für einen solchen Titel?« fragte der Professor mißtrauisch. »Nun, ich lasse mich gern belehren. Heute ist alles möglich.« Malgrin zückte schweigend seinen Dienstausweis und hielt ihn Cabanis unter die spitze Nase. »Schon gut, schon gut«, krächzte der Professor. »Ich glaube Ihnen.« »Darf ich hereinkommen?« erkundigte sich Malgrin höflich und versuchte an Cabanis vorbei in das Innere des Hauses zu spähen. »Nur, wenn es sich nicht vermeiden läßt. Ich möchte natürlich nicht, daß Sie den Eindruck gewinnen, ich hätte etwas zu verbergen. Wollen Sie ablegen?« schrillte die unangenehme Fistelstimme des Professors. »Nicht nötig. Ich bleibe nicht lange«, erwiderte Malgrin und schaute sich suchend um. Sein Blick fiel auf eine monströse Uhr. Er zuckte zusammen. In den Augenhöhlen eines Totenschädels zirkulierten bunte Leuchtzeiger, vermutlich von einem Batteriewerk getrieben. Gerade öffneten sich knirschend die bleichen Kinnladen. Die verzerrte Stimme eines Menschen sagte röchelnd die Zeit an. »Finden Sie etwas makaber, nicht wahr?« Der Professor grinste. »Ich habe eine Vorliebe für technische Spielereien. Dies hier ist noch gar nichts,.« Malgrin äußerte sich nicht dazu. 84 �
Er folgte dem Professor in das Wohnzimmer, das neben der Bibliothek lag. Der Kommissar nahm Platz. »Womit kann ich dienen?« fragte Cabanis. Er saß auf der Kante seines Sessels und preßte die Fingerkuppen gegeneinander, während Malgrin die Beine leger gekreuzt hatte und sich entspannt gab. »Ich suche einen gewissen Pierre Leblanc und seine Verlobte Lucienne Dantec«, antwortete der Kommissar. »Warum kommen Sie dann zu mir?« entrüstete sich Marc Cabanis. »Glauben Sie, ich wecke Menschen in Einmachgläsern ein, oder ich zerstampfe sie in einem Mörser?« »Das haben Sie jetzt gesagt«, entgegnete Robert Malgrin beherrscht. »Ich bin nur zu Ihnen gekommen, weil ein Mädchen behauptete, sie habe Pierre Leblanc zu Ihnen geschickt.« »Welch ein Unsinn«, schnaubte Marc Cabanis. »Warum hätte das kleine Mädchen das tun sollen? Es kannte Leblanc vermutlich nicht persönlich – oder etwa doch?« »Keineswegs. Leblanc war auf die Kleine zugegangen, weil sie ein Halstuch trug, in dem er das seiner Verlobten zu erkennen glaubte. Das kleine Mädchen wollte das Halstuch an der Mauer zu Ihrem Grundstück gefunden haben.« »Behauptet dieses Kind, wie?« »Allerdings«, bestätigte Kommissar Malgrin. »Und ich würde diesen Vorwurf nicht auf die leichte Schulter nehmen. Bislang habe ich die eben erwähnten Aussagen zwar nur von der Mutter des Kindes gehört, aber es scheint so, als besitze die kleine Georgette Punard ein ausgezeichnetes Beobachtungsvermögen. Es wird Ihnen schwerfallen, die Zeugin der Lüge zu überführen.« »Papperlapapp«, erwiderte der Professor und begleitete seine Worte mit einer wegwerfenden Geste. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen.« »Dann haben Sie sicher auch nichts dagegen, wenn ich mich 85 �
hier ein wenig umschaue?« hakte Malgrin nach. »Natürlich könnte ich einen Untersuchungsrichter anrufen und mir einen Haussuchungsbefehl ausstellen lassen. Aber vielleicht werden wir uns auch so einig?« »Tun Sie, was Sie für richtig halten«, brummte Marc Cabanis nach kurzer Überlegung. »Ich führe Sie gern durch mein Haus, Kommissar.« Sie erhoben sich. Malgrin besichtigte mit mäßigem Interesse das Erdgeschoß, in dem eine Küche, das Wohnzimmer, die Bibliothek und das Labor lagen. Erst im Versuchsraum wurde Malgrin hellwach. »Ich verstehe zwar nichts von solchen Dingen«, gab der Kommissar zu, »aber ich meine, dies hier ist ein Computer, der irgendwelche Kommandos und Regieanweisungen gibt, die per Draht an die Chemischen Lösungen in diesen Gefäßen weitergeleitet werden und irgendwelche chemischen Reaktionen hervorrufen.« »Sie haben es erfasst«, sagte Cabanis freundlich. »Ich bewundere Ihre Kombinationsgabe, Monsieur.« Marc Cabanis gab sich ausgesprochen servil. Er gehörte zu jener beneidenswerten Sorte Mensch, die bei veränderten Machtverhältnissen blitzschnell von Despot auf kopfnickenden Diener umschalten können. »Wollen wir jetzt nach oben gehen?« fragte er eifrig. »Nicht so hastig«, winkte der Kommissar ab. »Was ist dort hinter der Tür?« Er wies auf den Abstellraum, in dem Lucienne Dantec in ihrer Totenstarre lag, unfähig, sich bemerkbar zu machen, aber hellwach. Sie bekam jedes Wort mit. Sie fieberte darauf, entdeckt und gerettet zu werden, aber sie konnte nichts tun, um das Gelingen herbeizuführen. Sie war nicht mal in der Lage, ein Stöhnen oder irgendeinen Laut von sich zu geben, der dem Polizisten den Weg gewiesen hätte. Sie lag einfach unter 86 �
der stinkigen Wolldecke und wartete. »Eine Rumpelkammer, Monsieur«, versicherte der Professor. »Ich möchte nicht, daß Sie sich dort schmutzig machen. Aber wenn Sie darauf bestehen, öffne ich die Tür.« Malgrin signalisierte Einverständnis. Cabanis schloß auf, riß die Tür weit auf, wies einladend auf das Durcheinander und grinste spöttisch. Malgrin steckte den Kopf in den halbdunklen Raum. Als seine Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah er eine alte Truhe, verschiedene schadhafte Weidenkörbe und alte Möbel. Dazwischen türmten sich Berge alter Zeitungen, Decken, Polster und eine Stall-Laterne. »Den Müll habe ich teilweise von meinem Vorgänger übernommen«, erläuterte Marc Cabanis. »Wenn Sie Verwendung dafür haben, suchen Sie sich aus, was Sie brauchen.« »Danke.« Malgrin winkte ab. »Ich unterschätze nicht den wissenschaftlichen Wert alten Hausrats, aber ich käme ebenso wenig darauf, mir alte Tonkrüge aus der Römerzeit in mein Wohnzimmer zu stellen, wie ein Mensch des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts sich entschließen könnte, plötzlich unsere Waschmittelverpackungen zu sammeln. Alt ist nicht automatisch gleichbedeutend mit wertvoll oder gar schön.« Robert Malgrin wandte sich ab. Der Professor verriegelte schnell die Tür, die sein Geheimnis barg. »Hier entlang«, sagte er und atmete unmerklich auf. Cabanis mußte sich selbst ein Lob aussprechen. Er hatte seine regungslose Gefangene so geschickt getarnt und den Blicken Neugieriger entzogen, daß erst eine äußerst gründliche Untersuchung die Wahrheit ans Tageslicht gebracht hätte. Sie stiegen schadhafte Stiegen hinauf in den ersten Stock. Die Villa war mit einem gewaltigen Innenhof und einer Galerie angelegt worden. Braune Mahagonigeländer liefen rings um den 87 �
Lichthof, in dem früher wohl grüne Gewächse gestanden haben mochten, Clubsessel und Rauchertische. Jetzt standen dort mehr oder weniger makabre Produktionen aus der Forschungsarbeit des schrulligen Cabanis. »Ich hätte Ihnen gern diesen Weg erspart, Herr Kommissar«, sagte der Professor laut und deutlich. »Sie werden auch hier nichts entdecken. Aber es war Ihr eigener Wunsch.« Ein lautes Pochen unterbrach ihr Gespräch. Marc Cabanis wurde bleich. Erst als er die Quelle des Geräusches geortet hatte, atmete er auf. Das Klopfen kam von der Haustür. »Sicher einer Ihrer Leute«, meinte Cabanis erleichtert. »Ich werde ihm öffnen.« Der Professor eilte die kurze Treppe hinunter. Jean Baptiste, der Fahrer Malgrins, tauchte mit einem dicken Briefumschlag auf. Baptiste drängte grußlos herein, sah den Kommissar und eilte zu ihm. Wortlos überreichte er das Couvert. »Neuigkeiten?« forschte Cabanis und versuchte, dem Kommissar über die Schulter zu lugen. Aber er war zu klein. »Nicht für Sie«, antwortete Malgrin sarkastisch. »Ich habe nur Ihre Polizeiakte angefordert. Jedenfalls einen Strafauszug.« Marc Cabanis schnitt eine Grimasse. Da wurden bei ihm Wunden aufgerissen, die noch nicht verheilt waren. Die Strafen wegen Vivisektion hatten ihn aus der Bahn geworfen und waren schließlich der Anstoß dafür gewesen, daß er, ohne Kontakte zu Fachkollegen, weitergearbeitet und sich immer mehr von den Quellen einer zu verantwortenden Naturwissenschaft entfernt hatte. Er tröstete sich in der Regel damit, daß es auch Physiker gab, die den Militärs aller Staaten zu Diensten waren und nichts anderes anrichteten als er selbst: eine völlige Abartigkeit des an sich positiven menschlichen Dranges, zu forschen und zu erken88 �
nen. »Eine ganze Latte von Strafen«, stellte der Kommissar fest. Er machte das absichtlich, um Cabanis zu verunsichern. Der Professor bewahrte nur mit Mühe Haltung. Jean Baptiste stand teilnahmslos dabei. »Brauchen Sie mich noch, Monsieur?« erkundigte sich der Chauffeur. »Nein, Jean. Oder doch. Was ist mit dem Mädchen?« »Mit Georgette Punard?« vergewisserte sich Jean Baptiste. Der Kommissar nickte. »Sie ist wieder aufgetaucht. Sie ist einem Zirkuswagen gefolgt, zusammen mit anderen Kindern des Viertels. Sie ist jetzt bei ihrer Mutter.« »Wen suchen Sie eigentlich wirklich?« mischte sich Marc Cabanis ein. »Mir haben Sie von einem jungen Mann und einem Mädchen erzählt. Jetzt erkundigen Sie sich nach dem Schicksal eines Kindes. Glauben Sie, ich hätte halb Paris verschwinden lassen?« »Ich glaube niemals etwas, wenn ich es nicht beweisen kann«, konterte Robert Malgrin, der Jahrzehnte jünger war als sein Gegner. »Und die Beweise hoffe ich hier zu finden. Es hätte im übrigen sein können, daß Sie auch die einzige Augenzeugin in Ihre Gewalt gebracht haben, die überzeugend darlegen kann, daß Pierre Leblanc dieses Haus betreten hat. Daraus könnte Ihnen der Richter durchaus einen Strick drehen. Verstehen Sie?« Malgrins Augen sprühten. Er hatte seine leidenschaftliche Anklage bewußt scharf formuliert. Marc Cabanis schreckte sichtlich zusammen. Er senkte schuldbewusst den Kopf und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Dann verschwinde ich jetzt«, sagte Jean Baptiste. Die Atmosphäre in diesem Haus versetzte ihn in Schrecken. Man spürte fast körperliches Unbehagen. Alles an diesem Gebäude atmete Verderben. Ein unsagbares Verhängnis schien 89 �
in diesen Mauern zu nisten, bereit, alle zu verschlingen, die sich darin aufhielten. Die scheußlichen Präparate des Professor Cabanis taten ein übriges. Er hatte sie überall aufgebaut wie Siegestrophäen eines Kopfjägers. Die »menschliche Uhr« im Hausflur war noch eine harmlose Requisite gegen den Rest der Schauwerke, die auf Regalen überall an den Wänden standen, in Alkohol gebadet, bleich und keimfrei. »In Ordnung«, sagte Kommissar Malgrin nachdenklich. Er konnte auf dem offenen Gesicht Jean Baptistes dessen Gedanken und Gefühle wohl ablesen. Ihm selbst erging es nicht anders. Er hatte ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend, seit er die Schwelle dieser Villa überquert hatte. Da war eine stumme Drohung, die sich nicht lokalisieren ließ, ein Ruch gebrochener Tabus und aller menschlichen Verbote, die eine rätselhafte Beklemmung verursachten, sobald man in ihren Bannkreis geriet. Cabanis hatte sich wieder gefangen. »Nur weiter, Kommissar«, drängte er schadenfroh. »Oben erwarten Sie ganz besondere Spezialitäten des Hauses. Die sollten Sie sich nicht entgehen lassen. Und vergessen Sie nicht, zu prüfen, ob diese Präparate nicht gegen irgendwelche einschlägigen Gesetze verstoßen. Dann könnten Sie mich wieder in den Blickpunkt einer sensationslüsternen Öffentlichkeit zerren.« Hass sprach aus dem bleichen, verzerrten Gesicht des Professors. In diesem Augenblick gellte ein Schrei durch das stille Haus, daß sich den Zuhörern die Nackenhaare sträubten. Jean Baptiste wirbelte am Fuße der Treppe herum. Der Chauffeur mußte sich am Geländer abstützen. Einen Augenblick sah es aus, als wollte er sich übergeben. So alarmierend wirkte der Notruf auf ihn, daß er sich verfärbte. Aus weit aufgerissenen Augen 90 �
starrte der Chauffeur auf seinen Chef. Robert Malgrin erstarrte. Dann riß er sich gewaltsam zusammen. Er stürmte die Stufen hinauf, suchte die Quelle dieses entnervenden Geräusches, das in ein langgezogeness Wimmern überging. Selbst Professor Marc Cabanis war zusammengezuckt. Er wußte mehr. Er wurde etwas bleich um die Nase, während er dem Kommissar in langen Sätzen nachhetzte. »Hier entlang!« schrie der Professor mit sich überschlagender Stimme und deutete auf eine Tür am Ende des Ganges. Dort ertönte ein befriedigtes Grunzen, wie es Schweine am Trog von sich geben. Und wieder schrillte dieser entsetzliche Schrei durch die Villa, hallte in Fluren und Korridoren wider und endete in einem Geheul, das nichts Menschliches mehr hatte. * Gobineau rannte ruhelos im oberen Stockwerk des Hauses herum. Der Albino besaß ein feines Gespür für Gefahren. Das Verhalten seines Bruders hatte ihm gezeigt, daß die Situation brenzlig wurde. Es war, als schleppte dieser Mensch, der aus der Retorte stammte, das Wissen um seine damalige Ergreifung und Hinrichtung noch mit sich herum. Er greinte und winselte, lief von einem Zimmer ins andere, und zwar so lautlos wie ein Nachttier im Wald. Keine Tür schloß sich hörbar, kein Fußtritt verriet die Anwesenheit des Scheusals. Gobineau hörte Stimmen im Hausflur. Der Riese mit dem stumpfen, breitflächigen Gesicht und dem Nussknackerkinn stand regungslos im oberen Stockwerk und horchte auf jedes Geräusch, das seine Ohren meldeten. Sein Gehör war überdurchschnittlich entwickelt, wohl als Ausgleich 91 �
für seine schwachen Augen, die in der Helle des Tages nicht viel taugten. ; Gewöhnlich verschlief der Mörder, die helle Zeit und wurde erst nach Einbruch der Dunkelheit aktiv. Dann allerdings auf eine animalische, zerstörerische Art, als wollte er in den wenigen Stunden zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang alles nachholen, was das Leben ihm vorenthalten hatte. Das Stimmengemurmel entfernte sich. Gobineau konnte keine Schlüsse ziehen aus dem, was ihm die Sinne meldeten. Sein Hirn war unterentwickelt. Er wurde beherrscht von seinen absonderlichen Launen und Instinkten, seinen Leidenschaften und Mordgelüsten. Er spürte nur, daß jede unmittelbare Gefahr zunächst gebannt schien. Aus Erfahrung wußte er, daß ihn kein Mensch zu Gesicht bekommen durfte. Das hatte ihm der Professor immer wieder eingeschärft. Von seinem Standpunkt aus handelte Gobineau logisch, als er versuchte, sich irgendwo zu verstecken. Er wollte nichts, als von der Bildfläche verschwinden. Barfuss tapste Gobineau die Treppe hinunter, atemlos, vorsichtig nach allen Seiten sichernd. Durch eine geschlossene Tür drangen Worte an sein großes, fleischiges Ohr, die der Unhold nicht verstand. Er spürte nur, wo die Gefahrenquelle lag und entfernte sich in die entgegengesetzte Richtung. Gobineau pirschte sich ins Labor. Verständnislos betrachtete der Hüne die blitzenden Instrumente und zuckte zurück, als ein Kontrollämpchen am Computer aufflackerte. Gobineau streckte die Pranke aus, berührte einen der feinen Golddrähte und bekam einen starken Stromschlag. Mit einem unterdrückten Wutschrei riß der hilflose Riese seine Schaufelhand an sich, massierte die Finger und jammerte leise. Er fiepte wie ein verlorenes Reh. 92 �
Der Kontrast zwischen der mächtigen Brust, dem bulligen Kopf mit dem blutgetränkten Mullverband und den feinen Lauten, die aus dem breiten Maul kamen, wirkte komisch. Gobineau wischte sich mit der Hand über den kahlrasierten Schädel, der einzigen Stelle an seinem Körper, die nicht von einem hellen Haarflaum bedeckt war. Dann zog sich der Bursche zurück. Unberechenbar wie ein Kind, verfiel der Riese wieder auf seinen ursprünglichen Plan. Er wollte sich verstecken und sah sich suchend um. Dabei fiel sein Blick auf die verwitterte Tür zur Abstellkammer. Gobineau grinste und lachte glucksend. Diesen Raum kannte er. Er hatte sich häufig darin aufgehalten. Dort konnte man sich ausgezeichnet verbergen und auch – spielen. Das winzige Zimmer war voll gestopft mit allerlei Gerumpel. Gobineau schlüpfte in das Halbdunkel. Dort fühlte er sich geborgen. Er sah jetzt besser und konnte die blinzelnden, tränenden Augen ausruhen, die von dem hellen Licht in anderen Räumen überanstrengt worden waren. Unbeweglich stand Gobineau in der Kammer und sicherte wie ein Tier auf der Flucht. Seine feine Nase meldete ihm fremde Gerüche. Da war etwas, was nicht zu Staub und Moder, Gerumpel und alten Decken paßte. Gobineau kannte Parfüm nicht, er nahm nur diesen erregenden Duft auf und schnüffelte suchend wie ein Jagdhund auf der Fährte. Sein massiger Kopf ruckte hin und her. Gobineau näherte sich der Quelle dieses verlockenden Geruches… Zielsicher näherte sich der Riese einer ausgebreiteten Decke hinter einem Stapel alten Plunders. E schlug sie zurück und winselte vergnügt. Er erkannte das Mädchen wieder, das seine Begierde bereits im Kellertrakt bis zum Wahnsinn aufgestachelt 93 �
hatte. Die Kleine rührte sich nicht. Sie schrie diesmal weder, noch verzog sie das Gesicht, noch versuchte sie sich zu wehren oder zu entkommen. Starr und steif wie eine Puppe lag sie vor den Krallen des Albino. Gobineau beugte sich über seine unerwartete Entdeckung. Sein heißer Atem strich über Gesicht und Hals Luciennes. Gobineau stupste den regungslosen Körper an. Er spürte die Kälte, die von der Regungslosen ausging und brummte enttäuscht. Wenn ihn etwas ärgerte, dann diese Kühle, die an Tod und Grab mahnte. Gobineau wollte sein Opfer warm und voller Leben. Der Albino bleckte das schreckliche Gebiss mit den verfärbten Zähnen, die nur wenig von Zahnfleisch bedeckt waren und weit und gefährlich hervorstanden. Das Mädchen reagierte überhaupt nicht. Luciennes Augen waren starr auf einen Sparren unter der Schräge des Raumes gerichtet. Dort hing eine Fledermaus kopfüber herunter. Das spitze Maul mit den kleinen tückischen Augen und den zusammengefalteten Flughäuten, die fast den Kopf verdeckten, baumelte genau über dem Gesicht des Mädchens. Gobineau folgte dem Blick Luciennes, bemerkte das Tier – ein Geschöpf der Nacht wie er. Gobineau grinste. War die Kleine deswegen wie zu Eis erstarrt? Er wollte ihr gern beweisen, wie wenig man sich aus diesen pelzigen Blutsaugern zu machen brauchte. Gobineau streckte die klobige Pranke aus, pflückte die Fledermaus aus dem Gebälk und nahm den winzigen Kopf zwischen seine Zähne. Klickend schlossen sich die gewaltigen Kiefer des Unholds. Sein fauliges Gebiss mahlte. Säuberlich trennten die Zähne den 94 �
Kopf vom Rumpf. Achtlos warf der Riese den leblosen Körper zur Seite. Blut tropfte aus den Mundwinkeln. Er spie den Schädel zu Boden und grinste irre. Dann stupste er wieder das Mädchen an. Bei Lucienne keine Reaktion. Da wurde Gobineau wütend. Er packte das Mädchen an den langen schwarzen Haaren, riß Lucienne hoch. Sie gab dem Zug nach, kam steif und starr hoch. Sie wirkte wie aus Holz. Gobineau nahm das federleichte Menschenbündel auf seine muskulösen Arme, schüttelte es wild. Dann sah er, daß langsam eine Träne aus den Augenwinkel des Mädchens rollte und in den Staub des Bodens kullerte. Gobineau feixte. Das, erste Lebenszeichen spornte ihn mächtig an. Wenn nur diese abweisende Kälte des Körpers nicht gewesen wäre, die sogar durch Gobineaus sackleinenen Kittel drang und ihn irritierte. Er wollte Leben in seinen Pranken halten, warmes, pulsierendes Leben. Gobineau schien wie gelähmt durch diese niedrige Temperatur, die Lucienne Dantec verströmte. Es war, als würde auch sein Killerinstinkt dadurch auf Eis gelegt. Unter anderen Umständen hätte er längst erbarmungslos zugepackt. Gobineau aber verfiel auf einen Ausweg, der nur ihm gangbar erscheinen konnte. Das Mädchen brauchte Wärme. Er wollte es sozusagen auftauen. Im oberen Stockwerk, in dem Zimmer, in das ihn Professor Cabanis geschickt hatte, gab es Heizsonnen. Gobineau machte sich auf den Weg. Er trug das Mädchen mühelos in seinen Armen, schlich sich die Treppe hinauf. Auf dem oberen Treppenabsatz legte Gobineau eine Pause ein. Er horchte. Geräusche meldeten ihm, daß Cabanis und sein 95 �
Besucher sich der Tür näherten. Gobineau huschte mit seiner Beute davon. Er trug das Mädchen in das letzte Zimmer auf der rechten Seite des langen Korridors, auf den alle Türen mündeten. Gobineau stutzte. Lucienne hatte sich geregt. Es war eine unmerkliche Bewegung der Augenlider, aber der Albino bemerkte es sofort. Er grunzte zufrieden. Natürlich konnte er nicht wissen, daß der Professor die Dosis der gefährlichen Droge sehr niedrig angesetzt hatte, um die Gefangene nicht zu töten. Er kannte den Kreislauf seiner unfreiwilligen Patientin und war von Natur aus vorsichtig. So skrupellos er ansonsten experimentierte, einen Mord wollte er sich nicht aufhalsen. Eine rätselhafte Scheu ließ ihn davor zurückschrecken, einen Menschen vom Leben zum Tode zu befördern – solange es sich vermeiden ließ. Gobineau aber, nicht geschult, Schlüsse zu ziehen oder Zusammenhänge zu erkennen, führte die Besserung im Befinden des Mädchens auf seine Bemühungen zurück. Er hatte eine Heizsonne angeschaltet… Das Infrarotlicht übergoss das Gesicht der Hilflosen wie mit Blut, sorgte für eine bessere Durchblutung und baute so die Wirkung der Droge schneller ab als gewöhnlich. Gobineau ging der Widersinn seiner Handlungen nicht auf. Er fand den Widerspruch nicht, der darin lag, daß er das Mädchen ins bewusste Leben zurückholte – nur, um wenig später seine mörderischen Instinkte an ihr auszutoben. Unendlich langsam öffnete Lucienne die Augen. Sie verkrampfte als sie den Albino sah, der unruhig um ihr Lager strich und sie immer wieder berührte. Lucienne konnte sich nur mühsam daran erinnern, wie sie in diese ausweglose Situation geraten war. Sie erinnerte sich an Pierre Leblanc, der vor ihren Augen in die Erde gefahren war 96 �
wie der Teufel persönlich. Wo mochte der verrückte Professor stecken? Warum ließ er den Albino auf sie los? Das konnte doch nur bedeuten, daß er seine Drohung wahr machen wollte und sein Faktotum dazu missbrauchte, den letzten unliebsamen Zeugen der Vorgänge mundtot zu machen. Lucienne Dantec wußte, das ihre letzte schwache Chance darin lag, sich einfach weiter tot zu stellen. Obgleich Gefühl zurückkehrte in ihre Beine, später auch in die Hände und die rätselhafte Lähmung der Gesichtsmuskeln schwand, hütete sie sich, ein Lebenszeichen von sich zu geben. Sie beherrschte sich mit aller Kraft, wenn sie die raue Hand des Albinos im Gesicht spürte, der immer wieder versuchte, Lucienne Dantec zu einer Reaktion zu veranlassen. Dabei winselte er wie ein Bluthund auf frischer Fährte. Lucienne Dantecs Versuch endete durch eine Ungeschicklichkeit. Auf dem Gang draußen wurden Stimmen laut. Lucienne Dantec erkannte die Fistelstimme des Professors. Gobineau preßte seine breite Hand auf den Mund der Gefangenen, als wollte er sie am Schreien hindern. Es war wohl nur eine Reflexhandlung. Das Mädchen aber verlor die Nerven und schrie los. Lucienne Dantec stieß Gobineau zurück. Plötzlich zeigte sie mehr Temperament, als der Albino zu hoffen gewagt hatte. Überrascht ließ er sich zurückweisen. Lucienne Dantec sprang von ihrem Lager auf und floh Richtung Tür. Der Albino erwachte aus seiner Erstarrung. Er hetzte hinterher. Gerade noch rechtzeitig erreichte er das Mädchen, packte es am Hals. Gobineau spürte Leben unter seinen Händen und drehte durch. Er riß sein abstoßendes Maul auf und brüllte vor Wut 97 �
und Vorfreude. Verzweifelt stemmte sich Lucienne Dantec gegen den Zugriff. Mühelos brach der Rasende jeden Widerstand. Gobineau hieb seine spitzen Zähne in den Hals Luciennes. Er trank von ihrem Blut. Lucienne Dantec schrie wie am Spieß. Sie spürte die Ohnmacht nahen, während das Scheusal sie bearbeitete, zu Boden riß und sich hechelnd über sie schob, ohne den gefährlichen Biss zu lockern. Vergeblich suchte das Mädchen den Albino abzuwerfen, bäumte sich gegen sein Gewicht auf. Gobineau schien wie von Sinnen. Brutal setzte er seine körperliche Überlegenheit ein. Seine Krallen schrammten über Gesicht und Brust Luciennes, krampften sich um ihre Gurgel, während er hemmungslos trank. Lucienne Dantec fühlte eine schauerliche Leere, eine wohlige Müdigkeit in den Gliedern. Ihr Widerstand erlahmte. Gobineau heulte auf – triumphierend, gierig. Er schleifte sein Opfer an den Haaren durch das Zimmer. Seine blutunterlaufenen Augen suchten das Werkzeug, das er am meisten liebte. Aber er fand keine Stricknadel. Da ließ er die Beute fahren und riß eine Gardinenstange aus der Verankerung, drehte den weißen Stiel einfach ab und erhielt so eine Mordwaffe. Spitz und zackig ragte die weißlackierte Stange aus seiner klobigen Faust. Langsam schlich der Mörder auf sein Opfer zu, wie im Blutrausch, unberechenbar. Lucienne Dantec schrie das Haus zusammen. Sie schob sich auf Händen und Füßen Richtung Ausgang, brachte den Tisch zwischen sich und dem Unhold. Sie sprang auf. Da ging Gobineau – rasend vor Wut – zum Angriff über. Er 98 �
drängte Lucienne Dantec samt Tisch einfach in die Ecke, nagelte sie fest und hob die Mordwaffe… * Kommissar Robert Malgrin mußte später zugeben, daß er nicht mehr dazu gekommen war, zu überlegen. Denn in dem Raum, den er betreten hatte, spielte sich eine entsetzliche Szene ab. Ein riesiger Kerl in einem Sackleinenkittel, barfuss und mit kahlrasierten Schädel, stand über einer blutenden Frau, die er bereits erheblich verletzt hatte. Sie blutete aus einer tiefen Halswunde und schien das Bewußtsein verloren zu haben. Gerade holte der Unhold zu einem neuen Stoß mit einer verschmierten blutigen Gardinenstange aus. Wahnsinn und Sadismus spiegelten sich auf seinem groben Gesicht. Der Kommissar riß seine Dienstpistole aus dem Schulterhalfter. Mit dem Daumen entsicherte er unterwegs, legte den Sicherungsflügel klickend herum, während der Zeigefinger der rechten Hand an dem Abzugsbügel klemmte. Die Waffe war bereits durchgeladen. Malgrin zog und schoß in einem Zug, zwar ohne genau zu zielen, aber immerhin ohne die Absicht zu töten. Er stellte befriedigt fest, daß die Kugel in die muskelbepackte Schulter des Angreifers fetzte und ihn zurückwarf. »Hände hoch!« brüllte Malgrin. Er erinnerte sich dunkel, dieses Mördergesicht schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber er kam nicht zum Nachdenken. Der riesenhafte Albino sprang ihn trotz der Schulterverletzung an wie eine Raubkatze, riß den Kommissar um und floh. Seine nackten Füße hinter ließen eine deutlich sichtbare rote Fährte. Denn er war in dem Blut herumgetappt, das Lucienne Dantec 99 �
verloren hatte. Malgrin sprang auf, rannte fast den Professor um und setzte dem Scheusal nach. Der Kommissar hörte im Erdgeschoß eine Tür ins Schloß fallen. Er kam zu spät. Weder entdeckte er den Albino im Haus, noch im Garten. Die Suche wurde Malgrin zu einem Alptraum. Er hatte noch nie in seinem Leben, so viele Scheußlichkeiten zu Gesicht bekommen, wie in der Sammlung des Professors enthalten waren. Malgrin lief zurück ins Haus. Jean Baptiste hatte sich aufgerafft, dem verletzten Mädchen erste Hilfe zu leisten und danach die Ambulanz angerufen. Malgrin rief die Präfektur an und bat um Verstärkung. Dann wandte er sich an den Professor. Marc Cabanis schien sichtlich erschüttert. Möglich, daß er all dies nicht gewollt hatte. Aber es war so gekommen. Und er hatte alle Voraussetzungen dafür geschaffen. Er zeigte sich nicht sonderlich einsichtig. Er verteidigte seine Arbeit mit dem Eifer des Fanatikers und merkte nicht einmal, wie abwegig seine Argumente waren. »Sie sind vorläufig festgenommen«, entschied Malgrin. »Jean, du bewachst den Professor! Ich werde erst einmal weitere Beweise sichern. Das Haus ist voll davon. Was ich bis jetzt gesehen habe, reicht bereits, um Cabanis den Prozess zu machen.« Malgrin betrachtete Lucienne Dantec, die bleich und erschöpft, mit geschlossenen Augen auf einer Couch ruhte. Der Kommissar erkannte sie sofort wieder. Er hatte Fotos von ihr gesehen. Er betrachtete ihr zerschlissenes Ballkleid und lächelte. Das hatte sich die Kleine auch nicht träumen lassen, als sie sich entschloss, die Einladung zu einem Tanzabend der medizini100 �
schen Fakultät der Sorbonne anzunehmen. Ihr Ausflug hatte reichlich lange gedauert. Glücklicherweise war er nicht tödlich verlaufen. Lucienne Dantec war nicht schwer verletzt und würde überleben. Das sah jeder Laie. Aber genauso sicher schien es, daß sie eine böse Narbe in der Halsgegend zurückbehalten würde. Ein bleibendes Andenken an ihre Erlebnisse im Haus des verrückten Professors. In der Ferne heulten Polizeisirenen. Sanitäter mit einer Bahre traten ein. Wenig später tauchten Leute vom Spurensicherungsdienst auf. Sie hatten auf Weisung von Malgrin Sachverständige mitgebracht, Naturwissenschaftler, die begutachten sollten, was es mit den Kreaturen des Marc Cabanis auf sich hatte. Malgrin selbst wagte kaum zu entscheiden, ob es sich um menschliche Lebewesen handelte oder Tiere oder lebende Pflanzen. Cabanis hatte so teuflisch experimentiert, daß er alle Unterscheidungsmerkmale mindestens in einem Punkt über den Haufen geworfen hatte. Seine Entzifferung und anschließende Abwandlung der vielfältigsten Gen-Codes hatte ein Durcheinander verursacht, das von einem Laien nicht mehr aussortiert werden konnte. Der Kommissar jedenfalls fühlte sich überfordert, ganz abgesehen von den schwierigen juristischen Problemen. War der Staat nun verpflichtet, all diese Geschöpfe einer unsagbaren Experimentierwut aufzubewahren, zu hegen und zu pflegen, oder durfte man unbesorgt die Lebensbedingungen dieser Monstren vernichten? Uniformierte Flics aus der nahen Polizeiwache in der Rue de Tournon sperrten den Schauplatz des Verbrechens ab. Sie hielten die Neugierigen zurück und verjagten die Reporter, die auf allen möglichen Schleichwegen versuchten, sich einen Überblick zu verschaffen. Die Sanitäter legten die Verletzte vorsichtig auf die Bahre, nachdem sich ein Polizeiarzt davon überzeugt hatte, daß Luci101 �
enne Dantec transportfähig war. In diesem Augenblick schlug das Mädchen die Augen auf. Es blickte erstaunt und verständnislos in lauter fremde Gesichter. Langsam erinnerte Lucienne sich an das, was ihr widerfahren war. Ihr Gesicht verzog sich. Sie hatte starke Schmerzen. Malgrin stellte sich vor, nachdem ein Arzt die Zustimmung erteilt hatte. Er fragte die Verletzte nach dem Schicksal ihres Verlobten. Lucienne Dantec erschrak. »Im Garten«, flüsterte sie. »Cabanis hat ihn in einer Grabkammer unter der Erde gefangen gesetzt. Der Eingang ist in einem Gebüsch.« »Könnten Sie uns die Stelle zeigen?« fragte Robert Malgrin. Lucienne nickte. Auf einen Wink des Kommissars trugen die Sanitäter das Mädchen hinaus, Mit leiser Stimme gab es die Richtung an. Ein Trupp von Polizisten begleitete das Suchkommando. Jean Baptiste und Professor Cabanis blieben im Haus. Zwei Uniformierte hatten sich zu dem Gefangenen gestellt und beobachteten jede Bewegung. »Dort ist es«, flüsterte Lucienne. Malgrin drang in das Buschwerk ein. Er entdeckte eine stählerne Röhre, die senkrecht in die Erde führte. »Hallo!« rief der Kommissar. »Hören Sie mich? Hier spricht Malgrin. Hören Sie mich? Antworten Sie, Leblanc!« Vergeblich lauschte der Kommissar. Hinter ihm entstand ziemliche Bewegung. Wütend drehte sich Malgrin um. Da standen die Eltern des Vermissten. »Was ist mit Pierre?« fragte die Frau. Die beiden Alten hielten sich an den Händen. Sie waren sehr aufgeregt. Niemand hatte sich um sie gekümmert, sie eingeweiht oder mit dem Stand der Ermittlungen vertraut gemacht. 102 �
Dann hatten sie es nicht länger vor dem Haus ausgehalten. Sie waren von einem Polizisten durchgelassen worden, der wußte, daß sie zu Kommissar Malgrin gehörten. Malgrin wandte sich an den nächsten Flic. »Besorgen Sie ein paar Abschleppseile! Die Streifenwagen müßten welche dabei haben. Beeilen Sie sich!« Der Uniformierte grüßte überflüssigerweise, ehe er kehrtmachte und davonrannte. Malgrin seufzte. »Gleich wissen wir mehr«, tröstete er den Korsen, der ihn unverwandt anstarrte. Der Polizist kehrte mit den dünnen Drahtseilen zurück. Hilfreiche Hände halfen, die einzelnen Stücke aneinander zu befestigen, um ein hinreichend langes Halteseil zu schaffen. Malgrin legte seinen teuren Mantel ab und das Jackett seines maßgeschneiderten Anzugs. »Es müßte doch noch einen anderen Zugang geben«, murmelte ein Flic. »Sie begeben sich vielleicht völlig unnötig in Gefahr.« »Daran habe ich auch schon gedacht.« Robert Malgrin nickte. »Aber wie mir Mademoiselle Dantec sagte, hat der Professor behauptet, es gäbe nichts dergleichen. Also muß ich es auf diesem Wege versuchen.« Malgrin schlang sich das eine Ende des langen Seils um die Brust und knüpfte es mit einiger Mühe zu einem kunstgerechten Knoten, dessen Haltbarkeit er sorgfältig prüfte, ehe er sich ihm anvertraute. Vorsichtig stieg der Kommissar ein. Seine breiten Schultern berührten die Wände der engen Röhre. Er benutzte die eingelassenen Eisenstreben, die etwa in einem Abstand von fünfzig Zentimetern angebracht waren. Leise zählte Malgrin mit. Er kam bis vierzehn, ehe sein tastender Fuß ins Leere trat. 103 �
»Achtung da oben!« schrie Malgrin. »Ich hänge mich jetzt mit dem ganzen Gewicht ans Seil.« »In Ordnung, Kommissar«, antwortete eine laute Stimme. Als Malgrin nach oben schaute, sah er die Uniformmützen zweier Polizisten, die ihn sicherten. Sie hatten sich das andere Ende des Seils über die Schultern gezogen und bremsten mit bloßen Händen. Langsam wickelte sich das Halteseil ab. Malgrin hing in der Luft. Mit den Händen vermied er, daß er zu stark in Pendelbewegungen geriet. Die Röhre war feucht und kalt. Immer wieder stieß der Kommissar mit den Schultern an. Die Fahrt in die Tiefe nahm kein Ende. Hoffentlich reicht das Seil, dachte Robert Malgrin. Auf halber Strecke rief er noch einmal nach Leblanc. Diesmal erhielt er Antwort. Schwach und kaum verständlich antwortete eine menschliche Stimme. Malgrin befahl den Polizisten, ihn weiter hinabzulassen. Nach etwa zehn Metern hatte er es geschafft. Er hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Erstaunt stellte er fest, daß die Röhre hier einen scharfen Knick machte und nur noch mit sanftem Gefälle weiterführte. »Hier bin ich!« drang schon wesentlich deutlicher die Stimme des jungen Leblanc an das Ohr des Kommissars. »Können Sie nicht hierher kommen?« fragte Malgrin. »Es geht nicht. Ich stecke in einer Grube, die zu tief ist, um an die Röhre zu kommen. Sie müssen mich schon herausziehen«, erwiderte der Eingeschlossene. »Wie tief ist die Kammer?« erkundigte sich der Kommissar. »Etwa drei Meter«, gab der Gefangene Auskunft. »Das entspricht einem Abschnitt des Seiles, an dem ich hänge«, überlegte Malgrin laut. »Warten Sie, ich knüpfe den letzten Teil los und ziehe Sie damit heraus.« 104 �
Malgrin gab den Polizisten oben ein Zeichen. Sie hielten sofort an. Der Kommissar löste sich von der Sicherungsleine und hangelte sich ein Stück nach oben. Die beklemmende Enge der Röhre erleichterte ihm seine Aufgabe nicht gerade. Er schaffte es. Aufatmend löste er die Verbindung. Das Drahtseil klatschte in die Tiefe. Malgrin schwebte jetzt drei Meter über der Schräge des Tunnels. Wenn er sich fallen ließ, bestand die Gefahr, daß er in einem Rutsch bis in die Grube glitt, in der Pierre Leblanc ausharrte. Malgrin biss sich auf die Lippen. Er kannte das Wagnis. Andererseits mußte er sich beeilen. Zu deutlich war Leblanc die Ungeduld anzumerken. Es bestand Gefahr, daß der Junge durchdrehte. Ihm mußte schnell und auf der Stelle geholfen werden. Robert Malgrin ließ sich entschlossen fallen, nahm sofort Beine und Arme auseinander und bremste mit aller Kraft ab. Unterwegs nahm er das Seil mit. Er erlebte einige unangenehme Sekunden, bis er unmittelbar vor der Grube zum Halten kam. Seine Hände brannten. Die Hose war ruiniert. Sein Körper war zerschunden. Malgrin knipste die Taschenlampe an, die er mitgenommen hatte. Der Strahl geisterte über tropfnasse Wände. Der Lichtkegel entriss den Gefangenen der Dunkelheit. Gut drei Meter unterhalb des Punktes, an dem sich der Kommissar befand, stand zitternd vor Kälte Pierre Leblanc und starrte in das Licht der Lampe, als wäre ihm der Stern von Bethlehem erschienen. Dort, wo Malgrin stand, fiel die Röhre noch einmal steil ab, verbreiterte sich tief unten zu einer Höhle von etwa zwei Quadratmetern. Allein wäre Leblanc dieser Falle nicht entkommen. »Ich lasse Ihnen das Seil herunter«, kündigte Robert Malgrin an. »Sind Sie kräftig genug, um sich daran festzuhalten, damit 105 �
ich Sie heraufziehen kann?« »Bestimmt«, versicherte der Student. »Das schaffe ich schon. Ich bin froh, wenn ich hier herauskomme. Wie geht es Lucienne?« »Sie ist verletzt worden von diesem Albino. Er heißt Gobineau, wenn ich mich nicht irre«, berichtete der Kommissar. »Aber es ist nicht schlimm. Sie wird in ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein. Sie konnte uns sogar noch hierher führen.« »Was ich mit diesem Professor Cabanis erlebt habe, reicht für den Rest meines Lebens«, sagte Pierre Leblanc .während er nach dem Seil angelte, das Malgrin ihm herunterließ. »Wollen Sie sich nicht doch lieber anseilen?« fragte der Kommissar. »Überschätzen Sie Ihre Kräfte nicht. Sie stecken schon eine ganze Weile in diesem finsteren Loch und sind sicher unterkühlt.« »Ich weiß, was ich mir zutrauen kann, Kommissar«, rief Leblanc. »Hauptsache, Sie verlieren den Stand nicht, sobald Sie versuchen, mich hochzuziehen.« Malgrin lachte nur. In diesem Augenblick hörte er über sich ein Tosen und Plätschern. Ein starker Wasserguß fiel herunter. Er machte die enge Röhre zu einer einzigen Rutschbahn. Die Sintflut nahm kein Ende. Der Sog wurde so stark, daß Malgrin den Halt verlor. Er glitt aus und stürzte in die Tiefe. Als er neben Pierre Leblanc unsanft landete, spritzte Wasser hoch, das den Boden der schmalen Kammer knöcheltief bedeckte. »Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten?« entfuhr es Malgrin. Aber nur das Rauschen des schnell steigenden Wassers antwortete ihm. Unheimlich schnell stieg der Wasserspiegel. Irgendein Tank entleerte seinen Inhalt in das Gefängnis. »Wir ertrinken wie die Ratten!« schrie Leblanc verzweifelt. Er stand bereits bis zu den Knien im Wasser. 106 �
Jetzt schüttete es wie aus Wannen. Oben, am Einstieg, schrien die Polizisten durcheinander, die dem Unglück hilflos zuschauen mussten. Etwa vier bis fünf Meter unterhalb des Mundstückes der Röhre schoß aus einem versteckten Stutzen Wasser und stürzte wie ein Katarakt hinunter, füllte den Gang aus. »Wir müssen versuchen, nach oben zu schwimmen, sobald die Lage sich beruhigt hat«, schrie Malgrin so laut er konnte. »Aber wann ist das?« antwortete Pierre Leblanc mit der ganzen Kraft seiner Lungen. Er klammerte sich hilfesuchend an den Kommissar. Sein Haar hing ihm ins Gesicht. Panik spiegelte sich in seinen Zügen. Er hielt nur mit Mühe das Gleichgewicht. * »Von hier können Sie alles viel besser beobachten«, sagte Professor Cabanis und ging langsam auf das Fenster zu. Seine beiden Bewacher folgten ihm argwöhnisch. Zwar trug Marc Cabanis Handschellen, aber die beiden Flics wussten, was ihnen blühte, wenn sie den Professor entwischen ließen. Malgrin konnte in solchen Dingen furchtbar hart sein. Und er besaß einen langen Arm. Ihm fiel jeder Beamte nur einmal unangenehm auf. Jean Baptiste, der Chauffeur des Kommissars, sagte: »Ich werde in den Garten gehen. Cabanis ist ja jetzt in guten Händen.« Die Flics nickten. Cabanis stand zwischen den Uniformierten. Er schaute genau wie sie aus dem Fenster in den weiten, verwilderten Garten, in dem sich eine ganze Gruppe von Polizisten um das Gebüsch scharte, in dem der röhrenförmige Zugang zur unterirdischen Kammer lag. 107 �
Marc Cabanis sah die Bahre mit den beiden Sanitätern. Lucienne Dantec, in offenbar wieder besserer Kondition, sagte irgend etwas zu Kommissar Malgrin, der sich langsam entkleidete. Mit Interesse beobachtete Marc Cabanis die Vorbereitungen zur Rettungsaktion und lächelte zynisch. Ihm konnte es nur recht sein, wenn sich auch der Kommissar in Gefahr begab und darin umkam. »Malgrin steigt runter«, sagte einer der Flics und kratzte sich ausgiebig hinter dem rechten Ohr. »Wenn das man gut geht«, murmelte der andere skeptisch. Er legte das biedere Gesicht in sorgenvolle Falten. »Seht euch euren Kommissar noch einmal gut an«, höhnte Marc Cabanis. und seine Froschaugen hinter den dicken Brillengläsern funkelten boshaft. »Der kommt nicht wieder.« »Wie meinen Sie das?« hakte der ältere der beiden Polizisten nach. Erschrocken wandte er sich an den Professor. Er packte ihn in der Aufregung am Arm und wahrscheinlich fester als beabsichtigt. »Ist das die Art der Pariser Polizei?« erkundigte sich der Professor in vorwurfsvollem Ton. »Vielleicht prügeln Sie noch ein Geständnis aus mir heraus, wie?« Er schüttelte die Hand des Uniformierten ab. »In Ordnung, ich erkläre es Ihnen«, versprach der Professor mit einem tückischen Grinsen. »Kommen Sie!« Die beiden Uniformierten folgten ihrem Gefangenen in der Erwartung, ein finsteres Geheimnis des Professors kennen zu lernen. Sie gingen in das Labor und sahen sich erstaunt um. Sie wussten mit dieser Anlage nichts anzufangen. Die Instrumente und ihre Anordnung waren ihnen unbekannt. Sie hatten Angst, einen 108 �
Fehler zu begehen. Was, wenn der Professor plötzlich eine Höllenmaschine auslöste und sich samt Bewachern und Haus in die Luft jagte? Bei diesem Burschen mußte man doch auf alles gefaßt sein. »Bleiben Sie stehen!« warnte der kleinere der beiden Flics. Cabanis drehte sich feixend um. Neben seinem Kopf, in der Wand, saß ein blitzender Hebel. Der Professor war am Ziel. Genau das hatte er erreichen wollen. Die beiden Polizisten waren blind in die Falle getappt. Mit einem blitzschnellen Griff seiner gefesselten Hände konnte Marc Cabanis zwei wichtige Zeugen aus dem Weg räumen: Kommissar Malgrin und Pierre Leblanc. Dann blieb nur noch Lucienne Dantec. Sie bereitete Cabanis am wenigsten Kopfzerbrechen. »Was wollten Sie uns zeigen?« erkundigte sich der ältere der beiden Männer und sah Cabanis fragend an. »Ich wollte Ihnen den Tod eines Kommissars zeigen«, spottete der Professor und riß den Hebel herunter. Nichts geschah, was die Polizisten hätte erschrecken können. Weder züngelten Blitze aus der Lichtleitung, noch erbebte das Haus in den Grundfesten, weil irgendwo eine Sprengladung hochging. Marc Cabanis merkte, daß er es den Uniformierten erklären mußte. »Dies hier löst einen Mechanismus aus, der den Verschluss eines Tanks öffnet. Wasser strömt in eine Tunnelröhre, an deren Grund sich eine Kammer befindet. Dort steckt ein gewisser Pierre Leblanc. Und Kommissar Malgrin ist gerade unterwegs, um den jungen Mann zu befreien. Ergebnis: beide ertrinken.« Professor Cabanis lächelte freundlich. Entgeistert starrte ihn der ältere Polizist an. »Und das geben Sie offen zu?« fragte der Flic. »Warum sollte ich nicht?« erwiderte Marc Cabanis ungerührt. 109 �
»Ich kann nur noch gewinnen. Ich gebe zu, Malgrin hat mich ein wenig in die Ecke gedrängt. Jetzt muß ich mit allen Mitteln versuchen, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Und ich habe vorgesorgt. Ich habe allerhand nette Überraschungen einbauen lassen – für den Fall, daß mich einmal die Polizei besucht. Oder denken Sie etwa, ich möchte noch einmal ins Gefängnis, wie damals in Lyon? Lieber sterbe ich. Was glauben Sie, was ich in den zwei Jahren im Zuchthaus durchgemacht habe? Das war kein Zuckerschlecken. Da geht es doch zu wie in einem Tollhaus. Da zählt nur Kraft, nicht Verstand. Da konnte mich jeder herumschubsen und kommandieren. Meine Zigarettenrationen durfte ich an jemanden abgeben, der sich mein Beschützer nannte und doch nichts für mich tat. Nein, vielen Dank. Davon habe ich genug.« Der Professor redete und redete, während er zwischen den beiden Polizisten herrannte, die ihn mit sanfter Gewalt abführten. Sie brachten den Gefangenen in den Garten. Dort herrschte beträchtliche Aufregung. Jemand schrie nach der Feuerwehr. Alle anderen waren sich darin einig, daß jede Hilfe zu spät kommen mußte. Zu gewaltig war der Wassereinbruch. In der engen Röhre, die senkrecht in die Erde führte, quirlte und wirbelte eine schmutzige dunkle Brühe. Treibholz tanzte darauf. Lucienne Dantec hatte sich von der Bahre gleiten lassen und kroch langsam näher, ließ sich auch von den besorgten Pflegern nicht zurückhalten. Sie trug einen blutgetränkten Halsverband, dort, wo Gobineau sie erheblich verletzt hatte. Tränen flossen über das ebenmäßige Gesicht des Mädchens, während es sich auf allen vieren an den Einstieg heranschob. Die langen schwarzen Haare umgaben Lucienne Dantecs Schultern wie ein Mantel. Sie sah erbarmungswürdig aus in ihrem zerschlissenen Ballkleid und den unpassenden Schuhen. 110 �
Fassungslos starrte die Kleine auf die Grabröhre, die Pierre Leblanc und Robert Malgrin gefangen hielt. Madame Leblanc ging zu Lucienne, kümmerte sich um sie. Sie fasste das Mädchen sanft um die Schulter, versuchte es von der Unglücksstelle fortzuziehen. Der Korse, Claude Leblanc, stand da wie versteinert. Sein Gesicht wirkte maskenhaft starr. Kein Muskel zuckte. Er blickte geradeaus, als hätte er mit alldem nichts zu tun, was sich da in seiner Nähe abspielte. Ein findiger Reporter konnte später in den Pariser Abendzeitungen über die dramatischsten Minuten im Ablauf der Polizeiaktion berichten. Er hatte sich auf den Balkon eines Nachbarhauses gestellt. Von dort besaß er einen brauchbaren Überblick und verfolgte mit Hilfe eines scharfen Fernglases die Vorgänge jenseits der hohen Mauer, die das Grundstück neben der Villa umschloss. Er ahnte, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein mußte. Die Menschen, die alle auf irgend etwas zu ihren Füßen gestarrt hatten, rannten plötzlich wie kopflos durcheinander und schrien. Der Reporter machte sich schnell einen Reim auf die Gesprächsfetzen, die er mitbekam. Er schilderte später mit herzzerreißenden Worten die Verzweiflung der nächsten Angehörigen, die Hilflosigkeit der Polizisten, die mit ansehen mussten, wie der bekannte Kriminalist Robert Malgrin elend umkam, ertrunken in Ausübung seines Dienstes. Der Kommissar selbst lachte später herzlich, als er die phantasievollen Stories las und meinte: »Macht nichts. Leute, die zu früh tot gesagt werden, haben meist ein langes Leben.« * 111 �
Gobineau drückte sich wimmernd in einen Hausflur, als er Stimmen hörte. Seine Schulter schmerzte höllisch. Der riesige Albino hatte viel Blut verloren. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann er zusammenbrach. Das Tageslicht, das er scheute, schmerzte ihn fast ebenso wie die Schussverletzung. Bisweilen taumelte er halb blind seines Weges, strich an Häuserfronten entlang, stieß gegen Zäune und fand nirgends einen Schlupfwinkel. Diese Welt war ihm fremd. Er kannte die Villa, die Zellen im Keller, in denen ihn sein Bruder gehalten hatte wie ein Tier, und allenfalls den Garten mit seinen mysteriösen Gewächshäusern, in denen Lebewesen vegetierten, die selbst einen Mann wie Gobineau das Fürchten lehren konnten. Gobineau wußte, daß er nicht in die Villa zurückkehren durfte. Sein Bruder war nicht da, um ihm zu sagen, was er zu tun hatte. So irrte der scheußliche Riese durch die Straßen – müde, hungrig, schwach. Einmal erschreckte er eine Frau mit seiner wüsten Larve, als er gerade unter einem Treppenabsatz hervorkroch, um seine Flucht fortzusetzen. Die mollige Person starrte fassungslos auf das Ungeheuer, ließ ihre Handtasche fallen und schrie Land und Leute zusammen. Mit einem heiseren Knurren griff der Albino an. Seine blutverschmierte Visage, sein lose herabbaumelnder Arm und seine gesunde Linke, mit der er die Frau packte, gaben ihr den Rest. Sie wurde ohnmächtig und glitt zu Boden. Gobineau, erlöst von dem Heidenlärm, der jeden Verfolger im Umkreis von hundert Metern angelockt hätte, sicherte nach allen Seiten. Irgendwo gingen Türen, wurden Schritte laut. Jemand knipste die Treppenhausbeleuchtung an. Mit einem Ruck warf der klobige Mann den Schädel in den 112 �
Nacken, plierte nach oben. Eine hübsche junge Frau, Lockenwickler im Haar, beugte sich in diesem Augenblick über das Geländer, um nach der Quelle des infernalischen Lärms zu forschen, der das Treppenhaus erfüllt hatte. Sie stand im ersten Stock, unmittelbar über dem Riesen. Die beiden sahen sich an, dann kreischte die Frau los. Gobineau winselte sehnsüchtig. Alte Begierden wurden geweckt. Er vergaß seine Wunde. Seine Schulter war fast steif. Trotzdem nahm Gobineau die Verfolgung auf. Er jagte die Stufen empor. Die Frau warf gerade die Wohnungstür ins Schloß. Eine Sicherheitskette klirrte. Noch immer schrie die Arme um Hilfe. Gobineau warf sich mit seinem haarigen Körper gegen die Türfüllung. Er schaffte den Durchbruch nicht. Da schob er seine Krallen unter die Tür, hob sie langsam an und nahm sie aus den Angeln. Wütend schleuderte er das Hindernis zur Seite. Holz splitterte. Gobineau – blind vor Mordlust – stellte die Frau im Wohnzimmer. Sie hatte sich eingeschlossen. Aber die große Scheibe bedeutete kein Hindernis für den Riesen mit dem Halsverband und dem kahlrasierten Schädel. Er schlug einmal mit der Faust zu und hatte freie Bahn. Die Frau stand längst auf dem Balkon und brüllte wie am Spieß. Der Fahrer eines Streifenwagens, der vor der Villa des Professors stand, wurde aufmerksam. Ungläubig stieg er aus, näherte sich mit gemessenen Schritten. Dabei knöpfte er die Uniformjacke zu. Er hatte in einer Zeitung den Sportteil gelesen, während sich seine Kollegen mit dem Professor und dessen geheimnisvoller Villa beschäftigten. »Beeilen Sie sich doch. Er kommt! Er kommt!« gellte die bedrängte Frau und richtete den Blick nach rückwärts. Der Flic nahm an, es handelte sich um einen der üblichen Ehe113 �
streitigkeiten, wie sie meist turbulent begannen und dann im Sande verliefen, offenbar nur dazu dienten, der Polizei das Leben so sauer wie möglich zu machen. Unterdessen stampfte Gobineau in den Raum. Ein wollüstiges Stöhnen drang aus seinem haarigen Brustkasten. Er streckte die gesunde Pranke aus, fetzte die Gardine zur Seite. Da sprang die Frau in ihrer Not. Sie schwang sich einfach über die Balkonbrüstung und segelte in die Tiefe, landete hart auf dem Pflaster der Straße, direkt vor dem erschrockenen Polizisten. Der Flic half ihr auf die Füße. Er blickte nach oben und fragte ungläubig: »Ist das etwa Ihr Mann?« Die Frau antwortete nicht, sie schluchzte. Teils aus Angst, teils, weil ihre Fußgelenke bei dem verzweifelten Sprung gelitten hatten. Gobineau schob seine wüste Visage über die Brüstung des Balkons. »Stehen bleiben!« brüllte der Polizist, der aus seiner Lethargie jäh erwachte. Er hatte erkannt, daß es sich bei diesem Wesen nicht um einen harmlosen Ehemann handeln konnte, der sich etwas heftiger als gewöhnlich mit seiner Frau gezankt hatte. Der Polizist riß seine Trillerpfeife heraus und blies Alarm. Dann rannte er mit gezückter Pistole ins Haus, um den Wahnsinnigen zu stellen, der die Frau überfallen hatte. Der Beamte nahm immer zwei Stufen auf einmal. Aber er kam trotzdem zu spät. Als er die Wohnung betrat, deren Eingangstür zertrümmert war, fand er keine Spur des Eindringlings. Der Uniformierte schoß messerscharf, daß der Unhold nach oben gelaufen sein mußte, weiter die Treppe hinauf. Sonst hätte er ihm begegnen müssen. Der Flic nahm die Verfolgung auf. 114 �
Immer auf einen plötzlichen Angriff gefaßt, ungeduldig auf Verstärkung wartend, pirschte sich der Polizist die Stufen hinauf. Seine Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Er hielt immer wieder inne, um zu horchen. Und dann, fast unter dem Dach, hörte er ein verdächtiges Geräusch. Es klang wie das Tapsen nackter Sohlen auf einem festen Untergrund. Gleichzeitig nahm der Flic Kinderstimmen wahr. Er erschrak. Was, wenn der Unhold sich eine Geisel nahm? Der Flic gab sich einen Ruck. Er ließ alle Vorsicht außer acht, stürmte die Treppe hinauf. Er gelangte an eine Bodentür, die leise hin und her schwang. Die Kinderstimmen waren plötzlich verstummt. Eine fast gespenstische Stille lastete auf diesem Teil des Hauses. Mit spitzen Fingern stieß der Uniformierte die Tür auf. Er spähte, eng an die Wand gepresst, in den durch Lattenzäune unterteilten staubigen Raum, in dem die Hausbewohner allerhand Krimskrams untergebracht hatten. Durch verschiedene Dachluken fiel spärliches Licht. Und dann entdeckte der Polizist die beiden Mädchen, die mit Puppen gespielt; hatten. Sie hockten am Boden, zwischen ihren Spielsachen. Eines der Mädchen schien einen Schuß Araberblut in den Adern zu haben. Das gekräuselte braune Haar und die Form der Nase verrieten es. Die andere Kleine, etwa zwei Jahre jünger, war zierlich und blond. Sie hielt eine Puppe im Arm, die sie offenbar gerade gebadet hatte. »Du, Georgette, was will der fremde Mann hier?« fragte die Blonde. Georgette Punard antwortete nicht. Sie besaß bereits genug Verstand, um die drohende Gefahr zu erkennen. »Sag ihm, daß er weggehen soll«, bettelte die Kleine. »Ich habe 115 �
Angst vor ihm. Er gehört nicht in dieses Haus.« Der Polizist wagte sich ein wenig weiter vor. Er sah, daß Gobineau regungslos hinter einem dicken Balken verharrte. Der Albino mit dem hellen Haarfell starrte auf die Mädchen. Seine linke Hand öffnete und schloß sich. Der Flic ließ die Pistole sinken. Es hatte keinen Zweck. Der Gesuchte stand so, daß bei Schusswaffengebrauch die Kinder getroffen werden konnten. Und der Uniformierte ging aufs Ganze. Er hatte selbst eine Tochter. Er wagte alles. Gobineau richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die beiden Kinder. Seine Kiefer mahlten. Mordlust glomm in seinen roten, glühenden Augen. Die Dielen bogen sich unter dem Gewicht des bulligen Angreifers, der sich wie ein Raubtier der leichten Beute näherte. Der Polizist sprang vor, schlug mit dem Knauf seiner Pistole zu. Der Hieb saß. Der Kolben knallte auf Gobineaus kahlen Schädel. Jeder andere wäre unter diesem Treffer zu Boden gegangen. Nicht so Gobineau. Er wirbelte herum. Sein linker Arm sichelte durch die Luft. Mit dem Ellenbogen erwischte er den Gegner in der Magengrube. Der Polizist klappte zusammen, rang nach Atem. Die Schußwaffe entglitt seinen kraftlosen Händen. Langsam, wie in Zeitlupe, ging der Flic in die Waagerechte, keuchend, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Wütend packte Gobineau seinen Kontrahenten. Er donnerte ihn mit dem Kopf mehrmals auf den Boden, daß es dröhnte. Der Polizist verlor das Bewußtsein. Wie eine Gliederpuppe hing er reglos und verteidigungsunfähig in den Fängen jedes mörderischen Albino, der erst von ihm abließ, als der Uniformierte kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Die kleine Blonde mit dem Stupsnäschen benutzte die Gelegen116 �
heit, um zu entwischen. Schreiend ergriff sie die Flucht, entging den grapschenden Klauen des Albino, der sich ruckartig herumwarf, nur um Haaresbreite, während sich Georgette Punard zitternd in die Ecke drückte und sich nicht zu mucksen wagte. Langsam stampfte der riesige Mann mit dem abstoßenden Äußeren auf die Kleine zu. Seine Schultern pendelten. Der rechte Arm hing wie tot herunter. Das Sackhemd, das er trug, war vom eigenen Blut getränkt. Die weißen Augenbrauen leuchteten wie frisch gefallener Schnee. Die unförmigen Füße schlurften über den Boden. Gobineau beugte sich herab, griff brutal zu, hob das schreiende, strampelnde Kind hoch. Der Albino warf den bulligen Schädel mit dem klaffenden Gebiss in den Nacken. Da lenkte ihn ein Geräusch ab. Wütend blinzelte der Mörder. Er überzeugte sich, daß dieses Geräusch nicht von dem Polizisten stammte, der noch immer reglos am Boden lag. Die blonde Kleine hatte inzwischen das ganze Haus zusammengeschrien. Ängstliche Frauen scharten sich um sie, lauschten der Schreckensbotschaft. Die meisten Männer befanden sich zu dieser Zeit auf ihren Arbeitsstellen. Jemand hatte die Polizei alarmiert. Ein Rudel Flics rannte über die Fahrbahn. Alle hielten ihre Schusswaffen bereit. Eine aufgeregte Frau wies ihnen den Weg. Der Trupp jagte die Treppe hinauf, angestachelt durch die Meldung, der Unhold habe ein Kind in seiner Gewalt. Genagelte Stiefel knallten auf Metallschienen. Das war das Geräusch, das Gobineau zuerst wahrnahm. Er schaltete schnell. Er fühlte sich wie ein gehetztes Wild, wenn die Hundemeute naht. Gobineau steckte die Pistole ein. Er wußte, wie sie wirkte. Er hatte es am eigenen Leib erfahren. Aber er konnte sie nicht 117 �
bedienen. Soweit dachte der Unhold natürlich nicht. Gobineau kletterte mit dem Kind auf den Armen durch eine Dachluke. Er zwängte sich mit Gewalt durch das enge Fenster, erreichte das schräge Dach des mehrstöckigen Mietshauses. Unten auf der Straße – die Menschen schrien auf. Sie deuteten nach oben. Ein Polizist benachrichtigte über Sprechfunk den Einsatzleiter, der im Kommandowagen saß und durch einen der Beamten, die das Haus gestürmt hatten, auf dem laufenden gehalten wurde. In Begleitung des Captain der Pariser Stadtpolizei war ein Scharfschütze. Er befahl dem Mann, in Stellung zu gehen, behielt sich aber das Feuerkommando vor. »Es geht nicht, Chef«, meldete der Beamte. »Er hat ein Kind bei sich.« Der Captain stand auf der Straße und blickte hilflos auf den Hünen, der planlos auf dem gefährlichen Dach herumlief. Der erste Uniformierte wagte sich auf das Dach. »Zurück!« befahl der Captain. »Wir dürfen ihn nicht erschrecken. Er ist zu allem fähig.« In diesem Augenblick entdeckte Gobineau den Verfolger. Der Albino fletschte die Zähne. Er hob das Kind hoch über den Kopf, als wollte er es in die Tiefe schleudern… * Es gab keine Verständigungsmöglichkeit zwischen den beiden Eingeschlossenen. Das donnernde Wasser machte es unmöglich. Zuerst versuchte Malgrin, den waagerechten Teil der Röhre entlangzukriechen, nachdem der Wasserspiegel so gestiegen war, daß er mühelos – oben auf der trüben Brühe schwimmend – seine Gefängniszelle hätte verlassen können. Die Kammer hatte sich längst gefüllt. Aber der Gegendruck war noch immer zu 118 �
stark. Er würde noch eine Weile anhalten, bis auch dieser Teil der engen Röhre gefüllt war. Malgrin wußte, daß es nur noch eine winzige Chance für sie gab. Der Kommissar packte den Studenten am Arm, zog ihn mit. Gemeinsam quälten sie sich weiter. Sie erreichten mit Glück den Punkt, wo das Rohr einen scharfen Knick machte und senkrecht nach oben führte. Gerade füllte sich dieser Teil des Schachtes. Noch immer stürzte Wasser nach. Nicht mehr in diesen Mengen wie zu Beginn, aber immerhin genug, um sie ertrinken zu lassen. Und dann geschah es. Unter der Decke der Zelle, die sie bereits verlassen hatten, war eine Luftblase; entstanden, die sich jetzt löste. Mit der Wucht einer Handgranatenexplosion fegte die Luftblase nach oben, stieg in das senkrechte Rohr und riß auf ihrem Wege die Eingeschlossenen mit. Ohne ihr Zutun landeten Kommissar Malgrin und Pierre Leblanc auf der Wasseroberfläche, hielten sich mühsam in dem mahlenden Strom. Cabanis hatte einen Fehler gemacht. Seine Menschenfalle war nicht perfekt gewesen. Jetzt profitierten die beiden Männer davon. Der Rest war ein Kinderspiel – verglichen mit dem, was hinter ihnen lag. Sie brauchten nur solange zu warten, bis ihnen von oben Leinen zugeworfen wurden. Inzwischen strömte und plätscherte immer noch Wasser nach, aber nicht genug, um die beiden Schwimmer hinabzudrücken. Sie waren gerettet. Unter dem Jubel der Zuschauer wurden sie herausgehievt. Pierre Leblanc lief zu Lucienne Dantec. Er kniete neben dem Mädchen nieder. Madame Leblanc drückte ein goldenes Kruzifix an die Lippen. 119 �
Claude Leblanc, der Korse, strich seinem Sohn über den Kopf. Er hielt es für unter seiner Würde, irgendwelche Gefühle offen zur Schau zu tragen. Der Polizeiarzt wollte sich um die Geretteten kümmern. Malgrin winkte verärgert ab. »Wer hat dieses Desaster eigentlich verschuldet?« fragte der Kommissar mit scharfer Stimme. Die beiden Posten mussten sich zu ihrer Schuld bekennen. Sie erwarteten mit gesenkten Köpfen eine Strafpredigt. Aber vergeblich. Malgrin hatte besseres zu tun. Lucienne Dantec und Pierre Leblanc waren gerettet. Marc Cabanis befand sich in Polizeigewahrsam. Wo aber steckte der angeschossene Gobineau, das Geschöpf des Professors, das allein hilflos und unberechenbar durch die Stadt irrte? Malgrin wagte sich nicht auszumalen, was alles geschehen konnte, wenn der blutgierige Teufel auf eine ahnungslose Frau stieß. Wie als Bestätigung seiner Ängste traf eine Meldung ein, die Robert Malgrin erschütterte. Gobineau war auf dem Dach eines Hauses in der Rue Lobineau gesichtet worden. Er hatte ein Kind in seiner Gewalt. Der Kommissar hetzte los. Er durchquerte den verwilderten Garten. Die Pforte war inzwischen von der Polizei mit Gewalt geöffnet worden. Malgrin trat auf die Straße. Neugierige säumten die Fahrbahn. Alle starrten nach oben. Da stand Gobineau deutlich zu erkennen – und schwang das wehrlose Kind hoch über dem Kopf. Die Kleine war längst verstummt. Ihre Stimme hatte versagt. Sie äugte nur noch zitternd und schlotternd in die Tiefe. »Cabanis zu mir!« schrie Kommissar Malgrin. Der Befehl wurde weitergegeben. Die beiden Bewacher brachten den Gefangenen im Eiltempo. »Sie haben verspielt, Cabanis«, sagte Malgrin ernst. »Sie wissen 120 �
das. Sie können nur noch ein einziges Mal beweisen, daß Sie auch Gutes zu tun vermögen. Das ist jetzt und hier. Ihre letzte Chance. Nehmen Sie Gobineau das unschuldige Kind ab! Retten Sie die Kleine!« Marc Cabanis blickte stumm nach oben. Sein Bruder stand noch immer hoch aufgerichtet auf dem Dach, bereit Georgette Punard hinunterzuschleudern, sobald sich ein Uniformierter an ihn heranwagte. Die Polizisten hatten sich auf Befehl zurückgezogen, um das Leben des Kindes nicht zu gefährden. Sie warteten an den Dachluken auf das Angriffssignal. So, wie dieser Kerl aussah, konnte das Drama nur blutig enden. »Ich werde es versuchen«, sagte der Professor. »Lassen Sie mir die Handschellen abnehmen.« Der Kommissar nickte einem Beamten zu. Der Flic zog den Schlüssel aus der Tasche und befreite den Gefangenen von den Stahlarmbändern. Marc Cabanis massierte seine roten Handgelenke. Er musterte blinzelnd den hohen Zufluchtsort seines Bruders. »Ich komme mit«, sagte Malgrin. Sie überquerten die Straße, betraten das Mietshaus. Schweigend schauten die Menschen den beiden zu. Der Weg bis unter das Dach wollte nicht enden. Es dauerte Malgrin viel zu lange. Aber er wagte nicht, den Professor zur Eile anzutreiben. Er war auf Cabanis angewiesen. Nur der Professor konnte diesen gefährlichen Irren bändigen. Ihm gehorchte der Albino zur Not. Sie gelangten in den Bodenraum. Cabanis stieg über eine Puppenstube hinweg. Überall waren Spielsachen verstreut. Die Beamten an der Dachluke, die nahe bei Gobineau lag, machten bereitwillig Platz. Ein Uniformierter trug einen Kopf121 �
verband. Er war als erster mit dem bärenstarken Albino zusammengestoßen. Malgrin half dem Professor auf den wackeligen Stuhl und hielt ihn fest, bis er sich aufs Dach schwang. »Bleiben Sie lieber hier, Kommissar«, warnte Marc Cabanis. »Es ist besser, wenn er nur mich sieht. Er vertraut nur mir. Schließlich ist er mein Bruder, er kennt mich.« Cabanis stieg hinaus. Malgrin ließ sich eine Pistole geben. Er beobachtete den Professor bei dessen gefährlicher Gratwanderung. Er hasste diese Rolle. Passives Verhalten lag ihm nicht. »Paul, hörst du mich?« fragte Cabanis sanft, ohne den Albino aus den Augen zu lassen. »Bleib ruhig, ich komme zu dir!« Als der Albino die vertraute Stimme hörte, wandte er den häßlichen Schädel. Sein Gesicht verzog sich. Er greinte laut. Seine dicke Zunge rotierte. Malgrin verstieß in diesem Augenblick gegen die Abmachung. Er hielt es nicht länger aus. Er rannte zur anderen Hausseite, kletterte aus einer Dachluke und schob sich auf dem Bauch höher, bis an den Dachfirst heran. Dort lag er und beobachtete das Geschehen, nahe genug bei Gobineau, um notfalls eingreifen zu können. Gobineau ließ das Kind sinken. Er preßte es an die Brust. Langsam ging er in die Knie. Er hockte sich auf das Dach. Bettelnd streckte der Albino die Klauen nach seinem Bruder aus. Cabanis ergriff reaktionsschnell die Hand. »Gib mir das Kind!« befahl der Professor laut. Malgrin hielt den Atem an. Das war die kritische Phase. Würde Gobineau, aufgewühlt durch die Ereignisse, erschreckt und ängstlich, seinem Bruder noch gehorchen, ihm auch in diesem Punkt bedingungslos folgen? Der Professor stand mit dem Gesicht zum Kommissar. Unmerklich nickte Marc Gabanis, als Malgrin ihm ein Zeichen 122 �
gab, er wolle das Kind übernehmen. Cabanis streckte den rechten Arm aus. Der Albino murrte. Besitzergreifend preßte er das verschüchterte Kind an sich. Seine Pranke strich den Kopf der Kleinen. Sein wüstes Gesicht verzog sich. »Ich befehle es dir: gib das Kind her!« wiederholte Marc Cabanis scharf. »Du weißt, wie ich dich zu bestrafen pflege, wenn du mir nicht gehorchst. Hörst du? Ich sage es dir zum letzten Mal.« Plötzlich wagte der Albino, sich zu widersetzen. Er wand sich wie ein getretener Wurm. Da arbeitete sich Cabanis langsam die Schräge hinauf, nahm seinem Bruder einfach das Kind weg. Der Riese jammerte laut. Gobineau packte seinen Bruder an der Schulter, wollte ihm das Kind wieder abnehmen. Der Professor setzte die Kleine ab. Er stand zwischen dem Kind und dem Albino, schützte Georgette mit dem eigenen Körper. »Verschwinde endlich!« befahl Marc Cabanis wütend. »Du hast genug Unheil angerichtet.« Malgrin richtete sich auf. Georgette Punard tastete sich zögernd zur rettenden Dachluke hin. Ein Polizist kletterte heraus und kam ihr entgegen. Er half dem Mädchen in Sicherheit. Gobineau fühlte sich verraten. Sein Kopf pendelte. Der Blick seiner rötlichen Augen wieselte zwischen dem Professor und dem Kommissar hin und her. Sein Gesicht zuckte vor Erregung. Dann entschied sich Gobineau. Mit einem wütenden Schrei stürzte sich der behaarte Riese auf seinen Bruder, packte ihn an der Gurgel. »Schießen Sie doch endlich, Malgrin!« ächzte Marc Cabanis. Er hatte gegen den starken Albino keine Chance. Der Kommissar hütete sich, abzudrücken. Er hätte den Profes123 �
sor treffen können, der unter dem Zugriff seiner Gegner schwankte wie eine Pappel im Wind. Robert Malgrin näherte sich den Kämpfenden vorsichtig. Aus der Dachluke kamen mehrere Uniformierte. Sie kreisten die beiden Widersacher ein, hatten sie aber noch nicht ganz erreicht, als sich Marc Cabanis nach hinten fallen ließ. Niemand konnte später mit Sicherheit sagen, ob es Zufall oder Absicht gewesen war. Jedenfalls brachte die unerwartete Gewichtsverlagerung seines Bruders den Albino aus dem Gleichgewicht. Er schoß vornüber, nicht bereit, seinen Würgegriff zu lockern. Beide gerieten ins Rutschen. Marc Cabanis blieb stumm, während der Albino vor Entsetzen aufschrie, als die beiden Körper das Schneebrett durchstießen und über den Rand des Daches hinausflogen. Mit einem fürchterlichen, lang gezogenen Schrei verschwand der Albino in der Tiefe. Er starb zum zweiten Mal. Die Aussicht, daß ihn noch einmal jemand nach dem Verfahren des Professor Marc Cabanis in einem genialen Laborversuch auf die Erde zurückholen würde, der auf der Ermittlung des Gen-Codes beruhte, war nur sehr gering. Tatsächlich wurden die Formeln und Forschungsergebnisse des Professors unter Verschluss genommen und verschwanden in Regierungstresoren. Aber daran dachte in diesem Augenblick niemand. Malgrin trat an den Rand des Daches und blickte hinunter. Die beiden ungleichen Brüder lagen friedlich nebeneinander, zerschmettert auf dem Pflaster der Straße. Zeitungsreporter schossen wie wild Aufnahmen. Langsam schob Robert Malgrin die Dienstpistole in die Tasche. Er trug noch immer seinen nassen Anzug. Es wurde Zeit, daß er sich umkleidete. Malgrin zog sich zurück. Er verließ das Dach. *
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»Wohin, Chef?« fragte Jean Baptiste den Kommissar. »Nach Hause«, sagte Robert Malgrin müde. »Besuchen Sie uns bei Gelegenheit?« erkundigte sich Claude Leblanc. »Ich möchte mich gebührend bedanken. Dies ist wohl nicht der richtige Augenblick. Aber ich habe einen vorzüglichen Tropfen im Keller. Den müssen Sie probieren, Monsieur.« »Bei Gelegenheit«, versprach der Kommissar erschöpft. ENDE
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