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ANDREW BLAKE sah aus wie ein Mensch ... Die Besatzung eines Raumschiffs fand ihn hilflos im All treibend in einer Rettungskapsel. Die Retter er weckten ihn aus jahrhundertelangem Kälteschlaf und brachten ihn zur Erde zurück. Noch weiß niemand, wer oder was Andrew Blake wirklich ist – auch Blake selbst nicht, denn er hat sein Gedächtnis verloren. Nachforschungen werden angestellt, und Blake be ginnt sich zu erinnern. Unheimliche Veränderungen gehen in ihm vor – und die Menschen fürchten Blake, als die Wahrheit bekannt wird: Andrew Blake ist kein Mensch. Andrew Blake ist ein Produkt des Geheimprojekts Werwolf.
CLIFFORD D. SIMAK
MANN AUS
DER RETORTE
Utopischer Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3126
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe
THE WEREWOLF PRINCIPLE
Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner
Copyright © 1967 by Clifford D. Simak
Printed in Germany 1968
Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München
Gesamtherstellung:
Verlagsdruckerei Freisinger Tagblatt,
Dr. Franz Paul Datterer oHG., Freising
1
Das Lebewesen blieb tief zu Boden geduckt stehen und starrte die winzigen Lichtpunkte an, die vor ihm in der Dunkelheit aufleuchteten. Es winselte erschrocken und unsicher. Die Welt war zu heiß und zu naß, und die Dunkel heit war fast undurchdringlich. Die Atmosphäre be fand sich in heftiger Bewegung, so daß die viel zu große Vegetation ächzte und schwankte. Irgendwo weit in der Ferne flammte für kurze Zeit Licht auf, das die Umgebung jedoch kaum erhellte; wenig spä ter folgte ein dumpfes Grollen. Und hier gab es Le ben, viel mehr Leben als einem Planeten zustand – aber fast ausschließlich niedrigste Lebensformen, die nur schwach auf äußere Reize reagierten. Vielleicht, so überlegte das Wesen sich, hätte es nicht so verzweifelte Ausbruchsversuche unterneh men sollen. Vielleicht hätte es mit dem Leben an die sem unbekannten Ort zufrieden sein sollen, an dem es weder eine selbständige Existenz noch die Erinne rung daran gab, sondern nur das unerklärliche Wis sen, daß dieser Zustand möglich war. Dieses Wissen und andere bruchstückhafte Informationen hatten dazu beigetragen, die Flucht erstrebenswert zu ma chen, denn nur in der Freiheit konnte es ein Eigenle
ben führen und vielleicht erfahren, warum es hier war und wie es hierhergekommen war. Und nun? Es duckte sich und winselte. Wie konnte es soviel Wasser auf einmal geben? Und so viele Pflanzen und diesen Aufruhr der Na turgewalten? Wie konnte ein Planet so wirr und un geordnet sein? Es war einfach nicht richtig, daß es hier Wasser in derartigen Mengen gab, daß es in Strömen über die Erde floß oder Pfützen und Lachen bildete. Und nicht nur das, sondern es war sogar in der Atmosphäre vorhanden, und der Wind trieb gro ße Wassertropfen vor sich her. Was hatte dieses Gewand zu bedeuten, das an sei ner Kehle befestigt war und über den Boden schleif te? Sollte es vor den Unbilden der Witterung schüt zen? Das war unwahrscheinlich, denn das Lebewesen hatte früher nie einen Schutz benötigt. Sein silber grauer Pelz genügte für diesen Zweck. Früher? fragte es sich. Es erinnerte sich undeutlich an eine durchsichtig klare Landschaft mit trockener Luft, Schneestaub und Sand, an einen Himmel voller Sterne und an Nächte, in denen das Land im golde nen Schein der Monde lag. Und es glaubte sich an das Verlangen zu erinnern, zu den Sternen vorzudringen und ihre Geheimnisse zu enträtseln.
Aber war das eine Erinnerung – oder nur ein phan tastischer Traum? Das Lebewesen wußte es nicht. Es streckte zwei Arme aus, raffte das Gewand zu sammen und hielt es an sich gedrückt. Wasser tropfte daraus zu Boden und platschte in die Wasserlachen, die sich dort gebildet hatten. Diese Lichtpunkte dort vorn? Jedenfalls keine Ster ne, denn sie waren zu dicht am Boden, und außer dem leuchteten in dieser Nacht keine Sterne. Schon das war unvorstellbar, denn es hatte immer Sterne gegeben. Das Lebewesen spürte dem Lichtschein vorsichtig nach und stellte fest, daß im Hintergrund noch etwas anderes zu erkennen war – ein Mineral in so regel mäßiger Form, daß es sich nicht um eine natürliche Gesteinsformation handeln konnte. Weit in der Ferne zuckte es wieder hell über den Himmel, dann folgte erneut das Rumpeln und Grol len. Sollte es weiterschleichen und die Lichter umkrei sen? Sollte es sie aus der Nähe erkunden? Oder sollte es in entgegengesetzter Richtung davonlaufen, um die Leere zu suchen, aus der es entkommen war? Al lerdings war schlecht zu beurteilen, wo dieser Ort lag. Als es ausgebrochen war, hatte es den Ort nicht mehr gesehen, und seit dem Ausbruch war es weit umhergeirrt.
Und wo waren jetzt die beiden anderen, die sich ebenfalls an diesem Ort aufgehalten hatten? Waren sie ebenfalls ausgebrochen – oder waren sie zurück geblieben, weil sie gespürt hatten, wie erschreckend fremdartig hier draußen alles war? Wo mochten sie jetzt sein? – Wer mochten sie sein? Warum hatten sie nicht geantwortet? Oder hatten sie die Frage nicht gehört? Eigentlich merkwürdig, überlegte sich das Lebewesen, daß man seine Exi stenz mit zwei anderen Wesen teilte, ohne sich mit ihnen verständigen zu können. Es zitterte innerlich, obwohl die Nacht warm war. Nein, es konnte nicht hierbleiben. Es konnte aber auch nicht ewig wandern. Es mußte einen Unter schlupf finden. Allerdings wußte es noch nicht, wie ein Unterschlupf auf diesem verrückten Planeten aussehen würde. Die Lichter? fragte es sich. Sollte es die Lichter un tersuchen oder ...? Der Himmel schien zu explodieren. Die Welt stand in bläulichen Flammen. Das Wesen duckte sich er schrocken und wollte in seiner Verwirrung einen durchdringenden Schrei ausstoßen. Aber der Schrei brach ab, das Licht erlosch plötzlich.
2
Regen klatschte Andrew Blake ins Gesicht, und der Boden unter seinen Füßen schien leicht zu schwan ken, während unmittelbar über ihm der Donner ver klang. Es roch deutlich nach Ozon, und er spürte kal ten Schlamm zwischen seinen Zehen. Was hatte er hier zu suchen – mitten im Gewitter, ohne entsprechende Kleidung, ohne Sandalen und mit völlig durchnäßtem Gewand. Er war nach dem Abendessen vors Haus getreten, um einen Blick auf die Gewitterwolken zu werfen, die von Westen heranzogen – und eine Sekunde spä ter stand er bereits in diesem Gewitter. Der Wind pfiff durch die Bäume, und Blake hörte irgendwo vor sich Wasser talabwärts strömen. Jen seits des Baches schien Licht aus Fenstern. Mein Haus? fragte er sich verwirrt. Aber in der Umgebung seines Hauses gab es weder Hügel noch einen Bach. Dort gab es auch weniger Bäume, und er hätte andere Häuser sehen müssen. Der Regen, der für kurze Zeit nachgelassen hatte, klatschte ihm jetzt wieder ins Gesicht. Blake wandte sich dem Haus zu. Bestimmt nicht seines, aber im merhin ein Haus, in dem ihm jemand erklären konn te, wo er sich befand und ...
Unsinn! Vor einer Sekunde war er noch zu Hause gewesen. Das Gewitter war heraufgezogen, aber es hatte nicht geregnet. Offenbar träumte er. Oder er litt unter Halluzina tionen. Aber der strömende Regen wirkte echt, und es roch deutlich nach Ozon. Wie sollte das in einem Traum möglich sein? Er setzte sich in Bewegung, ging auf das Haus zu und stieß sich den rechten Fuß an einem Stein an. Als er vor Schmerz auf dem linken Bein herumhüpfte, rutschte er aus und saß plötzlich im Schlamm. Jetzt wußte er, daß er nicht träumte. Im Traum wä re er nicht so dumm gewesen, sich den Zeh anzusto ßen. Irgend etwas war geschehen. Irgend etwas hatte ihn in Sekundenschnelle hierhergebracht, wo ein nächtli ches Gewitter tobte. Blake richtete sich langsam auf und belastete den verletzten Fuß. Er konnte einiger maßen gehen, wenn er nur mit der Ferse auftrat. Er stolperte und rutschte hügelabwärts, durchquer te den Bach, dessen Wasser ihm bis zu den Knöcheln reichte, und stieg dann zu dem Haus hinauf. Wetterleuchten erhellte den Horizont, und Blake sah einen Augenblick lang das massive Gebäude mit schweren Kaminen und kleinen Fenstern. Ein Steinhaus, dachte er überrascht. Ein Anachro nismus! Ein bewohntes Steinhaus ...
Er stieß gegen einen Zaun, verletzte sich jedoch nicht, da er nur langsam ging. Er tastete sich daran weiter und erreichte ein Tor. Zehn Meter vor ihm zeigte ein schwacher Lichtschein an, wo sich die Tür befinden mußte. Er spürte Steinplatten unter den Füßen und folgte ihnen. In der Nähe der Tür ging er noch langsamer. Vielleicht begannen hier Stufen, und er wollte sich seinen verletzten Zeh nicht ein zweitesmal anstoßen. Vier Stufen führten zur Tür hinauf. Er blieb unent schlossen stehen und suchte vergebens nach dem Klingelknopf. Dann suchte er weiter und fand einen Türklopfer. Einen Türklopfer? Natürlich – zu einem Haus die ser Art gehörte ein Türklopfer. Zu einem Haus in der Vergangenheit ... Er hatte plötzlich Angst. War er etwa nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit transportiert worden? Er betätigte den Türklopfer. Er wartete. Anschei nend war er nicht gehört worden. Er griff nochmals nach dem Klopfer. Hinter ihm wurden Schritte hörbar, dann flammte ein Lichtstrahl auf und hielt ihn gefangen. Blake drehte sich danach um, und das Licht blendete ihn. Er glaubte die schemenhaften Umrisse eines Mannes zu erkennen – ein dunklerer Schatten vor dem nacht dunklen Hintergrund.
Dann wurde die Tür von innen aufgerissen. Aus dem Haus fiel Licht, und Blake sah jetzt einen Mann mit Kilt, Schafspelz und einem Metallgegenstand in der rechten Hand, den Blake für eine Pistole hielt. »Was geht hier vor?« fragte der Mann scharf, der die Tür geöffnet hatte. »Der Kerl hier wollte ins Haus eindringen, Sena tor«, antwortete der Mann mit der Taschenlampe. »Er muß sich irgendwie an mir vorbeigeschlichen haben.« »Du hast ihn nicht gesehen«, sagte der Senator, »weil du dich untergestellt hattest, um nicht naß zu werden. Wenn ihr schon Leibwächter spielen müßt, könntet ihr wenigstens aufpassen.« »Es war stockfinster«, wandte der Mann ein, »und er ist geschlichen ...« »Das bezweifle ich«, meinte der Senator. »Er ist zur Tür gegangen und hat geklopft. Hätte er sich ein schleichen wollen, hätte er nicht geklopft. Er ist als ganz normaler Besucher gekommen, und du hast ihn nicht gesehen.« Blake drehte sich langsam nach dem Mann auf der Schwelle um. »Tut mir leid, Sir«, sagte er. »Das habe ich nicht gewußt. Ich wollte kein Aufsehen erregen. Ich habe nur das Haus gesehen ...« »Und das ist noch nicht alles, Senator«, unterbrach ihn der Leibwächter. »Heute nacht geht es wirklich
verrückt zu. Vor einigen Minuten habe ich einen Wolf gesehen ...« »Hier gibt es keine Wölfe«, stellte der Senator fest. »Schon seit Jahrhunderten nicht mehr.« »Aber ich habe einen gesehen«, beteuerte der ande re. »Drüben auf dem Hügel. Es hat geblitzt, und ich habe deutlich einen Wolf erkannt.« »Tut mir leid, daß Sie wegen dieses Unsinns im Regen stehen müssen«, sagte der Senator zu Blake. »Das Wetter ist wirklich scheußlich.« »Ich muß mich verirrt haben«, erklärte Blake ihm und bemühte sich, nicht mit den Zähnen zu klappern. »Wenn Sie mir sagen, wo ich bin, und mir den Weg zeigen ...« »Mach endlich die Lampe aus«, befahl der Senator dem Leibwächter, »und geh auf deinen Posten zu rück.« Die Lampe erlosch. »Ausgerechnet Wölfe!« murmelte der Senator irri tiert. Zu Blake sagte er: »Wollen Sie nicht hereinkom men, damit ich die Tür zumachen kann?« Blake trat über die Schwelle, und der Senator schloß die Tür. Blake sah sich um. Er stand in einer geräumigen Diele. Rechts und links von ihm waren Türen in die Wände eingelassen; vor ihm öffnete sich ein gewölb
ter Durchgang. Dahinter sah er einen riesigen Kamin, in dem ein großes Feuer brannte. Der Raum war mit alten Möbeln eingerichtet, deren Polster in bunten Farben leuchteten. Der Senator betrachtete ihn nachdenklich von Kopf bis Fuß. »Ich heiße Andrew Blake«, sagte Blake, »und ich mache Ihren Fußboden schmutzig, fürchte ich.« Sein Gewand tropfte, so daß kleine Pfützen auf dem Boden entstanden, und mehrere nasse Fußab drücke führten vor der Tür in die Diele. Der Senator war groß und hager, mit kurzgeschnit tenem weißem Haar und grauem Schnurrbart, unter dem ein energischer Mund lag. Er trug eine weiße Robe, deren unterer Rand ornamental bestickt war. »Sie sehen wie eine nasse Kanalratte aus«, sagte der Senator, »wenn sie den Ausdruck entschuldigen wol len. Und Sie haben Ihre Sandalen verloren.« Er drehte sich um und öffnete eine der Türen in der Diele, die zu dem eingebauten Kleiderschrank führte. Er suchte darin herum und zog eine dicke braune Robe heraus. »Hier«, sagte er und gab sie Blake. »Das müßte ge nügen. Echte Wolle. Ich nehme an, daß Ihnen kalt ist.« »Nicht sehr«, log Blake, der das Zähneklappern kaum noch unterdrücken konnte.
»Wolle wärmt Sie wieder«, versicherte ihm der Se nator. »Sie ist heutzutage selten geworden. Man sieht fast nur noch Kunstfasern. Ich bekomme sie von ei nem verrückten alten Mann, der in den Hügeln von Schottland haust. Wir denken in vieler Beziehung ähnlich – wir sind davon überzeugt, daß es sinnvoll ist, die alten Realitäten nicht als überholt abzutun.« »Sie haben bestimmt recht«, sagte Blake. »Nehmen Sie zum Beispiel dieses Haus«, fuhr der Senator fort. »Dreihundert Jahre alt und solid wie am ersten Tag. Aus Holz und Stein erbaut. Von ehrlichen Handwerkern gebaut ...« Er starrte Blake an. »Du lie ber Himmel, ich halte hier Reden, während Sie lang sam erfrieren. Gehen Sie dort drüben die Treppe hin auf. Die erste Tür links ist mein Zimmer. Im Kleider schrank finden Sie Sandalen, und ich nehme an, daß Ihre Hosen ebenfalls durchnäßt sind ...« »Allerdings«, stimmte Blake zu. »Im Kleiderschrank liegt alles, was Sie brauchen. Das Bad schließt ans Schlafzimmer an. Vielleicht nehmen Sie ein heißes Bad – das wärmt am schnell sten. Elaine kann inzwischen für Kaffee sorgen, und ich mache eine gute Flasche Cognac auf ...« »Übertreiben Sie bitte nicht«, wehrte Blake ab. »Sie haben mir schon soviel geholfen ...« »Durchaus nicht«, antwortete der Senator. »Ich freue mich, daß Sie vorbeigekommen sind.«
Blake nahm die braune Robe unter den Arm, stieg die Treppe hinauf und verschwand im ersten Zimmer links. Durch die offene Tür sah er eine weiße Bade wanne aufblitzen. Die Idee mit dem Bad war eigent lich nicht schlecht. Er ging ins Bad und legte die braune Robe auf den Wäschekorb. Dann zog er sich sein nasses Gewand über den Kopf und ließ es zu Boden fallen. Er sah überrascht an sich herab. Er runzelte ver blüfft die Stirn, denn er war splitternackt. Irgendwie hatte er es fertiggebracht, seine Unterhose zu verlie ren.
3
Als Blake in den großen Raum mit dem Kaminfeuer zurückkehrte, erwartete ihn der Senator bereits dort. Auf der Lehne seines Klubsessels saß eine dunkel haarige junge Frau. »Na«, sagte der Senator, »da sind Sie endlich, jun ger Mann. Sie haben mir Ihren Namen schon gesagt, aber ich habe ihn wieder vergessen, fürchte ich.« »Ich heiße Andrew Blake.« »Entschuldigen Sie«, bat der Senator. »Mein Ge dächtnis läßt anscheinend in letzter Zeit nach. Das hier ist meine Tochter Elaine, und ich bin Chandler Horton. Der schwatzhafte Narr dort draußen hat Ih nen ja bereits verraten, daß ich Senator bin.« »Ich weiß die Ehre zu schätzen, Senator«, versi cherte Blake ihm. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miß Elaine.« »Blake?« sagte die junge Frau. »Den Namen habe ich kürzlich mehrmals gehört. Sagen Sie, wofür sind Sie berühmt?« »Ich kann mir nichts vorstellen«, antwortete Blake. »Aber Ihr Name ist in allen Zeitungen erwähnt worden. Und im Fernsehen – in der Nachrichtensen dung. Jetzt fällt es mir ein! Sie sind der Mann, der von den Sternen zurückgekommen ist ...«
»Was du nicht sagst!« Der Senator erhob sich. »Wie interessant! Mister Blake, der Sessel dort drüben ist sehr bequem. Sozusagen der Ehrenplatz. Dicht am Feuer und so weiter.« »Daddy«, sagte Elaine zu Blake, »neigt dazu, sich als Landedelmann aufzuspielen, wenn wir Gäste ha ben. Das darf Sie nicht stören.« »Der Senator ist ein äußerst liebenswürdiger Gast geber«, versicherte Blake ihr. Der Senator nahm eine Karaffe vom Tablett und griff nach Gläsern. »Sie werden sich daran erinnern«, sagte er, »daß ich Ihnen einen Cognac versprochen habe.« »Loben Sie ihn auf jeden Fall, selbst wenn Sie ihn ungenießbar finden«, warnte Elaine. »Und falls Sie später eine Tasse Kaffee möchten, können wir auch damit dienen. Ich habe unseren Automatenkoch ...« »Macht der Koch schon wieder Schwierigkeiten?« warf Horton ein. Elaine schüttelte den Kopf. »Nicht besonders. Der Kaffee ist ganz in Ordnung – aber er hat auch Rührei er mit Schinken geliefert.« Sie sah zu Blake hinüber. »Möchten Sie Rühreier mit Schinken? Sie sind noch warm, glaube ich.« »Nein, vielen Dank«, lehnte Blake ab. »Der verdammte Automat«, sagte der Senator, »ist seit Jahren übergeschnappt. Eine Zeitlang konnte
man auf jeden beliebigen Knopf drücken und bekam trotzdem nur Roastbeef.« Er verteilte die Gläser und nahm wieder in seinem Sessel Platz. »Deswegen gefällt mir dieses Haus«, sagte er. »Es ist unkompliziert und zweckmäßig. Es ist vor dreihundert Jahren von einem Mann erbaut worden, der vernünftig genug war, Steine und Holz zu benützen, weil diese Materialien auf seinem Grundstück bereits vorhanden waren. Er hat es ver mieden, der Umgebung sein Haus aufzuzwingen; er hat es zum Bestandteil dieser Umgebung gemacht. Sieht man von dem Automatenkoch ab, enthält das Haus keinerlei neuzeitliche Einrichtungsgegenstän de.« »Wir sind eben altmodisch«, meinte Elaine ent schuldigend. »Trotzdem besitzt das Haus einen gewissen Reiz«, sagte Blake. »Es fühlt sich solid und sicher an.« »Das kann man wohl sagen«, stimmte der Senator zu. »Hören Sie sich an, wie der Wind einzudringen versucht. Und der Regen!« Er schwenkte den Cognac in seinem Glas. »Natürlich fliegt es nicht«, fügte er hinzu, »und es kann nicht sprechen. Aber wer will schon ein Haus, das fliegt und ...« »Daddy!« mahnte Elaine vorwurfsvoll. »Sie entschuldigen hoffentlich«, sagte der Senator.
»Das ist eines meiner Lieblingsthemen, und ich denke manchmal nicht daran, daß es anderen gleichgültig sein könnte ... Meine Tochter hat davon gesprochen, daß Sie auf dem Bildschirm zu sehen waren.« »Du paßt einfach nicht auf, Daddy«, warf sie ihm vor. »Deine biotechnischen Hearings nehmen dich so in Anspruch, daß du keine Zeit für andere Dinge hast.« »Aber die Hearings sind wichtig, meine Liebe«, antwortete der Senator. »Die Menschheit muß sich bald entscheiden, was sie mit den vielen neuentdeck ten Planeten anfangen will. Und ich sage dir, daß nur Schwachsinnige eine Terranisierung vorschlagen können. Du brauchst nur zu überlegen, wieviel Zeit und Geld das erfordern würde.« »Oh, ich wollte dir übrigens noch ausrichten, daß Mutter angerufen hat«, sagte Elaine. »Sie kommt heu te nicht nach Hause. Sie hat von dem Sturm gehört und bleibt in New York.« Der Senator nickte. »Wie war es in London? Hat sie etwas davon erzählt?« »Die Vorstellung hat ihr gefallen.« »Varieté«, erklärte der Senator Blake. »Wiederbele bung einer alten Kunstform. Ziemlich primitiv, habe ich gehört. Meine Frau schwärmt dafür. Sie ist eben künstlerisch veranlagt.« »Schrecklich«, murmelte Elaine.
»Keineswegs«, widersprach der Senator. »Aber bleiben wir lieber bei der Biotechnik. Vielleicht haben Sie etwas dazu zu sagen, Mister Blake?« »Nein«, antwortete Blake. »Ich bin nicht ganz auf dem laufenden, muß ich sagen.« »Richtig, das hätte ich fast vergessen!« Der Senator nickte. »Die Sache mit den Sternen. In einer Kapsel eingeschlossen, soweit ich mich erinnere, und von Mineralogen auf einem Asteroiden entdeckt. In wel chem System war das?« »In der Gegend von Antares. Ein kleiner Stern – nur eine Zahl, kein Name. Aber ich weiß nichts da von. Ich bin erst in Washington wiederbelebt wor den.« »Sie erinnern sich an nichts?« fragte Elaine. »An gar nichts«, bestätigte Blake. »Für mich hat das Leben erst vor einem Monat begonnen. Ich weiß nicht, wer ich bin oder ...« »Aber Sie haben einen Namen.« »Weil ich einen annehmen mußte«, erklärte Blake ihm. »John Smith wäre ebensogut gewesen. Offenbar muß jeder Mensch einen Namen haben.« »Soviel ich gehört habe, erinnern Sie sich jedoch teilweise an Ihre Vergangenheit?« »Richtig – und das ist eben so merkwürdig. Ich er innere mich an die Erde, die Menschen und ihre Le bensweise, aber diese Erinnerungen sind hoffnungs
los veraltet. Deswegen finde ich mich jetzt kaum zu recht.« »Sie brauchen nicht darüber zu sprechen«, warf Elai ne leise ein. »Ich wollte Sie keineswegs aushorchen.« »Es macht mir nichts aus«, antwortete Blake. »Ich habe mich mit meiner Lage abgefunden. Vielleicht fällt mir eines Tages ein, wer ich bin und woher ich komme und was dort draußen geschehen ist. Vorläu fig bin ich noch ziemlich verwirrt. Zum Glück waren alle sehr nett zu mir. Ich habe ein Haus bekommen. Und ich werde nicht belästigt. Ich lebe in einem klei nen Dorf ...« »In welchem?« fragte der Senator. »Wahrscheinlich ganz in der Nähe.« »Ich weiß leider nicht, wo ich hier bin«, entschul digte Blake sich. »Das Dorf heißt Middleton.« »Es liegt etwas weiter talauswärts«, erklärte der Senator ihm. »Keine fünf Meilen von hier. Anschei nend sind wir Nachbarn.« »Ich bin nach dem Abendessen vors Haus gegan gen«, sagte Blake. »Das Gewitter kam von Westen heran, war aber noch ziemlich weit entfernt. Und plötzlich stand ich dort draußen auf dem Hügel im Regen und war klatschnaß ...« Er setzte sein Glas vorsichtig ab. »So war es wirklich«, fügte er hinzu. »Ich weiß, daß es komisch klingt.«
»Es klingt unmöglich«, sagte der Senator. »Das kann ich mir vorstellen«, meinte Blake. »Üb rigens fand die Verschiebung nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich statt. Ich habe das Haus in der Abenddämmerung verlassen und bin nachts dort drüben auf dem Hügel zu mir gekommen.« »Tut mir leid, daß der dumme Leibwächter Sie mit dem Licht belästigt hat«, sagte der Senator. »Ich ver lange keine Leibwache und will auch keine, aber Genf besteht darauf, daß alle Senatoren bewacht werden. Meiner Überzeugung nach will uns niemand etwas antun – schließlich ist die Erde heutzutage ei nigermaßen zivilisiert.« »Du vergißt die Aufregung wegen der Biotechnik«, warf Elaine ein. »Aber dabei handelt es sich doch nur um die An wendung wissenschaftlicher Methoden«, meinte der Senator. »Deswegen braucht niemand ...« »Aber die Leute tun es«, sagte Elaine nachdrück lich. »Alle Bibelfanatiker, alle Erzkonservativen und alle Fortschrittsgegner sind entschlossen, diesen ver rückten Plan zu Fall zu bringen.« Der Senator schüttelte den Kopf. »Der Plan ist durchaus nicht verrückt, sondern im Gegenteil recht vernünftig. Wir müßten Billionen Dollar ausgeben, um einen einzigen Planeten zu terranisieren. Unsere Biotechniker würden jedoch weniger Geld und sehr
viel weniger Zeit brauchen, um eine menschliche Rasse zu konstruieren, die auf diesem Planeten leben könnte. Anstatt den Planeten zu verändern, damit er für Menschen erträglich ist, verändern wir die Men schen, damit sie den Planeten ertragen ...« »Darum geht es gerade«, warf Elaine ein. »Mit die sem Argument ziehen deine Gegner in den Kampf. Der Mensch soll verändert werden – dagegen setzen Sie sich zur Wehr. Sollte dein Vorschlag angenom men werden, wären diese Bewohner anderer Plane ten keine Menschen mehr.« »Sie hätten vermutlich wenig Ähnlichkeit mit uns«, gab der Senator zu, »aber sie wären trotzdem Men schen.« Elaine wandte sich an Blake. »Sie haben hoffentlich gemerkt, daß ich nicht gegen den Senator bin. Aber es ist manchmal so schwierig, ihm begreiflich zu ma chen, was er sich eigentlich vorgenommen hat und wie stark seine Gegner sind.« »Meine Tochter spielt den Advocatus Diaboli, was gelegentlich ganz nützlich ist«, erklärte der Senator Blake. »Aber in diesem Fall ist es eigentlich überflüs sig, denn ich weiß, mit welcher Erbitterung mich meine Widersacher bekämpfen.« Er hob die Karaffe. Blake schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Wie komme ich am besten nach Hause?«
»Sie könnten hier übernachten.« »Danke, Senator, aber ich möchte lieber ...« »Natürlich«, sagte der Senator. »Einer meiner Leute kann Sie begleiten. Am besten benützen Sie den Wa gen. Für den Schweber ist das Wetter heute nacht zu schlecht.« »Das wäre sehr freundlich von Ihnen.« »Dadurch kann sich wenigstens einer der Kerle nützlich machen«, stellte der Senator fest. »Auf der Fahrt werden sie wohl kaum Wölfe sehen. Haben Sie übrigens draußen einen beobachtet?« »Nein«, sagte Blake, »ich habe keinen Wolf gese hen.«
4
Dr. Michael Daniels stand am Fenster und sah zu, wie die Bodenmannschaft der Riverside-Siedlung Häuser einwies. Die schwarzen Fundamente glitzerten im Regen, und der Potomac dahinter war ein dunkles Band, das die blendende Helle der Landescheinwer fer reflektierte. Die Häuser sanken nacheinander aus dem wolken verhangenen Himmel herab, schwebten über den zu gewiesenen Fundamenten und drehten sich langsam, bis ihre Landekoordinaten mit den Fixpunkten über einstimmten. Wieder neue Patienten, überlegte Daniels. Oder viel leicht Kollegen, die von einem Urlaub zurückkamen. Oder einfach Touristen, die weder zur einen noch zur anderen Kategorie gehörten. Washington war über füllt, da die regionalen Biotechnik-Hearings dem nächst beginnen sollten. Jeder Quadratzentimeter war kostbar, und Häuser von Neuankömmlingen wurden untergebracht, wo sich noch ein Platz für sie fand. Weit jenseits des Flusses in Old Virginia landete ein Schiff auf dem Raumhafen, dessen Scheinwerferbat terien selbst Nebel und Regen durchdrangen. Daniels verfolgte die Landung und fragte sich, von welchem Stern das Schiff gekommen sein mochte.
Und wie lange war es unterwegs gewesen? Er lächel te unwillkürlich. Diese Fragen stellte er sich jedesmal – eine Erinnerung an seine Jugend, in der er noch ent schlossen gewesen war, eines Tages zu den Sternen zu fliegen. Er starrte aus dem Fenster in die Sturmnacht hin aus. Allmählich wurde es Zeit, daß er nach Hause fuhr. Er hätte schon längst fahren sollen. Die Kinder schliefen bereits, aber Cheryl würde auf ihn warten. Im Osten sah er gerade noch die weiße Lichtsäule, die am Potomac zu Ehren der ersten Astronauten er strahlte, die vor mehr als fünfhundert Jahren die Erde in primitiven Raketen mit chemischen Triebwerken umkreist hatten. Washington, dachte er, eine Stadt mit unzähligen verfallenen Gebäuden und Denkmälern – ein Irrgar ten aus Granit und Marmor, den das Moos alter Erin nerungen überwucherte. Über Stein und Metall schien eine ehrwürdige Patina zu liegen, und die frü here Bedeutung dieser Stadt war noch heute unver kennbar. Ehemals Hauptstadt einer alten Republik, jetzt nur Sitz einer Provinzregierung – aber die ver gangenen Zeiten hatten ihre Spuren zurückgelassen. Und die Stadt wirkte am besten unter diesen Ver hältnissen, wenn eine neblige Regennacht die Umris se verwischte und einen Hintergrund schuf, vor dem sich alte Gespenster bewegen konnten.
Die leisen Geräusche eines Krankenhauses zur Nachtzeit drangen ins Zimmer, in dem Daniels am Fenster stand: die Schritte einer Krankenschwester auf dem Flur, das leichte Rumpeln eines Wagens, das Summen im Stationszimmer gegenüber. Hinter Daniels wurde die Tür geöffnet. Er drehte sich um. »Guten Abend, Gordy«, sagte er. Gordon Barnes, ein Assistenzarzt, schüttelte lä chelnd den Kopf. »Ich dachte, Sie wären längst ge gangen«, meinte er. »Ich habe mir den Bericht nochmals angesehen«, sagte Daniels und wies auf den Tisch. Barnes warf einen Blick in den Ordner. »Andrew Blake«, murmelte er. »Ein interessanter Fall.« Daniels schüttelte den Kopf. »Nicht nur interessant, sondern unmöglich«, stellte er fest. »Für wie alt hal ten Sie diesen Blake? Auf den ersten Blick, meine ich.« »Er könnte dreißig sein, Mike. Aber wir wissen na türlich, daß er, chronologisch gesehen, etliche hun dert Jahre alt sein kann.« »Falls er dreißig wäre, müßten doch Abnutzungs erscheinungen zu erkennen sein, nicht wahr? Der menschliche Körper überschreitet Mitte Zwanzig den Höhepunkt seiner Entwicklung; von da an geht es wieder bergab.«
»Ich weiß«, sagte Barnes. »Aber bei diesem Blake ist es anders, was?« »Perfekt«, antwortete Daniels. »In jeder Beziehung perfekt. Jugendlich. Kein schwacher Punkt am gan zen Körper.« »Und kein Hinweis auf seine Identität?« Daniels schüttelte den Kopf. »Die Raumfahrtbe hörde hat sämtliche Aufzeichnungen genau über prüft. Blake könnte einer von Tausenden von Leuten sein. Allein in den letzten zweihundert Jahren sind einige Dutzend Schiffe verschollen. Man hat nie wie der etwas von ihnen gehört. Er könnte jeder der Männer sein, die an Bord dieser Schiffe waren.« »Jemand hat ihn eingefroren und in die Kapsel ge steckt«, sagte Barnes nachdenklich. »Ist das vielleicht ein Hinweis?« »Sie meinen, er könnte so wichtig gewesen sein, daß er auf diese Weise gerettet werden sollte?« »Richtig«, stimmte Barnes zu. »Trotzdem kann ich nicht recht daran glauben«, sagte Daniels. »Welche Chancen hätte ein Mann, der auf diese Weise gerettet werden sollte? Eine Milliarde zu eins? Eine Billion zu eins? Ich weiß es nicht. Der Weltraum ist groß und leer.« »Aber Blake ist gefunden worden ...« »Ja, ich weiß. Seine Kapsel ist in einem Sonnensy stem aufgetaucht, das erst vor hundert Jahren koloni
siert worden war, und ein Forschungsteam von Mi neralogen hat ihn gefunden. Die Kapsel kreiste um einen Asteroiden und wäre in einigen Jahrzehnten auf dessen Oberfläche zerschellt. Rechnen Sie sich al so selbst aus, wie groß Blakes Chancen waren.« Barnes kam ebenfalls ans Fenster. »Ich bin völlig Ihrer Meinung«, sagte er. »Wirklich seltsam, wie der Zufall diesem Mann immer wieder zu Hilfe gekommen ist. Nachdem er gefunden wor den war, hätte jemand die Kapsel aufbrechen können. Die Mineralogen wußten, daß sie einen Menschen enthielt. Die Kapsel war transparent; sie konnten Bla ke also sehen. Jemand hätte auf die Idee kommen können, ihn herauszuholen und aufzutauen. Viel leicht hätte sich die Mühe gelohnt, und Blake hätte ihnen nach seiner Wiederbelebung wertvolle Infor mationen liefern können.« »Nein, das hätte ihnen nichts genützt«, stellte Da niels fest. »Blake kann sich nur an Bruchstücke seiner Vergangenheit erinnern. Er besitzt etwa den Wort schatz, die Lebensphilosophie und das Wissen eines Mannes, der vor zweihundert Jahren auf der Erde ge lebt hat. Aber das ist alles. Er weiß weder, was ihm zugestoßen sein könnte, noch wer er war oder woher er stammt.« »Steht wirklich fest, daß er ursprünglich von der Er de kam? Nicht von einem der kolonisierten Planeten?«
»Daran scheint es keinen Zweifel zu geben. Nach der Wiederbelebung wußte er, wo Washington liegt und was die Stadt früher gewesen ist. Für ihn war sie noch immer die Hauptstadt der Vereinigten Staaten. Und er wußte unzählige andere Einzelheiten, die sei ne Herkunft bewiesen. Sie können sich vorstellen, daß wir ihn getestet haben.« »Wie kommt er jetzt zurecht?« »Offenbar ganz gut. Ich habe noch nicht von ihm gehört. Er lebt in einer kleinen Siedlung westlich von hier. Draußen in den Bergen. Wir waren uns darüber einig, daß er zunächst ausspannen sollte. Er brauchte Ruhe, um überlegen zu können. Unterdessen fällt ihm vielleicht allmählich ein, wer und was er gewe sen ist.« »Glauben Sie, daß er es Ihnen dann erzählt?« »Ich weiß es nicht«, gab Daniels offen zu. »Ich hoffe es allerdings sehr. Aber ich versuche nicht etwa, ihn ständig unter Kontrolle zu halten. Das wäre bestimmt ungeschickt. Er soll seinen eigenen Weg gehen. So bald er Schwierigkeiten hat, meldet er sich bei uns. Davon bin ich überzeugt.«
5
Blake stand auf der Veranda und sah den hellroten Schlußleuchten des Wagens nach, die rasch kleiner wurden. Es regnete nicht mehr, und am Nachthimmel wa ren bereits wieder einzelne Sterne sichtbar. Die Häu ser entlang der Straße waren dunkel; nur die Lampen über den Türen waren eingeschaltet. In seinem eige nen Haus brannte noch Licht in der Diele – ein Zei chen, daß das Haus ihn erwartete. Blake drehte sich um, ging über die Veranda und näherte sich der Tür. Die Tür öffnete sich vor ihm, und er trat über die Schwelle. »Guten Abend, Sir«, sagte das Haus. Dann fügte es tadelnd hinzu: »Sie scheinen aufgehalten worden zu sein.« »Mir ist etwas zugestoßen«, erklärte Blake. »Du weißt nicht zufällig, was geschehen ist?« »Sie haben die Veranda verlassen«, antwortete das Haus spitz. »Ihnen ist natürlich bekannt, daß wir au ßerhalb der Veranda nicht mehr zuständig sind.« »Ja«, murmelte Blake. »Das ist mir klar.« »Sie hätten uns mitteilen sollen, daß Sie ausgehen wollten«, sagte das Haus streng. »Sie hätten mit uns in Verbindung bleiben können. Wir hätten für ent
sprechende Kleidung gesorgt. Wie ich sehe, tragen Sie jetzt eine andere Robe als zuvor.« »Ein Freund hat sie mir geliehen«, sagte Blake. »Während Ihrer Abwesenheit ist eine Nachricht für Sie gekommen«, fuhr das Haus fort. »Sie ist noch auf dem Hellschreiber.« Der Hellschreiber stand links in der Diele. Blake trat darauf zu und zog das Papier aus der Maschine. Die Nachricht war mit energischer Hand geschrieben und lautete: Sollte Mr. Andrew Blake es für richtig halten, sich gele gentlich mit Mr. Ryan Wilson in Willow Grove in Ver bindung zu setzen, könnte er etwas zu seinem Vorteil er fahren. Blake drehte das Papier in den Fingern. Das war un glaublich – fast melodramatisch. »Willow Grove?« fragte er. »Wir schlagen es nach«, sagte das Haus. »Bitte«, murmelte Blake. »Ein Bad ist gleich eingelassen«, sagte das Haus. »Wünschen Sie zu baden?« »Es gibt auch gleich Essen«, rief die Küche dazwi schen. »Was wünscht der Herr zu essen?« »Keine schlechte Idee«, meinte Blake. »Rührei mit Schinken und Toast.«
»Warum nicht etwas anderes?« fragte die Küche. »Hühnersuppe? Forelle blau? Pfannkuchen?« »Rührei mit Schinken«, wiederholte Blake. »Wie steht es mit der Dekoration?« fragte das Haus. »Allmählich wäre es Zeit, wieder die Tapete zu wechseln.« »Nein«, wehrte Blake müde ab. »Laß alles, wie es ist.« »Wie Sie wünschen, Herr«, sagte das Haus. »Zuerst das Abendessen, dann ein Bad und dann ins Bett«, sagte Blake. »Puh, das war ein anstrengen der Tag.« »Und die Nachricht?« »Das ist nicht so eilig. Damit können wir uns mor gen beschäftigen.« »Die Stadt Willow Grove«, erklärte das Haus ihm, »liegt nordwestlich von hier. Fünfundsiebzig Meilen. Wir haben nachgeschlagen.« Blake durchquerte das Wohnzimmer, betrat das Eßzimmer und setzte sich an den Tisch. »Sie müssen es selbst holen«, jammerte die Küche. »Ich kann es Ihnen nicht bringen.« »Das weiß ich«, sagte Blake. »Du brauchst mir nur zu sagen, wann es fertig ist.« »Aber Sie sitzen am Tisch!« »Der Mann kann sitzen, wo es ihm gefällt!« tadelte das Haus.
»Jawohl, Sir«, sagte die Küche. Das Haus schwieg, und Blake hockte todmüde auf seinem Stuhl. Er sah, daß die Tapete lebendig gewor den zu sein schien. Allerdings handelte es sich nicht um eine Tapete im herkömmlichen Sinn. Das hatte ihm das Haus schon am ersten Tag erklärt. Die Wand zeigte eine Waldlichtung, über die ein kri stallklarer Bach im Sonnenschein floß. Ein Hase kam zwischen den Bäumen hervor und knabberte am zar ten Gras auf der Lichtung. Das Wasser glitzerte im Sonnenschein; ein Vogel kam von links und setzte sich auf einen Ast. Er begann zu singen, aber der Ton fehlte vorläufig. »Soll ich den Ton einschalten?« fragte das Eßzimmer. »Nein, vielen Dank. Ich möchte mich nur ausruhen. Vielleicht später.« Er wollte nur sitzen und nachdenken, angestrengt nachdenken. Er mußte irgendwie herausbekommen, was ihm zugestoßen war, wie es ihm zugestoßen war und weshalb es ihm zugestoßen war. Und er mußte feststellen, wer er war, was er gewesen war und was er im Augenblick sein mochte. Alles erinnerte ihn an einen Alptraum – aber er war dabei hellwach, obwohl er körperlich erschöpft war. Er bewegte sich auf seinem Stuhl. »Wieviel Uhr ist es?« fragte er. »Wie lange bin ich fort gewesen?«
»Es ist fast zwei Uhr morgens«, antwortete das Haus. »Sie sind gegen acht Uhr verschwunden.« Sechs Stunden, überlegte er, und ich habe nur zwei erlebt. Was war in diesen anderen vier Stunden ge schehen, und warum konnte er sich nicht daran erin nern? Weshalb konnte er sich übrigens auch nicht an die Zeit im Raum und die Zeit davor erinnern? Warum begann sein Leben mit der Sekunde, in der er in einem Krankenhausbett in Washington die Augen geöffnet hatte? Es mußte eine andere Zeit und andere Jahre ge geben haben; er hatte einen Namen und eine persönli che Geschichte besessen – und was war geschehen, um das alles auszulöschen? Der Hase hatte genug und hoppelte davon. Der Vogel saß noch auf dem gleichen Ast, sang aber nicht mehr. Ein Eichhörnchen sprang von Baum zu Baum. Wie an einem Fenster, dachte Blake, während er diese Szene beobachtete. Die Perspektive stimmte, und die Farben waren so echt, als befinde er sich wirklich im Freien. Das Haus verblüffte und störte ihn noch immer; gelegentlich war es ihm sogar un heimlich. Seine Erinnerungen halfen ihm nicht weiter, denn er war darauf nicht vorbereitet gewesen. Er konnte sich nur unsicher daran erinnern, daß jemand in grauer Vorzeit das Geheimnis der Schwerkraft ent rätselt hatte, und daß die Sonnenenergie zu allen möglichen Zwecken nutzbar gemacht wurde.
Aber das Haus bezog seine Energie nicht nur von einem Sonnenkraftwerk und war nicht nur wegen seiner Schwerkraftreduktoren beweglich, sondern war erheblich mehr. Es war ein Roboter – ein Roboter mit dem Komplex, allzeit ein treuer Diener zu sein, und dieser Komplex grenzte fast an einen Mutter komplex. Das Haus umsorgte die Menschen, die es beherbergte. Es konzentrierte sich ausschließlich auf ihr Wohlergehen. Es sprach mit ihnen und bediente sie, es erinnerte sie und bevormundete sie und mach te ihnen Vorwürfe und verwöhnte sie. Es war Haus und Diener und Gefährte in einem. Blake konnte sich vorstellen, daß ein Mann sein Haus im Laufe der Zeit als treuen und anhänglichen Freund betrachtete. Das Haus tat alles für seinen Besitzer. Es fütterte ihn, wusch seine Wäsche, brachte ihn zu Bett und hätte ihm am liebsten auch die Nase geputzt. Es wachte über sei nen Besitzer, las ihm jeden Wunsch von den Augen ab und war manchmal sogar lästig, wenn es allzuviel tun wollte. Es verwirklichte eigene Ideen, die seinem Besit zer vielleicht gefallen würden – wie die lebendige Ta pete mit dem Hasen und dem singenden Vogel. Aber daran mußte man sich erst gewöhnen. Wer in Häusern dieser Art aufgewachsen war, brauchte kei ne Eingewöhnungszeit. Aber wer wie Blake von den Sternen zurückkam und in dieses Haus gesteckt wurde, mußte sich allmählich daran gewöhnen.
»Das Essen kann abgeholt werden!« rief die Küche. »Rührei mit Schinken ist fertig!«
6
Es kam an einem Ort zu sich, den es noch nie zuvor wahrgenommen hatte – eine seltsame Umgebung mit Artefakten aus Holz, Metall und Geweben. Es reagierte instinktiv. Es ging zur Verteidigung über und schirmte sich ab. Es bildete eine Pyramide und konstruierte eine kugelförmige Abschirmung. Es suchte nach Energie, die es brauchte, um zu le ben und zu denken, und die Energie war vorhanden, obwohl ihn die Quelle verborgen blieb. Es stellte fest, daß es nun denken konnte. Die Ge dankenprozesse waren klar und durchsichtig, seine Logik glich einer scharfen Klinge. Die Pyramidenform seiner Körpermaße bildete eine stabile Hülle, in der Denkvorgänge ablaufen konnten. Es konzentrierte sich auf die Lösung eines verblüf fenden Problems – wie es möglich war, daß es nach so langer Zeit plötzlich wieder frei und funktionsfä hig sein konnte. Es suchte nach einem Anfang, aber es schien kei nen deutlichen Beginn zu geben, obwohl es keinen Winkel seines Geistes ununtersucht ließ. Aber viel leicht spielte das keine große Rolle, denn der Anfang brauchte nicht weiter wichtig zu sein. Hatte es jemals einen Anfang gegeben, fragte es sich, oder war es
immer auf der Suche nach einem Bezugspunkt im Labyrinth seines Verstandes gewesen? Natürlich wa ren weder Anfang noch Ende unbedingt erforderlich, aber irgendwo mußte es etwas geben, das einen An fang und einem Ende ungefähr entsprach. Vielleicht handelte es sich eher darum, ob es eine Vergangenheit gab, und es wußte sicher, daß es eine Vergangenheit geben mußte, denn es erinnerte sich undeutlich an Bruchstücke von Informationen aus dieser Zeit. Es gab sich Mühe, diese Bruchstücke zu sammenzusetzen, aber das gelang nicht, denn sie schienen nicht zu passen. Daten, überlegte es erschrocken – früher hatte es stets Daten gegeben. Es mußte welche gegeben ha ben. Früher hatte sein Verstand mit diesem Material arbeiten können. Und vielleicht waren die Daten jetzt nur verborgen ... Es behielt seine Pyramidenform bei und lauschte dem Leerlauf seines Verstandes – ein fähiger Verstand, der aber keine Daten zur Verfügung hatte, mit denen er hätte arbeiten können, so daß er zu phantasieren begann. Es suchte wieder die spärlichen Informationen ab, die bruchstückhaft aus der Vergangenheit auftauch ten, und fand die Erinnerung an ein felsiges, unwirt liches Land, in dem ein massiver Zylinder, so schwarz wie das Gestein selbst, in den grauen Him
mel aufstrebte, bis einem schwindlig wurde, wenn man ihm mit den Augen folgte. Und in diesem Zy linder, das wußte es ganz bestimmt, verbarg sich et was Unvorstellbares, etwas so Großes und Wunder bares, daß der Verstand davor zurückschrak. Es suchte nach der Bedeutung, nach irgendeinem Hinweis, aber es fand nur dieses Bild: schwarzes, fel siges Land, aus dem ein dunkler Zylinder zum Him mel aufragte. Es trennte sich widerstrebend von diesem Bild und konzentrierte sich auf das nächste Bruchstück. Dies mal handelte es sich um ein weites Tal, und der Tal boden war eine blühende Wiese mit Millionen von Blumen. Musik lag in der Luft, und zwischen den Blüten bewegten sich Lebewesen. Auch darin lag eine Bedeutung, das ahnte es, aber die Informationen lie ßen keinen Schluß auf diese versteckte Bedeutung zu. Früher einmal hatte es einen anderen gegeben. Es hatte ein anderes Lebewesen gegeben, und dieses Wesen hatte die Bilder aufgenommen und bewahrt und weitergeleitet – und nicht nur die Eindrücke, sondern auch die dazugehörigen Daten. Die Bilder waren durcheinandergeworfen, aber immerhin noch vorhanden, während die ebenso wichtigen Daten ir gendwie verschwunden waren. Es duckte sich tiefer und massiver in seine Pyrami denform und versuchte die ungewisse Vergangenheit
mit dem Geist zu durchdringen und dieses andere Lebewesen zu finden, das Bilder und Daten geliefert hatte. Aber es fand nichts. Es war nicht imstande, mit diesem anderen Wesen Verbindung aufzunehmen. Und es weinte vor Einsamkeit – lautlos und ohne Tränen, denn es konnte weder schluchzen noch Trä nen vergießen. Und in seinem Kummer drang es noch tiefer in die Vergangenheit ein und entdeckte dort einen Zeit punkt, an dem es kein Lebewesen gegeben hatte, an dem es nur mit Daten und abstrakten Vorstellungen gearbeitet hatte, die auf Daten beruhten. Aber die Da ten und seine eigene Vorstellungskraft waren nicht farbig gewesen, und die auf diese Weise entstande nen Bilder waren steif und kalt und manchmal sogar erschreckend. Es hat keinen Zweck, dachte es enttäuscht. Der Versuch war zwecklos. Es funktionierte nicht richtig, weil dazu noch etwas fehlte, und es konnte unmög lich zufriedenstellend arbeiten, solange es kein Mate rial besaß, das eine Voraussetzung für sein Funktio nieren war. Es spürte die Dunkelheit herabsinken und setzte sich nicht dagegen zur Wehr. Es blieb und wartete und ließ die Dunkelheit kommen.
7
Blake wachte auf, und das Zimmer schrie ihn an. »Wo sind Sie gewesen?« schrie es. »Wohin sind Sie gegangen? Was ist mit Ihnen geschehen?« Er hockte mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden. Das war nicht richtig, denn er hätte im Bett liegen müssen. Das Zimmer begann wieder. »Wo sind Sie gewe sen?« fragte es laut. »Was ist ...« »Ach, halt's Maul«, sagte Blake. Das Zimmer schwieg. Blake sah sich um und stellte fest, daß sich nichts verändert hatte. Allerdings schien jetzt die Morgen sonne durchs Fenster. »Was ist überhaupt passiert?« fragte er. »Sie sind verschwunden!« klagte das Zimmer. »Sie haben eine Mauer um sich errichtet ...« »Eine Mauer!« »Ein Nichts«, erklärte ihm das Zimmer. »Einen Klumpen Nichts.« »Du spinnst«, sagte Blake. »Unmöglich!« Aber er wußte, daß das Zimmer recht hatte. Es konnte nur Phänomene schildern, die es wahrge nommen hatte und es besaß keine Vorstellungskraft. Es war nur eine Maschine – allerdings eine äußerst
komplizierte Maschine –, die weder Aberglauben noch Sagen noch Märchen kannte. »Sie sind verschwunden«, beteuerte das Zimmer. »Sie haben sich in dieses Nichts eingehüllt und sind einfach verschwunden. Aber vorher haben Sie sich noch verwandelt.« »Wie soll ich das können?« »Ich weiß es nicht, aber Sie haben es jedenfalls ge tan«, antwortete das Zimmer. »Sie sind zusammenge schrumpft, haben eine andere Form angenommen – und haben sich dann eingehüllt.« »Und du konntest mich nicht mehr wahrnehmen? Hast du deshalb geglaubt, ich sei fortgegangen?« »Für mich waren Sie plötzlich verschwunden«, er widerte das Zimmer. »Das Nichts war undurchdring lich.« »Nichts?« »Einfach ein Nichts«, sagte das Zimmer. »Ich konn te es nicht analysieren.« Blake stand langsam auf, zog sich die Hose an, die neben seinem Bett lag, und griff nach der Robe über der Stuhllehne. Er hielt sie in der Hand – sie war schwer und braun und aus Wolle, und er erinnerte sich plötzlich an die vergangene Nacht und das merkwürdige Steinhaus und den Senator und dessen Tochter. Er hatte sich verwandelt, behauptete das Zimmer.
Er hatte sich verwandelt, bevor er sich in ein geheim nisvolles Nichts zurückgezogen hatte. Aber er konnte sich nicht im geringsten daran erinnern. Ebensowenig wußte er, was sich letzte Nacht er eignet hatte, nachdem er sein Haus verlassen hatte. Mein Gott, was geht hier vor? dachte er. Er setzte sich plötzlich aufs Bett und behielt die Robe auf den Knien. »Weißt du das bestimmt, Zimmer?« fragte er zö gernd. »Ganz bestimmt«, antwortete das Zimmer. »Hast du irgendeinen Verdacht?« »Sie wissen recht gut, daß ich keine Vermutungen anstelle«, erwiderte das Zimmer. »Nein, natürlich nicht ...«, murmelte Blake. »Vermutungen«, sagte das Zimmer, »sind unlo gisch.« »Du hast selbstverständlich recht«, stimmte Blake zu. Er stand auf, legte die Robe an und ging zur Tür. »Mehr haben Sie nicht dazu zu sagen?« erkundigte das Zimmer sich mißbilligend. »Was sollte ich sagen?« fragte Blake. »Du bist bes ser informiert als ich.« Er schloß die Tür hinter sich und ging den Balkon entlang. Als er die Treppe erreichte, begrüßte ihn das Haus so fröhlich wie jeden Morgen.
»Guten Morgen, Sir«, zwitscherte es. »Draußen scheint die Sonne; der Sturm ist vorüber, und der Himmel ist wolkenlos. Das Wetter wird voraussicht lich schön und warm. Die Temperatur beträgt elf Grad Celsius und dürfte mittags fünfundzwanzig Grad erreichen. Ein herrlicher Herbsttag hat begon nen, und alles ist wunderbar. Darf ich mich nach Ih ren Wünschen erkundigen, Sir? Wie steht es mit der Ausschmückung? Wie steht es mit der Einrichtung? Wie wäre es mit Musik?« »Frag ihn«, warf die Küche ein, »was er zum Früh stück will.« »Und was wünschen Sie zum Frühstück?« sagte das Haus. »Hmm, vielleicht Haferflocken?« »Haferflocken!« jammerte die Küche. »Immer nur Haferflocken. Oder Rührei mit Schinken. Oder Pfannkuchen. Warum nicht ausnahmsweise etwas Besonderes? Warum nicht ...« »Haferflocken«, wiederholte Blake. »Der Mann will Haferflocken«, sagte das Haus. »Okay«, murmelte die Küche niedergeschlagen. »Eine Portion Haferflocken.« »Sie dürfen sich nicht von der Küche stören las sen«, empfahl das Haus Blake, »denn sie ist etwas durcheinander. Ihre Programmierung umfaßt über tausend erstklassige Rezepte, und unsere Küche be
herrscht sie wirklich ausgezeichnet, hat jedoch nur selten Gelegenheit, ihre Kunst zu zeigen. An Ihrer Stelle würde ich vielleicht ...« »Haferflocken«, sagte Blake. »Oh, selbstverständlich, Sir. Die Morgenzeitung liegt im Hellschreiber. Aber heute morgen gibt es kaum interessante Nachrichten.« »Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Blake, »werfe ich selbst einen Blick in die Zeitung.« »Natürlich, Sir. Wie Sie wünschen, Sir. Ich wollte Sie nur informieren.« »Sieh dich vor, daß du nicht des Guten zuviel tust«, warnte Blake. »Tut mir leid, Sir«, antwortete das Haus. »Ich wer de darauf achten.« Blake ging in die Diele, griff nach der Zeitung und steckte sie unter den Arm. Dann warf er einen Blick aus dem Fenster. Das Nachbarhaus war verschwunden. Die Funda mente standen leer. »Sie sind heute morgen abgereist«, sagte das Haus. »Etwa vor einer Stunde. Ein kurzer Urlaub, soviel ich gehört habe. Wir sind alle froh ...« »Wir?« »Ja, natürlich. Alle übrigen Häuser, Sir. Wir sind froh, daß sie nur für kurze Zeit verreisen und bald zurückkommen. Sie sind so gute Nachbarn, Sir.«
»Du scheinst viel über sie zu wissen. Ich habe kaum mit ihnen gesprochen.« »Oh«, sagte das Haus, »nicht die Leute, Sir. Ich ha be nicht die Leute gemeint, sondern vielmehr das Haus selbst.« »Ihr Häuser betrachtet euch als Nachbarn?« »Ganz recht, Sir. Wir besuchen uns gegenseitig. Wir unterhalten uns.« »Nur zum Informationsaustausch.« »Selbstverständlich«, sagte das Haus. »Aber wie steht es mit der Innenausstattung?« »Gerade richtig.« »Aber sie ist schon seit Wochen unverändert.« »Nun«, meinte Blake nachdenklich, »du könntest die Tapete im Eßzimmer umgestalten.« »Es ist keine Tapete, Sir.« »Das weiß ich. Trotzdem habe ich es allmählich satt, immer nur einen Hasen Gras fressen zu sehen.« »Was wünschen Sie statt dessen?« »Irgend etwas – aber ohne Hasen.« »Sie haben die Wahl unter Tausenden von Mög lichkeiten, Sir«, sagte das Haus vorwurfsvoll. »Was dir Spaß macht«, antwortete Blake. »Aber ich will keine Hasen mehr sehen.« Er trat vom Fenster zurück und ging ins Eßzimmer hinüber. Von den Wänden starrten ihn Augen an – Tausende von Augen, Augen ohne ein einziges Ge
sicht, Augen aus vielen, vielen Gesichtern, die jetzt an der Wand hingen. Einige waren paarweise angeord net, aber die meisten standen allein. Und alle beo bachteten ihn. Blake sah blaue Kinderaugen, die ihn unschuldig anblickten, blutunterlaufene Augen, lüsterne Augen und die wäßrigen Augen alter Menschen. Und sie alle kannten ihn, wußten genau, wer er war, und sie starr ten ihn entsetzlich persönlich an, und wenn zu diesen Augen Lippen gehört hätten, wären sie alle in Bewe gung gewesen, um auf ihn einzuschreien, mit ihm zu reden und ihn zu beschimpfen. »Haus!« schrie er. »Sir?« »Diese Augen!« »Aber Sie haben doch gesagt, Sie wollten nur keine Hasen sehen, Sir. Ich dachte, die Augen seien eine neuartige ...« »Weg damit!« rief Blake. Die Augen verschwanden. An ihrer Stelle erschien ein weiter Sandstrand, der zum Meer hinabführte. Grüne Wogen schäumten landeinwärts, brachen und fluteten zurück. Über der Brandung schwebten Mö wen und kreischten um die Wette, während sie he rabstießen und wieder emporsegelten. Das ganze Zimmer roch plötzlich nach Sand, Tang und Meer wasser.
»Besser?« fragte das Haus. »Vielen Dank«, antwortete Blake. »Wesentlich bes ser.« Er saß wie verzaubert und starrte die Szene an, die von der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden war – er hätte ebensogut am Strand sitzen können. »Gerüche und Geräusche sind eingeblendet«, fuhr das Haus fort. »Sie können aber auch etwas Wind ha ben.« »Nein«, sagte Blake. »Das genügt mir.« Die Wogen brachen sich schäumend am Strand, und die Vögel segelten kreischend darüber hinweg, und am Himmel zogen dunkle Wolken landeinwärts. Blake fragte sich, ob es überhaupt etwas gab, das sein Haus nicht auf dieser Wand reproduzieren konnte. Tausende von Kombinationen, hatte es vorhin gesagt. Er brauchte nur einen Wunsch zu äußern – das Haus würde ihn erfüllen. Ein Haus, dachte er. Was war ein Haus? Wie hatte es sich entwickelt? Zu Beginn der menschlichen Geschichte war es kaum mehr als ein Schutz vor Wind und Wetter ge wesen, ein Unterschlupf, in dem Menschen sich zu sammendrängten und versteckten. Diese Definition war im Grunde genommen noch immer richtig, aber die Menschen wollten sich heutzutage nicht nur zu sammendrängen und verstecken – sie wollten in ih
rem Haus leben. Vielleicht kam später einmal der Tag, an dem sie ihre Häuser nicht mehr zu verlassen brauchten, weil sie ihre Abenteuerlust auf andere Weise befriedigen konnten. Dieser Tag war vielleicht schon näher als erwartet, denn ein Haus war längst mehr als nur ein Unter schlupf oder eine Wohngelegenheit. Es war Diener und Gefährte zugleich, und sein Besitzer fand in seinen eigenen vier Wänden alles, was er sich wünschen konnte. Neben dem Wohnzimmer lag ein kleinerer Raum, der das Fernsehgerät enthielt. Dieser Apparat war eine logische Weiterentwicklung der Geräte, die Blake vor zweihundert Jahren gekannt hatte. Heutzutage starrte man jedoch nicht ein dreidimensionales Bild an, son dern nahm selbst an den gezeigten Ereignissen teil. Man betrat den Raum, schaltete das Gerät ein und be fand sich plötzlich in Gegenwart der Handelnden, oh ne selbst gesehen zu werden. Man nahm nicht nur Ge räusche, Düfte, Geschmack, Temperatur und andere Einzelheiten wahr, sondern nahm auf unerklärliche Weise an den Ereignissen teil, anstatt sie nur zu sehen, und verstand sie deshalb um so besser. Und in einer Ecke des Wohnzimmers war die Bi bliothek eingerichtet, die in ihren elektronischen Speichern die gesamte überlieferte Literatur der Menschheit enthielt.
Das menschliche Haus hatte sich in den vergange nen zweihundert Jahren erstaunlich weiterentwickelt. Und es war noch nicht fertig. Vielleicht machte die Entwicklung in den nächsten zwei Jahrhunderten ebenso große Fortschritte. War überhaupt ein Ende abzusehen? Blake warf einen Blick in die Zeitung. Das Haus hatte recht gehabt, es gab wirklich nicht viel Neues. Drei Männer waren für den Intelligenzspeicher nominiert worden und würden sich nun zu den an deren Auserwählten gesellen, deren Gedanken und Persönlichkeiten, Wissen und Intelligenz in den ver gangenen dreihundert Jahren in der riesigen Gehirn bank gespeichert worden waren, in der die Überzeu gungen und Gedanken der intelligentesten Menschen aufbewahrt wurden. Das nordamerikanische Wet teränderungsprojekt war endlich dem Obersten Ge richtshof in Rom zur Begutachtung vorgelegt wor den. Der Streit um die Fischereirechte vor Florida dauerte an. Ein Vermessungsschiff war nach zehnjäh rigem Flug glücklich in Moskau gelandet, nachdem es bereits als verschollen gegolten hatte. Und die re gionalen Biotechnik-Hearings würden morgen in Washington beginnen. Der Artikel über die Hearings war mit Fotografien der Senatoren Chandler Horton und Solomon Stone illustriert.
Blake begann den Artikel zu lesen. WASHINGTON, NORDAMERIKA – Die beiden Se natoren von Nordamerika haben morgen bei der Eröff nung des Hearings über das vieldiskutierte Biotechnik programm erstmals Gelegenheit, ihre Standpunkte öf fentlich zu verteidigen. Beobachter erwarten heftige Auseinandersetzungen, denn es hat in den vergangenen Jahren keinen derartig umstrittenen Vorschlag mehr ge geben. Nordamerikas zwei Senatoren vertreten wieder einmal diametral entgegengesetzte Auffassungen, wie sie es im Verlauf ihrer Karriere als Politiker meistens getan ha ben. Senator Chandler Horton befürwortet das Projekt, das Anfang nächsten Jahres einer weltweiten Abstim mung unterworfen wird. Senator Solomon Stone ist ebenso entschieden dagegen. Daß diese beiden Männer anderer Meinung sind, ist nichts Neues, aber in diesem Fall erhalten ihre Mei nungsverschiedenheiten dadurch größere Bedeutung, daß hier die Einstimmigkeitsregel in Kraft tritt. Sie be sagt im Grunde genommen nur, daß die Ergebnisse ei ner Volksabstimmung auch im Senat in Genf gültig bleiben müssen. Sollten die Wähler sich also für das Pro jekt entscheiden, müßte Senator Stone sich bereit erklä ren, in Genf dafür zu stimmen. Wäre er dazu nicht be reit, müßte er zurücktreten; sein Nachfolger würde un
mittelbar darauf gewählt und müßte seinerseits vor der Wahl die gleiche Versicherung abgeben, um überhaupt für den frei werdenden Sitz kandidieren zu können. Sollten die Wähler gegen das Projekt stimmen, befän de Senator Horton sich in ähnlicher Lage. In früheren Jahren haben bestimmte Senatoren ihren Sitz dadurch behalten, daß sie für den Vorschlag stimm ten, den sie zuvor abgelehnt hatten. Die meisten Beob achter sind sich darüber einig, daß Stone oder Horton diesen Ausweg nicht benützen würden. Beide setzen diesmal ihre politische Karriere aufs Spiel, und ihre per sönliche Antipathie ist im Laufe der Jahre eher größer als ... »Entschuldigen Sie, Sir«, unterbrach ihn das Haus, »aber ich höre eben, daß Sie etwas Merkwürdiges er lebt haben. Es geht Ihnen doch hoffentlich wieder gut?« Blake sah auf. »Ja«, sagte er, »mir fehlt nichts.« »Wäre es nicht besser, wenn Sie zu einem Arzt gin gen?« schlug das Haus vor. Blake legte die Zeitung fort. »Vielleicht hast du recht«, sagte er langsam. Schließlich ließ sich nicht leugnen, daß er in den letzten vierundzwanzig Stun den zweimal seltsame Erlebnisse gehabt hatte. »In Washington gibt es einen netten Arzt. Er heißt Da niels, glaube ich.«
»Doktor Michael Daniels«, bestätigte das Haus. »Du weißt seinen Namen?« »Unser Informationsspeicher ist ziemlich vollstän dig«, antwortete das Haus. »Wie könnten wir sonst unsere Aufgabe erfüllen? Soll ich ihn anrufen?« »Bitte«, sagte Blake. Er stand auf und setzte sich ans Visorphon. Der Bildschirm flimmerte kurz und zeigte dann den Kopf des jungen Arztes. »Andrew Blake. Erinnern Sie sich noch an mich?« »Natürlich«, antwortete Daniels. »Ich habe erst ge stern an Sie gedacht. Wie geht es Ihnen?« »Körperlich bin ich in Ordnung«, erklärte Blake ihm. »Aber ich habe ... nun, man könnte Halluzina tionen dazu sagen.« »Aber Sie sind eigentlich davon überzeugt, daß es sich um Halluzinationen handelt?« »Ziemlich«, sagte Blake. »Könnten Sie hierherkommen?« fragte Daniels. »Ich würde Sie gern untersuchen.« »Gerade das wollte ich vorschlagen, Doktor.« »Washington platzt fast aus den Nähten«, sagte Da niels, »aber hier gegenüber ist vielleicht noch Platz. Wollen Sie warten, während ich mich erkundige?« »Ich kann warten«, antwortete Blake. Daniels ver schwand vom Bildschirm. »Der Haferbrei ist fertig«, trompetete die Küche. »Außerdem Toast, Rührei mit Schinken und Kaffee.«
»Unser Herr telefoniert«, sagte das Haus streng. »Außerdem hat er nur Haferflocken bestellt.« »Vielleicht überlegt er es sich anders«, antwortete die Küche. »Vielleicht ist er hungriger, als er dachte. Du willst dir doch nicht nachsagen lassen, daß er bei uns hungern muß.« Daniels erschien wieder auf dem Bildschirm. »Im Augenblick ist kein Platz frei«, sagte er, »aber ich habe ein Fundament für morgen früh reservieren lassen. Hat es solange Zeit?« »Bestimmt«, antwortete Blake. »Ich wollte nur mit Ihnen sprechen.« »Das könnten Sie jetzt.« Blake schüttelte den Kopf. »Ich verstehe«, sagte Daniels. »Gut, wir sehen uns morgen gegen eins. Was haben Sie heute vor?« »Nichts.« »Warum gehen Sie nicht angeln? Das lenkt ab und beruhigt. Sind Sie Fischer?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht, denn der Sport kommt mir bekannt vor. Ich erinnere mich oft an Dinge, die ich früher gekannt haben muß.« »Schön, amüsieren Sie sich gut und kommen Sie morgen zu mir«, sagte Daniels. »In Ihrer Gegend muß es Forellenbäche geben. Suchen Sie sich einen.« »Wird gemacht, Doktor.« Der Bildschirm wurde dunkel. Blake sah auf.
»Sobald Sie gefrühstückt haben, steht der Schweber vor der Veranda«, begann das Haus. »Das Angelzeug liegt im zweiten Schlafzimmer, der als Lagerraum dient, und die Küche bereitet einen Picknickkorb vor. Inzwischen suche ich einen guten Forellenbach her aus und erkläre Ihnen ...« »Hör endlich auf!« kreischte die Küche. »Das Früh stück wird kalt!«
8
Blake steuerte seinen Schweber an den idyllischen Waldbach heran und schaltete die Schwerkraftreduk toren aus. Er blieb noch einen Augenblick sitzen, hör te das Wasser leise rauschen und sah die Sonne durch das hohe Blätterdach blitzen. Dann stieg er ab und schnallte den Essenskorb los, um an sein Angelzeug zu kommen. Er stellte den Korb neben sich ins Gras. Vor ihm in den dürren Ästen am Ufer raschelte et was. Blake kniff die Augen zusammen. Ein Paar schwarze Augen beobachteten ihn wachsam. Ein Marder, dachte er. Oder ein Otter. Neugierige kleine Tiere. »Hallo, Kleiner«, sagte Blake. »Stört es dich, wenn ich hier mein Glück versuche?« »Hallo«, antwortete der Marder-Otter mit heller Piepsstimme. »Welches Glück wollen Sie hier versu chen? Drücken Sie sich bitte genauer aus.« »Wa – was ...«, brachte Blake nur hervor. Der Marder-Otter kam aus seinem Versteck gekro chen. Dabei zeigte sich, daß er weder Marder noch Otter war, sondern ein Zweibeiner, der geradewegs aus einem Kinderbuch zu stammen schien. Das selt same Nagetier war etwa einen halben Meter groß, hatte niedliche Pinselohren, eine hohe Stirn und wei
chen, dunkelbraunen Pelz. Es trug hellrote Hosen mit aufgenähten Taschen, und seine Arme liefen in schlan ke Hände mit zarten Fingern aus. Jetzt hob es die Nase und schnüffelte. »Haben Sie zufällig etwas zu essen in Ihrem Korb?« fragte es mit seiner hellen Stimme. »Ja, natürlich«, antwortete Blake. »Hast du Hun ger?« Alles war natürlich absurd. Innerhalb der nächsten Minute – vielleicht sogar schon früher – würde diese Kinderbuchillustration verschwinden, so daß er seine Angel auswerfen konnte. »Ich bin fast verhungert«, sagte die Illustration. »Die Leute, die mich sonst versorgen, sind in Urlaub gefahren. Seitdem muß ich mir das Essen zusammen betteln. Haben Sie schon einmal in Ihrem Leben bet teln müssen?« »Nein«, antwortete Blake, »ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.« Das Tier verschwand nicht. Es blieb da und war of fensichtlich fest entschlossen, diese Gelegenheit zu nützen. Großer Gott, dachte Blake, schon wieder! »Wenn du Hunger hast, packen wir am besten gleich aus«, sagte er. »Hast du besondere Vorlieben?« »Ich esse alles, was der Homo sapiens zu sich nimmt«, erklärte ihm das Wesen. »Ich bin nicht im
geringsten wählerisch. Mein Metabolismus entspricht zum Glück dem der Erdbewohner.« Sie wandten sich dem Korb zu, und Blake hob den Deckel ab. »Mein Auftauchen scheint sie nicht zu stören«, stellte das Wesen fest. »Nun, es geht mich schließlich nichts an«, erwiderte Blake und versuchte gelassen zu wirken. »Wir haben hier Sandwiches, Kuchen, ein Glas Kartoffelsalat, Gur ken, Tomaten und harte Eier.« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, esse ich ein paar Sandwiches.« »Bitte sehr«, sagte Blake lächelnd. »Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?« »Danke, ich habe erst vorhin gefrühstückt.« Das Wesen nahm je ein Sandwich in beide Hände und begann gierig zu essen. »Sie müssen meine schlechten Manieren entschul digen«, sagte es zu Blake, »aber ich habe seit fast zwei Wochen nicht mehr richtig gegessen. Wahrscheinlich bin ich zu verwöhnt. Diese Leute, die für mich sor gen, geben mir immer, was sie gerade essen. Nicht nur eine Schüssel Milch – wie manche Leute.« Es verschlang die beiden Sandwiches, wollte nach einem dritten greifen und sah zu Blake auf. »Darf ich?« »Selbstverständlich«, sagte Blake.
Es kaute nachdenklich auf dem dritten Sandwich herum. »Entschuldigen Sie eine Frage«, sagte es dann, »aber zu wievielt sind Sie eigentlich?« »Wie viele es von mir gibt?« »Ganz recht.« »Natürlich nur einen«, antwortete Blake über rascht. »Wie könnten es mehr sein?« »Ein Irrtum meinerseits«, entschuldigte sich das We sen, »aber auf den ersten Blick hätte ich geschworen, daß Sie nicht allein seien.« Es aß das Sandwich auf und wischte sich die Krümel von den Schnurrbarthaaren. »Ich danke Ihnen«, sagte es ernsthaft. »Bitte, gern geschehen«, antwortete Blake. »Möch test du wirklich kein Sandwich mehr?« »Vielleicht kein Sandwich – aber wenn Sie etwas Kuchen hätten ...« »Bitte«, sagte Blake. Das Wesen bediente sich. »Du hast mir eine Frage gestellt«, fuhr Blake fort. »Würdest du eine Gegenfrage für fair halten?« »Natürlich«, antwortete das Wesen. »Fragen Sie nur.« »Ich wüßte gern«, sagte Blake, »wer und was du eigentlich bist.« »Du lieber Himmel, das hätte ich nie gedacht«, meinte das Wesen überrascht. »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Sie könnten mich nicht erkennen.«
Blake schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung.« »Ich bin ein Brownie«, sagte das Wesen und ver beugte sich.
9
Dr. Michael Daniels saß an seinem Schreibtisch, als Blake hereingeführt wurde. »Wie fühlen Sie sich heute morgen?« wollte Da niels wissen. Blake grinste. »Trotz der vielen Tests einigerma ßen. Haben Sie noch etwas vergessen?« »Hmm, wenn Sie meinen – wir haben noch zwei oder drei in Reserve«, sagte Daniels. »Nein, vielen Dank.« »Nehmen Sie Platz«, forderte Daniels ihn auf. »Wir haben einiges zu besprechen.« Er wartete und schlug dann einen dicken Ordner auf. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie einige Nachfor schungen angestellt haben«, sagte Blake. »Mit Er folg?« Daniels schüttelte den Kopf. »Bisher noch nicht. Wir haben sämtliche Passagier- und Mannschaftsli sten verschollener Schiffe überprüft. Die Raumfahrt behörde hat es getan, denn sie ist an Ihrem Fall sehr interessiert.« »Passagierlisten sind nicht viel wert«, meinte Blake. »Nur Namen, und niemand weiß, ob ich ...« »Richtig«, stimmte Daniels zu, »aber es gibt auch Finger- und Stimmabdrücke. Nur Ihre nicht.«
»Irgendwie bin ich in den Raum gelangt ...« »Ja, das wissen wir. Und irgend jemand hat Sie eingefroren. Man müßte feststellen können, warum jemand sich diese Mühe gemacht hat – das würde uns einen großen Schritt weiterbringen. Aber wenn ein Schiff verlorengeht, sind natürlich auch alle Auf zeichnungen verloren.« »Ich habe mir selbst Gedanken darüber gemacht«, sagte Blake. »Bisher haben wir angenommen, ich sei eingefroren worden, um auf diese Weise überleben zu können. Wäre es nicht auch möglich, daß ich in diesem Zustand ausgestoßen worden bin, weil die Besatzung nichts mehr mit mir zu tun haben wollte – weil ich etwas verbrochen hatte oder weil die Leute vor mir Angst hatten?« »Hmm«, meinte Daniels, »daran habe ich bisher nicht gedacht. Ich habe mir nur überlegt, daß Sie viel leicht nicht der einzige Eingefrorene waren, sondern nur der einzige, der gefunden worden ist. Vielleicht haben wir eine gute Chance, auch andere in gleicher Lage zu retten.« »Bleiben wir lieber bei der Möglichkeit, von der ich gesprochen habe. Warum sollte jemand sich die Mü he machen, mein Leben zu erhalten, wenn ich mich als so unerträglich erwiesen hatte, daß die Besatzung mich um keinen Preis mehr an Bord haben wollte?« Daniels schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht
einmal vermuten. Denken Sie daran, daß wir hier nur Theorien aufstellen. Vielleicht erfahren wir nie, was eigentlich geschehen ist. Ich hatte gehofft, Sie würden sich allmählich an die Vergangenheit erinnern kön nen, aber es ist Ihnen nicht gelungen, und Sie sind vielleicht nie dazu imstande. Später ist eine psychia trische Behandlung vielleicht nützlich. Ich muß Ihnen allerdings ganz offen sagen, daß sie unter Umständen nicht hilft.« »Soll ich also aufgeben?« »Nein. Ich sage Ihnen nur die Wahrheit. Wir versu chen es weiter, solange Sie mitmachen. Aber Sie müs sen sich darüber im klaren sein, daß wir vielleicht nie eine Antwort finden.« »Einverstanden«, sagte Blake. »Wie war es neulich beim Angeln?« fragte Daniels. »Schön«, antwortete Blake. »Ich habe sechs Forellen gefangen und bin den ganzen Tag im Freien gewesen. Das sollte ich schließlich, nicht wahr?« »Wieder Halluzinationen gehabt?« »Ja, eine«, sagte Blake. »Ich wollte Ihnen ursprüng lich nichts davon erzählen. Aber was bedeutet schon eine Halluzination mehr oder weniger? Ich habe ei nen Brownie getroffen.« »Oh«, sagte Daniels. »Haben Sie mich nicht richtig verstanden? Ich habe einen Brownie getroffen. Ich habe mit ihm gespro
chen. Er hat den größten Teil meines Mittagessens verzehrt. Sie wissen bestimmt, was ich meine: einer dieser kleinen Männer, die in Kinderbüchern darge stellt werden. Mit spitzen Ohren und einer hohen Schirmmütze. Dieser eine hatte allerdings keine Müt ze. Und er sah wie eine Mischung zwischen Marder und Otter aus.« »Sie haben Glück gehabt. Nicht viele Leute be kommen einen Brownie zu Gesicht. Und noch weni ger sprechen mit ihm.« »Die Brownies gibt es also wirklich?« »Ja, natürlich – ein Wandervolk von den Coonskin Sternen. Sie sind allerdings nicht sehr zahlreich. Ein Forschungsschiff hat sie vor hundert oder hundert zwanzig Jahren mitgebracht. Die Brownies sollten ei ne Weile auf der Erde leben – eine Art Kulturaus tausch, soviel ich weiß – und dann wieder in ihre Heimat zurückkehren. Aber sie wollten lieber auf der Erde bleiben und zogen in die Wälder; dort leben sie in Erdhöhlen, unter Felsvorsprüngen und in hohlen Bäumen.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Eine merkwürdige Rasse. Die Brownies haben fast alle materiellen Vorteile abgelehnt, die ihnen angebo ten wurden. Sie wollten nichts mit unserer Zivilisati on zu tun haben und ließen sich durch unsere Kultur nicht beeindrucken. Nur die Erde scheint ihnen zu
gefallen – solange sie hier leben können, wie es ihnen Spaß macht. Wir wissen nicht allzuviel von ihnen. Sie sind offenbar hochzivilisiert, aber auf andere Weise als wir; sie sind intelligent, besitzen jedoch andere Ideale. Soviel ich weiß, schließen sie sich manchmal Familien an, die für ihre geringen Bedürfnisse sorgen. Das ist ein merkwürdiges Verhältnis, denn die Brow nies sind keineswegs die Haustiere dieser Leute – man könnte sie eher als Talismane bezeichnen.« »Komisch«, murmelte Blake. »Sie haben den Brownie für eine weitere Halluzina tion gehalten?« »Ja, natürlich. Ich dachte, er würde sich gleich in Nichts auflösen, aber er tat es nicht. Er saß da, ver schlang meine Sandwiches und sagte mir, wo ich die Angel auswerfen sollte. Irgendwie schien er zu wis sen, wo die Forellen standen.« »Damit wollte er sich für das Essen erkenntlich zei gen. Er hat Ihnen Glück gebracht.« »Glauben Sie, daß er wirklich wußte, wo die Forel len standen? Ich meine, er schien es zu wissen, aber ...« »Durchaus möglich«, sagte Daniels. »Wie gesagt, wir kennen die Brownies nicht allzu gut. Wahrschein lich sind sie in mancher Beziehung begabter als wir.« Er sah nachdenklich zu Blake hinüber. »Sie hatten noch nie von Brownies gehört?«
»Nein«, antwortete Blake. »Wieder ein Hinweis«, stellte Daniels zufrieden fest. »Wären sie damals auf der Erde gewesen, hätten Sie bestimmt davon gehört.« »Vielleicht kann ich mich nur nicht mehr daran er innern.« »Das glaube ich nicht. Die Ankunft der Brownies muß damals eine große Sensation gewesen sein, denn alle Zeitungen waren voll davon. Sie könnten sich be stimmt daran erinnern.« »Es gibt noch andere Hinweise auf die Zeit«, sagte Blake. »Dieser Aufzug mit Robe und Sandalen ist mir völlig neu. Zu meiner Zeit trugen die Männer lange Hosen und enganliegende Kittel. Und die Schiffe mit ihren Schwerkraftreduktoren sind mir ebenfalls neu.« »Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen an unserer Zi vilisation einiges neu war«, sagte Daniels. »Zum Bei spiel die Häuser ...« »Sie haben mich anfangs fast zum Wahnsinn ge trieben«, gab Blake zu. »Aber ich bin froh, daß es die Brownies wirklich gibt. Damit ist wenigstens ein Zwischenfall zufriedenstellend erklärt.« »Sie meinen die Halluzinationen. Ihrer Auffassung nach sind es keine, nicht wahr? Das haben Sie gestern selbst gesagt.« »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es Halluzina tionen sein sollen«, antwortete Blake. »Ich erinnere
mich bis zu einem gewissen Zeitpunkt an alle Einzel heiten, dann folgt die große Leere, und schließlich komme ich wieder zu Bewußtsein. Ich kann mich an nichts erinnern, obwohl sich irgend etwas ereignet haben muß.« »Beim zweitenmal haben Sie geschlafen«, stellte Daniels fest. »Richtig. Aber das Zimmer hat bestimmte Erschei nungen wahrgenommen, die längere Zeit andauerten.« »Welches Haus haben Sie?« »Ein Norman-Gilson 258.« »Modern, zweckmäßig und praktisch idiotensicher, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen«, sagte Da niels. »Recht unwahrscheinlich, daß es versagt haben sollte.« »Ich glaube nicht, daß es versagt hat«, antwortete Blake. »Meiner Überzeugung nach hat das Zimmer die Wahrheit gesagt. Ich bin auf dem Fußboden auf gewacht ...« »Aber Sie haben erst vom Zimmer erfahren, was inzwischen geschehen war. Sie können sich auch nicht vorstellen, weshalb diese Dinge passieren?« »Nein. Ich hatte gehofft, Sie würden eine Erklärung finden.« »Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen«, erwi derte Daniels. »Aber mir sind zwei Tatsachen aufge fallen, die ich ... nun, verwirrend finde. Zum Beispiel
Ihre körperliche Verfassung. Sie sehen wie ein Mann von dreißig, fünfunddreißig Jahren aus. Ihr Gesicht ist nicht mehr faltenlos; es wirkt gereift. Und trotz dem haben Sie den Körper eines Jugendlichen. Nir gendwo sind Schwächen oder Anzeichen beginnen der Schwächen festzustellen. Sie sind in geradezu idealer Verfassung. Warum sehen Sie dann wie ein Dreißigjähriger aus?« »Und die andere Tatsache? Sie haben doch zwei erwähnt.« »Die andere? Nun, Ihr Enzephalogramm zeigt ein seltsames Bild. Man könnte fast glauben, in Ihrem Fall seien die eigentlichen Gehirnströme von anderen überlagert. Nicht allzu deutlich, aber immerhin wahrnehmbar.« »Was soll das heißen, Doktor?« fragte Blake irri tiert. »Daß ich geistig nicht ganz in Ordnung bin? Das würde natürlich die Halluzinationen erklären – sie wären dann tatsächlich Halluzinationen und nichts anderes.« Daniels schüttelte den Kopf. »Nein, das wollte ich nicht sagen. Die Erscheinung ist merkwürdig, zeigt aber keine Störungen und Funktionsfehler an. Ihr Gehirn ist offenbar gesund und normal wie Ihr gan zer Körper. Aber man könnte fast glauben, Sie hätten mehr als nur ein Gehirn, obwohl Röntgenaufnahmen selbstverständlich nur eines zeigen.«
»Wissen Sie bestimmt, daß ich ein Mensch bin?« »Ihrem Körper nach ganz sicher. Warum fragen Sie danach?« »Ich weiß nicht recht«, murmelte Blake. »Ich bin draußen im Raum gefunden worden, ich komme von dort ...« »Aha«, sagte Daniels. »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Wir haben keinen Beweis dafür, daß Sie etwas anderes als ein Mensch sind.« »Und was nun? Soll ich wieder nach Hause gehen und abwarten, ob ...« »Nicht so hastig«, warf Daniels ein. »Wir würden Sie gern noch einige Tage hierbehalten, wenn Sie ein verstanden sind.« »Weitere Untersuchungen?« »Vielleicht. Ich möchte Sie mit einigen Kollegen bekanntmachen. Es könnte ja sein, daß ihnen etwas einfällt. Und ich möchte Sie unter Beobachtung hal ten.« »Falls ich wieder Halluzinationen habe?« »So ähnlich«, gab Daniels zu. »Die Sache mit den Gehirnströmen beunruhigt mich«, sagte Blake. »Mehr als einer, sagen Sie ...« »Nein. Das Enzephalogramm enthält nur undeutli che Hinweise. An Ihrer Stelle würde ich mir deswe gen keine Sorgen machen.« »Gut, dann mache ich mir keine«, versprach Blake.
Aber was hatte der Brownie gefragt? Wie viele von Ihnen gibt es? Ich hätte auf den ersten Blick schwören können, daß es mehr als einer ist. »Doktor, dieser Brownie ...« »Ja?« »Ach, das ist nicht weiter wichtig«, sagte Blake mit einer abwehrenden Handbewegung. »Es spielt wirk lich keine Rolle.«
10
Auszug aus dem Protokoll der Senats-Hearings (Wa shington, Nordamerika) über ein vorgeschlagenes bio technisches Projekt als Grundlage der Kolonisierung anderer Sonnensysteme. M. PETER DOTY, Rechtsberater des Komitees: Ihr Name ist Austin Lukas? DR. LUKAS: Jawohl, Sir. Ich wohne in Tenafly, New Jersey, und arbeite bei Biologics, Inc., in Manhattan, New York City. MR. DOTY: Sie leiten die Entwicklungsabteilung die ser Firma, nicht wahr? DR. LUKAS: Ich bin für eines ihrer Forschungspro gramme verantwortlich. MR. DOTY: Und dieses Programm ist biotechnisch orientiert? DR. LUKAS: Richtig, Sir. Im Augenblick befassen wir uns mit der Entwicklung eines landwirtschaftlichen Allzwecktieres. MR. DOTY: Erläutern Sie bitte diesen Begriff. DR. LUKAS: Gern. Wir wollen ein Tier entwickeln, das verschiedene Sorten von Milch gibt und Wolle, Haar oder Pelz liefert – vielleicht alle drei. Es könn te – das hoffen wir jedenfalls – die vielen speziali
sierten Tiere ersetzen, die der Mensch seit der Neo lithischen Revolution züchtet. SENATOR STONE: Und soviel ich gehört habe, Dok tor Lukas, besteht Grund zu der Annahme, daß Ihr Team damit Erfolg haben wird. DR. LUKAS: Das kann man allerdings sagen, den die grundlegenden Probleme sind gelöst. Wir haben so gar schon eine Herde dieser Tiere und befassen uns nun mit Verbesserungen. Unser Ziel ist ein neues Tier, das sämtliche anderen ersetzen kann, die bisher in der Landwirtschaft verwendet werden. SENATOR STONE: Und Sie glauben, daß sich dieses Problem ebenfalls lösen läßt? DR. LUKAS: Wir haben allen Grund dazu. SENATOR STONE: Darf ich fragen, wie das bisher entwickelte Tier heißt? DR. LUKAS: Wir haben ihm keinen Namen gegeben, Senator. Darüber haben wir nicht einmal nachge dacht. SENATOR STONE: Es wäre keine Kuh, nicht wahr? DR. LUKAS: Nein, nicht völlig. Es hätte nur bestimm te Eigenschaften einer Kuh mitbekommen. SENATOR STONE: Auch kein Schaf? Oder ein Schwein? DR. LUKAS: Nein, weder noch, sondern mit Eigen schaften beider Tiere. SENATOR HORTON: Ich halte diese langen Vorre
den für überflüssig. Mein verehrter Kollege möchte von Ihnen wissen, ob dieses Tier völlig neuartig ist – sozusagen eine synthetische Lebensform – oder ob es trotz aller Veränderungen weiterhin mit den bekannten natürlichen Formen verwandt ist. DR. LUKAS: Das ist eine äußerst schwierige Frage, Senator. Ich kann nur wahrheitsgetreu antworten, daß die jetzt bekannten natürlichen Formen beibe halten worden sind und als Modell gedient haben. Das Ergebnis ist jedoch eine grundsätzlich neue Tierart. SENATOR STONE: Ich danke Ihnen, Sir. Und ich möchte auch meinem hochverehrten Kollegen dan ken, der so rasch erkannt hat, in welche Richtung meine Fragen zielten. Wir haben es also mit einer neuartigen Lebensform zu tun, die entfernt mit Kühen, Schweinen, Schafen und vielleicht auch an deren Tieren verwandt ist. DR. LUKAS: Richtig, auch mit anderen. Vermutlich gibt es irgendwo eine Grenze, aber wir haben sie noch nicht erreicht. Bisher fügen wir immer neue Lebensformen zu einem Ganzen zusammen, ohne auf bedeutende Hindernisse zu stoßen. SENATOR STONE: Und je weiter Sie in dieser Rich tung vordringen, desto mehr entfernt sich die ent stehende Lebensform von allen bisher bekannten Tierarten?
DR. LUKAS: Ja, das kann man wohl sagen, obwohl ich es vielleicht anders ausdrücken würde. SENATOR STONE: Sprechen wir lieber über den ge genwärtigen Stand der Wissenschaft, Doktor. Mit Hilfe dieser biotechnischen Verfahren züchten Sie neue Tiere. Ließe sich die Biotechnik auch auf Menschen anwenden? DR. LUKAS: O ja, Sir. Selbstverständlich. SENATOR STONE: Sie vermuten also, daß man im Labor neuartige Menschen heranzüchten könnte. Vielleicht sogar zahlreiche Typen. DR. LUKAS: Daran zweifle ich nicht im geringsten. SENATOR STONE: Würde diese neue menschliche Rasse, die Sie damit geschaffen hätten, sich in die ser neuen Form fortpflanzen? DR. LUKAS: Das steht außer Frage, Sir. Unsere neuen Tiere pflanzen sich alle reinrassig fort. Bei Men schen wäre es bestimmt nicht anders. Es handelt sich nur darum, das ursprüngliche Material zu ver ändern. Damit ist eigentlich schon alles getan, wis sen Sie. SENATOR STONE: Wirklich interessant. Nehmen wir also an, Sie hätten einen neuen Menschen ent wickelt – würde dieser Mensch mit seinen Artge nossen andere Menschen des gleichen Typs zeu gen? DR. LUKAS: Selbstverständlich. Dabei gäbe es aller
dings winzige Mutationen und Evolutionen, die je doch auch in der Natur auftreten. Schließlich hat sich so alles Leben weiterentwickelt. SENATOR STONE: Und nehmen wir einmal an, Sie hätten einen neuen Menschen geschaffen. Zum Bei spiel einen Menschen, der unter wesentlich höherer Schwerkraft leben, eine anders zusammengesetzte Luft atmen und Nahrung aufnehmen könnte, die für uns giftig wäre – würden Sie ihn ... Nein, lassen Sie mich eine andere Frage stellen. Wäre es Ihrer Meinung nach möglich, einen Menschen dieser Art im Labor zu erzeugen? DR. LUKAS: Sie fragen natürlich nur nach meiner persönlichen Meinung als Fachmann? SENATOR STONE: Ganz recht. DR. LUKAS: Nun, ich glaube, daß diese Möglichkeit durchaus besteht. Man müßte zuerst alle notwen digen Faktoren berücksichtigen, dann einen biolo gischen Bauplan erstellen und ... SENATOR STONE: Aber es wäre jedenfalls möglich? DR. LUKAS: Zweifelsohne. SENATOR STONE: Sie könnten ein Lebewesen kon struieren, das auf verschiedenen Planeten unter Verhältnissen existieren könnte, die kein Mensch ertragen würde? DR. LUKAS: Senator, ich möchte feststellen, daß ich persönlich nicht dazu imstande wäre. Biotechni
sche Mutationen von Menschen gehören nicht zu meinem Fachgebiet. Aber unsere Wissenschaft hat solche Fortschritte gemacht, daß diese Möglichkeit durchaus denkbar ist. Einige der Männer, die an diesem Problem arbeiten, konnten derartige Auf gaben bestimmt lösen. Vorläufig besteht noch kein Anlaß, wirklich neue Menschen hervorzubringen, aber die grundlegenden Probleme sind meines Wissens bereits gelöst. SENATOR STONE: Auch die Verfahrensfragen? DR. LUKAS: Ja, soviel ich weiß auch die Verfahrensfragen. SENATOR STONE: Und diese Männer, die sich mit diesen Problemen befassen könnten ein Lebewesen konstruieren und erzeugen, das unter allen vor stellbaren Bedingungen lebensfähig wäre? DR. LUKAS: Nun, nicht ganz so umfassend, Senator. Nicht unter allen Bedingungen. Vielleicht im Laufe der Zeit, aber nicht schon jetzt. Und es gibt natür lich Bedingungen, die mit keiner Art Leben verein bar sind. SENATOR STONE: Aber es wäre möglich, eine menschliche Lebensform zu erzeugen, die unter ge wissen Bedingungen existieren konnte, die jetzige Menschen nicht oder nicht lange ertragen würden. DR. LUKAS: Gegen diese Feststellung ist wohl nichts einzuwenden.
SENATOR STONE: Beantworten Sie mir eine Frage, Doktor – wäre diese Lebensform noch immer menschlich? DR. LUKAS: Sie würde dem biologischen und intel lektuellen Vorbild des Menschen weitgehend ent sprechen. Das wäre unbedingt erforderlich. Schließlich braucht man einen Ausgangspunkt. SENATOR STONE: Würde sie wie ein Mensch ausse hen? DR. LUKAS: In vielen Fällen nicht. SENATOR STONE: Aber vielleicht in den meisten. Habe ich recht, Doktor? DR. LUKAS: Das hängt nur von den Umweltbedin gungen ab, denen dieses neue Lebewesen ausge setzt wäre. SENATOR STONE: In einigen Fällen wäre es ein Un geheuer, nicht wahr? DR. LUKAS: Senator, diesen Ausdruck müßten Sie näher definieren. Was ist Ihrer Auffassung nach ein Ungeheuer? SENATOR STONE: Gut, ich will mich deutlicher aus drücken. Für mich ist ein Ungeheuer eine Lebens form, deren Anblick in Menschen Entsetzen und Ab scheu hervorrufen muß. Eine Lebensform, in der kein menschliches Wesen eine Verwandtschaft mit sich erkennt. Eine Lebensform, die Menschen er schrocken oder angewidert betrachten würden.
DR. LUKAS: Die Reaktion des menschlichen Betrach ters würde zum größten Teil von seiner eigenen Persönlichkeit und Intelligenz abhängen. Bei ent sprechender Geisteshaltung ... SENATOR STONE: Lassen wir die Geisteshaltung vorläufig. Sprechen wir lieber von gewöhnlichen Männern und Frauen, wie sie hier im Saal sitzen. Würden einige dieser Leute Ihre hypothetische Schöpfung mit Abscheu und Entsetzen betrachten? DR. LUKAS: Das ist durchaus wahrscheinlich. Und ich möchte Sie verbessern, Senator. Sie haben von einem Ungeheuer gesprochen. Das ist jedoch nicht mein Ungeheuer, sondern Sie haben etwas herauf beschworen ... SENATOR STONE: Aber manche Menschen würden dieses Lebewesen als Ungeheuer betrachten? DR. LUKAS: Einige bestimmt. SENATOR STONE: Vielleicht viele? DR. LUKAS: Ja, vielleicht viele. SENATOR STONE: Ich danke Ihnen, Doktor. Das wa ren vorläufig alle Fragen. SENATOR HORTON: Nun, Doktor Lukas, betrachten wir diesen künstlichen Menschen etwas genauer. Ich weiß, daß der Ausdruck nicht genau zutrifft – aber mein verehrter Kollege freut sich vielleicht darüber. SENATOR STONE: Richtig, ein synthetischer Mensch. Andere Planeten sollen nicht von Menschen besie
delt werden, sondern von synthetischen Kreaturen, die keine Ähnlichkeit mit menschlichen Wesen hät ten. Mit anderen Worten – wir würden eine Horde von Ungeheuern auf die Galaxis loslassen. SENATOR HORTON: Nun, das muß sich erst her ausstellen. Doktor Lukas, Sie und ich wollen in die sem Punkt mit Senator Stone übereinstimmen und annehmen, ein Wesen dieser Art sei schrecklich an zusehen. Aber der äußere Eindruck ist meines Er achtens ganz unwichtig. Entscheidend ist nur, was dieses Wesen ist. Finden Sie das auch? DR. LUKAS: Ich bin völlig Ihrer Meinung, Sir. SENATOR HORTON: Wäre dieses Lebewesen Ihrer Auffassung nach trotz aller sichtbaren Unterschie de ein Mensch? DR. LUKAS: Natürlich, Senator. Die Körperform wä re in diesem Fall nicht entscheidend. Wichtig ist nur das Gehirn, das die Verhaltensweisen und Re aktionen bestimmt. SENATOR HORTON: Und dieses Gehirn wäre ein menschliches Gehirn? DR. LUKAS: Jawohl, Sir. SENATOR HORTON: Deshalb würde das Lebewesen wie jeder Mensch reagieren und handeln? DR. LUKAS: Allerdings, Sir. SENATOR HORTON: Und deshalb wäre es trotz un terschiedlicher Körperform durchaus menschlich?
DR. LUKAS: Ja, menschlich. SENATOR HORTON: Doktor, ist Ihres Wissens je ein Lebewesen dieser Art erzeugt worden? Unter Le bewesen verstehe ich natürlich einen künstlichen Menschen. DR. LUKAS: Ja, vor etwa zweihundert Jahren. Es hat sogar zwei gegeben. Aber der Unterschied bestand daraus, daß ... SENATOR STONE: Augenblick! Sprechen Sie von dem Gerücht, das man ... DR. LUKAS: Es ist kein Gerücht, Senator. SENATOR STONE: Können Sie Ihre Behauptung be weisen? DR. LUKAS: Nein, Sir. SENATOR STONE: Was soll das heißen? Wie können Sie hier Behauptungen aufstellen und den Beweis schuldig bleiben? SENATOR HORTON: Ich kann sie beweisen. Ich werde die entsprechenden Dokumente zur rechten Zeit vorlegen. SENATOR STONE: Vielleicht sollte der Senator in den Zeugenstand treten ... SENATOR HORTON: Keineswegs. Ich bin mit die sem Zeugen durchaus zufrieden. Sie haben von ei nem Unterschied gesprochen, Sir, der ... SENATOR STONE: Augenblick. Ich bezweifle, daß der Zeuge kompetent ist.
SENATOR HORTON: Nun, das läßt sich doch fest stellen. Doktor Lukas, unter welchen Umständen sind Sie zu dieser Information gelangt? DR. LUKAS: Als ich vor etwa zehn Jahren Material für eine Veröffentlichung sammelte, habe ich um Genehmigung gebeten, bestimmte Akten der Raumfahrtbehörde einsehen zu dürfen. Ich wollte diesem sogenannten Gerücht nachgehen, Senator. Es ist nicht allzu vielen Leuten bekannt, aber ich hatte davon gehört und wollte eigene Nachfor schungen anstellen. Ich bat also um Genehmigung ... SENATOR HORTON: Und Sie erhielten sie? DR. LUKAS: Nicht sofort, denn die Raumfahrtbehör de war ... nun, man könnte es zurückhaltend nen nen. Ich berief mich schließlich darauf, daß eine zweihundert Jahre alte Affäre keiner Geheimhal tung mehr unterliegen könne, da sie inzwischen hi storische Bedeutung erlangt habe. Trotzdem war es nicht leicht, dieses Argument überzeugend genug vorzutragen. SENATOR HORTON: Aber schließlich hatten Sie doch Erfolg? DR. LUKAS: Ganz recht. Allerdings nur mit wirksa mer Unterstützung von oben, möchte ich hinzufü gen. Die Akten waren früher mit höchster Geheim haltungsstufe gelagert worden, die theoretisch
noch immer galt. Ich hatte einige Mühe, die Unsin nigkeit dieses Verfahrens überzeugend darzulegen ... SENATOR STONE: Augenblick, Doktor. Noch eine Frage, bevor Sie fortfahren. Sie haben von Unter stützung gesprochen, nicht wahr? Könnte ein be trächtlicher Teil dieser Unterstützung Senator Hor ton zuzuschreiben sein? SENATOR HORTON: Da die Frage mich betrifft, möchte ich sie selbst beantworten, wenn Doktor Lukas einverstanden ist. Ich gebe gern zu, daß ich ihn unterstützt habe. SENATOR STONE: Schön, mehr wollte ich nicht wis sen. Das genügt mir. SENATOR HORTON: Fahren Sie bitte fort, Doktor Lukas. DR. LUKAS: Die Akten zeigten, daß vor zweihun derteinundzwanzig Jahren – also 2266, um es ge nau zu sagen – zwei synthetische Lebewesen her gestellt worden waren. Sie hatten Menschenkörper und Menschengehirne, waren jedoch für einen be sonderen Zweck konstruiert worden. Sie sollten mit Lebewesen auf anderen Planeten in Verbin dung treten und an Bord von Forschungsschiffen mitgeführt werden, um neuentdeckte Planeten und ihre Lebensformen zu erforschen. SENATOR HORTON: Lassen wir vorläufig die De
tails, Doktor Lukas. Können Sie uns sagen, wie die ser Auftrag erfüllt werden sollte? DR. LUKAS: Ich weiß nicht, ob ich es verständlich genug ausdrücken kann, aber ich will es versuchen. Diese synthetischen Menschen waren höchst an passungsfähig. Man könnte sie sogar – ein besserer Ausdruck fällt mir nicht ein – als plastisch bezeich nen. Ihre Konstruktion war dadurch bemerkens wert, daß sie fast unbegrenzt ausbau- und erweite rungsfähig war. Sie wissen vielleicht, was ich mei ne – vollständig und doch in gewisser Beziehung unvollständig. Die Aminosäuren ... SENATOR HORTON: Vielleicht genügt es vorläufig, wenn Sie uns schildern, was diese Lebewesen tun sollten, ohne ihre Konstruktionsprinzipien zu er wähnen. DR. LUKAS: Sie meinen nur die beabsichtigte Funk tionsweise? SENATOR HORTON: Ja, bitte. DR. LUKAS: Nach der Landung eines Forschungs schiffes auf einem neuen Planeten sollte ein Exem plar der dominierenden Rasse eingefangen und abgetastet werden. Der biologische Abtastvorgang ist allgemein bekannt, nehme ich an. Körperstruk tur, chemische Prozesse in den Zellen, der gesamte Metabolismus und alle anderen Charakteristiken dieses Lebewesens sollten genau bestimmt werden.
Sämtliche Informationen sollten dann auf den syn thetischen Menschen übertragen werden, der we gen seiner besonderen Konstruktion in der Lage sein mußte, die Gestalt des so beschriebenen Lebe wesens anzunehmen. Dieser Vorgang kann nicht lange gedauert haben, denn jede Verzögerung wä re fatal gewesen. Es muß unheimlich gewesen sein, wie sich ein Mensch in Sekundenbruchteilen in ein anderes Wesen verwandelte. SENATOR HORTON: Sie sagen, daß der Mensch sich in dieses andere Wesen verwandelt hätte. In dieser Beziehung? Oder ... DR. LUKAS: Der Mensch wäre jenes andere Wesen geworden, Senator. Nicht eines dieser Wesen, ver stehen Sie, sondern eine genaue Nachbildung des ursprünglichen Modells. Er besäße die Erinnerung dieses Wesens, dächte wie das Vorbild und könnte an seine Stelle treten. Es könnte das Schiff verlas sen, sich zu den Artgenossen des untersuchten Le bewesens gesellen und dort seinen Auftrag durch führen ... SENATOR HORTON: Soll das heißen, daß es weiter hin menschlich denken könnte? DR. LUKAS: Nun, das ist schwer zu sagen. Der menschliche Verstand und alle Erinnerungen wä ren noch immer vorhanden, aber natürlich völlig überdeckt. Der Verstand würde die Rolle des Un
terbewußtseins übernehmen, das eine bestimmte Reaktion hervorrufen kann. Dieses ehemals menschliche Wesen würde dadurch gezwungen, nach Ablauf einer festgelegten Zeit ins Schiff zu rückzukehren, wo die Verwandlung rückgängig gemacht würde. In menschlicher Gestalt würde es sich dann an das andere Leben erinnern und da durch wertvolle Informationen liefern, die anders nicht zu beschaffen wären. SENATOR HORTON: Und welchen Erfolg hat das al les gehabt? DR. LUKAS: Das ist schwer zu sagen, Sir. Es gibt kei ne Erfolgsmeldung. Die beiden sind gestartet, das steht fest. Aber mehr wissen wir nicht. SENATOR HORTON: Sie vermuten also, daß irgend etwas nicht geklappt hat? DR. LUKAS: Richtig, Sir. Aber ich kann mir keinen Grund vorstellen. SENATOR HORTON: Hatte es vielleicht mit den imi tierten Menschen zu tun? DR. LUKAS: Ja, das ist möglich, aber nicht bewiesen. SENATOR HORTON: Vielleicht haben sie nicht funk tioniert? DR. LUKAS: Oh, daran besteht kein Zweifel. Die bei den müssen einfach funktioniert haben. Sie konn ten gar nicht anders. SENATOR HORTON: Ich stelle diese Fragen nur,
weil mein verehrter Kollege sie sonst stellen würde. Nun noch eine eigene: Könnte man heutzutage ei nen imitierten Menschen dieser Art bauen? DR. LUKAS: Da die Konstruktionspläne noch vor handen sind, wäre es leicht, weitere zu bauen. SENATOR HORTON: Aber Ihres Wissens sind keine weiteren gebaut worden? DR. LUKAS: Ganz recht, Sir. SENATOR HORTON: Möchten Sie eine Vermutung darüber anstellen? DR. LUKAS: Nein, Senator, dazu möchte ich mich lieber nicht äußern. SENATOR STONE: Sie erlauben hoffentlich, daß ich unterbreche, hochverehrter Kollege. Doktor Lukas, gibt es einen allgemeinverständlichen Ausdruck für dieses biotechnische Verfahren, das Sie eben geschildert haben? Einen Sammelbegriff für die Herstellung künstlicher Menschen zu dem von ih nen beschriebenen Zweck? DR. LUKAS: Ja, das Verfahren hat einen für Laien verständlichen Namen. Wir bezeichnen es als Werwolfprinzip ...
11
Andrew Blake lag auf der Dachterrasse des Kranken hauses in der Sonne, als eine Schwester an seinen Liegestuhl kam. »Mister Blake«, sagte sie aufgeregt, »Sie haben Be such.« Blake stand auf und drehte sich um. Am Fahrstuhl stand eine junge Frau – groß, dunkelhaarig, in blaß grüner Robe. »Ah, Miß Horton«, murmelte er. »Das ist aber nett.« Sie kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand ent gegen. »Ich war gestern nachmittag in Ihrem Dorf«, sagte sie dabei, »und habe erfahren, daß Sie bereits nach Washington umgezogen waren.« »Tut mir leid, daß ich nicht mehr dort war«, ent schuldigte Blake sich. »Nehmen Sie doch bitte Platz.« Sie setzte sich in einen Liegestuhl, und Blake blieb am Geländer stehen. »Sie haben also Ihren Vater nach Washington be gleitet«, sagte er. »Die Hearings ...« Elaine Horton nickte. »Sie haben heute morgen be gonnen.« »Und Sie wollen zumindest einige miterleben?«
»Ja«, antwortete sie, »obwohl es mir nicht leichtfal len wird, die Niederlage meines Vaters zu verfolgen. Ich bewundere natürlich, daß er für seine Überzeu gung eintritt, aber er sollte gelegentlich eine Sache unterstützen, die in der Öffentlichkeit Anklang fin det. Das ist jedoch bisher noch nie der Fall gewesen – er steht immer auf der falschen Seite, soweit es die Öffentlichkeit betrifft. Und diesmal kann er sich da durch wirklich schaden.« »Sie meinen die Einstimmigkeitsregel, nicht wahr? Ich habe neulich einen Artikel darüber gelesen. Nicht sehr sinnvoll, finde ich.« »Vielleicht haben Sie recht«, antwortete Elaine Hor ton, »aber daran läßt sich nichts ändern. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, daß die Mehrheit hundert prozentig Sieger bleibt. Der Senator würde entsetzlich darunter leiden, wenn er sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen müßte.« »Ich finde Ihren Vater sehr sympathisch«, sagte Blake. »Er erinnert mich irgendwie an das Haus, in dem Sie leben.« »Sie meinen bestimmt altmodisch.« »Nein, Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Er wirkt irgendwie solid, und er ist trotzdem begeiste rungsfähig und kämpft für das, was er als richtig er kannt hat.« »Richtig, er kämpft dafür«, meinte Elaine, »und ich
weiß, daß viele Leute ihn deswegen bewundern. Aber er versteht es auch, viele Leute dadurch zu irritieren, daß er ihre Fehler aufdeckt.« Blake lachte. »Das ist natürlich der sicherste Weg, um die Leute zu irritieren.« »Vielleicht«, sagte Elaine und wechselte das The ma. »Wie kommen Sie zurecht?« »Recht gut«, erklärte er ihr. »Ich weiß gar nicht, weshalb ich hier im Krankenhaus bin. Aber ich ent decke täglich neue Dinge, die mir bisher völlig unbe kannt waren. Erst vor wenigen Tagen bin ich einem Brownie begegnet.« Elaine klatschte begeistert in die Hände. »Einem Brownie! Wirklich?« Blake nickte. »Er hat mit mir gegessen.« »Oh, wie nett! Die meisten Leute bekommen nie einen zu Gesicht.« »Ich habe ihn für eine Halluzination gehalten«, gab Blake zu. »Wie damals, als Sie zu uns gekommen sind?« »Richtig. Ich weiß noch immer nicht, was damals passiert ist. Es gibt keine Erklärung dafür.« »Die Ärzte ...« »Die Ärzte sind so verblüfft wie ich. Vielleicht hat der Brownie doch nicht so unrecht gehabt.« »Der Brownie? Was hat er damit zu tun?« »Er hat mich gefragt, wie viele es von mir gebe,
denn er war auf den ersten Blick offenbar davon überzeugt, mehr als einen vor sich zu haben. Zwei Männer in einem, drei in einem ... Er hat nur ›mehr als einer‹ gesagt.« »Aber jeder Mensch hat doch mehrere Seiten, Mi ster Blake«, wandte sie ein. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe viel darüber nachgedacht und bin davon überzeugt, daß der Brownie etwas anderes gemeint haben muß.« »Haben Sie Ihrem Arzt davon erzählt?« »Nein, noch nicht. Der arme Kerl hat schon genü gend Sorgen. Das wäre nur eine zusätzliche Bela stung.« »Aber vielleicht wichtig.« »Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Blake. »Sie benehmen sich, als legten Sie gar keinen Wert darauf, Ihr rätselhaftes Schicksal geklärt zu wissen«, stellte Elaine Horton fest. »Oder fürchten Sie sich vielleicht davor?« Blake starrte sie an. »Daran habe ich noch nicht ge dacht«, meinte er nachdenklich, »aber Sie könnten recht haben ...«
12
Angst dröhnte durch den Tunnel. Es roch nach frem den Düften; unverständliche Laute ertönten von allen Seiten. Licht brach sich an den Wänden, und der Bo den war hart wie Fels. Das Lebewesen duckte sich winselnd zusammen. Alle Muskeln waren angespannt, alle Nerven vor Entsetzen wie gelähmt. Der Tunnel ging endlos weiter, und es gab kein Entkommen. Es saß in der Falle. Und es konnte sich nicht vorstellen, wo es gefangen war. Jedenfalls an einem unbekannten Ort, den es nie freiwillig aufge sucht hätte. Es war urplötzlich hier abgesetzt worden, ohne den Grund dafür zu erkennen. Der Tunnel besaß in regelmäßigen Abständen Öff nungen. Aus einer dieser Öffnungen trat jetzt ein schreckliches Wesen, wandte sich in seine Richtung und kam näher. Dann schrie es auf, ließ etwas kra chend zu Boden fallen und lief rasch davon. Das Lebewesen setzte sich in Bewegung und ver schwand durch die nächste Öffnung. Seine Krallen rutschten auf dem harten Bodenbelag aus. Es suchte nach einem Ausweg, sah keinen und war dankbar, als die große Dunkelheit wieder herabsank. Blake blieb schweratmend neben seinem Bett ste
hen und fragte sich im gleichen Augenblick, weshalb er rannte und weshalb sein Schlafanzug auf dem Fußboden lag. Und in dieser Sekunde schien in sei nem Gehirn ein Knoten zu platzen, und er erinnerte sich an den Tunnel und das Entsetzen und die beiden anderen, die mit ihm vereint waren. Er ließ sich aufs Bett fallen und atmete erleichtert auf. Nun war er endlich wieder ganz: Er war nicht al lein, sondern in Gesellschaft der beiden anderen. »Hallo, Freunde«, flüsterte er, und sie antworteten lautlos. Er verstand sie trotzdem so deutlich, als hät ten sie gesprochen. Ein Händedruck und Brüderschaft. Klare, kalte Sterne über einer Wüste aus Sanddünen und Schneewehen. Ein Verstand, der Informationen von anderen Sternen einholt, die das Auge nicht mehr erkennt. Der feuchtwarme, damp fende Sumpf. Die langwierige Auswertung der Daten im Innern der Pyramide, die ein biologischer Computer war. Die rasche und vollständige Verschmelzung der Gedanken dreier Lebewesen. Selbständige Wesen, die gemeinsam überlegten und planten. Es hat mich gesehen und ist fortgelaufen, sagte Su cher. Jetzt kommen bestimmt andere. Dies ist dein Planet, Wechsler. Du mußt wissen, was zu tun ist. Richtig, Denker, sagte Wechsler, mein Planet. Aber unser Wissen ist ein Wissen.
Aber du kannst rascher entscheiden. Unser Wissen ist zu groß. Wir folgen dir, aber etwas langsamer. Denker hat recht, sagte Sucher. Die Entscheidung liegt bei dir. Vielleicht erkennen sie nicht gleich die Wahrheit, meinte Wechsler. Jedenfalls nicht sofort. Wir haben noch etwas Zeit. Aber nicht zuviel. Nein, Sucher, nicht zuviel. Und das stimmte, dachte Blake. Sie hatten wirklich nicht viel Zeit. Die schreiend durch die Gänge ren nende Krankenschwester würde Alarm schlagen – dann kamen Assistenzärzte, andere Schwestern, Hauspersonal, Ärzte, Krankenpfleger und sogar die Leute aus der Küche. In wenigen Minuten würde das Krankenhaus einem aufgestörten Ameisenhaufen gleichen. Das Dumme ist nur, sagte er, daß Sucher einem Wolf so ähnlich sieht. Deine Definition bedeutet ein Lebewesen, das an dere frißt, warf Sucher ein. Du weißt genau, daß ich nie ... Nein, versicherte Blake sich selbst. Nein, das wür dest du natürlich nie tun, Sucher. Aber die anderen werden es glauben. Wenn sie dich sehen, werden sie dich für einen Wolf halten. Wie der Leibwächter des Senators, der dich während des Gewitters beobachtet
hat. Und weil er einige Märchen kannte, in denen Wölfe vorkommen, hatte er ganz automatisch rea giert. Und was würden sie von Denker halten, wenn sie ihn zu Gesicht bekämen? fragte Sucher. Was ist mit uns geschehen, Wechsler? Ich bin zweimal ausgebro chen – einmal war es naß und dunkel, beim zweiten mal hell und eingeengt. Ich habe mich einmal losgelöst, warf Denker ein, aber ich konnte nicht funktionieren. Darüber denken wir später nach, antwortete Wechs ler. Jetzt sitzen wir in der Falle. Wir müssen fliehen. Wechsler, vorläufig müssen wir in deiner Gestalt bleiben, sagte Sucher. Falls es später auf Geschwin digkeit ankommt, kann ich rennen. Und ich, fügte Denker hinzu, kann notfalls alles sein. »Ruhig!« sagte Blake laut. »Ruhig. Laßt mich nach denken.« Draußen im Korridor näherten sich rasche Schritte, dann rief eine Stimme: »Es ist hier verschwunden. Kathy hat es hier zuletzt gesehen.« Die Schritte verlangsamten sich, dann strömten weißgekleidete Männer – Ärzte, Krankenpfleger und Assistenzärzte – ins Zimmer. »Mister«, fragte einer von ihnen laut, »haben Sie einen Wolf gesehen?«
»Nein«, erwiderte Blake, »ich habe keinen Wolf ge sehen.« »Verdammt komische Sache«, stellte einer der Männer fest. »Kathy erzählt doch keine Märchen. Sie hat etwas gesehen, sonst wäre sie nicht ...« Der erste Mann kam bedrohlich näher. »Mister, wenn Sie uns hereinlegen wollen, wenn das ein Witz sein soll ...« Entsetzen überflutete die beiden anderen Gehirne und rief unvorhersehbare Auswirkungen hervor. Un sicherheit, Mangel an Verständnis, falsche Bewertung der Tatsachen ... »Nein!« rief Blake. »Nein! Nein, warte noch ...« Zu spät. Der Wechsel war eingeleitet und nicht mehr aufzuhalten. Sucher hatte voreilig die Initiative ergriffen. Ihr Narren! rief Blake den beiden anderen zu. Ihr Narren! Ihr Narren! Die Männer in den weißen Kitteln flüchteten er schrocken auf den Flur hinaus. Sucher kauerte sprungbereit vor ihnen. Sein ge sträubter Pelz leuchtete im Licht der Deckenlampen silbern auf. Als er leise knurrend die Lefzen hochzog, wurden blitzende Reißzähne sichtbar.
13
Sucher duckte sich und knurrte wieder. Er hatte Angst. In einer Falle ohne Ausweg gefangen. Nirgends ei ne Fluchtmöglichkeit. Nur die Öffnung vor ihm – aber dort standen die fremdartigen Zweibeiner. Sie stanken, und aus ihren Gehirnen strömte eine Welle aus Haß und Abscheu und Entsetzen, die Sucher fast körperlich empfand. Er bewegte sich langsam vorwärts, und die Horde wich erschrocken zurück. Als Sucher diese Bewegung sah, knurrte er triumphierend, als sei plötzlich die Er innerung an längst vergangene Zeiten in ihm wach geworden, in der seine Vorfahren todesmutige Kämpfer waren. Er warf den Kopf zurück und heulte laut. Die Zweibeiner flohen panikartig. Sucher folgte ihnen in den Gang hinaus und wandte sich nach rechts. Eines der fremden Wesen sprang hin ter seinem Rücken aus einer Türnische und hielt eine Waffe schlagbereit erhoben. Sucher warf sich herum, schnappte einmal zu und spürte weiches Fleisch zwi schen den Zähnen. Der Angreifer fiel schreiend zu Bo den. Die Horde wollte sich auf Sucher werfen, aber er kam ihr zuvor. Seine Krallen hinterließen tiefe Spuren
im Bodenbelag, als er einen Zweibeiner nach dem anderen anfiel und seine Wut mit den Zähnen an ih nen ausließ. Die Angreifer flohen entsetzt. Vier oder fünf blie ben auf dem Boden liegen, aber auch diese bemühten sich davonzukriechen, obwohl sie heftig bluteten. Su cher kümmerte sich nicht weiter um sie, sondern warf erneut den Kopf zurück und stieß einen Triumphschrei aus – einen Siegesruf, wie er in uralter Zeit auf seinem Heimatplaneten ertönt sein mußte, als die Su cher mit schuppigen Lebewesen um die Vorherr schaft auf dieser Welt gekämpft hatten. Aber dann wurde ihm plötzlich bewußt, wo er sich befand, und er starrte seine Umgebung unsicher an. Die fremdartigen Gerüche, die quälende Enge und das allzu helle Licht, das von den Wänden reflektiert wurde, riefen ihm seine verzweifelte Lage ins Ge dächtnis zurück. Der Gang vor ihm war frei, aber hin ter ihm tauchten wieder Zweibeiner auf. Wechsler! Die Treppe, Sucher. Du mußt die Treppe erreichen. Treppe? Die Tür. Die geschlossene Öffnung. Du erkennst sie an dem Schild darüber. Ein kleines Rechteck mit ro ten Schriftzeichen. Ich sehe sie. Aber die Tür ist massiv. Du mußt sie aufstoßen, dann öffnet sie sich. Benüt
ze deine Arme, nicht den Körper. Denk daran – mit den Armen! Du benützt sie so selten, daß du sie fast vergißt. Sucher sprang auf die Tür zu. Die Arme, du Narr! Die Arme! Sucher prallte gegen die Tür. Sie gab nach, und er schlüpfte hindurch. Er stand vor einer schräg nach unten führenden Rampe, die in viele Absätze unter teilt war. Das mußte die Treppe sein. Er tastete sich vorsichtig abwärts und kam schneller voran, als er merkte, worauf er achten mußte. Dann erreichte er den ersten größeren Absatz, an dem eine neue Treppe begann. Wechsler? Weiter die Treppe hinunter bis zum dritten Absatz. Dort gehst du durch die Tür in einen großen Raum mit vielen Zweibeinern. Du verläßt ihn durch die breite Tür links und bist dann im Freien. Im Freien? Auf der Oberfläche dieses Planeten. Außerhalb der Höhle, in der wir uns jetzt befinden. Und dann? Dann rennst du! Warum löst du mich nicht ab, Wechsler? Du bist wie diese Zweibeiner. Du kannst einfach hinausge hen. Unmöglich! Ich habe keine Kleidung.
Die Hüllen? Die künstlichen Häute? Richtig. Aber das ist unsinnig. Kleidung ... Hör zu, du kannst die Zweibeiner überraschen. Im ersten Augenblick sind sie bestimmt vor Schreck er starrt. Du siehst einem Wolf ähnlich, und sie ... Das hast du schon einmal gesagt. Der Gedanke ge fällt mir nicht. Ich ahne etwas Schmutziges ... Der Wolf ist ein inzwischen ausgestorbenes Tier, das Menschen erschrecken konnte. Sie haben be stimmt Angst, wenn sie dich sehen. Schon gut. Was hältst du davon, Denker? Ich kann euch nicht helfen, denn ich habe keine Unterlagen, antwortete Denker. Wir müssen uns auf Wechsler verlassen. Dies ist sein Planet, und er kennt sich hier aus. Einverstanden. Achtung, es geht los! Sucher schlich die Treppe hinab und blieb vor der Tür stehen. Ist das die richtige? Ja. Diesmal benützt du hoffentlich die Arme, um sie zu öffnen. Sucher kauerte sich sprungbereit zusammen. Nach links, Wechsler? Die Öffnung links? Richtig. Etwa zehn Körperlängen. Sucher warf sich gegen die Tür und drückte sie mit ausgestreckten Armen auf. Er sah erschrockene
Zweibeiner, die schreiend vor ihm zurückwichen, und erkannte links eine Öffnung. Als er sie schon fast erreicht hatte, näherte sich draußen ein weiteres Ru del Zweibeiner, die jedoch andere künstliche Häute trugen. Sie schrien ebenfalls und hoben die Hände, in denen sie schwarze Gegenstände hielten, die jähe Flammen und beißenden Gestank verbreiteten. Etwas traf dicht neben ihm auf Metall und surrte pfeifend davon, etwas anderes blieb im Fußboden vor ihm stecken. Dann warf Sucher sich auf die Angreifer, durchbrach die Reihen und rannte an der Vorderseite der großen Höhle entlang, die zum Himmel aufragte. Hinter ihm knallte es mehrmals, und einige kleine, aber schwere Gegenstände, die sehr schnell flogen, bohrten sich in den Boden, auf dem er davonlief, und rissen Splitter los. Dann bog er um die Ecke der Höhle, die zum Himmel aufragte, und rannte weiter, denn Wechsler hatte ihm gesagt, er müsse rennen. Und es machte ihm sogar Spaß, nach langer Zeit endlich wieder sei ne Muskeln spielen lassen zu können. Nun hatte er erstmals Gelegenheit, seine Umge bung eingehend zu betrachten. Sie war in vieler Be ziehung verblüffend, denn wie konnte es einen Plane ten geben, der überall einen festen Bodenbelag auf wies? Der Fußboden erstreckte sich nach allen Rich tungen, so weit das Auge reichte, und überall ragten
dunkle Höhlen mit leuchtenden Öffnungen zum Nachthimmel auf, an dem viele Sterne glitzerten. Sucher stellte fest, daß nur wenige Zweibeiner zwi schen den Höhlen unterwegs waren; vorläufig hielten sie sich noch weit entfernt auf. Aber in seiner Nähe bewegten sich rasch metallische Dinge mit gelben Augen; sie schwebten fast lautlos an Sucher vorbei und stießen dabei einen starken Luftstrom an der Un terseite aus. Er glaubte in ihnen Lebewesen zu spü ren, die jedoch in vielen Fällen mehr als nur ein Ge hirn zu besitzen schienen – und die Ausstrahlungen dieser Gehirne waren sanft und friedlich, nicht haßer füllt und erschrocken, wie es bei den Zweibeinern in der Höhle der Fall gewesen war. Eine seltsame Erscheinung, aber Sucher überlegte sich, daß es noch seltsamer wäre, wenn es auf diesem Planeten nur eine Lebensform gäbe. Bisher kannte er die Wesen, die auf den Hinterbeinen gingen und pro toplasmatisch waren, und die anderen Wesen, die aus Metall bestanden und sich rasch bewegten, wobei ih re Augen glühten. Die zweite Art schien mehrere Ge hirne zu besitzen. Sucher erinnerte sich auch an die feuchtwarme Nacht, in der er zahlreiche andere Le bensformen gespürt hatte, die aber zumeist nicht in telligent waren. Der Planet könnte ganz interessant sein, wenn die Atmosphäre nicht so feuchtwarm und bedrückend
wäre, dachte er. Vorläufig ist alles noch ziemlich verwirrend. Sucher. Was gibt es, Wechsler? Nach rechts. Die Bäume. Die großen Pflanzen. Sie heben sich vom Himmel ab. Lauf dorthin. Wir müs sen uns verstecken. Wechsler, was tun wir dann? fragte Denker. Ich weiß es nicht. Wir müssen gemeinsam überlegen. Die Zweibeiner verfolgen uns? Ich nehme es an. Wir dürfen keine Geheimnisse voreinander haben. Sucher und ich müssen wissen, was du weißt. Das kommt noch, versprach Wechsler ihm. Wir ha ben noch keine Zeit gehabt. Wir sind immer wieder abgelenkt worden. Sobald wir die Bäume erreicht ha ben, sind wir in Sicherheit. Sucher verließ den Schatten der großen Höhle, die zum Himmel aufragte, überquerte einen breiten Strei fen Boden und lief auf die Bäume zu. Aus der Dun kelheit tauchte mit glühenden Augen eines der Me tallwesen auf und kam rasch näher. Sucher rannte davon. Seine Beine wirbelten durcheinander, seine Ohren lagen am Kopf an, und seine buschige Rute wehte ausgestreckt hinter ihm her. Wechsler spornte ihn an. Lauf, du sehniger Wolf!
14
Der Chefarzt war im allgemeinen ruhig und gelassen. Aber jetzt schlug er mit der Faust auf seinen Schreibtisch. »Ich möchte nur wissen, welcher Trottel die Polizei angerufen hat!« knurrte er. »Wir wären auch allein zurechtgekommen. Wir hätten die Polizei nicht ge braucht.« »Ich könnte mir vorstellen, Sir«, warf Michael Da niels ein, »daß der Anrufer sich dazu berechtigt fühl te. Schließlich lagen genügend Verletzte im Korri dor.« »Wir hätten sie versorgen können«, sagte der Chef arzt. »Das ist unser Handwerk. Dann hätten wir alles Weitere veranlassen können – aber etwas ordentli cher.« »Die Leute waren natürlich sehr erregt«, meinte Gordon Barnes. »Ein Wolf im ...« Der Chefarzt brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und wandte sich an die Kranken schwester. »Miß Gregerson, Sie haben die Entdeckung zuerst gemacht.« Die Schwester war noch immer blaß. »Ich bin aus einem Zimmer gekommen und hatte das Tier plötz
lich vor mir. Es war ein Wolf. Ich ließ das Tablett fal len und lief fort. Ich war so erschrocken und ...« »Wissen Sie sicher, daß es ein Wolf war?« »Ganz bestimmt, Sir.« »Woher wollen Sie das wissen? Es hätte auch ein Hund sein können.« »Es spielt keine Rolle, ob es ein Wolf oder ein Hund war, Doktor Winston«, stellte Daniels fest. Der Chefarzt warf ihm einen scharfen Blick zu und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Schon gut«, sagte er. »Schon gut. Sie können jetzt gehen. Doktor Daniels, ich möchte noch mit Ihnen sprechen.« Die beiden warteten, bis die anderen den Raum verlassen hatten. »Kommen Sie, Mike«, forderte der Chefarzt Daniels auf, »nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir, was Sie von der ganzen Sache halten. Blake war Ihr Patient, nicht wahr?« »Richtig. Sie kennen seinen Fall, Doktor Winston. Der Mann aus dem All. In einer Kapsel eingefroren.« »Ja, ich weiß«, antwortete der Chefarzt. »Was hat er mit dieser Sache zu tun?« »Ich kann es nicht beschwören«, sagte Daniels, »aber ich glaube, daß er der Wolf war.« Winston verzog das Gesicht. »Hören Sie, soll ich das wirklich glauben? Halten Sie Blake etwa für einen Werwolf?«
»Haben Sie die Abendzeitungen gelesen?« wollte Daniels wissen. »Nein, aber was hat das mit unserem Problem zu tun?« »Vielleicht nichts«, gab Daniels zu. »Ich vermute jedoch, daß ...« Er schwieg unsicher, weil ihm der Gedanke zu phantastisch erschien. »Was vermuten Sie, Mike? Sie dürfen Ihre Informa tionen nicht für sich behalten. Ihnen ist doch hoffent lich klar, was das für uns bedeutet? Die Vorgänge werden bestimmt sensationell aufgebauscht, und ein Krankenhaus kann keine Sensationen brauchen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was die Zeitungen und das Fernsehen darüber bringen werden! Die Polizei untersucht bereits eifrig, und die Raumfahrtbehörde macht uns die Hölle heiß, wenn Blake nicht wieder auftaucht. Soll ich ihr etwa erzählen, daß er sich in einen Wolf verwandelt hat?« »Nicht in einen Wolf, Sir, sondern in ein fremdarti ges Lebewesen, das an einen Wolf erinnert. Die Poli zisten haben ausgesagt, daß das Tier an den Schultern Arme besessen habe.« Der Chefarzt runzelte die Stirn. »Sonst scheint das niemand aufgefallen zu sein. Die Polizisten waren erschrocken. Deshalb haben sie auch wie Verrückte um sich geknallt. Sie wissen selbst nicht mehr, was sie gesehen haben.« Er starrte Da
niels an. »Was haben Sie vorher von einem fremdar tigen Lebewesen erzählt?« Daniels holte tief Luft. »Heute nachmittag hat ein gewisser Doktor Lukas bei den Biotechnik-Hearings als Zeuge ausgesagt. Er scheint alte Berichte ausge graben zu haben in denen zwei künstliche Menschen erwähnt werden, die vor über zweihundert Jahren erzeugt wurden. Die Berichte waren in Akten der Raumfahrtbehörde enthalten und ...« »Warum gerade dort?« fragte Winston. »Augenblick«, sagte Daniels, »lassen Sie mich erst ausreden. Bei den beiden handelte es sich um ergän zungsfähige Androiden ...« »Großer Gott!« rief Winston aus. »Das alte Wer wolfprinzip! Ein Organismus, der jede beliebige Form annehmen kann. Dem Gerücht nach ...« »Offenbar handelt es sich um mehr als nur ein Ge rücht«, stellte Daniels fest. »Zwei Androiden dieses Typs starteten mit Forschungsschiffen.« »Und Blake ist Ihrer Meinung nach einer der bei den?« »Ganz recht. Lukas hat heute ausgesagt, daß zwei gestartet sind. Mehr ist nicht bekannt. Sie scheinen nie zurückgekehrt zu sein.« »Das verstehe ich nicht«, protestierte Winston. »Menschenskind, vor zweihundert Jahren! Hätte es damals gute Androiden gegeben, gäbe es heute noch
bessere. Man stellt doch nicht nur zwei her und läßt dann das Projekt fallen.« »Doch«, widersprach Daniels, »wenn die beiden versagen. Nehmen wir einmal an, nicht nur die An droiden, sondern auch ihre Schiffe seien spurlos ver schollen. Dann wäre die Produktion eingestellt wor den, und die Berichte wären irgendwo vergraben worden. Schließlich hätte die Raumfahrtbehörde kein Interesse daran, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen.« »Aber wer könnte beurteilen, ob die Androiden für das Verschwinden der Schiffe verantwortlich waren? Selbst heutzutage gehen noch Schiffe verloren.« Daniels schüttelte den Kopf. »Wenn zwei Schiffe verschwinden, die beide einen Androiden an Bord hatten, liegt der Schluß klar auf der Hand, daß die Androiden etwas mit diesem Verschwinden zu tun hatten ...« »Das gefällt mir nicht«, klagte der Chefarzt. »Ich möchte keine Schwierigkeiten mit der Raumfahrtbe hörde. Und außerdem verstehe ich nicht, was das al les damit zu tun hat, daß Blake sich Ihrer Meinung nach in einen Wolf verwandeln kann.« »Nicht in einen Wolf«, wiederholte Daniels gedul dig, »sondern in ein fremdartiges Lebewesen, das ei nem Wolf gleicht. Nehmen wir einmal an, das Wer wolfprinzip sei nicht in der geplanten Form zu ver
wirklichen gewesen. Der Androide sollte sich in ein anderes Lebewesen verwandeln und für einige Zeit als dieses andere Wesen existieren. Dann sollten die Informationen wieder gelöscht werden, so daß der Androide sich in seine menschliche Gestalt zurück verwandelte. Aber wenn ...« »Aha«, meinte Winston. »Nehmen wir einmal an, es sei nicht möglich gewesen, diese Informationen wieder zu löschen. Nehmen wir einmal an, der An droide sei daraufhin menschlich und fremdartig – zwei Wesen in einem.« »Genau das habe ich mir auch überlegt, Sir«, sagte Daniels. »Mir ist noch etwas anderes aufgefallen. Bla kes Enzephalogramm sieht ganz merkwürdig aus – als habe er mehr als einen Verstand. Die Schatten zeichnen sich kaum merklich ab.« »Soll das heißen, daß er mehr als einen zusätzli chen Verstand haben könnte?« Daniels zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht sagen. Dazu sind die Spuren nicht deutlich ge nug.« Winston starrte ihn an. »Hoffentlich haben Sie un recht«, sagte er langsam. »Ich bin davon überzeugt, daß Sie sich irren. Die Idee ist verrückt!« »Aber immerhin ist es eine Erklärung«, antwortete Daniels ungerührt. »Trotzdem können wir damit nicht alles erklären.
Blake ist in einer Kapsel gefunden worden. Kein Mensch hat das Schiff oder dessen Trümmer gesehen. Was sagen Sie dazu?« »Gar nichts«, versicherte Daniels ihm, »denn dafür gibt es keine logische Erklärung, die uns Laien einfal len könnte. Das müssen wir Fachleuten überlassen.« Winston ging unruhig auf und ab. Dann setzte er sich wieder und streckte die Hand nach dem Vi sorphon aus. »Wie heißt dieser Zeuge?« »Lukas. Doktor Lukas. Ich kann mich nicht an sei nen Vornamen erinnern, aber er steht bestimmt in den Zeitungen. In der Vermittlung liegt wahrschein lich eine herum.« »Hmm, am besten verständigen wir auch die bei den Senatoren«, meinte Winston nachdenklich. »Sie und Lukas, das müßte genügen.« »Wie steht es mit der Raumfahrtbehörde, Sir?« Der Chefarzt schüttelte den Kopf. »Nein, wir brau chen Beweise, bevor wir es mit ihr aufnehmen.«
15
Der Schlupfwinkel war nur eine flache Vertiefung un ter einem Felsvorsprung. Über ihm stieg der felsige Boden steil an; unter ihm fiel er fast senkrecht zum Fluß hin ab, der über Felsbrocken zu Tal rauschte. Das Geröll drohte abzurutschen, als Sucher die Halde schräg überquerte, aber er krallte sich fest und er reichte mühsam das Versteck. Hier fühlte er sich endlich halbwegs sicher, da er an drei Seiten geschützt war, aber er wußte, daß diese Sicherheit nur eine Illusion war. Die Lebewesen die ses Planeten suchten vielleicht schon jetzt nach ihm und würden früher oder später auch dieses Gebiet durchkämmen. Ganz bestimmt hatte ihn das metalli sche Wesen mit den glühenden Augen gesehen, dem er nur mit knapper Not entkommen war. Er zuckte bei der Erinnerung daran zusammen und entspannte sich dann ganz bewußt, während er seine Umgebung in sich aufnahm. Ein unordentlicher Planet, dachte Sucher – mit zu viel Leben und Wasser, mit zu dichter Atmosphäre und zu heißem Klima. Hier schien es weder Ruhe noch Sicherheit zu geben, sondern nur das Gefühl ständiger Bedrohung von allen Seiten. Die Bäume ächzten leise, und er fragte sich, ob das Ächzen von den Bäumen
selbst oder von der in Bewegung geratenen Atmo sphäre kam, die durch die Zweige strich. Und während er sich noch fragte, wußte er plötz lich, daß der Wind dieses Geräusch verursachte, daß die Bäume selbst keine Möglichkeit zur Geräuscher zeugung hatten, daß die Bäume und alle anderen Pflanzen dieses Planeten, der Erde hieß, ohne Intelli genz und Sinnesorgane lebten. Und daß die Höhlen Gebäude waren, daß die Menschen nicht unabhängi ge Einzelwesen waren, sondern daß sie Gemeinschaf ten bildeten, die Familien genannt wurden, und daß jede Familie ihr eigenes Heim bewohnte. Alle diese und unzählige andere Informationen überfluteten ihn so plötzlich, daß er im ersten Au genblick wie betäubt war. Und als er sich endlich auf raffte, um dagegen anzuschwimmen, war die Flut welle bereits verebbt. Aber er wußte, daß er nun sämtliche Informationen über diesen Planeten besaß, über die Wechsler verfügte. Tut mir leid, sagte Wechsler. Ich hätte dir gern län ger Zeit gelassen, aber es war nicht anders möglich. Ich mußte dir alles auf einmal geben. Sucher überprüfte rasch, was er aufgenommen hat te. Er schrak unwillkürlich davor zurück. Ein Teil dieses Wissens ist veraltet, fügte Wechsler hinzu. Ich möchte nochmals betonen, daß es unvoll ständig und teilweise wertlos ist.
Inzwischen war Sucher bereits damit beschäftigt, das Netzwerk, mit dem er Informationen einholte, zu vervollständigen und weiter auszudehnen. Je mehr er aufnahm, je besser er die dominierende Rasse dieses Planeten kennenlernte, desto entsetzlicher fand er es, vielleicht für immer hier gefangen zu sein. Was ist aus meinem anderen Körper geworden, Su cher? fragte er. Ich meine den anderen Körper, in dem ich lebte, bevor ihr Menschen kamt. Ihr habt ihn gefan gen, das weiß ich noch. Was habt ihr damit getan? Nicht ich! Ich habe ihn nicht gefangen. Ich habe nichts mit ihm getan. Bitte keine fadenscheinigen Ausreden! Du viel leicht nicht allein. Du vielleicht nicht selbst, aber ... Solche Überlegungen darfst du nicht zulassen, Su cher, warf Denker ein. Wir drei sitzen in der gleichen Falle – wenn es eine Falle ist. Ich glaube fast, daß er sich nicht um eine Falle, sondern eine einzigartige Situation handelt, aus der wir alle unseren Vorteil ziehen kön nen. Wir teilen uns einen Körper, und unsere Gedan ken sind einander näher als je zuvor. Wir dürfen uns nicht streiten; wir dürfen nicht verschiedener Meinung sein, denn das können wir uns nicht leisten. Wir müs sen unbedingt zusammenarbeiten und miteinander harmonieren. Sollte es wirklich Meinungsverschie denheiten geben, müssen sie sofort bereinigt werden. Genau das habe ich vor, antwortete Sucher. Ich
möchte wissen, was aus meinem ersten Körper ge worden ist. Er ist Molekül für Molekül zerlegt und analysiert worden, erklärte Wechsler ihm. Anschließend ließ er sich leider nicht wieder zusammensetzen. Du hast mich also ermordet, wolltest du sagen. Wenn du es so nennen willst ... Und Denker ebenfalls? Denker zuerst. Denker, fragte Sucher, hast du nichts dagegen? Was wäre damit geholfen? Das ist keine Antwort, Denker! Ich kann es nicht bestimmt sagen, meinte Denker. Natürlich ist jede Gewaltanwendung zu verdammen. Aber ich betrachte diesen Wechsel eher als Verwand lung. Wäre es nicht dazu gekommen, hätte ich nie Verbindung mit dir aufgenommen. Alle Informatio nen, die ich dir zu verdanken habe, waren für mich verloren gewesen. Wären die Menschen andererseits nie zu euch gekommen, hättest du weiter Bilder von den Sternen eingesammelt, ohne ihre Bedeutung auch nur zu ahnen. Du hättest dich dabei vergnügt, aber ich kann mir nichts Tragischeres vorstellen als ein Lebewesen, das vor Geheimnissen steht und nicht einmal den Versuch macht, sie auch zu enträtseln. Vielleicht wäre ich dabei trotzdem glücklicher ge wesen, meinte Sucher.
Aber siehst du nicht, welche Chance sich uns hier bietet? fragte Denker. Wir sind alle drei deutlich ver schieden. Du, Sucher, der Raufbold und Bandit, dann Wechsler, der listige Ränkeschmied, und schließlich ich, der ... Und du, sagte Sucher, der Allweise, der Voraus schauende, der ... Der bescheidene Wahrheitssucher, verbesserte Denker ihn. Falls ihr darauf besteht, bitte ich euch im Namen der Menschheit um Entschuldigung, teilte Wechsler ihnen mit. In vieler Beziehung ist sie mir ebenso un sympathisch wie euch. Das ist kein Wunder, meinte Denker, denn du bist kein Mensch. Die Menschen haben dich geschaffen, und du bist ihr Werkzeug. Trotzdem muß ich irgend etwas sein, sagte Wechs ler. Ich möchte lieber ein Mensch als gar nichts sein. Man kann nicht allein existieren. Du bist nicht allein, stellte Denker fest. Wir sind bei dir. Trotzdem bestehe ich darauf, ein Mensch zu sein, wiederholte Wechsler. Das begreife ich nicht, gab Denker zu. Vielleicht kann ich es dir erklären, warf Sucher ein. Vorhin im Krankenhaus habe ich einen Stolz wahr genommen, den seit Jahrtausenden kein Sucher mehr
empfunden hat. Ich war plötzlich stolz darauf, mei ner Rasse anzugehören und ein Kämpfer zu sein. Ich vermute, daß meine Rasse früher ebenso aggressiv und vorwärtsstrebend wie Wechslers war, und kann deshalb verstehen, was er meint. Denkers Artgenos sen haben diese Art Stolz vermutlich nie gekannt. Mein Stolz sähe in der Tat anders aus, versicherte Denker ihnen, denn er hätte andere Gründe. Aber ich will nicht bestreiten, daß es verschiedene Motive gibt. Ruhig! sagte Sucher plötzlich. Er schickte seine Spürer aus, nahm schwache An zeichen auf und analysierte sie. Zuerst nur drei Men schen, dann viele, die in einer langen Reihe durch den Wald kamen. Und er wußte, was sie dort such ten; er spürte, daß sie Angst hatten, aber auch wütend waren – und daß das Jagdfieber sie erfaßt hatte. Sucher nahm seine Kräfte zusammen und wollte aufspringen und davonlaufen. Seiner Überzeugung nach konnte er den Jägern nur dadurch entkommen, daß er rannte und rannte. Warte, sagte Denker. Sie sind gleich hier. Noch lange nicht. Sie bewegen sich langsam. Es muß etwas anderes geben. Wir können nicht immer fliehen. Wir haben einen Fehler gemacht, der sich nicht wiederholen darf. Welchen Fehler?
Wir hätten nicht deine Gestalt annehmen dürfen. Wir hätten Wechsler bleiben müssen. Aber das haben wir nicht gewußt. Wir haben nur auf die Gefahr reagiert. Wir sind schließlich bedroht worden ... Ich hätte mich hinausreden können, sagte Wechs ler. Aber vielleicht ist es doch besser so. Sie waren be reits mißtrauisch und hätten mich vielleicht einge sperrt, um mich zu beobachten. Jetzt sind wir wenig stens frei. Aber nicht lange, warf Denker ein, wenn wir auf der Flucht bleiben. Hier gibt es zu viele Menschen. Wir können uns nicht vor allen verstecken. Wir kön nen nicht vor allen davonlaufen. Unsere Chance ist theoretisch so gering, daß man sie gar nicht als Chan ce bezeichnen kann. Hast du etwas vor? fragte Sucher. Wir könnten meine Gestalt annehmen, schlug Den ker vor. Ich kann mich in einen Felsbrocken verwan deln, der nicht auffällt. Augenblick! warf Wechsler ein. Die Idee ist nicht schlecht, aber dabei gibt es Schwierigkeiten. Schwierigkeiten? Darauf hättest du selbst kommen müssen. Dieser Planet ist zu warm für Sucher, aber viel zu kalt für dich, Denker. Kälte ist Mangel an Wärme?
Richtig. Mangel an Energie? Genau. Ich muß mich erst an deine Terminologie gewöh nen, meinte Denker entschuldigend. Aber ich kann auch Kälte ertragen. Wenn es ums Gemeinwohl geht, halte ich viel Kälte aus. Es handelt sich nicht darum, ob du die Kälte ertra gen kannst. Das bezweifle ich gar nicht. Aber dann brauchst du große Energiemengen. Damals im Haus ... Damals hattest du die Energiequelle des Hauses zur Verfügung. Hier gibt es nur Wärme, die in der Atmosphäre gespeichert ist. Aber seit Sonnenunter gang hat sie sich ständig verringert. Du mußt mit dem Energievorrat deines Körpers auskommen. Aha, meinte Denker. Aber ich kann doch die Ener gie mit meinem Körper umschließen. Bekomme ich alle Energie mit, die der Körper enthält? Das ist anzunehmen. Der Wechsel kostet vermut lich Energie, aber nicht allzuviel. Wie fühlst du dich, Sucher? Mir ist heiß, antwortete er. Das meine ich nicht. Du bist doch wach, oder? Kein Energiemangel? Alles in Ordnung, sagte Sucher. Wir warten, bis sie fast hier sind, entschied Denker.
Dann nehmen wir meine Gestalt an, und ich bin nur ein unscheinbarer Klumpen in einer Ecke der Höhle. Vielleicht sehen sie die Höhle gar nicht, meinte Wechsler hoffnungsvoll. Wir dürfen nichts riskieren, sagte Denker. Ich blei be so kurz wie möglich in meiner Gestalt. Wenn du recht hast, muß ich mich anschließend sofort zurück verwandeln, bevor zuviel Energie verlorengeht. Du kannst es selbst ausrechnen, schlug Wechsler vor. Du hast meine Informationen und brauchst sie nur auszuwerten. Richtig, die Informationen, Wechsler. Aber mir feh len einige Voraussetzungen – ich bin es nicht ge wöhnt wie du, zu rechnen oder universale Gesetzmä ßigkeiten rasch zu erfassen. Aber du bist unser Denker ... Ich denke anders. Laßt endlich das Geschwätz, verlangte Sucher un geduldig. Wir wissen, was wir zu tun haben. Sobald die Jäger an uns vorbeigegangen sind, nehmen wir wieder meine Gestalt an. Nein, sagte Wechsler, meine. Aber du bist nackt. Das spielt hier draußen keine Rolle. Deine Füße sind empfindlich. Hier gibt es Äste und Steine. Und du siehst nachts schlecht. Sie sind fast hier, warnte Denker.
Richtig, stimmte Sucher zu. Sie kommen den Hügel herab.
16
In einer Viertelstunde begann ihr Lieblingsprogramm im Fernsehen. Elaine Horton freute sich bereits den ganzen Tag darauf, denn Washington war unendlich langweilig. Sie sehnte sich nach dem alten Steinhaus in den Hügeln von Virginia zurück. Sie blätterte in einem Magazin, als der Senator he reinkam. »Was hast du den ganzen Tag getrieben?« fragte er lächelnd. »Ich habe mir einen Teil der Hearings angesehen«, antwortete Elaine. »Gute Unterhaltung?« »Ziemlich interessant. Ich verstehe nur nicht, wes halb du dieses alte Zeug ausgegraben hast.« Senator Horton grinste. »Nun, vor allem wollte ich Stone verblüffen. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich nehme an, daß ihm die Augen aus den Höh len gequollen sind.« »Er war sichtlich wütend«, berichtete sie. »Du woll test vermutlich beweisen, daß die Biotechnik keine neue Wissenschaft mehr ist?« »Nicht nur das, sondern auch, daß schon vor zwei hundert Jahren auf diesem Gebiet beachtliche Ergeb nisse erzielt wurden. Wir haben uns einmal ins
Bockshorn jagen lassen, aber das darf nicht wieder passieren. Stell dir nur den Zeitverlust vor – zwei Jahrhunderte vergeudet! Meine anderen Zeugen werden das ebenfalls betonen.« Elaine Horton nickte verständnisvoll. »Ist deine Mutter gut weggekommen?« erkundigte der Senator sich. »Ja, mit dem Flugzeug um elf.« »Diesmal ist es Rom, nicht wahr? Filme oder Ge dichte oder was?« »Filme. Irgendwelche alten Kopien aus den Jahren um 1980, glaube ich.« Der Senator seufzte. »Deine Mutter ist eine intelli gente Frau. Sie hat Sinn für derartige Dinge; mir fehlt er völlig. Du hättest sie doch begleiten sollen – viel leicht wäre es interessant gewesen.« »Du weißt genau, daß es nicht interessant gewesen wäre«, sagte Elaine. »Du bist ein alter Heuchler. Du gibst vor, Mutters Spleen zu bewundern, aber in Wirklichkeit ist er dir völlig gleichgültig.« »Vermutlich hast du recht«, gab er zu. »Was gibt es heute abend im Fernsehen?« »Ich warte auf Horatio Alger. Die Sendung beginnt in zehn Minuten.« »Horatio Alger – wer ist das?« fragte der Senator. »Ein Schriftsteller zu Beginn des zwanzigsten Jahr hunderts, der einen Haufen Bücher geschrieben hat.
Nach Meinung der Kritiker waren sie miserabel, und ich kann mir vorstellen, daß die Kritiker recht hatten. Aber viele Leute haben sie begeistert gelesen, weil sie das enthielten, was sich jeder in seinen Träumen wünscht. In allen setzte sich nämlich ein armer Junge trotz aller Hindernisse im Leben durch und hatte schließlich großen Erfolg.« »Auf die Dauer langweilig«, meinte der Senator. »Kann sein, aber die Drehbuchautoren haben die gesellschaftskritische Tendenz dieser Romane deut lich herausgearbeitet und den ganzen Hintergrund der damaligen Zeit bis ins Detail rekonstruiert. Bei manchen Szenen läuft es einem kalt über den Rücken ...« Das Visorphon auf dem Schreibtisch summte. Senator Horton stand auf und durchquerte den Raum. Elaine lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Die Sen dung begann in fünf Minuten. Und diesmal wollte der Senator ihr Gesellschaft leisten. Hoffentlich wur de er nicht davon abgehalten – zum Beispiel durch diesen Anruf. Sie blätterte eine Illustrierte durch, oh ne auf das Gespräch zu achten. Der Senator kam zurück. »Ich muß für eine Weile fort«, sagte er. »Dann versäumst du Horatio.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mir die nächste
Sendung ansehen. Eben hat John Winston angeru fen.« »Aus dem Krankenhaus! Ist etwas nicht in Ord nung?« »Niemand verletzt, niemand krank, falls du das meinst. Aber Winston war schrecklich aufgeregt und hat mich gebeten, sofort zu ihm zu kommen. Aller dings wollte er keinen Grund nennen.« »Hoffentlich dauert es nicht zu lange«, meinte sie besorgt. »Du brauchst deinen Schlaf, solange die Hea rings andauern.« »Ich komme so schnell wie möglich zurück«, ver sprach er ihr. Sie begleitete ihn zur Tür und winkte ihm nach. Dann ging sie ins Wohnzimmer zurück. Aus dem Krankenhaus, überlegte sie. Das gefiel ihr nicht. Was hatte der Senator mit Krankenhäusern zu schaffen? Krankenhäuser machten sie nervös. Sie war erst heute nachmittag in St. Barnabas gewesen, hatte sich überwinden müssen und war jetzt doch froh, daß sie den Besuch gemacht hatte. Der arme Kerl, der nicht wußte, wer er war ... Sie betrat den Fernsehraum neben dem Wohnzim mer und schaltete das Gerät ein. In der nächsten Se kunde befand sie sich auf einer Straße der Innenstadt. »... noch niemand erklären, was hier vor weniger
als einer Stunde geschehen ist«, sagte eine Stimme von irgendwoher. »Es gibt etliche Versionen, aber keine Erzählung stimmt ganz mit anderen überein. Im Krankenhaus scheint sich die größte Aufregung allmählich zu legen. Einem Bericht nach soll ein Pati ent verschwunden sein, aber diese Meldung ist bisher weder bestätigt noch dementiert worden. Nach Zeugenaussagen ist ein Tier – einige wollen es als Wolf identifiziert haben – durch die Gänge ge rast und hat jeden angefallen, der ihm im Weg stand. Eigenartigerweise soll dieser Wolf, falls es wirklich einer war, an den Schultern Arme gehabt haben. Als die Polizei eintraf, wurde sie von diesem rätselhaften Tier angefallen und machte von der Schußwaffe Ge brauch, ohne jedoch ...« Elaine hielt den Atem an. St. Barnabas! Der Repor ter stand vor St. Barnabas. Dort hatte sie Andrew Bla ke besucht, und ihr Vater war gerade jetzt auf dem Weg dorthin ... Sie wollte aufspringen und blieb doch sitzen. Der Senator würde allein zurechtkommen; er war nicht auf ihre Hilfe angewiesen. Und dieses Tier, das im Krankenhaus gewütet hatte, war offenbar ver schwunden. Wenn sie noch etwas wartete, konnte sie miterleben, wie ihr Vater aus dem Wagen stieg und das Krankenhaus betrat ...
17
Die Schritte kamen langsam näher. Der Mann rutsch te und stolperte über die Geröllhalde vor dem Schlupfwinkel. Ein scharfgebündelter Lichtstrahl fiel in die Höhle. Denker machte sich noch kleiner und reduzierte sein Kraftfeld. Er war sich darüber im kla ren, daß ihn dieses Feld verraten konnte, aber es ließ sich unmöglich weiter verringern. Es war ein Teil sei ner selbst, und er war darauf angewiesen, wenn er überleben wollte. Besonders in dieser fremden Um gebung, deren niedrige Temperatur seine Energiere serven aufzuzehren drohte. Wir müssen wir selbst sein, dachte er. Ich mein Ich, Sucher sein Ich, und Wechsler ebenfalls sein eigenes Ich. Wir können nicht mehr oder weniger sein, und wir können uns nur allmählich durch eine langwierige Evolution verändern – aber wäre es nicht möglich, daß wir im Laufe der Jahrtausende verschmelzen, daß wir schließlich nur noch einen gemeinsamen Verstand be sitzen? Und daß dieser Verstand zu Gefühlsreaktionen fähig wäre, die ich erfassen, aber nicht verstehen kann, und daß er die messerscharfe, eiskalte Logik besäße, mit der ich im Gegensatz zu meinen Gefährten begabt bin, und den treffsicheren Instinkt Suchers, den weder ich noch Wechsler besitzen?
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein bloßer Zufall dazu geführt hat, daß wir zu dritt mit unserem Verstand ein gewisses Quantum toter Materie bele ben, das sich in einen beliebigen Körper verwandeln läßt? Blinder Zufall oder Schicksal? Welches Schick sal? Kann es sein, daß dieses Ereignis nur der erste Schritt auf einem vorausgeplanten Weg ist, dessen Endpunkt noch nicht zu erkennen ist? Der Mensch kroch näher. Steine rutschten unter seinen Knien davon und polterten den Abhang hinab. Er mußte sich angestrengt festhalten, und die Ta schenlampe in seiner Hand malte zitternde Kringel auf die Höhlenwand. Dann stützte er einen Ellbogen auf und drückte seinen Körper hoch, bis er die Öffnung der Höhle vor sich hatte. Er sog prüfend die Luft ein. »He, Bob, in der Höhle riecht es komisch!« rief er dann. »Hier muß irgend etwas gewesen sein. Erst vor kurzer Zeit.« Denker vergrößerte sein Kraftfeld und stieß es ge waltsam nach draußen. Es traf den Mann wie ein Faustschlag, hob ihn hoch und ließ ihn fallen. Sein Körper verdrehte sich in der Luft und prallte schwer auf. Der Mann stieß einen entsetzlichen Schrei aus, dann rutschte er bergab. Denker spürte, daß er nach unten rutschte und dabei Geröll und Äste mitriß. Dann hörte das Geräusch plötzlich auf, aber weiter
unten platschte es. Andere Männer brachen durchs Unterholz. Das Licht ihrer Taschenlampen fiel auf Büsche und dunkle Baumstämme. Stimmen wurden laut. »Bob, hast du das gehört? Harry muß etwas zuge stoßen sein.« »Ja, ich hab' ihn schreien gehört.« »Er ist unten am Bach. Ich glaube, daß er ins Was ser gefallen ist.« Die Männer kletterten bergab. Vom Bach her leuch teten fünf oder sechs Taschenlampen, und einige der Jäger wateten in den Bach hinaus. Auf dem anderen Ufer erschienen ebenfalls tanzende Lichtstrahlen, als die Suchenden Verstärkung erhielten. In Denkers Verstand bewegte sich etwas. Ja, fragte er, was gibt es? Was tun wir jetzt? knurrte Sucher. Du hast gehört, was er gebrüllt hat. Sie sind jetzt noch zu aufgeregt, aber einer von ihnen wird sich daran erinnern. Irgend jemand kommt bestimmt hier herauf. Vielleicht schießen sie dann auf uns. Ich bin ganz deiner Meinung, warf Wechsler ein. Sie werden die Höhle untersuchen. Wenn der Mann nicht gefallen ... Gefallen! wiederholte Denker verächtlich. Ich habe ihn gestoßen. Schon gut, meinte Wechsler beruhigend. Dieser
Mann hat uns jedenfalls verraten. Vielleicht hat er Su cher gerochen. Ich stinke nicht, sagte Sucher. Das ist lächerlich, stellte Denker fest. Höchstwahr scheinlich besitzen wir alle einen charakteristischen Körpergeruch. Die Höhle kann ohne weiteres nach dir gerochen haben. Vielleicht war es dein Körpergeruch, wandte Su cher ein. Vergiß nicht, daß du ... Aufhören! sagte Wechsler scharf. Es ist völlig un wichtig, wen von uns der Mann gerochen hat. Wir müssen überlegen, was jetzt zu tun ist. Denker, kannst du dich in etwas Langes und Flaches verwan deln und in dieser Gestalt den Hügel hinaufkriechen? Das bezweifle ich. Der Planet ist viel zu kalt. Ich verliere zu schnell Energie. Wenn ich meine Körper oberfläche vergrößere, verliere ich sie um so rascher. Mit diesem Problem müssen wir irgendwie fertig werden, meinte Sucher. Es handelt sich darum, daß wir genügend Energie brauchen. Wechsler muß ein fach für drei essen. Sein Körper ist auf die hier erhält lichen Lebensmittel eingestellt und kann sie verdauen und in Energie umwandeln. Denker findet nicht überall Energiequellen, und ich bezweifle, daß mein Körper sich hier auf natürliche Weise ... Du hast völlig recht, unterbrach Wechsler ihn, aber darüber können wir später nachdenken. Bleiben wir
lieber beim ursprünglichen Problem. Können wir deine Gestalt annehmen, Sucher? Meine wäre zu auf fällig, denn mein Körper ist weiß. Natürlich können wir meine Gestalt annehmen, erwiderte Sucher. Ausgezeichnet. Du kriechst also aus der Höhle und schleichst den Hügel hinauf. So leise und vorsichtig wie möglich – aber auch so schnell wie du kannst. Die Jäger sind alle dort unten am Bach versammelt, und wenn sie nicht auf dich aufmerksam werden, sind wir sie vorläufig los. Nehmen wir an, ich hätte den Hügel erreicht – was dann? erkundigte Sucher sich. Du folgst einfach der nächsten Straße, erklärte Wechsler ihm. Irgendwo muß eine Visorphonzelle zu finden sein.
18
»Wenn Sie recht haben«, sagte Chandler Horton, »müssen wir uns möglichst bald mit Blake in Verbin dung setzen.« »Warum glauben Sie, daß wir es noch mit Blake zu tun haben?« fragte der Chefarzt. »Schließlich ist nicht Blake aus dem Krankenhaus geflohen. Sollte Daniels mit seiner Theorie recht behalten, war es ein fremdar tiges Lebewesen.« »Aber es war auch Blake«, widersprach Horton. »Ein fremdartiges Lebewesen, das sich aber in Blake zurückverwandeln konnte.« Senator Stone lehnte sich in seinen Sessel zurück und runzelte die Stirn. »Falls jemand auf meine Mei nung Wert legt«, warf er ein, »möchte ich betonen, daß ich das alles für Unsinn halte.« »Ihre Meinung interessiert uns natürlich«, antwor tete Horton. »Aber Sie könnten ausnahmsweise etwas Konstruktives beisteuern, Solomon.« »Warum ausgerechnet ich?« fragte Stone empört. »Das Ganze ist eine abgekartete Sache. Ich weiß noch nicht, welchen Zweck sie erfüllen soll, aber das ist es jedenfalls. Und ich möchte wetten, daß Sie dahinter stecken, Chandler. Ich kenne Ihre Tricks! Sie haben die Sache aufgezogen, um irgend etwas zu beweisen
– nur ist vorläufig noch nicht klar, worum es sich handelt. Ich habe gleich gewußt, daß an der Sache etwas faul war, als Sie diesen Witzbold Lukas in den Zeugenstand gerufen haben.« »Doktor Lukas, wenn ich bitten darf, Senator«, sagte Horton. »Gut, meinetwegen. Doktor Lukas, damit Sie zu frieden sind. Was weiß er davon?« »Fragen wir ihn doch gleich selbst«, schlug Horton vor. »Doktor Lukas, was wissen Sie davon?« Lukas grinste trocken. »Ich kann natürlich nicht beurteilen, was hier im Krankenhaus passiert ist«, stellte er fest. »Aber ich bin davon überzeugt, daß Doktor Daniels mit seiner Theorie recht hat – alles könnte auf seiner Annahme beruhen.« »Aber das ist nur ein Aberglauben«, widersprach Stone. »Bloßer Aberglauben. Doktor Daniels hat sich eine Erklärung zurechtgelegt. Gut! Ausgezeichnet! Wunderbar! Er besitzt eben eine gute Phantasie. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß sich alles so abge spielt haben muß.« »Ich möchte betonen, daß Blake bei Doktor Daniels in Behandlung war«, sagte der Chefarzt. »Sie glauben also auch an diesen Unsinn?« »Nicht unbedingt. Ich weiß überhaupt nicht, was ich noch glauben soll. Aber wenn jemand eine Mei nung haben darf, ist es Daniels hier.«
»Betrachten wir die Sache doch ganz nüchtern«, schlug Horton vor. »Ich halte es für überflüssig, auf die Vorwürfe des Senators einzugehen, der alles für eine abgekartete Sache hält, aber wir sind uns wohl darüber einig, daß sich hier etwas Außergewöhnli ches ereignet hat. Ich bezweifle, daß Doktor Winston uns leichtfertig und grundlos alarmiert hat. Er will sich jetzt nicht festlegen, aber ich bin davon über zeugt, daß er das Gefühl hatte, die Angelegenheit sei irgendwie besorgniserregend.« »Das habe ich noch immer«, sagte der Chefarzt. »Soviel ich gehört habe, ist dieser Wolf – oder was es auch immer war ...« Solomon Stone schnaubte verächtlich. Horton warf ihm einen eisigen Blick zu. »Oder was es auch immer war«, wiederholte er, »von der Polizei verfolgt worden, über die Straße gelaufen und im Park verschwunden.« »Richtig«, bestätigte Daniels. »Dort draußen sind jetzt ganze Horden auf der Jagd nach ihm. Irgendein idiotischer Autofahrer hat ihn sogar zu überfahren versucht.« »Dieser Unsinn muß endlich aufhören«, verlangte Horton. »Anscheinend hat hier kein Mensch nachge dacht, sondern alle sind gleich ...« »Sie müssen die Aufregung berücksichtigen«, warf der Chefarzt ein. »Die Leute waren zu keinem klaren Gedanken fähig.«
»Wenn Blake das ist, was Daniels vermutet, müs sen wir ihn zurückholen«, stellte Horton fest. »Wir haben bereits zwei Jahrhunderte vergeudet, nur weil die Raumfahrtbehörde glaubte, sie müsse das Projekt totschweigen, da es ein Mißerfolg gewesen zu sein schien. Diese Taktik war übrigens so erfolgreich, daß es völlig in Vergessenheit geriet und nur als un glaubwürdiges Gerücht überlebte. Aber wir wissen jetzt, daß es offenbar doch Erfolg gehabt hat. Der Be weis dafür hält sich vermutlich in dieser Sekunde dort drüben im Wald verborgen.« »Oh, das Projekt war wirklich ein Mißerfolg«, sagte Lukas. »Es hat jedenfalls nicht so funktioniert, wie die Raumfahrtbehörde dachte. Ich glaube, daß Daniels richtig vermutet hat. Sobald der Androide die Cha rakteristika eines anderen Lebewesens aufgenommen hatte, konnten sie nicht mehr gelöscht werden, son dern wurden zu einem Bestandteil seiner selbst. Der Androide war gleichzeitig ein Mensch und dieses fremde Lebewesen. In jeder Beziehung – körperlich und geistig.« »Glauben Sie, daß der Androide eine synthetische Mentalität besitzt?« fragte der Chefarzt. »Darunter verstehe ich eine sorgfältig ausgearbeitete Mentalität, die ihm eingegeben wurde.« Lukas schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich, denn diese Methode wäre reichlich primitiv gewesen.
In den Berichten, die ich gelesen habe, ist nicht davon die Rede, aber ich vermute stark, daß das Gehirn des Androiden die genaue Kopie irgendeines Menschen gehirns ist. Selbst damals muß diese Übertragung technisch möglich gewesen sein. Wann wurde die er ste Gehirnbank eingerichtet?« »Vor etwas über dreihundert Jahren«, sagte Hor ton. »Folglich war eine Übertragung technisch möglich. Die Konstruktion eines synthetischen Gehirns wäre selbst heutzutage sehr schwierig. Ich bezweifle sogar, daß es uns gelingen würde, diesen Bestandteil des Menschen vollkommen zu imitieren. Unser künstli ches Gehirn würde selbstverständlich funktionieren, aber ich möchte nicht beschwören, daß es vollständig menschlich wäre.« »Sie glauben also, daß Blakes Gehirn die Kopie des Gehirns eines Mannes ist, der zur Zeit seiner Kon struktion gelebt hat?« fragte Horton. »Davon bin ich überzeugt«, antwortete Lukas. »Ich auch«, warf der Chefarzt ein. »Folglich ist er im Grunde genommen ein Mensch – oder hat wenigstens einen menschlichen Verstand?« fragte Horton weiter. »Das ist meines Erachtens die einzig mögliche Lö sung«, erwiderte Lukas. »Alles Unsinn«, murmelte Senator Stone vor sich hin.
Niemand achtete auf ihn. Der Chefarzt sah zu Horton hinüber. »Sie glauben also, daß wir Blake unbedingt zurückholen müssen?« »Richtig«, bestätigte Horton. »Bevor die Polizisten eine Dummheit machen und wieder um sich knallen. Bevor sie ihn so erschrecken, daß er monatelang nicht mehr zum Vorschein kommt – wenn überhaupt.« »Ganz meiner Meinung«, sagte Lukas. »Überlegen Sie nur, was wir von ihm lernen könnten, was er uns erzählen könnte. Falls in absehbarer Zeit auch Men schen biotechnisch beeinflußt werden sollen, ist Blake ein unschätzbares Studienobjekt.« Der Chefarzt schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber Blake stellt doch einen Ausnahmefall dar. Soviel ich gehört habe, ist nicht vorgesehen, derartige Lebewe sen zu erzeugen.« »Sie haben natürlich recht, Doktor«, stimmte Lukas zu, »aber jeder Androide ist ...« »Damit vergeuden Sie nur Ihre Zeit«, warf Stone ein. »Es wird nie ein Programm dieser Art geben. Da für werden ich und einige meiner Kollegen sorgen.« »Solomon«, sagte Horton geduldig, »über die poli tische Seite dieser Angelegenheit können wir uns spä ter Sorgen machen. Im Augenblick handelt es sich nur darum, daß draußen ein erschrockener Mann versteckt ist, dem wir irgendwie zeigen müssen, daß wir ihm nichts antun wollen.«
»Und was schlagen Sie also vor?« »Das ist doch ganz einfach. Wir blasen die Jagd ab und veröffentlichen die Nachricht ...« »Glauben Sie, daß ein Wolf Zeitungen liest oder fernsieht?« »Wahrscheinlich würde er nicht lange ein Wolf bleiben«, sagte Daniels. »Ich habe das Gefühl, daß er sich so schnell wie möglich in einen Menschen zu rückverwandeln wird. Stellen Sie sich nur vor, wie verwirrend die Erde für ein fremdes Lebewesen sein muß.« »Meine Herren«, sagte der Chefarzt. »Ich bitte Sie, meine Herren.« Alle sahen ihn erstaunt an. »Das ist unmöglich!« beteuerte er. »Das würde un ser Krankenhaus in völlig schiefes Licht rücken. So ist es schon schlimm genug – aber diese Werwolfge schichte! Stellen Sie sich nur die Schlagzeilen vor!« »Aber wenn wir recht haben?« fragte Daniels. »Das ist eben der springende Punkt. Wir wissen nicht, ob wir recht haben. Wir glauben es, aber das genügt einfach nicht. Bei dieser Sache müssen wir hundertprozentig recht haben – und das können wir nicht behaupten.« »Sie weigern sich also, die Mitteilung zu machen?« wollte Horton wissen. »Ich darf mich nicht dazu äußern, sofern es über
den Krankenhausbereich hinausgeht. Dazu müßte ich die Genehmigung der Raumfahrtbehörde einholen – aber ohne ihre Zustimmung darf ich nichts sagen. Selbst wenn ich recht hätte, würde die Raumfahrtbe hörde dafür sorgen, daß ich nie wieder auf den Ge danken käme, ihr ins Handwerk zu pfuschen ...« »Selbst nach zweihundert Jahren.« »Richtig, sogar nach zwei Jahrhunderten. Ist Ihnen nicht klar, daß Blake der Raumfahrtbehörde gehört, wenn unsere Vermutungen zutreffen? Sie muß ent scheiden, was mit ihm geschehen soll; sie hat damit angefangen und muß jetzt ...« Stone grinste breit. »Lassen Sie sich von ihm nichts einreden, Chand ler. Holen Sie die Reporter zusammen und erzählen Sie ihnen die ganze Story. Zeigen Sie uns, daß Sie Mumm in den Knochen haben. Lassen Sie sich nicht in Ihren Überzeugungen beirren. Hoffentlich tun Sie es nicht!« »Darauf können Sie sich verlassen«, sagte Horton. »Ich warne Sie, mein Freund«, fügte Stone hinzu. »Ein Wort davon in der Öffentlichkeit, und ich sorge dafür, daß kein Hund mehr einen Bissen von Ihnen nimmt.«
19
Das leise Summen des Visorphons drang schließlich in den Fernsehraum. Elaine Horton trennte sich nur widerwillig von der lebensechten Illusion vergange ner Zeiten. Das Visorphon summte weiter. Der Bildschirm leuchtete regelmäßig auf. Elaine Horton nahm davor Platz und schaltete auf Empfang um. Im schwachen Lichtschein einer Vi sorphonzelle wurde ein Kopf sichtbar. »Andrew Blake?« rief sie überrascht aus. »Richtig. Hören Sie, ich ...« »Ist etwas passiert? Der Senator mußte sofort ins ...« »Ich habe Schwierigkeiten«, erklärte Blake ihr. »Sie wissen vermutlich, was passiert ist.« »Im Krankenhaus, meinen Sie? Ich habe einige Mi nuten lang zugesehen, ohne wirklich daraus schlau zu werden. Der Reporter hat von einem Wolf gespro chen, und einer der Patienten soll verschwunden ...« Sie holte tief Luft. »Einer der Patienten ist ver schwunden! Sind Sie das, Andrew?« »Ja. Deswegen brauche ich jetzt Hilfe. Und Sie sind der einzige Mensch, den ich hier in Washington ken ne, der einzige Mensch außerhalb des Krankenhau ses, den ich um Hilfe bitten kann ...«
»Wie kann ich Ihnen helfen?« fragte sie. »Ich brauche Kleidung«, erklärte er ihr. »Was, Sie haben das Krankenhaus ohne Kleidung verlassen? Draußen ist es kalt ...« »Die Geschichte ist ziemlich lang«, unterbrach er sie. »Wenn Sie mir nicht helfen wollen, sagen Sie es bitte gleich. Ich habe Verständnis dafür. Ich möchte Sie nicht in die Sache hineinziehen, aber ich erfriere allmählich und bin auf der Flucht ...« »Sie sind aus dem Krankenhaus geflohen?« »So könnte man es nennen.« »Was brauchen Sie zum Anziehen?« »Irgend etwas. Ich kann alles brauchen.« Elaine zögerte einen Augenblick. Vielleicht war es besser, zuerst den Senator zu fragen. Aber der Sena tor war nicht zu Hause. Er war noch immer im Kran kenhaus, und sie wußte nicht, wann er zurückkom men würde. »Hören Sie, ich muß wissen, ob ich Sie richtig ver standen habe«, sagte sie. »Andrew, Sie sind also der Mann, der aus dem Krankenhaus verschwunden ist. Und Sie wollen nicht wieder dorthin zurück. Sie be finden sich auf der Flucht, haben Sie gesagt. Soll das heißen, daß Sie verfolgt werden?« »Die Polizei war eine Zeitlang hinter mir her«, gab er zu. »Aber jetzt nicht?«
»Nein, nicht im Augenblick. Wir sind ihr ent wischt.« »Wir?« »Ich habe mich versprochen. Ich bin der Polizei entwischt, wollte ich sagen.« Elaine nickte langsam. »Wo sind Sie?« erkundigte sie sich. »Das kann ich nicht genau sagen. Die Stadt hat sich natürlich verändert. Ich vermute, daß ich am Südende der alten Taft-Brücke stehe.« »Bleiben Sie dort«, wies Elaine ihn an. »Achten Sie auf meinen Wagen. Ich fahre ganz langsam und halte nach Ihnen Ausschau.« »Danke ...« »Augenblick! Mir ist eben etwas eingefallen. Sie ru fen von einer Visorphonzelle aus an?« »Richtig.« »Der Apparat funktioniert aber nur, wenn man ein Münze einwirft. Woher haben Sie die Münze, wenn Sie unbekleidet sind?« Blake grinste. »Die Münzen fallen in einen Sam melbehälter. Ich habe einen Stein genommen und ...« »Sie haben den Behälter aufgebrochen, um sich ei ne Münze zu verschaffen?« »Ich bin eben der geborene Schwerverbrecher«, meinte er lächelnd. »Wirklich? Am besten geben Sie mir die Nummer
Ihres Apparats und bleiben in seiner Nähe, damit ich Sie anrufen kann, falls ich Sie nicht sehe – wenn Sie sich doch getäuscht haben sollten und gar nicht an der Taft-Brücke warten.« »Augenblick.« Er sah auf das Schild unter dem Bildschirm und las die Nummer ab. Elaine Horton schrieb sie in ihrem Notizbuch auf und klappte es wieder zu. »Ihnen ist hoffentlich klar, was Sie damit riskieren, Andrew«, sagte sie noch. »Ich weiß jetzt die Nummer, und die entsprechende Visorphonzelle läßt sich ohne weiteres feststellen.« Blake nickte langsam. »Das ist mir natürlich von Anfang an klar gewesen. Aber ich muß es riskieren. Sie sind meine einzige Hoffnung.«
20
Diese Frau? meinte Sucher fragend. Sie ist doch ein Weibchen, nicht wahr? Ja, antwortete Wechsler. Ich finde sie schön, muß ich sagen. Der Begriff ist mir noch nicht ganz klar, warf Den ker ein. Einem weiblichen Wesen gegenüber kann man Zuneigung empfinden? Auf gegenseitiger Basis, nehme ich an. Und einem weiblichen Wesen kann man trauen? Manchmal, sagte Wechsler. Das hängt von den Umständen ab. Deine Haltung gegenüber Weibchen ist unver ständlich, murrte Sucher. Sie sichern nur den Fortbe stand der Rasse. Zu bestimmten Jahreszeiten ... Euer System ist umständlich, meinte Denker. Ich sorge selbst für das Fortbestehen meiner Rasse. Aber im Augenblick geht es nicht um die gesellschaftliche oder biologische Bedeutung dieses weiblichen Wesens, son dern nur um die Frage, ob wir ihm trauen können. Ich weiß es nicht, gab Wechsler zu. Aber ich ver mute es. Ich baue darauf. Er hockte hinter einem dichten Busch und zitterte vor Kälte. Seine Zähne klapperten laut. Der Nord wind war um diese Jahreszeit bereits eisig. Er beweg
te vorsichtig die wundgelaufenen Füße. In der Dun kelheit war er auf spitze Steine und abgesplitterte Äste getreten, so daß seine Füße jetzt schmerzten. Fünf Meter von ihm entfernt stand die Visorphon zelle. Ihre Innenbeleuchtung war düster, denn die zweite Leuchtröhre brannte nicht. Rechts und links erstreckte sich die menschenleere Straße. Um diese Zeit waren nur noch wenige Fahrzeuge unterwegs. Alle fuhren schnell, und die Brücke dröhnte, wenn ein Wagen darüberrollte. Blake duckte sich tiefer und verwünschte seine La ge. Der reinste Alptraum! Er hockte hier in der Dun kelheit, war bereits halb erfroren und wartete darauf, daß eine junge Frau, die er nur zweimal im Leben ge sehen hatte, ihm Kleidung bringen würde. Und er war nicht einmal überzeugt davon, daß sie es wirk lich tun würde ... Er verzog das Gesicht, als er an das Visorphon gespräch dachte. Er hatte seinen ganzen Mut zusam mennehmen müssen, um es überhaupt zu führen, und er hätte Verständnis dafür gehabt, wenn Elaine ihm nicht zugehört hätte. Aber sie hatte es getan. Na türlich etwas erschrocken und vielleicht ein wenig mißtrauisch – aber wer wäre das nicht gewesen? Es war schließlich nicht normal, daß ein Fremder sich mit einem derartigen Hilferuf meldete. Er hatte keinen Anspruch auf ihre Hilfe, das wußte
er recht gut. Und die Sache wurde dadurch er schwert, daß er nun schon zum zweitenmal im Haus halt des Senators um Kleidung gebeten hatte. Dies mal würde er jedoch nicht nach Hause zurückkehren. Dort wartete bereits die Polizei; sie würde ihn verhaf ten, bevor er es betreten konnte. Blake fuhr zusammen und verschränkte die Arme, als könne er dadurch seine Körperwärme konservie ren. Er sah auf, als über ihm ein leises Surren ertönte. Ein Haus flog in niedriger Höhe über die Bäume hin weg und steuerte die Innenstadt an. Sämtliche Fenster waren beleuchtet, und Blake hörte Lachen und Musik. Dort oben amüsierten sich glückliche Menschen, wäh rend er hier unten erfror. Er sah dem Haus nach, bis es in Richtung Osten verschwand. Und was sollte er nun anfangen? Was sollten sie al le drei tun. Wohin sollten sie sich wenden, sobald er die Kleidung bekommen hatte? Er wußte von Elaine, daß die Öffentlichkeit noch nicht über seine Flucht aus dem Krankenhaus infor miert war. Aber innerhalb der nächsten Stunden würde sich die Nachricht wie Lauffeuer verbreiten. Dann würde er nicht lange unerkannt bleiben. Folg lich mußte Denker oder Sucher an seine Stelle treten, aber beide würden sich ebenfalls verstecken müssen. Das Klima war für beide ungünstig – zu kalt für Den
ker und zu heiß für Sucher. Dazu kam noch, daß er die Energiezufuhr übernehmen mußte, wenn sie überleben wollten. Sucher konnte vielleicht irdische Nahrungsmittel verdauen – aber das mußte erst fest gestellt werden. Denker konnte dem elektrischen Lei tungsnetz Energie entziehen – aber dabei war die Ge fahr entdeckt zu werden besonders groß. Oder sollte er sich mit Daniels in Verbindung set zen? Er verfolgte diesen Gedanken nicht weiter, denn er wußte, daß das nicht in Frage kam. Daniels würde verlangen, daß er ins Krankenhaus zurückkehrte. Und das Krankenhaus war eine Falle. Dort würde er eingehend befragt und vielleicht sogar einer psychia trischen Behandlung unterzogen werden. Im Kran kenhaus war er nicht sein eigener Herr, sondern ein unauffällig bewachter Gefangener. Und obwohl er von Menschen konstruiert worden war, hatte er nicht das Gefühl, ihnen zu gehören. Nein, er wollte in Frei heit bleiben, wollte er selbst bleiben. Und wie stand es mit diesem Selbst? Nicht nur mit dem Menschen, sondern auch den beiden anderen Lebewesen? Er hätte sich nicht von ihnen trennen können, denn sie mußten sich diese Ansammlung von Materie teilen, die diese oder jene Körperform annehmen konnte. Aber er hätte sich auch gar nicht von ihnen trennen wollen, wenn er es recht überlegte. Die beiden anderen waren ihm vertraut, sie waren
seine Freunde ... nun, vielleicht nicht gerade das, sondern Mitstreiter, die sich einen Körper mit ihm teilten. Und selbst wenn sie weder Freunde noch Mit streiter gewesen wären, hätte er doch aus einem an deren Grund die Verantwortung für sie gehabt. Schließlich war es seine Schuld, daß sie in dieser Klemme saßen, und ihm blieb deshalb nichts anderes übrig, als die Suppe mit ihnen auszulöffeln. Würde sie kommen, fragte er sich, oder würde sie die Polizei alarmieren? Im Grunde genommen konnte er sie nicht einmal tadeln, wenn sie ihn verriet. Wo her sollte sie wissen, daß er nicht verrückt war? Sie konnte sich einbilden, in seinem Interesse zu handeln, wenn sie ihn verriet. Jetzt konnte jeden Augenblick ein Streifenwagen aus der Dunkelheit auftauchen und eine Ladung Po lizisten ausspucken. Sucher, vielleicht gibt es Schwierigkeiten, sagte Wechsler. Sie braucht zu lange. Es gibt andere Möglichkeiten, antwortete Sucher. Wenn sie uns im Stich läßt, finden wir andere. Falls die Polizei kommt, fuhr Wechsler fort, müs sen wir deine Gestalt annehmen. Ich kann nicht schnell genug laufen. Ich bin fast nachtblind, und meine Füße sind ... Jederzeit, unterbrach Sucher ihn. Ich bin bereit. Du brauchst mir nur ein Zeichen zu geben.
Der Wind strich durch die Bäume. Blake zitterte heftig. Noch zehn Minuten, dachte er. Ich gebe ihr noch zehn Minuten. Wenn sie bis dahin nicht ge kommen ist, müssen wir verschwinden. Und er fragte sich, wie er ohne Uhr feststellen sollte, wann zehn Minuten vergangen waren. Er blieb geduckt hinter seinem Busch sitzen und fühlte sich unendlich einsam. Ein Fremder, überlegte er sich. Ein fremdartiges Wesen inmitten dieser Men schen, deren Körper er besaß. Gab es denn einen Ort auf diesem Planeten oder im gesamten Universum, an dem er zu Hause gewesen wäre? Ich bin ein Mensch, hatte er Denker versichert; ich bestehe dar auf, ein Mensch zu sein. Aber mit welchem Recht be stand er darauf? Immer mit der Ruhe, sagte Sucher. Ruhig, ruhig, ruhig. Die Zeit verstrich. Irgendwo in den Bäumen zwit scherte ein Vogel. War er aufgewacht, weil er eine Gefahr spürte? Ein Auto rollte langsam die Straße entlang. Es hielt gegenüber der Visorphonzelle. Eine Hupe ertönte lei se. Blake stand hinter seinem Busch auf und winkte. »Hierher!« rief er dabei. Die Wagentür öffnete sich, dann stieg Elaine Hor ton aus. Sie nahm ein Bündel vom Rücksitz, ging an
der Visorphonzelle vorbei und blieb drei Meter von Blake entfernt stehen. »Fangen Sie«, sagte sie und warf ihm das Bündel zu. Blake löste mit vor Kälte steifen Fingern die Ver schnürung und zog sich an. Die Sandalen waren fest, die Robe bestand aus schwarzem Wollstoff und hatte eine lange Kapuze. Er kam hinter dem Busch hervor und ging auf Elaine zu. »Vielen Dank«, sagte er. »Ich war schon halb erfro ren.« »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, sagte sie. »Ich habe Sie wirklich bedauert, weil Sie es hier draußen aushalten mußten, aber ich hatte das Zeug nicht gleich zur Hand.« »Zeug?« »Was Sie noch brauchen.« »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Sie sind doch auf der Flucht. Dazu brauchen Sie mehr als nur Kleidung. Kommen Sie, wir setzen uns in den Wagen. Ich habe die Heizung angelassen. Es ist gemütlich warm.« Blake trat einen Schritt zurück. »Nein«, wider sprach er energisch, »das ist ausgeschlossen. Sie dür fen nicht noch tiefer in den Fall verwickelt werden. Ich bin Ihnen selbstverständlich dankbar, aber ...«
»Unsinn!« sagte Elaine Horton. »Das ist meine gute Tat für heute.« Er hüllte sich frierend in seine Robe. »Seien Sie vernünftig«, bat Elaine. »Steigen Sie end lich ein.« Blake zögerte. Ihm war kalt, und der Wagen war geheizt. »Los, kommen Sie«, drängte Elaine. Er ging mit ihr an den Wagen, hielt ihr die Tür auf, bis sie hinter dem Steuer saß, stieg dann an der ande ren Seite ein und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Ein heißer Luftstrom traf auf seine Knöchel. Elaine Horton legte den ersten Gang ein und fuhr an. »Ich kann hier nicht ewig parken«, erklärte sie Bla ke. »Irgend jemand würde die Polizei holen oder selbst nachsehen. Aber solange ich fahre, kümmert sich niemand um mich. Soll ich Sie irgendwo abset zen?« Blake schüttelte den Kopf. Er hatte sich noch nicht überlegt, wohin er sich wenden sollte. »Vielleicht außerhalb von Washington?« schlug Elaine vor. »Bitte«, sagte er. Außerhalb von Washington war immerhin ein Anfang. »Wollen Sie mir nicht etwas davon erzählen, An drew?«
»Lieber nicht«, antwortete er, »sonst halten Sie womöglich an und werfen mich hinaus.« Sie lachte. »Dramatisieren Sie den Fall nicht über flüssig. Ich drehe jetzt und fahre nach Westen. Ein verstanden?« »Natürlich«, sagte Blake. »Dort kann ich mich ir gendwo verstecken.« »Wie lange ... ich meine, wie lange müssen Sie wahrscheinlich versteckt bleiben?« »Keine Ahnung«, antwortete Blake wahrheitsge mäß. »Wissen Sie, was ich glaube? Ich bezweifle, daß Sie sich überhaupt verstecken können. Irgend jemand kommt doch auf Ihre Spur. Es wäre bestimmt besser, wenn Sie ständig in Bewegung blieben, anstatt auf ein sicheres Versteck zu vertrauen, das vielleicht doch nicht sicher genug ist.« »Haben Sie lange darüber nachgedacht?« »Nein. Aber das sagt einem der gesunde Men schenverstand. Die Robe, die ich Ihnen mitgebracht habe, ist nicht nur eines der Kleidungsstücke aus Wolle, auf die Daddy so stolz ist, sondern auch das Kostüm der fahrenden Schüler.« »Fahrende Schüler?« »Oh, das hätte ich fast vergessen. Sie sind noch nicht völlig über unsere Zeit informiert. Dabei han delt es sich nicht um Studenten wie im Mittelalter,
sondern um künstlerisch veranlagte Landstreicher. Sie wandern ziellos durch die Gegend, malen Bilder, schreiben Gedichte oder komponieren Musikstücke – Sie wissen schon, was Künstler eben tun. Sie sind nicht gerade zahlreich, aber doch so bekannt, daß je der ihren Typ erkennt. Selbstverständlich werden sie kaum beachtet. Sie können sich die Kapuze ins Ge sicht ziehen, dann weiß kein Mensch, wie Sie ausse hen.« »Und Sie glauben, ich sollte als wandernder Schü ler durch die Lande ziehen?« Elaine ignorierte die Unterbrechung. »Ich habe ei nen alten Rucksack für Sie aufgetrieben. Das ist ein typischer Ausrüstungsgegenstand. Dazu kommen ein Packen Papier und Bleistifte und drei Bücher, die Sie lesen müssen, damit Sie wissen, wovon darin die Re de ist. Sie geben sich als Schriftsteller aus. Sobald Sie Gelegenheit dazu haben, kritzeln Sie einige Blätter voll, damit alles authentisch wirkt, falls Sie doch an gehalten werden.« Blake kauerte auf dem Sitz und nahm die Wärme mit allen Poren auf. Elaine hatte auf der Straße ge wendet und fuhr nach Westen. Vor ihnen ragten gi gantische Wohntürme gegen den Nachthimmel auf. »Öffnen Sie das Handschuhfach«, sagte Elaine. »Ich habe Ihnen ein paar Sandwiches und eine Thermos flasche voll Kaffee mitgebracht.«
Er nahm ein Sandwich aus dem Plastikbeutel und begann sofort zu essen. »Ich bin fast verhungert«, sagte er dabei. »Das habe ich mir gedacht«, meinte Elaine. Der Wagen fuhr weiter. Die Wohntürme blieben hinter ihnen zurück. Hier und dort standen dunkle Häuser am Straßenrand. »Ich hätte Ihnen einen Schweber beschaffen kön nen«, meinte Elaine. »Oder sogar einen Wagen. Aber beide tragen Zulassungsnummern und sind leicht zu verfolgen. Außerdem achtet kaum jemand auf einen einsamen Fußgänger. Auf diese Weise sind Sie am si chersten.« »Warum geben Sie sich meinetwegen solche Mühe, Elaine?« fragte Blake. »Das habe ich nicht von Ihnen verlangt.« »Ich weiß selbst nicht«, antwortete sie. »Weil es Ih nen so verdammt schlecht gegangen ist, nehme ich an. Sie sind gleich nach Ihrer Rückkehr ins Kranken haus gekommen und dort eingehend untersucht worden. Dann hat man sie eine Weile auf die grüne Wiese geschickt, aber bevor Sie sich von Ihrem ersten Schock erholen konnten, wurden Sie wieder einge fangen und nochmals untersucht.« »Die Ärzte wollten mir natürlich helfen«, sagte Blake. »Ja, das weiß ich. Aber es war bestimmt nicht an
genehm für Sie. An Ihrer Stelle wäre ich auch fortge laufen, als sich endlich eine Chance bot.« Sie fuhren einige Zeit schweigend weiter. Blake aß die Sandwiches und trank etwas Kaffee. »Was war eigentlich mit diesem Wolf?« erkundigte Elaine sich plötzlich. »Wissen Sie etwas davon? Im Krankenhaus soll ein Wolf gewesen sein.« »Soviel ich weiß, ist dort kein Wolf gewesen«, ant wortete Blake. Er tröstete sich damit, daß er nicht wirklich gelogen hatte. Sucher war schließlich kein Wolf. »Die Leute im Krankenhaus waren ziemlich aufge regt«, berichtete Elaine. »Der Senator sollte sofort kommen.« »Meinetwegen oder wegen des Wolfs?« fragte er. »Das kann ich nicht sagen«, antwortete sie. »Er war noch unterwegs, als ich gefahren bin.« Sie erreichte eine Straßenkreuzung, bremste und fuhr nach rechts auf den Parkstreifen. »Weiter kann ich Sie leider nicht bringen«, erklärte sie Blake, »sonst komme ich zu spät nach Hause.« Er öffnete die Tür, stieg aus und zögerte dann. »Vielen Dank«, sagte er. »Sie haben mir wirklich ge holfen. Vielleicht kann ich später ...« »Augenblick, nicht so eilig«, unterbrach sie ihn. »Hier ist Ihr Rucksack. Im vorderen Fach finden Sie etwas Geld.«
»Hören Sie, ich ...« »Nein, hören Sie mir zu. Sie brauchen es ganz be stimmt. Es ist nicht viel, aber Sie können einige Zeit davon leben. Es ist mein Taschengeld. Sie können es mir später zurückzahlen, wenn Sie unbedingt wol len.« Er griff nach dem Rucksack und schwang ihn sich auf den Rücken. Seine Stimme war heiser, als er wieder sprach. »Elaine ... Elaine, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Im düsteren Licht der Wagenbeleuchtung schien sie ihm näher als zuvor zu sein. Ihre Schulter berühr te seinen Arm, und er merkte, wie ihre Haare dufte ten. Er zog sie an sich und küßte sie. Elaine erwiderte seinen Kuß. Dann trennten sie sich, und sie betrachtete ihn nachdenklich. »Ich hätte Ihnen nicht geholfen, wenn Sie mir un sympathisch gewesen wären«, stellte sie fest. »Ich bin davon überzeugt, daß Sie jetzt allein zurechtkommen. Und ich glaube, daß Sie nichts tun, dessen Sie sich schämen müßten.« Blake antwortete nicht. »Los, fort mit Ihnen!« sagte sie. »Hinaus in die Nacht! Lassen Sie gelegentlich von sich hören, wenn es sich machen läßt.«
21
Der Schnellimbiß stand an der Stelle, wo sich die Straße Y-förmig gabelte. In der ungewissen Dämme rung vor Tagesanbruch leuchteten die roten Neon buchstaben fast rosa. Blake humpelte etwas rascher. Dort konnte er sich endlich ausruhen, eine Kleinigkeit essen und sich et was wärmen. Elaines Sandwiches hatten eine Nacht lang vorgehalten, aber jetzt war er wieder hungrig. Bei Tagesanbruch mußte er sich ein Versteck suchen, in dem er schlafen konnte – vielleicht einen Heuhau fen. Er fragte sich, ob es noch Heuhaufen gab. Oder hatte der technische Fortschritt selbst diese einfach sten Dinge beseitigt und überflüssig gemacht? Der Nordwind war eisig, und Blake zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Die Rucksackträger rieben ihm die Haut auf, und die ungewohnte Last auf sei nem Rücken behinderte ihn, so daß er allmählich nervös wurde. Er erreichte schließlich das Lokal an der Straße, überquerte den Parkplatz und stieg die fünf Stufen zum Eingang hinauf. Der Raum war menschenleer. Die Theke war auf Hochglanz poliert, und die ver chromte Kaffeemaschine blitzte im Licht der Kugel lampen an der Decke.
»Wie geht es immer?« fragte der Imbiß mit der hei seren Stimme einer geübten Bedienung, die durch nichts mehr zu erschüttern ist. »Na, junger Mann, was darf's heute morgen sein?« Blake drehte sich erstaunt um, sah niemand und merkte endlich, worum es sich handelte. Das Lokal war vollautomatisiert wie die fliegenden Häuser. Er ging an die Theke und nahm auf einem der Hocker Platz. »Pfannkuchen«, bestellte er, »und Schinkentoast. Und Kaffee.« Er ließ sich den Rucksack von den Schultern rut schen und stellte ihn neben sich ab. »Ziemlich früh unterwegs, was?« fragte der Imbiß. »Oder sind Sie etwa die ganze Nacht lang mar schiert?« »Nein, nicht die ganze Nacht«, antwortete Blake rasch. »Ich bin nur früh aufgestanden.« »Fahrende Schüler sind ziemlich selten geworden«, meinte das Lokal. »Womit schlagen Sie sich durchs Leben, Freund?« »Ich schreibe«, sagte Blake. »Oder ich versuche es wenigstens.« »Na, dabei kommt man wenigstens herum«, mein te der Imbiß. »Ich muß immer hier an der gleichen Stelle bleiben und höre nur Leute reden. Aber das ist besser als gar nichts«, fügte er rasch hinzu. »Dabei
bleibt man wenigstens auf dem laufenden und ist be schäftigt.« Aus einer Düse fiel eine Portion Butter in die Pfan ne; die Düse bewegte sich weiter, gab noch zwei Por tionen ab und kehrte dann an ihren Ausgangspunkt zurück. Ein Metallarm neben der Kaffeemaschine ent faltete sich, wurde länger und betätigte einen Schalter über der Heizplatte. Drei Scheiben Schinken fielen aus einer Öffnung in die Pfanne. Der Arm sank herab, trennte sie und breitete sie nebeneinander aus. »Möchten Sie Ihren Kaffee jetzt?« fragte das Lokal. »Bitte«, sagte Blake. Der Metallarm griff nach einem Plastikbecher, hielt ihn unter die Kaffeemaschine und drückte ihn nach oben, um den Hahn zu betätigen. Als der Becher ge füllt war, stellte der Arm ihn vor Blake ab, legte einen Löffel daneben und rückte höflich den Zuckerstreuer näher heran. »Sahne?« fragte der Imbiß. »Nein, danke«, sagte Blake. »Neulich hab' ich eine gute Geschichte gehört«, vertraute ihm das Lokal an. »Ein Gast hat sie mir er zählt. Stellen Sie sich einen ...« Hinter Blake wurde die Tür geöffnet. »Nein! Nein!« kreischte der Imbiß. »Verschwinde gefälligst! Wie oft muß ich dir noch sagen, daß du hier nichts zu suchen hast, solange Gäste da sind?«
»Ich bin aber gekommen, um mit deinem Gast zu sprechen«, piepste eine helle Stimme. Blake drehte sich verblüfft um. Auf der Schwelle stand ein Brownie. Über der spitzen Schnauze glitzer ten dunkle Augen, und die Pinselohren bewegten sich leicht. Der Brownie trug grünrosa gestreifte Hosen. »Ich füttere ihn«, jammerte das Lokal. »Ich ertrage ihn, weil es heißt, daß Brownies Glück bringen – aber dieser hier macht mir immer nur Schwierigkeiten. Er spielt mir dumme Streiche. Er ist unverschämt. Er hat keinen Respekt vor mir ...« »Weil du dich wie ein Mensch aufführst«, warf ihm die Brownie vor, »und dabei vergißt, daß du kein Mensch, sondern nur Ersatz für einen Menschen bist. Du nimmst Menschen einen ehrlichen Job weg. Soll ich deshalb Respekt vor dir haben?« »Du bekommst keinen Bissen mehr zu essen!« sag te das Lokal aufgebracht. »Ich lasse dich nicht mehr hier schlafen, wenn es draußen kalt ist. Du bekommst gar nichts mehr. Jetzt habe ich die Nase voll!« Der Brownie achtete nicht darauf. Er näherte sich Blake und machte eine tiefe Verbeugung. »Guten Morgen, ehrenwerter Herr. Ich hoffe, daß Sie sich zufriedenstellend befinden.« »Danke, ausgezeichnet«, antwortete Blake amüsiert und unbehaglich zugleich. »Willst du nicht mit mir frühstücken?«
»Gern«, sagte der Brownie und kletterte auf den nächsten Hocker. Dort blieb er sitzen und schlenkerte mit den Beinen. »Ich esse, was Sie essen, Sir«, fügte er noch hinzu. »Es ist sehr großzügig und höflich, mich einzuladen, denn ich habe großen Hunger.« »Du hast gehört, was mein Freund sagt«, wandte Blake sich an das Lokal. »Er bekommt, was ich be komme.« »Und Sie bezahlen für ihn?« fragte das Lokal miß trauisch. »Selbstverständlich.« Der mechanische Arm schoß nach vorn, wendete die Pfannkuchen und machte Platz für weitere. Aus der Butterdüse quollen drei neue Portionen. »Eine regelrechte Mahlzeit ist eine erfreuliche Ab wechslung«, vertraute der Brownie Blake an. »Mei stens bekomme ich nur Reste zu essen. Wer hungrig ist, darf natürlich keine Ansprüche stellen, aber man sehnt sich doch nach etwas mehr Aufmerksamkeit.« »Lassen Sie sich nicht einwickeln«, warnte das Lo kal Blake. »Laden Sie ihn in Gottes Namen zum Essen ein, aber trennen Sie sich rechtzeitig von ihm, sonst saugt er Sie aus.« »Maschinen sind zu keiner Empfindung fähig«, sagte der Brownie. »Sie vernachlässigen die feineren Instinkte. Sie haben kein Mitleid mit den Menschen, denen sie dienen sollen. Und ihnen fehlt eine Seele.«
»Du hast auch keine, du heidnischer Fremder!« warf ihm das Lokal vor. »Du bist ein Schmarotzer und ein Schnorrer und ein Blutsauger. Du nützt die Menschen aus und bist undankbar und kennst dabei kein Ende.« Der Brownie sah zu Blake hinüber und breitete re signiert die Hände aus. »Es ist trotzdem wahr«, beteuerte das Lokal. »Jedes einzelne Wort ist leider wahr!« Der Arm schob die drei ersten Pfannkuchen auf ei nen Teller, legte den Schinkentoast daneben und ließ geschmolzene Butter über die Pfannkuchen tropfen. Dann stellte er den Teller vor Blake ab, griff unter die Theke und holte einen Siruptopf hervor. Der Brownie schnüffelte begeistert. »Riecht wun derbar«, meinte er. »Hier wird nicht geschnorrt!« kreischte das Lokal. »Du wartest gefälligst, bis deine fertig sind!« Irgendwo in der Ferne ertönte eine Sirene. Der Brownie stellte die Ohren auf. Wieder die Sirene – ein langgezogenes, klagendes Heulen. »Schon wieder einer!« rief das Lokal. »Dabei sollen sie uns doch rechtzeitig warnen, anstatt einfach zu kommen. Und du, du nichtsnutziger Schmarotzer, sollst draußen aufpassen, ob einer kommt! Dafür er nähre ich dich schließlich!« »So früh war der nächste nicht zu erwarten«, ant
wortete der Brownie ungerührt. »Er dürfte erst am späten Abend kommen. Sie sollen doch verschiedene Routen benützen, damit nicht eine Straße alles abbe kommt.« Das Heulen kam noch näher und wurde von den Hügeln zurückgeworfen. »Was ist das?« fragte Blake. »Ein Klipper«, antwortete der Brownie. »Einer die ser großen seetüchtigen Frachter. Er hat eine Ladung aus Europa oder Afrika an Bord, ist vor einer Stunde an Land gekommen und folgt jetzt der Straße.« »Soll das heißen, daß er auch über Land fährt?« er kundigte Blake sich verwundert. »Warum denn nicht?« meinte der Brownie. »Er bewegt sich auf einem Luftkissen vorwärts und braucht sich nicht darum zu kümmern, ob er Land oder Wasser unter dem Kiel hat. Nach der Landung folgt er einfach der nächsten Straße.« Metall bewegte sich kreischend über Metall. Blake sah, daß sich schwere Stahlplatten vor die Fenster schoben. Aus der Wand kamen massive Klammern zum Vorschein, legten sich gegen die Tür und hielten sie fest. Das klagende Heulen erfüllte nun den Raum, und aus weiter Ferne näherte sich ein erschreckendes Brausen, als bewege sich ein gigantischer Wirbel sturm übers Land.
»Schiff klar zum Gefecht!« Das Lokal mußte brül len, um sich überhaupt noch verständlich machen zu können. »Ihr beiden nehmt lieber auf dem Boden Deckung. Das scheint ein großer Kahn zu sein.« Das Gebäude zitterte heftig, und der Lärm ergoß sich wie ein gewaltiger Wasserfall in den Raum, bis dieser überzulaufen schien. Der Brownie hatte sich unter dem Hocker versteckt und hielt sich dort mit beiden Händen an den Quer streben fest, während er die Füße gegen die Schrau ben stemmte, mit denen der Hocker am Boden befe stigt war. Sein Mund stand offen, und er rief Blake etwas zu, aber die helle Stimme ging in dem Heulen unter, das sich entlang der Straße näherte. Blake rutschte von seinem Hocker und warf sich zu Boden. Er wollte sich dort festhalten, aber der Fußbo denbelag bestand aus hartem Plastikmaterial, an dem seine Finger abglitten. Das Gebäude schien förmlich zu schwanken, und das Heulen des Klippers war fast unerträglich. Blake spürte, daß er über den Boden rutschte. Dann wurde das Heulen schwächer. Auch das Brausen nahm ab, und schließlich blieb nur ein kla gender Laut, der allmählich in der Ferne verklang. Blake stand mühsam auf. Auf der Theke stand eine Kaffeepfütze, wo sein Be cher gestanden hatte; der Becher selbst war nicht zu
sehen. Der Teller, auf dem die Pfannkuchen und der Schinkentoast gelegen hatten, war auf dem Fußboden zerschellt. Die Pfannkuchen klebten auf der Sitzfläche des Hockers, der Toast war ebenfalls verschwunden. Die Pfannkuchen des Brownies lagen noch in der Pfanne, aber sie waren angebrannt und rauchten hef tig. »Ich backe neue«, sagte das Lokal. Der Metallarm griff nach der Spachtel, schabte die verkohlten Pfannkuchen aus der Pfanne und warf sie in den Müllschlucker. Blake sah über die Theke und stellte fest, daß da hinter nur zerbrochenes Geschirr lag. »Ja, sehen Sie sich das an!« kreischte das Lokal. »Dagegen müßte es doch ein Gesetz geben! Aber ich benachrichtige den Chef, und er verklagt die Bande auf Schadenersatz – damit hat er immer Erfolg. Wol len Sie vielleicht auch klagen? Schreiben Sie einfach geistige Grausamkeit oder so ähnlich. Ich habe die nötigen Formulare hier, falls Sie ...« Blake schüttelte den Kopf. »Wie steht es eigentlich mit Autofahrern?« wollte er wissen. »Was tun sie, wenn sie diesem Ding auf der Straße begegnen?« »Haben Sie die Bunker am Straßenrand gesehen?« fragte das Lokal. »Ja, natürlich.« »Der Klipper schaltet seine Sirene ein, sobald er das
Wasser verläßt. Wer sie hört, fährt in den nächsten Bunker und nimmt dort Deckung.« Die Düse bewegte sich über der Pfanne und verteil te wieder Butter. »Noch nie was von Klippern und Bunkern gehört, Mister?« fragte das Lokal. »Sie kommen wohl aus der Provinz, was?« »Das geht dich nichts an«, sagte der Brownie, bevor Blake antworten konnte. »Sieh lieber zu, daß unser Frühstück fertig wird.«
22
»Ich begleite Sie noch ein Stück weit«, sagte der Brownie, als sie den Schnellimbiß verließen. Hinter ihnen ging die Morgensonne über den Hü geln auf, und ihre langen Schatten tanzten vor ihnen her. Blake stellte fest, daß der Straßenbelag brüchig und uneben war. »Früher wurden die Straßen besser in Ordnung gehalten«, meinte er nachdenklich. »Nicht mehr notwendig«, antwortete der Brownie. »Keine Räder mehr. Da kein Kontakt stattfindet, ist keine glatte Oberfläche erforderlich. Die Wagen fah ren alle auf Luftkissen. Straßen dienen nur zur Rich tungsbestimmung und damit der Verkehr sich an festgelegte Bahnen hält. Wenn heutzutage eine neue Straße gebaut wird, besteht sie nur aus Markierungs pfählen in zwei Reihen, nach denen sich die Fahrer richten können.« Sie gingen langsam, denn sie hatten es nicht eilig. Links von der Straße stieg ein Schwarm schwarzer Vögel aus einem Baum auf. »Aha, die Stare sammeln sich bereits«, meinte der Brownie. »Dann fliegen sie bald nach Süden. Die Sta re sind gar nicht dumm. Nicht wie Lerchen oder Rot kehlchen.«
»Kennst du die wilden Tiere gut?« »Wir leben mit ihnen«, antwortete der Brownie ein fach, »deshalb verstehen wir sie auch. Mit manchen kann man fast sprechen. Allerdings nicht mit Vögeln. Vögel und Fische sind dumm. Aber Waschbären und Füchse, Bisamratten und Nerze – das sind alles ver nünftige Leute.« »Ihr lebt draußen im Wald, habe ich gehört.« »Überall im Freien. Wir passen uns der Ökologie an. Wir nehmen die Dinge, wie wir sie finden. Wir kommen mit allen Lebewesen gut aus und haben mit niemand Streit.« Blake versuchte sich an das zu erinnern, was Da niels ihm erzählt hatte. Eigenartige kleine Wesen von einem anderen Planeten, denen es auf der Erde gefiel – allerdings nicht wegen der Menschen, sondern we gen des Planeten selbst. Vielleicht fanden sie in den Wäldern unter den wenigen wildlebenden Tieren die Freunde, die sie suchten. Jedenfalls bestanden sie darauf, unabhängig zu leben und sich in keiner Weise beeinflussen zu lassen – und trotzdem waren sie Bett ler und Schnorrer mit lockeren Bindungen zu den Menschen, die ihre geringen Bedürfnisse befriedig ten. »Ich habe neulich einen von euch getroffen«, sagte Blake. »Du entschuldigst hoffentlich, daß ich danach fragen muß, aber bist du etwa ...«
»Nein, nein«, versicherte ihm der Brownie, »das war ein anderer. Er hat uns auf Sie aufmerksam ge macht.« »Warum?« »Nun, er war der Meinung, wir sollten auf Sie ach ten. Er hat uns mitgeteilt, daß Sie vermutlich bald Schwierigkeiten haben würden. Deshalb sollten wir Sie im Auge behalten.« »Offenbar versteht ihr eure Sache«, meinte Blake. »Ihr habt nicht lange gebraucht, um mich ausfindig zu machen.« »Wenn wir uns etwas vornehmen«, antwortete der Brownie stolz, »schaffen wir es auch.« »Und ich? Was ist mit mir?« »Ich weiß es selbst nicht genau«, sagte der Brownie. »Wir sollen auf Sie achten. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Sie können auf uns zählen.« »Danke«, murmelte Blake. »Vielen Dank.« Und mehr brauchte er wirklich nicht, überlegte er sich – diese verrückten kleinen Kerle würden schon auf ihn achten. Sie marschierten schweigend weiter, dann fragte Blake: »Dieser eine Brownie, dem ich begegnet bin, hat euch also mitgeteilt, daß ihr mich im Auge behal ten sollt ...« »Richtig«, sagte der Brownie. »Würdest du mir vielleicht erklären, wie er euch al
le informiert hat?« fuhr Blake fort. »Oder vielleicht ist das eine dumme Frage. Schließlich gibt es Briefe und Visorphone.« Der Brownie schüttelte energisch den Kopf. »Der artige Hilfsmittel kommen für uns nicht in Frage«, stellte er fest. »Das wäre gegen unsere Prinzipien und außerdem völlig überflüssig. Wir verständigen uns auch so.« »Ihr seid also telepathisch«, meinte Blake. »Hmm, das weiß ich nicht einmal, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Wir können nicht miteinander spre chen, falls Sie das meinen. Aber wir stehen miteinan der in Verbindung. Das ist nicht leicht zu erklären.« »Natürlich«, stimmte Blake zu und wechselte das Thema. »Gibt es viele Leute, die ihr im Auge behal tet?« Das sähe den Brownies ähnlich, dachte er dabei. Eine Horde naseweiser Streber, die sich um anderer Leute Angelegenheiten kümmerte. »Nein, keine anderen«, sagte der Brownie. »Jeden falls nicht im Augenblick. Er hat uns erzählt, daß Sie mehr als nur einer sind ...« »Was hat das damit zu tun?« »Das ist doch überhaupt der springende Punkt«, meinte der Brownie erstaunt. »Wie oft findet man ein Lebewesen, das eigentlich aus mehreren besteht? Würden Sie mir vielleicht verraten, wie viele ...«
»Wir sind drei«, sagte Blake. Der Brownie nickte triumphierend. »Das habe ich gewußt«, piepste er. »Ich habe mit mir gewettet, daß es drei sind. Einer von euch ist warm und zottig und wird schrecklich leicht wütend. Stimmt das?« »Ja«, antwortete Blake. »Das kann man wohl sa gen.« »Aber der andere verblüfft mich wirklich«, fuhr der Brownie fort. »Willkommen im Klub«, sagte Blake. »Mich ver blüfft er auch.«
23
Als Blake den höchsten Punkt des Hügels erreichte, sah er das Tal vor sich, wo das Land eine Meile weit flach war, bevor der nächste Hügel begann. Auf dem Talboden lag ein gigantisches schwarzes Ding, das die Hälfte der Ebene bedeckte – eine Art Schildkrö tenpanzer ohne Kopf und Beine. Blake starrte es verwundert an. Er hatte noch nie einen Klipper gesehen, zweifelte jedoch keine Sekun de daran, daß er hier den gigantischen Frachter vor sich hatte, der an dem Schnellimbiß vorbeigekommen war. Der Brownie hatte sich vor einer Stunde verab schiedet, und er war auf der Suche nach einem geeig neten Schlafplatz weitergewandert. Aber zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich nur abgeerntete Felder in den typischen gelben und braunen Herbst farben. Hier und da waren einzelne Häuser zu sehen, die jedoch stets einige hundert Meter von der Straße entfernt standen. Blake fragte sich, ob dies eine Vor sichtsmaßnahme angesichts der Klipper und anderer Großfahrzeuge war oder ob es einen anderen Grund für dieses Zurückweichen von der Straße gab. Im Südwesten ragten fünf oder sechs schimmernde Türme auf – vermutlich ein Wohnkomplex, dessen
Bewohner in der Nähe von Washington leben, aber nicht auf die Vorteile des Landlebens verzichten woll ten. Blake marschierte weiter ins Tal hinab und erreich te schließlich den Klipper, der aus der Nähe noch gewaltiger wirkte. Er hatte neben der Straße angehal ten und ruhte jetzt auf zahlreichen stämmigen Bei nen, die ihn zwei Meter über dem Boden hielten, so daß er insgesamt fünfundzwanzig Meter hoch auf ragte. Am Vorderende hockte ein Mann auf der Treppe, die zum Steuerhaus führte. Er sonnte sich und hatte eine ölverschmierte Mechanikerkappe tief in die Stirn gezogen. Auch seine Robe war ölig. Blake blieb vor ihm stehen. »Guten Morgen, Freund«, sagte er. »Sie scheinen Schwierigkeiten zu haben.« »Gott zum Gruß, Bruder«, sagte der Mann mit ei nem Blick auf Blakes Aufmachung und den Ruck sack. »Sie haben richtig gesehen. Was kann man schon machen, wenn eine Düse ausbrennt? Es hätte schlimmer sein können.« Er spuckte aus. »Aber jetzt sitzen wir hier fest und müssen warten. Ich habe über Funk eine neue Düse und ein Reparaturteam angefordert, und die Kerle lassen sich natürlich Zeit.« »Sie haben ›wir‹ gesagt.«
»Wir sind zu dritt«, erklärte ihm der Mann. »Die beiden anderen pennen dort oben.« Er wies mit dem Daumen auf die Kabine hinter dem Steuerhaus. »Dabei sind wir sogar pünktlich«, fuhr er fort. »Deswegen ist es besonders schade. Die Überfahrt war eine Kleinigkeit – gutes Wetter und kein Nebel an der Küste. Aber bis wir nach Chicago kommen, haben wir ein paar Stunden Verspätung. Dafür gibt es natürlich Überstundenbezahlung, aber wer will schon Überstunden machen?« »Sie sind nach Chicago unterwegs?« »Ja. Diesmal. Immer wieder andere Zielorte. Nie die gleichen.« Er rückte sich die Kappe zurecht. »Ich denke immer an Mary und die Kinder«, sagte er. »Ihre Familie? Sie können Ihrer Frau doch mittei len, was passiert ist?« »Ich wollte, aber anscheinend ist kein Mensch zu Hause. Schließlich habe ich bei Freunden angerufen, damit sie Mary ausrichten, daß ich später komme. Wissen Sie, wenn ich auf dieser Straße unterwegs bin, sind sie immer am Straßenrand und winken mir zu, während ich vorbeifahre. Die Kinder freuen sich, daß ihr Vater dieses Ungeheuer lenken kann.« »Sie leben also hier in der Nähe«, stellte Blake fest.
»In einer Kleinstadt«, erklärte ihm der andere. »In einer verschlafenen kleinen Stadt etwa hundert Mei len von hier. Dort ist noch alles wie vor zweihundert Jahren. Oh, natürlich bekommen die Gebäude an der Hauptstraße ab und zu eine neue Fassade, oder je mand läßt sein Haus umbauen, aber ansonsten hat sich eigentlich nichts verändert. Dort gibt es keine Appartementkomplexe und Wohntürme wie sonst überall. Die Häuser sind alt, aber dafür läßt es sich darin gemütlich leben. Niemand hat es eilig. Wir ha ben nicht einmal eine Handelskammer. Niemand will unbedingt reich werden. Wer vorankommen oder aufsteigen will, bleibt nicht lange dort.« Er sah zu Blake auf. »Sie verstehen schon, was ich meine.« Blake nickte. »Die Stadt heißt übrigens Willow Grove«, sagte der Mann. »Schon mal davon gehört?« »Nein«, antwortete Blake. »Ich glaube nicht, daß ich ...« Aber dann fiel ihm ein, daß er doch schon davon gehört hatte. Willow Grove! Als er damals nach sei nem nächtlichen Ausflug nach Hause gekommen war, hatte eine Nachricht im Hellschreiber gelegen, in der Willow Grove erwähnt wurde. »Anscheinend haben Sie schon mal davon gehört«, stellte der Mann fest.
»Kann sein«, antwortete Blake. »Ja, ich glaube, ir gend jemand hat davon gesprochen.« »Dort lebt man noch gemütlich«, versicherte ihm der andere. Wie hatte die Nachricht gelautet? Er sollte sich mit jemand in Willow Grove in Verbindung setzen, wenn er etwas zu seinem Vorteil erfahren wollte. Der Name dieses Mannes war ebenfalls angegeben gewesen. Wie hieß er noch gleich? Blake versuchte sich daran zu erinnern, aber der Name fiel ihm nicht ein. »Ich muß jetzt weiter«, sagte er. »Hoffentlich kommt die Reparaturmannschaft bald.« Der Mann spuckte aus. »Oh, sie kommt bestimmt – wenn es ihr paßt.« Blake wanderte weiter auf den sanft abfallenden Hügel zu, der sich über dem Tal erhob. Der Hügelrücken war bewaldet, und die Bäume zeichneten sich deutlich vom Horizont ab. Vielleicht fand er irgend wo im Wald ein gutes Versteck. Er versuchte sich an die Ereignisse der vergange nen Nacht zu erinnern, die ihm noch immer wie ein unwirklicher Traum erschienen. Blake sah sie deut lich vor sich – aber vom Standpunkt eines Unbeteilig ten, der nur registriert, was einem anderen zustößt. Die Jagd ging selbstverständlich weiter, aber er schien im Augenblick erfolgreich untergetaucht zu sein. Daniels würde inzwischen vermuten, wie es zu
diesem Zwischenfall gekommen war, so daß die Ver folger jetzt auch nach Blake, anstatt nur nach einem Wolf suchen würden. Er erreichte den höchsten Punkt des Hügels und sah Bäume vor sich; nicht nur hier und dort eine ver einzelte Baumgruppe, sondern einen geschlossenen Wald, der sich auch über die nächsten Hügel er streckte, während auf den Talsohlen Felder angelegt waren. Blake ging weiter und glaubte am Waldrand eine leichte Bewegung zu erkennen. Er beobachtete die Stelle aufmerksam. Es hätte ein Vogel sein können, der von einem Ast zum anderen hüpfte, oder ein Eichhörnchen, das im Unterholz nach Nüssen suchte. Aber er sah keine Bewegung mehr. Nur die bunten Blätter bewegten sich leise, als der Wind durchs Herbstlaub strich. Als er den Waldrand erreichte, wurde er plötzlich angesprochen. Er blieb stehen und starrte angestrengt ins Unterholz. »Hierher!« flüsterte eine hohe Stimme. Er sah nun auch den Brownie, dessen dunkler Pelz und grüne Hosen sich kaum von der Umgebung abhoben. Schon wieder einer, dachte er. Du lieber Himmel, schon wieder einer – und diesmal kann ich nichts an bieten. Er sprang über den Straßengraben und trat unter
die Bäume. Der Brownie war kaum zu erkennen, bis er dicht vor ihm stand. »Ich habe hier auf dich gewartet«, sagte der Brow nie. »Ich habe gehört, daß du müde bist und dich ausruhen möchtest.« »Ganz recht«, bestätigte Blake, »aber bisher habe ich nur Felder gesehen.« »Ich möchte dich in mein bescheidenes Heim ein laden«, fuhr der Brownie fort, »wenn es dir nichts ausmacht, es mit einem bedauernswerten Lebewesen zu teilen, dem ich meine Hilfe angeboten habe.« »Keineswegs«, sagte Blake. »Um welches Lebewe sen handelt es sich denn?« »Es ist ein Waschbär, der mit knapper Not einer Hundemeute entkommen ist«, antwortete der Brow nie. »Wie du vielleicht weißt, werden hierzulande Waschbären mit Hunden gehetzt – das ist ein belieb ter Sport der Menschen.« »Ja«, sagte Blake, »ich habe schon davon gehört.« »Ich habe dem Waschbären zu erklären versucht, daß du als Freund kommst«, fuhr der Brownie fort, »aber ich weiß nicht, ob er es begriffen hat. Er ist nicht allzu intelligent und leidet natürlich unter dem Schock.« »Ich bin ganz vorsichtig«, versprach Blake, »und mache keine plötzlichen Bewegungen. Haben wir denn alle Platz?«
»Oh, bestimmt«, erwiderte der Brownie. »Mein Heim ist ein hohler Baum. In seinem Innern ist viel Platz.« Großer Gott, dachte Blake, ist das wirklich mög lich? Stehe ich hier am Waldrand, werde in einen hohlen Baum eingeladen und soll ihn mit einem Waschbären teilen? Und warum kann ich mich so deutlich an eine Waschbärenjagd mit Hunden erin nern? Hab' ich tatsächlich selbst an dieser Jagd teilge nommen? Das ist doch unmöglich! Ich bin ein synthe tischer Mensch, der nur einen bestimmten Daseins zweck zu erfüllen hatte – folglich ist es äußerst un wahrscheinlich, daß ich je Waschbären gejagt habe. »Wenn du mir folgen willst«, sagte der Brownie, »führe ich dich zu meinem Baum.« Er ging auf einen schmalen Pfad voraus, der sich kaum erkennbar durch den Wald schlängelte. »Hier ist es hübsch«, meinte der Brownie. »Der Herbst ist die schönste Jahreszeit, finde ich. Auf dem alten Heimatplaneten hat es keinen Herbst gegeben.« »Wißt ihr noch etwas von eurer ehemaligen Hei mat?« »Selbstverständlich«, sagte der Brownie. »Die alten Geschichten werden weitererzählt. Aber im Laufe der Zeit geraten sie wohl in Vergessenheit, denn wir be trachten die Erde als unsere Heimat. Aber vorläufig stehen wir noch mit der alten Welt in Verbindung.«
Sie erreichten einen riesigen Baum, eine mächtige Eiche mit über zwei Meter Durchmesser, an deren Stamm silbrige Flechten leuchteten. Hier wuchsen überall dichte Farne, die der Brownie auseinander bog. »Hier hinein«, sagte der Brownie. »Es tut mir leid, aber du mußt auf Händen und Füßen kriechen. Der Eingang ist nicht für Menschen gedacht.« Blake ließ sich auf Hände und Knie nieder. Das Farnkraut strich weich an seinem Gesicht vorbei, als er auf den Stamm zukroch; dann befand er sich plötz lich in einer kühlen Dunkelheit, die nach feuchtem Holz roch. Von oben her fielen einzelne Lichtstrahlen durch die Dunkelheit. Er drehte sich langsam um und setzte sich vorsich tig. »Deine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen«, sagte der Brownie, der neben ihm stand. »Dann siehst du wieder besser.« »Ich erkenne schon etwas«, versicherte Blake ihm. »Es ist nicht stockfinster.« »Das Licht kommt durch Astlöcher weiter oben«, erklärte der Brownie ihm. »Der Baum stirbt an Alters schwäche und ist nur noch eine leere Hülle. Vor vie len Jahren hat hier ein Waldbrand gewütet, und die Eiche hat so darunter gelitten, daß sich die Fäule in ihrem Innern ausbreiten konnte. Aber wenn kein ge
waltiger Sturm kommt, steht der Baum noch viele Jahre. Unterdessen dient er uns als Behausung, und weiter oben lebt eine Eichhörnchenfamilie. Und hier nisten auch viele Vögel – aber jetzt im Herbst sind die Jungen längst ausgeflogen. Im Laufe der Jahre ist der alte Baum unsere Heimat geworden.« Blake sah sich im Innern der Eiche um, denn seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Die Wände waren verhältnismäßig glatt; das verfaulte Holz war offenbar entfernt worden. Der hohle Stamm ragte über ihm auf, und Blake sah vereinzelte helle Punkte, wo Astlöcher etwas Licht hereinließen. »Hier kannst du dich ungestört ausruhen«, sagte der Brownie. »Ich bin nicht allein, sondern habe zwei Gefährtinnen bei mir. In der Sprache der Menschen würde man sie wohl als Frauen bezeichnen. Aber die beiden fürchten sich vor Menschen. Und hier leben natürlich auch unsere Kinder.« »Das tut mir wirklich leid«, beteuerte Blake. »Ich mochte nicht, daß ...« »Es braucht dir nicht leid zu tun«, unterbrach ihn der Brownie. »Die Frauen können sich inzwischen nützlich machen und Nüsse und Wurzeln sammeln. Und die Kinder sind ohnehin nur selten hier. Sie ha ben im Wald so viele Freunde, daß sie meistens un terwegs sind.« Blake sah sich um. Der hohle Stamm war völlig leer.
»Keine Möbel«, stellte der Brownie gelassen fest. »Keine irdischen Güter. Wir haben sie nie gebraucht; wir benötigen sie auch jetzt nicht. Unser einziger Be sitz sind Nüsse und Bucheckern und Korn und Wur zeln, die wir für den kommenden Winter gesammelt haben. Mehr besitzen wir nicht, aber ich hoffe, daß du uns nicht nur danach beurteilst.« Blake schüttelte den Kopf. Diese Bewegung ersetz te eine Antwort und drückte gleichzeitig seine Ver wunderung aus. In einem dunklen Winkel rührte sich etwas, und Blake drehte den Kopf. Lebhafte Augen starrten ihn aus einem Gesicht an, dessen unter schiedlich gefärbter Pelz wie eine Maske wirkte. »Unser anderer Freund«, erklärte der Brownie ihm. »Er scheint keine Angst vor dir zu haben.« »Ich tue ihm nichts«, versicherte Blake unaufgefor dert. »Hast du Hunger?« fragte der Brownie. »Ich kann dir ...« »Nein, danke«, wehrte Blake ab. »Ich habe heute morgen mit einem deiner Artgenossen ausgiebig ge frühstückt.« Der Brownie nickte. »Er hat mir gesagt, daß du kommen würdest. Deshalb habe ich am Waldrand auf dich gewartet. Er konnte dir keinen Schlafplatz anbieten; seine Höhle ist viel zu klein für Menschen.« Er wandte sich ab.
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll«, mein te Blake. »Du hast uns bereits gedankt«, sagte der Brownie. »Du hast uns akzeptiert und unsere Hilfe angenom men. Und das ist sehr wichtig, mußt du wissen, denn normalerweise nehmen wir die Hilfe der Menschen in Anspruch. Deshalb sind wir glücklich, wenn wir uns revanchieren können.« Blake sah sich nach dem Waschbären um. Das Tier beobachtete ihn weiter mit feurigen Augen. Als er sich umdrehte, war der Brownie verschwunden. Blake griff nach seinem Rucksack, zog ihn zu sich heran und untersuchte erstmals den Inhalt. Eine dünne und trotzdem erstaunlich warme Decke, die eigenartig metallisch glänzte; ein Jagdmesser in einer Lederscheide; eine Klappaxt; ein Satz Aluminium kochtöpfe, die genau ineinander paßten; ein Benzin kocher, ein Feuerzeug und ein kleiner Benzinkanister; eine zusammengefaltete Karte; eine Taschenlampe ein ... Eine Karte! Blake entfaltete sie, nahm die Taschenlampe zu Hilfe und beugte sich darüber, um die kleingedruck ten Ortsnamen entziffern zu können. Willow Grove war etwa hundert Meilen weit ent fernt, hatte der Steuermann des Klippers gesagt. Rich tig, hier war es auf der Karte eingezeichnet – sein
nächstes Ziel. Endlich hatte er einen Bestimmungsort in dieser Welt gefunden, in der es für ihn keine Fix punkte zu geben schien. Ein Ziel auf der Karte und ein Mann, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte, der aber wertvolle Informationen zu besitzen schien. Blake legte die Decke neben sich und packte alles andere wieder in den Rucksack. Er sah, daß der Waschbär etwas näher herange kommen war. Offenbar hatten die seltsamen Dinge, die Blake ausgepackt hatte, seine Neugier erregt. Blake streckte sich aus, breitete die Decke über sich und schloß die Augen. Die Decke paßte sich seinem Körper an und war trotz ihres geringen Gewichts be haglich warm. Er schlief ein und hatte das Gefühl, sein Bewußt sein sinke in eine tiefe Grube hinab – und am Boden dieser Grube warteten seine beiden anderen Persön lichkeiten auf ihn, um sich mit ihm zu einem einzigen Ganzen zu vereinen. Und er hatte das Gefühl, nach langer Abwesenheit heimzukehren und alte Freunde zu treffen, die er sehnlich vermißt hatte. Alles ge schah wortlos, aber dazu waren auch keine Worte er forderlich, denn er war willkommen und begegnete Verständnis und wurde eins mit den anderen und war nicht mehr Andrew Blake, war nicht einmal mehr menschlich, sondern ein Wesen, für das es kei
nen Namen gab, das aber größer als Andrew Blake oder jeder Mensch war. Aber er genoß dieses wunderbare Gefühl nicht lange, denn eine Überlegung drängte sich in den Vordergrund seines Bewußtseins. Er kämpfte, und er wurde freigelassen und war wieder er selbst – aber nicht Andrew Blake, sondern Wechsler. Sucher, wenn wir aufwachen, ist es deutlich kälter. Können wir die Wanderung in deiner Gestalt fortset zen? Du kommst schneller voran, du siehst nachts ausgezeichnet und ... Natürlich können wir das. Aber was soll aus deiner Kleidung und dem Rucksack werden? Dann bist du wieder nackt ... Du kannst das Zeug tragen. Du hast Arme und Hände, oder? Du vergißt immer, daß du Arme und Hände hast. Schon gut! sagte Sucher. Schon gut! Ich weiß schon! Willow Grove, erklärte Wechsler ihm. Klar, meinte Sucher. Wir haben die Karte mit dir gelesen. Er wollte endlich einschlafen, aber dann berührte et was seinen Arm, und er öffnete nochmals die Augen. Der Waschbär war noch näher herangekrochen und lag jetzt dicht neben ihm. Er hob die Decke und legte sie auch über den klei nen Bären. Dann schlief er endgültig ein.
24
Wechsler hatte gesagt, es müsse kühler sein, und es war auch kühler, aber noch immer so heiß, daß man nicht richtig laufen und gut vorankommen konnte. Aber als Sucher den Hügelrücken erreichte, brauste ein kalter Nordwind heran, der ihn etwas erfrischte, so daß er eine Weile an der gleichen Stelle blieb, um wieder Atem zu schöpfen. Der Himmel über ihm war sternenklar, aber Sucher hatte das Gefühl, hier seien weniger Sterne als von sei nem Heimatplaneten aus zu erkennen. Und hier auf diesem Hügel konnte man stehen und Bilder von den Sternen heranholen. Aber er wußte von Denker, daß es nicht nur Bilder waren, wie er früher geglaubt hatte, sondern kaleidoskopische Eindrücke anderer Rassen, Kulturen und Zivilisationen, aus denen sich Informa tionen ableiten ließen, die eines Tages zur Erkenntnis der Wahrheit des Universums führen würden. Sucher fuhr zusammen, als er daran dachte, daß sein Verstand und seine Sinne imstande waren, über unzählige Lichtjahre hinweg die Früchte anderer Be mühungen zu ernten. Er fuhr zusammen und wußte gleichzeitig, daß Denker an seiner Stelle nicht zu sammenfahren würde, selbst wenn er körperlich da zu imstande gewesen wäre. Denn es gab nichts, abso
lut nichts, das Denker verblüffte; für ihn gab es keine Geheimnisse oder Rätsel, sondern nur eine Anhäu fung von Daten und Informationen, die er verarbeite te, sobald sie ihm zugänglich waren. Aber für mich, dachte Sucher, ist alles geheimnis voll. Für mich gibt es keinen Anlaß, vernünftig zu denken, Tatsachen nüchtern zu beurteilen und lo gisch auszuwerten. Er stand auf dem Hügelrücken, hatte die buschige Rute gesenkt und hob dem Nordwind die silbergraue Schnauze entgegen. Ihm genügte es, daß das Univer sum voller Wunder und voll Schönheit war, und er hatte nie mehr verlangt – aber jetzt wußte er, daß es sein sehnlichster Wunsch war, diese Wunder und diese Schönheit für immer erhalten zu wissen. Oder waren sie bereits in Gefahr? Befand er sich in der Lage, immer neue Wunder suchen zu müssen und zugleich zu erkennen, daß er damit nur Material für Denker lieferte, dessen eiskalter Verstand die lo gische Erklärung ausarbeiten würde? Er stellte diesen Gedanken auf die Probe, aber vor läufig erschienen ihm die Wunder des Universums noch so geheimnisvoll wie zuvor. Hier auf diesem nächtlichen Hügel unter glitzernden Sternen spürte er unzählige Geheimnisse und Rätsel, die ihn unwill kürlich erschauern ließen. Das Tal zwischen ihm und dem nächsten Hügel
schien keine Bedrohung zu enthalten. Links im Hin tergrund bezeichneten einzelne Lichtpunkte Fahr zeuge auf der Straße durch die Hügel. Im Tal lagen hier und dort menschliche Behausungen, die Licht und die eigenartigen Vibrationen ausstrahlten, die von der Elektrizität herrührten. In den Bäumen hockten schlafende Vögel, und ein Tier schlich durchs Unterholz. Mäuse kuschelten sich in ihren Höhlen zusammen und unzählige Käfer be wegten sich zwischen abgefallenem Herbstlaub und verfaulenden Blättern. Sucher trabte leise den Hügel hinab, durchquerte den Wald, beobachtete aufmerksam nach allen Seiten, katalogisierte und bewertete alle größeren Tiere, war stets auf einen plötzlichen Überfall gefaßt und fürch tete nur, daß er eine Gefahr übersehen würde, weil er sie nicht kannte. Der Wald war zu Ende, und Sucher hatte das Tal mit seinen Feldern und Straßen und Häusern vor sich. Hier blieb er nochmals stehen, um den Weg zu überprüfen, den er einschlagen wollte. Ein Mann ging dort am Fluß mit seinem Hund spazieren, und ein Auto fuhr langsam die Privatstra ße zu einem alleinstehenden Haus entlang. Auf einer Weide schliefen zehn oder elf Kühe, aber ansonsten schien es hier keine größeren Tiere zu geben. Sucher setzte sich wieder in Bewegung und trabte
fast lautlos durchs Tal. Er lief den nächsten Abhang hinauf, blieb diesmal nicht stehen, sondern rannte gleichmäßig weiter. Der Rucksack unter seinem linken Arm war sper rig, denn er enthielt nun auch Wechslers Kleidung. Das Gewicht störte ihn, denn es zog ihn nach links, so daß er es ausgleichen mußte, und er war schon mehrmals an Zweigen hängengeblieben. Sucher hielt an, ließ den Rucksack zu Boden fallen und zog den linken Arm ein, der unter dem Pelz an der Schulter verschwand. Er nahm den Sack mit dem rechten Arm auf und setzte die Wanderung fort. Viel leicht war es besser, wenn er von Zeit zu Zeit wech selte; dann machte sich die Last weniger bemerkbar. Er durchquerte das nächste Tal, lief einen Abhang hinauf und erreichte den Hügelrücken, wo er wieder kurz ausruhte. Willow Grove, hatte Wechsler gesagt. Hundert Meilen. Er konnte es bei Tagesanbruch erreichen, wenn er nicht langsamer wurde. Was erwartete sie in Willow Grove? Schwer zu sagen – aber sie würden es bald erfahren. Sucher wollte aufbrechen, blieb stehen, horchte aufmerksam und drehte sich langsam um. Wieder das gleiche Geräusch – ein leises Kläffen. Ein Hund, sagte er sich. Ein Hund, der eine Spur aufgenommen hat.
Er trabte rasch ins Tal hinab, beobachtete vorsichtig nach allen Seiten und blieb am Waldrand stehen. Das Tal war menschenleer, und Sucher durchquerte es ohne noch einmal anzuhalten. Nun spürte er zum erstenmal eine gewisse Müdig keit. Die Nacht war verhältnismäßig kühl, aber er konnte sich nicht an das wärmere Klima der Erde gewöhnen. Er hatte sich zu sehr beeilt, um Willow Grove auf jeden Fall vor Tagesanbruch zu erreichen. Jetzt sah er ein, daß er seine Kräfte besser einteilen mußte. Er kletterte den nächsten Hügel hinauf und nahm sich vor, erst etwas auszuruhen, bevor er in das ande re Tal hinablief. Auf halber Höhe hörte er wieder das Bellen, aber der Wind machte es ihm unmöglich, Richtung und Entfernung zu bestimmen. Als er den Hügelrücken erreichte, war das Bellen noch lauter geworden, und Sucher wußte jetzt, daß es mehrere Hunde waren – mindestens vier, vielleicht sogar fünf oder sechs. Das Bellen kam den Abhang herauf, und es kam erstaunlich rasch näher. Die Hunde kläfften und win selten erregt. Sie schienen eine heiße Spur aufge nommen zu haben. Eine heiße Spur! Sucher rannte los, als das erregte Kläffen nur noch hundert Meter von ihm entfernt war. Er hatte ge
glaubt, die Meute verfolge einen Waschbären, aber jetzt war ihm plötzlich klar, daß die Hunde ein ande res Wild hetzten. Er raste hügelabwärts, durchs Tal und den näch sten Anhang hinauf. Die Hunde blieben zurück, aber Sucher spürte wieder die Müdigkeit und wußte, wie die Jagd schließlich enden würde – er konnte schnel ler laufen als seine Verfolger, aber die Hunde würden ihn einholen, sobald er sich müde gerannt hatte. Vielleicht war es besser, einen geeigneten Platz zu suchen und die Verfolger dort zu erwarten? Aber dann stand er allein gegen fünf oder sechs Hunde. Zwei oder drei ... Sucher war davon überzeugt, daß er zwei oder drei Hunden gewachsen war. Aber es waren mehr als drei. Er konnte auch den Rucksack fortwerfen, um da durch etwas schneller zu werden. Aber dadurch war nicht viel zu gewinnen und er hatte Wechsler ver sprochen, auf den Rucksack zu achten. Wechsler würde sich ärgern, wenn er ihn verlor. Wechsler är gerte sich bereits darüber, daß er manchmal vergaß, daß er Arme und Hände hatte. Sucher trabte weiter, aber langsamer als zuvor; der Abstand schien sich nicht zu verringern, aber er wuß te, daß er diesen Vorsprung nicht mehr allzulange halten konnte. Natürlich brauchte er nur Wechsler an seine Stelle
treten zu lassen. Vielleicht würden die Hunde die Verfolgung aufgeben, wenn sie plötzlich eine Men schenspur vor sich hatten – sie würden den Men schen jedenfalls nicht angreifen. Aber Sucher hielt nichts von dieser Möglichkeit. Er wollte die Krise selbst meistern, ohne Wechsler um Hilfe zu bitten. Er sah das nächste Tal vor sich und erkannte am Waldrand ein alleinstehendes Haus mit einem be leuchteten Fenster. Bei diesem Anblick hatte er eine Idee. Nicht Wechsler, sondern Denker. Das müßte ei gentlich klappen! Denker, kannst du einem Haus Energie entziehen? Ja, natürlich. Ich habe es schon einmal getan. Auch von außen? Wenn ich dicht genug herankomme. Gut, einverstanden! Sobald ich ... Nur weiter, unterbrach ihn Denker. Ich weiß, was du vorhast. Sucher trabte den Hügel hinab, ließ die Hunde ab sichtlich näher herankommen, rannte dann schneller weiter und lief auf das Haus zu. Die Hunde kläfften jetzt nicht mehr, sondern sammelten ihre Kraft zu ei ner letzten Anstrengung. Das Opfer war in Sicht; die Jagd ging dem Ende zu ... Dann kläfften die Hunde plötzlich wieder los, aber diesmal war es ein anderer Laut, der aus ihren Keh
len drang – ein blutrünstiges Bellen, das vom Hügel widerhallte. Das Haus war nicht mehr weit entfernt, und als die Hunde erneut zu kläffen begannen, wurde es hinter sämtlichen Fenstern hell. Über dem Eingang war ein Scheinwerfer montiert, der die Zufahrt beleuchtete, und dieser Scheinwerfer flammte jetzt ebenfalls uner träglich hell auf. Das heisere Bellen mußte die Haus bewohner geweckt haben. Ein niedriger Zaun begrenzte den zum Haus gehö rigen Garten. Sucher setzte mit einem Sprung dar über hinweg und landete im Scheinwerferlicht; er ra ste weiter, erreichte das Haus und blieb an die Mauer gedrückt sitzen. Jetzt! rief er Denker zu. Jetzt!
25
Es war bitterkalt. Die Kälte war wie ein physischer Schlag, der Körper und Verstand zugleich ins Wan ken brachte. Der Satellit des Planeten schwebte über den unregelmäßig gezackten Umrissen großer Pflan zen, das Land war steril und trocken, und über das Hindernis, das die Menschen Zaun nannten, spran gen wütende Tiere, die als Hunde bezeichnet wur den. Aber irgendwo in der Nähe befand sich eine Ener giequelle, und Denker griff danach – in fast panischer Angst. Und er nahm viel Energie auf, wesentlich mehr Energie, als er eigentlich brauchen konnte. Das Haus wurde dunkel, und der Scheinwerfer erlosch. Die Kälte war plötzlich nicht mehr zu spüren, und sein Körper glühte von innen heraus, während er sich in eine Pyramide verwandelte. Informationen stan den in langen Reihen gebrauchsfertig vor ihm. Sein Verstand arbeitete so gut wie schon lange nicht mehr, und er sah ein, daß er ihn allzusehr vernachlässigt hatte, anstatt ... Denker! rief Sucher. Laß den Unsinn! Die Hunde! Die Hunde! Er hatte natürlich recht. Die Hunde gehörten zu Suchers Plan, und dieser Plan funktionierte.
Die Hunde warfen sich herum, klammerten sich am Boden fest und winselten und jaulten kläglich, als der Wolf, den sie eben noch gehetzt hatten, sich in diese leuchtende Erscheinung verwandelte. Die Energiemengen waren viel zu groß, wurde Denker plötzlich klar. Derartige Mengen war er nicht gewachsen. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Er befreite sich davon. Er flammte auf. Grelle Lichtblitze zuckten, und das ganze Tal war einen Augenblick lang taghell beleuchtet. Die Farbe an der Hauswand warf Blasen, wurde schwarz und blätterte ab. Die Hunde, die wieder über den Zaun sprangen, jaulten verzweifelt auf, als die Blitze mit glühenden Fingern nach ihnen griffen. Sie rasten mit eingezoge nen Schwänzen davon, ohne sich Zeit zu nehmen, ih re Brandwunden zu belecken.
26
Blake bildete sich ein, Willow Grove irgendwann in der Vergangenheit gekannt zu haben. Aber das war selbstverständlich unmöglich. Vielleicht hatte er von einer sehr ähnlichen Stadt gelesen oder ein Bild da von gesehen – aber er war nie selbst hier gewesen. Als er jedoch frühmorgens in Willow Grove an ei ner Straßenecke stand, drängten alte Erinnerungen an die Oberfläche, und er nahm Einzelheiten wahr, die seinen Vorstellungen genau entsprachen – die selt same kleine Treppe, die zum Eingang der Bank hin aufführte, und die mächtigen Ulmen am Rand des Parks am unteren Ende der Straße. Blake wußte, daß dort ein Denkmal stand, und er erinnerte sich an den zumeist trockenen Springbrunnen und die alte Kano ne aus dem Bürgerkrieg. Aber seine Erinnerungen entsprachen nicht immer der neuen Wirklichkeit. Er stellte fest, daß in dem Ge schäft an der Ecke nicht mehr Haushaltwaren, son dern Lebensmittel verkauft wurden, daß der Friseur salon eine neue Fassade bekommen hatte, daß die ganze Stadt leicht verstaubt und altertümlich wirkte. Das war ihm damals noch nicht aufgefallen, als er Willow Grove zuletzt gesehen hatte. Zuletzt gesehen hatte!
Konnte es sein, fragte er sich, daß er diese Stadt je mals gesehen hatte? Wie hätte er das vergessen können? Theoretisch wußte er alles wieder, was er in seinem früheren Le ben getan und erlebt hatte. Aber warum fehlte dann ausgerechnet die Erinnerung an Willow Grove? Eine alte Stadt – keine fliegenden Häuser auf vor gefertigten Fundamenten, keine gigantischen Wohntürme in den Außenbezirken. Statt dessen massive Gebäude aus Holz und Ziegelsteinen, die seit Jahr hunderten an der gleichen Stelle standen und sich erst vom Fleck bewegen würden, wenn der Eigentü mer sie eines Tages abbrechen und durch ein neues Gebäude ersetzen ließ. Blake ging langsam die Straße entlang und sah überall kleine Dinge, die neue Erinnerungen herauf beschworen. Der Bankier war Jake Woods gewesen, und Jake Woods lebte bestimmt nicht mehr, denn falls Blake diese Stadt jemals gesehen hatte, waren seitdem zweihundert Jahre vergangen. Und dort hat te früher Breens Supermarkt gestanden, wo jetzt eine Fabrikvertretung für Schweber eingerichtet war. Bla ke erinnerte sich an Charly Breen, den rothaarigen Sohn des Besitzers, mit dem er so oft Schule ge schwänzt hatte, um zum Angeln zu gehen. Er erreichte eine Bank am Straßenrand und nahm darauf Platz. Um diese Zeit waren noch wenige Leute
unterwegs, und diese wenigen starrten ihn im Vor beigehen neugierig an. Blake war nicht müde, obwohl Sucher in der vergangenen Nacht hundert Meilen zu rückgelegt hatte. Vielleicht war daran Denkers ge stohlene Energie schuld, die Denker an Sucher und ihn weitergegeben hatte. Er nahm den Rucksack ab und lehnte sich zurück. Überall wurden jetzt die Geschäfte geöffnet. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Blake las die Namen über den Geschäften, ohne einen wiederzuerkennen. Die Fenster im ersten Stock des Bankgebäudes trugen in Goldbuchstaben die Namen von Ärzten, Zahnärzten und Rechtsanwälten: Dr. med. Alvin Blank, Dr. med. dent. H. H. Oliver! Dr. jur. Ryan Wilson; Wm. Smith ... Halt! Zurück! Ryan Wilson – das war es! Ryan Wil son war der Mann, der ihm die Nachricht zugeschickt hatte. Dort oben über der Bank befand sich die Kanz lei des Mannes, der Blake etwas Wichtiges mitzutei len hatte. Auf der Uhr über dem Bankeingang war es fast neun. Wilson war vielleicht schon da oder würde je denfalls bald kommen. Falls die Kanzlei noch ge schlossen war, konnte Blake vor der Tür auf ihn war ten. Blake stand auf, überquerte die Straße und betrat das düstere Treppenhaus des Bankgebäudes. Er stieg
die knarrenden Stufen hinauf, suchte im ersten Stock nach Wilsons Kanzlei und sah, daß die Tür offen war. Er stand im Vorzimmer und sah sich um. Im Büro nebenan saß ein Mann in Hemdsärmeln und arbeitete an einem überladenen Schreibtisch. Der Mann hob den Kopf. »Herein«, sagte er. »Sie sind Ryan Wilson?« Der Mann nickte. »Meine Sekretärin ist noch nicht hier. Was kann ich für Sie tun?« »Sie haben mir eine Nachricht geschickt. Ich heiße Andrew Blake.« Wilson lehnte sich zurück und warf ihm einen er staunten Blick zu. »Na, das ist aber eine Überra schung«, meinte er schließlich. »Ich dachte, Sie wür den sich nie blicken lassen.« Blake schüttelte verwirrt den Kopf. »Haben Sie heute noch keine Zeitung gelesen?« fragte Wilson. »Nein«, antwortete Blake. Wilson breitete die Morgenzeitung auf seinem Schreibtisch aus und hielt sie hoch, damit Blake die Schlagzeile lesen konnte: IST DER MANN VON DEN STERNEN EIN WER WOLF?
DIE JAGD NACH BLAKE GEHT WEITER!
Blake erschrak, als er darunter ein Bild von sich er kannte. Dann spürte er, daß Sucher sich bewegte. Nein, nein! rief er ihm zu. Damit werde ich allein fertig! Sucher beruhigte sich wieder. »Wirklich interessant«, sagte Blake zu Wilson. »Das wußte ich noch gar nicht. Ist schon eine Belohnung ausgesetzt?« Wilson faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Schreibtisch zurück. »Sie brauchen nur anzurufen«, erklärte Blake ihm. »Das Krankenhaus hat folgende ...« Wilson schüttelte den Kopf. »Das geht mich nichts an, Mister Blake. Meinetwegen können Sie gehen, wie Sie gekommen sind. Aber wenn Sie bleiben, soll ich Ihnen zwei Fragen stellen, und falls Sie die richtige Antwort wissen ...« »Fragen?« »Ja. Nur zwei einfache Fragen.« Blake zögerte noch. »Ich handle im Auftrag eines Klienten«, teilte Wil son ihm mit. »Er ist schon seit hundertfünfzig Jahren tot, aber mein Urgroßvater hat damals den Auftrag übernommen, und ich möchte ihn jetzt endlich aus führen.« Blake nickte langsam. »Einverstanden«, sagte er. »Stellen Sie Ihre Fragen.«
Wilson nahm zwei Briefumschläge aus dem Wand tresor hinter sich, öffnete den ersten und faltete ein Blatt Papier auseinander. »Fertig, Mister Blake?« wollte er wissen. »Schön, dies ist die erste Frage: Wie hieß Ihre Lehrerin in der ersten Klasse?« »Hmm, sie hieß ...«, sagte Blake. »Sie hieß ...« Er suchte nach der Antwort und fand sie plötzlich. »Sie hieß Jones«, sagte er. »Miß Jones. Ada Jones, glaube ich. Es ist schon so lange her.« Aber dann hatte er das Gefühl, alles sei erst gestern gewesen. Er sah Miß Jones vor sich – eine grauhaari ge alte Jungfer mit strengem Gesichtsausdruck. Und sie hatte eine purpurrote Bluse getragen. Wie hatte er die purpurrote Bluse vergessen können? »Okay«, sagte Wilson. »Was haben Sie und Charley Breen mit Diakon Wabons Melonen angestellt?« »Nun, wir ...«, begann Blake. »Hören Sie, wie ha ben Sie das herausbekommen?« »Das spielt hier keine Rolle«, meinte Wilson. »Be antworten Sie einfach die Frage.« »Nun, das war eigentlich ein boshafter Streich«, sagte Blake. »Wir haben uns beide so geschämt, daß wir nie davon gesprochen haben. Charley hatte sei nem Onkel eine Injektionsspritze geklaut – sein Onkel war Arzt, wie Sie vielleicht wissen.« »Ich weiß gar nichts«, stellte Wilson fest.
»Wir haben die Spritze mit Petroleum gefüllt und jeder Melone eine Kleinigkeit injiziert.« Wilson griff nach dem zweiten Briefumschlag. »Sie haben den Test bestanden«, sagte er. »Folglich gehört das hier Ihnen.« Er gab Blake den Umschlag. Blake starrte die altmodisch geschwungenen Buch staben an, die sich zu Worten zusammensetzen lie ßen: An den Mann, der meinen Verstand hat Eine Zeile tiefer folgte die Unterschrift: Theodore W. Roberts Blakes Hand zitterte heftig, obwohl er sich zu beherr schen versuchte. In diesem Augenblick erinnerte er sich wieder – jetzt kannte er alles, brauchte nicht mehr wie ein Blinder umherzutasten und hatte endlich wieder eine Vergangenheit. »Das bin ich«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Das war ich. Teddy Roberts. Ich bin nicht Andrew Blake.«
27
Er kam an das große schmiedeeiserne Tor, das ver schlossen war, und benützte den unscheinbaren Ne beneingang des Friedhofs. Er folgte dem kiesbestreu ten Weg, ging langsam an der Kapelle vorbei, deren weißer Turm die Zypressen, Trauerweiden und Pini en überragte, und stieg den Hügel hinauf. Unter ihm lag Willow Grove ausgebreitet, aber er achtete nicht darauf, sondern ging weiter auf die Stelle zu, an der er einen Grabstein mit dem Namen Theodore Roberts finden würde. Blake zögerte und blieb stehen. Warum wollte er das Grab besuchen? Weil dort sein Körper lag? Nein, nicht sein Körper, sondern der Körper des Mannes, dem er seinen Verstand ver dankte. Aber welche Rolle spielte dieser Körper, wenn der Verstand noch lebte – wenn er sogar zweimal lebte? Er war eine leere Hülle, deren letzte Ruhestätte ihn nicht zu kümmern brauchte. Blake drehte sich um, wollte den Friedhof verlassen und kam an der Kapelle vorbei. Dort setzte er sich auf die Treppe am Eingang. Was soll ich tun? fragte er sich. Was gibt es noch zu tun? Seitdem er endlich wußte, wer er war, brauchte er
nicht mehr zu fliehen. Nun hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, aber auch das nützte nichts mehr. Er nahm den Brief aus der Tasche, faltete ihn aus einander und begann zu lesen: Sehr geehrter Herr! Diese Anrede erscheint Ihnen vielleicht seltsam und um ständlich. Ich habe es mit anderen versucht, die jedoch alle falsch klangen, so daß ich mich für diese entschieden habe, die zwar etwas steif, aber wenigstens nicht würde los klingt. Sie wissen natürlich unterdessen, wer ich bin, und wer Sie sind; ich brauche Ihnen deshalb unser Verhältnis nicht zu erklären, das bisher auf der Erde einmalig und für uns beide etwas peinlich ist. Ich habe immer gehofft, Sie würden eines Tages zu rückkehren, und wir beiden könnten mit einem Drink in der Hand unsere Erfahrungen austauschen. Nun fürchte ich jedoch, daß Sie vielleicht nie zurückkommen werden, weil Sie schon so lange fort sind – aber selbst wenn Ihre Rückkehr bevorstünde, würde ich sie vielleicht nicht er leben, denn meine Tage sind gezählt. Meine Tage sind gezählt, habe ich geschrieben, aber das ist nicht ganz wahr. Mein Körper hat nicht mehr lange zu leben, aber mein Verstand wird auch in Zu kunft in der Gehirnbank existieren und dort gemeinsam mit anderen oder allein bestimmte Funktionen erfüllen.
Ich habe die Ernennung nur zögernd angenommen. Mir ist natürlich klar, welche Ehre damit verbunden ist, aber ich zweifle noch heute daran, ob das dahinterste hende Prinzip zum Besten der Menschheit und zu mei nem Besten dient. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man als Mensch ohne Körper bequem existieren soll, und ich befürchte, daß die Menschheit sich allmählich allzusehr auf das gesammelte Wissen der Gehirnbankiers verläßt. Sollte es jemals dazu kommen, daß die Mensch heit nur noch das Wissen der Vergangenheit gelten läßt – die menschliche Geschichte kennt genügend Beispiele dieser Art –, wären wir nur hinderlich und lästig. Ich weiß nicht, weshalb ich Ihnen das alles schreibe. Aber schließlich sind Sie der einzige Mensch, dem ich dies schreiben kann, denn Sie sind in vieler Beziehung ich. Es ist seltsam, daß ein Mann innerhalb von wenigen Jahren zweimal fast gleiche Entscheidungen treffen mußte. Als die Wahl auf mich fiel, und Sie meinen Verstand bekommen sollten, war ich nicht ohne weiteres damit einverstanden. Ich hatte das Gefühl, daß mein Verstand in vieler Beziehung für diesen Zweck ungeeig net sei. Meine Überzeugungen und Vorurteile waren zu ausgeprägt und konnten sich später als hinderlich erwei sen. Seitdem habe ich mich oft gefragt, ob mein Verstand Ihnen gute oder schlechte Dienste erwiesen hat. Im Laufe der Jahre habe ich oft an Sie gedacht und mir überlegt, wie es Ihnen ergangen sein mochte, ob Sie noch
lebten und wann Sie zurückkommen würden. Ich ver mute, daß Sie inzwischen erkannt haben, daß Ihre Er schaffung für viele der Beteiligten – vielleicht sogar für die meisten – nur eine biochemische Aufgabe war, die es zu lösen galt. Ich kann nur hoffen, daß diese freimütige Feststellung Sie nicht erschüttert; sind Sie jedoch der Mann, für den ich Sie halte, werden Sie diese Tatsache akzeptieren, ohne daran zu zerbrechen. Aber ich habe Sie immer für einen Mitmenschen gehalten, der mir näher stand als Freunde und Ver wandte. Wie Sie wissen, habe ich keine Geschwister ge habt. Ich habe mich oft gefragt, ob ich Sie für den Bruder halten sollte, den ich nie gehabt habe. Aber in den letzten Jahren glaube ich die Wahrheit zu erkennen. Sie sind kein Bruder. Sie stehen mir näher als ein Bruder. Sie sind mein zweites Ich, das dem ersten in keiner Weise unterlegen und in jeder Beziehung gleichwertig ist. Ich schreibe diesen Brief in der Hoffnung, daß Sie nach Ihrer Rückkehr mit mir Verbindung aufnehmen werden, selbst wenn ich zu diesem Zeitpunkt bereits physisch tot sein sollte. Ihre Erlebnisse und Ihre Gedan kengänge interessieren mich aufrichtig, denn ich erhoffe mir davon eine nachträgliche Erweiterung meines gei stigen Horizonts, für die es nie zu spät wäre. Ob Sie mit mir Verbindung aufnehmen wollen oder nicht, muß ich jedoch Ihrem eigenen Urteil überlassen. Ich bin selbst nicht hundertprozentig davon überzeugt,
daß wir miteinander sprechen sollten, obwohl mich die Vorstellung natürlich reizt. Ich überlasse die Entschei dung Ihnen und vertraue darauf, daß Sie die richtige treffen werden. Ich beschäftige mich im Augenblick mit der Frage, ob es richtig ist, den Verstand eines Menschen über Jahr hunderte hinweg funktionsfähig zu erhalten. Dabei drängt sich mir die Erkenntnis auf, daß der Verstand zwar einen großen Teil des Menschen ausmacht, daß der Mensch aber nicht nur aus Verstand besteht. Dazu ge hört mehr als Wissen und Gedächtnis und die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Kann ein Mensch sich in dem Niemandsland orientieren, in dem er sich wiederfindet, wenn nur sein Verstand über lebt? Er bleibt natürlich ein Mensch, aber hier handelt es sich um seine Menschlichkeit. Wird er menschlicher oder unmenschlicher? Falls Sie es für richtig halten, mit mir Verbindung auf zunehmen, könnten wir vielleicht auch darüber sprechen. Aber falls Sie es für besser halten, nicht mit mir zu sprechen, beruhigt es Sie vielleicht, daß ich auch dafür Verständnis hätte, wenn ich irgendwie von Ihrer Rück kehr erfahren sollte. Und in diesem Fall möchte ich Ih nen alles Gute für die Zukunft wünschen, die nicht leicht sein wird. Ihr Theodore Roberts
Blake faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder ein. Ich bin noch immer Andrew Blake, dachte er, und nicht Dr. Theodore Roberts, der bekannte Physiker. Vielleicht der junge Teddy Roberts, aber bestimmt nicht Theodore Roberts. Und wenn er jetzt ans nächste Visorphon ging und die Nummer der Gehirnbank wählte? Was sollte er sagen, wenn die Verbindung mit Theodore Roberts hergestellt wurde? Was hatte er eigentlich zu sagen? Was konnte er überhaupt sagen? Nein, er hatte nichts zu bieten. Roberts und er wären nur zwei Männer, die einander um Hilfe baten, obwohl sie genau wuß ten, daß der andere ihnen nicht helfen konnte. Blake könnte sagen: Ich bin ein Werwolf – so steht es jedenfalls in den Zeitungen. Ich bin nur teilweise menschlich, bin nur zu einem Drittel Mensch, das Ih nen ewig unverständlich bleiben müßte, selbst wenn ich es Ihnen zu erklären versuchte. Ich bin kein Mensch mehr, und hier auf der Erde gibt es für mich keinen Platz. Ich gehöre nicht hierher. Ich bin ein Un geheuer, eine Mißgeburt, und ich verletze nur jeden, der mit mir zu tun hat. Und das war leider die Wahrheit. Er verletzte je den, mit dem er in Verbindung trat. Elaine Horton, die er geküßt hatte – eine junge Frau, die er vielleicht bereits liebte, obwohl er sie nur mit einem Drittel sei ner selbst – mit dem menschlichen Drittel – lieben
konnte. Und ihren Vater, diesen bewundernswerten alten Mann mit den eisernen Grundsätzen. Und auch Dr. Daniels, der sein erster Freund in dieser fremden Umgebung gewesen war. Er konnte sie alle verletzen. Er würde sie alle ver letzen, es sei denn ... Richtig, es mußte eine andere Möglichkeit geben, die er bisher übersehen hatte. Er wußte plötzlich, daß er irgend etwas tun sollte, daß er eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hatte. Er suchte in seinem Gedächtnis danach, ohne sie jedoch zu finden. Er stand auf, ging langsam zum Tor, kehrte wieder um, betrat die Kapelle und schritt den Mittelgang hinab. Das Innere der kleinen Kirche war dunkel und still. Die elektrischen Altarkerzen reichten kaum aus, um das Dunkel zu erhellen, und durch die bunten Seiten fenster fiel kaum ein Lichtstrahl in die Kapelle. Ein Ort, an dem man nachdenken konnte. Ein Ort, an dem man planen, an dem man sich in Ruhe selbst erforschen konnte. Ein Ort, an dem man die Lage kri tisch beurteilen und weitere Entschlüsse fassen konn te. Er blieb neben der ersten Bankreihe stehen, anstatt Platz zu nehmen. Hier hatte er den entscheidenden Punkt erreicht, an dem jede weitere Flucht zwecklos
war. Er hatte bisher einen Grund für seine Flucht ge habt, aber nun war diese impulsive und unkompli zierte Reaktion sinnlos geworden, denn er hatte sein vorläufiges Ziel erreicht. Wenn er jemals wieder flie hen wollte, brauchte er zunächst ein neues Ziel. Hier in dieser Stadt hatte er erfahren, wer und was er war. Aber Willow Grove war eine Sackgasse für ihn. Der ganze Planet war eine Sackgasse, denn für ihn würde es nie einen Platz auf der Erde geben, weil er weder Mensch noch Tier war. Er war ein Team, ein Team aus drei verschiedenen Lebewesen. Dieses Team hatte Gelegenheit und viel leicht sogar die Möglichkeit, das grundlegende uni versale Problem zu lösen. Dabei handelte es sich je doch nicht um ein Problem, das in erster Linie die Er de oder deren Bewohner betraf. Er konnte nichts für die Menschen tun, und die Menschen konnten ihm nicht helfen. Auf einem anderen Planeten, wo es weder Störun gen noch eine Kultur noch kulturelle Ablenkungen gab, hätte er vielleicht funktionieren können – er, das Team; nicht der Mensch, sondern er, die Kombination aus drei Lebewesen. Er dachte wieder an die praktisch unbegrenzten Fähigkeiten dieser drei Gehirne, die vielleicht im Lau fe der Zeit zu einem einheitlichen Ganzen zusam menwachsen würden. Sollte es jemals dazu kommen,
würde seine Menschlichkeit keine Rolle mehr spielen – sie würde im gleichen Augenblick verschwinden. Dann hätte er nichts mehr mit der Erde und den Zweibeinern zu schaffen, die sie bewohnten, sondern wäre endlich frei. Dann könnte er sich ausruhen und alles vergessen. Und wenn er vergessen hatte, wenn er kein Mensch mehr war, konnte er beginnen, die Grenzen seines kombinierten Verstandes zu erfor schen. Er war aus der Menschlichkeit herausgewachsen, die ihm seine Schöpfer mitgegeben hatten, und dieses Wachsen schmerzte. Er fühlte sich müde und leer, spürte aber selbst in seiner Verzweiflung, daß die Sympathie, die ihm die beiden anderen entgegen brachten, nicht das war, was er jetzt wollte. Er setzte sich dagegen zur Wehr, weil er die Falle erkannte, aber die beiden ließen in ihren Anstren gungen nicht nach, und er hörte die Worte, die sie untereinander und zu ihm sprachen, obwohl er sie nicht verstand. Dann griffen sie nach ihm und hielten ihn fest und sicher und warm. Und er versank in einer lichten Dunkelheit, in der nur Platz für ihn und die beiden anderen war.
28
Ein kalter Dezemberwind pfiff über die Hügel und riß das letzte Laub von den Bäumen. Dunkle Wolken zogen über den Himmel und trugen den ersten Schnee mit sich. Am Friedhofstor standen zwei unbewegliche Gestal ten in blauen Uniformen mit glänzenden Messingknöpfen. Links neben den Posten hatten sich einige Touristen versammelt, die durch die Eisenstäbe die weiße Kapelle anstarrten. »Heute sind es nicht viele«, erklärte Ryan Wilson Elaine Horton. »Bei gutem Wetter waren es an Wo chenenden ganze Zuschauermassen.« Er schüttelte mißbilligend den Kopf. »Sie dürfen nicht glauben, daß ich damit einverstanden gewesen wäre. Für mich ist das dort oben weiterhin Theodore Roberts – auch in dieser Gestalt.« »Doktor Roberts war in Willow Grove ziemlich be liebt, habe ich gehört«, warf Elaine Horton ein. »Ganz recht«, stimmte Wilson zu. »Die Stadt ist stolz auf ihn, denn er war der einzige berühmte Bür ger, den Willow Grove jemals gehabt hat.« »Und Sie sind dagegen?« Ihre Handbewegung um faßte die beiden Posten und die Touristen. »Das kann man nicht behaupten. Solange alles
würdevoll zugeht, haben wir nichts dagegen. Aber es stört uns, wenn ein Jahrmarkt daraus gemacht wird.« »Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen«, meinte Elaine Horton. »Aber je mehr ich darüber nachge dacht habe, desto mehr fühlte ich mich dazu ver pflichtet.« »Sie waren mit ihm befreundet«, stellte Wilson fest. »Deshalb ist es Ihr Recht, ihn hier aufzusuchen. Er hatte nicht viele Freunde, vermute ich.« Die Touristen wandten sich ab und gingen in Rich tung Willow Grove davon. »An einem Tag wie heute gibt es nicht viel zu se hen«, sagte Wilson. »Deshalb bleiben sie nicht lange. Bei gutem Wetter steht die Tür der Kapelle offen, so daß die Erscheinung deutlich sichtbar ist. Zu Anfang war nichts zu erkennen, nur eine graue Masse – ver mutlich eine Art Abschirmung –, aber im Laufe der Zeit kam das Leuchten zum Vorschein, das jetzt zu sehen ist.« »Glauben Sie, daß ich eingelassen werde?« fragte Elaine. »Bestimmt«, versicherte Wilson ihr. »Ich lasse den Captain ans Tor bitten. Man kann die Raumfahrtbe hörde eigentlich nicht dafür tadeln, daß sie so strenge Sicherheitsbestimmungen erlassen hat. Immerhin trägt sie die Verantwortung, denn sie hat das Projekt vor zweihundert Jahren begonnen. Was geschehen
ist, hätte sich ohne das Projekt Werwolf nicht ereig net.« Elaine fuhr zusammen. »Entschuldigen Sie«, sagte Wilson. »Das hätte ich nicht sagen sollen.« »Warum nicht?« fragte sie. »Schließlich ist es der allgemein übliche Name.« »Ich habe Ihnen von seinem Besuch in der Kanzlei erzählt«, fuhr Wilson fort. »Er war ein netter junger Mann.« »Er war ein entsetzter Mann, der vor der Welt da vonlaufen wollte«, verbesserte Elaine ihn. »Hätte er mir nur erzählt, daß ...« »Vielleicht hat er es damals noch nicht ...« »Er hat gewußt, daß nicht alles in Ordnung war. Der Senator und ich hätten ihm geholfen. Doktor Da niels hätte ihm geholten.« »Er wollte Sie nicht hineinziehen, um Ihnen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Und er wollte sich Ihre Freundschaft bewahren. Vermutlich hatte er Angst, Sie würden sich von ihm abwenden.« »Ich kann mir vorstellen, daß er sich das eingebil det hat«, gab Elaine zu. »Und ich bedaure, daß ich keinen Versuch gemacht habe, ihm sein Geheimnis zu entreißen. Aber ich wollte ihn nicht verletzen. Er sollte eine Chance haben, selbst die Antwort zu fin den.«
Die Touristen kamen den Hügel herab, gingen an ihnen vorbei und folgten der Straße nach Willow Grove.
29
Die Pyramide stand im Mittelgang zwischen den vor dersten Bankreihen. Sie leuchtete von innen heraus, pulsierte leicht und war verblüffend durchsichtig. »Gehen Sie nicht zu dicht heran«, warnte der Cap tain. »Sie könnten es erschrecken.« Elaine gab keine Antwort. Sie starrte die Pyramide entsetzt und erstaunt zugleich an. »Sie können zwei oder drei Bankreihen weiterge hen«, fügte der Captain hinzu. »Noch näher ist viel leicht gefährlich. Wir wissen es selbst nicht.« Elaine konnte wieder sprechen. »Erschrecken?« fragte sie nur. »So benimmt es sich jedenfalls«, erklärte ihr der Captain. »Erschrocken oder mißtrauisch – oder viel leicht nur ablehnend. Früher war es kaum zu sehen, als fürchte es sich sogar vor neugierigen Blicken.« »Und jetzt weiß er, daß wir ihm nichts tun?« »Er?« »Andrew Blake.« »Sie haben ihn gekannt, Miß? Mister Wilson hat etwas davon gesagt.« »Ich habe ihn dreimal getroffen«, antwortete sie. »Vielleicht haben Sie recht«, meinte der Captain. »Einige der Wissenschaftler sind Ihrer Auffassung.
Hier waren schon ganze Massen, die es ... Entschul digung, Miß Horton – die ihn studieren wollten. Aber sie haben alle nicht viel herausbekommen. Das Studi enobjekt ist nicht sehr ergiebig.« »Woher wissen sie überhaupt, daß es Andrew Bla ke ist?« fragte Elaine. »Dort drüben an der rechten Seite der Pyramide liegt der Beweis«, erklärte der Captain ihr. »Die schwarze Robe!« rief sie überrascht. »Die schwarze Robe, die ich ihm gegeben habe.« »Richtig. Er hat sie an dem bewußten Morgen ge tragen. Jetzt liegt sie dort am Boden.« Elaine trat einen Schritt vor. »Nicht zu nahe«, warnte der Captain. Sie ging noch einen Schritt weiter. Das ist unsinnig, dachte sie. Wenn er hier ist, weiß er alles. Dann weiß er, daß er mich nicht zu fürchten braucht. Er muß erkannt haben, daß ich ihn liebe. Die Pyramide pulsierte fast unmerklich. Aber vielleicht weiß er es nicht, sagte sie sich. Viel leicht hat er sich völlig von der Welt abgeschlossen, und wenn er das getan hat, muß er einen guten Grund dafür gehabt haben. Wie muß es sein, fragte sie sich, mit dem Wissen zu leben, daß man den Verstand eines anderen besitzt – einen geliehenen Verstand, weil man keinen eigenen hat, da die menschliche Erfindungsgabe nicht ausge
reicht hat, auch noch einen Verstand zu erschaffen? Sie war groß genug für Knochen und Fleisch und ein Gehirn, aber nicht für den Verstand. Und wieviel schlimmer mußte es vielleicht sein, mit zwei anderen im Geist zusammenleben zu müssen – mit minde stens zwei anderen. »Captain?« fragte sie. »Ja, Miß Horton.« »Können die Wissenschaftler schätzen, wie viele Wesen in dieser Pyramide vereint sind? Vielleicht mehr als nur drei?« »Anscheinend sind sie sich nicht darüber im kla ren«, antwortete der Captain. »Vielleicht gibt es gar keine Grenze nach oben.« Kein Limit, dachte sie. Platz für unendlich viele ne beneinander, für alle Gedankenrichtungen des Uni versums. Ich bin hier, sagte sie unhörbar zu dem Wesen, das sie als Andrew Blake kannte. Ich bin hier. Merkst du nicht, daß ich gekommen bin? Wenn du mich jemals brauchst, wenn du dich jemals in einen Menschen zu rückverwandelst ... Aber warum sollte er sich in einen Menschen zu rückverwandeln? Vielleicht hatte er die Form einer Pyramide angenommen, damit er kein Mensch zu sein brauchte, damit er von der Menschheit befreit war, die ihn nicht als gleichwertig anerkennen wollte.
Sie drehte sich um, ging zögernd zum Ausgang und sah noch einmal zurück. Die Pyramide leuchtete sanft von innen heraus, und sie wirkte so friedlich und zurückgezogen, daß Elaine Horton unwillkürlich Tränen in die Augen tra ten. Nein, ich weine jetzt nicht, nahm sie sich vor. Ich weine nicht, denn um wen sollte ich weinen? Um Andrew Blake? Um mich selbst? Um die verwirrte Menschheit? Er ist nicht tot, dachte sie. Aber vielleicht war die ses Schicksal schlimmer als der Tod. Wäre er ein Mensch und tot gewesen, hätte sie von ihm Abschied nehmen können. Früher einmal hatte er sie um Hilfe gebeten. Nun konnte sie ihm nicht mehr helfen; nun konnte ihm kein Mensch helfen. Vielleicht war er schon zu weit von der übrigen Menschheit entfernt. Sie wandte sich ab. »Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Begleiten Sie mich bitte hinaus, Captain.« Er nahm ihren Arm und führte sie ins Freie.
30
Wechsler kämpfte verzweifelt. Er mußte hinaus. Er mußte entkommen. Er wollte nicht für immer in dieser schweigenden Dunkelheit begraben sein. Er wollte nicht kämpfen. Er wäre lieber am gleichen Ort geblieben, ohne seine Gestalt zu ver ändern. Aber er fand keine Ruhe, denn er glaubte ... nein, er wußte bestimmt, daß er nicht länger bleiben durfte. Draußen gab es etwas zu tun, und er mußte es zu Ende führen, denn er war der einzige, der diese Auf gabe erfüllen konnte, die es draußen zu lösen gab. Ruhig, ruhig, mahnte Sucher. Hier bist du gut auf gehoben. Draußen leidest du nur. Draußen? fragte er sich. Und dann erinnerte er sich. Die Außenwelt wirkte undeutlich und ver schwommen. Aber er wußte, daß sie dort war. Ihr habt mich eingesperrt! rief er. Laßt mich frei! Aber Denker achtete nicht auf ihn. Denker überleg te und kombinierte weiter. Denker konzentrierte sich ganz auf die Auswertung und Verknüpfung aller In formationen, die er jemals aufgenommen hatte. Den ker versuchte die Geheimnisse des Universums zu ergründen. Seine Kraft und seine Entschlossenheit ließen nach, und er sank in die schweigende Dunkelheit zurück.
Sucher, sagte er. Nein, antwortete Sucher. Denker arbeitet ange strengt. Er blieb ruhig und wütete im stillen gegen die bei den anderen. Aber auch das nützte nichts. Ich habe sie besser behandelt, sagte er sich. Ich ha be immer auf sie gehört. Ich habe sie nicht einfach eingesperrt. Er lag still und ruhte sich aus und überlegte, ob es nicht besser sei, in dieser Ruhe und Stille zu bleiben. Welche Rolle spielte schon die ungewisse Aufgabe, die ihn draußen erwartete? Was kümmerte ihn die Erde? Das war es – die Erde! Erde und Menschheit. Und beide waren unendlich wichtig. Vielleicht nicht für Sucher oder Denker, ob wohl es sie alle betraf, wenn es einen von ihnen be traf. Er kämpfte, aber seine Kraft reichte nicht aus. Deshalb ruhte er wieder und sammelte Kraft und Geduld. Sie waren seinetwegen besorgt, überlegte er sich. Sie hatten sich darauf geeinigt, ihn erst wieder freizu lassen, wenn er von seiner Enttäuschung geheilt war. Er versuchte sich an diese Enttäuschung zu erin nern, weil er hoffte, daß sie ihm Kraft und Entschlos senheit geben wurde. Aber er war nicht dazu imstan
de. Sie war ausgelöscht. Er sah sie schemenhaft vor sich, ohne sie jedoch erfassen zu können. Er bemühte sich, seine Situation in der richtigen Perspektive zu sehen, aber es wollte ihm nicht gelin gen, einen festen Standpunkt zu behalten. Die Zeit war ein Schattengespinst, die Wirklichkeit war eine Nebelwand, und aus diesem Nebel bewegte sich ein Gesicht auf ihn zu. Dieses Gesicht bedeutete ihm zu erst wenig, dann erschien es ihm bekannt, und schließlich sah er, daß es das Gesicht war, das er in Gedanken ständig vor sich hatte. Die Lippen bewegten sich, und er verstand nicht, was sie sagten; aber das war gar nicht nötig, denn er kannte auch die Worte auswendig. Laß gelegentlich wieder von dir hören, sagten die Lip pen. Und das war ein Grund, überlegte er. Sie wartete auf ihn. Er mußte ihr mitteilen, was ihm zugestoßen war. Er tauchte aus der Dunkelheit empor und achtete nicht auf die empörten Protestrufe der beiden ande ren. Zunächst hatte er nur das Gefühl einer Bewe gung, ohne etwas zu erkennen. Aber dann sah er plötzlich wieder. Er stand in der Friedhofskapelle und hörte draußen die Pinien rauschen. Dann rief jemand etwas, und er sah einen Soldaten
davonlaufen, während ein anderer mit schußbereitem Gewehr in der Tür stehenblieb. »Captain! Captain!« rief der Davonlaufende. Der andere Soldat trat einen Schritt vor. »Langsam, Sohn«, sagte Blake. »Ich laufe nicht weg.« Er spürte etwas an den Knöcheln, sah dort seine Robe und zog sie nach oben über die Schultern. Ein Mann mit den Rangabzeichen eines Captains betrat die Kapelle und ging auf Blake zu. »Ich bin Captain Sanders von der Raumfahrtbe hörde, Sir«, sagte er. »Wir haben Sie bewacht.« »Bewacht?« fragte Blake. »Beschützt – oder viel mehr beobachtet?« Der Captain lächelte. »Vielleicht beides«, gab er zu. »Ich möchte Ihnen gratulieren, Sir, weil Sie jetzt wie der ein Mensch sind.« Blake hüllte sich enger in seine Robe. »Sie irren sich, Captain«, sagte er. »Sie müssen unterdessen er kannt haben, daß diese Ansicht falsch ist. Ich bin kein Mensch – nicht hundertprozentig wie Sie.« »Wir haben gewartet«, sagte der Captain. »Wir ha ben gehofft ...« »Wie lange?« fragte Blake. »Wie lange haben Sie hier Wache gehalten?« »Fast ein Jahr«, antwortete der Captain. Ein Jahr! dachte Blake. Für ihn war die Zeit so
rasch vergangen, als seien es nur Stunden gewesen. Wie lange hatte er in der Dunkelheit gewartet, bevor er erkannte, daß er ausbrechen mußte? Oder hatte er sich vom ersten Augenblick an dagegen gewehrt? Er wußte es nicht. »Und nun?« fragte er. »Ich habe den Auftrag, Sie nach Washington ins Hauptquartier der Raumfahrtbehörde zu bringen, so bald es ohne größere Schwierigkeiten möglich ist«, erklärte ihm der Captain. »Wir können gleich abfahren«, meinte Blake. »Ich mache Ihnen keine Schwierigkeiten.« »Darum handelt es sich nicht«, sagte der Captain. »Die Zuschauer machen mir eher Sorgen.« »Was soll das heißen – die Zuschauer?« »Diesmal ist es eine Gruppe von Anbetern. Es gibt offenbar Sekten, die in Ihnen einen zweiten Messias sehen, der die Menschheit erlösen wird. Und es gibt andere Gruppen, die Sie als Ungeheuer ansehen ... Entschuldigen Sie, Sir, ich habe mich vergessen.« »Und mit diesen beiden Gruppen haben Sie gele gentlich Schwierigkeiten?« fragte Blake. »Gelegentlich«, sagte der Captain. »Manchmal so gar ernstliche Schwierigkeiten. Deshalb müssen wir unbemerkt verschwinden.« »Wäre es dann nicht besser, einfach vor den Leuten zu erscheinen? Dann hätte der ganze Spuk ein Ende.«
»Leider ist die Situation nicht ganz so einfach«, meinte der Captain seufzend. »Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Sir. Nur ich und einige meiner Männer er fahren, daß Sie nicht mehr hier sind. Die Posten blei ben vorläufig, und ...« »Die Leute sollen also glauben, ich sei noch immer hier?« »Ganz recht. So ist es einfacher.« »Aber eines Tages ...« Der Captain schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sor gen dafür, daß Sie ungesehen bleiben. Wir haben ein Schiff startbereit, damit Sie fortfliegen können – wenn Sie wollen.« »Damit die Menschheit mich los ist.« »Vielleicht«, sagte der Captain. »Aber auf diese Weise sind Sie auch uns los.«
31
Die Erde wollte ihn loswerden, fürchtete sich viel leicht vor ihm, fand ihn vielleicht nur abstoßend und hielt ihn für ein unerwünschtes Nebenprodukt menschlicher Phantasie und Erfindungsgabe, das möglichst rasch beseitigt werden mußte. Auf der Er de gab es keinen Platz für ihn, aber er war das Ergeb nis menschlicher Erfindung, und die Menschheit mußte sich bis zu einem gewissen Ausmaß für ihn verantwortlich fühlen. Blake hatte darüber nachgedacht, als er die Kapelle verließ, und als er nun vom Fenster seines Zimmers aus die Straßen von Washington betrachtete, wußte er, daß er recht gehabt hatte, daß er die Reaktion der Menschheit richtig eingeschätzt hatte. Er konnte al lerdings nicht beurteilen, ob diese Haltung nur in nerhalb der Raumfahrtbehörde oder allgemein vor herrschte. Für die Raumfahrtbehörde war er nur ein alter Fehler, der sich nicht mehr unauffällig korrigie ren ließ, so daß andere Methoden angebracht waren. Je schneller er verschwand, desto lieber war es den Verantwortlichen in Washington. Er stand am Fenster und sah auf die sonnenwarme Straße hinunter, beobachtete die wenigen Fahrzeuge und folgte den Spaziergängern mit den Augen. Die
Erde, dachte er, die Erde und ihre Bewohner – Men schen, die eine Familie hatten, zu der sie heimkehr ten, die Aufgaben und Hobbys hatten, die Sorgen und kleine Triumphe und Freunde und Bekannte hat ten. Diese Menschen bildeten eine Gemeinschaft, von der er ausgeschlossen war. Aber selbst wenn die Möglichkeit bestünde, darin aufgenommen zu wer den – würde er sie nützen können? Er durfte nicht nur an sich allein denken. Aber wie sollte er es ertragen, als Ausgestoßener durchs All zu irren? Das Schiff wartete auf ihn. Es war fast fertiggestellt, und er mußte sich entscheiden – er konnte fortfliegen oder bleiben. Die Raumfahrtbehörde ließ allerdings keinen Zweifel daran, daß er lieber morgen als über morgen starten sollte. Hinter ihm wurde an die Tür geklopft. Blake dreh te sich um und sah einen Mann ins Zimmer treten. Er ging auf ihn zu. »Wie nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Se nator«, sagte er. »Das hatte ich nicht erwartet.« »Warum sollte ich nicht kommen?« fragte Horton. »Sie wollten mich doch sprechen.« »Ich dachte, Sie würden nichts von mir wissen wol len«, erklärte Blake ihm. »Schließlich hat mein Fall den Volksentscheid erheblich beeinflußt.« »Ganz recht«, stimmte Horton zu. »Stone hat Sie
als abschreckendes Beispiel hingestellt. Ich muß zugeben, daß er äußerst geschickt argumentiert hat.« »Tut mir leid, daß alles so ausgegangen ist«, sagte Blake. »Das wollte ich Ihnen selbst mitteilen. Ich wäre deswegen zu Ihnen gekommen, aber ich stehe hier unter Hausarrest.« »Nun, vielleicht finden wir ein anderes Thema«, meinte Horton. »Sie können sich wahrscheinlich vor stellen, daß ich nicht gern über den Volksentscheid und seine Folgen spreche. Ich habe erst neulich mei nen Rücktritt erklärt und kann mich nur schlecht dar an gewöhnen, plötzlich nicht mehr Senator zu sein.« »Wollen Sie nicht Platz nehmen?« fragte Blake. »Darf ich Ihnen einen Cognac anbieten?« »Ich nehme mit Vergnügen an«, sagte Horton und ließ sich in einen Sessel fallen. »Als Sie damals in mein Haus kamen, habe ich Ihnen ebenfalls Cognac angeboten. Soviel ich mich erinnere, war es eine be sonders gute Flasche.« Er sah sich um. »Sie sind nicht schlecht untergebracht«, stellte er fest. »Immerhin eine Offiziersunterkunft.« »Und ein Posten vor der Tür«, sagte Blake. »Wahrscheinlich haben sie etwas Angst vor Ihnen.« »Vielleicht, aber sie ist jedenfalls unbegründet.« Blake nahm eine Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank. Er setzte sich Horton gegenüber.
»Ich habe gehört, daß Sie bald starten wollen«, sag te Horton. »Das Schiff ist fast fertig, nicht wahr?« Blake nickte und schenkte zwei Gläser voll. »Das Schiff ist mir noch ein Rätsel«, gab er zu. »Keine Besatzung. Nur ich allein an Bord. Vollauto matisch. Und alles in nur einem Jahr ...« »Oh, nicht in einem Jahr«, widersprach Horton. »Hat Ihnen niemand erklärt ...« Blake schüttelte den Kopf. »Ich kenne nur die tech nischen Einzelheiten, die ich wissen muß, um das Schiff steuern und darin leben zu können. Ich habe natürlich gefragt, aber keine Antwort bekommen.« »Aha, wieder das alte Spiel«, meinte Horton ver ständnisvoll. »Ein Überbleibsel aus alten Tagen. Dienstwege und so weiter, nehme ich an. Und wahr scheinlich ihre längst überholten Sicherheitsvorschrif ten.« Er bewegte den Cognac in seinem Glas und warf Blake einen nachdenklichen Blick zu. »Sie kön nen unbesorgt mit dem Schiff starten. Es ist keine Fal le, wie Sie vielleicht denken. Verlassen Sie sich dar auf, es funktioniert einwandfrei.« »Das freut mich«, sagte Blake nur. »Dieses Schiff ist nicht gebaut werden, sondern beinahe selbst gewachsen«, erklärte Horton. »Es ist vor mehr als vierzig Jahren auf den Reißbrettern der Konstrukteure entstanden und immer wieder um konstruiert worden. Es ist bereits unzählige Male ge
testet worden, denn es sollte das perfekte Raumschiff werden. Es hat Milliarden gekostet und war eigent lich immer fast fertig, weil die sogenannten Verbesse rungen keine mehr waren. Dieses Schiff bleibt unend lich lange betriebsbereit, und ein Mensch wie Sie kann unbegrenzt lange darin leben und seine Aufga be erfüllen.« Blake runzelte die Stirn. »Richtig – aber warum sollte er sich die Mühe machen?« »Mühe? Das verstehe ich nicht.« »Sie haben natürlich recht. Das seltsame Wesen, dessen ein Drittel ich bin, kann mit diesem Schiff durchs Universum streifen. Aber was versprechen Sie sich davon? Was hat die Menschheit davon? Glauben Sie etwa, wir würden eines Tages zurückkommen und unser neuerworbenes Wissen vor den Menschen ausbreiten?« »Vielleicht ist das der Hintergedanke«, antwortete Horton. »Vielleicht tun Sie es sogar. Vielleicht sind Sie menschlich genug, um zurückzukommen.« »Das bezweifle ich«, sagte Blake. »Nun, darüber brauchen wir nicht zu sprechen«, meinte Horton. »Wir sind uns darüber im klaren, daß Ihre Arbeit sehr lange dauern wird, und die Mensch heit ist nicht so dumm, sich etwa einzubilden, sie werde ewig bestehen. Bis Sie Ihre Antwort gefunden haben, gibt es vielleicht keine Menschen mehr.«
Blake nickte langsam. »Haben Sie auch daran gedacht, daß die Mensch heit Ihnen vielleicht diese Möglichkeit gibt, obwohl sie genau weiß, daß sie selbst nie davon profitieren wird?« fuhr Horton fort. »Vielleicht handelt sie in dem Bewußtsein, daß Ihre Antwort einer anderen Rasse intelligenter Lebewesen nützlich sein könnte.« »Daran habe ich noch nicht gedacht«, gab Blake zu, »und ich kann nicht recht daran glauben.« »Sie sind ziemlich verbittert, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht«, sagte Blake. »Ich weiß nicht, was ich fühle. Ich bin ein Mensch, der nach Hause kommt und nicht bleiben darf, sondern fast augen blicklich fortgeschickt wird.« »Sie müssen natürlich nicht fort. Ich dachte, Sie wollten fort. Aber wenn Sie bleiben wollen ...« »Wozu?« rief Blake aus. »Um mir mein Leben von Beamten vorschreiben zu lassen? Um überall ange starrt zu werden? Um Dummköpfen Gelegenheit zu geben, vor meinem Käfig niederzuknien, wie sie es in Willow Grove getan haben?« »Ganz recht«, stimmte Horton zu. »Draußen im All haben Sie wenigstens eine Aufgabe ...« »Noch etwas«, warf Blake ein. »Woher wissen Sie soviel über mich? Wie haben Sie das alles herausbe kommen?« »Unsere Wissenschaftler sind nicht gerade auf den
Kopf gefallen«, antwortete Horton. »Aber ohne die Brownies hätten wir des Rätsels Lösung erst später gefunden.« Ah, schon wieder die Brownies, dachte Blake. »Sie waren sehr an Ihnen interessiert«, sagte Hor ton. »Sie interessieren sich offenbar für alle Lebewe sen – sogar Menschen. Man könnte sie als Psycholo gen bezeichnen, aber ihre Fähigkeiten gehen weit über unsere Psychologie hinaus.« »Ich war natürlich nicht interessant«, meinte Blake. »Nicht als Andrew Blake.« »Richtig, denn Andrew Blake war für sie nur ein gewöhnlicher Mensch. Aber sie sind oft bei Denker gewesen und haben ihn stundenlang beobachtet. Ich vermute allerdings, daß sie ihn nicht nur beobachtet haben ...« »Menschen und Brownies haben also gemeinsam das Rätsel gelöst?« »Nicht vollständig«, gab Horton zu. »Aber wir wis sen seitdem, welche Fähigkeiten Sie besitzen und was Sie damit tun können. Uns ist klar, daß diese Fähig keiten nicht ungenutzt bleiben dürfen. Sie mußten Gelegenheit erhalten, sie entsprechend anzuwenden. Und wir vermuteten, daß Sie diese Fähigkeiten nicht auf der Erde einsetzen können. Deshalb hat sich die Raumfahrtbehörde entschlossen, Ihnen das Schiff zu überlassen.«
»Das ist also der wahre Kern der Sache«, sagte Bla ke. »Ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Ob es mir paßt oder nicht – ich habe einen Auftrag zu erfüllen.« »Sie können natürlich ablehnen«, stellte Horton fest. »Ich habe mich nicht für diesen Auftrag gemeldet.« »Ganz recht«, stimmte Horton zu, »das haben Sie nicht. Aber ich kann mir vorstellen, daß Sie der Um fang dieser Aufgabe befriedigt.« Sie saßen einander schweigend gegenüber. Beiden war unbehaglich zumute, seitdem ihr Gespräch diese Richtung genommen hatte. Horton leerte sein Glas und stellte es auf den Couchtisch. Blake griff nach der Flasche. Horton schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, ich muß bald gehen. Nur noch eine letzte Frage: Was erwarten Sie dort draußen zu finden? Was wissen Sie bereits?« »Was wir erwarten, kann ich nicht sagen«, antwor tete Blake. »Was wir wissen, ist nicht leicht zu erklä ren – unzählige Einzelheiten, die zusammen ein Nichts ergeben.« »Kein Hinweis? Keine Ahnung, wie das Endergeb nis aussehen könnte?« erkundigte Horton sich ge spannt. »Es gibt einen Hinweis. Es ist nicht allzu deutlich, aber trotzdem klar genug. Es gibt einen Universal geist.«
»Sie meinen einen Geist, der das Universum lenkt? Der auf alle notwendigen Knöpfe drückt?« »Vielleicht«, sagte Blake. »Vielleicht so ähnlich.« Horton seufzte. »Oh, mein Gott!« flüsterte er. »Richtig – oh, mein Gott«, wiederholte Blake mit einem fast spöttischen Lächeln. Horton erhob sich schwerfällig. »Ich muß jetzt ge hen«, sagte er. »Nochmals vielen Dank für den Co gnac.« »Senator«, sagte Blake, »ich habe Elaine einen Brief geschrieben und keine Antwort bekommen. Sie mel det sich auch nicht, wenn ich sie anrufen will.« »Ja, das weiß ich.« »Ich muß mit ihr sprechen, bevor ich starte. Ich bin ihr eine Erklärung schuldig und ...« »Mister Blake«, unterbrach Horton ihn, »meine Tochter hat nicht die Absicht, mit Ihnen zu sprechen oder Sie gar zu besuchen.« Blake stand langsam auf. »Warum nicht? Können Sie mir den Grund nennen?« »Der Grund müßte selbst Ihnen klar sein, nehme ich an«, sagte Horton und ging zur Tür.
32
Draußen sank die Abenddämmerung herab, aber Bla ke saß noch immer unbeweglich auf der Couch und dachte über die unfaßbare Tatsache nach, daß Elaine Horton nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Dabei war es die Erinnerung an ihr Gesicht gewesen, die end lich bewirkt hatte, daß er aus der Dunkelheit zum Le ben aufgetaucht war! Aber wenn der Senator recht hat te, war diese Anstrengung vergebens gewesen, und er hätte Denker nicht zu stören brauchen. Aber hatte der Senator die Wahrheit gesagt? War er nicht wütend auf Blake, dessen Fall den Ausgang des Volksentscheids beeinflußt hatte? Wollte er sich da durch für seine Enttäuschung rächen? Das war kaum wahrscheinlich, denn der Senator war Politiker genug, um zu erkennen, daß er ein ris kantes Projekt unterstützt hatte. Und sein Auftreten war eigenartig gewesen. Zu Anfang war Horton lie benswürdig und unbekümmert gewesen, als sei der Volksentscheid nicht weiter wichtig; später war er plötzlich abweisend und kalt gewesen, als habe er ei ne Rolle gespielt. Aber das war undenkbar ... Du hältst dich ausgezeichnet, sagte Denker. Du raufst dir nicht die Haare, knirschst nicht mit den Zähnen und jammerst nicht laut.
Ruhe! knurrte Sucher. Laß ihn in Ruhe. Aber ich wollte ihm ein Kompliment machen, er klärte Denker. Er geht das Problem ganz nüchtern an, ohne sich von Gefühlen beeinflussen zu lassen, und das ist die einzige Möglichkeit. Denker seufzte innerlich. Ich muß allerdings zugeben, fuhr er fort, daß mir die Bedeutung des Problems nicht völlig klar ist. Laß dich nicht von ihm beeinflussen, sagte Sucher zu Blake. Mir ist alles recht. Meinetwegen können wir noch eine Weile auf diesem Planeten bleiben. Das hal ten wir aus. Oh, natürlich, warf Denker ein. Das wäre kein Pro blem. Was bedeutet schon eine menschliche Lebensspanne? Du würdest doch nicht länger bleiben wol len, oder? »Soll ich das Licht einschalten, Sir?« fragte das Zimmer. »Nein«, sagte Blake. »Noch nicht.« »Aber es wird dunkel, Sir.« »Mir gefällt es so«, sagte Blake. »Möchten Sie das Abendessen?« »Danke, später.« »Die Küche könnte einige Sandwiches heraufschik ken«, meinte das Zimmer. »Später«, wiederholte Blake. »Ich habe noch keinen Hunger.«
Sie hatten gesagt, er dürfe selbstverständlich auf der Erde bleiben, falls er versuchen wolle, wieder ein Mensch zu werden. Aber welchen Sinn konnte das haben? Warum versuchst du es nicht? fragte Sucher. Viel leicht überlegt sie sich die Sache anders. Das bezweifle ich, sagte Blake mutlos. Ein Summer ertönte. »Das Visorphon, Sir«, sagte das Zimmer. Blake setzte sich davor und schaltete das Gerät ein. Der Bildschirm blieb dunkel, und eine Frauenstimme sagte: »Dieser Anruf erfolgt ohne Bildübertragung. Nehmen Sie ihn trotzdem entgegen, Sir?« »Ja«, antwortete Blake. »Hier spricht Theodore Roberts' Verstand«, sagte eine mechanisch blecherne Stimme. »Sie sind Andrew Blake, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Blake. »Wie geht es Ihnen, Doktor Roberts?« »Gut. Wie sonst?« »Tut mir leid, das habe ich vergessen.« »Da Sie sich nicht gemeldet haben, wollte ich Ver bindung mit Ihnen aufnehmen. Ich finde, daß wir miteinander sprechen müssen. Sie starten bald, habe ich gehört.« »Das Schiff ist fast fertig«, erklärte Blake ihm. »Sie werden viel sehen und lernen.«
»Richtig«, sagte Blake. »Alle drei?« »Wir drei«, stimmte Blake zu. »Darüber habe ich oft nachgedacht, seitdem ich von diesen besonderen Umständen erfahren habe«, fuhr der Verstand von Theodore Roberts fort. »Eines Tages kommt es natürlich zu einer Verschmelzung dieser drei.« »Das glaube ich auch«, sagte Blake, »aber es wird lange dauern.« »Die Zeit bedeutet uns nichts«, stellte die mechani sche Stimme fest. »Sie besitzen einen Körper, der nur durch Gewalteinwirkung sterben kann. Ich habe kei nen Körper und bin deshalb in dieser Beziehung nicht gefährdet. Ich kann nur durch ein technisches Versagen sterben. Auch die Erde bedeutet nichts. Machen Sie sich rechtzeitig mit diesem Gedanken vertraut. Die Erde ist nur ein unwichtiger Punkt des Universums. Es gibt überhaupt wenig, was eine Rolle spielt, und schließlich bleibt nur die Intelligenz übrig. Wenn Sie den gemeinsamen Nenner des Universums suchen, müssen Sie nach Intelligenz Ausschau halten. Alles andere ist unwichtig.« »Aber Intelligenz allein ...«, begann Blake und sprach nicht weiter. »Was wollten Sie sagen?«
»Ich nehme an«, fuhr Blake fort, ohne auf die Frage zu achten, »daß Sie mir das alles erzählen, weil ...« »Ich erzähle es Ihnen«, sagte Theodore Roberts, »weil ich mir vorstellen kann, wie sehr Sie leiden und wie verwirrt Sie sind. Und da Sie ein Teil meiner selbst ...« »Ich bin kein Teil von Ihnen«, widersprach Blake. »Sie haben mir vor zweihundert Jahren Ihren Verstand gegeben. Aber dieser Verstand hat sich ver ändert und ist nicht mehr Ihrer.« »Ich dachte ...«, begann Theodore Roberts. »Ich weiß«, unterbrach Blake ihn, »aber es hat kei nen Zweck. Ich muß selbständig werden und auf ei genen Beinen stehen. Mir bleibt keine andere Wahl. Ich kann mich nicht zerreißen, um jedem das zu ge ben, was ihm zusteht, weil er an meiner Herstellung beteiligt war.« Er machte eine Pause und fügte dann rasch hinzu: »Das hätte ich vielleicht nicht sagen dür fen. Hoffentlich sind Sie mir deswegen nicht böse.« »Nein, eher dankbar«, versicherte Theodore Ro berts ihm. »Jetzt brauche ich mich nicht mehr zu fra gen, ob meine Überzeugungen und Vorurteile Ihnen schaden könnten. Aber ich wollte Ihnen eigentlich etwas anderes mitteilen: Es hat einen zweiten synthe tischen Menschen gegeben, der ebenfalls mit einem Schiff startete ...« »Ja, das weiß ich«, sagte Blake. »Ich wüßte gern ... Was können Sie mir von ihm erzählen?«
»Er ist zurückgekommen«, fuhr Theodore Roberts fort. »Er ist wie Sie zurückgebracht worden ...« »Sie meinen im Kälteschlaf?« »Ja. Das Schiff kam wenige Jahre nach dem Start zurück. Die Mannschaft war erschrocken und ...« »Meine Rückkehr war also keine große Überra schung?« fragte Blake. »Doch, denn niemand hat Sie mit diesem Ereignis in Verbindung gebracht. Selbst die Raumfahrtbehör de scheint sich nicht darüber im klaren gewesen zu sein. Jedenfalls wurde der Verdacht erst laut, als Sie verschwunden waren.« »Und dieser andere? Ist er noch auf der Erde?« »Das kann ich nicht sagen«, antwortete Theodore Roberts. »Ich weiß nur, daß er verschwunden ist ...« »Verschwunden! Sie haben ihn ermordet!« »Ich weiß es nicht.« »Sie müssen es wissen!« rief Blake. »Rücken Sie damit heraus! Ist er im Hauptquartier der Raum fahrtbehörde?« »Nein, er ist nicht mehr dort«, erklärte Theodore Roberts ihm. »Seit wann nicht mehr?« »Seit mehreren Jahren – noch bevor Sie zurückge bracht wurden.« »Woher wissen Sie das? Wer hat Ihnen ...« »Hier sind Tausende von Gehirnen, mit denen ich
in Verbindung stehe«, antwortete Theodore Roberts. »Was eines weiß, wissen alle. Dadurch entgeht einem nicht viel.« Blake senkte enttäuscht den Kopf. »Wissen Sie das bestimmt?« fragte er leise. »Ganz bestimmt«, sagte Theodore Roberts. Nach einer kurzen Pause fragte er: »Verlassen Sie die Erde wieder? Haben Sie sich dazu entschlossen?« »Ja«, antwortete Blake knapp. Er wußte, daß er hier nichts mehr zu suchen hatte. Wenn der andere Mann verschwunden war, brauchte auch er nicht länger zu bleiben. Elaine Horton wei gerte sich, mit ihm zu sprechen, und ihr Vater, der früher so entgegenkommend gewesen war, hatte sich steif und förmlich verabschiedet, und Theodore Ro berts war nur eine blecherne Stimme ohne Körper. »Wenn Sie zurückkommen, bin ich noch immer hier«, sagte Theodore Roberts. »Rufen Sie mich dann bitte an? Kann ich mir darauf verlassen?« Wenn ich zurückkomme, dachte Blake. Wenn du dann noch existierst. Wenn hier überhaupt noch je mand lebt. Wenn sich die Rückkehr zur Erde lohnt. »Ja«, versprach er. »Ja, ich rufe Sie natürlich an.« Er legte einen Schalter um und trennte die Verbin dung. Dann saß er noch lange in der Dunkelheit.
33
Die Erde war hinter ihm zurückgeblieben. Die Sonne wurde kleiner. Das Schiff beschleunigte gleichmäßig und würde bald den Punkt erreichen, an dem sich die Farbe und die Bahnen der Sterne zu ändern schienen, weil das Schiff mit Überlichtgeschwindigkeit flog. Blake saß im Kontrollraum und starrte ins All hin aus. Hier war es so ruhig, so ruhig und friedlich – die Leere zwischen den Sternen wirkte beruhigend auf ihn. Er würde jedoch bald aufstehen und einen Rundgang durchs Schiff machen, um sich davon zu überzeugen, daß alles in Ordnung war, obwohl er wußte, daß er keinen Grund zur Beanstandung haben würde. Dieses Schiff mußte einfach reibungslos funk tionieren. Zurück nach Hause, sagte Sucher in ihm. Wieder nach Hause zurück. Aber nicht lange, antwortete Blake. Nur lange ge nug, um die Informationen aufzunehmen, die du noch nicht erfaßt hast, weil die Zeit zu kurz war. Dann fliegen wir weiter, damit du auch andere Sterne erreichst. Und weiter und weiter, überlegte er, von einem Stern zum anderen, damit Denker neues Material zur Auswertung bekommt. Und was steht am Ende? frag
te er sich. Vielleicht die Antwort, die wir bisher ver gebens suchen? Sucher hat unrecht, sagte Denker. Wir haben kein Zuhause. Wir können kein Zuhause haben. Wechsler hat das gemerkt. Im Laufe der Zeit werden wir er kennen, daß wir kein Zuhause brauchen. Das Schiff ist dann unser Zuhause, warf Blake ein. Nicht das Schiff, widersprach Denker. Eher das Uni versum, wenn es unbedingt ein Zuhause geben muß. Das All ist unser Zuhause. Das gesamte Universum. Und das, dachte Blake, war vielleicht die Essenz dessen was Theodore Roberts ihm zu erklären ver sucht hatte. Die Erde ist nur ein Punkt im Raum, hat te er gesagt. Das traf selbstverständlich auch auf alle übrigen Planeten und Sterne zu – nur zusammenge ballte Materie und Energie. Intelligenz, hatte Roberts gesagt; nicht Leben oder Materie oder Energie son dern Intelligenz, ohne die alles andere bedeutungslos bleiben mußte. Trotzdem wäre es gut, in all dieser Leere einen Punkt zu wissen, an dem man zu Hause ist, überlegte er sich – einen Ausgangspunkt, zu dem man eines Tages nach langer Reise zurückkehren kann. Er saß in seinem Sessel, starrte ins All hinaus und erinnerte sich an jenen Augenblick in der Friedhofs kapelle, in dem er zum erstenmal seine Heimatlosig keit gespürt hatte – daß er weder auf der Erde noch
sonstwo zu Hause war, daß er nie zur Erde gehören würde, obwohl er von ihr stammte, und daß er nie ein vollwertiger Mensch sein würde, obwohl er die Gestalt eines Menschen besaß. Aber er erkannte jetzt auch, daß ihm dieser Augenblick gezeigt hatte, daß er in Zukunft nie wieder einsam sein würde. Er hatte seine beiden Freunde, und er hatte sogar noch mehr. Ihm gehörte das gesamte Universum mit allen Ideen, die es je hervorgebracht hatte. Die Erde hätte meine Heimat sein können, dachte er; vielleicht wird sie es eines Tages noch. Aber die Erde war nur ein winziger Punkt im Raum, und der Mann des Universums mußte sich damit abfinden, sein Leben zwischen den Sternen zu verbringen. Er hörte leise Schritte hinter sich, sprang auf und drehte sich um. Elaine Horton stand in der Tür des Kontrollraumes. Er trat rasch einen Schritt vor und blieb dann wie der stehen. »Nein!« rief er laut. »Nein! Du weißt nicht, was du tust!« Ein blinder Passagier, dachte er – ein sterblicher Mensch an Bord eines unsterblichen Schiffes. Aber sie hatte sich doch geweigert, mit ihm zu sprechen; sie hatte ... »Doch, ich weiß, was ich tue«, antwortete Elaine lä chelnd. »Ich gehöre hierher.«
»Ein Androide«, murmelte er vor sich hin. »Ein nachgeahmter Mensch, der mich bei guter Laune hal ten soll. Während die wirkliche Elaine Horton ...« »Andrew«, sagte sie, »ich bin Elaine.« Er starrte ihr ins Gesicht, und dann lag sie plötzlich in seinen Armen, und er war glücklich, bis sich eine nüchterne Überlegung durchsetzte. »Aber das ist doch unmöglich!« rief er. »Das darfst du nicht! Ist dir nicht klar, worauf du dich einläßt? Ich bin kein Mensch. Ich sehe manchmal anders aus. Ich verwandle mich in andere Dinge.« Elaine hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Das weiß ich natürlich«, antwortete sie. »Nur du scheinst etwas nicht zu wissen. Ich bin der andere. Der andere von uns.« »Es hat einen zweiten Androiden gegeben«, meinte er verständnislos. »Einen anderen, der ...« »Keinen zweiten Mann. Eine Frau. Der andere war eine Frau.« Das hätte ich ahnen müssen, dachte er. Theodore Ro berts hatte von einem anderen Menschen gesprochen ... »Aber Horton?« fragte er. »Du bist Hortons Toch ter.« Sie schüttelte den Kopf. »Es hat eine Elaine Horton gegeben, aber sie ist schon lange tot. Sie hat Selbst mord begangen. Ein schrecklicher Skandal, der die Karriere des Senators ruiniert hätte.«
»Und du ...« »Ganz recht. Ich wußte natürlich nichts davon. Der Senator war auf meine Spur gestoßen, als er das Pro jekt Werwolf ausgrub. Schon damals war ihm die Ähnlichkeit zwischen mir und seiner Tochter aufge fallen. Damals lag ich natürlich seit Jahren im Kälteschlaf. Wir waren böse Kinder, Andrew. Wir sind nicht so geworden, wie unsere Konstrukteure es ge plant hatten.« »Ich weiß«, sagte er. »Eigentlich bin ich sogar froh darüber. Du hast also von Anfang an gewußt ...« »Erst seit einiger Zeit«, verbesserte sie ihn. »Der Senator konnte die Raumfahrtbehörde erpressen, die ängstlich darauf bedacht war, das Projekt Werwolf geheimzuhalten. Als er nach dem Selbstmord seiner Tochter mich als Ersatz verlangte, um seine Karriere zu retten, stieß er kaum auf Widerstand. Ich habe mir eingebildet, seine Tochter zu sein. Ich habe ihn als Vater geliebt. Offenbar bin ich zuvor einer Gehirnwä sche unterzogen worden, denn ich habe nie daran ge zweifelt, seine Tochter zu sein.« »Er muß erstaunlich großen Einfluß gehabt haben«, meinte Blake nachdenklich. »Dieser Tausch war be stimmt nicht einfach und ...« »Er hat sich nie von Schwierigkeiten abhalten las sen«, warf Elaine ein. »Er war ein guter Vater – aber als Politiker war er brutal und rücksichtslos.«
»Du hast ihn verehrt.« Elaine nickte. »Richtig, Andrew. In vieler Bezie hung ist er für mich noch immer mein Vater. Wir können uns beide nicht vorstellen, welche Überwin dung es ihn gekostet haben muß, mir die Wahrheit zu gestehen.« »Und du?« fragte er. »Es hat dich auch etwas geko stet.« »Ich konnte nicht bleiben, weißt du«, antwortete sie. »Als ich die Wahrheit erfahren hatte, stand mein Entschluß bereits fest. Ich wäre wie du als eine Art Mißgeburt oder Ungeheuer betrachtet worden. Und was wäre später aus mir geworden? Ich hätte den Se nator um Jahrhunderte überlebt ...« Er nickte und stellte sich vor, wie sie mit Horton über dieses Problem gesprochen hatte. »Außerdem gehöre ich zu dir«, fuhr Elaine fort. »Das habe ich gleich gewußt – schon damals, als du nachts durchnäßt und frierend in unser Haus ge kommen bist.« »Der Senator hat mir aber gesagt ...« »Daß ich dich nicht sehen wollte, daß ich nicht mit dir sprechen wollte, nicht wahr?« »Warum?« fragte er verständnislos. »Warum?« »Sie wollten dich in ihrem Sinn beeinflussen«, er klärte Elaine ihm. »Sie fürchteten alle, du würdest nicht mit dem Schiff starten wollen, sondern lieber
auf der Erde bleiben. Deshalb solltest du glauben, die Erde habe dir nichts mehr zu bieten. Der Senator, der Verstand von Theodore Roberts und alle anderen ha ben dazu beigetragen. Wir mußten einfach starten, weißt du. Wir sind Werkzeuge der Erde, das Ge schenk der Erde für das Universum. Wenn die Intel ligenzen des Universums jemals herausbekommen, was geschieht, was geschehen ist, was geschehen wird und was alles zu bedeuten hat, können wir viel leicht dazu beitragen.« »Wir gehören also der Erde? Die Erde beansprucht uns noch als ihr Eigentum ...« »Natürlich«, sagte Elaine. »Seitdem die Menschen von unserer Aufgabe wissen, ist die Erde stolz auf uns.« Er hielt sie in den Armen und wußte, daß die Erde endlich für immer seine Heimat war. Daß die Menschheit sie überallhin begleiten würde, denn sie waren Organe der Menschheit, Hand und Geist der Menschheit, die nach den Geheimnissen der Ewigkeit griffen.