Moderne deutsche Strafrechtsdenker
Thomas Vormbaum (Hrsg.)
Moderne deutsche Strafrechtsdenker
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Herausgeber Professor Dr. Dr. Thomas Vormbaum FernUniversität in Hagen Rechtswissenschaftliche Fakultät Institut für Juristische Zeitgeschichte Universitätsstraße 21 58097 Hagen Deutschland
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ISBN 978-3-642-17199-4 e-ISBN 978-3-642-17200-7 DOI 10.1007/978-3-642-17200-7 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort Diese Textsammlung, deren Auswahlkriterien in der Einführung erläutert werden, enthält wichtige strafrechtstheoretische Texte der modernen Rechtsepoche, also von der Zeit der Aufklärung bis zur Gegenwart. Sie deckt damit denselben Zeitraum ab wie das im selben Verlag soeben in zweiter Auflage erschienene Lehrbuch „Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte“, kann aber auch ohne dessen Kenntnis benutzt werden. Die im Anhang gegebenen Hinweise sollen vor allem studentischen Lesern zusammen mit dem Text eine erste Orientierung für die Anfertigung von einschlägigen Seminarreferaten geben. Der Herausgeber plant, diese Sammlung deutscher Strafrechtsdenker demnächst durch weitere Bände mit Strafrechtsdenkern anderer Länder zu ergänzen. Hagen, im November 2010
Thomas Vormbaum
Inhaltsverzeichnis Vorwort..................................................................................................................V Einführung ............................................................................................................ 1 WILHELM VON HUMBOLDT Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792).......................................................................... 5 JOHANN GOTTLIEB FICHTE Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796/97) ..................................................................... 19 IMMANUEL KANT Metaphysik der Sitten. Rechtslehre (1797)....................................................... 36 KARL GROLMAN 1. Über die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung (1799) ................................................................ 47 2. Sollte es denn wirklich kein Zwangsrecht zur Prävention geben? (1800) ....................................................................... 61 ERNST FERDINAND KLEIN Ueber die Natur und den Zweck der Strafe (1799) ........................................... 69 PAUL JOHANN ANSELM FEUERBACH 1. Ueber die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen Beleidigungen des Verbrechers (1800)......................................................... 82 2. Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (zuerst 1801) 14. Auflage (1847) mit Anmerkungen und Zusatzparagraphen von C.J.A. Mittermaier.................... 99 ARTHUR SCHOPENHAUER 1. Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band (1818)............................ 110 2. Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band (1844)......................... 113 3. Über die Freiheit des Willens (1839) .......................................................... 114 CARL JOSEF ANTON MITTERMAIER Über die Grundfehler der Behandlung des Kriminalrechts (1819).................... 122
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GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821).............................................. 137 JOHANN MICHAEL FRANZ BIRNBAUM Über das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens (1834) ............................................................ 148 KARL MARX Debatten über das preußische Holzdiebstahlsgesetz (1842) ........................... 155 CHRISTIAN REINHOLD KÖSTLIN System des deutschen Strafrechts (1855)........................................................ 165 KARL BINDING Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft (1877/1915)............... 179 RUDOLF VON JHERING Der Zweck im Recht (1877)............................................................................ 199 FRANZ VON LISZT 1. Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882/83)............................................... 211 2. Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe (1893)............................... 224 FRIEDRICH NIETZSCHE Zur Genealogie der Moral (1887) ................................................................... 238 ADOLF MERKEL Vergeltungsidee und Zweckgedanke im Strafrecht (1892)............................. 248 KARL BIRKMEYER Schutzstrafe und Vergeltungsstrafe (1906)..................................................... 265 GUSTAV RADBRUCH Rechtsphilosophie (1932) ............................................................................... 275 FRIEDRICH SCHAFFSTEIN Das Verbrechen eine Rechtsgutsverletzung? (1935)....................................... 284 HANS WELZEL Über den substantiellen Begriff des Strafrechts (1944) .................................. 291 ULRICH KLUG Abschied von Kant und Hegel (1968)............................................................. 300
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CLAUS ROXIN Kriminalpolitik und Strafrechtssystem (1973)................................................ 305 GÜNTHER JAKOBS Strafrecht Allgemeiner Teil (2. Auflage) (1991) ............................................ 330
Erläuterungen und weiterführende Hinweise ................................................ 351 a) Allgemeine Literatur; Abkürzungen ........................................................... 351 b) Hinweise zu den einzelnen Texten ............................................................. 356 Wilhelm von Humboldt .............................................................................. 356 Immanuel Kant ........................................................................................... 356 Johann Gottlieb Fichte ................................................................................ 359 Ernst Ferdinand Klein ................................................................................. 359 Karl Grolman .............................................................................................. 360 Paul Johann Anselm Feuerbach .................................................................. 361 Carl Joseph Anton Mittermaier................................................................... 363 Georg Wilhelm Friedrich Hegel ................................................................. 364 Arthur Schopenhauer .................................................................................. 366 Johann Michael Franz Birnbaum ................................................................ 366 Karl Marx .................................................................................................. 367 Christian Reinhold Köstlin ......................................................................... 368 Karl Binding ............................................................................................... 368 Rudolf von Jhering...................................................................................... 369 Franz von Liszt ........................................................................................... 369 Friedrich Nietzsche ..................................................................................... 371 Adolf Merkel............................................................................................... 372 Karl Birkmeyer ........................................................................................... 373 Gustav Radbruch......................................................................................... 373 Friedrich Schaffstein................................................................................... 374 Hans Welzel................................................................................................ 375 Ulrich Klug ................................................................................................. 376 Claus Roxin................................................................................................. 377 Günther Jakobs ........................................................................................... 377 Nachweise .......................................................................................................... 379
Einführung 1. Zielsetzung und Inhalt Die Textsammlung will nicht die Zahl der rechtsgeschichtlichen und strafrechtsgeschichtlichen Lehr- und Quellenbücher1 vermehren; sie versteht sich vielmehr als ein ergänzendes Hilfsmittel. Ihr Anliegen ist es, viel zitierte, aber wenig gelesene strafrechtstheoretische Texte2 rechtshistorisch Interessierten, vor allem einem studentischen Leserkreis, zugänglich zu machen. Sie soll nicht eine Zusammenstellung didaktisch ausgewählter, nach Sachproblemen gegliederter Textsplitter sein, sondern ein rechtshistorisches Textbuch, das die Autoren mit möglichst langen, zusammenhängenden Passagen zu Worte kommen lässt3. Die Sammlung bietet Texte zur Strafrechtstheorie. Nicht in die Sammlung aufgenommen sind daher Texte, die nach heutiger Kategorisierung als strafrechtsdogmatische oder als kriminalitätstheoretische zu bezeichnen wären. Daher fehlen zum Beispiel trotz ihrer strafrechtsgeschichtlichen Bedeutung Texte der biologischen, anthropologischen, soziologischen, psychologischen, sozialpsychologischen und tiefenpsychologischen Kriminalitätstheorien4. Im Mittelpunkt stehen Texte mit Aussagen über Herkunft, Begriff, Rechtfertigung und Zweck(e) der Strafe, über Inhalt und Umfang der staatlichen Strafgewalt (Rechtsverletzung, Rechtsgutverletzung, Pflichtverletzung, materieller und formeller Verbrechensbegriff), und über die mit ihnen zusammenhängenden und aus ihnen folgenden Einzelprobleme, vor allem die der Willensfreiheit und der Todesstrafe. Angesichts der bis heute ungebrochenen Bedeutung dieser Problemkreise erschien die thematische Begrenzung vertretbar. Die Sammlung enthält Texte von persönlichen Autoren. Es fehlen daher Gesetzesmaterialien, Gesetzestexte und Gerichtsentscheidungen. Textauszüge aus der Peinlichen Gerichtsordnung von 1532, dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 und dem Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 wird man daher ebenso 1
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Zu nennen sind aus dem strafrechtsgeschichtlichen Bereich vor allem: Eb. Schmidt, Rüping, Sellert / Rüping (nähere Angaben bei den allgemeinen Literaturangaben auf S. 351 ff.); aus dem privatrechtsgeschichtlichen Bereich: H. Hattenhauer / A. Buschmann, Textbuch zur Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. München 1967; aus dem verfassungsgeschichtlichen Bereich: G. Dürig / W. Rudolf, Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, vornehmlich für den Studiengebrauch. 2. Auflage. München 1979. Beim Abschreiben der Texte waren mir meine Kinder Sarah und Moritz behilflich, denen ich hierfür herzlich danke. Hervorgegangen die Textsammlung aus der (inzwischen vergriffenen) zweibändigen broschierten Textsammlung „Texte zur Strafrechtstheorie der Neuzeit“ (1993). Sie ist 1998 unter dem Titel „Strafrechtsdenker der Neuzeit“ auch in einer einbändigen Hardcover-Ausgabe erschienen; die weiterhin im Berliner Wissenschaftsverlag erhältlich ist. Eingehend über sie U. Neumann / U. Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe. (Erträge der Forschung. 134). Darmstadt 1980, insb. S. 56 ff.
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vergeblich suchen wie solche aus dem für die herrschende Strafrechtsauffassung der Fünfzigerjahre unseres Jahrhunderts repräsentativen Strafgesetzbuch-Entwurf von 1962 und dem für den nachfolgenden Zeitabschnitt charakteristischen Alternativentwurf von 19665.
2. Textauswahl Da die Textsammlung das vorhandene strafrechtsgeschichtliche Material abrunden möchte, folgt die Auswahl der Autoren und Texte (äußere Textauswahl) traditionellen Kriterien. In jüngerer Zeit neu oder erneut entdeckte Autoren6 fehlen daher. Dass die mit Texten vertretenen Autoren zu den Klassikern der Strafrechtsgeschichte zählen, dürfte in kaum einem Fall streitig sein. Trefflich streiten lässt sich freilich darüber, ob nicht manchem anderen Autor dieser Titel mit größerem Recht beizulegen gewesen wäre als manchem der berücksichtigten Autoren7. Insoweit hat letztlich die subjektive Sicht des Herausgebers den Ausschlag für Aufnahme und Nichtaufnahme gegeben. Insgesamt ist in Zweifelsfällen mehr Gewicht auf die historische als auf die theoretisch-dogmatische Bedeutung von Text und Autor gelegt worden; Texten und Autoren, die für die Strafrechtsentwicklung symptomatisch oder folgenreich gewesen sind, ist demnach der Vorzug vor denkerischen Schwergewichten gegeben worden. Das Gesagte gilt auch für philosophische Texte im engeren Sinne. Zwar hat kaum einer der großen Philosophen es sich versagt, zu Verbrechen und Strafe Stellung zu nehmen; unmittelbar wirkungsvoll oder symptomatisch für die Strafrechtsentwicklung sind aber nur wenige von ihnen gewesen. Immerhin sind Kant, Fichte, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche mit Texten vertreten. Die Anordnung der Texte ist chronologisch nach ihrem ersten Erscheinungsdatum. Eine Abweichung von diesem Grundsatz ergibt sich stellenweise dadurch, dass 5
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Ältere Gesetzestexte sind zusammengestellt b. Arno Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit. Die klassischen Gesetze. München 1998. Das Strafgesetzbuch und alle Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen bis 2005 sind zusammengestellt b. Thomas Vormbaum / Jürgen Welp (Hrsg.), Das StGB. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen. 4 Bände und 3 Supplementbände. BadenBaden (später Berlin) 1999–2006; Die Entwürfe zur Reform des Strafgesetzbuchs von 1909 bis 1996 sind zusammengestellt b. Thomas Vormbaum / Kathrin Rentrop (Hrsg.), Reform des StGB. 3 Bde. Berlin 2008. Zu denken ist etwa an Gottfried Achenwall (1719–1772; über ihn H. H. Solf: Gottfried Achenwall – Sein Leben und sein Werk. Ein Beitrag zur Göttinger Gelehrtengeschichte. Göttingen <jur. Diss.> 1938; J. Hruschka: Strafe und Strafrecht bei Achenwall – Zu einer Wurzel von Feuerbachs psychologischer Zwangstheorie, in: JZ 1987, 161–169) und Ernst Gottlob Morgenbesser (1755–1824; über ihn W. Schild: Aufklärerisches Strafrecht als Erziehungsrecht. Gedanken zu E.G. Morgenbessers Anmerkungen zum ALR <1798>, in: ZNR 1982, 26–41. Zu denken ist an Christian Gottlieb Gmelin (1749–1818), Friedrich Christian Theodor Hepp (1800–1851), Karl Theodor Welcker (1790–1869), Julius Friedrich Heinrich Abegg (1796–1868) und Ernst Beling (1866–1932).
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mehrere Texte desselben Autors (ihrerseits chronologisch) im Zusammenhang wiedergegeben sind. Die Auswahl der Textpassagen (innere Textauswahl) richtet sich in erster Linie nach den dargelegten Kriterien der Thematik „Strafrechtstheorie“. Gelegentlich sind zur Abrundung aber auch Passagen zu außerhalb dieses Bereiches liegenden Fragen einbezogen worden, wie etwa Beccarias Auseinandersetzung mit dem Problem der Folter.
3. Technische Hinweise Fußnotenhinweise der Originaltexte sind im allgemeinen nicht aufgenommen worden. Ausnahmen gelten vor allem dort, wo die angegebene Fundstelle in einem anderen Text der Sammlung auffindbar ist oder ihre Aufnahme in die Textsammlung sich hätte rechtfertigen lassen. Als Textvorlagen sind nach Möglichkeit solche Abdrucke gewählt worden, die dem Leser, vor allem dem studentischen Leser, leicht erreichbar sind und ihm damit die Fortsetzung der Lektüre über die gebotenen Textpassagen hinaus ermöglichen. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind aus der jeweiligen Textvorlage übernommen, entsprechen also nicht immer der Ursprungsfassung des Textes. Behutsame Korrekturen sind dort angebracht worden, wo die Zeichensetzung der Vorlage bei Zugrundelegung der heutigen Interpunktionsregeln zu inhaltlichen Missverständnissen führen würde. Klammerzusätze in eckigen Klammern, insbesondere die eingeschobenen Seitenangaben, stammen vom Herausgeber. Auslassungen sind durch Auslassungspunkte in eckigen Klammern angezeigt. Die im Anhang gegebenen Erläuterungen und ergänzenden Hinweise, insbesondere die Literaturhinweise, wollen dem Leser, vor allem dem studentischen Leser, den ersten Einstieg in eine nähere Befassung mit Text und Autor ermöglichen. Mit Hilfe dieser Angaben wird sich der Weg zu speziellerer Literatur leicht finden lassen.
Wilhelm von Humboldt (1767–1835) Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792) VIII. [...] Der Staat (muß) sich schlechterdings alles Bestrebens, direkt oder indirekt auf die Sitten und den Charakter der Nation anders zu wirken, als insofern diess als eine natürliche, [145] von selbst entstehende Folge seiner übrigen schlechterdings nothwendigen Maassregeln unvermeidlich ist, gänzlich enthalten [...], und [...] alles, was diese Absicht beförden kann, vorzüglich alle besondre Aufsicht auf Erziehung, Religionsanstalten, Luxusgesetze u.s.f. (liegt) schlechterdings ausserhalb der Schranken seiner Wirksamkeit. [...]
X. [156] [...] Um für die Sicherheit der Bürger Sorge zu tragen, muss der Staat diejenigen, sich unmittelbar allein auf den Handlenden beziehenden Handlungen verbieten oder einschränken, deren Folgen die Rechte andrer kränken, d.i. ohne oder gegen die Einwilligung derselben ihre Freiheit oder ihren Besiz schmälern, oder von denen diess wahrscheinlich zu besorgen ist, eine Wahrscheinlichkeit, bei welcher allemal auf die Grösse des zu besorgenden Schadens, und auf die Wichtigkeit der durch ein Prohibitivgesez entstehenden Freiheitseinschränkungen zugleich Rücksicht genommen werden muss. Jede weitere, oder aus andren Gesichtspunkten gemachte Beschränkung der Privatfreiheit aber liegt ausserhalb der Gränzen der Wirksamkeit des Staats. [...]
XII. Eine der vorzüglichsten Pflichten des Staats ist die Untersuchung und Entscheidung der rechtlichen Streitigkeiten der Bürger. Derselbe tritt dabei an die Stelle der Partheien, und der eigentliche Zwek seiner Dazwischenkunft besteht allein darin, auf der einen Seite gegen ungerechte Forderungen zu beschüzen, auf der andren gerechten denjenigen Nachdruck zu geben, welchen sie von den Bürgern selbst nur auf eine, die öffentliche Ruhe störenden Weise erhalten könnten. Er muss daher, während der Untersuchung des streitigen Rechts, dem Willen der Partheien, insoferne derselbe nur in dem Rechte gegründet ist, folgen, aber jede, sich widerrechtlicher Mittel gegen die andre zu bedienen, verhindern. Die Entscheidung des streitigen Rechts durch den Richter kann nur durch bestimmte, gesezlich angeordnete Kennzeichen der Wahrheit geschehen. Hieraus entspringt die Nothwendigkeit einer neuen Gattung der Geseze, der- [178] jenigen nämlich, welche den rechtlichen Geschäften gewisse bestimmte Charaktere beizulegen verordnen. Bei der Abfassung dieser nun muss der Gesezgeber einmal immer allein von dem Gesichtspunkt geleitet werden, die Authenticität der rechtlichen Geschäfte gehörig zu sichern, und den Beweis im Prozesse nicht zu sehr zu T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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erschweren; ferner aber unaufhörlich die Vermeidung des entgegengesezten Extrems, der zu grossen Erschwerung der Geschäfte, vor Augen haben, und endlich nie da eine Anordnung treffen wollen, wo dieselbe den Lauf der Geschäfte so gut, als gänzlich hemmen würde.
XIII. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Bestrafung der Uebertretungen der Geseze des Staats. (Kriminalgeseze.) Das lezte, und vielleicht wichtigste Mittel, für die Sicherheit der Bürger Sorge zu tragen, ist die Bestrafung der Uebertretung der Geseze des Staats. Ich muß daher noch auf diesen Gegenstand die im Vorigen entwikkelten Grundsätze anwenden. Die erste Frage nun, welche hierbei entsteht, ist die: welche Handlungen der Staat mit Strafen belegen, gleichsam als Verbrechen aufstellen kann? Die Antwort ist nach dem Vorigen leicht. Denn da der Staat keinen andren Endzwek, als die Sicherheit der Bürger, verfolgen darf; so darf er auch keine andre Handlungen einschränken, als welche diesem Endzwek entgegenlaufen. Diese verdienen auch insgesammt angemessene Bestrafung. Denn nicht bloss, dass ihr Schade, da sie gerade das stören, was dem Menschen zum Genuss, wie zur Ausbildung seiner Kräfte das unentbehrlichste ist, zu wichtig ist, um ihnen nicht durch jedes zweckmässige und erlaubte Mittel entgegenzuarbeiten; so muss auch, schon den ersten Rechtsgrundsäzen nach, jeder sich gefallen lassen, dass die Strafe eben so weit gleichsam in den Kreis seines Rechts eingreife, als sein Verbrechen in den des fremden eingedrungen ist. Hingegen Handlungen, welche sich allein auf den Handlenden beziehen, oder mit Einwilligung dessen geschehen, den sie treffen, zu bestrafen, verbieten eben die [179] Grundsätze, welche dieselben nicht einmal einzuschränken erlauben; und es dürfte daher nicht nur keins der sogenannten fleischlichen Verbrechen (die Nothzucht ausgenommen), die möchten Aergerniss geben oder nicht, unternommener Selbstmord u.s.f. bestraft werden, sondern sogar die Ermordung eines andren mit Bewilligung desselben müsste ungestraft bleiben, wenn nicht in diesem lezteren Falle die zu leichte Möglichkeit eines gefährlichen Misbrauchs ein Strafgesez nothwendig machte. Ausser denjenigen Gesezen, welche unmittelbare Kränkungen der Rechte andrer untersagen, giebt es noch andre verschiedener Gattung, deren theils schon im Vorigen gedacht ist, theils noch erwähnt werden wird. Da jedoch, bei dem, dem Staat allgemein vorgeschriebenen Endzwek, auch diese, nur mittelbar, zur Erreichung jener Absicht hinstreben; so kann auch bei diesen Bestrafung des Staats eintreten, insofern nicht schon ihre Uebertretung allein unmittelbar eine solche mit sich führt wie z.B. die Uebertretung des Verbots der Fideikommisse die Ungültigkeit der gemachten Verfügung. Es ist diess auch um so nothwendiger, als es sonst hier gänzlich an einem Zwangsmittel fehlen würde, dem Geseze Gehorsam zu verschaffen. Von dem Gegenstande der Bestrafung wende ich mich zu der Strafe selbst. Das Maass dieser auch nur in sehr weiten Gränzen vorzuschreiben, nur zu bestimmen, über welchen Grad hinaus dieselbe nie steigen dürfe, halte ich in einem allgemeinen, schlechterdings auf gar keine Lokalverhältnisse bezogenen Raisonnement für unmöglich. Die Strafen müssen Uebel sein, welche die Verbrecher zurükschrekken. Nun aber sind die Grade, wie die Verschiedenheiten des physischen und
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moralischen Gefühls nach der Verschiedenheit der Erdstriche und Zeitalter unendlich verschieden und wechselnd. Was daher in einem gegebenen Falle mit Recht Grausamkeit heisst, das kann in einem andren die Nothwendigkeit selbst erheischen. Nur soviel ist gewiss, dass die Vollkommenheit der Strafen immer – versteht sich jedoch bei gleicher Wirksamkeit – mit dem Grade ihrer Gelindigkeit wächst. Denn nicht bloss, dass [180] gelinde Strafen schon an sich geringere Uebel sind; so leiten sie auch den Menschen auf die, seiner am meisten würdige Weise von Verbrechen ab. Denn je minder sie physisch schmerzhaft und schrecklich sind, desto mehr sind sie es moralisch; da hingegen grosses körperliches Leiden bei dem Leidenden selbst das Gefühl der Schande, bei dem Zuschauer das der Misbilligung vermindert. Daher kommt es denn auch, dass gelinde Strafen in der That viel öfter angewendet werden können, als der erste Anblik zu erlauben scheint, indem sie auf der andren Seite ein ersezendes moralisches Gegengewicht erhalten. Ueberhaupt hängt die Wirksamkeit der Strafen ganz und gar von dem Eindruk ab, welchen dieselben auf das Gemüth der Verbrecher machen, und beinah liesse sich behaupten, dass in einer Reihe gehörig abgestufter Stufen es einerlei sei, bei welcher Stufe man gleichsam, als bei der höchsten, stehen bleibe, da die Wirkung einer Strafe in der That nicht sowohl von ihrer Natur an sich, als von dem Plaze abhängt, den sie in der Stufenleiter der Strafen überhaupt einnimmt, und man leicht das für die höchste Strafe erkennt, was der Staat dafür erklärt. Ich sage beinah, denn völlig würde die Behauptung nur freilich dann richtig sein, wenn die Strafen des Staats die einzigen Uebel wären, welche dem Bürger drohten. Da diess hingegen der Fall nicht ist, vielmehr oft sehr reelle Uebel ihn gerade zu Verbrechen veranlassen; so muss freilich das Maass der höchsten Strafe, und so der Strafen überhaupt, welche diesen Uebeln entgegenwirken sollen, auch mit Rüksicht auf sie bestimmt werden. Nun aber wird der Bürger da, wo er einer so grossen Freiheit geniesst, als diese Blätter ihm zu sichern bemüht sind, auch in einem grösseren Wohlstande leben; seine Seele wird heitrer, seine Phantasie lieblicher sein, und die Strafe wird, ohne an Wirksamkeit zu verlieren, an Strenge nachlassen können. So wahr ist es, dass alles Gute und Beglükkende in wundervoller Harmonie steht, und dass es nur nothwendig ist, Eins herbeizuführen, um sich des Segens alles Uebrigen zu erfreuen. Was sich daher in dieser Materie allgemein bestimmen lässt, ist, dünkt [181] mich, allein, dass die höchste Strafe die, den Lokalverhältnissen nach, möglichst gelinde sein muss. Nur Eine Gattung der Strafen müsste, glaube ich, gänzlich ausgeschlossen werden, die Ehrlosigkeit, Infamie. Denn die Ehre eines Menschen, die gute Meinung seiner Mitbürger von ihm, ist keinesfalls etwas, das der Staat in seiner Gewalt hat. Auf jeden Fall reduzirt sich daher diese Strafe allein darauf, dass der Staat dem Verbrecher die Merkmale seiner Achtung und seines Vertrauens entziehn, und andren gestatten kann diess gleichfalls ungestraft zu thun. So wenig ihm nun auch die Befugniss abgesprochen werden darf sich dieses Rechts, wo er es für nothwendig hält, zu bedienen, und so sehr sogar seine Pflicht es erfordern kann; so halte ich dennoch eine allgemeine Erklärung, dass er es thun wolle, keineswegs für rathsam. Denn einmal sezt dieselbe eine gewisse Konsequenz im Unrechthandlen bei dem Bestraften voraus, die sich doch in der That in der Erfahrung wenigstens nur selten findet; dann ist sie auch, selbst bei der gelindesten Art der Abfassung, selbst wenn sie bloss als eine Erklärung des gerechten Mistrauens des Staats aus-
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gedrukt wird, immer zu unbestimmt, um nicht an sich manchem Misbrauch Raum zu geben, und um nicht wenigstens oft, schon der Konsequenz der Grundsäze wegen, mehr Fälle unter sich zu begreifen, als der Sache selbst wegen nöthig wäre. Denn die Gattungen des Vertrauens, welches man zu einem Menschen fassen kann, sind, der Verschiedenheit der Fälle nach, so unendlich mannigfaltig, dass ich kaum unter allen Verbrechen ein Einziges weiss, welches den Verbrecher zu allen auf Einmal unfähig machte. Dazu führt indess doch immer ein allgemeiner Ausdruk, und der Mensch, bei dem man sich sonst nur, bei dahin passenden Gelegenheiten, erinnern würde, dass er dieses oder jenes Gesez übertreten habe, trägt nun überall ein Zeichen der Unwürdigkeit mit sich herum. Wie hart aber diese Strafe sei, sagt das, gewiss keinem Menschen fremde Gefühl, dass, ohne das Vertrauen seiner Mitmenschen, das Leben selbst wünschenswerth zu sein aufhört. Mehrere Schwierigkeiten zeigen [182] sich nun noch bei der näheren Anwendung dieser Strafe. Mistrauen gegen die Rechtschaffenheit muss eigentlich überall da die Folge sein, wo sich Mangel derselben gezeigt hat. Auf wie viele Fälle aber alsdann diese Strafe ausgedehnt werde, sieht man von selbst. Nicht minder gross ist die Schwierigkeit bei der Frage: wie lange die Strafe dauern solle? Unstreitig wird jeder Billigdenkende sie nur auf eine gewisse Zeit hin erstrekken wollen. Aber wird der Richter bewirken können, dass der, so lange mit dem Mistrauen seiner Mitbürger Beladene, nach Verlauf eines bestimmten Tages, auf einemal ihr Vertrauen wiedergewinne? Endlich ist es den, in diesem ganzen Aufsaz vorgetragenen Grundsäzen nicht gemäss, dass der Staat der Meinung der Bürger, auch nur auf irgend eine Art, eine gewisse Richtung geben wolle. Meines Erachtens, wäre es daher rathsamer, dass der Staat sich allein in den Gränzen der Pflicht hielte, welche ihm allerdings obliegt, die Bürger gegen verdächtige Personen zu sichern, und dass er daher überall, wo diess nothwendig sein kann, z.B. bei Besezung von Stellen, Gültigkeit der Zeugen, Fähigkeit der Vormünder u.s.f. durch ausdrükliche Geseze verordnete, dass, wer diess oder jenes Verbrechen begangen, diese oder jene Strafe erlitten hätte, davon ausgeschlossen sein solle; übrigens aber sich aller weiteren, allgemeinen Erklärung des Mistrauens, oder gar des Verlustes der Ehre gänzlich enthielte. Alsdann wäre es auch sehr leicht, eine Zeit zu bestimmen, nach Verlauf welcher ein solcher Einwand nicht mehr gültig sein solle. Dass es übrigens dem Staat nimmer erlaubt bleibe, durch beschimpfende Strafen auf das Ehrgefühl zu wirken, bedarf von selbst keiner Erinnerung. Ebensowenig brauche ich noch zu wiederholen, dass schlechterdings keine Strafe geduldet werden muss, die sich über die Person des Verbrechers hinaus, auf seine Kinder, oder Verwandte erstrekt. Gerechtigkeit und Billigkeit sprechen mit gleich starker Stimme gegen sie; und selbst die Vorsichtigkeit, mit welcher sich, bei Gelegenheit einer solchen Strafe, das, übrigens gewiss in jeder Rüksicht vortrefliche Preussische Gesetzbuch ausdrukt, vermag nicht [183] die, in der Sache selbst allemal liegende Härte zu mindern.1 Wenn das absolute Maass der Strafen keine allgemeine Bestimmung erlaubt; so ist dieselbe hingegen um so nothwendiger bei dem relativen. Es muss nemlich festgesezt werden, was es eigentlich ist, wonach sich der Grad der, auf verschiedne 1
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Verbrechen gesezten Strafen bestimmen muss? Den im Vorigen entwikkelten Grundsäzen nach, kann diess, dünkt mich, nichts anders sein, als der Grad der Nicht Achtung des fremden Rechts in dem Verbrechen, ein Grad, welcher, da hier nicht von der Anwendung eines Strafgesezes auf einen einzelnen Verbrecher, sondern von allgemeiner Bestimmung der Strafe überhaupt die Rede ist, nach der Natur des Rechts beurtheilt werden muss, welches das Verbrechen kränkt. Zwar scheint die natürlichste Bestimmung der Grad der Leichtigkeit oder Schwierigkeit zu sein, das Verbrechen zu verhindern, so dass die Grösse der Strafe sich nach der Quantität der Gründe richten müsste, welche zu dem Verbrechen trieben, oder davon zurükhielten. Allein wird dieser Grundsatz richtig verstanden; so ist er mit dem eben aufgestellten einerlei. Denn in einem wohlgeordneten Staate, wo nicht in der Verfassung selbst liegende Umstände zu Verbrechen geben, als eben jene Nicht Achtung des fremden Rechts, welcher sich nur die zu Verbrechen reizenden Antriebe, Neigungen, Leidenschaften u.s.f. bedienen. Versteht man aber jenen Saz anders, meint man, es müssten den Verbrechen immer in dem Grade grosse Strafen entgegengesezt werden, in welchem gerade Lokal- oder Zeitverhältnisse sie häufiger machen, oder gar, ihrer Natur nach, (wie es bei so manchen Polizeiverbrechen der Fall ist) moralische Gründe sich ihnen weniger eindringend widersezen; so ist dieser Maassstab ungerecht und schädlich zugleich. Er ist ungerecht. Denn so richtig es wenigstens insofern ist, Verhinderung der Be- [184] leidigungen für die Zukunft als den Zwek aller Strafen anzunehmen, als keine Strafe je aus einem andren Zwekke verfügt werden darf; so entspringt doch die Verbindlichkeit des Beleidigten, die Strafe zu dulden, eigentlich daraus, dass jeder sich gefallen lassen muss, seine Rechte von dem Andren insoweit verlezt zu sehen, als er selbst die Rechte desselben gekränkt hat. Darauf beruht nicht bloss diese Verbindlichkeit ausser der Staatsverbindung, sondern auch in derselben. Denn die Herleitung derselben aus einem gegenseitigen Vertrag ist nicht nur unnüz, sondern hat auch die Schwierigkeit, dass z.B. die, manchmal und unter gewissen Lokalumständen offenbar nothwendige Todesstrafe bei derselben schwerlich gerechtfertigt werden kann, und dass jeder Verbrecher sich von der Strafe befreien könnte, wenn er, bevor er sie litte, sich von dem gesellschaftlichen Vertrage lossagte, wie z.B. in den alten Freistaaten die freiwillige Verbannung war, die jedoch, wenn mich mein Gedächtniss nicht trügt, nur bei Staats-, nicht bei Privat Verbrechen geduldet ward. Dem Beleidiger selbst ist daher gar keine Rüksicht auf die Wirksamkeit der Strafe erlaubt; und wäre es auch noch so gewiss, dass der Beleidigte keine zweite Beleidigung von ihm zu fürchten hätte, so müsste er, dessen ungeachtet, die Rechtmässigkeit der Strafe anerkennen. Allein auf der andren Seite folgt auch aus eben diesem Grundsatz, dass er sich auch jeder, die Quantität seines Verbrechens überschreitenden Strafe rechtmässig widersezen kann, wie gewiss es auch sein möchte, dass nur diese Strafe, und schlechterdings keine gelindere völlig wirksam sein würde. Zwischen dem inneren Gefühl des Rechts, und dem Genuss des äusseren Glüks ist, wenigstens in der Idee des Menschen, ein unläugbarer Zusammenhang, und es vermag nicht bestritten zu werden, dass er sich durch das Erstere zu dem Lezteren berechtigt glaubt. Ob diese seine Erwartung in Absicht des Glüks gegründet ist, welches ihm das Schiksal gewährt, oder versagt? – eine allerdings zweifelhaftere Frage – darf hier nicht erörtert werden. Allein in Absicht desjenigen, welches andre ihm willkührlich geben oder ent- [185] ziehen können, muss
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seine Befugniss zu derselben nothwendig anerkannt werden; da hingegen jener Grundsatz sie, wenigstens der That nach, abzuläugnen scheint. Es ist aber auch ferner jener Maassstab, sogar für die Sicherheit selbst, nachtheilig. Denn wenn er gleich diesem, oder jenem einzelnen Geseze vielleicht Gehorsam erzwingen kann; so verwirrt er gerade das, was die festeste Stüze der Sicherheit der Bürger in einem Staate ist, das Gefühl der Moralität, indem er einen Streit zwischen der Behandlung, welche der Verbrecher erfährt, und der eigenen Empfindung seiner Schuld veranlasst. Dem fremden Rechte Achtung zu verschaffen, ist das einzige sichre und unfehlbare Mittel, Verbrechen zu verhüten; und diese Absicht erreicht man nie, sobald nicht jeder, welcher fremdes Recht angreift, gerade in eben dem Maasse in der Ausübung des seinigen gehemmt wird, die Ungleichheit möge nun im Mehr oder im Weniger bestehen. Denn nur eine solche Gleichheit bewahrt die Harmonie zwischen der inneren moralischen Ausbildung des Menschen, und dem Gedeihen der Veranstaltungen des Staats, ohne welche auch die künstlichste Gesezgebung allemal ihres Endzweks verfehlen wird. Wie sehr aber nun die Erreichung aller übrigen Endzwekke des Menschen, bei Befolgung des oben erwähnten Maassstabes, leiden würde, wie sehr dieselbe gegen alle, in diesem Aufsaze vorgetragene Grundsäze streitet; bedarf nicht mehr einer weiteren Ausführung. Die Gleichheit zwischen Verbrechen und Strafe, welche die eben entwikkelten Ideen fordern, kann wiederum nicht absolut bestimmt, es kann nicht allgemein gesagt werden, dieses oder jenes Verbrechen verdient nur eine solche oder solche Strafe. Nur bei einer Reihe, dem Grade nach verschiedener Verbrechen kann die Beobachtung dieser Gleichheit vorgeschrieben werden, indem nun die, für diese Verbrechen bestimmten Strafen in gleichen Graden abgestuft werden müssen. Wenn daher, nach dem Vorigen, die Bestimmung des absoluten Maasses der Strafen, z.B. der höchsten Strafe sich nach derjenigen Quantität des zugefügten Uebels richten muss, welche erfordert wird, [186] um das Verbrechen für die Zukunft zu verhüten; so muss das relative Maass der übrigen, wenn jene, oder überhaupt Eine einmal festgesezt ist, nach dem Grade bestimmt werden, um welchen die Verbrechen, für die sie bestimmt sind, grösser oder kleiner, als dasjenige, sind, welches jene, zuerst verhängte Strafe verhüten soll. Die härteren Strafen müssten daher diejenigen Verbrechen treffen, welche wirklich in den Kreis des fremden Rechts eingreifen; gelindere die Uebertretung derjenigen Geseze, welche jenes nur zu verhindern bestimmt sind, wie wichtig und nothwendig diese Geseze auch an sich sein möchten. Dadurch wird dann zugleich die Idee bei den Bürgern vermieden, dass sie vom Staat eine willkührliche, nicht gehörig motivirte Behandlung erführen – ein Vorurtheil, welches sehr leicht entsteht, wenn harte Strafen auf Handlungen gesezt sind, die entweder wirklich nur einen entfernten Einfluss auf die Sicherheit haben, oder deren Zusammenhang damit doch weniger leicht einzusehen ist. Unter jenen erstgenannten Verbrechen aber müssten diejenigen am härtesten bestraft werden, welche unmittelbar und geradezu die Rechte des Staats selbst angreifen, da, wer die Rechte des Staats nicht achtet, auch die seiner Mitbürger nicht zu ehren vermag, deren Sicherheit allein von jenen abhängig ist. Wenn auf diese Weise Verbrechen und Strafe allgemein von dem Geseze bestimmt sind, so muss nun diess gegebene Strafgesez auf einzelne Verbrechen angewendet werden. Bei dieser Anwendung sagen schon die Grundsäze des Rechts von selbst, dass die Strafe nur nach dem Grade des Vorsazes, oder der
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Schuld den Verbrecher treffen kann, mit welchem er die Handlung begieng. Wenn aber der oben aufgestellte Grundsaz, dass nemlich immer die Nicht Achtung des fremden Rechts, und nur diese bestraft werden darf, völlig genau befolgt werden soll; so darf derselbe, auch bei der Bestrafung einzelner Verbrechen, nicht vernachlässigt werden. Bei jedem verübten Verbrechen muss daher der Richter bemüht sein, soviel möglich, die Absicht des Verbrechers genau zu erforschen, und durch [187] das Gesez in den Stand gesezt werden, die allgemeine Strafe noch nach dem individuellen Grade, in welchem er das Recht, welches er beleidigte, ausser Augen sezte, zu modificiren. Das Verfahren gegen den Verbrecher während der Untersuchung findet gleichfalls sowohl in den allgemeinen Grundsäzen des Rechts, als in dem Vorigen seine bestimmten Vorschriften. Der Richter muss nemlich alle rechtmässige Mittel anwenden, die Wahrheit zu erforschen, darf sich hingegen keines erlauben, das ausserhalb der Schranken des Rechts liegt. Er muss daher vor allen Dingen den bloss verdächtigen Bürger von dem überführten Verbrecher sorgfältig unterscheiden, und nie den ersteren, wie den lezteren, behandeln; überhaupt aber nie, auch den überwiesenen Verbrecher in dem Genuss seiner Menschen- und Bürgerrechte kränken, da er die ersteren erst mit dem Leben, die lezteren erst durch eine gesezmässige richterliche Ausschliessung aus der Staatsverbindung verlieren kann. Die Anwendung von Mitteln, welche einen eigentlichen Betrug enthalten, dürfte daher ebenso unerlaubt sein, als die Folter. Denn wenn man dieselbe gleich vielleicht dadurch entschuldigen kann, dass der Verdächtige, oder wenigstens der Verbrecher selbst durch seine eignen Handlungen dazu berechtiget; so sind sie dennoch der Würde des Staats, welchen der Richter vorstellt, allemal unangemessen; und wie heilsame Folgen ein ofnes und gerades Betragen, auch gegen Verbrecher, auf den Charakter der Nation haben würde, ist nicht nur an sich, sondern auch aus der Erfahrung derjenigen Staaten klar, welche sich, wie z.B. England, hierin einer edlen Gesezgebung erfreuen. Zulezt muss ich, bei Gelegenheit des Kriminalrechts, noch eine Frage zu prüfen versuchen, welche vorzüglich durch die Bemühungen der neueren Gesezgebung wichtig geworden ist, die Frage nemlich, inwiefern der Staat befugt, oder verpflichtet ist, Verbrechen, noch ehe dieselben begangen werden, zuvorzukommen? Schwerlich wird irgend ein anderes Unternehmen von gleich menschen- [188] freundlichen Absichten geleitet, und die Achtung, womit dasselbe jeden empfindenden Menschen nothwendig erfüllt, droht daher der Unpartheilichkeit der Untersuchung Gefahr. Dennoch halte ich, ich läugne es nicht, eine solche Untersuchung für überaus nothwendig, da, wenn man die unendliche Mannigfaltigkeit der Seelenstimmungen erwägt, aus welchen der Vorsaz zu Verbrechen entstehen kann, diesen Vorsaz zu verhindern unmöglich, und nicht allein diess, sondern selbst, nur der Ausübung zuvorzukommen, für die Freiheit bedenklich scheint. Da ich im Vorigen [...] das Recht des Staats, die Handlungen der einzelnen Menschen einzuschränken, zu bestimmen versucht habe; so könnte es scheinen, als hätte ich dadurch schon zugleich die gegenwärtige Frage beantwortet. Allein wenn ich dort festsezte, dass der Staat diejenigen Handlungen einschränken müsse, deren Folgen den Rechten andrer leicht gefährlich werden können; so verstand ich darunter [...] solche Folgen, die allein und an sich aus der Handlung fliessen, und nur etwa
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durch grössere Vorsicht des Handlenden hätten vermieden werden können. Wenn hingegen von Verhütung von Verbrechen die Rede ist; so spricht man natürlich nur von Beschränkung solcher Handlungen, aus welchen leicht eine zweite, nemlich die Begehung des Verbrechens, entspringt. Der wichtige Unterschied liegt daher hier schon darin, dass die Seele des Handlenden hier thätig, durch einen neuen Entschluss, mitwirken muss; da sie hingegen dort entweder gar keinen, oder doch nur, durch Verabsäumung der Thätigkeit, einen negativen Einfluss haben konnte. Diess allein wird, hoffe ich, hinreichen, die Gränzen deutlich zu zeigen. Alle Verhütung von Verbrechen nun muss von den Ursachen der Verbrechen ausgehen. Diese so mannigfaltigen Ursachen aber liessen sich, in einer allgemeinen Formel, vielleicht durch das, nicht durch Gründe der Vernunft gehörig in Schranken gehaltene Gefühl des Misverhältnisses ausdrukken, welches zwischen den Neigungen des Handlenden und der [189] Quantität der rechtmässigen Mittel obwaltet, die in seiner Gewalt stehn. Bei diesem Misverhältniss lassen sich wenigstens im Allgemeinen, obgleich die Bestimmung im Einzelnen viel Schwierigkeit finden würde, zwei Fälle von einander absondern, einmal wenn dasselbe aus einem wahren Uebermaasse der Neigungen, dann wenn es aus dem, auch für ein gewöhnliches Maass, zu geringen Vorrath von Mitteln entspringt. Beide Fälle muss noch ausserdem Mangel an Stärke der Gründe der Vernunft, und des moralischen Gefühls, gleichsam als dasjenige begleiten, welches jenes Misverhältniss nicht verhindert, in gesetzwidrige Handlungen auszubrechen. Jedes Bemühen des Staats, Verbrechen durch Unterdrükkung ihrer Ursachen in dem Verbrecher verhüten zu wollen, wird daher, nach der Verschiedenheit der beiden erwähnten Fälle, entweder dahin gerichtet sein müssen, solche Lagen der Bürger, welche leicht zu Verbrechen nöthigen können, zu verändern und zu verbessern, oder solche Neigungen, welche zu Uebertretungen der Geseze zu führen pflegen, zu beschränken, oder endlich den Gründen der Vernunft und dem moralischen Gefühl eine wirksamere Stärke zu verschaffen. Einen andren Weg, Verbrechen zu verhüten, giebt es endlich noch ausserdem durch gesetzliche Verminderung der Gelegenheiten, welche die wirkliche Ausübung derselben erleichtern, oder gar den Ausbruch gesetzwidriger Neigungen begünstigen. Keine dieser verschiedenen Arten darf von der gegenwärtigen Prüfung ausgeschlossen werden. Die erste derselben, welche allein auf Verbesserung zu Verbrechen nöthigender Lagen gerichtet ist, scheint unter allen die wenigsten Nachtheile mit sich zu führen. Es ist an sich so wohlthätig, den Reichthum der Mittel der Kraft, wie des Genusses, zu erhöhen; die freie Wirksamkeit des Menschen wird dadurch nicht unmittelbar beschränkt; und wenn freilich unläugbar auch hier alle Folgen anerkannt werden müssen, die ich, im Anfange dieses Aufsazes, als Wirkungen der Sorgfalt des Staats für das physische Wohl der Bürger darstellte, so treten sie doch hier, da eine solche [190] Sorgfalt hier nur auf so wenige Personen ausgedehnt wird, nur in sehr geringem Grade ein. Allein immer finden dieselben doch wirklich Statt; gerade der Kampf der inneren Moralität mit der äusseren Lage wird aufgehoben, und mit ihm seine heilsame Wirkung auf die Festigkeit des Charakters des Handlenden, und auf das gegenseitig sich unterstüzende Wohlwollen der Bürger überhaupt; und eben, dass diese Sorgfalt nur einzelne Personen treffen muss, macht ein Bekümmern des Staats um die individuelle Lage der Bürger nothwendig – lauter Nachtheile, welche nur die Ueberzeugung vergessen machen
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könnte, dass die Sicherheit des Staats, ohne eine solche Einrichtung, leiden würde. Aber gerade diese Nothwendigkeit kann, dünkt mich, mit Recht bezweifelt werden. In einem Staate, dessen Verfassung den Bürger nicht selbst in dringende Lagen versezt, welcher demselben vielmehr eine solche Freiheit sichert, als diese Blätter zu empfehlen versuchen, ist es kaum möglich, dass Lagen der beschriebenen Art überhaupt entstehen, und nicht in der freiwilligen Hülfsleistung der Bürger selbst, ohne Hinzukommen des Staats, Heilmittel finden sollten; der Grund müsste dann in dem Betragen des Menschen selbst liegen. In diesem Falle aber ist es nicht gut, dass der Staat ins Mittel trete, und die Reihe der Begebenheiten störe, welche der natürliche Lauf der Dinge aus den Handlungen desselben entspringen lässt. Immer werden auch wenigstens diese Lagen nur so selten eintreffen, dass es überhaupt einer eignen Dazwischenkunft des Staats nicht bedürfen wird, und dass nicht die Vortheile derselben von den Nachtheilen überwogen werden sollten, die es, nach Allem im Vorigen Gesagten, nicht mehr nothwendig ist, einzeln auseinanderzusezen. Gerade entgegengesezt verhalten sich die Gründe, welche für und wider die zweite Art des Bemühens, Verbrechen zu verhindern, streiten, wider diejenige nemlich, welche auf die Neigungen und Leidenschaften der Menschen selbst zu wirken strebt. Denn auf der einen Seite scheint die Nothwendigkeit grösser, da, bei minder gebundner Freiheit, der Genuss üppiger ausschweift, und die [191] Begierden sich ein weiteres Ziel stekken, wogegen die, freilich, mit der grösseren eigenen Freiheit, immer wachsende Achtung auch des fremden Rechts dennoch vielleicht nicht hinlänglich wirkt. Auf der andren aber vermehrt sich auch der Nachtheil in eben dem Grade, in welchem die moralische Natur jede Fessel schwerer empfindet, als die physische. Die Gründe, aus welchen ein, auf die Verbesserung der Sitten der Bürger gerichtetes Bemühen des Staats weder nothwendig, noch rathsam ist, habe ich im Vorigen zu entwikkeln versucht. Eben diese nun treten in ihrem ganzen Umfange, und nur mit dem Unterschied auch hier ein, dass der Staat hier nicht die Sitten überhaupt umformen, sondern nur auf das, der Befolgung der Geseze Gefahr drohende Betragen Einzelner wirken will. Allein gerade durch diesen Unterschied wächst die Summe der Nachtheile. Denn dieses Bemühen muss schon eben darum, weil es nicht allgemein wirkt, seinen Endzwek minder erreichen, so dass daher nicht einmal das einseitige Gute, das es abzwekt, für den Schaden entschädigt, den es anrichtet; und dann sezt es nicht bloss ein Bekümmern des Staats um die Privathandlungen einzelner Individuen, sondern auch eine Macht voraus, darauf zu wirken, welche durch die Personen noch bedenklicher wird, denen dieselbe anvertraut werden muss. Es muss nemlich alsdann entweder eigens dazu bestellten Leuten, oder den schon vorhandenen Dienern des Staats eine Aufsicht über das Betragen, und die daraus entspringende Lage entweder aller Bürger, oder der ihnen untergebenen, übertragen werden. Dadurch aber wird eine neue und drükkendere Herrschaft eingeführt, als beinah irgend eine andere sein könnte; indiskreter Neugier, einseitiger Intoleranz, selbst der Heuchelei und Verstellung Raum gegeben. Man beschuldige mich hier nicht, nur Misbräuche geschildert zu haben. Die Misbräuche sind hier mit der Sache unzertrennlich verbunden; und ich wage es zu behaupten, dass selbst, wenn die Geseze die besten und menschenfreundlichsten wären, wenn sie den Aufsehern bloss Erkundigungen auf gesezmässigen Wegen, und den Gebrauch von allem Zwang [192] entfernter
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Ratschläge und Ermahnungen erlaubten, und diesen Gesezen die strengste Folge geleistet würde, dennoch eine solche Einrichtung unnüz und schädlich zugleich wäre. Jeder Bürger muss ungestört handlen können, wie er will, solange er nicht das Gesez überschreitet; jeder muss die Befugniss haben, gegen jeden andren, und selbst gegen alle Wahrscheinlichkeit, wie ein Dritter dieselbe beurtheilen kann, zu behaupten: wie sehr ich mich der Gefahr, die Geseze zu übertreten, auch nähere, so werde ich dennoch nicht unterliegen. Wird er in dieser Freiheit gekränkt, so verlezt man sein Recht, und schadet der Ausbildung seiner Fähigkeiten, der Entwikkelung seiner Individualität. Denn die Gestalten, deren die Moralität und die Gesezmässigkeit fähig ist, sind unendlich verschieden und mannigfaltig; und wenn ein Dritter entscheidet, dieses oder jenes Betragen muss auf gesezwidrige Handlungen führen, so folgt er seiner Ansicht, welche, wie richtig sie auch in ihm sein möge, immer nur Eine ist. Selbst aber angenommen, er irre sich nicht, der Erfolg sogar bestätige sein Urtheil, und der andre, dem Zwange gehorchend, oder dem Rath, ohne innere Ueberzeugung, folgend, übertrete das Gesez diessmal nicht, das er sonst übertreten haben würde; so ist es doch für den Uebertreter selbst besser, er empfinde einmal den Schaden der Strafe, und erhalte die reine Lehre der Erfahrung, als dass er zwar diesem einen Nachtheil entgehe, aber für seine Ideen keine Berichtigung, für sein moralisches Gefühl keine Uebung empfange; doch besser für die Gesellschaft, Eine Gesezesübertretung mehr störe die Ruhe, aber die nachfolgende Strafe diene zu Belehrung und Warnung, als dass zwar die Ruhe diessmal nicht leide, aber darum das, worauf alle Ruhe und Sicherheit der Bürger sich gründet, die Achtung des fremden Rechts, weder an sich wirklich grösser sei, noch auch jezt vermehrt und befördert werde. Ueberhaupt aber wird eine solche Einrichtung nicht leicht einmal die erwähnte Wirkung haben. Wie durch alle, nicht geradezu auf den innern Quell aller Handlungen gehende Mittel, wird nur durch sie eine andre Richtung der, den Gesezen [193] entgegenstrebenden Begierden, und gerade doppelt schädliche Verheimlichung entstehen. Ich habe hierbei immer vorausgesezt, dass die zu dem Geschäft, wovon hier die Rede ist, bestimmten Personen keine Ueberzeugung hervorbringen, sondern allein durch fremdartige Gründe wirken. Es kann scheinen, als wäre ich zu dieser Voraussezung nicht berechtigt. Allein dass es heilsam ist, durch wirkendes Beispiel und überzeugenden Rath auf seine Mitbürger und ihre Moralität Einfluss zu haben, ist zu sehr in die Augen leuchtend, als dass es erst ausdrüklich wiederholt werden dürfte. Gegen keinen der Fälle also, wo jene Einrichtung diess hervorbringt, kann das vorige Raisonnement gerichtet sein. Nur, scheint es mir, ist eine gesezliche Vorschrift hierzu nicht bloss ein undienliches, sondern sogar entgegenarbeitendes Mittel. Einmal sind schon Geseze nicht der Ort, Tugenden zu empfehlen, sondern nur erzwingbare Pflichten vorzuschreiben, und nicht selten wird nur die Tugend, die jeder Mensch nur freiwillig auszuüben sich freut, dadurch verlieren. Dann ist jede Bitte eines Gesezes, und jeder Rath, den ein Vorgesezter Kraft desselben giebt, ein Befehl, dem die Menschen zwar in der Theorie nicht gehorchen müssen, aber in der Wirklichkeit immer gehorchen. Endlich muss man hierzu noch soviele Umstände rechnen, welche die Menschen nöthigen, und soviele Neigungen, welche sie bewegen können, einem solchen Rathe, auch gänzlich gegen ihre Ueberzeugung, zu folgen. Von dieser Art pflegt gewöhnlich der Einfluss zu sein, welchen der Staat auf diejenigen hat, die der Verwaltung seiner Geschäfte vorgesezt sind,
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und durch den er zugleich auf die übrigen Bürger zu wirken strebt. Da diese Personen durch besondre Verträge mit ihm verbunden sind; so ist es freilich unläugbar, dass er auch mehrere Rechte gegen sie, als gegen die Bürger, ausüben kann. Allein wenn er den Grundsäzen der höchsten gesezmässigen Freiheit getreu bleibt; so wird er nicht mehr von ihnen zu fordern versuchen, als die Erfüllung der Bürgerpflichten im Allgemeinen, und derjenigen besondren, welche ihr besondres Amt nothwendig macht, denn offen- [194] bar übt er einen zu mächtigen positiven Einfluss auf die Bürger überhaupt aus, wenn er von jenen, vermöge ihres besondren Verhältnisses, etwas zu erhalten sucht, was er den Bürgern geradezu nicht aufzulegen berechtigt ist. Ohne dass er wirklich positive Schritte thut, kommen ihm hierin schon von selbst nur zuviel die Leidenschaften der Menschen zuvor, und das Bemühen, nur diesen, hieraus von selbst entspringenden Nachtheil zu verhüten, wird seinen Eifer und seinen Scharfsinn schon hinlänglich beschäftigen. Eine nähere Veranlassung, Verbrechen durch Unterdrükkung der in dem Charakter liegenden Ursachen derselben zu verhüten, hat der Staat bei denjenigen, welche durch wirkliche Uebertretungen der Geseze gerechte Besorgniss für die Zukunft erwekken. Daher haben auch die denkendsten neueren Gesezgeber versucht, die Strafen zugleich zu Besserungsmitteln zu machen. Gewiss ist es nun, dass nicht bloss von der Strafe der Verbrecher schlechterdings entfernt werden muss, was irgend der Moralität derselben nachtheilig sein könnte; sondern dass ihnen auch jedes Mittel, das nur übrigens nicht dem Endzwek der Strafe zuwider ist, freistehen muss, ihre Ideen zu berichtigen und ihre Gefühle zu verbessern. Allein auch dem Verbrecher darf die Belehrung nicht aufgedrungen werden; und wenn dieselbe schon eben dadurch Nuzen und Wirksamkeit verliert; so läuft ein solches Aufdringen auch den Rechten des Verbrechers entgegen, der nie zu etwas mehr verbunden sein kann, als die gesezmässige Strafe zu leiden. Ein völlig specieller Fall ist noch der, wo der Angeschuldigte zwar zu viel Gründe gegen sich hat, um nicht einen starken Verdacht auf sich zu laden, aber nicht genug, um verurtheilt zu werden. (Absolutio ab instantia.) Ihm als dann die völlige Freiheit unbescholtener Bürger zu verstatten macht die Sorgfalt für die Sicherheit bedenklich, und eine fortdauernde Aufsicht auf sein künftiges Betragen ist daher allerdings nothwendig. Indess eben die Gründe, welche jedes positive Bemühen des Staats bedenklich machen, und überhaupt anrathen, an die Stelle seiner [195] Thätigkeit lieber, wo es geschehen kann, die Thätigkeit einzelner Bürger zu sezen, geben auch hier der freiwillig übernommenen Aufsicht der Bürger vor einer Aufsicht des Staats den Vorzug; und es dürfte daher besser sein, verdächtige Personen dieser Art sichere Bürgen stellen zu lassen, als sie einer unmittelbaren Aufsicht des Staats zu übergeben, die nur, in Ermanglung der Bürgschaft, eintreten müsste. Beispiele solcher Bürgschaften giebt auch, zwar nicht in diesem, aber in ähnlichen Fällen, die Englische Gesezgebung. Die lezte Art, Verbrechen zu verhüten, ist diejenige, welche, ohne auf ihre Ursachen wirken zu wollen, nur ihre wirkliche Begehung zu verhindern bemüht ist. Diese ist der Freiheit am wenigsten nachtheilig, da sie am wenigsten einen positiven Einfluss auf die Bürger hervorbringt. Indess lässt auch sie mehr oder minder weite Schranken zu. Der Staat kann sich nemlich begnügen, die strengste Wachsamkeit auf jedes gesezwidrige Vorhaben auszuüben, um dasselbe, vor seiner
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Ausführung, zu verhindern; oder er kann weiter gehen, und solche, an sich unschädliche Handlungen untersagen, bei welchen leicht Verbrechen entweder nur ausgeführt, oder auch beschlossen zu werden pflegen. Diess Leztere greift abermals in die Freiheit der Bürger ein; zeigt ein Mistrauen des Staats gegen sie, das nicht bloss auf ihren Charakter, sondern auch für den Zweck selbst, der beabsichtigt wird, nachtheilige Folgen hat; und ist aus eben den Gründen nicht rathsam, welche mir die vorhinerwähnten Arten, Verbrechen zu verhüten, zu misbilligen schienen. Alles, was der Staat thun darf, und mit Erfolge für seinen Endzwek, und ohne Nachtheil für die Freiheit der Bürger, thun kann, beschränkt sich daher auf das Erstere, auf die strengste Aufsicht auf jede, entweder wirklich schon begangene, oder erst beschlossene Uebertretung der Geseze; und da diess nur uneigentlich den Verbrechen zuvorkommen genannt werden kann; so glaube ich behaupten zu dürfen, dass ein solches Zuvorkommen gänzlich ausserhalb der Schranken der Wirksamkeit des Staats liegt. Desto emsiger aber muss derselbe [196] darauf bedacht sein, kein begangenes Verbrechen unentdekt, kein entdektes unbestraft, ja nur gelinde bestraft zu lassen, als das Gesez es verlangt. Denn die, durch eine unterbrochene Erfahrung bestätigte Ueberzeugung der Bürger, dass es ihnen nicht möglich ist, in fremdes Recht einzugreifen, ohne eine, gerade verhältnissmässige Schmälerung des eignen zu erdulden, scheint mir zugleich die einzige Schuzmauer der Sicherheit der Bürger, und das einzige untrügliche Mittel, unverlezliche Achtung des fremden Rechts zu begründen. Zugleich ist dieses Mittel die einzige Art, auf eine des Menschen würdige Weise auf den Charakter desselben zu wirken, da man den Menschen nicht zu Handlungen unmittelbar zwingen oder leiten, sondern allein durch die Folgen ziehen muss, welche, der Natur der Dinge nach, aus seinem Betragen fliessen müssen. Statt aller zusammengesezteren und künstlicheren Mittel, Verbrechen zu verhüten, würde ich daher nie etwas anders, als gute, und durchdachte Geseze, in ihrem absoluten Maasse den Lokalumständen, in ihrem relativen dem Grade der Immoralität der Verbrecher genau angemessene Strafen, möglichst sorgfältige Aufsuchung jeder vorgefallenen Uebertretung der Geseze, und Hinwegräumung aller Möglichkeit auch nur der Milderung der richterlich bestimmten Strafe vorschlagen. Wirkt diess freilich sehr einfache Mittel, wie ich nicht läugnen will, langsam; so wirkt es dagegen auch unfehlbar, ohne Nachtheil für die Freiheit, und mit heilsamem Einfluss auf den Charakter der Bürger. Ich brauche mich nun nicht länger bei den Folgen der hier aufgestellten Säze zu verweilen, wie z.B. bei der schon öfter bemerkten Wahrheit, dass das Begnadigungs-, selbst das Milderungsrecht des Landesherrn gänzlich aufhören müsste. Sie lassen sich von selbst ohne Mühe daraus herleiten. Die näheren Veranstaltungen, welche der Staat treffen muss, um begangene Verbrechen zu entdekken, oder erst beschlossenen zuvorzukommen, hängen fast ganz von individuellen Umständen specieller Lagen ab. Allgemein kann hier nur bestimmt werden, dass derselbe auch hier seine Rechte nicht überschreiten, und also keine, der [197] Freiheit und der häuslichen Sicherheit der Bürger überhaupt entgegenlaufende Maassregeln ergreifen darf. Hingegen kann er für öffentliche Orte, wo am leichtesten Frevel verübt werden, eigene Aufseher bestellen; Fiskale anordnen, welche, vermöge ihres Amts, gegen verdächtige Personen verfahren; und endlich alle Bürger durch Geseze verpflichten, ihm in diesem Geschäfte behülflich zu sein, und nicht bloss beschlossene, und noch nicht begangene Verbrechen, sondern auch schon verübte,
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und ihre Thäter anzuzeigen. Nur muss er diess Leztere, um nicht auf den Charakter der Bürger nachtheilig zu wirken, immer nur als Pflicht fordern, nicht durch Belohnungen, oder Vortheile dazu anreizen; und selbst von dieser Pflicht diejenigen entbinden, welche derselben kein Genüge leisten könnten, ohne die engsten Bande dadurch zu zerreissen. Endlich muss ich noch, ehe ich diese Materie beschliesse, bemerken, dass alle Kriminalgeseze, sowohl diejenigen, welche die Strafen, als diejenigen, welche das Verfahren bestimmen, allen Bürgern, ohne Unterschied, vollständig bekannt gemacht werden müssen. Zwar hat man verschiedentlich das Gegentheil behauptet, und sich des Grundes bedient, dass dem Bürger nicht die Wahl gelassen werden müsse, mit dem Uebel der Strafe gleichsam den Vortheil der gesezwidrigen Handlung zu erkaufen. Allein – die Möglichkeit einer fortdauernden Verheimlichung auch einmal angenommen – so unmoralisch auch eine solche Abwägung in dem Menschen selbst wäre, der sie vornähme; so darf der Staat, und überhaupt ein Mensch dem andren, dieselbe doch nicht verwehren. Es ist im Vorigen, wie ich hoffe, hinlänglich gezeigt worden, dass kein Mensch dem andren mehr Uebel, als Strafe, zufügen darf, als er selbst durch das Verbrechen gelitten hat. Ohne gesezliche Bestimmung, müsste also der Verbrecher soviel erwarten, als er ungefähr seinem Verbrechen gleich achtete; und da nun diese Schäzung bei mehreren Menschen zu verschieden ausfallen würde, so ist sehr natürlich, dass man ein festes Maass durch das Gesez bestimme, und dass also zwar nicht die Verbindlichkeit, Strafe zu leiden, aber doch die, bei [198] Zufügung der Strafe, nicht willkührlich alle Gränzen zu überschreiten, durch einen Vertrag begründet sei. Noch ungerechter aber wird eine solche Verheimlichung bei dem Verfahren zur Aufsuchung der Verbrechen. Da könnte sie unstreitig zu nichts andrem dienen, als Furcht vor solchen Mitteln zu erregen, die der Staat selbst nicht anwenden zu dürfen glaubt, und nie muss der Staat durch eine Furcht wirken wollen, welche nichts anders unterhalten kann, als Unwissenheit der Bürger über ihre Rechte, oder Mistrauen gegen seine Achtung derselben. Ich ziehe nunmehr aus dem, bisher vorgetragenen Raisonnement folgende höchste Grundsäze jedes Kriminalrechts überhaupt: 1. Eins der vorzüglichsten Mittel zur Erhaltung der Sicherheit ist die Bestrafung der Uebertreter der Geseze des Staats. Der Staat darf jede Handlung mit einer Strafe belegen, welche die Rechte der Bürger kränkt, und insofern er selbst allein aus diesem Gesichtspunkt Geseze anordnet, jede, wodurch eines seiner Geseze übertreten wird. 2. Die härteste Strafe darf keine andre, als die, nach den individuellen Zeit- und Ortsverhältnissen möglichst gelinde sein. Nach dieser müssen alle übrige, gerade in dem Verhältniss bestimmt sein, in welchem die Verbrechen, gegen welche sie gerichtet sind, Nicht Achtung des fremden Rechts bei dem Verbrecher voraussezen. So muss daher die härteste Strafe denjenigen treffen, welcher das wichtigste Recht des Staats selbst, eine minder harte denjenigen, welcher nur ein gleich wichtiges Recht eines einzelnen Bürgers gekränkt, eine noch gelindere endlich denjenigen, welcher bloss ein Gesez übertreten hatte, dessen Absicht es war, eine solche, bloss mögliche Kränkung zu verhindern.
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3. Jedes Strafgesez kann nur auf denjenigen angewendet werden, welcher dasselbe mit Vorsaz, oder mit Schuld übertrat, und nur in dem Grade, in welchem er dadurch Nicht Achtung des fremden Rechts bewies. 4. Bei der Untersuchung begangener Verbrechen darf der Staat zwar jedes, dem Endzwek angemessene Mittel anwenden; hingegen keines, das den bloss verdächtigen Bür- [199] ger schon als Verbrecher behandelte, noch ein solches, das die Rechte des Menschen und des Bürgers, welche der Staat, auch in dem Verbrecher, ehren muss, verlezte, oder das den Staat einer unmoralischen Handlung schuldig machen würde. 5. Eigene Veranstaltungen, noch nicht begangene Verbrechen zu verhüten, darf sich der Staat nicht anders erlauben, als insofern dieselben die unmittelbare Begehung derselben verhindern. Alle übrige aber, sie mögen nun den Ursachen zu Verbrechen entgegenarbeiten, oder an sich unschädliche, aber leicht zu Verbrechen führende Handlungen verhüten wollen, liegen ausserhalb der Grenzen seiner Wirksamkeit. Wenn zwischen diesen, und dem, bei Gelegenheit der Handlungen des einzelnen Menschen [...] aufgestellten Grundsatz ein Widerspruch zu sein scheint, so muss man nicht vergessen, dass dort von solchen Handlungen die Rede war, deren Folgen an sich fremde Rechte kränken können, hier hingegen von solchen, aus welchen, um diese Wirkung hervorzubringen, erst eine zweite Handlung entstehn muss. Verheimlichung der Schwangerschaft also, um diess an einem Beispiel deutlich zu machen, dürfte nicht aus dem Grunde verboten werden, den Kindermord zu verhüten (man müsste denn dieselbe schon als ein Zeichen des Vorsazes zu demselben ansehen), wohl aber als eine Handlung, welche an sich, und ohnediess, dem Leben und der Gesundheit des Kindes gefährlich sein kann.
Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796/97) Erster Teil (1796) [...] Erstes Hauptstück: Deduktion des Begriffs vom Rechte §.1.
Erster Lehrsaz:
Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben. §.2.
Folgesaz:
Durch dieses Setzen seines Vermögens zur freien Wirksamkeit sezt und bestimmt das Vernunftwesen eine Sinnenwelt ausser sich. §.3.
Zweiter Lehrsaz:
Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich selbst nicht zuschreiben, ohne sie auch andern zuzuschreiben, mithin, auch andere endliche Vernunftwesen außer sich anzunehmen. §.4.
Dritter Lehrsaz:
Das endliche Vernunftwesen kann nicht noch andere endliche Vernunftwesen außer sich annehmen, ohne sich zu setzen, als stehend mit denselben in einem bestimmten Verhältnisse, welches man das Rechtsverhältniß nennt. Zweites Hauptstück: Deduktion der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs §.5.
Vierter Lehrsaz:
Das vernünftige Wesen kann sich nicht, als wirksames Individuum, setzen, ohne sich einen materiellen Leib zuzuschreiben und denselben dadurch zu bestimmen. §.6.
Fünfter Lehrsaz:
Die Person kann sich keinen Leib zuschreiben, ohne ihn zu setzen, als stehend unter dem Einflusse einer Person ausser ihr, und ohne ihn dadurch weiter zu bestimmen. §.7. Beweiß, daß durch die aufgestellten Sätze die Anwendung des Rechtsbegriffs möglich ist.
T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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a) Drittes Hauptstück: Systematische Anwendung des Rechtsbegriffs; oder die Rechtslehre [...] b) c) Erstes Kapitel der Rechtslehre. Deduktion des Urrechts [...] d) e) [423] Zweites Kapitel der Rechtslehre. Ueber das Zwangsrecht f) g) §.13. [...] [424] [...] Die Möglichkeit des Rechtsverhältnisses zwischen Personen auf dem Gebiete des Naturrechts ist durch gegenseitige Treue und Glauben bedingt. Gegenseitige Treue und Glauben aber ist von dem Rechtsgesetze nicht abhängig; [425] sie läßt sich nicht erzwingen, noch gibt es ein Recht, sie zu erzwingen. [...] h) §.14. Das Princip aller Zwangsrechte [...] [Nun will] [...] jeder [...] , und hat das Recht zu wollen, daß von der Seite des andern nur Diejenigen Handlungen erfolgen, welche erfolgen würden, wenn derselbe einen durchgängig guten Willen hätte; ob dieser Wille nun wirklich da sey, oder nicht, davon ist nicht die Frage. Jeder hat nur auf die Legalität des andern, keineswegs auf seine Moralität Anspruch. Nun aber kann nicht, und soll nicht, eine solche Veranstaltung getroffen werden, nach welcher die Handlungen, die nicht geschehen sollen, durch mechanische Natur- [426] gewalt zurückgehalten würden; dies ist theils unmöglich, weil der Mensch frei ist, und eben darum jeder Naturgewalt widerstehen, und sie überwinden kann; theils ist es widerrechtlich, weil dadurch der Mensch, auf dem Gebiete des Rechtsbegriffs, zu einer bloßen Maschine gemacht, und die Freiheit seines Willens für nichts gerechnet würde. Die zu treffende Veranstaltung müßte sonach an den Willen selbst sich richten; diesen vermögen und nöthigen, sich durch sich selbst zu bestimmen, nichts zu wollen, als was mit der gesezmäßigen Freiheit bestehen kann. [...] [427] [...] Wenn […] [nun] eine mit mechanischer Nothwendigkeit wirkende Veranstaltung getroffen werden könnte, durch welche aus jeder rechtswidrigen Handlung das Gegentheil ihres Zweckes erfolgte, so würde durch eine solche Veranstaltung der Wille genöthigt, nur das Rechtmäßige zu wollen; durch diese Veranstaltung würde, nach verlorener Treue und Glauben, die Sicherheit wieder hergestellt, und der gute Wille für die äussere Realisation des Rechts entbehrlich gemacht, indem der böse, und nach fremden Sachen begierige Wille gerade durch seine eigne unrechtmäßige Begier, zu dem gleichen Zwecke geleitet würde. Eine Veranstaltung, wie die beschriebene, heißt ein Zwangsgesetz. [...] Die Freiheit des guten Willens bleibt durch dieses Zwangsgesetz unangetastet und in ihrer ganzen Würde. So gewiß jemand nur das Rechtmäßige, um der bloßen Rechtmäßigkeit Willen will, entsteht in ihm gar kein Gelust nach dem Unrechtmäßigen. Nun aber ist [...] das Gesez lediglich auf diesen Gelust berechnet, bedient sich nur seiner als Triebfeder, und wendet sich an den Willen lediglich vermittelst dieses Gelustes. [...] Dem Gerechten ist kein äusseres Gesez gegeben; er
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ist von demselben ganz befreit, und durch seinen eigenen guten Willen davon befreit. [428] Aber, – die zweite mögliche Rücksicht eines Zwangsgesetzes, – es kann Schaden zugefügt werden, ohne dem Willen zu schaden, durch Nachlässigkeit und Unbedachtsamkeit. Hierauf hat das beschriebene Zwangsgesetz, das auf den Willen zu schaden [...] sich gründet [...] keinen Einfluß. [...] Mithin ist, durch die beschriebene Veranstaltung, die Sicherheit noch nicht genug begründet. [...] Der Mensch soll, damit Sicherheit neben ihm möglich sey, die Äusserungen seiner physischen Kraft, durch einen freien Willen, auf einen bedachten Zweck hinleiten: und in Beziehung auf die Freiheit des andern läßt sich folgende Regel für denselben festsetzen: Er muß gerade soviel Sorge tragen, daß er die Rechte des andern nicht verletze, als er Sorge trägt, daß die seinigen nicht verlezt werden. [...] [429] Wenn nun, durch ein, mit mechanischer Nothwendigkeit herrschendes Zwangsgesez, jede Beschädigung der Rechte des andern, Beschädigung der meinigen wird, so werde ich für die Sicherheit der leztern dieselbe Sorge tragen, welche ich für die Sicherheit der meinigen trage, da, durch die getroffene Veranstaltung, die Sicherheit des andern vor mir, meine eigene Sicherheit wird. Kurz, jeder Verlust, der durch meine Unbesonnenheit dem andern erwachsen ist, muß mir selbst zugefügt werden. [...] [430] i) §.15. Ueber die Errichtung eines Zwangsgesetzes [...] [431] [...] Es ist gar keine Anwendung des Zwangsrechts möglich, ausser in einem gemeinen Wesen: ausserdem ist der Zwang stets nur problematisch rechtmäßig, und eben darum ist die wirkliche Anwendung des Zwangs, als ob es ein kategorisches Recht dazu gäbe, stets ungerecht. [432] (Es ist sonach, in dem Sinne, wie man das Wort oft vernommen hat, gar kein Naturrecht, d.h. es ist kein rechtliches Verhältniß zwischen Menschen möglich, ausser in einem gemeinen Wesen, und unter positiven Gesetzen. – [...] Der Staat selber wird der Naturzustand des Menschen, und seine Gesetze sollen nichts anderes seyn, als das realisirte Naturrecht.) [...]
Zweiter Teil (Angewandtes Naturrecht) (1797) [...] [59] j) §. 20. Ueber die peinliche Gesetzgebung. Thesis. Wer den Bürgervertrag in einem Stücke verlezt, sey es mit Willen, oder aus Unbedachtsamkeit, da, wo im Vertrage auf seine Besonnenheit gerechnet wurde, verliert der Strenge nach dadurch alle seine Rechte als Bürger, und als Mensch, und wird völlig rechtslos.
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Beweiß. Es hat jemand, zufolge des Rechtsbegriffes überhaupt, Rechte, lediglich unter der Bedingung, daß er in eine Gemeinschaft vernünftiger Wesen passe, d.h. daß er sich die Regel des Rechts zum unverbrüchlichen Gesetze aller seiner Handlungen gemacht habe, und fähig sey, durch die Vorstellung dieses Gesetzes auch wirklich in allen Aeusserungen seiner Freiheit, die unter demselben stehen, bestimmt zu werden. Wer mit Willen sich gegen das Gesetz vergeht, ist nicht im ersten Falle; wer sich aus Unbesonnenheit dagegen vergeht, ist nicht in dem zweiten. Bei beiden fällt die Bedingung der Rechtsfähigkeit weg, das Passen in eine Gesellschaft vernünftiger Wesen; sonach mit derselben das Bedingte; die Rechtsfähigkeit. Sie hören auf Rechte zu haben. Dieses Verhältniß ist durch den Staatsbürgervertrag, als solchen, nicht geändert. Alle positiven Rechte, die der Bürger hat, hat er nur unter der Bedingung, daß die Rechte aller übrigen Bürger vor ihm sicher seyen. Sobald dies nicht ist, sey es durch seinen bedachten rechtswidrigen Willen, oder durch Unbesonnenheit, ist der Vertrag vernichtet. Es findet zwischen ihm und den übrigen Bürgern nicht mehr das durch den Bürgervertrag errichtete rechtliche Verhältniß, und da es ausser diesem keines, und keinen möglichen Grund desselben giebt, überhaupt gar kein rechtliches Verhältniß zwischen beiden Partheien mehr Statt. Iede Vergehung schließt aus vom Staate, (der Verbrecher wird Vogelfrei; d.h. seine Sicherheit ist so wenig garantirt, als die eines Vogels, exlex, hors de la loi.) Diese Ausschliessung müßte durch die Staatsgewalt exekutirt werden. Antithesis. Der Zweck der Staatsgewalt ist kein anderer, als der der gegenseitigen Sicherheit der Rechte Aller vor Allen; und der Staat ist zu nichts zu verbinden, als zum Gebrauche der hinreichenden Mittel für diesen Zweck. Wenn nun derselbe ohne jene absolute Ausschliessung Aller, die sich auf irgend eine Weise vergangen haben, zu erreichen wäre, so wäre der Staat nicht nothwendig verbunden, diese Strafe auf eine Vergehung, gegen die er seine Bürger auf [60] andere Weisen schützen könnte, zu setzen. Es wäre kein Grund da, sie in diesen Fällen einzuführen, aber bis jezt freilich auch keiner, sie nicht einzuführen. Die Entscheidung hinge ab von der Willkühr. Nun aber ist dem Staate eben so viel an der Erhaltung seiner Bürger gelegen, wenn nur sein Hauptzweck mit derselben zu vereinigen ist, als jedem Einzelnen daran liegt, nicht um jedes Vergehens willen für rechtslos erklärt zu werden. Es würde daher in jeder Rücksicht zweckmäßig seyn in allen Fällen, wo die öffentliche Sicherheit dabei bestehen könnte, an die Stelle der der Strenge nach allerdings durch jedes Vergehen verwirkten Ausschliessung andere Strafen zu setzen. Dies könnte nur durch einen Vertrag Aller mit Allen geschehen; der späterhin Norm für die Exekutive Gewalt würde. Der Inhalt dieses Vertrags würde folgender seyn: Alle versprechen Allen, sie, inwiefern dies mit der öffentlichen Sicherheit vereinbar ist, um ihrer Vergehungen willen nicht vom Staate auszuschliessen, sondern ihnen zu verstatten, diese Strafe auf andere Weise abzubüßen. Wir wollen diesen Vertrag den Abbüßungsvertrag nennen. Dieser Vertrag ist ein nützlicher sowohl für Alle, (das Staatsganze), als für jeden Einzelnen. Das Ganze erhält dadurch die Aussicht, den Bürger, dessen Nützlichkeit seine Schädlichkeit überwiegt, zu erhalten, und die Verbindlichkeit, die Ab-
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büßung anzunehmen; der Einzelne das vollkommene Recht, zu fordern, daß man sie statt der verwirkten größern Strafe annehme. Es giebt ein Recht, und ein sehr nützliches und wichtiges Recht des Bürgers, abgestraft zu werden. Dieser Vertrag wird zum Staatsgesetze, und die Exekutive Gewalt darauf verpflichtet. I.) Der Abbüßungsvertrag erstrekt, aufgezeigter maaßen, sich nicht weiter, als inwiefern neben ihm die öffentliche Sicherheit bestehen kann. Weiter ausgedehnt ist er unrechtmäßig, und vernunftwidrig; und ein Staat, in welchem er über diese Grenze ginge, hätte gar kein Recht, d.i. die öffentliche Sicherheit wäre in ihm nicht sattsam garantirt, und er könnte niemand verbinden, in ihn zu treten, oder in ihm zu verbleiben. Die Strafe ist nicht absoluter Zweck. Es läßt bei einer solchen Behauptung, sie geschehe nun ausdrücklich, oder es werden Sätze aufgestellt, die sich nur aus stillschweigender Voraussetzung einer solchen Prämisse erklären lassen, (z.B. der unmodificirte, kategorische Ausspruch, wer getödtet hat, muß sterben) sich gar nichts denken. Die Strafe ist Mittel für den Endzweck des Staats, die öffentliche Sicherheit; und die einzige Absicht dabei ist die, daß durch die Androhung derselben das Vergehen verhütet werde. Der Zweck des Strafgesetzes ist der, daß der Fall seiner Anwendung gar nicht vorkomme. Der böse Wille soll durch die [61] angedrohte Strafe unterdrückt, der ermangelnde gute Wille durch sie hervorgebracht werden; und dann bedarf es nie der Strafe. Damit nun dieser Zweck erreicht werden könne, muß jeder Bürger ganz sicher wissen, daß falls er sich vergehe, die Drohung des Gesezes an ihm unausbleiblich in Erfüllung gehen werde. (Die Strafe ist sonach allerdings mit um des Beispiels willen da, damit alle in der festen Ueberzeugung von der unfehlbaren Ausübung des Strafgesetzes erhalten werden. Die erste Absicht desselben war die, den Verbrecher vom Verbrechen zurückzuhalten. Da diese Absicht nicht erreicht worden, hat seine Bestrafung eine andere; die, die übrigen Bürger, und ihn selbst für die Zukunft von dem gleichen Vergehen abzuhalten. Die Ausübung der Strafgerechtigkeit ist daher ein öffentlicher Akt. Ieder, der von einem Vergehen gehört hat, muß auch von der Bestrafung desselben hören. Es wäre eine offenbare Ungerechtigkeit, gegen alle diejenigen, welche künftig in Versuchung gerathen werden gegen dasselbe Gesez zu sündigen, wenn man ihnen die Kunde der wirklichen Bestrafung des vorhergegangenen Vergehens entzöge. Sie erhielten dadurch die Hoffnung der Straflosigkeit.) Das materielle Princip positiver Strafen im Staate, ist schon oben (§.14.) angegeben, und erwiesen worden. Ieder muß nothwendig von seinen eigenen Rechten und Freiheiten (seinem Eigenthum in der weitesten Bedeutung des Worts) gerade so viel auf das Spiel setzen, als er die Rechte des andern aus Eigennuz, oder Unbesonnenheit zu verletzen in Versuchung ist. (Die Strafe des gleichen Verlustes, poena talionis. Ieder wisse: was du dem andern schadest, schadest du nicht dem andern, sondern lediglich dir selbst.) Der Geist dieses Princips ist, wie wir gleichfalls gesehen haben, dies: es muß dem ungerechten Willen, oder der Unbesonnenheit, ein hinlängliches Gegengewicht gegeben werden. Wo dieses Princip anwendbar ist, kann der Abbüßungsvertrag gelten; dann, wie wir eingesehen haben, läßt bei der durchgeführten Anwendung desselben, sich
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allerdings auf öffentliche Sicherheit rechnen. Die Frage, wie weit erstreckt sich rechtlich der Abbüßungsvertrag? wird also zwar nur zum Theil, – warum, dies werden wir weiter unten sehen – beantwortet, wenn die beantwortet ist: wie weit ist ein Gegengewicht des bösen Willens oder der Unbesonnenheit möglich? II.) Dieses Gegengewicht wird möglich, oder unmöglich, entweder durch die Natur der Sache, oder durch die besondere Lage des Subjekts, auf welches die Wirksamkeit des Strafgesetzes berechnet ist. Zuförderst durch die Natur der Sache. Gerade dadurch, daß der zur Uebertretung versuchte etwas will, soll er verhindert werden, seinen Willen in Handlungen ausbrechen zu lassen. Sein Wille muß sonach wirklich auf den Besiz jenes Materiale ausgehen, wenn sich eine Wirksamkeit des Gesetzes hoffen lassen soll. Es muß ein materialiter böser, ein eigennütziger und nach fremden Gütern lüsterner [62] Wille seyn. – Eben so verhält es sich bei der Unbesonnenheit. Dadurch, daß der Unbesonnene wenigstens so viel Bedachtsamkeit hat, sich selbst einen gewissen Schaden nicht zuzufügen, soll er genöthigt werden, Acht zu haben, daß er denselben Schaden nicht einem andern zufüge. Im lezteren Falle findet nur Schadenersaz Statt, weil vorausgesezt wird, daß der Werth am Eigenthume des andern ganz verdorben sey: im ersten Falle, giebt der Angreifer das entwendete dem rechtmäßigen Besitzer zurück, und von seinem eigenen den Werth desselben, als Strafe, noch überdies. (Hier ist der Ort, wo die Theorie des Gegengewichts sich ganz klar machen läßt. Wenn dem Räuber nur wieder abgenommen wird, was er entwendete, so hat er weiter nichts, als sich vergebens bemüht. Da er nothwendig als möglich voraussetzen mußte, daß er nicht entdeckt werden würde, weil er ausserdem sich die vergebliche Mühe sicher nicht gemacht hätte, so war seine Rechnung die: entweder ich werde entdeckt, oder nicht. Geschieht das erstere, so gebe ich wieder heraus, was ohnedies nicht mein war; geschieht das leztere, so gewinne ich. Verlieren kann ich in keinem Falle. Ist aber die Strafe des gleichen Verlust[es] eingeführt, so ist im Falle der Entdeckung der Verlust des Verbrechers eben so groß, als im Falle der Nichtentdeckung der Gewinn. Das Uebergewicht der Wahrscheinlichkeit müßte sonach für die Nichtentdeckung seyn, wenn er doch das Vergehen wagen sollte. Aber eine solche Wahrscheinlichkeit soll in einem wohlregierten Staate nicht Statt finden.) Das Princip des Gegengewichts ist der Natur der Sache nach nicht anwendbar, wenn der Wille formaliter böse ist, d.i. wann die Beschädigung nicht um des dabei beabsichtigten Vortheils willen, sondern lediglich um Schaden zu machen, zugefügt wird. Einen solchen Willen hält die Strafe des gleichen Verlusts nicht zurück: der boshafte schadenfrohe Mensch unterwirft sich wohl gerne dem Verluste, wenn nur sein Feind auch in Schaden kommt. Wenn sich kein anderes Mittel findet, die Mitbürger gegen einen solchen formaliter bösen Willen zu schützen, so wäre auf jede aus ihm entsprungene Vergehung, die Ausschliessung vom Staate zu setzen. Zuförderst ist hier ein Fall, da auf die Gesinnung, und die Absichten bei dem Vergehen zu sehen, und die Strafe darnach einzurichten ist. Ist es nur dies, was die Rechtsgelehrten im Sinne haben, wenn sie ihre Rechtsbeurtheilung auch auf die moralische Wichtigkeit der Vergehung richten wollen, so haben sie ganz recht.
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Wenn sie aber etwa von der einzig wahren, reinen Moralität redeten, so würden sie sich sehr irren. Kein Mensch kann, und keiner soll hierüber der Richter des andern seyn. Der einzige Zweck der bürgerlichen Bestrafung, der einzige Maas[63] stab ihrer Größe, ist die Möglichkeit der öffentlichen Sicherheit. Verletzung derselben, bloß damit sie verlezt werde, ist nicht etwa darum härter zu bestrafen, als Verletzung derselben aus Eigennuz, weil sie einen höhern Grad der Unmoralität bewiese; – Moralität ist überhaupt nur Eine, und gar keiner Grade fähig: Wollen der Pflicht lediglich weil sie als Pflicht erkannt ist; und so etwa von der Fähigkeit zu dieser Moralität geredet würde; wer möchte denn behaupten, daß derjenige, in dessen Vergehen wenigstens Rüstigkeit und Muth erscheint, dafür verdorbener sey, als derjenige, der nur vom Eigennuze geleitet wird? – sondern darum ist sie härter zu bestrafen, weil die Furcht vor der gelindern Strafe, der des gleichen Verlusts, keine hinlängliche Sicherheit dagegen gewährt. [...] [Beweisfragen; Verfahrensfragen] [...] [64] [...] Es ist noch anzumerken, daß das Gesez ausdrücklich ankündigen müsse: die Verlezung des andern bloß um Schaden anzurichten, werde schärfer bestraft werden, als dieselbe Verletzung, wenn sie um Vortheils willen zugefügt worden wäre. Ieder muß das Gesez, nach welchem er gestraft wird, vorher gewußt haben, ausserdem enthielte die Bestrafung eine Ungerechtigkeit. Auch kann der Zweck des Strafgesetzes, von der Vergehung abzuhalten, nur durch die allgemeine Bekanntheit desselben, erreicht werden. Ueber das, was als rechtswidrige Unbehutsamkeit bestraft werden soll, sonach über die Sorgfalt, die jeder in bestimmten Fällen, und bei bestimmten an sich erlaubten Handlungen anwenden solle, um keinen andern zu beschädigen, hat der Staat ausdrücklich Gesetze zu geben; es [65] versteht sich billige, und der Natur der Sache angemessene. Wer die im Gesetze anbefohlne Sorgfalt beobachtet, ist loszusprechen. Was ohnerachtet derselben für Schaden geschieht, ist anzusehen, als ein Unfall, den die Natur zugesandt, den jeder trägt, der ihn erlitten, oder den nach Befinden der Umstände, die Obrigkeit ersetzen muß, wenn sie, entweder durch Mangel der Gesetze, oder durch Vernachlässigung der Policei-Anstalten Schuld daran hat. [...] Durch die Lage des Subjekts ist die Androhung des gleichen Verlusts nicht anwendbar auf diejenigen, die nichts zu verlieren haben, da sie nichts besitzen, als ihren Leib (capite censi). – Man klage dabei nicht etwa über Ungerechtigkeit, und sage: der Vermögende, der es gar nicht bedurfte, raubt, und wagt dabei nichts als sein Vermögen, dessen er vielleicht überflüssig hat: der Arme, der es zur höchsten Noth bedarf, raubt, und dieser soll härter bestraft werden. Diese Einrede würde sich auf die ganz falsche Voraussetzung gründen, als ob der Staat moralischer Richter der Menschen wäre, und die Strafe mit der sittlichen Unwürdigkeit ins Gleichgewicht setzen müßte. Der Staat will durch dieses Gesez nur das Eigenthum sichern. Aber die Drohung; was du dem andern nimmst, wird dir von dem deinigen abgezogen, wird auf den, der nichts hat, wahrlich nichts wirken. Denn er wird denken: den möchte ich sehen, der mir etwas nehmen wollte; wie man denn dies in Staaten, die hierauf nicht Bedacht nehmen, und, weil keine Aufsicht [66] über die Verwaltung des Eigenthums, und kein Armenrecht eingeführt ist, nicht einmal berechtigt waren, darauf Bedacht zu nehmen, wirklich sagen hört. Mithin muß der Staat gegen diesen seine Bürger auf andere Weise schützen. Ob dies nun
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nothwendig durch Ausschliessung geschehen müsse, oder ob etwa noch ein Mittel für den Armen bleibe, derselben zu entgehen, wird sich tiefer unten zeigen. III.) Gegen den Willen, unmittelbar gegen das Gesez, und die Macht desselben sich aufzulehnen, ist kein Gegengewicht möglich. Das höchste was geschehen kann und geschehen soll, ist, daß das Gesez nur seine Autorität behaupte, wie sie festgesezt ist; aber es kann nicht etwa, als Gegentheil dessen, was der Verbrecher beabsichtigte, eine doppelte Strenge gegen Alle, eine doppelte Macht durch den Beitrag Aller annehmen. Alle würden dann gestraft für das Vergehen eines Einzigen. Hier sonach findet die Strafe des gleichen Verlustes der Natur der Sache nach nicht Statt; und die Strafe der Rechtslosigkeit ist nicht abzubüßen. Dieses Verbrechen gegen den Staat wird begangen auf doppelte Weise; entweder mittelbar am Staate, in der Person seiner Bürger, indem an ihnen der Vertrag verlezt wird, in welchem der Staat selbst als solcher, Parthei ist; oder unmittelbar am Staate selbst, durch Rebellion und Hochverrath. Wir erläutern zuförderst das erste. Es liegt im Bürgervertrage, theils ein Vertrag der Einzelnen mit allen Einzelnen, über das Eigenthum, den der Staat als solcher, (als die in ein organisirtes Ganze verwebten Einzelnen) nicht schließt, sondern nur garantirt. Es liegt in ihm ferner ein Vertrag der Einzelnen mit dem Staate selbst in der angegebenen Bedeutung; der, da der Staat verspricht, dem Bürger, nach Erfüllung seiner Bürgerpflichten sein absolutes Eigenthum, Leib und Leben aber überhaupt, und auf jeden Fall, zu schützen. Der Staat selbst hat sich von diesem absoluten Eigenthume ganz und gar ausgeschlossen, und allem Anspruche darauf entsagt; er hat gegen dasselbe nur Pflichten, und gar keine Rechte. Er ist die Parthei des Bürgers, dem er mit und durch sich selbst für alle Verletzung an diesem Eigenthume einsteht. Wenn nun ein einzelner durch gewaltsamen Einbruch (nicht durch bloßen Hausdiebstahl, dieser ist ein Privatverbrechen, das verziehen werden kann, oder bei welchem, wenn er bestraft wird, die Strafe des gleichen Verlustes Statt findet) oder durch Verletzung eines Mitbürgers an Leib und Leben, diesen Vertrag des Staats bricht, so vergreift er sich dadurch unmittelbar am Staate, indem er desselben Vertrag bricht, und so viel an ihm liegt, ihn treulos, und bundbrüchig macht, und seinen Vertrag mit dem Verlezten vernichtet. Der Ordnung der Dinge nach ist der Staat selbst die Parthei des Verlezten, gegen welchen er, bei ihr selbst Klage zu führen hätte, denn er sezte sich zum Bürgen der Unmöglichkeit eines solchen Angriffs. In diese Lage hat der Verbrecher den Staat gesezt; er hat also den Staat selbst angegriffen: und der obige Grundsaz ist auf ihn anwendbar: er ist für rechtlos zu erklären. [67] Unmittelbar an dem Staate vergeht man sich durch Rebellion und Hochverrath. Rebellion ist es, wenn man gegen die Gewalt des Staats sich eine Macht zu verschaffen sucht, oder sie sich wirklich verschafft, und mit derselben sich ihr widersezt. Hochverrath ist es, wenn man sich der vom Staate selbst verliehenen Macht bedient, um die Zwecke desselben zu stören oder zu vernichten; oder auch, wenn man sich der anvertrauten Macht nicht bedient, um diese Zwecke zu befördern; sonach des Vertrauens der Nation sich bedient, um ihre Absichten zu vereiteln. Nichtgebrauch der Gewalt, ist der öffentlichen Sicherheit eben so gefährlich, als der Mißbrauch derselben, und daher eben so strafbar. Ob du dich der verliehe-
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nen Gewalt selbst zu Gewaltthätigkeiten bedienst, oder ob du durch die Nichtanwendung derselben, die Gewaltthätigkeiten anderer verstattest, ist für uns dasselbe. In einem Falle wie in dem andern, werden wir unterdrückt. Nachdem jemand die Gewalt übernommen, rechnet die Nation auf die Ausführung der Zwecke, für welche sie dieselbe verliehen; und trift keine anderweitigen Anstalten. Hätte derselbe den Auftrag nur gleich abgelehnt, wozu er das vollkommene Recht hatte, so hätte die Nation einen andern suchen müssen; aber dadurch, daß er ihn übernahm, und doch nicht vollzieht, macht er, so viel an ihm ist, die Vollziehung desselben durch einen andern unmöglich. Rebelliren können nur Privatpersonen; des Hochverraths sind nur die Theilhaber der öffentlichen Gewalt fähig. IV.) Alle die bisher aufgestellten Arten der Vergehung qualificiren sich zur absoluten Ausschliessung vom Staate; darum, weil die einzige Art der Abbüßung, die wir bis jezt kennen, die des gleichen Verlustes, nicht Statt findet. – Es bleibt immer die Frage, ob es nicht noch ein anderes Abbüßungsmittel, als den gleichen Verlust geben möge. Wäre dies, so wäre aus den obigen Gründen dieses Mittel, da wo es anwendbar ist, statt der absoluten Ausschliessung vom Staatsbürgervertrage, einzuführen. Zuförderst der Arme, der aus Eigennuz etwas entwendet, und nichts hat, um zu ersetzen, wenn das entwendete nicht mehr vorhanden ist, und die Strafe zu entrichten; soll denn wirklich mit der Strafe der Ausschliessung gegen ihn verfahren werden? Es findet eine Auskunft Statt, durch die ihm die Wohlthat des Gesetzes zu Theil werden kann. Er hat ein Eigenthum an seinen Kräften, und muß den Ersaz sowohl, als die Strafe abarbeiten; es versteht sich, sogleich, denn ehe abgearbeitet ist, ist er nicht Bürger; Wie denn, da durch jedes Vergehen der Strenge nach das Bürgerrecht verwirkt wird, dies bei allen Strafen Statt findet. Nur nach Vollziehung der Strafe ist der Verurtheilte wieder Bürger. Ferner muß diese Arbeit nothwendig unter der Aufsicht des Staats geschehen. Er verliert also, bis nach erlittener Strafe seine Freiheit. - (Die Strafe des Arbeitshauses, welches vom Zucht- und Besserungshause, wovon tiefer unten, wohl zu unterscheiden [68] ist.) Theils wird auf diese Weise dem Gesetze des gleichen Verlustes genug gethan; theils ist die Strafe von der Art, daß man, wenn nur die Policei so eingerichtet ist, daß die Verborgenheit des Verbrechers nicht zu hoffen sey, wohl darauf rechnen kann, es werde jeder durch die Androhung derselben vom Vergehen zurückgehalten werden. Formaliter böser Wille, oder ein unmittelbares Staatsverbrechen, machen es schlechterdings unmöglich, daß bei seinen gegenwärtigen Gesinnungen der Verbrecher länger in der Gesellschaft geduldet werde. Gegen ihn ist die Strafe der Ausschliessung schlechterdings nothwendig, und durch das Rechtsgesez, so wie durch den Zweck des Staats, schon ausgesprochen. Aber es ist nicht schlechterdings nothwendig, daß der Verbrecher in diesen Gesinnungen verharre. Es ist sonach wohl möglich, daß ein zweiter Vertrag über die Abbüßung, der für die Gegenwart ohne allen Zweifel für rechtlich zu erkennenden Ausschliessung errichtet werde, des Inhalts: Alle versprechen Allen, ihnen Gelegenheit zu geben, sich des Lebens in der Gesellschaft wieder fähig zu machen,
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wenn sie desselben für die Gegenwart unfähig befunden werden; und, was in diesem Vertrage mit liegt, sie nach erfolgter Besserung wieder unter sich aufzunehmen. – Ein solcher Vertrag ist willkührlich, und wohlthätig: aber er kommt allen zu Statten, und der Verbrecher erhält sonach durch ihn ein Recht, auf den Versuch der Besserung. Zuförderst, die Strafe, welche diesem Vertrage zufolge aufgelegt wird, ist eine Abbüßung der gänzlichen Ausschliessung, also eine Rechtswohlthat für den Verbrecher. Aber man kann auf sein Recht Verzicht thun; und es steht bei jedem, was er für Wohlthat halten wolle, und was nicht: er kündigt sich dadurch selbst an, als einen unverbesserlichen Bösewicht, der die Zucht verschmäht, und ist ohne weiteres auszustoßen. Man glaube nicht, daß dadurch ein Weg eröffnet werde, um der Strafe zu entgehen, und daß durch die Verstattung dieser Wahl, der Zweck des Gesetzes, vom Verbrechen abzuschrecken, vereitelt werde. Wenn der Staat vernünftig, und auch die benachbarten Staaten vernünftig eingerichtet sind, so ist die Ausschliessung vom Staate das schrecklichste Schicksal, welches dem Menschen begegnen kann, wie sich dies unten näher zeigen wird; und es ist nicht zu erwarten, daß jemand sie wähle, oder, bei der Versuchung zum Verbrechen sich damit beruhige, daß er, falls sein Vergehen entdeckt werden sollte, sie wählen werde. – (Es ist dies auch bei der Strafe des gleichen Verlustes anzumerken, daß der Schuldige sich ihr frei unterwerfen müsse, da sie gleichfalls eine Rechtswohlthat ist. Aber es ist in diesem Falle gar nicht anzunehmen, daß jemand den Verlust des Ganzen, der mit der Ausschliessung unmittelbar verknüpft ist, für den Verlust eines Theils wählen werde.) Ferner, es war von Besserung die Rede in diesem Vertrage. Keinesweges von [69] moralischer der innern Gesinnungen. Denn darüber ist kein Mensch der Richter des andern, sondern lediglich von politischer, der Sitten und Maximen für das wirkliche Handeln. So wie die moralische Gesinnung Liebe der Pflicht um der Pflicht willen ist, so ist hingegen die politische, Liebe sein selbst um sein selbst willen, Sorge für die Sicherheit seiner Person, und seines Eigenthums; und der Staat kann ohne alles Bedenken als sein Grundgesez annehmen: liebe dich selbst über alles, und deine Mitbürger um dein selbst willen. Diese über alles gehende Liebe für sich selbst, wird in der Hand des Strafgesetzes eben das Mittel, den Bürger zu nöthigen, daß er die Rechte anderer ungekränkt lasse, indem jeder, was er dem andern Übels zufügt, sich selbst zufügt. Diese Sorge für die eigene Sicherheit ist es, welche den Menschen in den Staat trieb, und wer sie aufgiebt, hat keinen Grund in ihm zu bleiben. Sie allein ist es, durch welche jeder dem Staate die erfoderliche Garantie giebt, und bei welcher allein der Staat ihn festhält. Wer sie nicht hat, auf den verliert das Gesetz alle Wirksamkeit. Man entledigt sich derselben auf zweierlei Art: entweder, daß man sich über sie erhebe durch reine Moralität, sein empirisches Selbst, in dem Endzwecke der gesammten Vernunft vergesse; dann hat das Strafgesez nichts zu bestimmen, indem die politische Gerechtigkeit, als Pflicht, von selbst erfolgt: oder dadurch, daß man unter ihr zurückbleibt, und sein eignes Wohl für nichts achtet, aus Rohheit und Verwilderung. Dann kann das Strafgesez nicht bestimmen, und ein solcher Mensch ist des Lebens unter andern schlechthin unfähig. Politische Besserung ist Rückkehr zur Sorge für seine eigene Sicherheit. –
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Wer um des Schadens willen geschadet hat, hat ausser der inneren Bosheit, darüber der Staat nicht Richter ist, eine Wildheit der Sitten, und eine ungewöhnliche Sorglosigkeit für sich selbst gezeigt. Wenn nur an die Stelle jener Wildheit Sanftheit und Milde träte, wenn der Schuldige nur erst anfinge, für seine eigene Sicherheit Sorge zu tragen, wozu ihn die langwierige Strafe und die mancherlei Uebel derselben wohl treiben werden, so kann er wieder in die Gesellschaft gelassen werden. Derselbe Fall ist es bei demjenigen, der gewaltsam des andern Gut oder Leib angefallen hat. Er ist wild, und unbändig. Bei dem ersten kommt noch hinzu die ungezähmte Begierde nach des andern Gute. Er lerne nur sein eignes lieben, und schätzen, und seinen Sinn auf die Bewahrung desselben richten. Ein guter ordentlicher Wirth ist nie ein Dieb, oder Räuber; nur der liederche Wirth wird es. – Der Rebell kann oft ein gutmüthiger nur verirrter Schwärmer seyn. Er berichtige seine Begriffe, lerne die Wohlthat der bürgerlichen Verfassung überhaupt, und insbesondre der in seinem Staate kennen, und dann wird er vielleicht einer der trefflichsten Bürger werden. – Der Hochverräther allein [70] hat ehr- und treulos zugleich gehandelt; das Zutrauen des Volks für ein öffentliches Amt kann er nie wieder erhalten. Er ist an Macht und Befehlen gewöhnt, und wird nicht leicht mit einer bescheidenen Dunkelheit, und einem kleinen Privatgeschäfte sich begnügen wollen. Aber es käme darauf an, ob man seinen Sinn so weit herunterstimmen könnte. Dies mag schwer seyn: aber wer wollte die absolute Unmöglichkeit desselben behaupten. (Dionys wurde Schulmeister zu Corinth.) Die Hauptregel dabei ist: daß man an ihrer Besserung nicht verzweifle, und sie selbst nicht verzweifeln mache; ferner, daß sie noch eine gewisse Zufriedenheit mit ihrem Zustande, und die Hoffnung des bessern beibehalten. Beides wird unter andern dadurch befördert, daß sie ihn selbst mit Freiheit statt der Ausschliessung gewählt haben; sich selbst die Aufgabe der Besserung gegeben haben. Sie werden sich selbst vertrauen, weil ihnen ja der Staat vertraut. Diese Besserungsanstalten nun müssen nur auch zweckmäßig eingerichtet seyn. Zuförderst, von der Gesellschaft wirklich abgeschieden; nach dem Geiste des Gesetzes. Für allen Schaden, den diese aus der Gesellschaft vorläufig ausgeschlossenen anrichten, hat der Staat schwere Verantwortung. Also, sie haben insofern ihre Freiheit völlig verloren. Aber wer sich bessern soll, muß frei seyn: und über wessen Besserung man urtheilen soll, der muß gleichfalls frei seyn. Es ist also eine Hauptmaxime: diese Menschen müssen innerhalb der nothwendigen Begrenzung frei seyn, und unter sich in Gesellschaft leben. – Nichts für sie ohne Arbeit. Es würde der größte Fehler dieser Einrichtungen seyn, wenn den Gefangenen ihre Bedürfnisse gereicht würden, ob sie arbeiteten oder nicht; und der Müssiggang etwa durch die herabwürdigendste Behandlung, durch Schläge, nicht aber durch seine natürliche Folge, durch Mangel, bestraft würde. Ferner, aller Ertrag ihrer Arbeit, nach Abzug ihres Unterhalts muß ihnen zu eigen verbleiben. So ist ihnen auch ihr Eigenthum im Staate, wenn sie welches haben, aufzuheben, und indeß in die Vormundschaft des Staats zu nehmen, so daß sie es wissen. Es soll Liebe der Ordnung, der Arbeit, des Eigenthums entstehen, wie könnte dies, wenn Ordnung und Arbeit ihnen nichts nuzt, und sie kein Eigenthum erwerben können. Sie müssen unter Aufsicht stehen, und auch nicht darunter stehen. So lange sie nicht gegen das Gesez handeln, muß die Aufsicht nicht bemerkbar seyn; sobald sie sich dagegen vergehen, muß die Strafe der Vergehung auf dem Fuße nachfolgen.
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(Man bediene sich darzu abgelegner Gegenden, unbewohnter Inseln, und Küsten, wenn der Staat ein seefahrender ist. Und giebt es nicht auch auf großen Flüssen im festen Lande dergleichen Inseln? Der Staat, der dabei den Kostenaufwand [71] scheute, verdiente keine Antwort. Wozu sind denn die Einkünfte des Staats, wenn sie nicht für dergleichen Zwecke sind? Auch würde der Aufwand, wenn sie nur zweckmäßig eingerichtet sind, und jede Person mit dem beschäftigt wird, was sie gelernt hat, nicht so gar groß seyn. Wer sich ernähren konnte, da er allein lebte, wird es ja noch viel eher können, wo eine Menge Menschen zusammen leben; und es wird dann auch noch etwas für die Kosten der Aufsicht abfallen. Freilich, wenn bei dergleichen Anstalten Veruntreuungen über Veruntreuungen Statt finden, dann werden sie kostbar.) Der Zweck, und die Bedingung, daß der Staat die Schuldigen noch erhält, ist die Besserung. Sie müssen demnach sich auch wirklich bessern, oder das Bedingte, die Geduld des Staats, fällt weg. Es würde sehr zweckmäßig seyn, wenn der Verbrecher sich selbst, nach Maassgabe seiner Verdorbenheit, die Zeit bestimmen dürfte, binnen welcher er gebessert seyn wolle; doch mit dem Vorbehalte, daß es ihm etwa späterhin frei stünde, sie nach einem gewissen Maasstabe zu verlängern. Allen aber muß nach Befinden der Umstände ein peremtorischer Termin der Besserung gesezt seyn. Es ist, wie schon oben ist eingeschärft worden, nicht von sittlicher, sondern lediglich von politischer Besserung die Rede, und es entscheiden hier nicht Worte, sondern Thaten. Und da kann es denn, bei der beschriebenen Einrichtung, besonders wenn bei dem Anscheine der Besserung die Strenge der Aufsicht allmählig nachließe, damit die wahren Gesinnungen des Züchtlings sich freier entwickeln könnten, nicht schwer seyn, zu entscheiden, ob Liebe zum Fleiße und zur Ordnung, an die Stelle der Liederlicheit, sanfter Sinn an die Stelle der Wildheit getreten sey. Es versteht sich, daß die zu dieser Beurtheilung verordneten, verständige und gewissenhafte Männer seyen, welche für das zukünftige Leben dieser Personen verantwortlich zu machen sind. Die gebesserten kehren in die Gesellschaft zurück, und werden völlig wieder in ihren vorigen Stand eingesezt. Sie sind durch die Strafe, und durch die erfolgte Besserung mit der Gesellschaft vollkommen ausgesöhnt. Wenn man nur diese Anstalten als wirkliche Besserungsmittel, und nicht bloß als Strafe betrachtete, und nicht etwa die nur für eine Zeitlang aufbehaltenen und im Grunde durch zweckwidrige Behandlung verschlimmerten, sondern nur die wirklich gebesserten wieder in die Gesellschaft zurückließe, so würde auch in der öffentlichen Meinung kein Mistrauen gegen sie, sondern vielmehr Zutrauen, Statt finden. Die binnen des peremtorischen Termins nicht gebesserten, werden als unverbesserlich ausgeschlossen von der Gesellschaft. Diese Anstalt soll zugleich Strafe seyn, und als solche vom Vergehen abschrecken. Der Verlust der Freiheit, die Absonderung von der Gesellschaft, die strenge Auf-[72] sicht, alles ist dem, der jezt frei ist, fürchterlich genug; nichts verhindert überdem, daß denen, die draußen sind, das Schicksal der Züchtlinge noch härter vorgestellt werde, als es wirklich ist, und daß Unterscheidungen mit ihnen vorgenommen werden, die andere schrecken, ohne an sich ein Uebel zu seyn, und die Gemüther zu verwildern; z.B. ausgezeichnete Kleidung, eine Fessel, die nicht
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schmerzt und nicht sehr hindert. Der Züchtling gewöhnt sich daran, und bei dem, der draußen ist, macht es den gehörigen Eindruck. V.) Das einzige Verbrechen, bei welchem selbst die Bemühung, den Verbrecher zu bessern, nicht Statt findet, und gegen welches sonach ohne weiteres mit absoluter Ausschliessung zu verfahren ist, ist absichtlicher vorbedachter Mord, (nicht etwa ein solcher der aus einer andern Gewaltthätigkeit zufälliger Weise erfolgte.) Der Grund davon ist dieser: wer gemordet hat, von dem ist zu besorgen, daß er auch wohl wieder morden könne. Aber der Staat hat das Recht nicht jemanden zu nöthigen, sein Leben in Gefahr zu setzen. Er könnte sonach keinen zwingen, die Aufsicht über einen Mörder zu übernehmen, der doch, um sich bessern zu können, eine gewisse Freiheit haben müßte; und eben so wenig die andern für die Besserung aufbewahrten zwingen, einen Mörder unter sich zu dulden. (Ich habe gesagt: der Staat habe nicht das Recht jemanden zu nöthigen, sein Leben in Gefahr zu setzen. Aber jeder hat das Recht, dasselbe freiwillig in Gefahr zu begeben. Wenn nun etwa Gesellschaften, und milde Stiftungen vorhanden wären, die es auf jede Gefahr auch mit dem Mörder auf sich nehmen wollten, den Versuch seiner Besserung zu wagen, so müßte ihnen dies verstattet werden; falls nur die Behältnisse der Mörder so verwahrt werden könnten, daß man gegen ihre Entweichung gesichert wäre. Es ist, aus Gründen, die sich tiefer unten zeigen werden, zu wünschen, daß es dergleichen Gesellschaften gebe.) Was ist nun mit denen zu thun, welche absolut ausgeschlossen werden vom Staate, es sey ohne vorläufige Probe der Besserung, weil sie Mörder sind, oder weil sie sich dieser Probe nicht unterwerfen wollten, oder es sey nach mislungener Probe? Dies ist bei weitem die wichtigste Untersuchung in der Theorie der Strafen. Wir hoffen durch sie einer Menge Verwirrungen ein Ende zu machen; und werden nicht, wie es gebräuchlich ist, bloß sagen, sondern erweisen. a) Die Erklärung der Rechtslosigkeit ist das höchste, was der Staat als solcher, gegen irgend ein vernünftiges Wesen verfügen kann. Denn der Staat ist Staat für jeden Einzelnen durch den Vertrag. Er kann nichts weiter thun, als den Vertrag für aufgehoben erklären. Beide, der Staat und der Einzelne, sind von nun an, da es, ohne diesen Vertrag, gar kein Rechtsverhältniß für sie giebt, einander [73] gar nichts mehr; sie sind ohne alles Verhältniß, sie sind für einander vernichtet. Was der Staat darüber hinaus noch thut, dazu hat er aus dem Vertrage kein Recht, und da es ausser demselben, gar kein positives, bestimmtes, und bestimmbares Recht giebt, überhaupt kein Recht. b) Was aber erfolgt denn aus der Erklärung der Rechtslosigkeit? Die völlig willkührliche Behandlung des Verurtheilten: nicht, daß man ein Recht dazu habe, sondern, daß auch kein Recht dagegen ist; also der Verurtheilte wird erklärt für eine Sache, für ein Stük Vieh. – Man kan nicht sagen: ich habe in Beziehung auf das Thier (aber wohl in Beziehung auf die übrigen Bürger im Staate) ein Recht, dieses Thier zu schlachten; aber eben so wenig: ich habe das Recht nicht. Es ist hier überhaupt vom Rechte gar nicht die Frage, sondern vom physischen Vermögen. Von dem bloß negativen Satze: es giebt keinen Grund dagegen, ist noch sehr weit zu dem positiven: es giebt einen Grund dafür. – So verhält es sich mit dem aus dem Staate absolut ausgeschlossenen. Es läßt sich gar kein Grund aus dem
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(äußern) Rechte anführen, warum ihn nicht, der erste der beste, dem es einfällt, ergreifen, willkührlich martern und tödten sollte; aber auch keiner dafür. c) Wird es jemand thun, und wenn es doch einer thäte; was würde erfolgen? Eine Ahndung des Staates nicht, denn der Verurtheilte hat kein Recht; aber die Verachtung aller Menschen, die Ehrlosigkeit. Wer ein Thier zur Lust martert, oder ohne den Zweck eines Vortheils tödtet, wird verachtet, als ein unmenschlicher Barbar, geflohen und verabscheut, und das mit Recht. Wie vielmehr der sich an einem Wesen, das doch immer menschliches Angesicht trägt, so verginge. Man unterläßt es sonach nicht, wegen eines Rechts des andern, sondern aus Achtung gegen sich selbst, und seine Mitmenschen. (Von der moralischen Ansicht dieser That ist hier noch gar nicht die Rede, sondern lediglich von ihren Folgen in der Gesellschaft.) d) Wie verhält es sich in dieser Rücksicht mit dem Staate? Zuförderst ist der Staat in Beziehung auf den Verurtheilten, gar nicht mehr Staat, er ist ihm nichts mehr. Dann – alle Abbüßungen gründen sich auf einen gegenseitigen Vertrag. Der Staat hat von seiner Seite das Recht, diese Buße aufzulegen; der Uebertreter des Gesetzes von der seinigen das Recht, zu verlangen, daß man ihn nicht härter bestrafe. Die Ausschliessung aber gründet sich nicht auf den Bürgervertrag, sondern umgkehrt auf die Nullität desselben. Ueber diese hinaus sind beide Partheien einander nichts mehr, und wenn der Staat den Verbrecher tödtet, so thut er das nicht, als Staat, sondern als stärkere physische Macht, als bloße Naturgewalt. – Der Staat hat die gleichen Gründe, die Tödtung zu unterlassen, welche die Privatperson hat; nicht das Recht des Rechtslosen, der keines hat, sondern die Achtung vor sich selbst, vor seinen Bürgern und vor andern Staaten. [74] Doch giebt es einen möglichen Grund, der den Staat bewegen kann, den Verbrecher zu tödten; der, daß er sich nur auf diese Weise vor ihm schützen könne. Da gar kein Grund dagegen ist, so entscheidet dieser dafür. Der Verbrecher ist dann ein schädliches Thier, das niedergeschossen, ein ausreissender Strom, der gedämmt wird, kurz, eine Naturgewalt, die durch Naturgewalt vom Staate abgetrieben wird. Sein Tod ist gar nicht Strafe, sondern nur Sicherungsmittel. Dies giebt uns die ganze Theorie der Todesstrafen. Der Staat als solcher, als Richter, tödtet nicht, er hebt bloß den Vertrag auf, und dies ist seine öffentliche Handlung. Wenn er hintennach noch tödtet, so geschieht dies nicht durch die richterliche Gewalt, sondern es geschieht durch die Policei. Der Gerichtete ist für die Gesezgebung vernichtet, er fällt der Policei anheim. Es geschieht nicht zufolge eines positiven Rechtes, sondern aus Noth. Was nur die Noth entschuldigt, ist nichts ehrenvolles; es muß daher, wie alles unehrbare, und doch nothwendige mit Schaam und in Geheim geschehen. - Werde der Missethäter im Gefängnisse erdrosselt, oder enthauptet! Durch Zerreissung des Vertrags, (die durch das Brechen des Stabes sehr passend bezeichnet wird) ist er schon bürgerlich todt, und aus dem Andenken der Bürger vernichtet. Was mit dem physischen Menschen vorgenommen werde, geht den Bürger nichts weiter an. Daß keiner getödtet werden dürfe, vor Aufhebung des Bürgervertrags, versteht sich ohnedies. (Was kann die Vernunft sagen zu dem Gepränge, das bei Hinrichtungen getrieben wird; oder darzu, daß man die Leiber der Hingericheten aufhängt, auf das Rad flicht, u.d.gl., – so wie die Wilden die Kopfhäute ihrer erschlagenen Feinde um sich herum aufhängen?)
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Der Tod des Verbrechers ist etwas zufälliges, kann daher im Gesetze gar nicht angekündigt werden; aber die Ausschließung vom Staate wird angekündigt. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Tod gar wohl auf sie folgen könne. Darum geschieht die erstere nothwendig öffentlich zur Erfüllung des Gesetzes; aber nur sie. – Die Todesstrafen durch Martern schärfen ist Barbarei. Der Staat wird dann ein wilder, schadenfroher rachewüthender Feind, der seinen Feind vorher noch recht quält, damit er den Tod fühle (ut mori se sentiat.) [...] [75] [...] e) Es ist noch ein Umstand zu bedenken, bei der Tödtung des Verbrechers, welchen wir hier, ohnerachtet es eigentlich keine juridische Ansicht ist, dennoch nicht übergehen können. Es ist nemlich nach dem Sittengesez in jedem Falle schlechthin verboten, absichtlich zu tödten, (nicht etwa das Leben des andern um irgend eines durch die Vernunft gebotenen Zwecks willen nur in Gefahr zu bringen). Ieder Mensch ist anzusehen, als Mittel zur Beförderung des Vernunftzweckes. Keiner kann den Glauben, daß der andere, so verderbt er auch gegenwärtig seyn möge, doch noch gebessert werden könne, aufgeben, ohne seinen eigenen durch die Vernunft ihm als nothwendig aufgestellten Zweck aufzugeben. Der strenge Beweiß dieser Behauptung, wird da, wo er zu fodern ist, in einem Moralsysteme, geführt werden. [...] f) Die Hinrichtung unverbesserlicher Bösewichter ist daher immer ein Uebel, obgleich ein nothwendiges, und es ist daher eine Aufgabe für den Staat, dies unnöthig zu machen. – Was soll nun derselbe mit den verurtheilten Verbrechern thun, wenn er sie nicht tödten soll? Ewige Gefangenschaft ist für den Staat selbst lästig, und wie könnte er denn die Bürger, als solche, verbinden, die Kosten derselben, die für keinen ihrer möglichen Zwecke verwendet werden, da ja keine Besserung und Wiederaufnahme in den Staat zu hoffen ist, zu tragen? Es bleibt nichts übrig, als ewige Landesverweisung – nicht Deportation; diese ist ein Zuchtmittel, und über die Deportirten behält der Staat die Aufsicht. Ist zu befürchten, daß der Verbrecher wiederkomme, so brandmarke man ihn, so wenig schmerzhaft als möglich; denn der Staat muß nicht das Ansehen eines Quälers [76] haben, (wie er sich dasselbe z.B. auch durch den mit der Landesverweisung verknüpften Staupenschlag giebt) aber unauslöschlich. Auch dies ist nicht Strafe, sondern Sicherungsmittel und fällt der Policei anheim. Was soll mit dem so gebrandmarkten, und aus dem Staate gestoßenen werden? so fragt nicht der Bürger, sondern der Mensch. Ziehe er in eine Wildnis, lebe er unter Thieren; dies ist durch Zufall Menschen begegnet, die keine Verbrecher waren, und jeder, der in der hier aufgestellten Verfassung das Brandmal erhält, ist ein unverbesserlicher. Anmerkung. Gegen diese Theorie der Strafen überhaupt, und insbesondere der Todesstrafen wird ein absolutes Strafrecht aufgestellt, nach welchem die richterliche Strafe nicht als Mittel sondern selbst als Zweck betrachtet werden, und sich auf einen unerforschlichen kategorischen Imperativ gründen soll. Da man in dieser Theorie wegen der vorgeschüzten Unerforschlichkeit sich des Beweises seiner Behauptungen überheben kann, hat man gut, diejenigen welche anders denken, der Empfindelei, und einer affectirten Humanität zu bezüchtigen, und sie kurz und gut Sophisten und Rechtsverdreher zu nennen; ganz gegen die gerühmte und mit Recht zu fodernde Gleichheit (der Gründe) und Freiheit, (seine mit Gründen un-
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terstüzte Meinungen vorzutragen,) auf dem Gebiete der Philosophie. Die einzige hervorragende Seite dieses Systems, bei welcher man dasselbe anfassen könne, scheint mir diese: „Man hat nie gehört, sagt man, daß ein wegen Mords zum Tode Verurtheilter sich beschwert hätte, daß ihm damit zu viel und unrecht geschähe; jeder würde ihm ins Gesicht lachen, wenn er [77] sich dessen äusserte“. Dies ist, bloß das ins Gesicht lachen abgerechnet, so wahr, daß, wenn ein mit einer Blutschuld Behafteter selbst von einer an sich ganz ungerechten, und von der Verschuldung nichts wissenden Gewalt ermordet würde, der Schuldige selbst, wenn er sich dabei seines Vergehens erinnerte, und jeder, der darum wüßte, würde urtheilen müssen, daß ihm daran gar nicht Unrecht geschähe. Es ist völlig wahr, daß wir genöthigt sind, zu urtheilen, in einer moralischen Weltordnung, unter einem allwissenden Richter nach moralischen Gesetzen geschehe dem, der nach dem Gesetze behandelt wird, das er selbst aufstellte, gar nicht Unrecht; und dieses den Menschen sich aufdringende Urtheil gründet sich auf einen kategorischen Imperativ. Es ist sonach darüber gar kein Streit, ob dem Mörder unrecht geschehe, wenn er das Leben wieder auf eine gewaltsame Weise verlieren muß. Es war die ganz andere Frage zu beantworten, woher denn irgend einem Sterblichen das Recht dieser moralischen Weltregierung, das Recht, dem Verbrecher sein Recht anzuthun, kommen solle; und diese lediglich juridische Frage hatte der edle Beccaria im Sinne; welchem ohne Zweifel jenes moralische Urtheil nicht unbekannt war. Wer dem weltlichen Oberherrn dieses Recht zuschreibt, der ist allerdings, wie in demselben Systeme geschieht, genöthigt, den Rechtstitel desselben für unerforschlich auszugeben, und seine Gewalt von Gott abzuleiten, ihn für den sichtbaren Statthalter desselben, und alle Regierung für Theokratie zu halten. Denn in der jüdischen Theokratie war der Saz: Wer [78] Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden, Aug um Auge, Zahn um Zahn, völlig an seinem Orte. Diese Prämisse nur wäre erst zu erweisen gewesen. Nun passen überdies dergleichen Behauptungen gar nicht in ein Rechtssystem, in welchem dem Volke die gesezgebende Gewalt zugeschriehen wird, und in welchem der Gesezgeber nicht zugleich der Regent seyn kann; man muß sonach glauben, daß dieselben Fragmente einer sehr alten Bearbeitung sind, die sich durch einen bloßen Zufall hieher verloren haben. VI.) Wer den andern an seiner Ehre unschuldig und boshafter Weise angreift, verliert selbst die seinige, der Natur der Sache nach, denn er macht sich alles Zutrauens anderer unfähig. – Da der Staat dem unschuldig angegriffenen ohnedies Ersaz schuldig ist, so macht er das Factum öffentlich bekannt, und läßt, wie billig, der Meinung des Publikums freien Lauf. Pranger und Schandsäule sind Mittel die Aufmerksamkeit des Publikums zu schärfen; und die Schande ihm zu versinnlichen. – Sie müssen so wenig, als es möglich, schmerzhaft seyn – (wie z.B. die Trille es ist;) und sind Strafen für sich, und mit andern Strafen nicht zu verbinden, wenn nicht der Natur der Sache nach Ehrlosigkeit auf das Verbrechen folgt. Der zu bessernde wird nicht ehrlos; der auszuschliessende fragt nicht nach Ehre, denn er kommt ja ausser den Staat. Nur wo die Natur des Verbrechens es mit sich bringt, ist die Strafe der Ehrlosigkeit hinzuzufügen, z.B. bei Hausdieberei. [79] [...]
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VIII.) Es giebt, wie wir gesehen haben, überhaupt zwei ganz verschiedene Arten der Strafen, solche, die sich auf einen Vertrag, und eine solche, die sich auf die absolute Nullität des Vertrags gründet. Es ist ohne weiteres klar, daß der Bürger verbunden sey, sich den ersten ohne Zwang zu unterwerfen, da sie in einer gewissen andern Rücksicht auch seine Rechte sind, auch daß er zu dieser freiwilligen Unterwerfung gar füglich genöthigt werden könne, da ja härtere Strafen möglich sind, und er noch immerfort alles sein noch nicht verwirktes Eigenthum als Unterpfand seiner Unterwürfigkeit einsezt. Er muß sich der Untersuchung freiwillig stellen, und er kann gestraft werden, wenn er es nicht thut. Es ist sonach gar kein Grund vorhanden, sich seiner Person zu bemächtigen. Dagegen kann der Schuldige kein Unterpfand geben, wenn sich seine That entweder zur absoluten Ausschliessung von der Gesellschaft, oder zur einstweiligen im Besserungshause qualificiret; weil er im ersten Falle alle seine Rechte kategorisch, im zweiten problematisch (auf den Fall, daß er sich nicht bessere) verloren hat. Hier sonach muß sich der Staat der Person des Schuldigen bemächtigen. – Das Zwangsrecht des Staates hebt an beim relativen Eigenthum; es geht, wenn dasselbe zur Genugthuung nicht hinlänglich ist, fort zum absoluten, und bricht, wenn der Schuldige nicht gutwillig entrichtet, was er soll, ein in das Haus, und hält sich endlich, wenn auch dieses verwirkt ist, an die Person.
Immanuel Kant (1724–1804) Metaphysik der Sitten. Rechtslehre (1797) Einleitung in die Metaphysik der Sitten. [...] [323] [...] III. Von der Einteilung einer Metaphysik der Sitten. Zu aller Gesetzgebung (sie mag nun innere oder äußere Handlungen, und diese, entweder a priori durch bloße Vernunft, oder durch die Willkür eines andern vorschreiben) gehören zwei Stücke: erstlich, ein Gesetz, welches die Handlung, die geschehen soll, objektiv als notwendig vorstellt, d.i. welches die Handlung zur Pflicht macht, zweitens, eine Triebfeder, welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjektiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft; mithin ist das zweite Stück dieses: daß das Gesetz die Pflicht zur Triebfeder macht. Durch das erstere wird die Handlung als Pflicht vorgestellt, welches ein bloß theoretisches Erkenntnis der möglichen [324] Bestimmung der Willkür, d.i. praktischer Regeln ist; durch das zweite wird die Verbindlichkeit, so zu handeln, mit einem Bestimmungsgrunde der Willkür überhaupt im Subjekte verbunden. Alle Gesetzgebung also (sie mag auch in Ansehung der Handlung, die sie zur Pflicht macht, mit einer anderen übereinkommen, z.B. die Handlungen mögen in allen Fällen äußere sein) kann doch in Ansehung der Triebfedern unterschieden sein. Diejenige, welche eine Handlung zur Pflicht, und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht selbst, zuläßt, ist juridisch. Man sieht in Ansehung der letztern leicht ein, daß diese von der Idee der Pflicht unterschiedene Triebfeder von den pathologischen Bestimmungsgründen der Willkür der Neigungen und Abneigungen und unter diesen von denen der letzteren Art hergenommen sein müssen, weil es eine Gesetzgebung, welche nötigend, nicht eine Anlockung, die einladend ist, sein soll. Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben. Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei, und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden kann. Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt. Aber eben darum, weil die ethische Gesetzgebung die innere Triebfeder der Handlung (die Idee der Pflicht) in [325] ihr Gesetz mit einschließt, welche Bestimmung durchaus nicht in die äußere Gesetzgebung einfließen muß, so kann die ethische Gesetzgebung T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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keine äußere (selbst nicht die eines göttlichen Willens) sein, ob sie zwar die Pflichten, die auf einer anderen, nämlich äußeren Gesetzgebung beruhen, als Pflichten, in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern aufnimmt. Hieraus ist zu ersehen, daß alle Pflichten bloß darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik gehören; aber ihre Gesetzgebung ist darum nicht allemal in der Ethik enthalten, sondern von vielen derselben außerhalb derselben. So gebietet die Ethik, daß ich eine in einem Vertrage getane Anheischigmachung, wenn mich der andere Teil gleich nicht dazu zwingen könnte, doch erfüllen müsse: allein sie nimmt das Gesetz (pacta sunt servanda), und die diesem korrespondierende Pflicht aus der Rechtslehre als gegeben an. Also nicht in der Ethik, sondern im Ius, liegt die Gesetzgebung, daß angenommene Versprechen gehalten werden müssen. Die Ethik lehrt hernach nur, daß, wenn die Triebfeder, welche die juridische Gesetzgebung mit jener Pflicht verbindet, nämlich der äußere Zwang, auch weggelassen wird, die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei. [...] Es ist keine Tugendpflicht, sein Versprechen zu halten, sondern eine Rechtspflicht, zu deren Leistung man gezwungen werden kann. Aber es ist doch eine tugendhafte Handlung (Beweis der Tugend), es auch da zu tun, wo kein Zwang besorgt werden darf. Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedene Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet. [326] Die ethische Gesetzgebung (die Pflichten mögen allenfalls auch äußere sein) ist diejenige, welche nicht äußerlich sein kann; die juridische ist, welche auch äußerlich sein kann. So ist es eine äußerliche Pflicht, sein vertragsmäßiges Versprechen zu halten; aber das Gebot, dieses bloß darum zu tun, weil es Pflicht ist, ohne auf eine andere Triebfeder Rücksicht zu nehmen, ist bloß zur innern Gesetzgebung gehörig. [...] IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (philosophia practica universalis). [...] [328] [...] Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können. [...] [330] [...] Recht oder Unrecht (rectum aut minus rectum) überhaupt ist eine Tat, sofern sie pflichtmäßig oder pflichtwidrig (factum licitum aut illicitum) ist; die Pflicht selbst mag, ihrem Inhalte oder ihrem Ursprunge nach, sein, von welcher Art sie wolle. Eine pflichtwidrige Tat heißt Übertretung (reatus). Eine unvorsätzliche Übertretung, die gleichwohl zugerechnet werden kann, heißt bloße Verschuldung (culpa). Eine vorsätzliche (d.i. diejenige, welche mit dem Bewußtsein, daß sie Übertretung sei, verbunden ist) heißt Verbrechen (dolus). Was nach äußeren Gesetzen recht ist, heißt gerecht (iustum), was es nicht ist, ungerecht (iniustum). [...] [331] [...] Die verbindenden Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist, [heißen] äußere Gesetze (leges externae). Unter diesen sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Ver-
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nunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber natürliche Gesetze; diejenigen dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein würden), heißen positive Gesetze. Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter natürliche Gesetze enthielte; alsdenn aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d.i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete. Der Grundsatz, welcher gewisse Handlungen zur Pflicht macht, ist ein praktisches Gesetz. Die Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht, heißt seine Maxime; daher bei einerlei Gesetzen doch die Maximen der Handelnden sehr verschieden sein können. Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann. – Deine Handlungen mußt du also zuerst nach ihrem subjektiven Grundsatze betrachten: ob aber dieser Grundsatz auch objektiv gültig sei, kannst du nur daran erkennen, daß, weil deine Vernunft ihn der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich als allgemein gesetzgebend zu denken, er sich zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung qualifiziere. [...] [332] [...] Die Übereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetze ist die Gesetzmäßigkeit (legalitas) – die der Maxime der Handlung mit dem Gesetze die Sittlichkeit (moralitas) derselben. Maxime aber ist das subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will). Dagegen ist der Grundsatz der Pflicht das, was ihm die Vernunft schlechthin, mithin objektiv gebietet (wie er handeln soll). Der oberste Grundsatz der Sittenlehre ist also: handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. – Jede Maxime, die sich hiezu nicht qualifiziert, ist der Moral zuwider. Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden. Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu han- [333] deln (libertas indifferentiae), definiert werden – wie es wohl einige versucht haben –, obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele gibt. Denn die Freiheit (so wie sie uns durchs moralische Gesetz allererst kundbar wird) kennen wir nur als negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum Handeln genötigt zu werden. Als Noumen aber, d.i. nach dem Vermögen des Menschen bloß als Intelligenz betrachtet, wie sie in Ansehung der sinnlichen Willkür nötigend ist, mithin ihrer positiven Beschaffenheit nach, können wir sie theoretisch gar nicht darstellen. Nur das können wir wohl einsehen: daß, obgleich der Mensch, als Sinnenwesen, der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt, dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen, dadurch doch nicht seine Freiheit als intelligiblen Wesen definiert werden könne, weil Erscheinungen kein übersinnliches Objekt (dergleichen doch die freie Willkür ist) verständlich machen können, und daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subjekt auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann, wenn gleich die Erfahrung oft
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genug beweist, daß es geschieht (wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen können). – Denn ein andres ist, einen Satz (der Erfahrung) einräumen, ein anderes, ihn zum Erklärungsprinzip (des Begriffs der freien Willkür) und allgemeinen Unterscheidungsmerkmal (von arbitrio bruto s. servo) machen; weil das erstere nicht behauptet, daß das Merkmal notwendig zum Begriff gehöre, welches doch zum zweiten erforderlich ist. – Die Freiheit, in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft, ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit, von dieser abzuweichen, ein Unvermögen. Wie kann nun jenes aus diesem erklärt werden? Es ist eine Definition, die über den praktischen Begriff noch die Ausübung desselben, wie sie die Erfahrung lehrt, hinzutut, eine Bastarderklärung (definitio hybrida), welche den Begriff im falschen Lichte darstellt.
[334] Gesetz (ein moralischpraktisches) ist ein Satz, der einen kategorischen Imperativ (Gebot) enthält. Der Gebietende (imperans) durch ein Gesetz ist der Gesetzgeber (legislator). Er ist Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht immer Urheber des Gesetzes. Im letzteren Fall würde das Gesetz positiv (zufällig) und willkürlich sein. Das Gesetz, was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet, kann auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d.i. eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten hat (mithin dem göttlichen Willen), hervorgehend ausgedrückt werden, welches aber nur die Idee von einem moralischen Wesen bedeutet, dessen Wille für alle Gesetz ist, ohne ihn doch als Urheber desselben zu denken. Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser Tat bei sich führt, eine rechtskräftige (imputatio iudiciaria, s. valida), sonst aber nur eine beurteilende Zurechnung (imputatio diiudicatoria) sein würde. – Diejenige (physische oder moralische) Person, welche rechtskräftig zuzurechnen die Befugnis hat, heißt der Richter oder auch der Gerichtshof (iudex s. forum). Was jemand pflichtmäßig mehr tut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (meritum); was er nur gerade dem letzteren angemessen tut, ist Schuldigkeit (debitum); was er endlich weniger tut, als die letztere fordert, ist moralische Verschuldung (demeritum). Der rechtliche Effekt einer Verschuldung ist die Strafe (poena); der einer verdienstlichen Tat Belohnung (praemium) (vorausgesetzt, daß sie, im Gesetz verheißen, die Bewegursache war); die Angemessenheit des Verfahrens zur Schuldigkeit hat gar keinen rechtlichen Effekt. – Die gütige Vergeltung (renumeratio s. respensio benefica) steht zur Tat in gar keinem Rechtsverhältnis. Die guten oder schlimmen Folgen einer schuldigen Handlung – imgleichen die Folgen der Unterlassung [335] einer verdienstlichen, können dem Subjekt nicht zugerechnet werden (modus imputationis tollens). Subjektiv ist der Grad der Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas) der Handlungen nach der Größe der Hindernisse zu schätzen, die dabei haben überwunden werden müssen. – Je größer die Naturhindernisse (der Sinnlichkeit), je kleiner das moralische Hindernis (der Pflicht), desto mehr wird die gute Tat zum Verdienst angerechnet. Z.B. wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Not rette.
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Dagegen: je kleiner das Naturhindernis, je größer das Hindernis aus Gründen der Pflicht, desto mehr wird die Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet. – Daher der Gemütszustand, ob das Subjekt die Tat im Affekt, oder mit ruhiger Überlegung verübt habe, in der Zurechnung einen Unterschied macht, der Folgen hat. [336]
Einleitung in die Rechtslehre. § A. Was die Rechtslehre sei. Der Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, heißt die Rechtslehre (ius). Ist eine solche Gesetzgebung wirklich, so ist sie Lehre des positiven Rechts und der Rechtskundige derselben, oder Rechtsgelehrte (iurisconsultus) heißt rechtserfahren (iurisperitus), wenn er die äußern Gesetze auch äußerlich, d.i. in ihrer Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle kennt, die auch wohl Rechtsklugheit (iurisprudentia) werden kann, ohne beide zusammen aber bloße Rechtswissenschaft (iurisscientia) bleibt. Die letztere Benennung kommt der systematischen Kenntnis der natürlichen Rechtslehre (ius naturae) zu, wiewohl der Rechtskundige in der letzteren zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Prinzipien hergeben muß. § B. Was ist Recht? [...] [337] [...] Das Recht ist [...] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann. § C. Allgemeines Prinzip des Rechts. „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc.“ Wenn also meine Handlung oder überhaupt mein Zustand, mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tut der mir Unrecht, der mich daran hindert; denn dieses Hindernis (dieser Widerstand) kann mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen. Es folgt hieraus auch: daß nicht verlangt werden kann, daß dieses Prinzip aller Maximen selbst wiederum meine Maxime sei, d.i. daß es es mir zur Maxime meiner Handlungen mache; denn ein jeder kann frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselben gerne Abbruch tun möchte, wenn ich nur durch meine äußere Handlung ihr nicht Eintrag tue. Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut. Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich, ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch tätlich eingeschränkt werden dürfe; und
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dieses sagt sie als Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist. – Wenn die Absicht nicht ist, Tugend zu lehren, sondern nur was recht sei vorzutragen, so darf und soll man selbst nicht jenes Rechtsgesetz als Triebfeder der Handlung vorstellig machen. § D. Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen. Nun ist alles, was Unrecht ist, ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen; der Zwang aber ist ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Ge- [339] setzen zusammen stimmend, d.i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft. § E. Das strikte Recht kann auch als die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges vorgestellt werden. Dieser Satz will soviel sagen als: das Recht darf nicht als aus zwei Stücken, nämlich der Verbindlichkeit nach einem Gesetze und der Befugnis dessen, der durch seine Willkür den andern verbindet, diesen dazu zu zwingen, zusammengesetzt gedacht werden, sondern man kann den Begriff des Rechts in der Möglichkeit der Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit jedermanns Freiheit unmittelbar setzen. So, wie nämlich das Recht überhaupt nur das zum Objekte hat, was in Handlungen äußerlich ist, so ist das strikte Recht, nämlich das, dem nichts Ethisches beigemischt ist, dasjenige, welches keine andern Bestimmungsgründe der Willkür als bloß die äußern fordert; denn alsdenn ist es rein und mit keinen Tugendvorschriften vermengt. Ein striktes (enges) Recht kann man also nur das völlig äußere nennen. Dieses gründet sich nun zwar auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze, aber die Willkür darnach zu bestimmen darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf dieses Bewußtsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fußet sich deshalb auf dem Prinzip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges, der mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann. [...] [351]
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Der Rechtslehre erster Teil. Das Privatrecht. [...] [427] Der Rechtslehre zweiter Teil. Das öffentliche Recht. Erster Abschnitt. Das Staatsrecht. [...] [437] [...] Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins. [452] [...] E. Vom Straf- und Begnadigungsrecht. I. Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen. Der Oberste im Staate kann also nicht bestraft werden, sondern man kann sich nur seiner Herrschaft entziehen. – Diejenige Übertretung des öffentlichen Gesetzes, die den, welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein, heißt Verbrechen schlechthin (crimen), aber auch ein öffentliches Verbrechen (crimen publicum); daher das erstere (das Privatverbrechen) vor die Zivil-, das andere vor die Kriminalgerichte gezogen wird. – Veruntreuung, d.i. Unterschlagung der zum Verkehr anvertrauten Gelder oder Waren, Betrug im Kauf und Verkauf, bei sehenden Augen des anderen, sind Privatverbrechen. Dagegen sind: falsch Geld oder falsche Wechsel zu machen, Diebstahl und Raub u. dergl. öffentliche Verbrechen, weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird. – Sie könnten in die der niederträchtigen Gemütsart (indolis abiectae) und die der gewalttätigen (indolis violentae) eingeteilt werden. [453] Richterliche Strafe (poena forensis), die von der natürlichen (poena naturalis), dadurch das Laster sich selbst bestraft und auf welche der Gesetzgeber gar nicht Rücksicht nimmt, verschieden, kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann niemals bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüßen gar wohl verurteilt werden kann. Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen. Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe, oder auch nur einem Grade derselben entbinde nach dem pharisäischen Wahlspruch: „Es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe“; denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben. – Was soll man also von dem Vorschlage halten: einem Verbrecher auf den Tod das Leben zu erhalten, wenn er sich dazu verstände, an sich gefährliche Experimente machen zu lassen, und so glücklich wäre, gut durchzukommen; damit die Ärzte dadurch eine neue, dem gemeinen Wesen er-
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sprießliche Belehrung erhielten? Ein Gerichtshof würde das medizinische Collegium, das diesen Vorschlag täte, mit Verachtung abweisen; denn die Gerechtigkeit hört auf eine zu sein, wenn sie sich für irgend einen Preis weggibt. Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Prinzip und Richtmaße macht? Kein anderes, als das Prinzip der Gleichheit (im Stande des Züngleins an der Waage der Gerechtigkeit), sich nicht mehr auf die eine, als auf die andere Seite hinzuneigen. Also: was für unverschuldetes Übel du einem [454] anderen im Volk zufügst, das tust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tötest du ihn, so tötest du dich selbst. Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) aber, wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturteil), kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle anderen sind hin und her schwankend und können anderer sich einmischenden Rücksichten wegen keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit erhalten. [...] – Was heißt das aber: „Bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst“? Wer da stiehlt, macht aller anderer Eigentum unsicher; er beraubt sich also (nach dem Recht der Wiedervergeltung) der Sicherheit alles möglichen Eigentums; er hat nichts und kann auch nichts erwerben, will aber doch leben; welches nun nicht anders möglich ist, als daß ihn andere ernähren. Weil dieses aber der Staat nicht umsonst tun wird, so muß er diesem seine [455] Kräfte zu ihm beliebigen Arbeiten (Karren oder Zuchthausarbeit) überlassen und kommt auf gewisse Zeit, oder, nach Befinden, auch auf immer, in den Sklavenstand. – Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung, als durch den am Täter gerichtlich vollzogenen, doch von aller Mißhandlung, welche die Menschheit in der leidenden Person zum Scheusal machen könnte, befreieten Tod. – Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmigkeit auflösete (z.B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke haftet, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat, weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann. Diese Gleichheit der Strafen, die allein durch Erkenntnis des Richters auf den Tod, nach dem strengen Wiedervergeltungsrechte, möglich ist, offenbart sich darin, daß dadurch allein proportionierlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher das Todesurteil über alle (selbst wenn es nicht einen Mord, sondern ein anderes nur mit dem Tode zu tilgendes Staatsverbrechen beträfe) ausgesprochen wird. – Setzet: daß, wie in der letzten schottischen Rebellion, da verschiedene Teilnehmer derselben [...] durch ihre Empörung nichts als eine dem Hause Stuart schuldige Pflicht auszuüben glaubten, andere dagegen Privatabsichten hegten, von dem höchsten Gericht das Urteil so gesprochen worden wäre: ein jeder solle die Freiheit der Wahl zwischen dem Tode und der Karrenstrafe haben: so sage ich, der ehrliche Mann wählt den Tod, der Schelm aber die Karre; so bringt es die Natur des menschlichen Gemüts mit sich. Denn der erstere kennt etwas, was er noch
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höher schätzt als das Leben: nämlich die [456] Ehre; der andere hält ein mit Schande bedecktes Leben doch immer noch für besser, als gar nicht zu sein (animam praeferre pudori. Juvenal). Der erstere ist nun ohne Widerrede weniger strafbar als der andere, und so werden sie durch den über alle gleich verhängten Tod ganz proportional bestraft, jener gelinde, nach seiner Empfindungsart, und dieser hart, nach der seinigen; da hingegen, wenn durchgängig auf die Karrenstrafe erkannt würde, der erstere zu hart, der andere, für seine Niederträchtigkeit, gar zu gelinde bestraft wäre; und so ist auch hier im Ausspruche über eine im Komplott vereinigte Zahl von Verbrechen der beste Ausgleicher, vor der öffentlichen Gerechtigkeit, der Tod. Überdem hat man nie gehört, daß ein wegen Mordes zum Tode Verurteilter sich beschwert hätte, daß ihm damit zu viel und also unrecht geschehe, jeder würde ihm ins Gesicht lachen, wenn er sich dessen äußerte. – Man müßte sonst annehmen, daß, wenn dem Verbrecher gleich nach dem Gesetz nicht Unrecht geschieht, doch die gesetzgebende Gewalt im Staat diese Art von Strafe zu verhängen nicht befugt und, wenn sie es tut, mit sich selbst im Widerspruch sei. So viel also der Mörder sind, die den Mord verübt, oder auch befohlen, oder dazu mitgewirkt haben, so viele müssen auch den Tod leiden; so will es die Gerechtigkeit als Idee der richterlichen Gewalt nach allgemeinen a priori begründeten Gesetzen. – Wenn aber doch die Zahl der Komplizen (correi) zu einer solchen Tat so groß ist, daß der Staat, um keine solche Verbrecher zu haben, bald dahin kommen könnte, keine Untertanen mehr zu haben, und sich doch nicht auflösen, d.i. in den noch viel ärgeren, aller äußeren Gerechtigkeit entbehrenden Naturzustand übergehen (vornehmlich nicht durch das Spektakel einer Schlachtbank das Gefühl des Volkes abstumpfen) will, so muß es auch der Souverän in seiner Macht haben, in diesem Notfall (causa necessitatis) selbst den Richter zu machen (vorzustellen) und ein Urteil zu sprechen, welches, statt der Lebensstrafe, eine andere den Verbrechern zuerkennt, bei der die Volksmenge noch erhalten wird; dergleichen die Deportation ist: Dieses [457] selbst aber nicht als nach einem öffentlichen Gesetz, sondern durch einen Machtspruch, d.i. einen Akt des Majestätsrechts, der, als Begnadigung, nur immer in einzelnen Fällen ausgeübt werden kann. Hiegegen hat nun der Marchese Beccaria, aus teilnehmender Empfindelei einer affektierten Humanität (compassibilitas), seine Behauptung der Unrechtmäßigkeit aller Todesstrafe aufgestellt; weil sie im ursprünglichen bürgerlichen Vertrage nicht enthalten sein könnte; denn, da hätte jeder im Volke einwilligen müssen, sein Leben zu verlieren, wenn er etwa einen anderen (im Volk) ermordete; diese Einwilligung aber sei unmöglich, weil niemand über sein Leben disponieren könne. Alles Sophisterei und Rechtsverdrehung. Strafe erleidet jemand nicht, weil er sie, sondern weil er eine strafbare Handlung gewollt hat; denn es ist keine Strafe, wenn einem geschieht, was er will, und es ist unmöglich gestraft werden zu wollen. – Sagen: ich will gestraft werden, wenn ich jemand ermorde, heißt nichts mehr, als: ich unterwerfe mich samt allen übrigen den Gesetzen, welche natürlicherweise, wenn es Verbrecher im Volk gibt, auch Strafgesetze sein werden. Ich, als Mitgesetzgeber, der das Strafgesetz diktiert, kann unmöglich dieselbe Person sein, die, als Untertan, nach dem Gesetz bestraft wird; denn als ein solcher, nämlich als Verbrecher, kann ich unmöglich eine Stimme in der Gesetzgebung haben (der Gesetzgeber ist heilig). Wenn ich also ein
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Strafgesetz gegen mich, als einen Verbrecher, abfasse, so ist es in mir die reine rechtlich-gesetzgebende Vernunft (homo noumenon), die mich als einen des Verbrechens Fähigen, folglich als eine andere Person (homo phaenomenon), samt allen übrigen in einem Bürgerverein dem Strafgesetz unterwirft. Mit anderen Worten: nicht das Volk (jeder einzelne in demselben), sondern das Gericht (die öffentliche Gerechtigkeit), mithin ein anderer als der Verbrecher, diktiert die Todesstrafe, und im Sozialkontrakt ist gar nicht das Versprechen enthalten, sich strafen zu lassen, und so über sich selbst und sein Leben zu disponieren. Denn, wenn der Befugnis zu strafen ein Versprechen zu Grunde liegen müßte, sich [458] strafen lassen zu wollen, so müßte es diesem auch überlassen werden, sich straffällig zu finden, und der Verbrecher würde sein eigener Richter sein. – Der Hauptpunkt des Irrtums (proton pseudos) dieses Sophisms besteht darin: daß man das eigene Urteil des Verbrechers (das man seiner Vernunft notwendig zutrauen muß), des Lebens verlustig werden zu müssen, für einen Beschluß des Willens ansieht, es sich selbst zu nehmen, und so sich die Rechtsvollziehung mit der Rechtsbeurteilung in einer und derselben Person vereinigt vorstellt. Es gibt indessen zwei todeswürdige Verbrechen, in Ansehung deren, ob die Gesetzgebung auch die Befugnis habe, sie mit der Todesstrafe zu belegen, noch zweifelhaft bleibt. Zu beiden verleitet das Ehrgefühl. Das eine ist das der Geschlechtsehre, das andere der Kriegsehre, und zwar der wahren Ehre, welche jeder dieser zwei Menschenklassen als Pflicht obliegt. Das eine Verbrechen ist der mütterliche Kindesmord (infanticidium maternale); das andere der Kriegsgesellenmord (commilitonicidium), der Duell. – Da die Gesetzgebung die Schmach einer unehelichen Geburt nicht wegnehmen, und ebenso wenig den Fleck, welcher aus dem Verdacht der Feigheit, der auf einen untergeordneten Kriegsbefehlshaber fällt, welcher einer verächtlichen Begegnung nicht eine über die Todesfurcht erhobene eigene Gewalt entgegensetzt, wegwischen kann: so scheint es, daß Menschen in diesen Fällen sich im Naturzustande befinden und Tötung (homicidium), die alsdann nicht einmal Mord (homicidium dolosum) heißen müßte, in beiden zwar allerdings strafbar sei, von der obersten Macht aber mit dem Tode nicht könne bestraft werden. Das uneheliche auf die Welt gekommene Kind ist außer dem Gesetz (denn das heißt Ehe), mithin auch außer dem Schutz desselben, geboren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware), so daß dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann, [459] und die Schande der Mutter, wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt wird, kann keine Verordnung heben. – Der zum UnterBefehlshaber eingesetzte Kriegesmann, dem ein Schimpf angetan wird, sieht sich eben so wohl durch die öffentliche Meinung der Mitgenossen seines Standes genötigt, sich Genugtuung, und, wie im Naturzustande, Bestrafung des Beleidigers, nicht durchs Gesetz, vor einem Gerichtshofe, sondern durch den Duell, darin er sich selbst der Lebensgefahr aussetzt, zu verschaffen, um seinen Kriegsmut zu beweisen, als worauf die Ehre seines Standes wesentlich beruht, sollte es auch mit der Tötung seines Gegners verbunden sein, die in diesem Kampfe, der öffentlich und mit beiderseitiger Einwilligung, doch auch ungern, geschieht, eigentlich nicht Mord (homicidium dolosum) genannt werden kann. – Was ist nun in beiden (zur Kriminalgerechtigkeit gehörigen) Fällen Rechtens? – Hier kommt die Strafgerechtigkeit gar sehr ins Gedränge: entweder den Ehrbegriff (der hier kein Wahn ist)
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durchs Gesetz für nichtig zu erklären, und so mit dem Tode zu bestrafen, oder von dem Verbrechen die angemessene Todesstrafe wegzunehmen, und so entweder grausam oder nachsichtig zu sein. Die Auflösung dieses Knotens ist: daß der kategorische Imperativ der Strafgerechtigkeit (die gesetzwidrige Tötung eines anderen müsse mit dem Tode bestraft werden) bleibt, die Gesetzgebung selber aber (mithin auch die bürgerliche Verfassung), so lange noch als barbarisch und unausgebildet daran Schuld ist, daß die Triebfedern der Ehre im Volk (subjektiv) nicht mit den Maßregeln zusammen wollen, die (objektiv) ihrer Absicht gemäß sind, so daß die öffentliche, vom Staat ausgehende, Gerechtigkeit in Ansehung der aus dem Volk eine Ungerechtigkeit wird. II. Das Begnadigungsrecht (ius aggratiandi) für den Verbrecher, entweder der Milderung oder gänzlichen Erlassung der Strafe, ist wohl unter allen Rechten des Souveräns [460] das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen, und dadurch doch im hohen Grade unrecht zu tun. – In Ansehung der Verbrechen der Untertanen gegen einander steht es schlechterdings ihm nicht zu, es auszuüben; denn hier ist Straflosigkeit (impunitas criminis) das größte Unrecht gegen die letztern. Also nur bei einer Läsion, die ihm selbst widerfährt (crimen laesae maiestatis), kann er davon Gebrauch machen. Aber auch da nicht einmal, wenn durch Ungestraftheit dem Volk selbst in Ansehung seiner Sicherheit Gefahr erwachsen könnte. – Dieses Recht ist das einzige, was den Namen des Majestätsrechts verdient.
Karl Grolman (1775–1829) 1. Über die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung (1799) Erster Abschnitt. Begründung des Strafrechts. Erstes Kapitel. Von dem rechtlichen Zwange und den Grenzen desselben. Kann die Ausübung des Zwanges durch vorhergehende Androhung desselben rechtmäßig werden? Der Charakter der Freiheit ist Thätigkeit nach selbst gegebenen Gesetzen. Dem Menschen – als vernünftigsinnlichen Wesen, welches durch den Gebrauch physischer Kräfte seine Thätigkeit in der Sinnenwelt äußert – Freiheit in der Sinnenwelt [4] zuschreiben, heißt demnach erklären: daß der Mensch in seinen Einwirkungen auf die Sinnenwelt unabhängig von der Willkühr Anderer, seine eigenen Zwecke verfolgen könne. Wenn allen Menschen (allen in der Sinnenwelt zusammen lebenden vernünftigsinnlichen Wesen) eine so charakterisirte Freiheit zugeschrieben werden soll, so muß, da jeder derselben durch seine physischen Vermögen die Freiheit der anderen stören kann, wenn anders diese Freiheit Aller als beständig und nicht blos von dem Zufall abhängig soll bestehenkönnen, ein Gesetz seyn, welches jedem Individuum eine gleiche beschränkte Sphäre für seine freie Thätigkeit anweiset und dadurch die Bedingungen angiebt, unter welchen allein die Freiheit jedes Einzelnen gedacht werden kann, ohne daß dadurch die Freiheit aller Übrigen aufgehoben würde. Da durch ein solches Gesetz bestimmt wird, was das freie Sinnenwesen thun darf, [5] ohne, wenn dieses Gesetz als Gesetz für das Handeln betrachtet wird in Furcht seyn zu müssen, durch die physischen Kräfte Anderer gehindert zu werden, so kann man es schicklich das Rechtsgesetz nennen; denn unter seinem Rechte denkt sich ein jeder etwas, was er, ungehindert von Andern, thun darf. Da ein solches Gesetz die Bedingungen angiebt, ohne welche sich keine Gesellschaft freier Sinnenwesen denken läßt, mithin die Möglichkeit einer solchen Gesellschaft dadurch begründet wird, so kann man es eben so passend das Socialgesetz nennen. Zwang ist das Gegentheil von Freiheit. Wo der Mensch seine eigenen Zwecke verfolgen kann, wo nicht die physische Kraft An- [6] drer ihn bestimmt, da ist für ihn Freiheit. Wo die physische Kraft Andrer ihm entgegensteht, um ihn zu bestimmen, da ist für ihn Zwang. Da das Rechtsgesetz, nach dem Vorhergehenden, alle Anwendung physischer Kräfte gegen Andere – insofern diese in ihrer nach dem Gesetze freien Wir- [7] T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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kungsfreiheit bleiben, also die Freiheit der Übrigen ohne Gefahr neben der ihrigen bestehen kann – als mit ihm unverträglich verwirft, so ist es, eben durch dieses bedingte Verwerfen, klar, daß es auch einen dem Rechtsgesetze nicht widerstreitenden Zwang geben müsse, und daß dieses Gesetz, durch die Bestimmung der Grenzen des widerrechtlichen Zwangs, zugleich die des rechtlichen festsetze. Wenn nämlich nur der eben beschriebene Zwang dem Rechtsgesetz entgegenläuft, so ist Zwang, insofern er nur die Willkühr Anderer auf die Bedingung einschränkt, daß die Freiheit der Übrigen sicher neben derselben bestehen kann, dem Rechtsgesetze vollkommen gemäß. Es giebt demnach keinen andern rechtlichen Zweck des Zwanges gegen Andere, als Schutz der Freiheit, (der Rechte), [8] oder, wie Kant es ausdruckt: Wegräumung eines Hindernisses der Freiheit. Keine Wegräumung eines Hindernisses ist denkbar, ohne daß ein Hinderniß vorhanden sey. Der Rechtsgrund des Zwanges gegen einen Menschen kann also nur darin liegen, daß dieser ein Hinderniß der allgemeinen gesetzlichen Freiheit geworden sey, daß er mithin seine Freiheit über die Grenzen ausgedehnt habe, binnen welchen dieselbe, nach dem Gesetz, allein sicher neben der aller Übrigen bestehen kann, oder, was dasselbe ist, daß er nicht nach dem Gesetz ge- [9] handelt habe, ohne welches die Freiheit Aller nicht gedacht werden kann. Kein Begründetes nun kann weiter gehen, als der Grund, auf welchem es ruhet. Sobald daher der Mensch, gegen welchen der rechtliche Zwang begründet war, aufhört, ein Hinderniß der Freiheit zu seyn, sobald seine Willkühr auf die Bedingungen eingeschränkt ist, unter welchen die Freiheit der Übrigen sicher neben der seinigen bestehen kann, so fällt der Grund zu einem rechtlichen Zwange und mit diesem der rechtliche Zwang selbst dahin; – aller fernere Zwang gegen ihn ist nun selbst Hinderniß der Freiheit und darum widerrechtlich. Schon hier ist die Stelle, wo die für die Folge uns wichtige Frage: ob die Ausübung des Zwanges durch eine vorhergegangene Androhung desselben gerechtfertigt werden könne? ihre Entscheidung finden kann, und finden muß, damit man mit Uneingenommenheit die Resultate meiner folgenden Untersuchungen zu prüfen im Stande ist. [10] Offenbar muß diese Entscheidung verneinend ausfallen; denn, wenn es wahr ist, was vorhin behauptet wurde, daß kein rechtlicher Zwang begründet werde, außer durch Mißbrauch der Freiheit dessen, gegen welchen er Statt finden soll; daß kein rechtlicher Zwang weiter gehen könne, als bis zur völligen Aufhebung dessen, was unsre rechtliche Freiheit beengt: so ist es klar, daß in dem willkührlichen Faktum des Androhens keineswegs ein Rechtsgrund für den auszuübenden Zwang enthalten seyn könne. Ich betrachte, um dieses deutlicher zu machen, die Frage etwas genauer. Es sind nämlich hier zwey Fälle denkbar: entweder ist der vorher angedrohte Zwang dem Grade nach nicht größer, als der, welcher wirklich nöthig ist, um das Individuum, welches seine Freiheit gemißbraucht hat, in die Lage zu setzen, daß für die Zukunft die Freiheit der Übrigen sicher neben der seinigen bestehen kann, oder die Summe des vorher angedrohten Zwangsübels übersteigt die Summe desjenigen, welches, zur Erreichung des letzteren Zweckes, nothwendig ist. – Ist das erstere, so ist es keinem [11] Zweifel unterworfen, daß die Ausübung des angedrohten Zwangs, wenn die Bedingung der Drohung eintritt, gerecht sey; allein es leuchtet ein, daß, auch ohne die Androhung, die Ausübung
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desselben Zwangs dem Rechtsgesetz gemäß gewesen wäre, daß also der Rechtsgrund der Ausübung keineswegs in der Androhung, sondern in den Bedingungen des Falls, auf welchen der Zwang angedroht wurde, zu finden sey. – Ist hingegen das letztere, dann würde der Rechtsgrund der Ausübung desjenigen Theils des angedrohten Zwangsübels, welcher den Grad des zur Verwirkung der Rechtssicherheit nothwendigen Zwangs übersteigt, keineswegs in der That dessen, welcher gezwungen wird (daß dieser nämlich ein Hinderniß der allgemeinen gesetzlichen Freiheit sey), sondern einzig und allein in der Androhung liegen können, und eben dieses ist es, was ich, wie schon gesagt worden ist, läugnen muß; denn das Rechtsgesetz erlaubt schlechthin keinen Zwang, wenn er nicht blos und allein darauf gerichtet ist, ein Hinderniß der Freiheit zu entfernen. [12] Ich habe mit Fleiß die beiden angeführten Fälle sorgfältig geschieden; denn nur durch diese Scheidung wird man in den Stand gesetzt, sogleich das Trügerische in den Argumenten der Vertheidiger des Gegentheils zu entdecken. „Die Androhung von Übeln“ sagen sie1 „ist ein gerechtes Mittel der Erhaltung unsrer Rechte, da das Übel nur auf den Fall einer Verletzung der Freiheit bestimmt, mithin die Freiheit, insoferne sie mit der Freiheit aller besteht, durch die Androhung um nichts beschränkt, kein Recht also dadurch beleidigt wird.“ Sie haben Recht – die Androhung von Übeln überhaupt ist ein gerechtes Sicherungs- [13] mittel unsrer Freiheit; denn es werden Niemandes Rechte dadurch verletzt, daß man zum Voraus bekannt macht, man werde gegen den Beleidiger von dem rechtlichen Zwange Gebrauch machen; allein man darf nicht vergessen, daß hiermit im Grunde weiter nichts gesagt wird, als: es sey gerecht, zum Voraus bekannt zu machen, daß man Zwang gegen Andre gebrauchen werde, sobald ein Rechtsgrund zur Ausübung eines solchen Zwangs vorhanden seyn würde, wodurch denn zwar allerdings die Androhung des Zwangs, aber keineswegs die Androhung eines größeren Zwangsübels, als durch den in der Drohung unterstellten Fall rechtlich begründet werden kann, gerechtfertigt wird. „Aber“, fahren sie fort, „da der Bedrohte das Übel weiß, welches ich auf die Begehung der That gesetzt habe, so willigt er durch seine Beleidigung in die Zufügung des Übels; und ich habe durch seine Handlung aus eben dem Grunde ein Recht, die Strafe zu exequi- [14] ren, aus welchem ich das Recht habe, die Erfüllung eines eingegangenen gültigen Vertrags zu fordern. Denn, wenn A. eine Bedingung festsetzt, unter welcher eine an sich unerlaubte Handlung begangen werden kann, so willigt B. in die Erfüllung dieser Bedingung blos durch die Begehung der (positiven oder negativen) Handlung, für welche die Bedingung festgesetzt worden ist. B. weiß, daß nur unter dieser Bedingung diese Handlung vorgenommen oder unterlassen werden kann, und, wenn er es weiß, so muß er entweder in die Bedingung willigen, oder das Bedingte, die strafbare Handlung, unterlassen.“ –
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Ich gebrauche hier die Worte des scharfsinnigsten und consequentesten Vertheidigers der entgegengesetzten Behauptung, ich meine die meines Freundes, d. H.D.P.J.A. Feuerbachs in seinem Antihobbes, oder über die Grenzen der höchsten Staatsgewalt. Erfurt 1798. S. 220 folg.
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Schon die Folgen, welche aus dieser Behauptung fließen, müssen uns gegen dieselbe mißtrauisch machen; denn es folgt in der That aus derselben nichts geringeres, als daß alles das, was das Rechtsgesetz über [15] die Grenzen des rechtlichen Zwanges verfügt, durch ein einziges willkürliches Faktum eines Einzelnen – durch das Faktum der Androhung – umgangen werden könne. „Wer mir eine Stecknadel entwendet, den werde ich tödten“, sagt A. – Vergebens werdet ihr ihm einwenden, daß es durch einen solchen Zwang die Freiheit des Diebes weiter einschränke, als es nöthig sey, damit seine Freiheit für die Zukunft sicher bestehen könne; – was ihr da sagt, ist ein Einwurf, den er allenfalls vor dem Gerichtshofe seines Gewissens zu beantworten haben wird, aber vor dem Gerichtshofe des äußeren Rechts ist er gerechtfertigt. B., welcher ihm die Stecknadel entwendete, hat ja eingewilligt in die Bedingung, von welcher er wußte, daß sie A. auf die Begehung dieser That gesetzt hatte; B. hat also durch die That vertragsmäßig das Recht auf sein Leben dem A. übertragen, und – Volenti non fit injuria. – Es sind freilich nicht die Folgen, welche aus einer Theorie fließen, im Stande, diese Theorie selbst zu einer verwerflichen [16] zu machen; mögen uns diese Folgen auch noch so sehr auffallen, mögen sie auch unsrer bisherigen Überzeugung noch so sehr widersprechen; allein je mehr dieses letztere der Fall ist, desto aufmerksamer muß doch der Theoretiker werden, desto mehr muß er sich zu einer sorgfältigen Prüfung seiner Gründe aufgefordert fühlen; und bey einer solchen Prüfung möchte wol das Argument der Gegner schwerlich zu bestehen im Stande seyn. A. macht bekannt, daß er eine gewisse Art von Brod nicht anders, als um einen gewissen Preiß verkaufen werde. B. kömmt und nimmt sich ein solches Brod in Gegenwart des A. Seine That ist hier Einwilli- [17] gung von seiner Seite, den bestimmten Kaufpreiß zu zahlen, – durch seine That ist der Kaufkontrakt geschlossen, und er ist schuldig, die von A. bestimmte Summe zu zahlen. So soll es nun auch der Fall seyn, wenn A. auf die Begehung einer unerlaubten That dem Thäter ein Übel gedroht hat. Die That, als das Bedingte, soll Einwilligung seyn in die Bedingung – das angedrohte Übel. So dachte sich ohngefähr Grotius die Sache, wenn er spricht: „In hac re est aliquid, quod ad contractuum naturam accedit: quia, sicut qui vendit, etiamsi nihil peculiariter dicat, obligasse se censetur ad ea omnia, quae venditionis sunt naturalia, ita qui deliquit sua voluntate se obligasse videtur poena, quia crimen grave non potest non esse punibile; ita ut qui directe vult peccare, per consequentiam et poenam mereri voluerit.“ Jeder wird mit uns ein- [18] stimmen, daß B. in dem ersteren Falle durch die Wegnahme des Brodes Käufer wird und einwilligt, die von A. bestimmte Summe zu zahlen. Wie ist es nun möglich, diese Einwilligung in dem einen Falle zu läugnen, wenn wir sie in dem andern so bereitwillig zugestehen? [...] [19] Wenn die Menschen nicht das Recht hätten, Zwang gegen den Störer ihrer Freiheit zu gebrauchen, so würde, und wenn einer auch tausendmal gesagt hätte: ich werde den Störer meiner Freiheit mit diesem oder jenem Übel verfolgen, dennoch kein Mensch in der wirklichen Störung eine Einwilligung des Störers finden, das angedrohte Übel zu leiden. Da indessen die Menschen das Recht haben, den ungerechten Angreifer mit Zwang zu verfolgen, so haben sie auch das Recht, die
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Angriffe ihrer Rechte durch angedrohte Übel für den Angreifer zu bedingen; und hierin liegt der Grund, warum das Argument meiner Gegner auf den ersten Augenblick so sehr einnimmt und unumstößlich zu seyn scheint. Allein man vergesse doch nicht, daß – wenn, wie vorhin bemerkt wurde, [20] da, wo kein Recht ist, einem Andern wegen der Begehung einer That ein Übel zuzufügen, auch kein als Bedingung der That angedrohtes Übel beachtet zu werden brauche, – es über allen Zweifel erhaben sey, daß die Grenze des Rechts zu zwingen, auch die Grenze des zum Voraus anzudrohenden Übels bestimme; denn über diese Grenze hinaus ist kein Recht zu zwingen, mithin eine Androhung eines diese Grenzen überschreitenden Übels, in Ansehung dieser Überschreitung, eben so lächerlich, und aus demselben Grunde lächerlich, aus welchem oben die Androhung eines Übels auf einen Fall, in welchem gar kein Recht zu zwingen begründet war, uns lächerlich schien. – [...] Zweites Kapitel. Von den Eintheilungen des Zwangs und den dadurch entstehenden verschiedenen Benennungen. [...] [28] [...] Das Rechtsgesetz ist Gesetz für das Handeln, und nur wer dasselbe sich zur unverbrüchlichen Regel seines Handelns gemacht hat, (es geschehe dieses aus einem Beweggrunde, aus welchem es wolle) paßt in eine Gesellschaft freier Sinnenwesen. In der Gesellschaft, in welcher jedes Mitglied nach dem Rechtsgesetz ohne Ausnahme handelt, ist der rechtliche Zustand – der Zustand der Freiheit – begründet; in einer solchen Gesellschaft ist kein Gefahr Drohender, mithin auch kein Fall, welcher den einen zur Prävention gegen den Andern berechtigen könnte. Wo ein Gefahr Drohender in der Gesellschaft seyn soll, da muß [29] diesemnach ein Mitglied seyn, von welchem es gewiß ist, daß ihm das Rechtsgesetz nicht unverbrüchliches Gesetz für sein Handeln sey. Ein solches Mitglied aber paßt, bis man das Gegentheil von ihm annehmen kann, nicht in die Gesellschaft; es ist ein Hinderniß der allgemeinen gesetzlichen Freiheit, und darum Zwang zur Wegräumung dieses Hindernisses, mithin Prävention gegen dasselbe erlaubt, damit der Rechtszustand ungefährdet bleibe. [...] [34] [...] Es giebt für das der Sittlichkeit fähige Wesen – den Menschen – zwey entgegenstehende, einen zum Bewußtseyn der Freiheit nothwendigen inneren Zwang begründende, Gesetze der Willensbestimmung, deren eines dem andern nur durch einen neuen Akt des Willens – die Willkühr – untergeordnet werden kann. Das eine ist uns, als in der Vernunft unmittelbar begründet, unter dem Namen des Sittengesetzes bekannt: das andere ken- [35] nen wir als das Gesetz der Lust, dessen Grund wir in der Natur des sinnlichen (durch Gefühle bestimmbaren) Wesens finden. – Für die Rechtsgesetzgebung – in welcher von den Beweggründen des Handelns gänzlich abgesehen wird – ist es vollkommen einerley, welches Gesetz den Willen bestimme, ob das Gesetz der Sittlichkeit, oder das der Lust; genug! daß, sey der Wille durch dieses oder durch jenes bestimmt, die Gesinnung, den Rechtszustand nicht zu fährden, erzeugt sey. Nun ist es aber klar, daß, da die Behauptung der allgemeinen Freiheit selbst Pflicht ist, durch das Gesetz der Sittlichkeit keine, dem Rechtsbegriff entgegengesetzte Gesinnung erzeugt werden könne; der Grund einer solchen Gesinnung müßte daher blos und allein in dem
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Gesetze der Sinnlichkeit zu finden seyn. Wenn es demnach ein Mittel geben sollte, welches gegen die aus dem bösen2 Willen hervorgehende Gefahr sicherte, [36] ohne dem Gefahr Drohenden alle freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt zu entziehen, so müßte dieses ein Mittel seyn, durch welches das Gesetz der Lust selbst in das Interesse des Rechtsgesetzes gezogen würde. Das Gesetz der Lust fordert zum Handeln auf um der Lust willen. Durch das verlangte Mittel müßte also bewirkt werden, daß, einen dem Rechtsgesetz widerstreitenden Willen haben, keine Lust gewähren könnte; denn, wenn nur binnen der Sphäre der rechtlichen Freiheit des Individuums für dieses sinnlicher Genuß wäre, so würde das Gesetz der Lust zu keinen Handlungen auffordern können, durch welche diese Sphäre überschritten würde. Lust entsteht durch die Erweckung angenehmer Gefühle. Soll also bewirkt werden, daß ein dem Rechtsgesetz nicht gemäßer Wille keine angenehmen Gefühle erwecken könne, so muß mit demselben die Empfindung unangenehmer Gefühle (Übel) verknüpft, und zwar in dem Grade verknüpft werden, daß die Summe dieser der Summe jener [37] gleich kommt. (Der Reiz zu Rechtsverletzungen muß durch einen vollkommenen Gegenreiz aufgehoben werden). Wenn, wie nicht bezweifelt werden kann, das Princip der Sinnlichkeit es fordert: in allen Gesinnungen und Handlungen die Erweckung angenehmer Gefühle zum Zweck zu machen, so muß, nach einer Veranstaltung, durch welche die Erreichung dieses Zwecks bey einer rechtswidrigen Gesinnung unmöglich gemacht wird, eine solche Gesinnung selbst von dem, blos nach dem Gesetze der Sinnlichkeit handelnden Menschen nothwendig aufgegeben werden. Durch Erzeugung unangenehmer Gefühle den Menschen bestimmen, daß er, nach dem Gesetze der Lust, einen Gegenstand, welchen er ohne dieses begehrt haben würde, nicht mehr begehre, heißt: ihn von der Begehrung dieses Gegenstandes abschrecken. Abschreckung wäre mithin das Mittel, welches wir suchten, und welches in allen denjenigen Fällen, wo es auf die beschriebene Weise den Zweck der Prävention erreichen könnte, die Ausdehnung des Zwangs [38] gegen den Gefahr Drohenden, bis zur gänzlichen Unmöglichmachung aller Illegalitäten, zur widerrechtlichen machen müßte. [...] Drittes Kapitel. Direkter Beweis, daß das Strafrecht in dem rechtlichen Zwange zur Prävention begriffen sey. [...] [42] [...] Das erste Merkmal, welches wir auffinden, ist ohne Zweifel dieses: daß Strafe in einem sinnlichen Übel bestehe, welches den Menschen wegen seiner Verschuldung trifft. Daher setzen wir Strafe der Belohnung entgegen, und denken uns, so gewiß diese in einem Gute besteht, welches uns wegen einer verdienstlichen Handlung (meritum) ertheilt wird, unter jener ein Übel, welches uns, durch unsre Schuld (demeritum) veranlaßt, zugefügt wird. – [...] [43] [...]
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Daß hier unter dem bösen Willen nur derjenige verstanden wird, welcher dem Rechtsgesetz nicht gemäß ist, versteht sich wol ohne besondere Erinnerung.
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Ein zweites Merkmal, welches der Sprachgebrauch unverkennbar in den Begriff des Strafübels legt, ist: daß es weder Zwang zur Entschädigung noch zur Nothwehr sey. Darum hört man so häufig das Urtheil: dieser Mensch sey zwar verbunden, den gestifteten Schaden zu ersetzen, aber Strafe habe er nicht verdient. Darum spricht man dem Individuum auch in [44] der Staatsverbindung das Recht zu, seinen Angreifer zur Nothwehr zu tödten, wenn man gleich das Recht, den Angreifer mit der Todesstrafe zu belegen, dem Individuum abspricht. Endlich ist es gewiß, daß der Sprachgebrauch nur dann ein dem Menschen zugefügtes Übel – wenn auch alle bisher angeführten Merkmale demselben ohne Zweifel zukämen – ein Strafübel nennt, wenn der, welchem es zugefügt wird, dasselbe als ein durch seine Verschuldung veranlaßtes Übel zu betrachten, und als Übel zu empfinden im Stande ist. [...] [47] [...] Hiermit wäre nun also bestimmt, was für einen Sinn man in dem gemeinen Leben mit dem Wort Strafe verknüpft, und es steht uns nun nichts im Wege, um zu der Entscheidung überzugehen: ob und inwiefern die Strafe ein rechtliches Zwangsmittel sey; ob und inwiefern dem ange- [48] gebenen Begriffe juridische Realität zugeschrieben werden könne? Diese Entscheidung gehört blos und allein für den Rechtsphilosophen, der nur durch unsere Präliminar-Untersuchung außer Stand gesetzt worden ist, dem Begriff der rechtlichen Strafe Merkmale zu leihen, welche der Sprachgebrauch verdammt. Aller rechtliche Zwang ist nur zum Schutze der Rechte, wie oben bewiesen wurde. Soll also Strafe ein rechtliches Zwangsmittel seyn, so muß auch bey ihr Schutz der Rechte als der Zweck gedacht werden, mit dessen Erreichung die rechtliche Grenze derselben gegeben ist. Es wird hiermit nicht geläugnet, daß auch der, welcher aus Rache, oder um irgend eines andern Zwecks willen, seinem Beleidiger Übel zufügt, Strafe ausübe, sobald nur die Übel, welche er zufügt, die oben beschriebenen Merkmale aller Strafen an sich tragen; aber es wird behauptet, daß nur der rechtliche Strafe übe, welcher zum Schutze seiner Rechte straft. Aller rechtliche Zwang gegen Andere wird, wie oben bewiesen wurde, dadurch [49] begründet, daß derjenige, gegen welchen er Statt finden soll, ein Hinderniß der allgemeinen gesetzlichen Freiheit geworden sey, – und der Zweck, zu welchem er ausgeübt wird, geht durchaus nur dahin, daß dieses Hinderniß entfernt werde. Soll also Strafe ein rechtliches Zwangsmittel seyn, so muß auch sie dadurch begründet seyn, daß der, gegen welchen sie Statt finden soll, ein Hinderniß der Freiheit geworden ist (sie muß den Strafbaren treffen, weil er sie dadurch, daß er bey diesen Umständen nicht zu einer Gesellschaft freier Wesen paßt, verschuldet hat), – so muß auch sie ferner nur den Zweck haben, daß dieses Hinderniß der Freiheit aufgehoben und der vollkommene Rechtszustand wieder hergestellt werde. Strafe soll nun aber weder Entschädigung, noch Nothwehr seyn; sie müßte also, wenn sie nicht ganz aus der Klasse der rechtlichen Zwangsmittel ausgestrichen werden sollte, nothwendig unter dem Zwang zur Prävention begriffen seyn, und Prävention als ihren rechtlichen Zweck er- [50] kennen. Hierdurch wird keineswegs behauptet, daß jedes Präventionsmittel den Namen Strafe verdiene, sondern nur, daß jede Strafe, insofern sie als ein rechtliches Zwangsmittel betrachtet wer-
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den soll, eine Art der Prävention seyn müsse. Wann nun ein Präventionsmittel den Namen Strafe wird führen können, – dieses hängt nothwendig davon ab, daß ein solches Mittel alle diejenigen Merkmale an sich trage, welche wir oben als Merkmal des Begriffs kennen gelernt haben, welchen die Sprache durch das Wort Strafe bezeichnet. Wenden wir also das, was wir oben aus dem Sprachgebrauch über den Begriff der Strafe ableiteten, auf die Anforderungen an, welche der Rechtsphilosoph macht, wenn der Begriff für seine Wissenschaft Realität haben soll, so ergeben sich daraus folgende Erfordernisse einer rechtlichen Strafe: 1) Sie ist ein sinnliches Übel, welches dem Menschen darum zugefügt wird, weil er dasselbe rechtlich verdient hat. Nach dem obigen [51] kann der Mensch nur dadurch zum Zwang gegen ihn berechtigen, daß er ein Hinderniß der gesetzlichen Freiheit geworden ist, und dieses ist er nur dann, wenn er nicht die Gesinnungen hat, unter welchen er allein in eine Gesellschaft freier Wesen paßt. So lange er bey diesen Gesinnungen beharrt, ist er ein stets Gefahr Drohender und Zwang gegen ihn rechtlich begründet. Wodurch der Mensch seine illegalen Gesinnungen verräth, ist hier gleichgültig; indessen ist es klar, daß der sicherste Beweis derselben in unternommenen Rechtsverletzungen liege; denn, wenn auch jemand bisher durchaus gesetzmäßig handelte, so thut doch die nun einmal freiwillig unternommene rechtswidrige Handlung kund, daß er die Regel des Rechts sich keineswegs zur unverbrüchlichen Norm seiner Handlungen gemacht habe; und gerade dieses ist die illegale Gesinnung, welche, so lange sie nicht geändert ist, den Rechtszustand zu einem blos precären macht, und allen Übrigen stete Gefahr für die Zukunft droht. Es ist hierdurch außer allem Zweifel, daß der, welcher unsre Rechte verletzt hat, außer dem [52] Zwang zur Entschädigung, auch als Gefahr Drohender es verschuldet hat, daß ihm Übel zugefügt werden, folglich, wenn die übrigen Merkmale der Strafübel auf diese von ihm verwirkten Übel passen, daß er es verdient habe, gestraft zu werden. 2) Die rechtliche Strafe hat keinen andern Zweck, als: künftige angedrohte Rechtsverletzungen zu verhüten. Daß der Zwang, welcher den gestifteten Schaden aufheben soll, nicht Strafe sey, wird durch den Sprachgebrauch bewiesen; der rechtliche Zweck derselben – als eines Zwangsmittels – muß mithin auf die Zukunft berechnet seyn, und in der Entfernung eines bevorstehenden Schadens bestehen. Aber zur Entfernung desjenigen bevorstehenden Schadens, welcher schon Noth gewirkt hat, kann Strafe ebenfalls nicht Statt finden, weil der Sprachgebrauch einem solchen Zwange den Namen der Nothwehr beigelegt hat; mithin kann ihr Zweck nur in der Aufhebung der durch Drohungen begrün- [53] deten entfernteren Gefahr bestehen. Ihr Rechtsgrund ist die geschehene Drohung und die dadurch begründete Gefahr; ihr rechtlicher Zweck, durch Aufhebung ihres Rechtsgrundes, ihre weitere Fortsetzung unnöthig zu machen. Sie trifft demnach den Strafbaren, weil er Gefahr droht; sie trifft ihn zu dem Ende, damit er nicht ferner Gefahr drohe. Dieser Zweck kann, nach dem Obigen, erreicht werden, durch Unmöglichmachung der Ausführung der Drohung, aber auch in vielen Fällen durch Abschreckung. Mithin müßte auch bey der Strafe dieses alles als Mittel zur Erreichung des Endzwecks gedacht werden. Endlich aber 3) wird bey der rechtlichen Strafe vorausgesetzt, daß sie der Gestrafte auch als ein durch seine Verschuldung verwirktes Übel empfinden könne. Und eben hierdurch
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wird auf den Grund hingedeutet, warum gewisse Arten der Präventionsmittel vermittelst des Namens Strafe, schon durch die Sprache, von andern geschieden wurden; [54] denn es ist allerdings schicklich, diejenigen Mittel, wodurch man sich gegen den Menschen, welcher von seiner Freiheit Gebrauch machen kann, sicherstellt, auch durch den Namen von denjenigen zu unterscheiden, wodurch man gegen die blos physischen Hindernissen der Freiheit Schutz zu erlangen sucht. Rechtliche Strafe ist demnach: – um mit der Aufstellung des vollständigen Begriffs dieses Kapitel zu schließen – ein sinnliches Übel, welches dem, welcher es als solches empfinden kann, zur Entfernung der von ihm gedrohten Gefahr durch Abschreckung desselben oder Unmöglichmachung der Drohung, zugefügt wird. Viertes Kapitel. Widerlegung der wichtigsten Gegengründe. [...] [59] [...] Wenn mehrere freie Sinnenwesen als zusammenexistirend gedacht werden sollen, so muß ein Verhältniß unter ihnen gedacht werden, in welchem die Freiheit Aller nach einer festen Regel (nicht durch ein Werk des Zufalls) sicher bestehen kann, denn ohne dieses würden sie nicht als freie Wesen coexistiren können, indem die Freiheit des Einen die Freiheit des Andern nothwen- [60] dig aufheben müßte. Das Gesetz, welches die zu einem solchen Verhältniß nothwendigen Bedingungen angiebt, ist eben das Rechtsgesetz. Es ist dieses Gesetz offenbar ein Gesetz für den Willen, d.h. wenn die freien Sinnenwesen ein solches Verhältnis wollen, so müssen sie sich nothwendig dieses Gesetz zur unverbrüchlichen Norm ihrer Handlungen machen; aber es giebt nicht selbst Beweggründe an, um Gesetz für den Willen zu werden, d.h. nur für den, welcher in einem solchen Verhältniß zu andern stehen will, muß es Willensgesetz seyn; die Triebfeder aber, welche ihn dazu treibt, ein solches Verhältniß zu wollen, und sich daher das Rechtsgesetz zum Willensgesetz zu machen, mag eine sittliche seyn (weil die Behauptung der allgemeinen Freiheit Pflicht ist), oder eine sinnliche (weil er nur bey einem solchen Verhältniß seinen wahren Vortheil zu finden glaubt.) Muß nun das Rechtsgesetz nothwendig Willensgesetz seyn, wenn das Verhältniß der Freien, welches durch dasselbe begründet wird, wirklich Statt finden soll, so folgt unwidersprechlich, daß derjenige, welcher verräth, daß er es sich nicht zum Willensgesetz gemacht habe, (der Möglichkeit, daß er die Rechte Anderer wirklich nie verletze ohnerachtet) als ein stetes, der Realisirung jenes Verhältnisses entgegenstehendes Hinderniß betrachtet werden müsse, dessen Aufhebung von denjenigen, welche das rechtliche Verhältniß unter sich wollen, nothwendig bewirkt werden muß. [62] Wichtiger scheinen mir die Zweifel, welche man dagegen aufgeworfen hat, daß die Strafe nur in der Eigenschaft eines Präventionsrechtes gerechtfertigt werden könne, [63] und also eine Art des Zwanges zur Prävention ausmache. Es hat, so viel ich weiß, noch keiner die direkte Widerlegung der eben angeführten Be-
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hauptung unternommen, als der H. Dr. Feuerbach3, dessen Gründe ich daher hier einer ausführlichen und strengen Prüfung unterwerfen muß. Zuerst tritt H. Feuerbach mit Gründen auf, welche aus dem Sprachgebrauch es erweisen sollen, daß Strafe nicht auf die Zukunft berechnet sey, mithin auch keine Art des Präventionsrechts seyn könne. Damit man sich von der Stärke derselben und dem Scharfsinn, mit welchem sie vorgetragen sind, überzeugen könne, trage ich sie in ihrem ganzen Umfange vor, welches mir dadurch noch mehr nothwendig wird, weil ich auf sie zum Theil selbst meine Theorie in dem vorhergehenden Kapitel gestützt habe. [64] Nirgends, sagt Feuerbach, verbinden wir mit dem Ausdruck Strafe einen andern Begriff, als den, daß sie ein Übel sey, welches wegen einer begangenen Verschuldung und blos in Beziehung auf diese einem Subjekt zugefügt werde. Immer also beziehen wir das Strafübel blos auf das Vergangene, nicht auf das Zukünftige; blos auf die geschehenen, nicht auf die etwa noch zu fürchtenden Beleidigungen. [...] [68] [...] Es ist wahr, und über allen Zweifeln erhaben, daß alle Strafe auf etwas Vergangenes, als auf ihren Grund, bezogen werden müsse; und wir sind hiervon so fest überzeugt, daß sich uns, sobald wir hören, ein Mensch sey gestraft worden, beinahe unwillkürlich die Frage aufdringt: wodurch er diese Strafe verdient habe? Aber man versteht in der That die von mir aufgestellte [69] Theorie (welche ich in Zukunft immer die reine Präventionstheorie nennen will) ganz falsch, wenn man glaubt, daß in ihr dieses geläugnet werden sollte. Ich behaupte vielmehr, daß kein rechtlicher Zwang gedacht werden könne, ohne einen Grund, durch welchen er rechtlich möglich wird; und ich habe oben bewiesen, daß dieser Grund nur allein darin liegen könne, daß derjenige, gegen welchen er Statt finden soll, ein Hinderniß der gesetzlichen Freiheit geworden sey. Eben dieses muß also auch nothwendig von der Strafe, in so fern sie ein rechtliches Zwangsmittel seyn soll, gelten; und es wurde daher oben ausdrücklich behauptet: daß die Strafe von dem, welchen sie treffen soll, müsse verschuldet seyn, und nur gegen den Statt finden könne, welcher sie verdient habe. Aber bey jedem rechtlichen Zwange muß auch ein rechtlicher Zweck gedacht werden, durch welchen die rechtliche Grenze desselben bestimmt wird. Dieser Zweck ist die Aufhebung des Hindernisses, welches als der rechtliche Grund desselben gedacht werden muß. [70] Ein solcher Zweck muß nun, wenn die Strafe ein rechtliches Zwangsmittel seyn soll, auch bey dieser Statt finden; und es fällt in die Augen, daß durch die Behauptung: die Strafe habe den Zweck, ihren Grund aufzuheben, nicht im geringsten der Behauptung, daß sie sich auf etwas Geschehenes, als auf ihren Grund, beziehen lassen müsse, widersprochen werde. Und nun wird es sich leicht einsehen lassen, daß durch die reine Präventionstheorie nichts weniger bewirkt wird, als eine Aufhebung der, allerdings in der Sprache gegründeten, direkten Entgegensetzung zwischen Belohnung und Strafe. Beide beziehen wir auf etwas Vergangenes; diese, wodurch sie verschuldet, jene, wo3
In der Abhandlung: Ist Sicherung vor dem Verbrecher Zweck der Strafe, und ist Strafrecht Präventionsrecht? In der von mir herausgegebenen Bibliothek für die peinliche Rechtsgelehrsamkeit und Gesetzkunde. Th. I, St. 2, Nr. 1.
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durch sie verdient worden ist. Aber, indem wir auf dieses Vergangene, als den Grund reflektiren, abstrahiren wir von dem Zwecke, welcher, ohne diesen Grund aufzuheben, bey beiden gedacht werden kann. So kann der Belohnende den Zweck haben, durch die Belohnung seine Dankbarkeit, oder seine Achtung [71] für das Verdienst an den Tag zu legen; aber es steht auch nichts im Wege, daß er bey derselben nicht auch die Absicht haben könnte, den Belohnten desto fester und inniger an sein Interesse zu knüpfen, und ihn thätig zur Begehung ähnlicher Thaten aufzufordern. Und eben so kann der Strafende sowohl den Zweck haben, Rache zu üben, und seine unlautere Rachgierde durch den Anblick der Leiden seines Beleidigers zu be- [72] friedigen, als auch den Zweck, das Hinderniß seiner gesetzlichen Freiheit zu entfernen und sich dadurch Sicherheit für die Zukunft zu bereiten. Aber ein wichtiger Umstand, welcher hier nicht vergessen werden darf! Alle Belohnung ist gerecht, welchen Zweck der Belohnende auch habe: denn der Belohnende opfert von seinen Rechten auf, und giebt dem Andern etwas, was dieser bisher nicht zu dem Seinen rechnen konnte; da nun jeder mit seinen Rechten, nach ihm beliebigen Zwecken, schalten und walten kann, so ist es klar, daß bey der Belohnung, welche immer und schlechthin eine legale Handlung ist, der Zweck des Handelnden gar nicht berücksichtigt zu werden brauche. Die Strafe im Gegentheil nimmt dem Menschen etwas von dem, was bisher das Seine war, und ist ein Übel für den, welchen sie trifft. Eine Handlung nun, welche dem freien Wesen Übel zufügt, ist nur dann eine legale Handlung, wenn sie einen durch das Gesetz gebilligten Zweck beabsichtigt; mithin sind wir auch berechtigt, den Begriff der Strafe, insofern er für die Rechtswissen- [73] schaft Realität haben soll, zu beengen, und alle Zwecke, welche mit dem Rechtsgesetz unverträglich sind, gänzlich von demselben zu entfernen. [...] [78] [...] Mit allem diesem indessen habe ich noch nichts gegen Hr. Feuerbach gewonnen; denn schon muß ich meine Leser mit einem neuen Angriff bekannt machen, welchen dieser Gelehrte, von einer ganz verschiednen Seite, auf die reine Präventionstheorie gemacht hat.4 Es ist nämlich ganz unzweifelhaft gewiß, der Natur aller Strafgesetze und den Normen aller Rechtsverwaltung gemäß, daß die Zufügung der Strafe immer völlige Gewißheit des Faktums voraussetze, welches unter das Strafgesetz subsumirt werden soll, – eine Behauptung, von welcher ich [79] selbst so fest überzeugt bin, daß ich, auf dieselbe mich stützend, schon mehrmals und öffentlich die sogenannten, bey unvollkommenem Beweise zu erkennenden außerordentlichen Strafen, als mit den Rechtsgesetzen völlig unverträgliche juristische Träume, verworfen und auf ihre gänzliche Verbannung aus dem Gebiete der Rechtswissenschaft gedrungen habe. Nun sagt aber Hr. Feuerbach, daß eine solche Behauptung mit derjenigen: daß das Strafrecht Präventionsrecht sey, in klarem Widerspruch stehe; indem ein Präventionsrecht, auch bey unvollkommenem Beweise des Verbrechens, sicher begründet sey. [...] [81] Hr. Feuerbach ist von der Richtigkeit dieser seiner Argumentation so fest überzeugt, daß er mit den Worten schließt: „Ich getraue mir, es eben so streng, 4
In der angeführten Abh. im 2ten Stück der Bibl. S. 25. folg.
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wie einen Satz des Euclid, zu demonstriren, daß der Beweis des Gegentheils wol nicht werde geführt werden.“ Und dennoch, glaube ich, diesen Beweis führen zu können, oder vielmehr durch die obige Begründung des Präventionsrechtes schon geführt zu haben. Alles Zwangsrecht ist rechtlich begründet dadurch, daß jemand ein Hinderniß der gesetzlichen Freiheit ist; und nichts würde mehr den Grundsätzen des Rechts widerstreiten, als gegen einen Menschen, auf die Möglichkeit hin, daß er ein Hinderniß der Freiheit seyn könne, Zwang üben. Ein Zwang, bey welchem nur die Möglichkeit gedacht werden kann, daß er einen Menschen treffen könne, welcher ihn nicht rechtlich verdient hat, ist schlechthin widerrechtlich. Nur gegen den, von welchem es gewiß ist, [82] daß er uns in Schaden gesetzt hat, dürfen wir Zwang zur Entschädigung gebrauchen, – und eben dieses muß auch von dem Präventionsrechte gelten. Das Präventionsrecht ist rechtlich begründet dadurch, daß jemand einen bösen (dem Rechtsgesetz widerstreitenden) Willen hat, wie oben bewiesen wurde. Dadurch ist er, und wenn auch nie sein böser Wille That würde, weil er durch diesen Willen den Rechtszustand zu einem precairen macht, ein Hinderniß der gesetzlichen Freiheit, welches aufgehoben werden muß. Sobald die Möglichkeit bleibt, daß er keinen bösen Willen habe, so würde Zwang zur Prävention, auf die Möglichkeit hin, daß dadurch ein Hinderniß der Freiheit entfernt würde, schlechthin widerrechtlich seyn; denn das Rechtsgesetz würde offenbar, wenn eine solche Erlaubniß aus ihm sich ableiten ließe, nichts weniger leisten, als eine Garantie der Freiheit; es würde selbst die Individuen zu [83] ihrer wechselseitigen Vernichtung auffordern, indem es doch gewiß dem, gegen welchen die Prävention Statt finden soll, auf den angenommenen möglichen Fall, daß er keinen bösen Willen hätte, die Erlaubniß nicht versagen könnte, sich gegen den Prävenirenden mit allen seinen Kräften zu setzen, um seine Rechte zu schützen. – Nun ist aber die willkührlich unternommene böse That der sicherste und unwiderleglichste Zeuge des vorhandenen bösen Willens. Mithin muß, sobald aus der begangenen That auf den bösen Willen geschlossen werden soll, Gewißheit der That, als conditio sine qua non, zur Begründung des Präventionsrechts gedacht werden. Sobald ich durch die willkührliche That eines Menschen in meiner rechtlichen Freiheit mich beengt finde, so bin ich gewiß, daß unter meinen Nebenmenschen einer seyn müsse, dessen böser Wille mich in Gefahr setzt; mein Recht zur Prävention ist also begründet, aber es ist nur begründet im Allgemeinen gegen den, welcher diesen ge- [84] fährlichen Willen hat, nicht bestimmt gegen das Individuum, bis daß es gewiß ist, daß die böse That die That dieses Individuums war. Dem Individuum Übel zufügen, auf die Möglichkeit hin, daß die böse That nicht die seinige sey, daß mithin seine Leiden nicht einmal mir Schutz meiner Freiheit gewähren könnten, hieße der Gerechtigkeit den Krieg erklären, und was könnte es für einen Werth haben, daß Menschen auf Erden lebten, wenn die Gerechtigkeit untergienge? [...]
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Zweiter Abschnitt. Begründung der Strafgesetzgebung. Erstes Kapitel. Das Strafrecht kann nur in dem Staate realisirt werden. Zweites Kapitel. Von dem Zwecke der Strafgesetze. [...] [106] Zuvörderst: Das Urtheil über die Nothwendigkeit der Strafe muß Gesetz werden. Das Gesetz muß also bestimmen, wer als ein solcher, dem ein widerrechtlicher Wille zugeschrieben werde – der mithin als Gefahr Drohender betrachtet werden solle, anzusehen sey, und in so fern der böse Wille aus Thaten geschlossen werden soll – welches die Thaten seyen, durch welche ein solcher Schluß solle begründet werden können. Man nennt solche Thaten Verbrechen, [107] und es gehört also zu der ersten Sorge der Strafgesetzgebung, festzusetzen, was bürgerliche Verbrechen seyen – und zu bestimmen, daß den Verbrecher sinnliche Übel, zur Abhaltung von ähnlichen künftigen Attentaten (Strafe) treffen sollen. Dann Auch das Urtheil über den Grad der für jeden einzelnen Fall nothwendigen Strafe muß Gesetz werden. Das Gesetz muß also den Maaßstab aufstellen, nach welchem der Grad der Strafe auf jeden Fall zu bestimmen sey. Aber! eine allgemeine Aufstellung dieses Maaßstabes kann nicht genügen; denn eine solche würde das Individuum nicht von der Furcht befreien, bei dem Urtheil über die Anwendbarkeit des Maaßstabes auf die einzelnen Fälle, dennoch von dem individuellen Willen Einzelner abhängen zu müssen, welches, nach dem Obigen, durch den Staat verhindert werden soll. Also! das Gesetz muß selbst den Maaßstab in der Anwendung auf alle mögliche Fälle einer künftigen Erfahrung zeigen, und eben hierdurch muß es schlechthin unmöglich [108] werden, daß ein Individuum einen höhern Grad der Strafe erdulde, als, nach dem Willen des ihm bekannten Gesetzes, ihm wegen seines bösen Willens zugefügt werden soll. [...] Sobald die Strafe in dem (positiven) Gesetz angedrohte, und das Strafgesetz, wie jedes Gesetz im Staate, unüberwindliche, schlechthin unvermeidliche Macht ist, so erhält und erreicht dieselbe einen neuen Zweck, welchen wir bisher noch nicht kannten. Bis jetzt hatte uns die Strafe, als ein von dem Menschen dem Gefahr drohenden Nebenmenschen zugefügtes Übel gedacht, keinen andern Zweck, als den wirklich vorhandenen bösen Willen des Gefahr Dro- [109] henden aufzuheben, und die Ausführung der geschehenen Drohung zu verhindern. Der durch sie begründete Zwang kam zu Stande durch wirklich zugefügte physische Übel. Sobald sie aber im Gesetz angedrohte, und dieses Gesetz unvermeidliche Übermacht wird, so begründet sie einen, von dem vorhin gedachten ganz verschiedenen Zwang, nämlich einen psychologischen. Jetzt nämlich wird, zugleich mit der Vorstellung eines zu begehrenden gesetzwidrigen Objects, die Vorstellung des damit verknüpften unausbleiblichen und unvermeidlichen Übels nothwendig verbunden, die Vorstellung der, durch die Begehung der gesetzwidrigen That zu genießenden Lust, durch die der davon unzertrennlichen Unlust aufgehoben, und
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dadurch es unmöglich gemacht, daß der Mensch, welcher sich nach dem Gesetze der Lust bestimmt, zu einer Gesinnung übergehe, welche dem Strafgesetze entgegen ist. So gewiß, als das wirklich zugefügte Strafübel den Gefahr Drohenden hätte abhalten müssen, den gefaßten gesetzwidrigen Willen [110] ins Werk zu setzen, so gewiß muß diese nämliche Strafe, in dem Gesetze angedroht, abhalten, einen solchen Willen zu fassen. Es ist merkwürdig, daß, nach dem Vorhergehenden, selbst diejenige Strafe, welche als zugefügtes Übel nicht würde abgeschreckt, sondern alle küftige Illegalitäten unmöglich gemacht haben z.B. ewiges Gefängniß, Todesstrafe etc., nun als in dem Gesetz angedrohtes Übel durchaus Abschreckung bewirken muß, – daß ferner die Strafe, welche als zugefügtes Übel nur das Individuum, welches sie traf, abschrecken konnte, nun als in dem Gesetze angedrohten Übel alle Individuen (welche unter dem Gesetze stehen) abschrecken müsse, und dadurch Allen den Vortheil verschaffe, daß sie, ohne einem einzigen trauen zu müssen, dennoch vor Allen sicher seyn können. Es ist sonach allerdings Zweck der gesetzlich angedrohten Strafe, – Abschreckung Aller, und insofern die Strafe gesetzlich angedroht ist, ist die- [111] ses ihr einziger Zweck. Aber Zweck der Strafe an und für sich (d.h. des zugefügten Übels, abgesehen davon, ob es in dem Gesetz angedroht war, oder nicht) ist keineswegs Abschreckung Aller, sondern, wie oben gezeigt wurde, Verhinderung der Ausführung der von einem Individuum geschehenen Drohung, durch Abschreckung desselben, oder Unmöglichmachung der Ausführung. Diesen Zweck behält die Strafe, sobald sie wirklich einem Individuum zugefügt wird, immer, wenn sie gleich in dem Gesetz vorher bekannt gemacht worden war, und da, nach dem ersten Kapitel der ersten Abtheilung, durch die bloße Androhung die Zufügung eines Übels keineswegs gerechtfertigt werden kann, so folgt, daß in dem Gesetz selbst die Größe der Strafe, wenn diese anders eine gerechte seyn soll, blos und allein nach dem Zwecke berechnet seyn könne, durch welcher dieselbe als zugefügtes Übel, nach den Grundsätzen des Rechts, gerechtfertigt werden kann. [112] Diese Behauptung steht derjenigen, daß die gesetzlich angedrohte Strafe den Zweck der Abschreckung Aller habe, keineswegs entgegen, indem vielmehr aus dem Obigen erhellt, daß dasjenige Übel, und zwar gerade dasjenige Übel, welches, dem Gefahr Drohenden zugefügt, auf den Zweck, diesen von der Ausführung seiner Drohung abzuhalten, richtig berechnet war, in dem Gesetz zum Voraus angedroht, Alle nothwendig davon abschrecken müsse, Gefahr Drohende zu werden. [...]
Sollte es denn wirklich kein Zwangsrecht zur Prävention geben? (1800)
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2. Sollte es denn wirklich kein Zwangsrecht zur Prävention geben? (1800) [241] Aus dem Kampfe der Meinungen tritt erst die Wahrheit in ihrem vollen Glanze hervor. Darum habe ich mich herzlich gefreut, als die Resultate meines Nachdenkens über die letzten Gründe des Strafrechts Anfechtung fanden. [...] [242] [...] Nie würden meine Behauptungen für mich selbst die volle Überzeugungskraft gehabt haben, welche sie jetzt haben, hätte sie nicht mein verehrter Freund, der Hr. Professor Feuerbach mit so viel Glück, mit so viel Scharfsinn und doch zugleich mit so viel Humanität und Nachsicht gegen die Schwächen des Freundes, bekämpft1. [...] Es ist mir nicht unbekannt, daß man ziemlich allgemein die Sache, für welche ich gestritten habe, für verloren hält, und den so klar und überzeugend dargestellten Grundsätzen meines Freundes, als ausgemachten Wahrheiten, huldigt; indessen wage ich es dennoch, den Kampfplatz noch einmal [243] zu betreten. [...] Meine Zeit erlaubt mir aber nicht, meine Theorie itzt schon in ihrem ganzen Umfange zu rechtfertigen. Diese Bemerkungen haben daher keinen anderen Zweck, als zu der Beantwortung der Präliminarfrage: Giebt es ein Zwangsrecht zur Prävention? [...] etwas beyzutragen. [...] Was heißt ein praktisches Gesetz, ein Willensgesetz? Ich kann mir dabey nichts anderes denken als ein Gesetz, welches eine Norm für die Willensbestimmungen der Menschen enthält, – ein Gesetz, welches aussagt, daß der Mensch nothwendig seinen Willen auf eine solche Art bestimmen müsse, daß irgend etwas geschehe, oder nicht geschehe. Einem Gesetze geschieht Genüge, wenn das wirklich wird, was, seiner Bestimmung gemäß, wirklich werden soll. Sobald hingegen irgend etwas von dem geschieht, wovon das Gesetz sagt, daß es nicht geschehen solle, oder irgend etwas von dem nicht geschieht, wovon das Gesetz aus- [244] sagt, daß es geschehen solle, so ist das Gesetz nicht erfüllt. Ist dieses, so ist ein Willensgesetz nicht schon dadurch in seinem Umfange erfüllt, daß in einem bestimmten Momente etwa der Zustand, welcher aus der Willensbestimmung derjenigen, zu welchen es spricht, hervorgehen soll, wirklich existire, – was ja auch völlig zufällig seyn könnte; sondern erst dadurch wird demselben volle Genüge geleistet, daß zugleich der Willen derjenigen, welche unter ihm stehen, auf die von ihm angegebene Weise bestimmt ist. Gesetzt daher, daß die Kraftäußerung, welche einem Gesetze zur Folge nicht wirklich werden soll, in einem bestimmten Momente in der That nicht vorkäme, so würde dennoch, vorausgesetzt: daß dieses Gesetz ein Willensgesetz seye, dasselbe schon in dem nämlichen Momente verletzt seyn, sobald nur in diesem Momente der Willen des Untergebenen nicht zu der Unterlassung jener verbotenen Kraftäußerung in einem künftigen Momente gestimmt wäre. [...] [245] [...]
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Vorzüglich in der Schrift, durch welche mein Freund auf eine so glänzende Weise seinen Namen der Unsterblichkeit geweiht hat, in der Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des pos. peinl. Rechts. Theil I. Auch zum 1sten Kapitel und in der Schrift Ueber die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen Beleidigungen des Verbrechers. Chemnitz 1800. [Text Nr 22a]
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Das Rechtsgesetz ist, nach meiner Überzeugung, ein ewiges (d.h. ein in Rücksicht der Zeit auf keine Weise beschränktes) Willensgesetz, mithin wird das eben Gesagte auch in Rücksicht desselben seine volle Anwendung finden müssen. Sobald wir mehrere, mit Handlungsthätigkeit ausgerüstete und zum Handeln durch ihre Natur bestimmte Wesen – wie die Menschen sind – in einem bestimmten Raume, als dem Kreise ihrer gesammten Thätigkeit, eingeschlossen denken, so müssen wir, sollen sich nicht die Richtungen der Thätigkeit jener Wesen durchkreuzen und dadurch wechselseitig zerstören, ein bestimmtes Verhältniß jener Richtungen gegen einander, nach welchem sie alle, eine von der anderen ungestört, neben und nach einander (also im Raume und in der Zeit getheilt) bestehen können, für nothwendig anerkennen. Das, was die Richtungen der Thätigkeit eines Menschen bestimmt, ist sein Willen. Sollen daher diese Richtungen nach jenem Verhältnisse bestimmt werden, so muß der Wille des Menschen auf die, hierzu nothwendige Weise modificirt seyn. Die Bedingungen für die Möglichkeit irgend einer Forderung der Vernunft, in die Form von Regeln aufgefaßt, sind Vernunftgesetze. Wenn daher die Vernunft einen Zustand unter den Menschen fordert, in welchem jeder mit Sicherheit darauf rechnen könnte, seine Zwecke, ungestört von Andern, verfolgen zu können, und die Reflexion über die hierzu nothwendige Bedingung uns belehrte, daß dieß nur geschehen könne, wenn jeder den Willen hätte, seine Thätigkeit auf die zu einem solchen Verhältnisse nothwendige Weise zu beschränken, so würde diese Bedingung, in die Form einer Regel gefaßt, nothwendig ein den Willen der Menschen regulirendes Vernunftgesetz – also ein Willensgesetz seyn. Es [246] würde ein ewiges Willensgesetz seyn, wenn jene Forderung nicht in einer Zeitbedingung als beschränkt gedacht werden könnte. Ist jener von der Vernunft geforderte Zustand unter den Menschen der Rechtszustand, so ist diese oberste Bedingung für die Möglichkeit desselben, das oberste Rechtsgesetz, und dieses ist mithin ein ewiges Willensgesetz. „Aber“, sagen meine Gegner, „die Möglichkeit des rechtlichen Zustandes postulirt keineswegs jenen Willen, sondern fordert als Bedingung eine bürgerliche Gesellschaft. Wäre die rechtliche Gesinnung das Postulat des rechtlichen Zustandes, so brauchten wir keinen Staat zu postuliren; fordern wir als Bedingung einen Staat, wozu denn noch die rechtliche Gesinnung etc., etc.“ Warum wir keinen Staat zu postuliren brauchten, wenn wir die rechtliche Gesinnung, d.h. den Willen, nie in die gesetzliche Freiheit Anderer einzugreifen, postulirten, vermag ich nicht einzusehen. Der Staat ist eine Zwangsanstalt, durch welche wirklich gemacht werden soll, was ohne ihn wirklich seyn müßte, wenn jeder dasjenige freiwillig thäte, was durch ihn erzwungen werden soll. Das was der Staat erzwingen soll, ist der oben beschriebene Rechtszustand, der Zustand, in welchem jeder sicher darauf rechnen kann, seine erlaubten Zwecke, ungestört von Andern, verfolgen zu können. Ohne Zwang würde aber dieser Zustand nur existiren, wenn alle Menschen den steten Willen hätten, nie in die gesetzliche Freiheit Andrer einzugreifen; mithin ist es rechtlich eigentlich [247] dieser Willen, welcher durch den Zwang des Staates auf die angegebene Weise bestimmt werden soll. – Die Behauptung meiner Gegner beruht daher offenbar auf einer irrigen Ansicht des Problems, welches die philosophirende Vernunft in der Rechtslehre aufzulösen hat. Der Mensch fordert näm-
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lich nicht etwa nur im bestimmten Momente Ungestörtheit für seine Zweckthätigkeit, sondern er fordert auch schon in dem jetzt bestehenden Momente Sicherheit dieser Ungestörtheit für die folgenden Momente. In dem jetzt bestehenden Momente könnte wohl jene Ungestörtheit vorhanden seyn, wenn nur, gleichviel ob zufällig oder nicht, keine äussere, ihn störende Handlung auch noch in dem folgenden Momente dauern werde? Nicht der Zwang des Staates, wenn dieser nur gegen die erschienene Handlung gerichtet wäre; sondern einzig und allein der rechtliche Willen der Menschen, durch welchen ihre äusseren Handlungen bestimmt werden. Aber was, wird man nun weiter fragen, läßt uns denn erwarten, daß der Mensch, welcher seinen Willen auf diese, aber auch auf jene Art bestimmen kann, denselben rechtsgemäß bestimmen werde? Jetzt erst kommen wir in dem Räsonnement auf den Zwang und auf die, den Zwang mit Gewißheit zu seinem Zwecke leitende Anstalt der Staaten. Kant und Fichte haben bekanntlich die große Wahrheit begründet, daß der Mensch die Verbindlichkeit habe, in den Staat zu treten und deswegen zu diesem Eintritte selbst gezwungen werden dürfe. [...] [248] [...] Wenn nämlich der Staat die conditio sine qua non ist, unter welcher der Zustand des Friedens allein auf der Erde begründet werden kann, so ist der Willen: nicht in den Staat zu treten, gleich dem Willen: nicht im [249] Frieden mit Andern zu leben, – und man ist demnach schon durch jenen Willen, ohne alle äussere ungerechte Handlung, ohne alle wirkliche Störung des Andern, so gewiß ein Hinderniß der gesetzlichen Freiheit, als man es, nach dem Obigen, durch diesen Willen seyn würde. Ich bin so kühn, zu behaupten, daß selbst mein Freund Feuerbach, so sehr er auch mit einem Aufwande von Scharfsinn gegen meine Worte kämpft, dennoch in der That und in seinen eigenen Folgerungen die Richtigkeit meiner Behauptungen anerkennt; denn woher dem Menschen, woher dem Staate ein Recht zu diesem psychologischen Zwange, dessen mein Freund zur Begründung seiner Strafrechtstheorie doch so sehr bedarf; – woher dieses, frage ich, wenn nicht der rechtswidrige Willen selbst schon zum Zwange berechtigt? Ist denn der durch die Drohung eines zuzufügenden Uebels begründete psychologische Zwang nicht schon selbst ein Uebel? Und was ist es anders, als der rechtswidrige Willen in seinem Entstehen, welcher, als ein Hinderniß der Freiheit, durch jenes Uebel vernichtet werden soll? Doch ich wende mich zu einem andern, noch wichtiger scheinenden Entwurfe, durch welchen man meinen obigen Behauptungen Vernichtung droht. „Du“, sagt man, „der du selbst so eifrig gegen die Verwechselung der Moral mit der Rechtslehre streitest, scheinst nicht zu bemerken, daß du dich, indem du jene Behauptungen aufstellst, schon mitten in dem Gebiete der Moral befindest; denn das Rechtsgesetz hat nun einmal bekanntlich nichts – gar nichts mit den [250] Maximen und Gesinnungen der Menschen zu thun, und es ist daher einzig und allein das Sittengesetz, und die aus demselben fließende ethische Pflicht, welche uns nöthigt, das Rechtsgesetz zur unverbrüchlichen Maxime unseres Willens zu erheben“. Daß die Rechtslehre und die Moral strenge geschieden werden müssen, und daß jedes Überspringen aus dem Gebiete der einen in das der anderen für die Wissenschaft äußerst nachtheilig seye, davon bin ich freylich auf das lebhafteste überzeugt. [...] Aber eben so lebhaft bin ich auch überzeugt, daß es nicht gut für die
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Wissenschaften seye, wenn man von einem Extreme gleich zu dem entgegengesetzten überspringt. So gewiß als wirklich verschiedene Wissenschaften ge- [251] trennt werden müssen, so gewiß muß doch die Trennung nicht weiter gehen, als Verschiedenheit nachgezeigt werden kann. Moral und Rechtslehre bleiben ewig sehr nahe verbundene Wissenschaften, bestümmte Charactere müssen daher beyden auch nothwendig gemeinschaftlich bleiben, und ich weiß nicht, ob man nicht beyden eben so sehr schadet, wenn man diese Gemeinschaft aufzuheben sucht, als wenn man es unterläßt, die verschiedenartigen Charactere derselben genau zu entwickeln. Die juridische sowohl als die ethische Gesetzgebung sind Ausflüsse der praktischen, d.h. den die Handlungen der Menschen leitenden Willen derselben bestimmenden Vernunftgesetzgebung. Was sich also auch für eine Verschiedenheit beyder Gesetzgebungen möge nachzeigen lassen, in diesem Puncte müssen sie nothwendig zusammentreffen; alle, sowohl juridische, als ethische Gesetze müssen dem Willen des Menschen eine bestimmte Richtung geben, und nur durch diese Richtung des Willens muß ihre Anforderung an den Menschen befriedigt werden können. Keineswegs läßt sich daher die juridische Gesetzgebung von der ethischen dadurch unterscheiden, daß man behauptet, jene bestimme blos die äußeren Handlungen des Menschen zur Zusammenstimmung zu einer gemeinsamen Freiheit Aller, diese hingegen, in so ferne aus ihr die ethische Pflicht der Gerechtigkeit hervorgeht, bestimme auch den Willen des Menschen zu diesem Zwecke; denn was kann man sich denn wohl denken bey Gesetzen für die äußeren Handlungen des Menschen, welche diese Handlungen blos und nicht den Willen des Menschen, der diese Handlungen producirt, bestimmen sollen? [...] [252] [...] Das Gesetz [...], welches Handlungen des Menschen bestimmen will, muß an diesen Willen des Menschen sich richten, und die, zur Hervorbringung der ihm gemäßen Handlungen nothwendige Stimmung des Willens erfordern, oder es müßte aufhören, ein praktisches Gesetz zu seyn, und das Existentwerden der, ihm gemäßen Handlungen von einer, durch es begründeten Naturnothwendigkeit erwarten. – Sollte daher der Unterschied zwischen den Rechts- und Pflichtgesetzen, in so ferne durch die letzteren die Pflicht der äußeren Gerechtigkeit begründet wird, einzig und allein darin liegen, daß nur die letzteren eine bestimmte Modification des Willens erforderten, so gestehe ich gerne, daß ich wieder zu der Lehre der Älteren zurückkehren, und die Rechtslehre nur als ein Kapitel der Moral betrachten würde. Aber es folgt ja nicht, daß darum, weil die juridische Gesetzgebung sowohl, als die ethische eine gewisse Bestimmung des Willens der Menschen erfordert, nun schlechterdings kein Unterschied zwischen beyden statt finden könne, wie mein Freund Feuerbach behauptet. [...] [253] [...] Wer den Willen hat, nie die Rechte anderer zu verletzen, ist juridisch gerecht, mag auch die Triebfeder seiner Willensbestimmung noch so unlauter seyn, mag Eigennutz, Stolz, Furcht, oder was nur sonst wolle, diese seyne Gesinnung er- [254] zeugt haben; ja selbst die bekannte Schändlichkeit der Triebfeder seiner Handlungsweise kann ihm in foro externo nicht im entferntesten einen geringeren Werth beylegen, als dem aus einer reinen Triebfeder gerecht Handelnden zugeschrieben werden darf; denn das Gesetz, nach welchem einzig in foro externo gerichtet werden muß, ist befriedigt durch die ihm gemäße Bestimmung des Willens; – der Grund dieser Willensbestimmung hat vor ihm keinen Werth. Ethisch gerecht ist hingegen
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nur derjenige, welcher darum einzig seinen Willen zur Heilighaltung der Rechte seiner Mitmenschen bestimmt hat, weil diese Bestimmung des Willens ihm Pflicht ist. Es bleibt demnach ein hinlänglich großer Unterschied zwischen den Forderungen des Rechts- und des Moralgesetzes. [...] Ist nun, dem Vorhergehenden zur Folge, zum Existentseyn des Rechtsverhältnisses es nicht hinlänglich, daß in einem bestimmten Momente nur keiner wirklich die Rechte der anderen verletzt, sondern wird auch bey jedem die Bestimmung des Willens, in der Folge nicht [...] [255] in die Rechte Anderer einzugreifen, als ein nothwendiges Erforderniß zu jenem Existentseyn betrachtet werden müssen; so folgt, daß nicht blos durch die geschehene wirkliche Verletzung, sondern auch schon durch das Abgehen von dem Willen, nie Andere zu verletzen, das Rechtsverhältniß aufgehoben werde. Ist Zwang zur Erhaltung oder Herstellung des gestörten Rechtsverhältnisses erlaubt, ist es erlaubt, das Hinderniß des Friedens unter den Menschen mit Aufwand körperlicher Kraft, wenn diese nöthig seyn sollte, zu entfernen, um durch den Krieg den Frieden wieder herbeyzuführen; so muß jener Zwang ebenso gut durch die erschienene unrechtliche Handlung eines Menschen, als durch den vorhandenen Mangel des Willens desselben, Andere nicht zu verletzen, rechtlich begründet werden. Durch die erschienene ungerechte Handlung wird die Summe der Vollkommenheiten des Angegriffenen vermindert, mithin ein Schaden für denselben begründet. Die ungerechte Handlung wird, so viel dies möglich ist, aus der Reihe der Erscheinungen getilgt, wenn der Schaden (sey es durch Vindication oder Erpressung eines Aequivalents und des Interesses) aufgehoben. Der durch die erschienene ungerechte Handlung rechtlich begründete Zwang ist daher Zwang zur Entschädigung. Nur bis zu dieser Grenze hin, und nicht um eine Linie weiter, kann aus der geschehenen Rechtsverletzung ein rechtliches Fundament des Zwangs abgeleitet werden. Durch den Mangel des Willens, die Rechte Anderer nie zu verletzen, wird zwar noch keine wirkliche Rechtsverletzung, oder Beschädigung begründet, aber es werden dadurch künftige wahrscheinlich gemacht, oder (um noch bestimmter zu [256] reden) es wird für jeden der Grund weggenommen, welcher ihn, wenn er sich nicht dem blinden Zufall überlassen will, könnte erwarten lassen, daß er von dem Andern nicht werde verletzt werden. Ein Zustand, in welchem man das Ausbleiben einer Beschädigung nicht erwarten kann, ist ein Zustand der Gefahr. Der durch den Mangel des rechtsgemäßen Willens rechtlich begründete Zwang ist daher Zwang zur Abwendung der Gefahr, oder auch zur Vertheidigung oder Prävention im weiteren Sinne. So wie der rechtliche Zweck des Zwanges zur Entschädigung darin besteht: den aufgehobenen Zustand der Unverletztheit wieder zu begründen, so erscheint uns als der rechtliche Zweck des Präventions- oder Vertheidigungszwanges: den aufgehobenen Zustand der gesicherten Ruhe wieder herbeyzuführen. Wenn der Willen, die Rechte Anderer nie zu verletzen, bey irgend jemand mangelt, so muß darum noch nicht gerade der Willen, eine bestimmte Rechtsverletzung wirklich vorzunehmen, bey demselben vorhanden seyn; denn jener Mangel des Willens allein, welcher zwar nicht bestimmte künftige Rechtsverletzungen, aber doch künftige Rechtsverletzungen überhaupt wahrscheinlich macht, macht
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denjenigen, bey welchem derselbe angetroffen wird, nach dem Vorhergehenden schon zu einem Hindernisse der gesellschaftlichen Freiheit, indem von einem Menschen, wel- [257] cher den Willen, Andere nie zu verletzen, nicht hat, nicht erwartet werden kann, daß er sich von Rechtsverletzungen zurückhalten werde, wenn man nicht, thörigt genug! auf den gänzlichen Mangel von Bewegungsgründen und Anreizungen zu Illegalitäten in der ganzen Zukunft, also auf einen, das Recht gleich einer waltenden Vorsehung in Schutz nehmenden Zufall seine Rechnung bauen will. Aus dem Mangel des rechtsgemäßen Willens kann indessen, (wenn gleich dieß zur Begründung des Vertheidigungszwanges nicht nothwendig ist) die Willensbestimmung zur Unternehmung einer bestimmten Rechtsverletzung hervorgehen, und sich uns durch das wirkliche in Thätigkeit Setzen der zur Vollbringung dieser Illegalität nothwendigen Kraftäußerung ankündigen. Alsdann erreicht der Zustand der Gefahr den höchsten Grad. Die Gefahr wird nun Noth; der Vertheidigungszwang, in soferne er gegen diese Noth gerichtet ist, ist Nothwehr. Aber eben hieraus wird es auch klar, daß mit der vollendeten Nothwehr noch keineswegs der Vertheidigungszwang für vollendet, oder der rechtliche Zweck des Vertheidigungszwanges für vollständig erreicht gehalten werden müsse; denn wenn auch der Angreifende, durch die Nothwehr gezwungen, seinen Entschluß zu der itzt zu bewirkenden bestimmten Rechtsverletzung aufgegeben haben sollte, so haben wir doch noch keinen Grund, um anzunehmen, daß derselbe, zu der entgegengesetzten Willensbestimmung, unsere Rech- [258] te in der Folge mehr nicht zu verletzen, übergegangen seyn werde, er bleibt uns mithin Gefahrdrohender und unsere Ruhe kann nicht eher als völlig gesichert betrachtet werden, bis das Princip, woraus für uns die Gefahr fließt, vernichtet, und demnach der Mangel des rechtsgemäßen Willens aufgehoben worden ist. Das Recht der Nothwehr ist bisher noch nicht in Zweifel gezogen worden, und dennoch wird der Zwang zur Nothwehr nicht aus einer geschehenen Rechtsverletzung, nicht aus einer erschienenen Illegalität, sondern einzig und allein aus dem bey dem Zustande der Noth uns kund werdenden Willen des Beleidigers, eine künftige Rechtsverletzung wirklich machen zu wollen, gerechtfertigt werden können. Gewißheit künftiger Rechtsverletzung folgt nicht einmal aus einem, zur Nothwehr auffordernden Factum, sondern nur Wahrscheinlichkeit; denn die Möglichkeit, daß Reue, oder ein anderer Zufall den entschlossenen Angreifer von der Ausführung seines Unternehmens zurückhalten könne, ist noch nicht ausgeschlossen. [...] [259] [...] Keineswegs die künftigen wahrscheinlichen Rechtsverletzungen, sondern, um ganz bestimmt zu reden, der itzt vorhandene nicht rechtsgemäße Willen (er seye nun rechtswidrig oder nur nicht rechtsgemäß) begründet den Präventionszwang. [...] [260] [...] Die einzige Schwierigkeit bey unserer Ansicht der Sache bestehet nur darin: zu bestimmen, wo- [261] durch denn unser Rechts-Urtheil über den Willen Anderer instruirt werden könne? Was ist es, fragt man mit Recht, wodurch ihr den Mangel des rechtsgemäßen Willens mit Gewißheit zu erkennen vermöget? Nur Gewißheit des Vorhandenseyns des Rechtsgrundes zum Zwange kann euren Zwang rechtfertigen, woher nun auch diese Gewißheit von der Existenz, oder Nichtexistenz von etwas, welches sich euren Sinnen nicht darstellen kann?
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Freylich vermögen wir nicht, das Innere unserer Mitmenschen zu durchschauen. Wir wissen wohl, daß der Mensch den Willen, nur rechtsgemäß zu handeln, haben könne, aber wir wissen auch, daß er eben so diesen Willen nicht haben und von der einen Willensbestimmung zu der anderen übergehen könne, und einen Grund, warum wir annehmen sollten, daß das eine, oder das andere nun wirklich der Fall seye, scheinen wir eben daher nicht auffinden zu können; zumal da unser, ohnehin incompetentes Urtheil über den moralischen Werth oder Unwerth des Menschen uns hier um so weniger zu leiten vermag, als sogar, nach dem Obigen, mit dem höchsten moralischen Unwerth voller juridischer Werth des Menschen verbunden seyn kann. Dennoch aber kann ja keiner wissen, ob das Rechtsverhältniß zwischen ihm und seinem Mitmenschen bestehe – ob er demnach im Frieden oder im Kriege mit demselben zu leben habe – wenn er nicht weiß, was er von demselben zu erwarten habe, wenn ihm nicht der Zweifel gelöst wird, ob derselbe seine Rechte anerkennen und stets heilig zu halten, den Willen habe. [...] [262] [...] Eine durch das Mittel der äusseren Sinne bewirkte Gewißheit kann mir hier nicht werden, und dennoch muß ich nothwendig eine Meinung ergreifen. Was ist es, das aus diesem Labyrinthe uns zu führen im Stande ist? Es ist eine bekannte Wahrheit, daß der Mensch, auch bey der oberflächlichsten Reflexion, mehr Gründe in sich findet, Freund als Feind der Anderen zu seyn; denn, (der Vernunftnöthigung nicht zu gedenken, welche hier, wo auf Moralität der Menschen nicht gerechnet werden darf, in keinen Betracht kommen kann) selbst das Interesse der Sinnlichkeit fordert Frieden, weil nur in dem Zustande des Friedens möglich ist, ungestört und mit Sicherheit seine Zwecke verfolgen zu können. Schon diese Betrachtung würde den Menschen geneigt machen müssen, im Zweifel der friedlichern Meinung den Vorzug zu geben, denn es ist, dem Gesagten zur Folge, wahrscheinlicher, daß der Mensch, welchen ich erblicke, und von welchem ich noch nicht sagen kann, daß er mich feindlich behandeln wolle, – im Frieden mit mir werde leben wollen. – Hierzu kommt aber noch eine andere, bey weitem entscheidendere Betrachtung. Wollte nämlich jeder im Zweifel annehmen, daß der Andere seine Rechte nicht heilig halten wolle, wollte demnach Einer den Andern, so wie er ihn erblickte, als Feind behandeln, so wäre ein Krieg Aller gegen Alle unvermeidlich, und eben dadurch der Zustand absoluter Rechtlosigkeit begründet. Ich fühle [263] mich daher gedrungen, selbst um nur einen rechtlichen Zustand unter den Menschen als möglich denken zu können gedrungen, der friedlichern Meinung im Zweifel den Vorzug zu geben, und also – auf die Gefahr der Möglichkeit des Gegentheils hin –anzunehmen, daß der Mensch, welchen ich erblicke, und welcher meine Rechte noch nicht verletzt hat, sich zur steten Heilighaltung meiner Rechte werde bestimmt haben, und daß die Erklärung desjenigen, welcher mir vermittelst der Sprache zu erkennen gegeben hat, daß er meine Rechte stets heilig halten wolle, eine ernstliche seye. Und dies, glaube ich, ist der Grund, warum man in dem bekannten quilibet praesumitur justus, donec probetur contrarium eine praesumptionem juris erkennt. Aber! ich nehme dieß, trotz der Möglichkeit des Gegentheils, nur an, weil ich mich in dem Zweifel doch für etwas bestimmen muß, keineswegs, als ob ich gewiß wüßte, daß es sich wirklich so verhalte, wie ich annehme. So wie mir daher die nachherige Erfahrung den Beweis liefert, daß ich mich getäuscht habe, so fällt
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meine Annahme dahin. Mit anderen Worten: Die Annahme, daß der Andere den Willen, nur rechtsgemäß, und in alle Zukunft hin nur rechtsgemäß zu handeln, habe, ist eine problematische Annahme, welche alle ihre Wirkung verliert, sobald das Gegentheil derselben erhellet. – Sollte die Annahme, daß der Andere nur rechtsgemäß handeln wolle, oder daß seine Erklärung, nur so handeln zu wollen, eine ernstliche seye, in der Folge durch die Erfahrung bestätigt und erhalten werden, so müßte nothwendig in der ganzen Erfahrung nie eine willkührliche unrechtliche Handlung, nie eine willkührliche entgegengesetzte Erklärung vorkommen; denn willkührlich die Rechte Anderer verletzen, und doch den Willen haben, diese Rechte [264] nie verletzen zu wollen, ist doch wohl ein Widerspruch. So wie daher in der Reihe der willkührlichen Handlungen des Menschen – sey es auch nach dem rechtmäßigsten bisherigen Lebenswandel – auch nur eine unrechtliche vorkommt, so wie in der Reihe seiner Willenserklärungen auch nur eine vorkommt, welche der vorhergehenden, rechtlich handeln zu wollen, widerspricht, so fällt jene problematische Annahme dahin, und das Rechtsverhältniß zwischen ihm und anderen kann ferner nicht mehr als existent betrachtet werden. Zwar kann er nachher wieder rechtsgemäß handeln, zwar kann er nachher wieder erklären, daß er mit andern im Rechtsverhältnisse bestehen wolle; allein, dies kann keinen bewegen, jener Rechtsvermuthung aufs Neue Wirkung beyzulegen; denn die neueren rechtsgemäßen Handlungen können nun weiter nichts beweisen, als daß er in diesen Fällen keine Ursache gehabt habe, unrechtlich handeln zu wollen, keineswegs aber, daß er – der willkührlich nicht stets rechtsgemäß gehandelt hatte – stets rechtsgemäß handeln wolle, und jene neuere Erklärung, – wer könnte ihr, bey der bewiesenen Wandelbarkeit seiner Gesinnungen, trauen? – Es kann daher itzt dem Menschen keine Sicherheit für seine Ruhe, keine Gewißheit der bestehenden Rechtsverhältnisse gegeben werden, als bis er Gründe hat, anzunehmen, daß das Princip, woraus ihm Gefahr für seine Rechte erwächst (der Mangel des rechtsgemäßen Willens) aufgehoben sey. Diese Gründe bietet ihm nun einzig der zweckgemäße Gebrauch von Präventionszwangsmitteln dar, durch welche der Gefahr Drohende abgeschreckt, oder demselben die Ausführung seiner Drohung unmöglich gemacht wird, – und hierin finde ich das Wesen der Strafe, wie ich zu einer andern Zeit erweisen werde.
Ernst Ferdinand Klein (1743–1810) Ueber die Natur und den Zweck der Strafe (1799) Die Fragen, welche die Natur und den Zweck der Strafe betreffen, gehören allerdings zu den wichtigsten und schwierigsten. Auch bloße theoretische Speculationen, welche sich auf diesen Gegenstand beziehen, sind nützlich, weil sie uns bestimmte Begriffe und feste Grundsätze an die Hand geben, wodurch die bisherige Praxis theils gerechtfertiget, theils berichtiget wird. Einen aufmerksamen Leser der Schriften, welche kürzlich über die ersten Gründe des Strafrechts erschienen sind, muß jedoch es befremden, daß selbst diejenigen, welche zu einerley philosophischer Schule gehören, dennoch nach ihren Folgerungen weiter von einander abweichen, als diejenigen, welche ganz andere philosophische Grundsätze haben; und es muß uns dieses auf die Vermuthung leiten, daß die Erfahrung dabey eine wichtigere Rolle spiele, als ihr unsere jüngeren Philosophen zu bewilligen geneigt sind. [61] Daß man vor allen Dingen den Begriff der Strafe zu bestimmen sucht, ist lobenswürdig, und ich würde sehr unrecht thun, wenn ich einen andern Weg einschlagen wollte. Allein ein so entscheidendes Gewicht lege ich auf diese Untersuchung nicht, wie viele von unsern Philosophen, welche glauben, sie haben ihre Schätze unabhängig von aller Erfahrung (a priori) bewiesen, wenn sie selbige aus ihrer Definition der Strafe hergeleitet haben. Denn wenn man auch auf das Schwankende des Sprachgebrauchs gar keine Rücksicht nimmt, so ist es doch offenbar eine Thatsachen betreffende Frage, wenn man untersucht, welchen Begriff die Menschen mit dem Worte Strafe zu verbinden pflegen; und es ist näher betrachtet, eine historische Untersuchung, wenn man nachforscht, ob man zu allen Zeiten einerley Begriff mit diesem Worte verbunden habe. Da nun ferner der Philosoph die gemeine Meynung berichtigen soll, so ist es ihm auch unmöglich, diese bey dem Sprachgebrauche zum Grunde liegende gemeine Meynung als unumstößlich richtig vorauszusetzen, und er wird daher diese Untersuchung nur dazu benutzen können, damit er eines Theils durch genauere Bestimmung des Begriffs Wortstreitigkeiten vermeide, und andern Theils dadurch auf die innern und äußern Erfahrungen geleitet werde, welche auf den Sprachgebrauch Einfluß gehabt haben, und die er nun als Philosoph entwickeln und berichtigen muß. Sollte er bey dieser Gelegenheit auf allgemeine Grundsätze stoßen, so würden diese nicht in sofern wahr seyn, als sie bey dem Sprachgebrauch zum Grunde liegen, sondern in wie fern sie, abgesehen vom Sprachgebrauche, an sich richtig sind. [62] Sehr nützlich aber ist es, der ebengedachten Bedenklichkeiten ungeachtet, dem historischen Ursprunge des Strafrechts bis in die Zeiten der Kindheit des menschlichen Geschlechts nachzuspüren, damit man dadurch in den Stand gesetzt werde, das, was man sich zu allen Zeiten nur dunkel dachte, deutlicher zu entwickeln. Tief eingewurzelt finden wir bey allen Völkern den Gedanken, daß die Größe der Strafe sich nicht auf den Zweck, welcher dadurch erreicht werden soll, sondern auf die vorausgegangene Handlung beziehe. [...]
T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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[...] Wie kamen die Menschen [63] auf den Gedanken, daß dem, der uns ein Uebel zufügt, ein ähnliches Uebel zugefügt werden müsse? Es ist dem Menschen nichts natürlicher, als Liebe mit Liebe, Haß mit Haß zu vergelten. Ehe noch die Menschen in eine bürgerliche Gesellschaft zusammentraten, äußerte sich diese Denkungsart schon auf mannigfache Weise. Man suchte sich einander durch Geschenke gefällig zu machen, und Gegengeschenke waren die Folgen davon. [..] Aber wie man es für Schuldigkeit hielt, seine Freunde zu lieben und ihnen zu dienen, so hielt man es auch für Pflicht, seine Feinde zu hassen und zu verfolgen. Daraus folgte die Maxime: Was du nicht willst, daß dir die Leute thun sollen, das thue du ihnen auch nicht. Daher kam der Grundsatz: das Dulden muß wechselseitig1 seyn. In der That war man eben dadurch zum ersten Grundsatze des Naturrechts gelangt, zufolge dessen Keiner von dem Andern eine Duldung fordern kann, wozu er sich selbst unter ähnlichen Umständen nicht verstehen würde; und dieses wechselseitige Dulden enthielt, wenn man es genauer betrachtete, den Grundsatz: daß die Freyheit Anderer nur so weit eingeschränkt werden dürfte, als es die Behauptung der gemeinsamen Freyheit Aller erfordert. [64] Dieses noch unentwickelte Rechtsgefühl konnte freylich von dem noch ungebildeten Menschen nicht in seiner Reinheit gedacht werden, und noch weniger ließ sich erwarten, daß der leidenschaftliche Mensch nach deutlich gedachten Grundsätzen handeln, und sie, wenn er es auch vermocht hätte, bey der Anwendung nicht übertreiben würde. Liebe des Guten war natürlicherweise Parteylichkeit für die Person, an welcher man dieses Gute zu bemerken glaubte; und Haß des Bösen offenbarte sich als Haß gegen die Person, an welcher man dieses Böse bemerkte. Man ging noch weiter; man suchte das Mißvergnügen, welches aus der Beleidigung entstanden war, durch das Vergnügen zu compensiren, welches man bey der vorsätzlichen Wiedervergeltung der Beleidigungen empfand. So gewann die Befriedigung der Rachlust die Gestalt des Rechts. Nur der Schwache, der Furchtsame, der Characterlose übte keine Rache. [..] Besonders mußte zu einer Zeit, da entweder der bürgerliche Vertrag noch nicht geschlossen, oder das Band der bürgerlichen Vereinigung sehr lose war, die Rache nicht nur als ein nothwendiges Mittel zum Schutz der Rechte, sondern auch als Pflicht erscheinen. Diese Pflicht mußte vorzüglich alsdann unerläßlich seyn, wenn der Beleidigte selbst das Opfer der Beleidigung geworden war, die Beleidigung aber zugleich als eine unmittelbare Beleidigung Anderer betrachtet [65] werden konnte. Daher die Pflicht der Blutrache. [...] [66] [...] Als man auch schon anfing, das allgemeine Interesse der ganzen Gesellschaft bey den Beleidigungen der Einzelnen zu fühlen, und diese Beleidigungen als Beleidigungen der Gesellschaft zu ahnden, betrachtete man dennoch diese Strafe nur als eine Art der Genugthuung, weswegen sie auch jetzt noch die öffentliche Genugthuung genannt wird. Der Beleidiger mußte sich daher nicht nur mit dem Beleidigten und seiner Familie, sondern auch mit der ganzen Gesellschaft abfinden. Daher mußte nicht nur Wehrgeld, sondern auch Friedensgeld (fredum) 1
Dies ist das Pythagorische to antipeponthos allo.
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bezahlt werden, und die Obrigkeiten selbst hielten sich durch die ihren Untergebenen zugefügten Beleidigungen an ihrer Ehre und an ihren Rechten gekränkt; daher kommt es, daß noch heutiges Tages in England die Verbrechen als Beleidigung des Königs (felony) betrachtet werden. Überall erscheint hier die Strafe als ein Mittel der Genugthuung. Allein so wie die bürgerliche Gesellschaft mehr Consistenz gewann, wurden auch Gesetze nothwendig, denen man Sanction verschaffen mußte. Nun wurde die Strafe als Execu- [67] tionsmittel gebraucht, daher der Ausdruck: Sub poena executionis. Sollte nemlich ein obrigkeitlicher Befehl vollstreckt werden, so mußte man den Widerspenstigen dadurch zum Gehorsam nöthigen, daß man ihm im Voraus ein Uebel androhete, welches ihn im Falle des Ungehorsams treffen sollte. Hieraus ergeben sich zwey Arten von Strafen, welche ihrem Grunde und ihrer Natur nach sehr verschieden sind, nemlich die Strafe zur Genugthuung und die Executionsstrafe. Bey der ersteren nahm man an, daß Beleidigungen und Strafen mit einander in Verhältniß stehen müssen, und eine solche Strafe konnte auch den treffen, welchem sie vorher nicht war angedrohet worden, denn sie diente zur Entschädigung und gehörte zur Genugthuung, welche dem Beleidigten geleistet werden mußte. Eine ganz andere Beschaffenheit aber hat es mit der Executionsstrafe; hier entstand das Recht, sie zu vollstrecken, aus der vorhergehenden Drohung, und nicht nur das Recht dazu, sondern auch die Quantität der Strafe wurde durch die vorhergehende Drohung bestimmt. Allein diese rechtlichen Folgen der Drohung wurden nicht zuerst in der bürgerlichen Gesellschaft bekannt, sondern dergleichen Drohungen waren schon vorher als Vertheidigungsmittel gebraucht worden. Wer eine Beleidigung zu besorgen hatte, bediente sich auch außer der bürgerlichen Gesellschaft der Drohung, als eines Vertheidigungsmittels. Der, dessen Eigenthum von den Nachbaren beunruhiget wurde, machte ihnen im voraus bekannt; welche Rache [68] er an dem ausüben würde, welcher ihn ferner in der Ausübung seiner Rechte stören oder beunruhigen würde; und ob man gleich nicht annehmen kann, daß der Beleidiger in diese Strafe gewilliget habe, so konnte er sich doch darüber nicht beklagen, weil er vorher wußte, welche Strafe der Beleidigte für nöthig hielt, um sich gegen fernere Beleidigungen zu schützen. [...] Als daher bey den weiteren Fortschritten der bürgerlichen Gesellschaft die Strafe aufhörte Rache zu seyn, bediente man sich dieser allgemeinen Drohung als eines Mittels, alle Arten von Staatszwecken dadurch zu befördern, und es wurde wegen der Beleidigungen der Privatpersonen die Strafe eben so im voraus angedroht, als es vorher bey den Executions-Strafen geschehen war. Es konnte zwar nicht sogleich ein vollständiger Strafcodex geliefert werden, so geneigt man auch war, den Mißbrauch der richterlichen Gewalt durch bestimmte Vorschriften einzuschränken. Allein ein Tarif der Preise, wodurch die Rache abgekauft werden sollte, war bald gemacht, und so war es möglich, daß auch bey den rohen, aber ihre Freiheit liebenden Völkern der Grundsatz Wurzel faßte: Jede Strafe setzt ein Strafgesetz voraus.
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[69] So finden wir die Sache, wenn wir die Geschichte zu Rathe ziehen, und so müssen auch bey der philosophischen Deduction des Strafrechts zwey verschiedene Gründe des Strafrechts aufgestellt und gerechtfertigt werden. Ich habe schon oben angeführt, daß man gleich anfangs, als man den Begriff der Strafe bildete, diese als eine Art der Genugthuung betrachtete, daß man sich aber auch der Strafe als eines Zwangsmittels zur Verwirkung schuldiger Handlungen bediente, und es scheint also, als ob es keiner weiteren Deduc- [70] tion des von mir angenommenen doppelten Strafrechts bedürfte. Ich will mir aber den Sieg nicht so leicht machen, wie diejenigen thun, welche alles aus der von ihnen angenommenen Definition der Strafe herleiten. Was nun also zuerst Strafe zur Genugthuung betrifft, so kann das Factum allein, daß man die Strafe als eine Art der Genugthuung zu betrachten gewohnt war, über das Recht selbst noch nichts entscheiden. Da es mir nur um die Wahrheit zu thun ist, so will ich nichts erschleichen, und ich werfe daher selbst die Frage auf: War man berechtiget, die Strafe des Beleidigers als Genugthuung zu fordern? [...] [71] [...] Es ist ein allgemeiner Erfahrungssatz, daß die Beleidigung, wenn das Mißlingen derselben nicht unangenehme Folgen für den Beleidiger hat, sowohl diesen als Andere zur Beleidigung reize, und dieser Reiz gehört also auch mit zu dem Nachtheile, welcher aus der Beleidigung entspringt. Man hat dagegen zwey Haupteinwendungen, nemlich: 1) daß niemand wegen der bloßen Besorgniß eines wahrscheinlichen Uebels seinem Nebenmenschen ein wirkliches Uebel zufügen dürfe, und daß ein bloß wahrscheinliches Recht kein Recht sey. Und 2) daß der Schade nicht aus dem Verbrechen selbst, sondern erst aus der Ungewißheit desselben entstehe. Der erste Einwurf ist der scheinbarste. Wenn man behauptet, es sey wahrscheinlich, daß jemand ein Recht habe, so wird dadurch nicht die Wirklichkeit desselben behauptet, und es gewinnt daher allerdings das Ansehen, als könne die Strafe nicht auf einen blos wahrscheinlichen Erfolg des Verbrechens gegründet werden. [72] Allein man muß hierbey zwey Sätze von einander wohl unterscheiden. Nemlich 1) den Satz: Es sind Fälle möglich, wo die Strafe mit zur Genugthuung gehört; und 2) den Satz: Der gegenwärtige Fall ist so beschaffen, daß der Reiz zum Verbrechen als Folge desselben betrachtet werden muß. Der zweyte Satz entscheidet eine bloße Thatfrage (quaestio facti), bey welcher alles das eintritt, was bey solchen Fragen stattfindet. Nur der erste Satz ist allgemein, und muß wie jeder andere allgemeine Satz behandelt werden. In Beziehung auf den ersten Satz wird mir jedermann eingestehen, daß, wenn der Reiz zum neuen Verbrechen als Folge der Beleidigung betrachtet werden kann, sich der Beleidiger alles das gefallen lassen müsse, was nöthig ist, damit diese Folge wieder gehoben werde. Mehr aber brauche ich eigentlich nicht, um meine Deduction des Strafrechts zu vollenden. Denn ob in einem gegebenen Falle der Reiz entstan-
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den, und welche Strafe nöthig sey, um diesen Reiz wieder zu heben, ist eine offenbare Thatfrage. [...] [73] [...] Ich will [aber], ob ich gleich nicht dazu verbunden wäre, den Beweis übernehmen, daß [74] der Reiz zu neuen Verbrechen als die natürliche Folge der schon begangnen zu betrachten sey. Selbst diejenigen, welche einer entgegengesetzten Meinung sind, räumen doch ein, daß es sich aus den Regeln des menschlichen Geistes erklären lasse, warum das nichtbestrafte Verbrechen andere Menschen zu Verbrechen reizet. Was aus der Natur des menschlichen Geistes fließt, beruht auf einer innern Erfahrung, und ist nicht so schwankend, wie das, was aus der äußern Erfahrung als allgemein gültig bewiesen werden soll. Was aus der Natur unserer Seele fließt, ist nothwendig und nicht zufällig, und wenn wir solche Folgerungen als ungewiß verwerfen wollten, so würden wir ganz und gar keine Gewißheit haben. Ueberhaupt aber erwägt man nicht genug, daß es nur die Erfahrung ist, welche uns zeigt, daß Strafen als Mittel zur Sanction der Gesetze gebraucht werden können; und ich weiß nicht, wie man, so wie Herr Feuerbach zu Begründung seiner Theorie thun muß, beweisen könne, daß die Gesetze durch Androhung von Strafen sanctionirt werden müssen, wenn die Erfahrung gar nicht das Recht haben soll, mitzusprechen. Es wird auch nicht leicht jemand im Ernst daran zweifeln, daß unter den von mir im Criminalrechte §. 16. näher bezeichneten Umständen, der Reiz zu neuen Verbrechen eine nothwendige Folge der Verbrechen sey. Allein man behauptet 2), der Reiz zu neuen Verbrechen entstehe nicht aus dem Verbrechen selbst, sondern aus der Ungestraftheit desselben. Was man zu Unterstützung die- [75] ses Satzes anführt, verräth mehr Spitzfindigkeit, als wahren Scharfsinn. Denn, ist es wahr, daß der Reiz aus der Ungestraftheit entsteht, nun wohlan! so muß diese Ungestraftheit aus dem Wege geräumt werden. Zergliedert man aber dieses Argument näher, so will es eigentlich soviel sagen: das Verbrechen ist nicht Ursache, sondern Gelegenheit des Reizes zu neuen Verbrechen. Denn der Reiz zum neuen Verbrechen entsteht eigentlich aus den Vortheilen, welche die Verbrechen dem Verbrecher gewähren; aber aus dem Entschluß, ein gewisses Verbrechen zu begehen, läßt sich noch nicht der Entschluß zu ähnlichen Vergehungen erklären. Durch diese Art die Sache darzustellen, hat der Einwurf, wie ich glaube, nicht verloren, sondern gewonnen. Aber ich frage weiter: Gehört es nicht zu der Genugthuung, welche der Beleidiger dem Beleidigten leisten muß, daß er auch den zufälligen Schaden ersetze, welcher den Beleidigten ohne die vorhergehende Beleidigung nicht getroffen haben würde? Wenn z.B. der verhaftete Kaufmann durch die ungerechte Verhaftung in Schaden gesetzt wird, so entsteht dieser Schaden meistentheils auch nur daraus, daß andere Kaufleute vorhanden sind, welche Lust haben, durch den Handel etwas zu gewinnen, und also diejenigen Geschäfte machen, welche der Verhaftete würde gemacht haben, wenn er nicht durch den Arrest wäre daran gehindert worden. Der Arrest ist, an sich betrachtet, nicht nöthig, um andern Leuten Lust, etwas zu verdienen, beyzubringen, denn dazu sind sie ohnedies geneigt. Was sie durch den Arrest gewonnen haben, ist die größere Leichtigkeit [76] einen Vortheil zu ziehen, welcher ihnen sonst durch den Verhafteten wäre streitig gemacht worden. Eben diese Leichtigkeit, etwas durch Verbrechen
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zu erwerben, ist auch alsdenn anzutreffen, wenn der Beleidigte die ihm widerfahrene Beleidigung ungeahndet läßt. Damit aber auch jede Veranlassung hinwegfallen möge, einen Unterschied zwischen dem Nachtheil zu machen, welcher aus der Straflosigkeit der Verbrechen entsteht, und demjenigen, welcher die Folge einer ungerechten Verhaftnehmung ist, will ich folgendes Beyspiel wählen: Man setze den Fall, der verhaftete Kaufmann habe Handlungsbedienten, welche sich bisher ganz gut aufgeführt haben, welche aber nun, nachdem sich ihr Principal im Arreste befindet, die Gelegenheit benutzen, sich auf seine Kosten zu bereichern, und sich nach gezogenem Vortheile zu entfernen. Wären die Handlungsbedienten vollkommen ehrlich gewesen, so wäre freylich dieser Nachtheil nicht entstanden, und so würden auch keine neuen Verbrechen begangen werden, wenn es nicht böse Menschen gäbe, welche die Gelegenheit, sich durch Verbrechen Vortheile zu verschaffen, zu benutzen geneigt sind. Es ist übrigens bekannt genug, daß auch die Folgen eines Zufalls vergütet werden müssen, welcher eben durch die unerlaubte Handlung nachtheilig geworden. (Casus, cui culpa praecessit). Ueber dieses alles kommt aber auch noch in Betrachtung, daß die Menschen zur Nachahmung geneigt sind, und daß mancher aus Nachahmungssucht etwas Böses thut, wozu er von Natur keine Neigung hat. Wenn z.B. ein kühner Spötter anfängt, irgend einen Menschen [77] zum Gegenstande seines Spottes zu machen, so fallen endlich auch die Blöden, welche gerne schweigen, wenn man sie nur in Ruhe läßt, über denjenigen her, welcher sich geduldig von jenem hat ausspotten lassen. Es hat auch bisher niemand an dem Satze gezweifelt, daß eine Beleidigung, je öfter sie ungeahndet bleibt, auch um so leichter und ausführbarer in den Augen der Uebrigen erscheine. Ich wende mich nun zu dem andern Grunde des Strafrechts. Auch dieser ist eine Folge der Selbstvertheidigung. Schon außer der bürgerlichen Gesellschaft ereignen sich häufig Fälle, wo die Drohung als Mittel der Selbstvertheidigung gebraucht werden muß. Sie ist, an sich betrachtet, ein gelinderes Vertheidigungsmittel, weil sie dem Andern noch kein wirkliches Uebel zufügt, und ihm nur Gründe geben soll, etwas nicht zu thun, zu dessen Unterlassung er ohnedies verpflichtet ist. Gegen die Drohung selbst hat man auch nichts einzuwenden; man bestreitet nur, daß die Drohung ein Recht gebe, das angedrohte Uebel dem Verteidiger wirklich zuzufügen. Es kommen hier offenbar zwey Sätze mit einander in Collision, nemlich: 1) daß die Drohung aufhören würde, ein Vertheidigungsmittel zu seyn, weil sie nicht vollstreckt würde, und 2) daß die Zufügung eines Uebels dadurch nicht rechtmäßig werden kann, daß man es vorher angedroht hat. Es ist allerdings richtig, daß der Brandstifter dadurch, daß er in einem vorausgeschickten Brandbriefe [78] mit dem Feuer droht, kein Recht erhalten könne, wirklich Feuer anzulegen. Aber davon ist auch hier die Rede nicht. Bey beiden Gründen des Strafrechts wird das Recht einem Andern ein Uebel zuzufügen vorausgesetzt, es sey nun, daß diese Befugniß, wie meistentheils, aus dem Rechte
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der Selbstvertheidigung, oder, aus einem besonders erworbenen Rechte, von dem Andern eine gewisse Handlung zu fordern, ihren Ursprung genommen habe. Besonders wird im ersteren Falle angenommen, daß es erlaubt sey, sich gegen bevorstehende Beleidigungen durch zuvorkommende Handlungen zu schützen. Die Frage ist nur: welches Uebel dazu gewählt werden müsse? Die natürlichste Antwort auf diese Frage wäre freylich, zu sagen: ein Uebel, welches nicht größer und geringer ist, als es der Zweck erfordert. Wer soll nun aber über die Quantität und Qualität dieses Uebels entscheiden? Von der Wahl dessen, der das Uebel dulden soll, kann man die Beschaffenheit desselben nicht abhängen lassen. Ein Recht, den Beleidiger zu strafen, wäre so gut wie keines, wenn der Beleidiger das Recht haben sollte, sich dem Strafübel deswegen zu widersetzen, weil er glaubte, eine geringere Strafe wäre auch hinlänglich. Das Social-Gesetz, oder wie man es immer nennen mag, kann dem Beleidigten kein Recht geben, dessen Umfang von der Beurtheilung des Beleidigers abhängen sollte. Deswegen hat Hr. Fichte angenommen, daß der Beleidiger eigentlich durch das Verbrechen völlig rechtlos würde2. Nun kann ich zwar nicht annehmen, daß der Mensch wegen [79] einer unvernünftigen Handlung auf der Liste der vernünftigen Wesen gestrichen werden könne; aber soviel ist doch gewiß: in Rücksicht auf die widerrechtliche Handlung und deren Folgen, muß er sich gefallen lassen, wie ein physisches Hinderniß des rechtlichen Zustandes unter Menschen behandelt zu werden. So weit er die Freyheit Anderer beeinträchtiget hat, hat er seine eigene verwirkt. Der Andere hat eben dadurch die Befugniß erhalten, die nach seiner Einsicht schicklichen Mittel zu Hinwegräumung des Rechtshindernisses zu wählen; und es gewinnt solchemnach das Ansehen, als bedürfe es in keinem Falle der vorhergehenden Bestimmung vermittelst der Drohung. Auch ist es richtig, daß eine solche vorhergehende Bestimmung bey der Strafe der Genugthuung, an sich betrachtet, nicht nöthig ist. Der Beleidiger hat sein Recht, seine Freyheit zu schützen, in Rücksicht auf die ihm zuzufügende Strafe verloren, und der Beleidigte würde in der Regel durch eine zu harte Strafe nur eine Gewissenspflicht, aber keine Zwangspflicht verletzen. Wenn es indessen unphilosophisch ist, seine Meinungen mit einer gewissen Furcht, daß man sich wohl irren könnte, zu äußern, so gestehe ich, daß ich mich von diesem unphilosophischen Wesen nicht ganz habe frey machen können. Man wird es wohl meinem Alter zu gute halten, daß ich nicht so, wie die jüngern Philosophen, von meiner Infallibilität überzeugt bin; obgleich auch diese von der hohen Meinung, welche sie von der Unumstößlichkeit ihrer Grundsätze haben, etwas ablassen sollten, wenn sie erwägen, wie verschieden ihre eigenen Meinungen über die allgemeinsten Grundsätze sind, welche sie a priori be- [80] wiesen zu haben glauben. Wie sie es aber auch mit der Ueberzeugung von ihrer Unfehlbarkeit halten mögen: so steigt mir doch dessen ungeachtet, was ich vorher gesagt habe, zuweilen der Zweifel auf, ob es nicht Fälle geben könnte, wo die Uebertreibung des Vertheidigungsrechtes so offenbar wäre, daß auch wohl der Beleidiger selbst sich einer solchen nicht zu bezweifelnden Uebertreibung widersetzen dürfte. Die jüngeren Philosophen haben, ich gestehe es gern, den Vorzug, daß sie mit ihren Meinungen sehr bald ins Reine kommen; aber ich tröste mich über meine Zweifel um so leichter, da ich weiß, daß die in der intelligibeln Welt scharf abgeschnittenen Gränzen 2
Fichte’s Grundlage des Naturrechts, Th. z. §. 20. S. 95.
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in dieser unserer Sinnenwelt mehr in einander fließen, daß wir keine Linien haben, welche blos dazu dienten, zwey Flächen von einander zu scheiden, ohne selbst Theile dieser Flächen zu seyn, und daß wir also zufrieden seyn müssen, wenn wir uns unsern Idealen nur so viel als möglich nähern können. Ich suche mir daher auf folgende Weise zu helfen. Ein offenbar gemißbrauchtes Recht scheint mir kein Recht zu seyn. Wenigstens ist so viel gewiß, daß auch der Dritte, welcher etwa den Einen oder den Andern zu Hülfe gerufen hätte, die Befugniß haben würde, zu urtheilen, ob nicht vielleicht das Recht der Selbstvertheidigung übertrieben wurde. Daher muß natürlicherweise überall, wo mehrere Menschen beysammen sind, wenn sie auch eben keinen Staat zusammen ausmachen, sehr viel davon abhängen, daß das Recht Merkmale habe, woran es auch als ein solches von dem Dritten erkannt werden könnte. Ein solches Merkmal eines nicht übertriebenen Strafrechts [81] wäre nun die Uebereinstimmung der Strafe mit der vorhergehenden Drohung. Denn es würde dadurch wenigstens soviel klar, daß die Strafe kein bloßer Vorwand wäre, welches alsdenn der Fall seyn würde, wenn dem Beleidiger wegen einer sehr geringen Beleidigung ein sehr großes Uebel zugefügt würde. Mancher könnte vielleicht seinen Nachbar zu Beleidigungen reizen, damit er sich sodann unter dem Vorwande der Strafe seines gesammten Vermögens bemächtigen könnte. Ein solcher Vorwand läßt sich nicht denken, wenn der Beleidigte vorher den Andern durch Androhung der Strafe, so groß sie immer seyn mag, von der Beleidigung abzuschrecken sucht. Denn daß die Strafe nicht zu groß gewesen sey, läßt sich schon daraus schließen, weil der Beleidiger sich doch dadurch von der Beleidigung nicht hat zurückhalten lassen. Hieraus ergiebt sich der Nutzen der Drohungen, selbst da, wo das Strafrecht auch auf die Genugthuung hätte gegründet werden können. Ich wende mich nun zu denjenigen Fällen, wo das Strafrecht nur auf die vorhergehende Drohung gegründet werden kann. Es fällt wohl in die Augen, daß es viele Fälle giebt, wo kein anderer Zwang als ein psychologischer möglich ist. Wer das Recht hätte, von einem Maler zu fordern, daß er ihm ein gewisses Gemälde machen solle, kann ihm dabey nicht die Hand führen, wie der Schreibmeister dem Knaben, welcher eben die ersten Striche machen lernt. Es müßte also dem Maler ein Uebel angedrohet werden, welches man ihm in dem Falle zufügen würde, wenn er das Gemälde nicht binnen einer bestimmten Zeit [82] fertig lieferte. Die Rechtmäßigkeit dieser Executionsstrafen ist von der vorhergehenden Androhung abhängig, und eine solche Strafe kann gegen den, welchem sie nicht angedroht worden, nicht zur Anwendung gebracht werden. Die Strafe zur Genugthuung aber kann auch ohne vorhergehende Drohung denjenigen treffen, welcher eine natürlich strafbare Handlung begangen hat. Eben daraus läßt es sich auch erklären, warum die Strafe zur Genugthuung auch gegen denjenigen vollzogen werden muß, welcher die Gesetze des Staats nicht verletzt hatte. Es kann nemlich der Beleidigte von jeder Obrigkeit verlangen, daß sie ihm zu seinem Rechte gegen den Beleidiger verhelfe, und so wie er eine Schuld ausklagen kann, welche der Bürger, ehe er einheimisch wurde, auswärts gemacht hatte, so kann er auch fordern, daß ihm der Beleidiger wegen einer ihm vorher zugefügten Beleidigung Genugthuung leiste. Denn, wenn man auch Bedenken tragen wollte, seiner Rache zu fröhnen, so muß man doch erwägen, daß einem jeden daran gelegen seyn müsse, nicht für
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einen Menschen gehalten zu werden, welchen man ungeahndet beleidigen dürfte; und es ist dem Interesse des ganzen menschlichen Geschlechts gemäß, daß solche Verbrechen nicht ungestraft bleiben; da hingegen bey Executionsstrafen alles von dem Rechte zu befehlen, und diesen Befehlen durch Strafe Nachdruck zu geben, abhängt. [...] [83] Ich habe [..] dieses Unterschiedes hier deswegen nur erwähnt, um anzudeuten, wie nothwendig es sey, daß man auch das natürliche Strafrecht abhandle, und nicht sogleich mit der bürgerlichen Strafe anfange. Könnte man mit dieser sogleich den Anfang machen, so wäre die beste Definition der Strafe die, […] daß [...] die Strafe das auf die Verbrechen folgende Uebel sey, welches dem Beleidiger, um dem verletzten Gesetze Sanction zu verschaffen, zugefügt werde. Eben dadurch, daß die Strafe zur Sanction der Gesetze bestimmt ist, unterscheidet sie sich vom Präventionsmittel im engern Sinne. Das letztere bezieht sich auf die besondere Gefahr, welche in einem gegebenen Falle, für den, der sich desselben bedient, entsprungen war, und sie richtet sich also nothwendig nach dem, was kommen soll, obgleich das, was schon geschehen ist, den Grund enthalten kann, die Größe und Beschaffenheit des künftigen Uebels daraus abzunehmen. So kann z.B. der, nach welchem schon geschossen worden ist, aus dieser ersten unerlaubten Handlung schließen, was er nun von dem mit einem Knüppel auf ihn Eindringenden zu erwarten habe, und er wird also nach dieser Gefahr auch die Vertheidigungsmittel einrichten. Aber diese Vertheidigungsmittel im engeren Sinne richten sich doch nach den Umständen, welche erst in der Folge eintreten. Wenn also der Angreifende durch die zu Hülfe eilenden Angehörigen des Angegriffenen fest- [84] genommen wird, so hat diese zunächst bevorstehende Gefahr ihre Endschaft erreicht, und es bedarf nun also auch der Vertheidigungsmittel nicht, welche sich auf diese besondere Gefahr beziehen. Eben dieses tritt auch bey den Sicherungsmitteln ein, welche der Staat gegen die Verbrecher außer der Strafe zur Anwendung bringt. Hierbey kommt es allein auf die Gefahr an, welche der Staat noch jetzt zu besorgen hat, und die Bosheit, welche der Verbrecher bey dem Verbrechen selbst gezeigt hat, kommt nur in so fern in Rechnung, als daraus die Gefährlichkeit seines moralischen Charakters abgenommen werden kann. Anders verhält es sich mit den Umständen, welche etwa nachher eingetreten sind, und welche die zu besorgende Gefahr mindern oder ganz aufheben, weil der Verbrecher entweder durch Annahme anderer Maximen seinen moralischen Charakter wirklich verbessert hat, oder weil die Umstände sich so verändert haben, daß selbst die Schlechtigkeit seines Charakters dem gemeinen Wesen nicht mehr durch Verbrechen nachtheilig werden könne. Denn der eigennützigste Mensch kann in eine Lage kommen, in welcher er seinen Eigennutz besser durch gesetzmäßige, als durch gesetzwidrige Handlungen befriedigen kann. Wenn man nun die Strafe mit dem Präventionsmittel im engern Sinne verwechselt, so wird man oft genöthiget seyn, wenn man anders consequent handeln will, einen großen Verbrecher wegen der gehobenen Gefahr gar nicht, oder nur sehr gelinde zu strafen, da hingegen eben so oft geringe Verbrechen hart würden geahndet werden müssen, weil die ganze Lage des Verbrechers, und die in der Folge eingetretenen Umstände, sehr [85] nachdrückliche Sicherheitsmaaßregeln erfordern. Ganz natürlich gerathen wir also hier auf die
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Frage: Worin besteht der wesentliche Unterschied zwischen Strafe und Sicherheitsmittel? Einige machen einen Unterschied zwischen einer nahen und einer entfernten Gefahr, und wollen das Sicherheitsmittel zur Abwendung jener, die Strafe aber zur Abwendung dieser anwenden. Allein der bloße Unterschied in der Zeit kann in dem Rechte selbst keinen Unterschied machen. In beiden Fällen würde es doch allein darauf ankommen, ob die Gefahr noch jetzt vorhanden sey, und welche Mittel zu deren Abwendung tauglich wären. Bey der Strafe hingegen wird auf den Zustand der Personen und Dinge, so wie sie zur Zeit der That waren, Rücksicht genommen; und wird eine gewisse Strafe als verwirkt vorausgesetzt, so kann sie durch die in der Folge eintretenden Umstände weder vermehrt noch vermindert werden. Dies ist ein Satz, welcher allgemein als wahr angenommen wird, und der gemeine gesunde Menschenverstand würde jede Theorie verwerfen, welche auf andere Resultate führte. In dieser Rücksicht ist die Kantische Theorie die consequenteste, und sie hat [wie ich schon oben angeführt habe] das rohe Rechtsgefühl auf ihrer Seite. Soll die Strafe nur formal seyn, und also weder einen allgemeinen, noch einen besonderen Zweck haben, so ist ihr kein anderer Grund und kein anderer Maaßstab gegeben, als Wiedervergeltung. Aber alsdann wäre die Strafe zugleich Mittel und Zweck. Warum sollte noch ein Uebel hinzu kommen, weil schon ein Uebel da wäre? Auch kann [86] es unmöglich angenommen werden, daß der Mensch berechtigt sey, das Verhältniß zwischen Tugend und Glückseligkeit gewaltsam zu realisiren; ja man müßte dabey noch überdies dem Einwande des Verbrechers entgegensehen, daß es einer solchen gewaltsamen Realisirung des Verhältnisses der Tugend zur Glückseligkeit in Ansehung seiner nicht bedürfe, weil ihm, als einem bösen Menschen, das edle Vergnügen mangele, welches die Tugend ihren Verehrern bereite. In der That sind die meisten Verbrecher Menschen, welche Natur und Glück von ihrer Geburt an stiefmütterlich behandelt haben, und der größte Theil von ihnen würde nicht Verbrecher geworden seyn, wenn man früher das Geheimniß erfunden hätte, Tugend und Glückseligkeit hienieden mit einander in Verhältniß zu setzen. Gleichwohl gewinnt es das Ansehen, als ob man diese Theorie annehmen müsse, weil die Präventionstheorie, nach welcher die Strafe als Mittel gebraucht wird, künftige Verbrechen zu verhüten, die Folge habe, daß alsdenn die Strafe sich nicht nach dem Verdienst des Thäters, sondern nach den in der Folge eintretenden Besorgnissen richten müsse. Unter allen bisherigen Theorien ist die Feuerbachische am geschicktesten, diesen Zweifel zu heben. Nach dieser ist zwar das Gesetz, welches die Strafe androht, ein Präventionsmittel, die wirkliche Vollziehung der Strafe aber hat keinen andern Zweck, als die Sanction des Strafgesetzes selbst. Ich kann nun zwar diese Theorie nicht annehmen, in so fern dabey eine Einwilligung des Bedroheten vorausgesetzt wird, und ich habe meine Bedenklichkeiten darüber [87] schon im vorigen Stücke des Archivs geäußert. Allein nach meiner Theorie hat die Sache keine Schwierigkeit. Hr. Feuerbach hat in seiner Revision etc. S. 58 und 59 seine Freude darüber bezeugt, daß ich im zweyten Stücke des Archivs des Criminalrechts S. 42 seine Theorie vollständig angenommen hätte. Auch ich freue mich über diese Uebereinstimmung, und ich glaube nicht, daß er etwa so viel damit habe sagen wollen: ich hätte dieses alles erst aus seinem Anti-Hobbes gelernt: denn ich könnte, wenn
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es nöthig wäre, eine beträchtliche Anzahl Zeugen abhören lassen, daß ich, noch ehe ich den Anti-Hobbes gesehen, besonders bey Vertheidigung der Todesstrafen und bey mehreren Gelegenheiten eben das gesagt habe, was in der 5ten Nr. des 2ten Stücks des ersten Bds. des Archivs des Criminalrechts enthalten ist. Auch würde es mir nicht schwer fallen, die Sache durch mehrere Stellen aus meinen Schriften zu belegen. Mir ist es indessen nur um die Wahrheit zu thun, und wo diese gewinnt, halte ich es nicht der Mühe werth, über die Ehre der Erfindung zu streiten. Vielmehr glaube ich sehr viel gewonnen zu haben, wenn es mir gelingt, wichtige Wahrheiten so vorzutragen, als habe man schon von je her nicht anders über die Sache denken können. Zu meiner Verwunderung ist mir dieses oft auf eine sonderbare Art gelungen. Besonders war dies der Fall bey dem Aufsatze, auf welchen sich Hr. Feuerbach bezieht. Denn sogar Recensenten, welche man doch nicht unter den Pöbel der Leser rechnen kann, haben diesen kurzen Aufsatz, in welchem ich so glücklich gewesen bin, die Vorstellungsart des Hrn. Feuerbach vollständig zu [88] treffen, als einen unbedeutenden Aufsatz angesehen, welcher alltägliche Dinge enthalte. Allein dies ist freylich meine Schuld, denn warum habe ich dem Aufsatze kein gelehrteres Ansehen gegeben? Warum hatte ich dies alles nur als eine bekannte Sache hingeworfen, und die Lesewelt nicht darauf aufmerksam gemacht, daß sie nun so glücklich seyn würde, unerhörte Dinge zu erfahren? Drohungen mit künftigen Strafen sind, wie ich schon oben gezeigt habe, in den meisten Fällen das gelindeste und schicklichste, und in andern Fällen sogar das einzige Mittel, gesetzmäßige Handlungen und Unterlassungen zu erzwingen. Dieses nothwendige Mittel zum Zweck würde unnütz werden, wenn die Drohung nicht vollstreckt würde. Daher das Recht, das angedrohte Uebel dem Beleidiger wirklich zuzufügen. Auch erwarte ich nicht den Einwand, daß die Vollziehung der Drohungen in jeglichem Falle unnütz sey, weil, wenn sie gehörig gewirkt hat, die Vollstreckung derselben von selbst hinwegfalle, und wenn sie nicht den erwünschten Erfolg gehabt hätte, sich eben daraus ihre Unzweckmäßigkeit ergebe. Denn, ist von einer Strafe als einem Executionsmittel die Rede, so muß von den gelindern zu den heftigern Mitteln fortgeschritten, mit jenen aber der Anfang gemacht werden. Erst wird z.B. mit einer Geldstrafe gedroht, wenn eine gewisse Leistung binnen einer bestimmten Zeit nicht erfolgen sollte. Hat diese Drohung nicht gefruchtet, so muß sie deswegen vollstreckt werden, weil sonst die darauf folgende härtere Drohung keinen Eindruck machen würde. Endlich bedrohet man den Ungehor- [89] samen mit dem Personal-Arrest; aber was würde diese Drohung helfen, wenn die vorhergehenden Drohungen nicht wären vollstreckt worden? Schwieriger scheint die Sache zu seyn, wenn die Drohung des Gesetzes allgemein ist, oder wohl gar zu näherer Bestimmung der Genugthuungsstrafen gebräucht wird. Allein ist von einer allgemeinen Drohung die Rede, so bezieht sie sich ja offenbar nicht auf den allein, an welchem sie eben vollstreckt wird, sondern auch auf alle Uebrigen, welche durch eben diese allgemeine Drohung zu gesetzmäßigen Handlungen oder Unterlassungen genöthiget werden sollen. Würde nun die Drohung an dem, welcher sie verachtet hat, nicht vollzogen, so würde nicht nur der Trotz des Verbrechers selbst vermehrt, sondern es würden auch alle Uebrigen, welche sich sonst vor der Strafe gefürchtet hätten, zu ähnlichen Verbrechen gereizt werden. Uebrigens versteht es sich von selbst, daß deßwegen, weil Einer die
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Drohung verachtet hat, nicht auf die Unwirksamkeit derselben im Ganzen geschlossen werden könne. Denn der Eine befand sich vielleicht in einer solchen Lage, daß ein Uebel, welches überhaupt betrachtet von der erforderlichen Wirksamkeit war, auf ihn nicht wirken konnte, oder, welches meistentheils der Fall seyn wird, er hoffte, daß sein Verbrechen unentdeckt bleiben würde. Wird die Androhung eines bestimmten Strafübels bey einer Genugthuungsstrafe zur Anwendung gebracht, so kann wenigstens der Gestrafte sich über die Härte der Strafe, zufolge dessen, was schon oben angeführt worden ist, nicht beklagen, und es würde nur die [90] Frage seyn: Ob nicht der Beleidigte sich über die Gelindigkeit der Strafe beklagen könnte? Allein bey einer bürgerlichen Strafe muß vorausgesetzt werden, daß man bey Bestimmung der Strafen im Allgemeinen schon ein solches Uebel gewählt habe, welches abschreckend genug ist, um Jedermann vor Beleidigungen dieser Art zu schützen, und man wird daher annehmen müssen, daß die Beleidigung nur in der Hoffnung, ungestraft davon zu kommen, ihren Grund gehabt habe. Dieser wird aber durch die wirkliche Bestrafung des Thäters gehoben. Nehmen wir alles das, was bisher von bestimmten Strafgesetzen gesagt worden ist, zusammen, so finden wir auch den Grund, warum die Strafe nicht nach der von dem Verbrecher künftig zu besorgenden Gefahr, sondern nach der vorhergehenden Drohung des Gesetzes abgemessen werden müsse. Denn es würde sonst die zur gemeinen Sicherheit so nothwendige Drohung alle Kraft verlieren. Aber mehr Schwierigkeiten zeigen sich, wenn eine Genugthuungsstrafe ohne ein vorhergehendes bestimmtes Strafgesetz vollstreckt werden soll. Allein auch diese Schwierigkeiten verschwinden, wenn man erwägt, daß die Strafe die Verhinderung der Rechtsverletzungen überhaupt zum Zwecke habe. Sie muß also nach einer Regel bestimmt werden, welche geschickt wäre, zum Gesetz erhoben zu werden. Der Richter tritt alsdenn an die Stelle des Gesetzgebers, denkt sich eine solche Regel aus, und bestimmt hiernach die Strafe. Soll diese Regel gesetzliche Allgemeinheit haben, so muß sie sich auf die Gefährlichkeit der ganzen Gattungen [91] von Verbrechen beziehen, und sie muß also nach der Gefährlichkeit der Handlung an sich betrachtet, und nicht nach den in der Folge eintretenden zufälligen Umständen bestimmt werden. Daher auch das in diesem Falle eintretende nothwendige Verhältniß der Strafe zum Verbrechen. Allein alsdenn wird man sagen, kann sich der Fall oft ereignen, wo der, welcher die Genugthuung erhalten soll, nicht hinlänglich geschützt wird, weil in einem besondern Falle Umstände eintreten können, welche verursachen, daß der Beleidigte, der gesetzlichen Strafe ungeachtet, neue Beleidigungen von dem Beleidiger zu erwarten hat. Im Naturstande würde freylich der Beleidigte die Strafe gleich hiernach bestimmen. Wenn also in dem oben angeführten Beyspiele die Verwandten noch zur rechten Zeit anlangten, um den Angegriffenen gegen die wirkliche Ausführung der Beleidigung zu schützen, so würde es sehr von den Umständen abhängen, ob es noch nöthig sey, dem Beleidiger eine Strafe zuzufügen, und wie groß oder geringe sie seyn müsse. Aufrichtige Reue, durch wechselseitige Erklärungen gehobene Mißverständnisse, und vereinigtes Interesse, könnte alle Strafe überflüssig machen: da hingegen gezeigte Erbitterung und Aeußerungen, welche die Größe der künftigen Gefahr zu erkennen geben, eine härtere Strafe nothwendig
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machen würden. Anders verhält es sich mit der bürgerlichen Strafe, welche nach allgemeinen Regeln bestimmt werden muß. Hiergegen wird man einwenden, daß also der Beleidigte im Staate hülfloser sey, als außer demselben. Allein auch hierbey würde man Unrecht haben, denn die Ge- [92] setze geben dem, welcher von jemandem Gefahr zu besorgen hat, das Recht, auf Sicherstellung zu klagen (cautio de non offendendo et cautio damno infecto). Ein gleiches Recht hat auch der Staat als moralische Person. Treten besondere Gründe ein, weswegen das gemeine Wesen von dem Verbrecher nach ausgestandener Strafe noch Gefahr zu besorgen hat, so kann er auch deshalb noch Sicherheitsmaaßregeln treffen. Es versteht sich aber von selbst, daß er eben so, wie der Beleidigte diese Befugniß rechtlich begründen müsse. In so fern also dadurch die Freyheit des Verbrechers eingeschränkt werden soll, muß nachgewiesen werden, daß der wider ihn entstandene Verdacht durch irgend eine unerlaubte Handlung von ihm verschuldet sey, und es ist gleichviel, ob diese unerlaubte Handlung das eben zu bestrafende Verbrechen selbst, oder eine andere sey. Denn die Strafe besteht nur in dem nach der allgemeinen Gefährlichkeit der Handlung bestimmten Uebel; in so fern aber eine besondere Gefahr eintritt, müssen auch besondere Maaßregeln getroffen werden. Diese müssen aber nicht willkührlich durch die Policeygewalt, sondern eben so, als wenn der Beleidigte Sicherstellung vor künftigen Beleidigungen oder Beschädigungen (cautionem de non offendendo, de damno infecto) gefordert hätte, vermöge der richterlichen Gewalt bestimmt werden. [93] Das Resultat alles dessen, was bisher gesagt worden, ist folgendes: Strafen sowohl, als Sicherheits-Mittel, sind Folgen des Präventionsrechts. Erstere, wenn sie im Staate verhängt wird, bezieht sich auf die Gefährlichkeit der ganzen Klasse von Handlungen, welche sie trifft, und bestimmt sich also nach allgemeinen Grundsätzen, deren Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall nach den Umständen desselben geprüft werden muß; letztere aber ist auf die besondere Gefahr gerichtet, welche von einer gewissen Person zu besorgen ist, und es kommt dabey auch auf die Umstände an, welche nach dem Verbrechen eingetreten sind.
Paul Johann Anselm Feuerbach (1775–1833) 1. Ueber die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen Beleidigungen des Verbrechers (1800) [6] Die Theorie der Prävention hat durch die scheinbare Befriedigung, welche sie gewährt, sich nicht wenige Anhänger besonders in den neuern Zeiten erworben, die meisten Philosophen, welche, durch Beccaria geweckt, über die Principien der Criminalgesetzgebung, in politischer oder rechtlicher Hinsicht schrieben, legten ihren Untersuchungen diese Theorie zum Grunde, und stritten für oder wider das Recht der Todesstrafe aus dem Rechte der Sicherung. Gewiß ist es, daß schon bey diesen Untersuchungen jene Theorie den wahren Gesichtspunkt verrückt hat, und wir es größtentheils ihr zu verdanken haben, daß man noch heut zu Tage über das Recht der Todesstrafe streitet. Man wollte eine Antwort auf die Frage über das Recht mit dem Tode zu strafen, und alle, welche von jener Theorie ausgiengen, vergassen, daß sie unter dem Schein, als wenn sie diese Frage beantwortet hätten, auf ein von derselben ganz verschiedenes Problem eine Antwort gegeben hatten. Es ist nicht zu läugnen, daß sie eine blendende Täuschung mit sich führt, und daß sie eine wahre Theorie seyn müßte, wenn das Cartesianische Kriterium aller philosophischen Wahrheit – nemlich die Klarheit in dem Denken und in dem Auffassen einer Vorstellung – ein wahres Kriterium genannt werden [7] könnte. Denn nur durch diese Klarheit kann sich jene Theorie empfehlen. Sie zeigt sich in einem ganz anderen Licht, wenn man vor dieser Blendung die Augen verschließt, und entweder auf die Folgen sieht, die aus ihr nothwendig herfließen, oder wenn man nach einem vollständigen Grund ihrer Wahrheit fragt. Das schlimmste bey ihr war bisher, daß sie noch nicht vollständig dargestellt war. Wer sich auf sie berief, stellte sie immer nur in ihren gröbsten Umrissen dar, deutete nur flüchtig auf ihren Grund hin, und zog nicht mehr Folgerungen daraus, als er gerade für sein zufälliges momentanes Bedürfniß brauchte. Auf das positive peinliche Recht wendete man sie entweder gar nicht, oder sehr behutsam, das heißt, mit sehr vieler Inconsequenz an. – Ein unhaltbares System kann schon hiedurch allein sich in seiner Schwäche behaupten. Ist es vollständig entwickelt, so muß es schon dadurch sich selbst zerstören. Denn dadurch wird es genöthigt sich selbst in Widersprüche zu verwickeln, oder durch künstliche Aushülfe seine Schwäche zu verrathen, und dadurch seinem Gegner wenigstens die Waffen in die Hand zu geben. So lange noch nicht eine vollständige Rechtfertigung versucht ist; so lange muß es sich immer noch unter dem Scheine des Rechts behaupten können, weil es dann [8] noch nicht Seiten genug zum Angriffe darbietet, und weil ihm immer das Vorurtheil zu Hülfe kommt, daß der Gegner Grundloskeit und Widersprüche erdichte, wo eine dereinstige Rechtfertigung desselben alles bestens begründen, und in Harmonie auflösen werde. Diese Vorstellungsart war es, welche mich, als ich zuerst gegen diese Präventionstheorie auftrat, immer noch gegen mich selbst mißtrauisch machte, und mir hinterdrein die Bedenklichkeit erweckte, daß es doch wohl noch irgend eine Seite dieses Systems geben möchte, von welcher es allen meinen Einwendungen begegnen und mich überzeugen könnte, daß ich nicht gegen dieses System, sondern gegen meine eigenen Einbildungen gefochten habe. T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Mein geschätzter Freund, der Herr Prof. Grolman, hat mir durch seine neueste Schrift: [9] Ueber die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung; nebst einer Entwickelung der Lehre von dem Maasstabe der Strafen und der juridischen Imputation. Gießen. 1799. diese Bedenklichkeit genommen. In dieser schätzbaren Schrift, welche durch jene Einwendungen veranlaßt worden ist und die Bestreitung derselben, so wie auch die Darstellung der Richtigkeit meines eignen Systems zum Gegenstand hat, hat Herr Grolman für jene Präventionstheorie alles gesagt, was nur immer dafür gesagt werden kann, und in ihr gewiß einen eben so unzweydeutigen Beweis seines Scharfsinnes, als seiner Humanität und seiner Wahrheitsliebe gegeben. Allein so kühn dies auch scheinen mag, so bin ich doch überzeugt, daß die Theorie, welche er in Schutz genommen hat, durch ihn auch nicht um einen Schritt Landes gewonne habe, daß die Argumente, die ihr entgegenstehen, noch im ganzen Umfange ihre volle Stärke behaupten, daß dieselbe sogar sich in noch weit gefährlichere, engere Schlingen verwickelt habe, und dadurch den vollständigen Beweis liefere, daß die Rettung derselben auch für den größten Scharfsinn [10] ein verzweifeltes und unmögliches Unternehmen sey. Der vollständige Beweis für diese Behauptung ist das Thema zu der gegenwärtigen Untersuchung, die nicht als eine Streitschrift gegen Herrn Grolman betrachtet werden kann (denn wir sind einig, weil wir beyde die Wahrheit wollen); sondern welche zur Absicht hat, meine Gedanken über das Strafrecht überhaupt ausführlicher zu entwickeln, und in der Grolmanischen Vorstellungsart die Präventionstheorie mit größerer Strenge zu prüfen. Ein gewisser Criminalist wird zwar in dem großen Widerspruche zwischen den Grolmanischen und zwischen meinen Ideen, welchen auch diese Untersuchung zeigen wird, einen neuen Beweis für den Satz gefunden zu haben glauben, daß die menschliche Vernunft ein sehr zerbrechliches Werkzeug sey, und daß man daher besser thue, sich in Rechtsuntersuchungen auf dem treuen Boden der Erfahrung zu halten, als sich durch das leidige Philosophiren aus Principien, das noch dazu ein so pedantisches Ansehen giebt, den Gefahren einer freyen Untersuchung Preis zu geben. Allein ich war von jeher der Meinung, daß es nicht schicklich sey, uns das Gehen übel zu nehmen, weil man auch schon Beyspiele hat, daß Leute gefallen sind. Auch bin ich der Meinung, (die der erfahrne [11] Mann freylich nicht unterschreiben wird); daß Männer, welche die Wahrheit suchen, sich endlich auch gewiß auf Einem Wege zur Wahrheit finden, und daß die Einigkeit in ihren Gesinnungen zuletzt auch ihre Geister vereinigen wird. Meine Untersuchung muß sich auf die Beantwortung dreyer Fragen beziehen. Ich frage: 1) Hat Herr Grolman einen befriedigenden directen Beweis geführt, daß das Recht der Zuvorkommung durch Zwang unter den Rechten des Menschen und des Staats enthalten sey? 2) Hat er die Gründe widerlegt, die der Präventionstheorie entgegenstehen? 3) Hat er die Grundlosigkeit der von mir aufgestellten Theorie erwiesen? [12]
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Beantwortung der ersten Frage. Daß die Darstellung der Präventionstheorie, so wie sie uns Herr Grolman zuerst gegeben hat1, nicht befriedigen könne, hat der wahrheitsliebende Verf. selbst eingestanden, und dieses Geständniß durch die Aufstellung einer neuen Theorie bestätigt. Aber wenn man diese neue Deduction auch nur mit einiger Aufmerksamkeit betrachtet, so findet man, daß sie sich von der früheren im Wesentlichen ganz und gar nicht unterscheide, und daß sie – wenn sie sich unterscheiden soll – noch in einem weit gerin- [13] gerem Grade, als diese frühere haltbar sey. Der Verf. scheint mir die Mängel derselben nur etwas versteckt, aber nicht im geringsten gehoben zu haben. Sonst gründete er das Recht der Strafe auf das Recht, den wahrscheinlichen, künftigen Rechtsverletzungen zuvorzukommen, und durch das Strafübel die Gefahr für das Recht abzuwenden; jetzt schiebt er diesen Grund gleichsam etwas weiter zurück, sucht den dringenden Einwendungen gegen ein Zwangsrecht wegen wahrscheinlicher Rechtsverletzungen auszuweichen und beweist daher das Recht, der rechtswidrigen, aus dem begangenen Verbrechen erkannten und eben darum gewissen rechtswidrigen Gesinnung durch Zwang entgegen zu wirken, und das durch jene Gesinnung begründete fortdauernde Hinderniß der allgemeinen rechtlichen Freyheit auszuheben. Er faßt S. 592 seine ganze Vorstellungsart bündig aber vollständig zusammen, und ich will ihn daher selber reden lassen: [...]3 [15] [...] Ist nun wohl auf diese Art die Präventionstheorie begründet? Zeigt diese Deduction irgend einen befriedigenden rechtlichen Grund, auf welchem die Befugniß zu einer solchen Zuvorkommung beruhte? Der Nervus des Beweises beruht zum Theil auf dem Satze, welchen Herr Grolman S. 28 aufstellt, nemlich, daß nur derjenige, der sich das Rechtsgesetz zur unverbrüchlichen Regel seines Handelns gemacht hat, in eine Gesellschaft freyer Wesen passe; derjenige aber, der es sich nicht zur unverbrüchlichen Regel gemacht hat, alle anderen mit Gefahr bedrohe, und mithin den rechtlichen Zustand gefährde. Der Verf. argumentirt also aus der Nothwendigkeit sich das Rechtsgesetz zur Maxime zu machen: alle anderen Glieder des Beweises laufen auf diesen Satz, als auf einen gemeinschaftlichen Punkt zurück. Allein eben daraus folgt schon, daß jenes Raisonnement auf den Namen einer rechtlichen Deduction schlechterdings keinen Anspruch haben könne. Herr Grolman wird wohl darin mit mir einig seyn, daß ein [16] Rechtssatz durch das Rechtsgesetz begründet seyn müsse, daß, um die rechtliche Möglichkeit oder Unmöglichkeit dieser oder jener Handlung zu zeigen, wir dieses auch dem Gesetze der rechtlichen Freyheit selbst darthun, wir die Frage, nach der Rechtlichkeit einer Handlung, durch Subsumtion unter dieses Rechtsgesetz finden müssen. Nur durch das Gesetz der Freyheit selbst können wir etwas als Recht behaupten, nur dadurch, daß wir die wechselseitige, durch das Rechtsgesetz bestimmte, Freyheit selbst analysieren und darthun, daß in dieser vom äussern Gesetze begründeten Sphäre, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit 1 2 3
In den Grundsätzen der Criminalrechtswissenschaft. Ueber die Begründung des Strafrechts. Anm. des Hrsg.: Hier weggelassen, da in Text Nr. 21a abgedruckt.
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dieser Handlung enthalten sey, nur dadurch können wir etwas als Recht oder Unrecht erweisen. Denn dieses Rechtsgesetz, meine ich, ist das Höchste in der Rechtslehre, von ihm geht alles, was Recht ist, aus und es behauptet daher den Rang eines obersten Grundsatzes in der gesammten Rechtsphilosophie. Auch Herr Grolman erkennt gewiß diese einleuchtende Wahrheit an, mit deren Abläugnen wir auf die Möglichkeit, oder wenigstens auf die Consequenz einer Rechtsphilosophie Verzicht leisten müssen. – Aber warum tritt er denn diesen einzig möglichen, so ziemlich gangbaren Weg bey dieser Deduction nicht an? Warum verweigert er dem Rechtsgesetze den Rang, der [17] ihm so mit vollem Rechte gebührt, und welcher darin besteht, daß es Rechtssätze beweisen muß? Herr Grolman geht nemlich über das Rechtsgesetz selbst hinaus, und leitet das Präventionsrecht zuletzt aus der Nothwendigkeit ab, sich dieses Rechtsgesetz – zur Maxime zu machen, ein Fundament, welches in der Rechtslehre, die von dem Rechtsgesetze selbst ausgehen muß, durchaus nichts begründen kann, und dessen Gebrauch bey dieser Deduction schon einen unheilbaren Schaden derselben zu erkennen giebt. Wie konnte es aber Herrn Grolman entgehen, daß er, indem er jenen Satz an die Spitze seiner Deduction stellte, sich ganz offenbar in das dem Rechtslehrer so gefährliche Gebiet der Moral verirrt und aus ethischen Principien Rechtssätze abgeleitet hat? Denn, laßt uns doch sehen, was das für eine Nothwendigkeit ist, welche uns gebietet, uns das Rechtsgesetz zur Maxime zu machen. – In dem Rechtsgesetze selbst ist die Nothwendigkeit, sich es zur Maxime und zur unverbrüchlichen Regel zu machen, durchaus nicht enthalten – ein Satz, der nur dann bezweifelt werden kann – wenn man unsre Rechtslehre nach Form und Gehalt wieder zu einer Ethik bilden will. Das Rechtsgesetz begründet, eben weil es ein äusseres, nicht auf die [18] Gesinnung, sondern auf Handlungen sich beziehendes Gesetz ist, blos die wechselseitige äussere Freyheit Aller, indem es jedem Menschen eine bestimmte Sphäre seiner freyen äussern Wirksamkeit bestimmt, und die äussere Freyheit aller auf die Bedingung beschränkt, daß sie mit der freyen Thätigkeit aller übrigen zusammenstimme. Durch dieses Gesetz, (welches auch, weil es die rechtliche Freyheit begründet, das Freyheitsgesetz, oder auch, weil es die Coexistenz vernünftig sinnlicher Wesen möglich macht, das Socialgesetz heißen kann), bestimmt sich daher blos die Möglichkeit derjenigen Handlungen, welche mit der Freyheit aller übrigen äusserlich zusammenstimmen, so wie es die Unmöglichkeit derjenigen Handlungen begründet, welche mit dieser Freyheit nicht zusammenstimmen. Blos der Umfang und die Grenze der freyen Wirksamkeit, in dem Reiche der Erscheinungen, geht von diesem Gesetze aus, und wir verkennen ganz die Natur des Rechtsgesetzes, wir heben wieder alle Grenzlinien zwischen der Rechtslehre und zwischen der Tugendlehre auf, wenn wir annehmen, daß es auch Gesinnungen und Maximen bestimme. Das Rechtsgesetz, wenn es noch als äusseres Gesetz betrachtet werden soll, kann durchaus nicht sagen: du mußt diese oder jene Gesinnung annehmen, mußt dir [19] dieses oder jenes zur unverbrüchlichen Regel deines Willens machen, wenn du nicht der Vernunft widersprechen willst; – sondern nur: du mußt dieses thun, dieses unterlassen, wenn die Freyheit aller, die du als vernünftige und eben darum auch als freye Wesen
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anerkennen mußt, neben der Deynigen bestehen soll.4 Es ist dieses Gesetz zwar allerdings ein Willensgesetz, wie Herr Grolman ganz richtig bemerkt; aber dieser Ausdruck kann doch wohl nichts mehr und nichts weniger sagen wollen, als daß es nicht eine Ordnung bestimmt, die durch unabänderliche Wirksamkeit der Natur wirklich vorhanden ist; sondern eine solche die durch die Willkühr realisirt [20] werden muß, die also auch nicht vorhanden seyn kann, deren Wirklichkeit aber nothwendig ist, wenn sie gleich nicht existirt. Es ist ein Gesetz für den Willen, weil es Handlungen bestimmt, äussere Handlungen aber von dem Willen ausgehen, und die Nothwendigkeit, Handlungen zu unterlassen, zugleich die Nothwendigkeit ist – sich zu diesen Handlungen nicht zu determiniren. – Wenn nun jenes aber wirklich der Fall ist, wenn das Gesetz, welches wir als die Quelle aller äussern Rechte und Verbindlichkeiten anerkennen, blos und allein Handlungen bestimmt; so folgt doch wohl ganz unmittelbar, daß auch die Nothwendigkeit, sich die Beobachtung des Rechtsgesetzes zum subjectiven Gesetz, zur Maxime, zu machen, keine rechtliche Nothwendigkeit seyn könne. – Offenbar will aber Herr Grolman mit dieser Behauptung nicht so viel sagen: jeder hat die Verbindlichkeit nach dem Rechtsgesetze zu handeln. Wäre dies seine Meinung, wer wollte ihm denn widersprechen? Aber, nein, er will augenscheinlich mehr: er spricht von der wirklichen Aufnahme des Rechtsgesetzes zur Maxime des Willens, er spricht von der Gesinnung, welche die Beobachtung des Rechtsgesetzes zum Objecte hat. Er erläutert sich selbst, wenn er an vielen Stellen seiner Schrift diese Aufnahme des Gesetzes [21] zur unverbrüchlichen Regel, die rechtliche Gesinnung nennt, und – gesetzt er erklärte sich gar nicht darüber – worin anders besteht denn die Gesinnung einer Person, als in den Maximen, nach welchen sie handelt und die sie zur fortdauernden Norm ihrer Zwecke macht? – Wie kann nun aber Herr Grolman, der sich an mehreren Orten so laut für die nothwendige Unterscheidung der Ethik und der Rechtslehre, und so kategorisch gegen die Verwechslung moralischer und rechtlicher Grundsätze im allgemeinen erklärt hat, – wie kann dieser in einer reinrechtlichen Untersuchung einen bloße Rechtssatz auf ein Fundament bauen, das gar nicht in dem höchsten Grundsatze aller Rechte, sondern allein in einer ethischen Pflicht gegründet ist? – Denn woraus anders sollte diese Nothwendigkeit, sich das Rechtsgesetz zur Maxime zu machen, herfließen? – Unmittelbar aus dem Rechtsgesetze selbst? – Unmöglich, wir haben eben gezeigt, daß dieses nicht der Fall sey. – Etwa daraus, weil nur durch die Erhebung des Rechtsgesetzes zur Maxime der rechtliche Zustand möglich ist, weil nur hiedurch die Ordnung, welche das Rechtsgesetz begründet, zur Wirklichkeit übergehen kann? So will Herr Grolman, der also die rechtliche Gesinnung als Bedingung des rechtlichen Zustandes fodert. Allein die Möglichkeit des [22] rechtlichen Zustandes postuliert nicht eine rechtliche Gesinnung; sondern fodert als Bedingung eine bürgerliche 4
„Es kann nicht verlangt werden“, sagt Kant, „daß das Rechtsgesetz selbst meyne Maxime sey, d.i. daß ich es mir zur Maxime meiner Handlung mache; denn ein jeder kann frey seyn, obgleich seine Freyheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselben gern Abbruch thun möchte, wenn ich nur durch meine äussere Handlung ihr nicht Eintrag thue. Das Rechthandeln mir zur Maxime machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich thut“. Ich bitte wegen dieses Citats diejenigen um Verzeihung, die sich für weise dünken, wenn sie Kant, ohne ihn verstanden zu haben, meistern können.
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Gesellschaft, eine Einrichtung, in welcher es jedem unmöglich ist, Rechte zu verletzen, in welcher das Recht die physische Uebermacht für sich, das Unrecht immer gegen sich hat. Ist die rechtliche Gesinnung das Postulat des rechtlichen Zustandes, so brauchen wir keinen Staat zu postuliren; fodern wir als Bedingung einen Staat, wozu denn noch die rechtliche Gesinnung, da der Freyheitszustand blos äussere Rechtlichkeit der Handlungen fodert, und diese schon durch die Unmöglichkeit, unrechtlich zu handeln, hinreichend befriedigt ist? Beydes zugleich als Bedingung aufstellen, hieß behaupten, daß keins von beyden diese Bedingung sey. Das Gegentheil ist den Denkgesetzen zuwider. – Aber ich will einmal annehmen, daß die rechtliche Gesinnung wirklich die Bedingung des rechtlichen Zustandes sey: warum ist es denn nothwendig, daß sich der Mensch, um des rechtlichen Zustandes Willen, das Rechtsgesetz zur unverbrüchlichen Norm seines Handlungen mache? Ist es Naturnothwendigkeit? – wer kann dies fragen, wer mag darauf antworten? – ist es eine psychologische Nothwendigkeit (Nöthigung), welche durch die Furcht vor dem Zwange des andern, im Fall [23] ich keine rechtswidrige Gesinnung habe, begründet ist? – Dies wäre noch sonderbarer. Denn dann würde ja vorausgesetzt, daß der Zwang des andern gegen die rechtswidrige Gesinnung rechtmäßig sey, und wir würden daher voraussetzen, was wir erst aus der rechtswidrigen Gesinnung erweisen wollen. – Also wohl rechtliche Nothwendigkeit? – Sonderbar! dann müßte uns ja das Rechtsgesetz gebieten, eine rechtliche Gesinnung zu haben, und dieses kann es ja nicht gebieten, weil es ein Rechtsgesetz ist. – Eine Rettung finden wir aus diesem Labyrinth nicht: wir müssen also auf das Gebiet der Moral uns flüchten, – nur Schade, daß wir hier aus den Klauen der Charybdis in die Schlünde der Scylla sinken. – Es ist das Sittengesetz, und die aus demselben fließende ethische Pflicht, welche uns nöthigt, das Rechtsgesetz zur unverbrüchlichen Maxime unseres Willens zu erheben. Und dadurch wäre denn schon dieser ganzen Deduction ihre Stütze entzogen. Denn da der Satz, von dem sie ausgeht, ein für die Rechtslehre völlig fremder moralischer Satz ist, so ist sie weiter nichts, als was alle Argumentationen aus falschen Principien sind. Sie hat als rechtliche Deduction gar keinen Werth: sie hat [24] den blendenden Schein einer Fackel, die vor der Sonne der Kritik verschwindet. Herr Grolman, der seinen gefährlichen Sprung in das Gebiet der Ethik wohl ahndete, sucht sich dadurch zu rechtfertigen, daß er, von jener Erhebung des Rechtsgesetzes zur Maxime, die Nothwendigkeit der moralischen Triebfeder ausschließt. Allein er durfte nur immer auch diese Triebfeder noch herübernehmen, ohne daß dadurch jener Satz ethischer geworden wäre, als er es schon an und für sich ist. Denn er gewinnt durch diese Ausschließung der ethischen Triebfeder auch nicht ein Pünktchen Landes in dem Gebiete des äussern Forums, so lange es noch erwiesen ist, daß das Rechtsgesetz nur die juridische Ordnung selbst bestimme, uns aber keineswegs befehle, seine Beobachtung uns zur Maxime zu machen. Doch! ich will noch einige andere Seiten dieser Deduction beleuchten. Der oberste Ring, an dem sie hängt, wäre nun wohl zerbrochen, vielleicht gelingt es mir auch noch, die übrigen Glieder in dieser Kette aufzulösen. – Herr Grolman argumentirt: weil jeder das vollkommene Recht hat, die Hindernisse, die der Freyheit entgegenstehen, aufzuheben, und weil die rechtswidrige Gesinnung ein fortdauerndes Hinderniß der Freyheit ist: so hat auch ein jeder [25] das Recht, diese rechtswidri-
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ge Gesinnung durch Zwang aufzuheben, oder ihre Wirksamkeit unmöglich zu machen. Da nun aber eine begangene Rechtsverletzung (ein vollendetes Verbrechen) nun solche rechtswidrige Gesinnung vollkommen beweißt, so muß auch für diesen Fall das Recht zum Zwang, um jenes Hinderniß aufzuheben, begründet seyn. Dies ist das Recht der Prävention, welches auf diese Art unmittelbar aus dem Zwangsgesetze fließt. – Mit dem Obersatze in dieser Argumentation hat es allerdings seine volle Richtigkeit: aber der Mittelsatz, auf welchen in jedem Schluße immer gar sehr viel ankommt, dürfte wohl einige Beleuchtung verdienen. Ist es nemlich die rechtswidrige Gesinnung an und für sich, ohne alle Rücksicht auf ihre Folgen, welche den Grund der Prävention ausmacht; oder stützt sich das Recht der Zuvorkommung auf die zukünftigen wahrscheinlichen Beleidigungen, welche die Gesinnung begründet? – Das erste kann kein Rechtslehrer behaupten wollen. Jeder Zwang ist nur in so ferne rechtlich begründet, als er Bedingung zur Erhaltung der Rechte, und mithin zur Abwendung von Rechtsverletzungen ist. Durch eine [26] bloße Gesinnung aber, sie mag nun unmoralisch oder sie mag rechtswidrig seyn, werden durchaus keine Rechte verletzt. Die wechselseitige Freyheit aller wird dadurch nicht um eine Linie beschränkt, daß die Gesinnung und der Wille nicht mit dem Rechtsgesetze übereinstimmt. Nur durch Handlungen wird dem rechtlichen Zustande widersprochen, nur durch sie wird das Rechtsgesetz übertreten, nur durch Äusserung der Kräfte in der äussern Sinnenwelt wird die Ordnung zerrüttet, die das Gesetz der Freyheit eingerichtet hat. Gesinnungen und Maximen liegen ganz jenseits dieser Grenzen, sie gehören in die intellectuelle Welt, und können einen Menschen wohl zu einem unmoralischen, nie aber zu einem rechtswidrigen Menschen machen. Wenn nun aber die rechtliche Möglichkeit des Zwangs blos durch das Freyheitsgesetz begründet, und nur in so ferne vorhanden ist, als er Bedingung der äussern Freyheit ist; so kann nur durch Handlungen die rechtliche äussere Freyheit verletzt werden, so sind nur sie ein Hinderniß der Freyheit, so ist eine rechtswidrige Gesinnung als solche nie ein Rechtsgrund des Zwanges. Wer einen Menschen blos darum zwingt, weil die Maxime desselben nicht dem Rechtsgesetze gemäß ist, der begeht einen Verrath am dem ersten Rechte der Menschheit, und handelt nicht [27] vernünftiger, als der Tyrann, der seine Unterthanen dem Henker übergiebt, weil seine Grillen nicht ihre Gedanken sind. Herr Grolman wird mir demnach wohl selbst eingestehen, daß zur Begründung des Zwangs von einer rechtswidrigen Gesinnung, als solcher, nicht die Rede seyn könne; sondern daß diese nur in so ferne hier in Betracht kommen dürfe, als es möglich ist, daß sie zu einem Hinderniß der Freyheit werde, als sie demnach – denn nur durch Handlungen wird man ein Hinderniß der Freyheit – der Grund von zukünftigen Rechtsverletzungen ist, und wir aus ihrem Daseyn auf künftige Uebertretungen schließen können. Ein drittes giebt es nicht. Wir üben also darum den Zwang zur Prävention aus – weil wir Rechtsverletzungen befürchten, und die aus dem begangenen Verbrechen erkannte rechtswidrige Gesinnung, neue Rechtsverletzungen wahrscheinlich macht. Und da stünden wir denn wieder auf dem Punkt, auf welchem Herr Grolman ehemals gestanden hat, und den er durch diese neue Deduction – denn er ist eine gefährliche Klippe für die Präventionstheorie – zu umgehen suchte. Denn nicht die begangene Handlung an sich ist
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hinreichender Grund des Präventionszwangs; – auch nicht die rechtswidrige Gesinnung an und für sich, ohne Rücksicht auf ihre Folgen, – sondern nur die [28] zukünftige, wahrscheinliche Verbrechen, für welche der nächste Erkenntnißgrund die rechtswidrige Gesinnung, der entferntere die begangene Rechtsverletzung ist. Aus der begangenen Rechtsverletzung schließt man nemlich auf die rechtswidrige Gesinnung; aus der rechtswidrigen Gesinnung auf die zukünftigen Rechtsverletzungen, die nun, weil sie der rechtlichen Freyheit widersprechen, für den unmittelbaren Rechtsgrund des Präventionszwanges ausgegeben werden. Herr Grolman kann diesem schlechterdings nicht ausweichen, er müßte denn etwa beweisen wollen, daß die begangene Handlung selbst, oder daß die rechtswidrige Gesinnung an und für sich vollständiger Rechtsgrund der Strafe sey. Durch das erste würde er treulos an der Präventionstheorie handeln, und durch das letzte würde er einen Beweis übernehmen, der sich ohne die Ableugnung der einleuchtendsten Rechtsgrundsätze nicht unternehmen, wie viel weniger führen läßt. – Und wo ist nun die Haltbarkeit dieser Theorie? wo finde ich den Punkt, der mich auch nur überreden könnte, daß hier ein wirkliches Recht deducirt worden sey? Denn, wenn jeder Zwang nur dadurch rechtlich möglich wird, daß er, (wie Herr Grolman selbst mehrmals eingestanden hat), nothwendige Bedingung der Erhaltung der Rechte ist; [29] so folgt von selbst, daß blos wahrscheinliche Rechtsverletzungen (und nur diese Wahrscheinlichkeit kann aus der rechtswidrigen Gesinnung resultiren), durchaus keinen wirklichen Zwang rechtfertigen können. Ich will hier nicht wiederholen, was ich schon anderwärts ausführlich gesagt habe. Offenbar glaubt Herr Grolmann nur dadurch diesen Einwendungen, welche gegen den Zwang wegen wahrscheinlicher Rechtsverletzungen gerichtet sind – entgangen zu seyn, weil er den eigentlichen Punkt in seiner Deduction verdeckt, und die erwiesene rechtswidrige Gesinnung selbst sich als den unmittelbaren eigentlichen Rechtsgrund des Zwanges gedacht hat, da doch höchstens nur die, durch die Gesinnung begründeten, wahrscheinlichen Rechtsverletzungen selbst für einen scheinbaren Rechtsgrund des Zwanges gelten könnten. Seinen Aeusserungen nach scheint er zwischen dem Einen und dem Andern [30] hin und her zu schwanken. Zu dieser Voraussetzung glaube ich sowohl durch das vorhergehende, als durch einige andere Behauptungen des Verfassers, berechtigt zu seyn. So heißt es unter andern S. 57 ff., die Prävention sey „keineswegs gegen blos mögliche, sondern gegen wirkliche angedrohte Rechtsverletzungen, keineswegs gegen einen möglichen, sondern gegen einen wirklichen bösen Willen gerichtet“. Was sind das für Rechtsverletzungen: – wirkliche angedrohte Rechtsverletzungen? Ich fasse dieses nicht. Angedrohte Rechtsverletzungen sind keine wirkliche, und wirkliche [31] keine angedrohte Rechtsverletzungen, denn jene sind erst zukünftig und wahrscheinlich, diese sind gewiß und gegenwärtig oder vergangen. Wirkliche angedrohte Rechtsverletzungen lassen sich daher gar nicht denken. Warum sagte er nicht geradezu: die Prävention ist gegen angedrohte, also wahrscheinliche Rechtsverletzungen gerichtet. – Und wie? die Prävention sollte auch gegen „einen wirklichen bösen Willen“ gerichtet seyn? Also gäbe es einen doppelten Rechtsgrund der Prävention, einmal die zukünftigen angedrohten Rechtsverletzungen, und dann der wirkliche böse Wille? Unmöglich! nur das eine, oder das andere kann es wirklich seyn. Nur die angedrohten Rechtsverletzungen können dem Herrn Grolman der unmittelbare Rechtsgrund des Präventionszwan-
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ges, der böse Wille, der aus dem begangenen Verbrechen erhellet, kann nur der Erkenntnißgrund für die Existenz jenes Rechtsgrundes seyn. Denn wäre auch der böse Wille Rechtsgrund, so müßte dieser an und für sich zum Zwange berechtigen, welches mein scharfsinniger Gegner gewiß nicht ernstlich behaupten wird. Aber eben darum ist es mir ein völliges Räthsel, wie Herr Grolman glauben könnte, meinen Einwendungen gegen seyne Deduction entgangen zu seyn. Ich zeigte, daß der rechtmäßige Zwang auf einem [32] Rechtsgrunde beruhen, und ein nothwendiges Mittel zur Erhaltung der Rechte seyn müsse, mithin auch durch wahrscheinliche vermuthete Rechtsverletzungen nicht begründet seyn könne. Herr Grolman antwortet darauf5: daß er den wahren Rechtsgrund des Zwangs in seiner Deduction nun gezeigt habe. Ich habe diesen vergebens gesucht. Er hat hier blos gesagt, daß man berechtigt sey, die Gefahr künftiger Rechtsverletzungen abzuwenden, und eben das ist es ja, was ich verneint, und wovon ich das Gegentheil erwiesen habe. Oder glaubt er darum vor diesen Einwendungen gesichert zu seyn, weil er den Ausdruck wahrscheinliche Rechtsverletzungen vermieden, und die Aufmerksamkeit auf das Wörtchen, wirklich, in dem Satze wirklicher böser Wille gefesselt hat? Es konnte uns aber dies nicht hindern, den Mittelsatz in der Deduction zu entwickeln, und in das gefährliche Dilemma, welches er begründet, aufzulösen. [...] [92] Beantwortung der dritten Frage. [...] [94] [...] Das Eigenthümliche meiner Strafrechtstheorie, in so ferne sie der Präventionstheorie entgegengesetzt ist, besteht darin, daß sie die Strafe nicht als Sicherungsmittel vor einem bestimmten Verbrecher in concreto, sondern als Sicherungsmittel vor möglichen Verbrechen überhaupt, sowohl in Rücksicht auf die Androhung, als in Rücksicht auf die Execution der Strafe, darstellt. Der Staat, sage ich, hat (eben darum, weil er Staat ist, und die Sicherung der Rechte aller zu dem Objecte seiner ganzen Wirksamkeit hat), das Recht und die Verbindlichkeit, auf [95] rechtswidrige Handlungen sinnliche Uebel mittelst eines Gesetzes zu drohen, und dadurch das Begehren rechtswidriger Handlungen psychologisch unmöglich zu machen. Zu der Anordnung dieses Uebels, (welches, weil es die Gattungsmerkmale von Strafe überhaupt an sich hat, Strafe und zwar bürgerliche Strafe ist) hat der Staat, so wie jeder der für seine Rechte fürchtet, darum vollkommenes Recht, weil durch diese Androhung niemandes Freyheit beschränkt wird, und jeder die bedrohte rechtswidrige Handlung von selbst unterlassen muß. Aber auch die Ausführung dieser Drohung im Falle einer wirkliche Rechtsverletzung ist gerecht. Die Rechtmäßigkeit derselben gründet sich zunächst auf die rechtlichnothwendige Einwilligung des Thäters in die Strafe durch Einwilligung in die That. Denn die Strafe ist in dem Gesetze, als die Bedingung der That angekündigt, – die Handlung soll nicht geschehen, ohne daß die That eine rechtlichnothwendige Folge derseben sey, und ohne daß der Verbrecher sich dieser Strafe unterwerfe. Nun ist aber die Einwilligung in ein rechtlich Bedingtes nicht möglich ohne die Einwilligung in die Bedingung; wer in A, das durch B rechtlich bedingt ist, einwilligt, der ist eben darum rechtlich genöthigt, auch in B einzuwilligen. Es ist 5
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daher die Rechtmäßigkeit der Zufügung [96] der in dem Gesetze angedrohten Strafe, durch die rechtlichnothwendige Einwilligung des Thäters in die Strafe begründet. Von diesen Rechtsgründen der Androhung und der Zufügung der Strafe muß man den Zweck derselben wohl unterscheiden, so wie man den Zweck der Androhung der Strafe von dem Zwecke der Zufügung derselben absondern muß. Der Zweck der Androhung der Strafe ist, durch die Vorstellung derselben, von möglichen Verbrechen abzuschrecken; der Zweck der Zufügung derselben ist, die Wirksamkeit der gesetzlichen Drohung möglich zu machen; denn nur dann kann eine Drohung wirklich abschrecken, wenn man weiß, daß sie realisiert werden wird. Wenn also im Falle die That geschähe, die Drohung nicht exequirt würde, so würde die Drohung des Gesetzes durch die Ausführung aufgehoben. Die Androhung würde als eine leere, fruchtlose Drohung vorgestellt, und mithin der Zweck des Gesetzes vereitelt werden. Die Einwendungen meines scharfsinnigen Gegners werden mich in den Stand setzen, diese Vorstellungsart vollständig zu erörtern, und die letzten Grundwahrheiten, auf denen sie beruhet, darzustellen. [97] Daß der von mir angegebene Grund der Zufügung der Strafe vielen Einwendungen ausgesetzt sein würde, ließ sich im Voraus erwarten, und ich habe es blos meiner eigenen Unbestimmtheit zuzuschreiben, daß sie mir wirklich gemacht worden sind. Schon das wäre sonderbar, daß ich von Einwilligung des Verbrechers in die Strafe redete, und den eigentlichen Punkt, auf den hier alles ankommt, nicht nur gar zu leicht berührte, sondern auch entstellte. Es scheint nemlich, nach meiner früheren Darstellung, als wenn ich das Recht, die Strafe zuzufügen, auf einen wirklichen Contrakt des Verbrechers mit dem Staate gründete, nemlich zwar auf die stillschweigende Willenserklärung des Verbrechers, sich der Strafe zu unterziehen, und auf die durch das Strafgesetz im Voraus erklärte, Acceptation dieses Versprechens von Seiten des Staates. Ich häufte zu jener Unbestimmtheit noch eine größre. Ich verglich ausdrücklich, nach Anleitung des Hugo Grotius, die Einwilligung in eine rechtswidrige That mit einem Kaufcontrakte, ohne zu bestimmen, daß dieses blos der Ähnlichkeit wegen, zu einer beiläufigen Erläuterung, [98] angeführt sey. Eine solche Behauptung wäre ziemlich absurd, und es bedarf gar keines großen Apparats von Scharfsinn und Argumentationen, um sie in ihrer ganzen Blöße darzustellen. Mit Recht widersetzt sich daher schon Klein diesem angeblichen Rechtsgrunde. „Es läßt sich nicht behaupten, sagt er, daß, wenn jemand eine unerlaubte Handlung vornimmt, in Ansehung deren ich dem Thäter eine Strafe angedroht habe, dieser in die Strafe willige, vielmehr giebt dieser einen ganz entgegengesetzten Willen zu erkennen, indem er die Handlung aus Furcht vor der Strafe heimlich unternimmt.“ Allerdings. Und wenn das Recht der Zufügung der Strafe auf der stillschweigenden, durch die That erklärten, Einwilligung beruht, muß nicht der ausdrücklichen Erklärung die stillschweigende weichen? Um also die Ausübung des bürgerlichen Strafrechts zu vereiteln, bedürfte es nur der Erklärung des Verbrechers, daß er keineswegs gemeynt gewesen sey, sich die Strafe gefallen zu lassen. Ja, selbst dieser Erklärung bedarf es nicht; denn es läßt sich darthun, daß eine solche stillschweigende Einwilligung selbst ein bloßes Unding sey. Der Grund, warum ein Mensch sich zu einem Verbrechen bestimmt, ist die Sinnlichkeit, deren Befriedigung er in dem Verbrechen sucht.
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Gesetzt nun, er wollte, indem [99] er sich zu dem Verbrechen entschließt, die Strafe, so wollte er in einem und demselben Akte des Begehrens zwei voneinander contradictorisch entgegengesetzte Zwecke, er wollte durch das Verbrechen Erreichung sinnlicher Zwecke, und er wollte zugleich Zerstörung derselben: beides ist ein Widerspruch, und damit fällt denn die stillschweigende Einwilligung von selbst hinweg. – Aber Herr Klein irrt gar sehr, wenn er glaubt, daß das bloße Vorherwissen der Strafe schon die Rechtmäßigkeit der Zufügung begründet: „er kann sich, sagt Herr Klein, über die Härte der Strafe nicht beklagen; denn er wußte sie voraus und hatte also eben deswegen noch einen Grund mehr, die Strafe zu unterlassen“. Ich getraute mir auf diese Art die Rechtmäßigkeit meiner Theorie nicht zu rechtfertigen. Denn wie folgt denn: weil ich das Uebel vorher weiß, das mir der andere zufügen will, – darum hat dieser das Recht es mir zuzufügen? wie folgt denn, weil mir das Vorherwissen dieses Uebels ein neuer Bewegungsgrund ist, die That zu unterlassen, darum ist der andere berechtigt, mich dieses Uebel fühlen zu lassen? – Ich weiß, daß an einem gewissen Orte Mörder auf mich lauern, und habe deswegen einen starken Beweggrund, mich nicht an diesen Ort zu begeben. Aber ich gehe doch hin, wird durch dieses mein [100] Vorherwissen die Ungerechtigkeit dieser Mörder zum Recht? – Meine eigentliche Meinung ist folgende, das Recht, die angedrohte Strafe zuzufügen, beruht nicht auf der wirklichen Einwilligung des Verbrechers in die Strafe, sondern auf der rechtlichen Nothwendigkeit von Seiten des Verbrechers, (der Rechtspflicht) sich der Strafe zu unterziehen. Woraus läßt sich diese Nothwendigkeit erweisen, und wie fließt aus ihr jenes Recht des Staats? – Es ist ein unbestreitbarer Satz, daß ich berechtigt bin, jede Handlung, zu welcher der andere gegen mich kein Recht hat, willkührlich zu bedingen6, d.h. etwas beliebig festzusetzen, ohne welches diese Handlung nicht geschehen soll. Denn wenn der andere zu einer gewissen Handlung nicht berechtigt ist, so bin ich dazu berechtigt, die Unterlassung derselben zu verlangen. Dieses mein Recht aber ist meiner vollkommenen freien Disposition unterworfen, alles, was in meiner Sphäre liegt, gehört zu meinem Eigenthume, mit dem ich machen kann, was ich will. Wenn ich nun aber eine solche Bedingung [101] festgesetzt habe, so ist auch der andere vollkommen verpflichtet, sich dieser Bedingung zu unterwerfen. Diese Verpflichtung fließt unmittelbar aus meinem Rechte, die Bedingung festzusetzen. Denn jedes mir zustehende Recht muß auch von jedem andern anerkannt werden. Gehört es nun zu meinen Rechten, zu fordern, daß etwas geschähe, wenn der andere die, meinen Rechten widersprechende, Handlung thut, so verletzt ja der andere eben darum mein Recht, wenn er die Bedingung, die auf jene Handlung gesetzt ist, nicht erfüllt. Ist aber die Nichterfüllung jener Bedingung meinen Rechten widersprechend, so folgt auch eben daraus die Verbindlichkeit für den andern zur Erfüllung dieser Bedingung, weil Recht und Verbindlichkeit einander correspondiren. Alles dieses sind bloß analytische Sätze, die in dem ersten unmittelbar enthalten sind. Ihre Anwendung auf das Strafrecht leuchtet von selbst ein. Was thut der Gesetzgeber, wenn er sagt: auf diese Handlung soll diese Strafe folgen. Nichts anders, als er bedingt die Handlung durch diese Strafe; er knüpft sie als nothwen6
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dige rechtliche Folge an dieselbe und erklärt also, daß die Handlung nicht geschehen könne, ohne daß der Verbrecher diese Strafe leide. Er erklärt dieses den Bürgern, als möglichen Verbrechern, um sie von dieser [102] Handlung abzuschrecken, er erklärt dieses zugleich den Staatsbeamten, denen die Ausübung des Strafgesetzes im Falle der existirenden Voraussetzung auferlegt ist. Daraus ergiebt sich dann von selbst, auf die obenbeschriebene Art, die Verpflichtung des wirklichen Verbrechers, sich dieser Strafe wirklich zu unterwerfen, so wie sich dann hieraus das Recht von Seiten des Staats ergiebt, die angedrohte Strafe wirklich zuzufügen. Denn wenn der Verbrecher die Verpflichtung hat, sich der Strafe zu unterziehen, so hat er auch kein Recht, dem Zwange des andern, der ihm diese Strafe zufügt, sich zu widersetzen. Das Gegentheil wäre ein logischer Widerspruch. Nun ist aber blos die Handlung ungerecht, welche dem Rechte des andern widerspricht: es muß also auch die Zufügung der angedrohten Strafe rechtmäßig sein, weil derselben kein Recht des Verbrechers entgegensteht, welches sie verletzen könnte. Allein dieses alles wird Herrn Grolman vor der Hand noch nicht mit meiner Theorie aussöhnen. Er wendet mir ein 1) Daß mein Begriff von bürgerlicher Strafe dem Begriffe von Strafe überhaupt, und dem Sprachgebrauche nicht gemäß sey. [103] Denn wer habe es je gehört, daß der Sprachgebrauch zum Begriff der Strafe Androhung fordere? wer habe es gehört, daß zu dem Begriffe der Belohnung eine, der Belohnung vorausgegangene, Ankündigung erfordert werde? – Herr Grolmann – (er verzeihe mir dieses freimüthige Dilemma) bürdet mir hier entweder einen sehr unverzeihlichen Unsinn auf, oder er selbst begeht einen sehr unverzeihlichen logischen Fehler. Wo habe ich denn gesagt, daß zu dem Begriffe der Strafe Androhung gehöre – d.h., daß die Androhung ein wesentliches Prädicat in dem Begriffe der Strafe sei? Ich behaupte, das Recht zur Strafe wird begründet durch die Androhung – und die, dem Begriffe der Strafe wesentlichen Merkmale, werden durch jene Androhung bestimmt. Und dieses ist doch wohl mit jenem nicht einerlei? – Mein Begriff von Strafe ist dem Gattungsbegriffe von Strafe allerdings gemäß, indem ihm, wie ich befriedigend gezeigt zu haben glaube, alle Merkmale zukommen, die in dem Gattungsbegriffe der Strafe enthalten sind, und nicht um eine Linie mehr kann von meinem Begriffe die strengste Logik fordern. [104] 2) Bemerkt er, (welches er aber ausdrücklich für keinen Beweis gegen die Theorie anführt7), daß die unrichtige (?) Vorstellungsart bey dieser Theorie, von einem Bedingen der unerlaubten Thaten durch ein Uebel, einen äusserst unangenehmen Eindruck mache. Es führe nemlich diese Vorstellungsart nothwendig dahin, daß man auf den Gedanken geräth, als erlaube der Staat unerlaubte Handlungen, unter der Bedingung, daß der Handelnde dafür dem Staate etwas bezahle, oder sich einige Uebel zufügen lasse. – Was die Richtigkeit des Bedingens anbetrifft, so begreife ich nicht, wie man sie leicht verkennen kann. Für eine Hypothese wird sie wohl Herr Grolman nicht halten, und wenn er sie dafür hielt, so mußte er zeigen, daß es eine Hypothese sey, und dann bedürfte es blos dieses Beweises, um jene 7
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ganze Theorie als ein grundloses Hirngespinst darzustellen. Denn eine Ableitung von Rechtssätzen aus einer Hypothese, d.h. aus einem Satze der blos beliebig angenommen ist, um daraus andere schon bekannte Wahrheiten zu erklären, oder gar – (wie es hier der Fall wäre) – um die aus demselben abgeleitete Sätze zu erklären, und zu begründen, [105] wäre doch wohl beinahe noch etwas weniger als nichts. Und warum sollte denn diese Vorstellungsart unrichtig seyn? Herr Grolman hat nirgends auf den Beweis dieser Unrichtigkeit hingedeutet, ich muß sie daher noch für vollkommen richtig halten, und glaube auch um so mehr dazu berechtigt, da ich mit diesem Bedingen eben gar nichts neues sage, sondern nur das entwickele, was in der Vorstellungsart eines jeden Rechtslehrers von einem Strafgesetze schon längst enthalten war. Der Gesetzgeber erklärt doch, wenn er eine, gleichviel ob bestimmte oder unbestimmte Strafe festsetzte, daß diese Strafe nothwendige Folge der That sein solle, daß sie also, seinem erklärten Willen nach, nicht geschehen könne, ohne daß sie die Strafe zur Folge habe, er bestimmt also die Strafe als conditio sine qua non der That – er bedingt sie durch die Strafe. Bedingen heißt weiter nichts, als ein bestimmtes Etwas für die nothwendige Folge einer gewissen Voraussetzung erklären. – Aber die bedingte Erlaubniß, die der Staat dadurch dem Verbrecher zu der rechtswidrigen Handlung ertheilt? Ich kann hierin auch nicht ein Analogon von einer Erlaubniß finden. In wie ferne das Strafgesetz sich auf die Bürger, als mögliche Uebertreter bezieht, so erklärt es diesen weiter nichts, als was es, abge- [106] sehen von dieser Beziehung, erklärt, und blos der Zweck, um welches Willen diese Erklärung geschieht, bestimmt ihre Eigenthümlichkeit. Es erklärt ihnen weiter nichts, als, auf Eure rechtswidrige Handlung wird, nach einem nothwendigen Zusammenhange, diese Strafe folgen, und dies muß Euch ein Bewegungsgrund sein, diese Handlung zu unterlassen, diese Drohung müßt ihr auch anerkennen, und Euch ihr unterwerfen, weil das Gegentheil unsrem Rechte widersprechen würde. Allein auf diese Argumente legt auch der Verfasser nicht sein Hauptgewicht. Er greift den eigentlichen Grund meiner ganzen Vorstellungsart an und sucht, gewiß durch eine sehr blendende Argumentation, zu zeigen, daß ein Strafrecht, wie ich es behaupte, geradezu dem Rechtsgesetze widerspreche. Er argumentiert nemlich folgendermassen8. 3) Nur der Zwang ist, laut des Rechtsgesetzes, schlechthin ungerecht, welcher der rechtlichen Freyheit widerspricht, mithin ist der Zwang, [107] in so fern er nur die Willkühr anderer auf die Bedingung einschränkt, daß die Freyheit der übrigen sicher neben derselben bestehen kann, dem Rechtsgesetze vollkommen gemäß. Es giebt demnach keinen andern rechtlichen Zweck des Zwanges gegen andere, als Schutz der Freyheit. Jeder rechtmäßige Zwang setzt also ein Hinderniß der Freyheit voraus, und mithin kann der Rechtsgrund des Zwangs nur darin liegen, daß der Mensch ein Hinderniß der allgemeinen gesetzlichen Freyheit geworden sey, daß er mithin seine Freyheit über die rechtlichen Grenzen ausgedehnt habe. Nun kann aber kein Begründetes weiter gehen, als der Grund, auf welchem es ruhet. Sobald daher der Mensch aufhört, ein Hinderniß der Freyheit zu seyn, so fällt der Grund zum rechtlichen Zwange, und mithin auch der rechtliche Zwang selbst 8
Begründung d. St.R. 1. Theil 1. Abschnitt 1. Kapitel.
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dahin. Daraus, sagt Herr Grolman, fließt dann sogleich die Unrichtigkeit der ganzen Theorie. – Das Factum der Androhung kann das Recht zu jedem Zwange nicht begründen. Denn die Zufügung des Zwangs ist dadurch bedingt, daß durch denselben ein Hinderniß zur rechtlichen Freyheit aufgehoben werde. Enthält daher die Androhung ein größeres Uebel als nothwendig ist, dieses Hinderniß in concreto zu entfernen, so ist das Zwangsübel ungerecht. [108] Ist es ihm aber gleich, so kann es allerdings zugefügt werden: aber nicht, weil es angedroht ist, sondern weil es ein Mittel der Sicherung in concreto ist. – Die Pflicht der Unterwerfung, (oder wie ich es sonst ausdrückte, die Einwilligung), wird ebenfalls nicht durch die Androhung begründet. Denn da aller Zwang sich nur auf die Sicherung in concreto bezieht, so kann niemand verpflichtet sein, sich einem größeren Uebel zu unterwerfen, als nothwendig ist, um sich vor ihm in Sicherheit zu setzen. Diese ganze Argumentation berührt, genau betrachtet, meine Theorie auch nicht in einem einzigen Punkte. Das proton pseudos derselben ist eine petitio principii, und beruht auf einer ganz irrigen Vorstellungsart von dem obersten Zwangsgesetze. Sie nimmt nemlich das Zwangsgesetz material und meint, daß in demselben schon eine bestimmte Art des Zwangs enthalten sei, oder eine solche bestimmte Art unmittelbar durch dasselbe begründet werde – eine Vorstellungsart, welche schlechthin der Natur des obersten Zwangsgesetzes und überhaupt allen Grundsätzen des Naturrechts widerspricht. Ich werde meinen wahrheitsliebenden Freund hiervon um so leichter überzeugen können, da ich in dem Beweis für diese Behauptung von Principien ausgehe, die allgemein anerkannt sind, und die er selbst vollkommen zugestanden hat. Der Mensch ist eine Person, und als moralisches Wesen, für welches er sich nothwendig erkennt, innerlich frei: aber ebendarum muß er auch äusserlich frei seyn, d.h. es muß ihm möglich sein, nach selbstgewählten Zwecken auf die Sinnenwelt einzuwirken. Aber er erkennt ausser sich noch andere vernünftige Wesen: was er sich zuschreibt, muß er daher auch ihnen zuschreiben, er muß also auch ihnen äussere Freyheit zugestehen, und er würde sich selbst als vernünftiges Wesen widersprechen, wenn er das Gegentheil wollte. Aus diesem wechselseitigen Zugestehen der Freyheit, und aus der wechselseitigen Forderung, welche hierdurch begründet wird, entstehen nun die Schranken für die Freyheit eines jeden. Denn wenn alle nothwendig äusserlich frey sind, so schränkt die Freyheit eines jeden, die Freyheit des andern ein, und die Freyheit jedes Einzelnen ist dadurch bedingt, daß die Freyheit aller andern neben ihr bestehe. Jeder Zwang ist daher ungerecht, sobald durch ihn die wechselseitige Freyheit anderer aufgehoben wird: dies ist ein Satz, der unmittelbar, und, nach dem bloßen Satze des Widerspruchs, in dem vorhergehenden enthalten ist. Jede Be- [110] schränkung der gegenseitigen Freyheit ist ja der Vernunft und dem Rechtsgesetze zuwider. Da nun aber nach dem Rechtsgesetze derjenige Zwang schlechthin ungerecht ist, der zur Aufhebung der Freyheit anderer geschieht, so folgt auch unmittelbar, daß derjenige Zwang gerecht sey, der nicht zur Zerstörung der Freyheit, sondern, (weil es kein Drittes giebt), zur Erhaltung der Freyheit geschieht. Dieses in eine Formel zusammengefaßt, giebt uns den obersten Satz alles Zwangsrechts. Es ist dieser Satz, wie sich aus dem vorhin bestimmten Inhalte desselben und seiner Deduction ergiebt, ein blos formaler Satz; er bestimmt gar nicht die Art des Zwangs, sondern er bestimmt
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nur im allgemeinen die Bedingung, unter welcher Zwang überhaupt rechtmäßig ist; er sagt nicht: dieser oder jener Zwang ist gerecht, sondern nur, wenn ein Zwang gerecht seyn soll, so muß er durch die Nothwendigkeit der Erhaltung der Freyheit gegründet seyn. Folgt nun aber hieraus nicht, 1) daß ein Hinderniß der Freyheit vorhanden seyn müsse, welches durch den Zwang gehoben werden soll? – Allerdings! Denn sonst ist ja die Freyheit nicht gefährdet, und der Zwang [111] ungerecht. Von dieser Behauptung aus argumentirt Herr Grolman gegen mich, und ich gestehe sie ihm zu. – Folgt nicht auch, 2) daß der Zwang nicht größer sein müsse, als nöthig ist, dieses Hinderniß aufzuheben? – Ebenfalls unumstößlich! denn sonst ist der Zwang selbst Rechtsverletzung. Auch daraus argumentirt der Verfasser, und ich gebe es ihm ebenfalls zu. Diese beyde formale Bedingungen des rechtmäßigen Zwangs erfüllt nun aber meine Theorie; dieses ist das erste, was ich zeigen muß: das übrige wird dann von selbst sich geben, 1) der Zwang, der den Inhalt meiner Strafrechtstheorie ausmacht, geschieht um der Freyheit Willen; er ist begründet durch das Sicherungsrecht. Er geschieht damit die Freyheit aufrecht erhalten werde: darum allein wird die Strafe angedroht, und darum wird sie vollzogen. Denn die Vollziehung derselben geschieht, um die Androhung wirksam zu machen, und die Androhung geschieht, um von [112] Rechtsverletzungen abzuschrecken. Das oberste Zwangsgesetz, welches nur die Bedingungen des rechtlichen Zwangs aufstellt, fordert weiter nichts, als daß der Zwang in der Erhaltung der Freyheit gegründet sei. Wie er darin gegründet seyn müsse, darüber enthält er keine Bestimmung, und darüber kann er keine Bestimmung enthalten. 2) Er geschieht, um ein Hinderniß der Freyheit zu entfernen. Dieses Hinderniß ist das, durch Lust zu einer Uebertretung angetriebene, Begehrungsvermögen eines Menschen. Dieser Antrieb bedroht die rechtliche Freyheit mit Gefahr, durch ihn steht den Rechten des Staats oder seiner Bürger eine Verletzung bevor. Diesen wirklichen Antrieb soll die Drohung aufheben, sie soll den Menschen in dem Augenblicke, wo er sich zu dem Verbrechen bestimmen will, zurückschrecken, die Gefahr aufheben, und den rechtlichen Zustand aufrecht erhalten. Was von der Drohung gilt, das gilt auch von der Zufügung. Denn da diese keinen andern Zweck hat, als die Wirksamkeit der Drohung möglich zu machen, so geschieht auch der wirkliche Zwang, um keiner andern Ursache Willen, als um jenes Hinderniß der Freyheit, das die Androhung heben will, hinwegzuräumen. [113] 3) Der Zwang darf in meiner Theorie nicht größer seyn, als nothwendig ist, dieses Hinderniß der Freyheit aufzuheben. Der Staat darf nicht mehr Uebel drohen, als die Größe der Gefahr, die er durch die Strafe entfernen will, erfordert. Denn die Rechtmässigkeit der Strafdrohung ist durch ihre Zweckmäßigkeit begründet und bedingt. Nur darum und nur in so ferne hat der Staat ein Recht zu strafen, (zu drohen und die Drohung zu exequiren), weil und in wie ferne er berechtigt ist, den rechtlichen Zustand aufrecht zu erhalten. Das Begründete kann aber nicht weiter
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gehen als sein Grund; es kann also auch die strafende Gewalt nur bis dahin sich erstrecken, wo der Gebrauch derselben die Bedingung zur Erhaltung der wechselseitigen Freyheit ist. Jenseits dieser Grenzen geht sie in Ungerechtigkeit über, wenn gleich der Staat durch die weiteste Ausdehnung seiner strafenden Gewalt, durch das größte Missverhältnis zwischen Strafe und Verbrechen, dem Verbrecher selbst nicht unrecht thut. – Was zunächst nur von der Androhung gesagt ist, gilt zugleich auch von der Zufügung, weil die Zufügung der Strafe blos durch die Androhung begründet ist und um jener Willen existirt. [114] Warum folgert nun aber Herr Grolman aus jenen richtigen Prämissen gerade gegen mich? – Darum, antworte ich; weil er folgendermassen schließt: da die Freyheit Bedingung des Zwangs ist, so muß ein wirkliches Hinderniß der Freyheit vorhanden sein: nun ist aber blos derjenige ein wirkliches Hinderniß der Freyheit, der schon wirklich eine Uebertretung begangen hat: folglich kann nur zur Entfernung dieses Hindernisses, also um diesen von künftigen Beleidigungen abzuhalten der rechtliche Zwang begründet seyn. Allein dieses folgt nicht aus dem Rechtsgesetze, und es ist eine bloße petitio principii, wenn Herr Grolman annimmt, das Zwangsgesetz begründe unmittelbar nur einen solchen Zwang. Derjenige, der im Begriffe ist, sich zu einer Rechtsverletzung zu bestimmen, ist doch wohl bei weitem mehr Hinderniß der Freyheit, als derjenige, der uns durch eine begangene Rechtsverletzung erst künftige Verletzungen, zu denen noch kein wirklicher Antrieb, sondern nur der bloße Hang vorhanden ist, wahrscheinlich macht: durch die Strafe meiner Theorie wird eine unmittelbar bevorstehende Rechtsverletzung vereitelt, durch den Präventionszwang sollen erst entfernte Verletzungen abgewendet werden. – Aber, wendet mir Herr Grolman ein, durch den Zwang selbst muß [115] unmittelbar das Hinderniß aufgehoben werden, in der Zufügung desselben allein muß, wenn er gerecht sein soll, der hinreichende Grund zur Entfernung des Hindernisses der Freyheit liegen, die Entfernung jenes Hindernisses muß nicht bloß Endzweck sondern unmittelbarer Zweck des Zwanges seyn, es muß also gerade nur derjenige gezwungen werden, in dem wir ein Hinderniß der Freyheit durch den Zwang aufheben wollen. Dies ist aber nicht in deiner Theorie der Fall, denn hier geschieht die wirkliche Ausübung des Zwangs nicht um sich vor dem Menschen zu sichern, der gezwungen wird, sondern um sich von den übrigen Bürgern, durch Bestärkung der Androhung, in Sicherheit zu setzen. – Herr Grolmann folgert die Prämisse unmittelbar aus dem Zwangsgesetze: aber aus diesem folgt auch sie nicht. Aus ihm folgt zunächst weiter ganz und gar nichts, als daß durch den Zwang ein Hinderniß der Freyheit aufgehoben werden müsse. Daß er sich unmittelbar darauf beziehen müsse, davon sagt es kein Wort. Denn das Zwangsgesetz giebt blos die Bedingungen des Zwangs an, ohne die Art desselben zu bestimmen, und ich ersuche meinen Freund, mir aus dem Zwangsgesetze bestimmt und ausführlich diesen Beweis zu führen, ohne aber – denn sonst könnte ich diesen Beweis nicht anerkennen [116] – dieses Zwangsgesetz als eine materiale Formel zu betrachten. Meine Untersuchung hatte bis jetzt den Zweck zu zeigen, daß die Strafe meiner Theorie die formale Bedingungen des Zwangsgesetzes erfülle, und daß Herr Grolmann unrichtig aus diesem Gesetze gefolgert habe. Aber sollte ich nun nicht auch zeigen, daß sie dem obersten Rechtsgesetze gemäß sei? Herr Grolman könnte
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mir noch einwenden, daß jene Strafe dem Gesetze der Freyheit überhaupt widerspreche, könnte es versuchen, aus der Natur der rechtlichen Freyheit überhaupt zu zeigen, daß eine solche Art des Zwangs sich nicht rechtfertigen lasse. Und diesen Weg hätte auch Herr Grolman versuchen sollen, wenn er mich bestreiten wollte. Denn mit dem Zwangsgesetze reicht er nicht aus, weil dieses im Grunde blos negativ ist, und weiter nichts aussagt, als: ein Zwang, der die Freyheit aufhebt, ist ungerecht, ein Zwang, der sie nicht aufhebt, ist gerecht. Um zu bestimmen, welche Art des Zwangs gerecht sey, können wir daher nicht blos auf diesen höchsten, an sich leeren Satz des Zwanges überhaupt fussen, sondern wir müssen auf das höchste Rechtsgesetz selbst recurriren, und müssen uns die Frage beantworten: ob die Freyheit selbst mit [117] diesem oder jenem Zwange bestehe, oder durch ihn die Freyheit aufgehoben werde? Durch das höchste Rechtsgesetz erhält der Satz des Zwanges erst seine bestimmte Bedeutung, einen wahren positiven Inhalt, und man verkennt ganz die Natur des letzten, wenn man ohne auf den höchsten Satz einen Rückblick zu werfen, nun alle Rechte, die in Ansehung des Zwangs statt finden, blos aus jenem entwickeln will. Dieses ist gerade eben so irrig, als wenn man ohne die Erfahrung zu Hülfe zu nehmen, alle rechtlich mögliche Arten des Zwangs entwickeln wollte. Ich bin überzeugt, daß Herr Grolman dieses anerkennt, und daß er meiner Theorie die Rechtmäßigkeit nicht abstreiten wird, wenn er, welches nothwendig geschehen muß, untersucht, ob sie dem höchsten Rechtssatze selbst gemäß sey: dieses abzuleugnen wird ihm nur dann möglich sein, wenn er dem höchsten Rechtsgesetze selbst die Kraft absprechen will, die Rechtmäßigkeit einer Handlung zu erweisen. – Eben darum aber kann ich mich überheben, hier diesen Beweis aus dem Rechtsgesetze zu führen. Herr Grolmann hat meine Theorie von dieser Seite noch nicht angegriffen, sondern nur dahin seine Waffen gerichtet, wo ihr gar nicht beyzukommen ist. Wozu eine Vertheidigung ohne Angriff? – Ueberdies bliebe mir bey dieser Be- [118] weisführung nichts anders übrig, als meine Deduction zu wiederholen, welche aus dem höchsten Rechtsgesetze geführt ist und unmittelbar darthut, daß sie dem Gesetze der Freyheit nicht widerspreche, vielmehr in demselben enthalten, und durch dasselbe nothwendig begründet sey.
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2. Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (zuerst 1801) 14. Auflage (1847) mit Anmerkungen und Zusatzparagraphen von C.J.A. Mittermaier1 Vorwort des Herausgebers zur zwölften Ausgabe. Das Lehrbuch Feuerbach’s zeichnet sich aus durch viele geistvolle Ansichten, durch die Consequenz, mit welcher der Verfasser seine scharfsinnig begründete Strafrechtstheorie durchführt, und die Klarheit der Darstellung. Unverkennbar aber kann Feuerbach nicht von dem Vorwurfe freigesprochen werden, dass er die Quellen des gemeinen Rechts willkürlich nach seinen philosophischen Ansichten auslegte und nach der vorgefassten Meinung benutzte, dass er den Geist der Quellen des gemeinen Rechts nicht genug auf dem historischen Wege verfolgte, den in den Werken der italienischen Praktiker des Mittelalters liegenden Gerichtsgebrauch, die Ansichten des deutschen Gewohnheitsrechts nicht genug erforschte, um dadurch den wahren Sinn der Aussprüche der Carolina zu erkennen und dass er die Fortbildung des Rechts durch den Gerichtsgebrauch von der Zeit der peinlichen Gerichtsordnung bis zur neuesten Zeit nicht genug berücksichtigte. Nicht weniger ist sein [IV] Lehrbuch dadurch mangelhaft, dass seine wohl nicht zu rechtfertigende Strafrechtstheorie überall auf die einzelnen Lehren wirkte; dass der Gesichtspunkt der Rechtsverletzung, den er jedem Verbrechen zum Grunde legte, ihn zu einer ungeeigneten systematischen Anordnung der Verbrechen und zu irrigen Gesichtspunkten der Strafbarkeit bei den einzelnen Verbrechen führte. Viele bedeutende Streitfragen waren gar nicht oder ungenügend in dem Lehrbuche berührt. Als nach dem Tode Feuerbach’s der Herr Verleger mich zur Herausgabe des Werkes aufforderte, war mein Vorsatz, dasselbe ganz neu zu bearbeiten. Soll ein Lehrbuch des peinlichen Rechts allen Forderungen entsprechen, so muss es 1) von einem richtigen Princip des Strafrechts ausgehen und dasselbe in der Behandlung aller einzelnen Lehren consequent durchführen; 2) vorzüglich aber das Verhältniss der gemeinrechtlichen Quellen gründlich durch die Erforschung des Geistes des römischen, canonischen und germanischen Strafrechts entwickeln; 3) die strafrechtlichen Ansichten des Mittelalters theils aus den, der späteren Praxis zum Grunde liegenden Werken von Gandinus, Angelus Arretinus, Bonifacius u.A., theils aus den, insbesondere im Strafrecht, reichhaltigen Statuten der italienischen Städte und Gemeinden (da auf diese Statuten die italienischen Praktiker immer Rücksicht nehmen), theils aus den übrigen germanischen Rechtsquellen schöpfen; 4) die am Ende des XV. und Anfang des XVI. Jahrhunderts verbreiteten Ansichten über Strafrecht benutzen und darnach den wahren Sinn der Bestimmungen der peinlichen Gerichtsordnung entwickeln; 5) die [V] Fortbildung der Ansichten über Strafrecht durch die Schriftsteller, welche vorzüglichen Einfluss auf die Praxis hatten, durch die Schöffenstühle und die Particulargesetze nachweisen und eine Art von Dogmengeschichte liefern, um den heutigen Standpunkt der 1
Die Anmerkungen und Zusatzparagraphen des Herausgebers Mittermaier sind durch Kursivschrift kenntlich gemacht.
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Wissenschaft und Praxis in jeder Lehre anzugeben. 6) Es bedarf einer klaren logischen, systematischen, immer mit Rücksicht auf die Ansichten der Quellen und der Praxis bearbeitenden Anordnung der einzelnen Verbrechen. 7) Bei jedem Verbrechen muss der richtige Gesichtspunkt der Strafbarkeit und die Natur und der Thatbestand des Verbrechens nach den Quellen und nach den Ansichten der Rechtsphilosophie und der Criminalpolitik angegeben, und 8) jede Streitfrage nach den eben erwähnten Gesichtspunkten sowohl, als nach dem Einfluss der gerichtsärztlichen und psychologischen Forschungen wenigstens so angedeutet werden, dass es, wenn der Grundsatz richtig aufgestellt ist, leicht wird, die Streitfrage gehörig zu entscheiden. 9) Es bedürfte einer treuen Sammlung des neueren Gerichtsgebrauchs, wie er durch die Gerichtshöfe einzelner Länder und die Spruchcollegien benutzt wird, und 10) einer Vergleichung der Ansichten der verschiedenen neueren Gesetzgebungen. Ein Lehrbuch des Strafrechts in diesem Sinne zu bearbeiten ist eine der Aufgaben meines Lebens. Ich wollte bei der Bearbeitung der neuen Ausgabe von Feuerbach’s Lehrbuch wenigstens die Materialien hierzu in den Noten zu Feuerbach sammeln, allein ich überzeugte mich bald, dass auf diese Weise ein neues Werk entstehen und das Ganze einen zu grossen Umfang erhalten würde, während [VI] es wünschenswerth war, dass das Buch von Feuerbach, so vielfach in der Praxis verbreitet, wieder abgedruckt würde. Auf diese Art enthält meine gegenwärtige Bearbeitung, bei welcher unverändert das Lehrbuch Feuerbach’s abgedruckt ist, die Berichtigung der im Lehrbuche aufgestellten Ansichten, vorzüglich die Angabe des wahren Verhältnisses der Quellen, die Aufstellung des richtigen Gesichtspunkts, der in jeder Lehre entscheiden soll, die Andeutung der wichtigsten Streitfragen (vorzüglich mit Beziehung auf die Fortschritte der gerichtlichen Medicin und Psychologie) mit den nöthigen literarischen Nachweisungen und in mehreren Zusatzparagraphen die Ergänzung des Lehrbuchs in Bezug auf einige von Feuerbach gar nicht oder nur dürftig behandelte Lehren. Um die Ordnung des Lehrbuchs nicht zu stören, wählte ich die Sitte, §§ mit Buchstaben einzuschalten. [...] [VII] [...] Meine übrigen Zusätze werden als Noten des Herausgebers bei den einzelnen Paragraphen des Lehrbuchs beigefügt. [...] [XIV] Vorwort des Herausgebers zur vierzehnten Ausgabe. Der Herausgeber hoffte, statt der Bearbeitung der vierzehnten Auflage von Feuerbach, sein eignes Lehrbuch des Strafrechts den Lesern vorlegen zu können. Vielfache Störungen haben ihn an der Erfüllung des Vorhabens gehindert. Er hofft jedoch, die seit langer Zeit gesammelten und während seiner Vorlesungen seit 1809 strenge geprüften Materialien, insbesondere in Bezug auf die Entwickelung strafrechtlicher Begriffe aus germanischen Quellen, und die Verbindung derselben mit römischen Ansichten, sowie in Bezug auf die Darstellung der in den neuen Gesetzgebungen bewirkten Fortbildung des Strafrechts mit treuer Sammlung der Erfahrungen der verschiedenen Länder in der nächsten Zeit in einem Lehrbuche vorlegen zu können. Die Bearbeitung der vierzehnten hier erscheinenden Auflage soll eine Vorarbeit zur Herausgabe dieses Lehrbuchs sein. Der Herausgeber, der nicht verkennt, wie schwierig ein Anpassen der Anmerkungen an das Werk eines Verfassers ist, mit dessen Grundprincip der Herausgeber
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nicht [XV] einverstanden ist, wünscht seine Arbeit doch dadurch nützlich zu machen, dass in dem vorliegenden Buche der junge Mann, der das Strafrecht kennen lernen will, ebenso wie der Praktiker und Jeder, der mit den neuen Gesetzgebungen sich vertraut zu machen wünscht, eine Fortbildung der wissenschaftlichen Ansichten im Strafrechte bis zur neuesten Zeit, ebenso wie die Entwickelung des Strafrechts in der neuesten Gesetzgebung finde, dass darin zugleich die zahllosen, durch neue Forschungen, durch die Ergebnisse der Fortschritte gerichtlicher Medicin und Psychologie und durch neue Bedürfnisse hervorgerufenen Streitfragen, die Rechtssprüche der höchsten Gerichte über Streitfragen, die Erfahrungen der Praktiker über den Werth oder die Mängel neuer Gesetzgebungen gesammelt vorliegen. Auf diese Art sind viel Zusatzparagraphen, die zugleich zeigen sollen, wie der Herausgeber in seinem Lehrbuche die einzelnen Lehren zu behandeln wünscht, hinzugekommen, und die Anmerkungen füllen einen weit grösseren Raum, als der Text enthält. [...] Prolegomena über den Begriff, die Quellen, Hülfswissenschaften und Literatur des peinlichen Rechts. [...] [2] § 2. Das allgemeine peinliche Recht, als Philosophie der rechtlichen Gründe des Strafrechts und seiner Ausübung, ist die Wissenschaft von den möglichen Rechten des Staats aus Strafgesetzen; das positive peinliche Recht die Wissenschaft von den wirklichen Rechten eines bestimmten Staats (Deutschlands) aus gegebenen Strafgesetzen. Note I. des Herausg. Feuerbach baute seinen allgemeinen Theil auf die Grundlage seiner philosophischen Ansicht, wodurch nothwendig ein starker Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und dem positiven Recht, welches er lehren wollte, und der Feuerbachischen Philosophie entstehen musste. Wahr ist es, dass der allgemeine Theil des Strafrechts ein philosophischer sein muss, insofern das dem Strafrecht aller Völker zum Grunde liegende Strafrecht auf philosophisches oder Vernunftrecht gebaut sein muss und die Erörterung des letzteren in einer wissenschaftlichen Darstellung des Strafrechts nicht fehlen darf. Zur Klarheit führt aber nur, wenn man den allgemeinen philosophischen Theil und den allgemeinen positiven wenigstens in der Darstellung trennt, um zu zeigen, wie sich das positive Recht entwickelte. [...] Note II. des Herausg. Für die Abfassung eines gerechten und wirksamen Strafgesetzbuchs entscheiden 1) die Forderungen der Strafrechtsphilosophie und 2) der Criminalpolitik. Die Erste ist der Inbegriff der Grundsätze, welche nach den Forderungen der Vernunft bei Erlassung von Strafgesetzen und bei Anwendung dieser Gesetze leiten müssen. Die Zweite [...] ist der Inbegriff der Rücksichten, nach welchen vermöge der besonderen Verhältnisse und Voraussetzungen, die in einem Staate die Nothwendigkeit und Wirksamkeit der Gesetze bedingen, am zweckmäs-
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sigsten Strafgesetze erlassen werden sollen. Das Unglück ist, wenn die Rücksichten der Zweckmässigkeit als die vor Allen leitenden mit Hintansetzung der Forderungen des Rechts betrachtet werden. [...] Note III. des Herausg. Ueber die Nachtheile des Generalisirens im Strafrechte meine Schrift: über die Grundfehler der Behandlung des Criminalrechts in Lehrund Gesetzbüchern. Bonn 1819. [...] [5] § 5. Die Quellen des gemeinen deutschen Criminalrechts sind I. die Philosophie des Strafrechts, soweit diese in ihrer Anwendung nicht durch positive gesetzliche Bestimmungen beschränkt wird; II. die positiven Strafgesetze des ehemaligen deutschen Reichs; wohin gehören A. fremde in Deutschland aufgenommene Gesetze, nämlich a. des Römischen und b) des Canonischen Rechts; B. einheimische, und zwar a. die peinliche Gerichtsordnung Carls V. vom Jahre 1532, b. nebst anderen Reichsgesetzen. [...] [17] § 5d. (des Herausgebers) Während die Strafgesetzgebung der einzelnen Länder im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert durch den Geist der Abschreckung bestimmt wurde, erkannte die Strafgesetzgebung am Ende des vorigen Jahrhunderts wenigstens die Nothwendigkeit, die harten Strafen der Carolina zu verbannen, genauere Vorschriften dem Richter zu geben und den Thatbestand der einzelnen Verbrechen zu bezeichnen. Je mehr die Strafrechtswissenschaft sich ausbildete, desto mehr suchte man die Gesetzbücher systematisch und vollständig zu machen, das Strafrechtsprincip, der Verfasser des Gesetzbuchs, erhielt einen Einfluss; vorzüglich wurde in den Gesetzbüchern generalisirt. Feuerbach’s Theorie, ankämpfend gegen die milde Praxis, die Feuerbach als Verletzung des Ansehens des geschriebenen Gesetzes ansah und wobei er die Bedeutung des gemeinen Rechts verkannte, bewirkte ein ängstliches Streben, die Gefahren richterlicher Willkür zu verbannen, und dadurch sowohl als durch sein Abschreckungsprincip entstand für die Anwendung dieser Strafgesetzbücher eine Härte, die nur durch häufige Begnadigungen geheilt werden konnte. [...] [30] Erstes Buch. Philosophischer oder allgemeiner Theil des peinlichen Rechts. I. Einleitung. Darstellung der obersten Grundsätze des Criminalrechts. [36] [...]
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I. Nothwendigkeit eines psychologischen Zwangs im Staate. § 8. Die Vereinigung des Willens und der Kräfte Einzelner zur Guarantie der wechselseitigen Freiheit Aller, begründet die bürgerliche Gesellschaft. Eine durch Unterwerfung unter einen gemeinschaftlichen Willen und durch Verfassung organisirte bürgerliche Gesellschaft, ist ein Staat. Sein Zweck ist die Errichtung des rechtlichen Zustandes d.h. das Zusammenstehen der Menschen nach dem Gesetze des Rechts. [...] [37] § 9. Rechtsverletzungen jeder Art widersprechen dem Staatszwecke, (§ 8) mithin ist es schlechthin nothwendig, dass im Staate gar keine Rechtsverletzungen geschehen. Der Staat ist also berechtigt und verbunden, Anstalten zu treffen, wodurch Rechtsverletzungen überhaupt unmöglich gemacht werden. § 10. Die geforderten Anstalten des Staates müssen nothwendig Zwangsanstalten sein. Dahin gehört zunächst der physische Zwang des Staates, der auf doppelte Art Rechtsverletzungen aufhebt, I) zuvorkommend, indem er eine noch nicht vollendete Beleidigung verhindert und zwar a) durch Erzwingung einer Sicherheitsleistung zu Gunsten des Bedrohten, b) durch unmittelbare Ueberwindung der auf Rechtsverletzung gerichteten physischen Kräfte des Beleidigers: II) der Beleidigung nachfolgend, indem er Rückerstattung oder Ersatz von dem Beleidiger erzwingt. Dass sittliche Anstalten (Erziehung, Unterricht, Religion) nicht ausgeschlossen sind, sogar die letzte Grundlage aller Zwangsanstalten bilden und deren Wirksamkeit bedingen, ist wohl unbezweifelt. Sed de his non est hic locus. § 11. Physischer Zwang reicht aber nicht hin zur Verhinderung der Rechtsverletzung überhaupt. Denn der zuvorkommende Zwang ist nur möglich unter der Vorrausetzung von Thatsachen, aus denen der Staat entweder die Gewissheit oder doch (wie bey dem Zwange zur Sicherheitsleistung) ihre Wahrscheinlichkeit erkennt: nachfolgender Zwang nur unter Vorraussetzung solcher Rechtsverletzungen, deren Gegenstand ein ersetzliches Gut ist. Physischer Zwang ist daher nicht hinreichend 1) zum Schutz unersetzlicher Rechte, weil der hier allein mögliche, zuvorkommende Zwang von der ganz zufälligen Erkenntniss der bevorstehenden Verletzung abhängt, auch nicht 2) zum Schutze der an [38] sich ersetzlichen Rechte, weil sie oft unersetzlich werden, und für den zuvorkommenden Zwang jene blos zufällige Vorraussetzung ebenfalls eine nothwendige Bedingung ist.
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§ 12. Sollen daher Rechtsverletzungen überhaupt verhindert werden, so muss neben dem pysischen Zwange noch ein anderer bestehen, welcher der Vollendung der Rechtsverletzung vorhergeht, und, vom Staate ausgehend in jedem einzelnen Falle wirksam ist; ohne dass dazu die Erkenntniss der jetzt bevorstehenden Verletzung vorrausgesetzt wird. Ein solcher Zwang kann nur ein psychologischer sein. II. Möglichkeit eines solchen psychologischen Zwangs. § 13. Alle Uebertretungen haben ihren psychologischen Entstehungsgrund in der Sinnlichkeit, in wiefern das Begehrungsvermögen des Menschen durch die Lust an oder aus der Handlung zur Begehung derselben angetrieben wird. Dieser sinnliche Antrieb wird dadurch aufgehoben, dass jeder weiss, auf seine That werde unausbleiblich ein Uebel folgen, welches grösser ist als die Unlust, die aus dem nichtbefriedigten Antrieb zur That entspringt. § 14. Damit nun die allgemeine Erkenntniss der Nothwendigkeit solcher Uebel mit Beleidigungen begründet werde, so muss I) ein Gesetz dieselben als nothwendige Folge der That bestimmen (gesetzliche Drohung). Und damit die Realität jenes gesetzlich bestimmten idealen Zusammenhanges in der Vorstellung Aller begründet werde, muss II) jener ursächliche Zusammenhang auch in der Wirklichkeit erscheinen, mithin, sobald die Uebertretung geschehen ist, das in dem Gesetz damit verbundene Uebel zugefügt werden (Vollstreckung, Execution). Die zusammenstimmende Wirksamkeit der vollstreckenden und gesetzgebenden Macht zu dem Zwecke der Abschreckung bildet den psychologischen Zwang. [39] § 15. Das von dem Staate durch ein Gesetz angedrohete, und kraft dieses Gesetzes zuzufügende Uebel, ist die bürgerliche Strafe (poena forensis). Der Allgemeine Grund der Nothwendigkeit und des Daseins derselben (sowohl in dem Gesetz, als in der Ausübung desselben) ist die Nothwendigkeit der Erhaltung der wechselseitigen Freyheit Aller, durch Aufhebung der sinnlichen Antriebe zu Rechtsverletzungen. Anmerk. Ob es ein natürliches Strafrecht gebe? ist eine Frage, die wir, wenn von Begründung des positiven peinl. Rechts die Rede ist, gar gut dahin gestellt lassen können. Diejenigen, denen das Strafrecht Vertheidigungsrecht, können diesen Umweg nicht vermeiden. § 16. Unter Zweck der Strafe wird die Wirkung verstanden, deren Hervorbringung als Ursache des Daseins einer Strafe gedacht werden muss, wenn der Zweck von Strafe vorhanden sein soll.
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I. Der Zweck der Androhung der Strafe im Gesetz ist Abschreckung Aller, als möglicher Beleidiger, von Rechtsverletzungen. II. Der Zweck der Zufügung derselben ist die Begründung der Wirksamkeit der gesetzlichen Drohung, in wiefern ohne sie diese Drohung leer (unwirksam) sein würde. Da das Gesetz alle Bürger abschrecken, die Vollstreckung aber dem Gesetz Wirkung geben soll, so ist der mittelbare Zweck (Endzweck) der Zufügung ebenfalls blosse Abschreckung der Bürger durch das Gesetz. § 17. Rechtsgrund der Strafe ist ein Grund, von welchem die rechtliche Möglichkeit der Strafe abhängt. Der Rechtsgrund [40] I. der Androhung der Strafe ist das Zusammenstehen derselben mit der rechtlichen Freyheit der Bedrohten, so wie die Nothwendigkeit, die Rechte Aller zu sichern, der Grund ist, welcher die Verbindlichkeit des Staats zu Strafdrohungen begründet. II. Der Rechtsgrund der Zufügung ist die vorhergegangene Drohung des Gesetzes. Ueber die ausführliche Darstellung dieses Rechtsgrundes mündlich. Vergl. Feuerbach Ueber die Strafe als Sicherungsmittel etc. S. 92–118. § 18. Die bürgerliche Strafe hat daher nicht zum Zwecke und Rechtsgrund 1) Prävention gegen die künftigen Uebertretungen eines Einzelnen Beleidigers, denn diese ist nicht Strafe und es zeigt sich kein Rechtsgrund zu solchem Zuvorkommen; 2) nicht moralische Vergeltung2), denn diese gehört einer sittlichen, nicht einer rechtlichen Ordnung an und ist physisch unmöglich; 3) nicht unmittelbare Abschreckung Anderer durch die Schmerzen des dem Missetäter angefügten Uebels, denn hierzu giebt es kein Recht; 4) nicht moralische Besserung, denn dieses ist Zweck der Züchtigung, aber nicht der Strafe. Anmerkung: Wenn man dem System des Verf. vorwirft, dasselbe begründe einen Terrorismus auf Kosten der Menschlichkeit und anderer Staatszwecke, so vergisst man, dass, wie dem Verfasser wohl bekannt, grausame Strafen gerade das Entgegengesetzte der Abschreckung bewirken, und dass es lediglich Sache der gesetzgebenden Staatsweisheit (der Criminalpolitik) ist, die Frage zu erörtern: welche Strafen zu bestimmen und wie dieselben in der Ausführung einzurichten seien, um nicht blos dem Zwecke aller Strafen zu entsprechen, sondern auch nebenbei, so viel möglich, andere menschliche und bürgerliche Zwecke zu fördern. Die wohlverstandene Abschreckungstheorie und Benthams Princip des allgemeinen Nutzens vertragen sich sehr gut miteinander. 2)
[...] Die sogenannte rechtliche Wiedervergeltung, welche als Prinzip der Strafe von einigen Neueren [...] behauptet wird, reducirt sich zuletzt auf diese moralische Vergeltung und ist überdies, wenn sie zum Maassstab für das Verhältniss der Strafe zur Grösse des Verbrechens gebraucht werden soll, ohne alle practische Brauchbarkeit für den Gesetzgeber wie für den Richter. Ueber die weite Kluft, die hier zwischen Theorie und Praxis liegt, muss gewöhnlich der Witz eine schwebende Brücke [41] bauen helfen.
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(Anmerk. des Herausg.:) Es leuchtet ein, dass Feuerbach hier die Wiedervergeltungstheorie mit der Gerechtigkeitstheorie verwechselt.
III. Höchste Prinzipien des peinlichen Rechts. § 19. Aus unserer Deduktion ergiebt sich folgendes höchste Princip des peinlichen Rechts: Jede rechtliche Strafe im Staat ist die rechtliche Folge eines durch die Notwendigkeit äusserer Rechte begründeten, und eine Rechtsverletzung mit einem sinnlichen Uebel bedrohenden Gesetzes. § 20. Hieraus fliessen folgende, keiner Ausnahme unterworfenen, untergeordneten Grundsätze: I. Jede Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege.) Denn lediglich die Androhung des Uebels durch das Gesetz begründet den Begriff und die rechtliche Möglichkeit einer Strafe. II. Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch das Dasein der bedrohten Handlung. (Nulla poena sine crimine.) Denn durch das Gesetz ist die gedrohte Strafe an die That als rechtlich nothwendige Voraussetzung geknüpft. III. Die gesetzlich bedrohte That (die gesetzliche Voraussetzung) ist bedingt durch die gesetzliche Strafe. (Nullum crimen sine poena legali.) Denn durch das Gesetz wird an die bestimmte Rechtsverletzung das Uebel als eine nothwendige rechtliche Folge geknüpft. § 20a. (des Herausgebers) Die in den §§ 8 bis 20 aufgestellte Theorie hat zwar den scheinbaren Vorzug aller relativen Theorien, dass sie einen be- [42] stimmten Zweck der Strafe aufstellt und das Maass derselben zu erkennen möglich zu machen scheint; allein sie hat auch dem Hauptfehler jener Theorieen, dass sie alles nur auf einen äusseren Zweck bezieht und eine mögliche Wirkung der Strafe zu dem Hauptzwecke erhebt. Darnach wird keine Rücksicht auf die innere Gerechtigkeit der Strafdrohung genommen und es muss jedes Mittel für gerechtfertigt angesehen werden, welches zur Erreichung des Abschreckungszweckes dient. Dieser Zweck selbst ist als Hauptzweck der Strafe nie zu billigen, da darnach die Strafdrohung und Anwendung nur auf die sinnliche Natur des Menschen gebaut wird, da die Theorie consequent nur die durch ihre Zufügung abschreckenden Strafen für zweckmässig muss erachten und überall durch Erfahrung als unwirksam widerlegt wird. Sie macht die Drohung der Strafe zur Hauptsache, baut auf eine vorhandene genaue Kenntniss der Bürger von dem einzelnen gedrohten Strafübel, setzt voraus, dass die Verübung der Verbrechen das Product der Ueberlegung sei. – Eine nach der Consequenz dieser Theorie nothwendige Berechnung des Maasses der zu drohenden Strafe nach der Summe der sinnlichen Antriebe zum Verbrechen ist nicht durchzuführen, da das nämliche Verbrechen aus sehr verschiedenen Beweggründen verübt wor-
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den und die Grösse des Reizes zum Verbrechen eine nicht zu berechnende ist, so dass die Theorie eines jeden gerechten Massstabes beraubt ist und, indem sie die grösste Summe von Reizen zu einem Verbrechen voraussetzen muss, zu harten Strafdrohungen kommt, um durch die Reize der Strafe den Anreizen zum Verbrechen entgegenzuwirken. Aber auch in der Durchführung kommt diese Theorie zu harten Strafbestimmungen, deren Dasein in den Strafgesetzbüchern das Gegentheil von Dem, was die Theorie erreichen will, bewirkt. [43] § 20b. (des Herausgebers) Die Gerechtigkeit des Staats muss auf den nämlichen Grundlagen, wie die Gerechtigkeit überhaupt, beruhen, nämlich auf dem Gesetze, nach welchem jeder Zwang nur durch seine Nothwendigkeit bedingt ist, und die Grenzen des der Grösse der Handlung, worauf sich das aufgelegte Leiden als Folge bezieht, entsprechenden Maasses nicht überschreitet. Die Gerechtigkeit aber, welche der Staat handhabt, ist in ihrem Wirken durch den Zweck des Staats begrenzt und bezieht sich nur auf Gebote und Verbote, die wegen der Verletzung der rechtlichen Ordnung im Staate nothwendig werden. Nur gemeinschädliche Angriffe auf das Recht und seine Grundlagen sind Gegenstand des Strafrechts, dessen Rechtsgrund die durch die Vernunft gebotene Begründung und Erhaltung der rechtlichen Ordnung zur Erreichung des Zweckes des Staates ist. Unter den verschiedenen Mitteln, welche der Staatsgewalt in ihrem Wirken zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zu Gebote stehen, ist das schwerste Mittel die Strafe. Gerecht ist der Gebrauch dieses Mittels nur, wenn andere dem Staate zu Gebote stehende Mittel nach der Beschaffenheit der Rechtsstörung nicht zureichen. Die Drohung und Anwendung der Strafe steht im Einklang mit allen übrigen Einrichtungen des Staats und ist durch die besonderen Verhältnisse und Bedürfnisse des einzelnen Staats bestimmt. Gerecht ist der Maassstab der Strafe, wenn er aus dem Rechtsgrunde derselben abgeleitet wird, und gerecht ist die Strafe, wenn sie nicht ein grösseres Uebel enthält, als mit der bürgerlichen Verschuldung des Uebertreters im Verhältnisse steht. Der Endzweck des Strafinstituts, bei welchem die Strafe nicht mit einem bestimmten, nächsten, unmittelbaren Zwecke (z.B. dem der Abschreckung oder Sicherung), sondern nur als verdiente Folge eines verübten Unrechts aufgefasst werden darf, ist der: durch Benutzung der verschiedenen Merkmale und möglichen Wirkungen der Strafe nach den individuellen Verhältnissen des einzelnen Staates die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten und dies durch möglichste Aufhebung des durch das Verbrechen für die bürgerliche Gesellschaft entstandenen Schadens, sowie durch Verstärkung der Achtung des Gesetzes bei allen Bürgern und bessernde Wirkung auf den Bestraften zu erreichen. [...] [45]
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II. Darstellung der abgeleiteten Rechtssätze des allgemeinen Theils. Erster Titel. Von der Natur des Verbrechens. Erster Abschnitt. Begriff und Eintheilung des Verbrechens. § 21. Wer die Grenzen der rechtlichen Freiheit überschreitet, begeht eine Rechtsverletzung (Läsion). Wer die durch den Staatsvertrag verbürgte, durch Strafgesetze gesicherte Freiheit verletzt, begeht ein Verbrechen. Dieses, im weitesten Sinne, ist daher eine unter einem Strafgesetze enthaltene Beleidigung oder eine durch ein Strafgesetz bedrohte, dem Rechte eines Anderen widersprechende Handlung. Beleidigungen sind daher auch ausser dem Staate möglich; Verbrechen nur in dem Staat. [...] Note des Herausgebers. Bei Begriffsbestimmung des Verbrechens muss der Begriff des Verbrechens im rechtsphilosophischen Sinne, wo der Begriff mit der Frage über Das, was strafwürdig sein soll, zusammenhängt, von dem in der juristischen Bedeutung oder Verbrechen im formalen Sinne (im Gegensatz von Verbrechen im materiellen Sinne) unterschieden werden. [...] [46] [...] Ueber die Nachtheile einer zu weiten Ausdehnung des Strafgebiets meine Schrift über den neuesten Zustand d. Criminalgesetzgebung S. 164 [...] Hier ist die Frage wichtig: ob ein Verbrechen als Rechtsverletzung zu betrachten sei, was verneint werden muss. Mittermaier über den neuesten Zustand der Criminalgesetzgebung S. 117. [...] § 22. Unabhängig von der Ausübung eines Regierungsacts und der Erklärung des Staats gibt es Rechte (der Unterthanen im Staate oder des Staates selbst). Diese, durch Strafgesetze gesichert, begründen den Begriff eines Verbrechens im engeren Sinne, welches, nach Verschiedenheit der Grösse der damit verbundenen Strafen und der hiervon abhängenden Art der Gerichtsbarkeit wieder in Criminal- und in CivilVerbrechen abgetheilt werden kann. – Insofern der Staat berechtigt ist, durch Polizeigesetze auf seinen Zweck mittelbar hinzuwirken, und durch diese an sich nicht rechtswidrige Handlungen zu verbieten, sofern gibt es besondere Rechte des Staats auf Unterlassung dieser speciell verbotenen Handlungen, die den Unterthanen ursprünglich rechtlich möglich waren. Ist das Recht des Staats auf Gehorsam gegen ein bestimmtes Polizeigesetz mit Strafen bedroht, so entsteht der Begriff von Vergehen, Polizei-Uebertretung. [...] [49] [...] § 23. Da Erhaltung der Rechte überhaupt Zweck der Strafgesetze ist, so sind sowohl die Rechte der Unterthanen, als auch die dem Staate (als moralischer Person) zukommenden Rechte, Gegenstand ihrer schützenden Drohungen. Wer nun durch Ue-
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bertretung eines Strafgesetzes unmittelbar die Rechte des Staats verletzt, begeht ein öffentliches Verbrechen (Staatsverbrechen, delictum publicum): ist aber das Recht eines Unterthans unmittelbarer Gegenstand der Uebertretung, so ist dies ein Privatverbrechen (delictum privatum). [...] Note des Herausg. Auch hier wirkt das von Feuerbach irrigerweise angenommene Merkmal, dass in jedem Verbrechen eine Rechtsverletzung liege. Gegen diese Eintheilung in Staats- und Privatverbrechen s. Mittermaier über den neuesten Zustand der Strafgesetzgebung S. 115. [...]
Arthur Schopenhauer (1788–1860) 1. Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band (1818) [416] § 62. [...] [432] Die wichtigsten Punkte der reinen Rechtslehre, wie die Philosophie [...] sie der Gesetzgebung zu überliefern hat, sind folgende: 1) Erklärung der inneren und eigentlichen Bedeutung und des Ursprungs der Begriffe Unrecht und Recht, und ihrer Anwendung und Stelle in der Moral. 2) Die Ableitung des Eigenthumsrechts. 3) Die Ableitung der moralischen Gültigkeit der Verträge; da diese die moralische Grundlage des Staatsvertrages ist. 4) Die Erklärung der Entstehung und des Zweckes des Staats, des Verhältnisses dieses Zweckes zur Moral und der in Folge dieses Verhältnisses zweckmäßigen Uebertragung der moralischen Rechtslehre, durch Umkehrung, auf die Gesetzgebung. 5) Die Ableitung des Strafrechts. [...] Nachdem wir [...] die vier ersten jener Hauptpunkte [...] erörtert haben, ist noch vom Strafrechte eben so zu reden. Kant stellt die grundfalsche Behauptung auf, daß es außer dem Staate kein vollkommenes Eigenthumsrecht gäbe. Unserer obigen Ableitung zufolge giebt es auch im Naturzustande Eigenthum, mit vollkommenem natürlichen, d.h. moralischen Rechte, welches ohne Unrecht nicht verletzt, aber ohne Unrecht [433] auf das äußerste vertheidigt werden kann. Hingegen ist gewiß, daß es außer dem Staate kein Strafrecht giebt. Alles Recht zu strafen ist allein durch das positive Gesetz begründet, welches vor dem Vergehn diesem eine Strafe bestimmt hat, deren Androhung, als Gegenmotiv, alle etwaigen Motive zu jenem Vergehen überwiegen sollte. Dieses positive Gesetz ist anzusehen als von allen Bürgern des Staats sanktionirt und anerkannt. Es gründet sich also auf einen gemeinsamen Vertrag, zu dessen Erfüllung unter allen Umständen, also zur Vollziehung der Strafe auf der einen und zur Duldung derselben von der andern Seite, die Glieder des Staats verpflichtet sind: daher ist die Duldung mit Recht erzwingbar. Folglich ist der unmittelbare Zweck der Strafe im einzelnen Fall Erfüllung des Gesetzes als eines Vertrages. Der einzige Zweck des Gesetzes aber ist Abschreckung von Beeinträchtigung fremder Rechte: denn damit Jeder vor Unrechtleiden geschützt sei, hat man sich zum Staat vereinigt, dem Unrechtthun entsagt und die Lasten der Erhaltung des Staats auf sich genommen. Das Gesetz also und die Vollziehung desselben, die Strafe, sind wesentlich auf die Zukunft gerichtet, nicht auf die Vergangenheit. Dies unterscheidet Strafe von Rache, welche letztere lediglich durch das Geschehene, also das Vergangene als solches, motivirt ist. Alle Vergeltung des Unrechts durch Zufügung eines Schmerzes, ohne Zweck für die Zukunft, ist Rache, und kann keinen andern Zweck haben, als durch den Anblick des fremden Leidens, welche man selbst verursacht hat, sich über das selbst erlittene zu trösten. Solches ist Bosheit und Grausamkeit, und ethisch nicht zu rechtfertigen. Unrecht, das mir Jemand zugefügt, befugt mich keineswegs ihm Unrecht zuzufügen. Vergeltung des Bösen mit Bösem, ohne weitere Absicht, ist weder moralisch, noch sonst, durch irgend einen vernünftigen Grund zu rechtfertigen, und das jus talionis als T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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selbstständiges, letztes Princip des Strafrechts aufgestellt, ist sinnleer. Daher ist Kants Theorie der Strafe als bloßer Vergeltung, um der Vergeltung Willen, eine völlig grundlose und verkehrte Ansicht. Und doch spukt sie noch immer in den Schriften vieler Rechtslehrer, unter allerlei vornehmen Phrasen, die auf leeren Wortkram hinauslaufen, wie: durch die Strafe werde das Verbrechen gesühnt, oder neutralisirt und aufgehoben, u.dgl.m. [434]. Kein Mensch aber hat die Befugniß, sich zum rein moralischen Richter und Vergelter aufzuwerfen und die Missethaten des Andern, durch Schmerzen, welche er ihm zufügt, heimzusuchen, ihm also Buße dafür aufzulegen. Vielmehr wäre Dieses eine höchst vermessene Anmaaßung; daher eben das Biblische: „Mein ist die Rache, spricht der Herr, und ich will vergelten“ [5. Mose, 32, 35]. Wohl aber hat der Mensch das Recht, für die Sicherheit der Gesellschaft zu sorgen: dies aber kann allein geschehn durch Verpönung aller der Handlungen, die das Wort „kriminell“ bezeichnet, um ihnen durch Gegenmotive, welches die angedrohten Strafen sind, vorzubeugen; welche Drohung nur durch Vollziehung, im dennoch vorkommenden Fall, wirksam seyn kann. Daß demnach der Zweck der Strafe, oder genauer des Strafgesetzes, Abschreckung vom Verbrechen sei, ist eine so allgemein anerkannte, ja, von selbst einleuchtende Wahrheit, daß sie in England sogar in der sehr alten Anklagungsformel (indictment), deren sich noch jetzt in Kriminalfällen der Kronadvokat bedient, ausgesprochen ist, indem solche schließt: if this be proved, you, the said N.N., ought to be punished with pains of law, to deter others from the like crimes, in all time coming. Wenn ein Fürst einen mit Recht verurtheilten Verbrecher zu begnadigen wünscht, wird sein Minister ihm einwenden, daß alsdann dies Verbrechen sich bald wiederholen würde. – Zweck für die Zukunft unterscheidet Strafe von Rache, und diesen hat die Strafe nur dann, wann sie zur Erfüllung eines Gesetzes vollzogen wird, nur eben dadurch als unausbleiblich auch für jeden künftigen Fall sich ankündigend, dem Gesetze die Kraft abzuschrecken erhält, worin eben sein Zweck besteht. – Hier würde nun ein Kantianer unfehlbar einwenden, daß ja, nach dieser Ansicht, der gestrafte Verbrecher „bloß als Mittel“ gebraucht würde. Aber dieser von allen Kantianern so unermüdlich nachgesprochene Satz, „man dürfe den Menschen immer nur als Zweck, nie als Mittel behandeln“, ist zwar ein bedeutend klingender und daher für alle die, welche gern eine Formel haben mögen, die sie alles ferneren Denkens überhebt, überaus geeigneter Satz; aber beim Lichte betrachtet ist es ein [435] höchst vager, unbestimmter, seine Absicht ganz indirekt erreichender Ausspruch, der für jeden Fall seiner Anwendung erst besonderer Erklärung, Bestimmung und Modifikation bedarf, so allgemein genommen aber ungenügend, wenigsagend und noch dazu problematisch ist. Der dem Gesetze zufolge der Todesstrafe anheimgefallene Mörder muß jetzt allerdings und mit vollem Recht als bloßes Mittel gebraucht werden. Denn die öffentliche Sicherheit, der Hauptzweck des Staats, ist durch ihn gestört, ja sie ist aufgehoben, wenn das Gesetz unerfüllt bleibt: er, sein Leben, seine Person, muß jetzt das Mittel zur Erfüllung des Gesetzes und dadurch zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit seyn, und wird zu solchem gemacht mit allem Recht, zur Vollziehung des Staatsvertrages, der auch von ihm, sofern er Staatsbürger war, eingegangen war, und demzufolge er, um Sicherheit für sein Leben, seine Freiheit und sein Eigenthum zu genießen, auch der Sicherheit Aller sein Leben, seine Freiheit und sein Eigenthum zum Pfande gesetzt hatte, welches Pfand jetzt verfallen ist.
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Diese hier aufgestellte, der gesunden Vernunft unmittelbar einleuchtende Theorie der Strafe ist freilich, in der Hauptsache, kein neuer Gedanke, sondern nur ein durch neue Irrthümer beinahe verdrängter, dessen deutlichste Darstellung insofern nöthig war. Dieselbe ist, dem Wesentlichen nach, schon in dem enthalten, was Pufendorf, „De officio hominis et civis“, Buch 2, Kap. 13, darüber sagt. Mit ihr stimmt ebenfalls Hobbes überein: „Leviathan“, Kap. 15 u. 28. In unseren Tagen hat sie bekanntlich Feuerbach verfochten. Ja, sie findet sich schon in den Aussprüchen der Philosophen des Alterthums: Plato legt sie deutlich dar im Protagoras (S. 114, edit. Bip.), auch im Gorgias (S. 168), endlich im elften Buch von den Gesetzen (S. 165). Seneka spricht Plato’s Meinung und die Theorie aller Strafe vollkommen aus, in den kurzen Worten: Nemo prudens punit, quia peccatum est; sed ne peccetur (De ira, I, 16 [= 1, 19, 7]). Wir haben also im Staat das Mittel kennen gelernt, wodurch der mit Vernunft ausgerüstete Egoismus seinen eigenen, sich gegen ihn selbst wendenden schlimmen Folgen auszuweichen sucht, und nun Jeder das Wohl Aller befördert, weil er sein eigenes mit darin begriffen sieht. Erreichte der Staat seinen Zweck vollkommen, so könnte gewissermaaßen, da er, durch die in ihm [436] vereinigten Menschenkräfte, auch die übrige Natur sich mehr und mehr dienstbar zu machen weiß, zuletzt, durch Fortschaffung aller Arten von Uebel, etwas dem Schlaraffenlande sich Annäherndes zu Stande kommen. Allein, theils ist er noch immer sehr weit von diesem Ziel entfernt geblieben; theils würden auch noch immer unzählige, dem Leben durchaus wesentliche Uebel, unter denen, wären sie auch alle fortgeschafft, zuletzt die Langeweile jede von den andern verlassene Stelle sogleich okkupirt, es nach wie vor im Leiden erhalten; theils ist auch sogar der Zwist der Individuen nie durch den Staat völlig aufzuheben, da er im Kleinen neckt, wo er im Großen verpönt ist; und endlich wendet sich die aus dem Innern glücklich vertriebene Eris zuletzt nach außen: als Streit der Individuen durch die Staatseinrichtung verbannt, kommt sie von außen als Krieg der Völker wieder, und fordert nun im Großen und mit einem Male, als aufgehäufte Schuld, die blutigen Opfer ein, welche man ihr durch kluge Vorkehrung im Einzelnen entzogen hatte. Ja gesetzt, auch dieses Alles wäre endlich, durch eine auf die Erfahrung von Jahrtausenden gestützte Klugheit, überwunden und beseitigt; so würde am Ende die wirkliche Uebervölkerung des ganzen Planeten das Resultat seyn, dessen entsetzliche Uebel sich jetzt nur eine kühne Einbildungskraft zu vergegenwärtigen vermag.
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2. Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band (1844) [690] Kapitel 47. Zur Ethik. [...] [696] Den, § 62 des ersten Bandes [...], dargelegten Grundzügen der Rechtslehre sind noch folgende Erläuterungen beizufügen. [...] [699] [...] Dem Strafrecht sollte, nach meiner Ansicht, das Princip zum Grunde liegen, daß eigentlich nicht der Mensch, sondern nur die That gestraft wird, damit sie nicht wiederkehre: der Verbrecher ist bloß der Stoff, an dem die That gestraft wird; damit dem Gesetze, welchem zu Folge die Strafe eintritt, die Kraft abzuschrecken bleibe. Dies bedeutet der Ausdruck: „Er ist dem Gesetz verfallen.“ Nach Kants Darstellung, die auf ein jus talionis [...] hinausläuft, ist es nicht die That, sondern der Mensch, welcher gestraft wird. [...] So groß ferner auch der Antheil seyn mag, den Rohheit und Unwissenheit, im Verein mit der äußern Bedrängniß, an vielen Verbrechen haben; so darf man jene doch nicht als die Hauptursache derselben betrachten; indem Unzäh- [700] lige in derselben Rohheit und unter ganz ähnlichen Umständen lebend, keine Verbrechen begehn. Die Hauptsache fällt also doch auf den persönlichen, moralischen Charakter zurück: dieser aber ist [...] schlechterdings unveränderlich. Daher ist eigentliche moralische Besserung gar nicht möglich; sondern nur Abschreckung von der That. [...] Daß, wie Beccaria gelehrt hat, die Strafe ein richtiges Verhältniß zum Verbrechen haben soll, beruht nicht darauf, daß sie eine Buße für dasselbe wäre; sondern darauf, daß das Pfand dem Werthe Dessen, wofür es haftet, angemessen seyn muß. Daher ist Jeder berechtigt, als Garantie der Sicherheit seines Lebens fremdes Leben zum Pfande zu fordern; nicht aber eben so für die Sicherheit seines Eigenthums, als für welches fremde Freiheit u.s.w. Pfand genug ist. Zur Sicherstellung des Lebens der Bürger ist daher die Todesstrafe schlechterdings nothwendig. Denen, welche sie aufheben möchten, ist zu antworten: „Schafft erst den Mord aus der Welt: dann soll die Todesstrafe nachfol- [701] gen“. Auch sollte sie den entschiedenen Mordversuch eben so wie den Mord selbst treffen: denn das Gesetz will die That strafen, nicht den Erfolg rächen. Ueberhaupt giebt der zu verhütende Schaden den richtigen Maaßstab für die anzudrohende Strafe, nicht aber giebt ihn der moralische Unwerth der verbotenen Handlung. [...] Neben der Größe des zu verhütenden Schadens kommt, bei Bestimmung des Maaßes der Strafe, die Stärke der zur verbotenen Handlung antreibenden Motive in Betracht. Ein ganz anderer Maaßstab würde für die Strafe gelten, wenn Buße, Vergeltung, jus talionis, der wahre Grund derselben wäre. Aber der Kriminalkodex soll nichts Anderes seyn, als ein Verzeichniß von Gegenmotiven zu möglichen verbrecherischen Handlungen: daher muß jedes derselben die Motive zu diesen letzteren entschieden überwiegen, und zwar um so mehr, je größer der Nachtheil ist, welcher aus der zu verhütenden Handlung entspringen würde, je stärker die Versuchung dazu und je schwieriger die Ueberführung des Thäters; – stets unter der richtigen Voraussetzung, daß der Wille nicht frei, sondern durch Motive bestimmbar ist – außerdem ihm gar nicht beizukommen wäre. [...]
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3. Über die Freiheit des Willens (1839) [43] [...] Was heißt Freiheit? Dieser Begriff ist, genau betrachtet, ein negativer. Wir denken durch ihn nur die Abwesenheit alles Hindernden und Hemmenden: dieses hingegen muß, als Kraft äußernd, ein Positives seyn. Der möglichen Beschaffenheit dieses Hemmenden entsprechend hat der Begriff drei sehr verschiedene Unterarten: physische, intellektuelle und moralische Freiheit. a) Physische Freiheit ist die Abwesenheit der materiellen Hindernisse jeder Art. Daher sagen wir: freier Himmel, freie Aussicht, freie Luft, freies Feld, ein freier Platz [...] [44] [...] [Es] werden, in dieser physischen Bedeutung des Begriffs der Freiheit, Thiere und Menschen dann frei genannt, wenn weder Bande noch Kerker noch Lähmung, also überhaupt kein physisches, materielles Hinderniß ihre Handlungen hemmt, sondern diese ihrem Willen gemäß vor sich gehn. [...] Sobald wir [...] von dieser physischen Freiheit abgehn und die zwei andern Arten derselben betrachten, haben wir es nicht mehr mit dem populären, sondern mit einem philosophischen Sinne des Begriffs zu thun, der bekanntlich vielen Schwierigkeiten den Weg öffnet. Er zerfällt in zwei gänzlich [45] verschiedene Arten: die intellektuelle und die moralische Freiheit. b) Die intellektuelle Freiheit, to hekousion kai akousion kata dianoian [das freiwillige und Unfreiwillige in Hinsicht auf das Denken] bei Aristoteles, wird hier bloß zum Behuf der Vollständigkeit der Begriffseintheilung in Betracht gezogen: ich erlaube mir daher ihre Erörterung hinauszusetzen bis ganz ans Ende dieser Abhandlung. [...] c) Ich wende mich also gleich zur dritten Art, zur moralischen Freiheit, als welche eigentlich das liberum arbitrium [die freie Willensentscheidung] ist, von dem die Frage der königl. Societät redet. [...] Die physische Freiheit bezieht sich, wie gesagt, nur auf materielle Hindernisse, bei deren Abwesenheit sie sogleich da ist. Nun aber bemerkte man, in manchen Fällen, daß ein Mensch, ohne durch materielle Hindernisse gehemmt zu seyn, durch bloße Motive, wie etwan Drohungen, Versprechungen, Gefahren u.dgl., abgehalten wurde zu handeln, wie es außerdem gewiß seinem Willen gemäß gewesen seyn würde. Man warf daher die Frage auf, ob ein solcher Mensch noch frei gewesen wäre? oder ob wirklich ein starkes Gegenmotiv die dem eigentlichen Willen gemäße Handlung ebenso hemmen und unmöglich machen könne, wie ein physisches Hinderniß? Die Antwort darauf konnte dem gesunden Verstande nicht schwer werden: daß nämlich niemals ein Motiv so wirken könne, wie ein physisches Hinderniß; indem dieses leicht die menschlichen Körperkräfte überhaupt unbedingt übersteige, hingegen ein Motiv nie an sich selbst unwiderstehlich seyn, nie eine unbedingte Gewalt haben, sondern immer noch möglicherweise durch ein stärkeres Gegenmotiv überwogen werden könne, wenn nur ein solches vorhanden und der im individuellen Fall gegebene Mensch durch dasselbe bestimmt wäre; [...] [46] [...] Hier war nun also der Begriff der Freiheit, den man bis dahin nur in Bezug auf das Können gedacht hatte, in Bezug auf das Wollen gesetzt worden, und das Problem entstanden, ob denn das Wollen selbst frei wäre. [...]
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Der Wille vor dem Selbstbewußtsein: [61] [...] Das Selbstbewußtseyn eines Jeden sagt sehr deutlich aus, daß er thun kann was er will. Da nun auch ganz entgegengesetzte Handlungen als von ihm gewollt gedacht werden können; so folgt allerdings, daß er auch Entgegengesetztes thun kann, wenn er will. Dies verwechselt nun der rohe Verstand damit, daß er, in einem gegebenen Fall, auch Entgegengesetztes wollen könne, und nennt dies die Freiheit des Willens. Allein daß er, in einem gegebenen Fall, Entgegengesetztes wollen könne, ist schlechterdings nicht in [62] obiger Aussage enthalten, sondern bloß dies, daß von zwei entgegengesetzten Handlungen, er, wenn er diese will, sie thun kann, und wenn er jene will, sie ebenfalls thun kann: ob er aber die eine so wohl als die andere, im gegebenen Fall, wollen könne, bleibt dadurch unausgemacht und ist Gegenstand einer tiefern Untersuchung, als durch das bloße Selbstbewußtseyn entschieden werden kann. [...] Also jene unleugbare Aussage des Selbstbewußtseins „ich kann thun was ich will“ enthält und entscheidet durchaus nichts über die Freiheit des Willens, als welche darin bestehen würde, daß der jedesmalige Willensakt selbst, im einzelnen individuellen Fall, also bei gegebenem individuellen Charakter, nicht durch die äußern Umstände, in denen hier dieser Mensch sich befindet, nothwendig bestimmt würde, sondern jetzt so und auch anders ausfallen könnte. Hierüber aber bleibt das Selbstbewußtseyn völlig stumm: denn die Sache liegt ganz außer seinem Bereich; da sie auf dem Kausalverhältniß zwischen der Außenwelt und dem Menschen beruht. [...] [65] Der Wille vor dem Bewußtsein anderer Dinge: [...] [66] Das Gesetz der Kausalität steht a priori fest, als die allgemeine Regel, welcher alle realen Objekte der Außenwelt ohne Ausnahme unterworfen sind. Diese Ausnahmslosigkeit verdankt es eben seiner Apriorität. Dasselbe bezieht sich wesentlich und ausschließlich auf Veränderungen, und besagt, daß wo und wann, in der objektiven, realen, materiellen Welt, irgend etwas, groß oder klein, viel oder wenig, sich verändert, nothwendig gleich vorher auch etwas Anderes sich verändert haben muß, und damit dieses sich veränderte, vor ihm wieder ein Anderes, und so ins Unendliche, ohne daß irgend ein Anfangspunkt dieser regressiven Reihe von Veränderungen, welche die Zeit erfüllt, wie die Materie den Raum, jemals abzusehn, oder auch nur als möglich zu denken, geschweige denn vorauszusetzen wäre. [...] Nicht minder besagt das Gesetz der Kausalität, daß wenn die frühere Veränderung, – die Ursache, – eingetreten ist, die dadurch herbeigeführte spätere, – die Wirkung, – ganz unausbleiblich eintreten muß, mithin nothwendig erfolgt. [...] [84] [...] Der Mensch ist, wie alle Gegenstände der Erfahrung, eine Erscheinung in Zeit und Raum, und da das Gesetz der Kausalität für diese alle a priori und folglich ausnahmslos gilt, muß auch er ihm unterworfen seyn. So sagt es der reine Verstand a priori, so bestätigt es die durch die ganze Natur geführte Analogie, und so bezeugt es die Erfahrung jeden Augenblick, wenn man sich nicht täuschen läßt durch den Schein, der dadurch herbeigeführt wird, daß, indem die Naturwesen, sich höher und höher steigernd, komplicirter werden, und ihre Empfänglichkeit, von der bloß mechanischen, zur chemischen, elektrischen, reizbaren, sensibeln, intellektuellen und endlich rationellen sich erhebt und verfeinert, auch die Natur der einwirkenden Ursachen hiemit gleichen Schritt halten und auf jeder Stufe des Wesens, auf welche gewirkt werden soll, entsprechend ausfallen muß: daher dann
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auch die Ursachen immer weniger palpabel und materiell sich darstellen; so daß sie zuletzt nicht mehr dem Auge sichtbar, wohl aber dem Verstande erreichbar sind, der sie, im einzelnen Fall, mit unerschütterlicher Zuversicht voraussetzt und bei gehörigem Forschen auch entdeckt. Unter Voraussetzung der Willensfreiheit wäre jede menschliche Handlung ein unerklärliches Wunder, – eine Wirkung ohne Ursache. Und wenn man den Versuch wagt, ein solches liberum arbitrium indifferentiae sich vorstellig zu machen; so wird man bald inne werden, daß dabei recht eigentlich der Verstand stille steht: er hat keine Form so etwas zu denken. [...] [86] [...] Überall bestimmen [aber] die Ursachen nichts weiter als das Wann und Wo der Aeußerungen ursprünglicher, unerklärlicher Kräfte, unter deren Voraussetzung allein sie Ursachen sind, d.h. gewisse Wirkungen nothwendig herbeiführen. Wie nun dies bei den Ursachen im engsten Sinne und bei den Reizen der Fall ist, so nicht minder bei den Motiven; da ja die Motivation nicht im wesentlichen von der Kausalität verschieden, sondern nur eine Art derselben, nämlich die durch das Medium der Erkenntniß hindurchgehende Kausalität ist. Auch hier also ruft die Ursache nur die Aeußerung einer nicht weiter auf Ursachen zurückzuführenden, folglich nicht weiter zu erklärenden Kraft hervor, welche Kraft, die hier Wille heißt, uns aber nicht bloß von außen, wie die andern Naturkräfte, sondern, vermöge des Selbstbewußtseyns, auch von innen und unmittelbar bekannt ist. Nur unter der Voraussetzung, daß ein solcher Wille vorhanden ist und, im einzelnen Fall, daß er von bestimmter Beschaffenheit sei, wirken die auf ihn gerichteten [87] Ursachen, hier Motive genannt. Diese speciell und individuell bestimmte Beschaffenheit des Willens, vermöge deren seine Reaktion auf die selben Motive in jedem Menschen eine andere ist, macht Das aus, was man dessen Charakter nennt und zwar, weil er nicht a priori sondern nur durch Erfahrung bekannt wird, empirischen Charakter. Durch ihn ist zunächst die Wirkungsart der verschiedenartigen Motive auf den gegebenen Menschen bestimmt. Denn er liegt allen Wirkungen, welche die Motive hervorrufen, so zum Grunde, wie die allgemeinen Naturkräfte den durch Ursachen im engsten Sinne hervorgerufenen Wirkungen, und die Lebenskraft den Wirkungen der Reize. Und, wie die Naturkräfte, so ist auch er ursprünglich, unveränderlich, unerklärlich. Bei den Thieren ist er in jeder Species, beim Menschen in jedem Individuo ein anderer. Nur in den allerobersten, klügsten Thieren zeigt sich schon ein merklicher Individualcharakter, wiewohl mit durchaus überwiegendem Charakter der Species. Der Charakter des Menschen ist: 1) individuell: er ist in Jedem ein anderer. [...] Daher ist die Wirkung des selben Motivs auf verschiedene Menschen eine ganz verschiedene. [...] 2) Der Charakter des Menschen ist empirisch. Durch Erfahrung allein lernt man ihn kennen, nicht bloß an Andern, sondern auch an sich selbst. [...] [89] [...] 3) Der Charakter des Menschen ist konstant: er bleibt der selbe, das ganze Leben hindurch. [...] Der Mensch ändert sich nie: wie er in einem Falle gehandelt hat, so wird er, unter völlig gleichen Umständen (zu denen jedoch auch die richtige Kenntniß dieser Umstände gehört) stets wieder handeln. [...] [90] [...] Bloß [die]
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Erkenntniß läßt sich berichtigen. [...] Hierauf beruht das Amerikanische Pönitentiarsystem: es unternimmt nicht, den Charakter, das Herz des Menschen zu bessern, wohl aber ihm den Kopf zurechtzu- [91] setzen und ihm zu zeigen, daß er die Zwecke, denen er vermöge seines Charakters unwandelbar nachstrebt, auf dem bisher gegangenen Wege der Unredlichkeit weit schwerer und mit viel größeren Mühsäligkeiten und Gefahren erreichen würde, als auf dem der Ehrlichkeit, Arbeit und Genügsamkeit. Ueberhaupt liegt allein in der Erkenntniß die Sphäre und der Bereich aller Verbesserung und Veredelung. Der Charakter ist unveränderlich, die Motive wirken mit Nothwendigkeit: aber sie haben durch die Erkenntniß hindurchzugehen, als welche das Medium der Motive ist. Diese aber ist der mannigfaltigsten Erweiterung, der immerwährenden Berichtigung in unzähligen Graden fähig; dahin arbeitet alle Erziehung. [...] [92] [...] 4) Der individuelle Charakter ist angeboren: er ist kein Werk der Kunst, oder der dem Zufall unterworfenen Umstände; sondern das Werk der Natur selbst. [...] [93] [...] Woraus [...], unter der Annahme der Willensfreiheit, Tugend und Laster, oder überhaupt die Thatsache, daß zwei gleich erzogene Menschen, unter völlig gleichen Umständen und [94] Anlässen, ganz verschieden, ja entgegengesetzt handeln, eigentlich entspringen soll, ist schlechterdings nicht abzusehen. Die thatsächliche, ursprüngliche Grundverschiedenheit der Charaktere ist unvereinbar mit der Annahme einer solchen Willensfreiheit, die darin besteht, daß jedem Menschen, in jeder Lage, entgegengesetzte Handlungen gleich möglich sein sollen. Denn da muß sein Charakter von Hause aus eine tabula rasa seyn, wie nach Locke der Intellekt, und darf keine angeborene Neigung nach irgend einer, oder der anderen Seite haben; weil diese eben schon das vollkommene Gleichgewicht, welches man im libero arbitrio indifferentiae denkt, aufheben würde. [...] [95] [...] Die Nothwendigkeit, mit der [...] die Motive, wie alle Ursachen überhaupt, wirken, ist keine voraussetzungslose. Jetzt haben wir ihre Voraussetzung, den Grund und Boden worauf sie fußt, kennen gelernt: es ist der angeborene, individuelle Charakter. Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Wenn wir nun, in Folge unserer bisherigen Darstellung, alle Freiheit des menschlichen Handelns völlig aufgehoben und dasselbe als durchweg der strengsten Nothwendigkeit unterworfen erkannt haben; so sind wir eben dadurch auf den Punkt geführt, auf welchem wir die wahre moralische Freiheit, welche höherer Art ist, werden begreifen können. [134] Es giebt nämlich noch eine Thatsache des Bewußtseyns, von welcher ich bisher [...] gänzlich abgesehen habe. Diese ist das völlig deutliche und sichere Gefühl der Verantwortlichkeit für Das was wir thun, der Zurechnungsfähigkeit für unsere Handlungen, beruhend auf der unerschütterlichen Gewißheit, daß wir selbst die Thäter unserer Thaten sind. Vermöge dieses Bewußtseyns kommt es Keinem, auch dem nicht, der von der im Bisherigen dargelegten Nothwendigkeit, mit welcher unsere Handlungen eintreten, völlig überzeugt ist, jemals in den Sinn, sich für
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ein Vergehn durch diese Nothwendigkeit zu entschuldigen und die Schuld von sich auf die Motive zu wälzen, da ja bei deren Eintritt die That unausbleiblich war. Denn er sieht sehr wohl ein, daß die Nothwendigkeit eine subjective Bedingung hat, und daß hier objective, d.h. unter den vorhandenen Umständen, also unter der Einwirkung der Motive, die ihn bestimmt haben, doch eine ganz andere Handlung, ja die der seinigen gerade entgegengesetzte, sehr wohl möglich war und hätte geschehn können, wenn er nur ein Anderer gewesen wäre: hieran allein hat es gelegen. Ihm, weil er dieser und kein Anderer ist, weil er einen solchen und solchen Charakter hat, war freilich keine andere Handlung möglich; aber an sich selbst, als objective, war sie möglich. Die Verantwortlichkeit, deren er sich bewußt ist, trifft daher bloß zunächst und ostensibel die That, im Grunde aber seinen Charakter: für diesen fühlt er sich verantwortlich. Und für diesen machen ihn auch die anderen verantwortlich, indem ihr Urtheil sogleich die That verläßt, um die Eigenschaften des Thäters festzustellen: „er ist ein schlechter Mensch, ein Bösewicht“, – oder „er ist ein Spitzbube“ – oder „er ist eine kleine, falsche niederträchtige Seele“ – so lautet ihr Urtheil. [...] Die That, nebst dem Motiv, kommt dabei bloß als Zeugniß von dem Charakter des Thäters in Betracht, gilt aber als sicheres Symptom desselben, wodurch er unwiderruflich und auf immer festgestellt ist. [...] [135] [...] In allen Sprachen [sind] die Epitheta moralischer Schlechtigkeit, die Schimpfnamen, welche sie bezeichnen, vielmehr Prädikate des Menschen als der Handlungen. Dem Charakter werden sie angehängt: denn dieser hat die Schuld zu tragen, deren er auf Anlaß der Thaten bloß überführt worden. Da, wo die Schuld liegt, muß auch die Verantwortlichkeit liegen: und da diese das alleinige Datum ist, welches auf moralische Freiheit zu schließen berechtigt; so muß auch die Freiheit eben daselbst liegen, also im Charakter des Menschen; um so mehr, als wir uns hinlänglich überzeugt haben, daß sie unmittelbar in den einzelnen Handlungen nicht anzutreffen ist, als welche, unter Voraussetzung des Charakters, streng necessitirt eintreten. Der Charakter aber ist [...] angeboren und unveränderlich. [...] [136] [...] Hier ist nun der Ort, an die [...] Darstellung zu erinnern, welche Kant von dem Verhältniß zwischen empirischem und intelligiblem Charakter und dadurch von der Vereinbarkeit der Freiheit mit der Nothwendigkeit gegeben hat. [...] Nur daraus läßt sich, so weit menschliche Kräfte es vermögen, begreifen, wie die strenge Nothwendigkeit unsrer Handlungen doch zusammenbesteht mit derjenigen Freiheit, von welcher das Gefühl der Verantwortlichkeit Zeugniß ablegt, und vermöge welcher wir die Thäter unserer Thaten und diese uns moralisch zuzurechnen sind. [...] [137] [...] Der empirische Charakter [..] ist, wie der ganze Mensch, als Gegenstand der Erfahrung eine bloße Erscheinung, daher an die Formen aller Erscheinung, Zeit, Raum und Kausalität, gebunden und deren Gesetzen unterworfen: hingegen ist die als Ding an sich von diesen Formen unabhängige und deshalb keinem Zeitunterschied unterworfenene, mithin beharrende und unveränderliche Bedingung und Grundlage dieser ganzen Erscheinung sein intelligibler Charakter, d.h. sein Wille als Ding an sich, welchem, in solcher Eigenschaft, allerdings auch absolute Freiheit, d.h. Unabhängigkeit vom Gesetze der Kausalität (als einer bloßen Form der Erscheinungen) zukommt. Diese Freiheit aber ist eine transcendentale, d.h. nicht in der Erscheinung hervortretende, sondern nur insofern vorhande-
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ne, als wir von der Erscheinung und allen ihren Formen abstrahiren, um zu dem zu gelangen, was, außer aller Zeit, als das innere Wesen des Menschen an sich selbst zu denken ist. Vermöge dieser Freiheit sind alle Thaten des Menschen sein eigenes Werk; so nothwendig sie auch aus dem empirischen Charakter, bei seinem Zusammentreffen mit den Motiven, hervorgehn; weil dieser empirische Charakter bloß die Erscheinung des intelligibeln, in unserm an Zeit, Raum und Kausalität gebundenen Erkenntnißvermögen, d.h. die Art und Weise ist, wie diesem das Wesen an sich unseres eigenen Selbst sich darstellt. Demzufolge ist zwar der Wille frei, aber nur an sich selbst und außerhalb der Erscheinung: in dieser hingegen stellt er sich schon mit einem bestimmten Charakter dar, welchem alle seine Thaten gemäß seyn und daher, wenn durch die hinzutretenden Motive näher bestimmt, nothwendig so und nichts anders ausfallen müssen. Dieser Weg führt, wie leicht einzusehen, dahin, daß wir das Werk unserer Freiheit nicht mehr, wie es die gemeine Ansicht thut, in unseren einzelnen Handlungen, sondern im ganzen Seyn und Wesen des Menschen selbst zu suchen haben, welches gedacht werden muß als seine freie That, die bloß für das an Zeit, Raum und Kausalität geknüpfte [138] Erkenntnißvermögen in einer Vielheit und Verschiedenheit von Handlungen sich darstellt, welche aber, eben wegen der ursprünglichen Einheit des in ihnen sich Darstellenden, alle genau den selben Charakter tragen müssen und daher als von den jedesmaligen Motiven, von denen sie hervorgerufen und im Einzelnen bestimmt werden, streng necessitirt erscheinen. [...] Die Freiheit, welche daher im Operari nicht anzutreffen seyn kann, muß im Esse liegen. [...] [139] [...] Die Freiheit ist also durch meine Darstellung nicht aufgehoben, sondern bloß hinausgerückt, nämlich aus dem Gebiete der einzelnen Handlungen, wo sie erweislich nicht anzutreffen ist, hinauf in eine höhere, aber unserer Erkenntniß nicht so leicht zugängliche Region: d.h. sie ist transcendental. [...] Anhang: In Folge der gleich Anfangs aufgestellten Eintheilung der Freiheit in physische, intellektuelle und moralische, habe ich, nachdem die erstere und letztere abgehandelt sind, jetzt noch die zweite zu erörtern. [...] Der Intellekt, oder das Erkenntnißvermögen, ist das Medium der Motive, durch welches nämlich hindurch sie auf den Willen, welcher der eigentliche Kern des Menschen ist, wirken. Nur sofern dieses Medium der Motive sich in einem normalen Zustand befindet, seine Funktionen regelrecht vollzieht und daher die Motive unverfälscht, wie sie in der realen Außenwelt vorliegen, dem Willen zur Wahl darstellt, kann dieser sich in seiner Natur, d.h. dem individuellen Charakter des Menschen gemäß, entscheiden, also ungehindert, nach seinem selbsteigenen Wesen sich äußern; dann ist der Mensch intellektuell frei, d.h. seine Handlungen sind das reine Resultat der Reaktion seines Willens auf Motive, die in der Außenwelt ihm ebenso wie in allen Andern vorliegen. Demzu- [140] folge sind sie ihm alsdann moralisch und auch juridisch zuzurechnen. Diese intellektuelle Freiheit wird aufgehoben entweder dadurch, daß das Medium der Motive, das Erkenntnißvermögen, auf die Dauer oder nur vorübergehend, zerrüttet ist, oder dadurch, daß äußere Umstände, im einzelnen Fall, die Auffassung der Motive verfälschen. Ersteres ist der Fall im Wahnsinn, Delirium, Paroxysmus (Anfall) und Schlaftrunkenheit; letzteres bei einem entschiedenen und unverschuldeten Irrthum, z.B. wenn man Gift statt Arzney eingießt, oder den
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nächtlich eintretenden Diener für einen Räuber hält und erschießt, u.dgl.m. Denn in beiden Fällen sind die Motive verfälscht, weshalb der Wille sich nicht so entscheiden kann, wie er unter den vorliegenden Umständen es würde, wenn der Intellekt sie ihm richtig überlieferte. Die unter solchen Umständen begangenen Verbrechen sind daher auch nicht gesetzlich strafbar. Denn die Gesetze gehn aus von der richtigen Voraussetzung, daß der Wille nicht moralisch frei sei, in welchem Fall man ihn nicht lenken könnte; sondern daß er der Nöthigung durch Motive unterworfen sei: demgemäß wollen sie allen etwanigen Motiven zu Verbrechen stärkere Gegenmotive, in den angedrohten Strafen, entgegenstellen, und ein Kriminalcodex ist nichts Anderes, als ein Verzeichniß von Gegenmotiven zu verbrecherischen Handlungen. Ergiebt sich aber, daß der Intellekt, durch den diese Gegenmotive zu wirken hatten, unfähig war, sie aufzunehmen und dem Willen vorzuhalten; so war ihre Wirkung unmöglich: sie waren für ihn nicht vorhanden. [...] Die Schuld geht daher in solchem Fall vom Willen auf den Intellekt über; dieser aber ist keiner Strafe unterworfen; sondern mit dem Willen allein haben es die Gesetze, wie die Moral, zu thun. Er allein ist der eigentliche Mensch: der Intellekt ist bloß sein Organ, seine Fühlhörner nach außen, d.i. das Medium der Wirkung auf ihn durch Motive. Eben so wenig sind dergleichen Thaten moralisch zuzurechnen. Denn sie sind kein Zug des Charakters des Menschen: er hat entweder etwas Anderes gethan, als er zu thun wähnte, oder war unfähig an Das zu denken, was ihn davon hätte abhalten sollen, d.h. die Gegenmotive zuzulassen. Es ist damit, wie wenn ein chemisch zu untersuchender Stoff der Einwirkung mehrerer [141] Reagenzien ausgesetzt wird, damit man sehe, zu welchem er die stärkste Verwandtschaft hat: findet sich, nach gemachtem Experiment, daß, durch ein zufälliges Hinderniß, das eine Reagens gar nicht hat einwirken können; so ist das Experiment ungültig. Die intellektuelle Freiheit, welche wir hier als ganz aufgehoben betrachteten, kann ferner auch bloß vermindert, oder partiell aufgehoben werden. Dies geschieht besonders durch den Affekt und den Rausch. [...] [..] Diese intellektuelle [..] Freiheit, to hekousion kai akousion kata dianoian [der Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit in Hinsicht auf das Denken] [...] ist gemeint, wenn die Medicina forensis [Gerichtsmedizin] und die Kriminaljustiz frägt, ob ein Verbrecher im Zustande der Freiheit und folglich zurechnungsfähig gewesen sei. [142] Im Allgemeinen sind also als unter Abwesenheit der intellektuellen Freiheit begangen alle die Verbrechen anzusehen, bei denen der Mensch entweder nicht wußte, was er that, oder schlechterdings nicht fähig war, zu bedenken, was ihn davon hätte abhalten sollen, nämlich die Folgen der That. In solchen Fällen ist er demnach nicht zu strafen. Die hingegen, welche meinen, daß schon wegen der Nichtexistenz der moralischen Freiheit und daraus folgender Unausbleiblichkeit aller Handlungen eines gegebenen Menschen, kein Verbrecher gestraft werden dürfte, gehn von der falschen Ansicht der Strafe aus, daß sie eine Heimsuchung der Verbrechen, ihrer selbst wegen, ein Vergelten des Bösen mit Bösem, aus moralischen Gründen, sei. Ein solches aber, wenn gleich Kant es gelehrt hat, wäre absurd, zwecklos und durchaus unberechtigt. Denn wie wäre doch ein Mensch befugt, sich zum absolu-
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ten Richter des andern, in moralischer Hinsicht aufzuwerfen und als solcher, seiner Sünden wegen, ihn zu peinigen! Vielmehr hat das Gesetz, d.i. die Androhung der Strafe, den Zweck, das Gegenmotiv zu den noch nicht begangenen Verbrechen zu seyn. Verfehlt es, im einzelnen Fall, diese seine Wirkung; so muß es vollzogen werden; weil es sonst sie auch in allen zukünftigen Fällen verfehlen würde. Der Verbrecher seinerseits erleidet, in diesem Fall, die Strafe eigentlich doch in Folge seiner moralischen Beschaffenheit, als welche, im Verein mit den Umständen, welche die Motive waren, und seinem Intellekt, der ihm die Hoffnung der Strafe zu entgehn vorspiegelte, die That unausbleiblich herbeigeführt hat. Hierin könnte ihm nur dann Unrecht geschehn, wenn sein moralischer Charakter nicht sein eigenes Werk, seine intelligible That, sondern das Werk eines Andern wäre.
Carl Josef Anton Mittermaier (1787–1867) Über die Grundfehler der Behandlung des Kriminalrechts (1819) [...] [109] I. Zu den verderblichsten Erscheinungen auf dem Gebiete der Strafrechtswissenschaft wie der Strafgesetzgebung gehört das Generalisieren, welches Rechtsgelehrte und Gesetzgeber ergriffen hat. Die erste Veranlassung hierzu gab der Wunsch, das Kriminalrecht wissenschaftlich in Kompendienform zu behandeln, und die häufig wechselnde Form des Philosophierens überhaupt veränderte auch die Art dieser Behandlung. Man mußte suchen, möglichst viele allgemeine Grundsätze aufzustellen, und fand mit einem verächtlichen Seitenblicke auf Einzelheiten, die man vermeiden wollte, sein Heil am meisten in einer Zusammenstellung allgemeiner Regeln, die man in den sogenannten allgemeinen Teil zusammendrängte. In den ersten Kompendien des Kriminalrechts ist dieser Teil noch sehr mager, aber je herrschender der Hang zum Generalisieren wurde, desto mehr wurde in jedem späteren Lehrbuche dieser Teil angefüllt. Man fand in dem römischen Rechtskörper oder in der peinlichen Gerichtsordnung ein paar Stellen, aus welchen man zur Not einen allgemeinen Rechtssatz ableiten konnte; man fand im Leben ein paar Fälle, in welchen eine gewisse Bestimmung trefflich paßte. Die Folge davon war, daß man die ein paarmal erprobte Bestimmung ausdehnte und sie zu einem allgemeingültigen Satze, der im allgemeinen Teile glänzte, erhob. Was auf dem Gebiete der Wissenschaft Sitte war, wurde es auch [...] auf dem Gebiete der Kriminalgesetzgebung, man suchte mit der besten Absicht, den Richtern das Studium und [110] die Anwendung der Strafbestimmungen zu erleichtern, eine Masse allgemeiner Begriffe, Sätze, Regeln in einen allgemeinen Teil des Gesetzbuchs zusammenzudrängen, und handelte, wie man sonst im Kompendium diese Begriffe vortrug, vom Dolus, vom Versuche, von Vollendung, von Urhebern und Gehilfen etc. Die Folgen dieses Generalisierens, welches schon im Zivilrechte schlimme Früchte trug und daher mit Recht in neuerer Zeit angegriffen wurde, waren im Kriminalrechte noch viel gefährlicher. 1) Der Wunsch, den Satz möglichst allgemein und für alle Fälle passend aufzustellen, nötigte Rechtsgelehrte und Gesetzgeber, soviel als möglich in den Satz oder in den Begriff zu drängen, Merkmale hineinzulegen, die nur in ein paar Fällen galten, aber in den Begriff gar nicht gehörten. Die Folgen davon waren verschiedene allgemeine Sätze, Begriffe und Einteilungen, die, wenn man sie anwenden wollte, nicht paßten oder zu den sonderbarsten Resultaten führten. [...] [111] [...] 2) Dieser Hang zum Generalisieren war es auch, welcher unsere Wissenschaft und die Gesetzgebung mit einer Reihe sogenannter allgemeiner Rechtswahrheiten anfüllte und [112] Sätze hervorbrachte, für welche man im gemeinen Rechte keine Gesetze und, legislativ erwogen, keine gegründeten Motive anführen konnte. [...] [113] [...] T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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3) Noch gefährlicher aber wirkte das Generalisieren auf den Richter. Die Allgemeinheit eines Satzes, die Aufstellung im allgemeinen Teile, die Erklärung, daß die darin vorkommenden Bestimmungen bei allen Verbrechen angewendet werden sollten, nötigte die Richter, auf jede mögliche Art sich zu quälen, um den Satz auch in jedem Falle anwenden zu können. [...] Auf diesem Wege mußten aber notwendig ungereimte Entscheidungen als konsequente Folgen der allgemeinen Bestimmung entstehen. [...] [115] [...] 4) Durch dies Generalisieren wurde in manchen neueren Gesetzgebungen auch der Versuch hervorgebracht, im allgemeinen Teile bei den allgemeinen Begriffen zugleich allgemeine, bei allen Arten von Verbrechen anzuwendende Vorschriften zu geben, wie die Strafe z.B. im Falle des Versuchs, der Culpa oder der Teilnahme nach verschiedenen Graden berechnet werden sollte. So scharfsinnig und erleichternd für die Richter auch diese Methode zu sein scheint, so läßt sich doch nicht verkennen, daß ein allgemeiner Maß- [116] stab bei der Verschiedenheit der Verbrechen und bei dem überall verschiedenen Verhältnisse der Teilnahme zu Unbilligkeiten und selbst zu Härten führt. Durch einen solchen allgemeinen Maßstab bei der Bestrafung kommt man auch dazu, die Strafe häufig von einem bloßen Zufalle abhängig zu machen, was bei der Bestrafung der Culpa, wenn sie nach dem Erfolge eingerichtet wird, fast immer der Fall ist; – wenn es z.B. heißt, die culpa lata soll mit einem Jahre Gefängnis bestraft werden, wenn die strafbare Handlung bei vorhandenem dolus ein Kapitalverbrechen wäre, mit 4 Monaten dagegen, wenn der dolus mit 6jährigem Arbeitshause bestraft wäre. [...] [119] II. Zusammenhängend mit dem Grunde, welcher den ersten bisher gerügten Fehler erzeugt, findet sich in unseren Lehr- und Gesetzbüchern ein anderer, nicht minder schädlicher: der des Strebens, die einzelnen Verbrechen unter gewissen, häufig unrichtigen Gesichtspunkten doktrinell aufzustellen. In der Doktrin erklärte sich dies Verfahren wohl aus dem Wunsche, die Übersicht der Verbrechen möglichst zu erleichtern und das Strafrecht in ein wissenschaftliches Gewand zu hüllen. So fing man zuerst an, alle Verbrechen nach den Rechten, welche durch sie verletzt wurden, zu klassifizieren; dies führte weiter, man mußte um jeden Preis auch jedes einzelne Verbrechen in der Klassifikation irgendwo unterbringen; so verlangte es die Mode, die bald, als es zur Abfassung der Gesetzbücher kam, ihr Recht geltend machte. Daraus entstand I) die notwendige Folge, daß viele Verbrechen unter ganz willkürlich gewählten und sowohl von den Gesetzen im gemeinen Rechte als von der Kriminalpolitik nicht zu billigenden Gesichtspunkten aufgestellt wurden; das Bedürfnis war einmal da, eine Lücke im Systeme durfte nicht bleiben, und so mußte, man mochte wollen oder nicht, irgendein leeres Plätzchen benutzt werden. Auf diese Art wurde das Verbrechen der Notzucht als eine Verletzung an dem Rechte des Bürgers auf freie Disposition an seinem Körper aufgestellt. Während die peinliche Gerichtsordnung ebenso zart als richtig von Beraubung unverleumdeter Frauenspersonen an ihrer jungfräulichen und fräulichen Ehre [120] sprach, kam man durch die Aufstellung der Notzucht unter dem obenbezeichneten allgemeinen Gesichtspunkte zu einer Gleichstellung einer an einem Manne erzwunge-
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nen Sodomie mit der Notzucht an einer zarten Jungfrau und mußte selbst von einer Notzucht an einer schamlosen Hure sprechen, da auch dieser das Recht auf freie Disposition an ihrem Körper nicht zu verweigern war. Man vergaß, daß die Frau oder Jungfrau durch Notzucht Folgen leidet, welche, bei der Verletzung eines Mannes nie eintretend, nur allein unter der beschränkten Rücksicht, wie das gemeine Recht das Verbrechen betrachtet, eine sehr strenge Strafe rechtfertigt. So stellte man den Meineid unter die Privatverbrechen, und zwar unter den Betrug und bemerkte nicht, daß dadurch der Eid seine Heiligkeit verliere, daß in vielen Fällen gar kein Privatrecht verletzt wird oder doch diese Verletzung geringfügig ist, während die Betrachtung des Meineides, als Verletzung der öffentlichen Treue und des Glaubens, zu ebenso richtigen als konsequenten Ansichten führte. – Auf ähnliche Art stellte man den Ehebruch entweder als eine Art des Betruges oder als Verletzung des ehelichen Vertrages auf und kam dadurch allmählich zu einer gewissen frivolen Ansicht dieses Verbrechens, auf welches eine Strafe gar nicht paßte, wenn beide Ehegatten, schamlos genug, in öffentlichen Ehebrüchen lebten und sich daher nicht betrogen, vielmehr wechselseitig auf ihr Forderungsrecht auf Treue verzichteten. [...] [121] [...] 2) Dies Aufstellen unter allgemeinen Gesichtspunkten nötigte auch die Kompendienschreiber, Lehrer und Gesetzgeber, manche Verbrechen so zerstreut und zerstückelt vorzutragen, daß die klare Übersicht notwendig leiden mußte und die Richter das Verbrechen, wie die membra disiecta poetae, zusammensuchen mußten. Den Beweis davon liefert die Lehre vom Betruge. Wollte man dies vielgestaltig vorkommende Verbrechen unter den Privatverbrechen vortragen, so sah man, daß viele Fälle unbestraft bleiben mußten, bei welchen doch nur der dem öffentlichen Verhältnisse zugehende [122] Schaden zu berücksichtigen war; man mußte daher das Verbrechen bei den öffentlichen und bei den Privatverbrechen vortragen; bei den letzteren aber, die nach den Rechten klassifiziert wurden, kam man wieder in Verlegenheit, denn es gab Falsa als Verletzungen des Rechts auf Eigentum, andere, die den Familienstand, und andere, die die Ehre beeinträchtigen, es blieb also nichts übrig, als unter allen diesen verschiedenen Gesichtspunkten, daher zerstreut genug, das Verbrechen des Betruges aufzuführen. 3) Noch in schlimmere Lage kam aber durch die Forderung der doktrinellen Stellung der Gesetzgeber, wenn er einzelne Arten eines Verbrechens, auf welches, im Ganzen betrachtet, der gewählte Gesichtspunkt wohl paßte, im Gesetzbuche aufstellen wollte. Aufgestellt aber mußten sie werden, wenn nicht der Fall straflos bleiben sollte. Die Folge war, daß man gerade mit Verletzung aller logischen Regeln das Verbrechen bei einem anderen, welches, dem Namen nach, mit dem aufzustellenden Ähnlichkeit hatte, einschieben mußte. Zwei merkwürdige Beispiele liefern die Blutschande und die Brandstiftung. Man hatte einmal an dem Gesichtspunkte Wohlgefallen, die Verführung der Deszendenten von ihren Aszendenten zur Unzucht (also eine Art der Blutschande) unter dem Gesichtspunkte des Mißbrauches der Privatgewalt aufzustellen; der Gesichtspunkt paßte, da die Aszendenten in solchen Fällen gewöhnlich doch die ihnen anvertraute Gewalt mißbrauchen und dadurch die Befriedigung ihrer Lüste möglich machen. Allein noch existierte eine Art von Blutschande, nämlich die unter Geschwistern vorkommende; wo sollte nun diese aufgestellt werden, da man
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den Fall doch nicht straflos lassen wollte? Es blieb also nichts übrig, als den Fall nebenher, [123] wenn man ohnehin von der Blutschande der Aszendenten an den Abkömmlingen sprach, mit zu behandeln, obwohl der allgemeine Gesichtspunkt, unter welchen der Fall gestellt war, darauf nicht paßte. – Bei dem Verbrechen der Brandstiftung hielt man es für vorzüglich zweckmäßig, dies Verbrechen unter den gemeingefährlichen Beschädigungen aufzustellen, und in den meisten Fällen war der Gesichtspunkt richtig. Allein, sollte man denjenigen, welcher ein ganz einsam stehendes, durchaus keinem anderen fremden Eigentume nahes Gebäude seines Gegners anzündet, als straflos erkennen? Unter den Gesichtspunkt der Gemeingefährlichkeit paßte der Fall nicht, er mußte aber doch bestraft und daher in dem Gesetzbuche untergebracht werden, und so war man genötigt, diesen Fall bei der Brandstiftung aufzustellen und, ungeachtet ein allgemeiner Begriff und ein das Merkmal der Gemeingefährlichkeit in sich aufnehmender Tatbestand der Brandstiftung vorgeschrieben war, doch auch die individuelle Beschädigung als Art der gemeingefährlichen aufzuführen. 4) Besonders wirkte dies Aufstellen der Verbrechen unter allgemeinen Gesichtspunkten nachteilig auf die Richter und ihre Auslegung. Der Gesichtspunkt, welchen das Gesetz aufstellte, war der oberste Leitstern für die Interpretation. Mochte die grammatische und logische Auslegung ein ganz anderes Resultat fordern, genug, der Richter durfte nicht von dem vorgezeichneten Grundsatze abgehen; die Folge war, daß man Handlungen, die unfehlbar subsumiert werden sollten, entweder straflos erkennen oder eine wahre juristische Notzucht anwenden mußte, um sie doch mit Strafe zu belegen. Die Chronique scandaleuse der Gerichtshöfe könnte Beispiele genug dazu liefern; nur zwei mögen [124] statt vieler hinreichen. Der Meineid war unter den Privatverbrechen, und zwar unter den Arten des Betrugs, wozu Schaden gehörte, aufgestellt. Wenn nun jemand als Zeuge einen falschen Eid aus Mitleiden, oder durch vieles Bitten des Inquisiten bewogen, in Kriminalsachen zum Vorteile des Angeschuldigten ablegte, z.B. beschwor, daß er von dem Verbrecher nichts wisse oder daß der Inkulpat an einem ganz anderen, vom Orte des Verbrechens entfernten Orte gewesen sei, so sollte nach konsequenter Auslegung der Fall straflos sein, denn zum Schaden des Inkulpaten war ja nicht geschworen, und der Meineid war ein Privatverbrechen, also nur der Fall strafbar, wo zum Schaden des anderen geschworen wurde. Wollte man aber doch strafen, so mußte man auf jede mögliche Art sich quälen, um die Zulässigkeit der Strafe zu deduzieren. – Bei der Blutschande stellte man, wie schon bemerkt, den Gesichtspunkt der Verführung des Deszendenten vom Aszendenten auf und dehnte ihn auch auf Stiefeltern und Stiefkinder aus. Wenn nun, wie der Fall bereits von einem Rezensenten angedeutet ist, ein alter Mann ein junges, unerfahrenes, vielleicht im Kloster erzogenes Mädchen heiratet und der in den Künsten der Verführung gewandte liederliche Sohn dieses Mannes mit seiner jungen Stiefmutter, die er planmäßig verführte, Blutschande treibt, wer ist von beiden strafbar? Die Stiefmutter muß als Verführerin nach dem Gesetze präsumiert werden, da nur bei ihr der gesetzlich angenommene Gesichtspunkt des Mißbrauchs einer Gewalt eintritt; von dem Sohne erwähnt das Gesetz nichts, er konnte im Sinne des Gesetzes nicht verführen und kann daher auch nicht bestraft werden.
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5) Da man aber noch Verbrechen fand, die man unter die [125] Kategorien der Klassifikation im Lehr- und Gesetzbuche nicht unterschieben konnte, so mußte man auf dem Wege des Systematisierens, indem die Verbrechen doch einmal vorhanden waren, zu einem Auswege kommen, der viel Unheil gestiftet hat. Man hatte z.B. Religionsverbrechen, Kinderaussetzung, Sodomie u.dgl. Um ein Plätzchen für solche Verbrechen zu finden, half man sich durch Aufstellung von sogenannten vagen oder, wie andere taten, von Polizeivergehen. Die Folge war, daß 1) der Tatbestand auch wissenschaftlich vag und unbestimmt aufgestellt wurde und daß man Handlungen zu Verbrechen machte, die nicht dahin gehörten; so dehnte man z.B. die Kinderaussetzung aus und machte daraus ein durch Wegsetzung und Verlassung gebrechlicher Personen von ihren verpflichteten Schützern und Aufsehern zu begehendes Verbrechen. 2) Es war auch störend, wenn man von Polizeivergehen sprach und dann anführen mußte, daß sie das Gesetz mit dem Tode strafe. Wem kann der auffallende Widerspruch entgehen – Todesstrafe für ein Polizeivergehen! 3) Es kamen aber auch durch solche Versuche gewisse Modeansichten in die Jurisprudenz und die Gesetzgebung, indem man sich daran gewöhnte, solche Handlungen, z.B. Sodomie, Kuppelei als Polizeivergehen, [126] d.h. als sehr geringfügige Übertretungen zu betrachten, und so zuletzt ihre Straflosigkeit in den Strafgesetzbüchern bewirkte. [127] III. Zu den tadelnswürdigsten und gefährlichsten aller Fehler gehörte aber das Streben der Rechtslehrer und Gesetzgeber, die Willkür der Richter, wie sie es nannten, zu beschränken und möglichst absolut bestimmte Strafgesetze zu geben. Verführerisch und blendend waren die Gründe, welche die ängstliche Furcht vor der Richtergewalt hervorbrachten. Vor allem war es die Ansicht, nach welcher man Gesetz und Recht als bloßes Erzeugnis gesetzgeberischer Willkür betrachtete und, losschälend das Recht von allen Banden, durch welche dasselbe, aller trennenden Versuche ungeachtet, immer mit der Moral zusammenhängen wird, die würdige Entstehung des Rechtes aus den Verhältnissen, Gewohnheiten und Sitten des Volkes verkannte. Eine solche Ansicht, welche notwendig den Richter als Sklaven des Gesetzes an den strengen Buchstaben desselben fesselte, mußte um so fester wurzeln, als selbst aus Gründen, die eine verderbliche Politik erzeugte, die Gesetzgeber in den Richtern und im Volke ihre gefährlichen Nebenbuhler erblickten. Die ewige Wahrheit, daß das Recht volkstümlich sein und aus dem Volke sich entwickeln müsse, daß jedoch erst die Jurisprudenz ein dem Volke passendes Recht geben könne, konnten die besorgten Gesetzgeber doch nicht ganz überhören; es blieb daher nichts übrig, als möglichst die Nebenbuhler zu unterdrücken und das Monopol der Rechtsbildung sich zuzuschreiben. Kam nun dazu noch ein bei manchen Rechtslehrern und Gesetzgebern gewiß aus guter Absicht, bei manchen andern dagegen aus mißverstandener Ansicht [128] von der Stellung des Gesetzgebers stammender Glaube, daß man nur viel regieren und für alle möglichen Fälle Vorschriften geben müsse, damit nicht unter dem Scheine richterlicher Auslegung eine dem Willen des Gesetzgebers nicht ganz gemäße Entscheidung gegeben würde, so schien der höchste aller Vorzüge eines Gesetzbuchs Vollständigkeit zu sein.
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Im Kriminalrechte mußte diese Ansicht um so mehr noch Eingang finden, als die allmählich herrschenden Theorien vorzüglich der Abschreckung dieser Meinung günstig waren. Die Hoffnung, durch das Gesetz vom Verbrechen abschrecken zu können, verleitete zu dem Versuche, für jeden einzelnen Fall möglichst das Strafübel voraus zu verkündigen; nach solcher Ansicht durfte den Richtern nichts überlassen werden, da der Zweck der Strafe um so besser erreicht schien, je mehr die Strafdrohung ins Detail ging. Unverdächtig und gerade von den achtungswürdigsten deutschen Juristen, welche diese Theorie verteidigten, mit redlichster Absicht ausgesprochen, wurde nun der Satz aufgestellt, daß die richterliche Willkür gezügelt und möglichst ihr vorgebeugt werden müßte. Angeführte Beispiele von Mißbräuchen der richterlichen Gewalt bewirkten noch mehr die Verbreitung dieser Ansicht, bis sie zuletzt einen allgemeinen Sieg erfocht und ihn geltend machte, als es zur Abfassung peinlicher Gesetzbücher kam. Es war ein unglückliches Verkennen des wahren Verhältnisses des Richters zum Gesetze, welches diese Meinung begünstigte, und sie war auf dem Gebiete des Kriminalrechts noch weniger zu rechtfertigen, als gerade dem Kriminalrichter eine Würde und Selbständigkeit bei der Gesetzesanwendung zugesichert ist, die alle Versuche der Gesetzgeber an der [129] Kraft der Wahrheit scheitern macht und, wenn eine herrische Macht doch die Ansicht zu erzwingen sucht, nur geistlose Richter, die ihr Amt anekelt, hervorbringt oder den Herrscher nötigt, durch eine Masse von Erläuterungen, Novellen, Zusätzen und dgl. die Richter zu binden und die Ehre des kaum geschaffenen Gesetzbuches zu stürzen. Es kann dem Verfasser nicht einfallen, die Behauptung mancher Juristen zu rechtfertigen, daß es gar keiner bestimmten Strafgesetze bedürfe, oder der Meinung J. Craigs beizutreten, welcher verlangt, daß die Strafe nur durch das von keinem Gesetze gebundene Ermessen der Geschworenen ausgeteilt werden soll; aber unverkennbare Wahrheit ist es auch, daß es ein fruchtloses Beginnen sei, die Erscheinungen des vielgestaltigen Lebens zu erschöpfen und die Formen, unter welchen menschliche Leidenschaften sich ihre Befriedigung suchen, voraus zu bestimmen, vorzudenken gleichsam einer ganzen Generation, und die Richter zu fesseln. Schon das nächste Jahr würde diesen nach Vollständigkeit haschenden Gesetzgeber von der Nichtigkeit eines Versuches belehren, und die Quelle der Gesetzgebung dürfte nie zu fließen aufhören. Das wahre Verhältnis des Richters bei der Gesetzesanwendung und die unaufhaltsam fortschreitende Bildung macht es selbst unmöglich, den Richter zu binden. Die Aufgabe des Richters, jede einzelne Tat und ihr Zusammentreffen mit dem gesetzlich angegebenen Tatbestande zu bestimmen, vorzüglich aber die Strafwürdigkeit und das Maß derselben bei jedem Verbrecher zu finden und das Urteil der Zurechnung auszusprechen, macht ihn abhängig von ärztlichen und psychologischen Entdeckungen. Ihnen gehört [130] die durch neue Forschungen entwickelte Ansicht von der Unzuverlässigkeit der Lungenprobe an; der Richter benützt, wenn auch der Gesetzgeber noch gar keine Notiz genommen hat, die neue Entdeckung bei der Frage über das Dasein des Merkmals der lebendigen Geburt beim Kindermorde. Die durch den Eifer der Psychologen allmählich gelungene Bearbeitung der Krankheiten des menschlichen Geistes macht den Kriminalrichter mit neuen Krankheiten bekannt, neue Aufhebungsgründe der Zurechnung ergeben sich da-
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durch für den Richter, und Fälle, an die der Gesetzgeber nie gedacht hat, auf welche keines seiner Gesetze paßt, nötigen den Richter, sich selbst Recht zu suchen und die Erfahrung anzuwenden. Die Wissenschaft und die damit fortschreitende richterliche Praxis ist es, welche die Gesetzgebung ihr erst vorarbeitend bereichert und an jeder Entdeckung teilnimmt, sie wenn auch nicht voreilig als unbedingt wahr anerkennt, aber doch zur Vorsicht sich auffordern läßt. Wenn in neuerer Zeit uns Ärzte auf eine bei Gebärenden und Kindermörderinnen so häufig vorkommende, alle Zurechnung aufhebende Krankheit aufmerksam machen, wenn eine andere Untersuchung lehrt, daß nicht selten bei Brandstifterinnen [131] eine eigene Geisteskrankheit, eine wahre Art von stiller Manie das Verbrechen hervorbringt, so wird der bessere Richter durch jede solche Bemerkung in Fällen, die in seiner Praxis sich darauf beziehen, sich bekehren lassen und mit gedoppelter Vorsicht prüfen. Kann die Gesetzgebung auf alle diese Fälle denken, kann sie alle Entdeckungen der rastlos fortschreitenden Wissenschaft wie im Zauberspiegel der Zukunft voraussehen und das Leben in seiner Fülle einbannen in das Buch? Kann sie aber dies nicht, so verbanne sie das sie nicht ehrende Mißtrauen gegen die Richter und höre die Folgerungen, zu welchen die Konsequenz sie treiben wird. Sobald das Streben, den Richter möglichst zu binden und seine Willkür, wie man sagt, zu beschränken, ausgesprochen wird, ist es 1) notwendige Folge, unumstößliche allgemeine Regeln der Gesetzesanwendung zu geben und streng mathematisch vorzuschreiben, wie die Strafe in allen Fällen zu berechnen ist. Mag auch (und wer weiß nicht, daß kein Fall dem anderen gleiche?) die Strafe noch so unpassend im einzelnen Falle sein, das Gesetz spricht einmal, und kein Tag kann von der Strafe abgehen; jeder Verbrecher kann sich, wie der Käufer in der Bude, wenn die Polizeitaxe eingeführt ist, seine Strafe genau auf den Tag der Straftaxordnung berechnen. Der Gehilfe leidet dreiviertel von der Strafe, die den Urheber trifft, das versuchte Verbrechen ein Sechstel oder ein Achtel weniger als das vollendete; sind zwei Qualifikationen da, so gibt es ein achtjähriges, bei drei ein zwölfjähriges Zuchthaus. Die Vorschrift ist einfach, und wenn der Richter nur gut rechnen kann, so ist er trefflich zu seinem Amte und muß mit blutendem Herzen die Strafe aussprechen, welche er für durchaus unpassend erkennt. [132] 2) Auf diesem Wege kam man auch zur Trennung der absolut bestimmten und relativ unbestimmten Strafgesetze und dadurch zu einem auffallenden Widerspruche bei der Strafanwendung. Bei der Anwendung der relativ unbestimmten Strafgesetze soll der Richter, der zwischen Maximum und Minimum der Strafe zu wählen hat, nach den vorgeschriebenen Strafausmessungsgründen die Strafen unter oder über das Medium setzen. Die Not, welche den Verbrecher antrieb, die Verführung sind danach Strafminderungsgründe; bei der Anwendung der absolut bestimmten Strafgesetze ist dagegen dem Richter keine solche Abweichung vom Strafquantum aus diesen Gründen gestattet. Denke man sich nun, daß der dritte Grad des Raubes durch ein absolut bestimmtes Strafgesetz mit Zuchthaus auf unbestimmte Zeit, der zweite Grad mit einem relativ unbestimmten (8–12 Jahre) bedroht ist; A begeht nun einen Raub dritten, B einen des zweiten Grades. Beide haben in höchster Not und verführt durch andere das Verbrechen verübt; bei A entschuldigt das nicht, was bei B beträchtlich die Strafe vermindert. Kaum dürfte man darin Konsequenz finden. [133]
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3) Dies bisher gerügte Streben brachte auch die Rechtsgelehrten und die durch diese verführten Gesetzgeber dazu, eine Reihe von Vermutungen anzunehmen, um das Schwanken des Richters zu verhindern. Eine solche Furcht vor dem Richter war es, die einst die Vermutung gewisser kritischer Tage begründete, nach welcher man den Tod des Verwundeten, wenn er in bestimmter Zeit erfolgte, dem Beschädiger zurechnete; in diese Klasse gehört die gefährlichste aller Vermutungen, die des Dolus, und eine Reihe anderer in unseren Gesetzbüchern vorkommender Präsumtionen. Die Folge derselben konnte nur Ungerechtigkeit in allen Fällen sein, in welchen die trügliche Vermutung nicht paßte, und der zwar gnädig gestattete Gegenbeweis war ein schwaches, der provocatio ad vallem Josaphat oft ähnliches Schutzmittel für die Unschuld. 4) Der einmal betretene Weg führte aber noch weiter; die Besorgnis, daß sich die Richter doch irren könnten, schien es dem Gesetzgeber notwendig zu machen, die Richter möglichst davor zu bewahren und lieber streng mathematisch, also nach Zahlen die Rücksichten der Strafanwendung zu bestimmen. Da man glaubte, daß ein Richter vielleicht doch nicht wissen könnte, wann ein Kind neu geboren sei, so [134] wurde ihm vorgeschrieben, daß ein Kind, welches noch nicht 24 Stunden oder, nach einem anderen Gesetzbuche, noch nicht drei Tage alt ist, ein neugeborenes sei; da ein Zweifel entstehen konnte, wieviel Menschen zum Verbrechen des Aufruhrs gehörten, so wurde die heilige Zahl zehn vorgeschrieben. Mochte auch nur ein Viertelstündchen den Unterschied machen, die Mutter, die ihr Kind, welches eine Stunde über 3 Tage alt war, tötete, war Verwandtenmörderin und litt die Todesstrafe, während die Mutter, die ein paar Stunden früher ihr Kind mordete, nur als Kindermörderin die Zuchthausstrafe nach dem Gesetze verschuldete. Die Verbrechen wurden möglichst genau nach Zahlen in Grade geteilt, und wer jemanden verwundete, der 30 Tage an den Folgen der Wunde krank lag, war Verbrecher, verlor seine höhere Ehre und litt schwere Strafe, während ein anderer, welcher genau die nämliche Wunde dem B zufügte, der aber am 28. Tage als gesund vom Arzt erklärt war, nur das Vergehen der Körperverletzung verübte, die höhere Ehre behielt und weit geringere Strafe litt. Man vergaß, daß durch alle diese Versuche die Strafe nur vom Zufalle abhängig gemacht wurde und so auf keinen gerechten Maßstab sich gründete; denn Zufall war es, ob die Krankheit 9 oder 30 Tage dauerte, und zwar ein vom Wetter, von der Laune des Arztes abhängiger; eine Viertelstunde veränderte bei der Körperverletzung, ein Groschen bei dem Diebstahle die Strafe. Wer jemanden 24 Stunden seiner Freiheit beraubte, litt ein Jahr, wer eine Viertelstunde früher den Eingesperrten entließ, nur leichte Vergehensstrafe. [135] [...] Man mußte zuletzt – und nun darf man wohl glauben, daß der Versuch zum Extreme gekommen ist und daß daher die Ansicht nicht lange mehr dauert – zu dem alten Dezimieren kommen. Daher nach dem russischen Kriminalentwurfe im Falle, wenn bei einer im Raufhandel erfolgten Tötung der wahre Totschläger nicht auszumitteln ist, der fünfte, wenn die Zahl der Teilnehmer fünf bis zwanzig betrug, der zehnte, wenn es über zwanzig waren, mit der Strafe des Totschlags belegt werden soll. 5) So entstand endlich auch das Streben, für jeden möglichen Fall im Gesetzbuche eine Bestimmung zu geben; man bemühte sich oft, die kaum denkbaren Fälle
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aufzufinden und für andere, die zwar in der Form verschieden, aber von jedem Richter, dem man gesunden Menschenverstand und Gesetzeskenntnis zutraut, leicht unter ein Strafgesetz zu subsumieren waren, Vorschriften zu erlassen, so daß unsere Gesetzbücher nicht selten wie Kuriositätenkabinette ausse- [136] hen. Betrachte man, wenn man Beispiele verlangt, nur den Entwurf des achtungswürdigen Erhart für das Königreich Sachsen! Wenn z.B. Erhart ein zehnjähriges Zuchthaus dem droht, welcher bei einem nächtlichen Einsteigen verursacht, daß ein Mensch durch Schrecken oder Angst getötet wirt; wenn er für jeden Fall der Körperverletzung die Strafe danach abstuft, ob der Kopf, und zwar mit oder ohne Verletzung des Hirnschädels, oder die Brust verwundet oder eine Blutunterlaufung verursacht worden; wenn er sogar ein eigenes Verbrechen bei demjenigen statuiert, welcher Weibspersonen zur Duldung unzüchtiger Handlungen nötigt, die auf die Befriedigung der Geschlechtslust keine unmittelbare Beziehung haben; wenn er auch für denjenigen die Strafe angibt, der sich in eine fremde Wohnung eindrängt, um die Bewohner zum Scherz zu erschrecken (also als Maske auch); wenn er ein eigenes Verbrechen daraus macht, wenn jemand in das Roggenmehl Haferoder Erbsenmehl mischt; wenn er selbst dem Falle eine besondere Strafe droht, wenn die Ehefrau, mit der man Ehebruch treibt, in einem Alter ist, in welchem sie nach dem gewöhnlichen Laufe der Natur nicht mehr Kinder zeugen kann, so muß man annehmen, daß der Verfasser von den Richtern, für welche seine Gesetze passen sollen, die schlimmste Meinung hat und ihnen die Kunst der Auslegung gänzlich abspricht. [137] IV. Kaum weniger als einer der bisher gerügten Fehler schadete das sorgfältige Haschen nach einem gewissen Strafprinzipe. Es war eine wohl begreifliche und an sich höchst achtungswürdige Folge des rege gewordenen philosophischen Geistes und einer wissenschaftlichen Bildung, daß man, auch auf dem Gebiete des Kriminalrechts den Forderungen der nach Einheit strebenden Wissenschaft treu, einen höchsten Grundsatz des Strafrechts zu finden sich bemühte. Dies Suchen aber führte bald weiter, man verwechselte Untersuchungen über den Rechtsgrund, über den Zweck und über die Absicht der Strafe und fühlte sich glücklich, wenn man einen neuen Namen einer neuen Straftheorie erfand. Weniger um die praktische Ausbildung des Kriminalrechts und um eine richtige Auslegung der vorhandenen Gesetze auf dem einzig möglichen, dem historischen Wege bekümmert, fand man bloß in dem Anschließen an ein gewisses sogenanntes Strafprinzip sein Heil; jeder, der im Kriminalfache irgendwie gelten wollte, mußte angeben können, zu welcher Sekte er gehöre. Wir leugnen nicht, daß durch dies wissenschaftliche Streben manche Irrtümer berichtigt wurden und daß ein innerer Zusammenhang und Konsequenz in das Kriminalrecht kam, aber verkennen kann auch kein Unparteiischer den vielfachen Schaden dieser rein philosophischen Behandlung des Kriminalrechts. 1) In bezug auf das Studium des gemeinen deutschen Rechts war es dies Streben, welches den verderblichen Glauben hervorbrachte, daß im römischen Rechte ein Strafprinzip in [138] unserm heutigen Sinne zu suchen sei; so wie jeder Theologe in der Bibel findet, was er hineinträgt, so fand jeder Kriminalist die Theorie, deren
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Anhänger er war, in dem römischen Rechtskörper, und wahrhaft lustig war es, wie ein Rechtslehrer die Abschreckungs-, ein anderer die Sicherungs- und ein dritter die Besserungstheorie im römischen Rechte fand. Vergessend, daß überhaupt das Altertum zu keiner solchen Tagesphilosophie der neueren Zeit gekommen ist, daß ein glücklicher praktischer Sinn die Römer vor jedem überflüssigen Räsonnement bewahrte, daß ihre Gesetze nicht, wie unsere heutigen, Produkte einer förmlich organisierten Gesetzesfabrik waren und daß über die Anwendung der Strafgesetze nur wenige von verschiedenen Juristen herstammende Aussprüche im römischen Rechte sich finden, betrachteten unsere Rechtslehrer jedes einzelne Strafgesetz des römischen Rechts oder der peinlichen Gerichtsordnung nicht als ein für sich bestehendes und aus sich und auf dem historischen Wege aus seiner Entstehung auszulegendes Gesetz, sondern sie legten willkürlich jedes Gesetz nach der Theorie oder dem Prinzipe aus, zu welcher sich jeder von ihnen bekannte. Unbekümmert um den Ausspruch des Gesetzes stellte ein Rechtslehrer die gute Gelegenheit zum Verbrechen als Schärfungsgrund, der zweite als Milderungsgrund auf, je nachdem sein angenommenes Strafprinzip es verlangte, jeder aber gab seine Behauptung als Ausspruch des gemeinen deutschen Kriminalrechts aus. Verzichtend auf die Ehre der scharfsinnigen Entwicklung und Auslegung des positiven Rechts, strebten die Kriminalisten nach dem Ruhme, Schöpfer einer neuen Gesetzgebung zu sein, dadurch aber ging [139] gründliche Gesetzeskenntnis unter; die positiven Normen verloren alle Haltung, die Rechtspflege verlor die Bestimmtheit der Quellen, und an die Stelle der rechtlichen und gesetzlichen Ansicht trat eine willkürliche ärztliche oder psychologische, und Schwarzenberg oder Karl der Fünfte möchten ihre Carolina ebensowenig in dem, was als gemeines Recht in den Kompendien verkauft wird, wieder erkennen, als Christus, wenn er die Welt betreten würde, seine christliche von ihm gestiftete Religion erkennen könnte: Die Jurisprudenz wurde mit einer Menge ganz unrichtiger, willkürlich aus einem oft erschlichenen Strafgrundsatze abgeleiteter Behauptungen angefüllt, die Verbrechen bekommen einen ihnen ganz fremdartigen Tatbestand, neue Verbrechen, die kein Gesetz dazu stempelte, wurden geschaffen und Verbrechen, die die Gesetze strenge bestraften, wurden beliebig ausgestrichen. Alle diese Behauptungen und Ansichten gingen allmählich auch in die neuen Gesetzbücher über und wurden dadurch gefährlich. 2) Bei den Streitigkeiten der Rechtslehrer über die Strafprinzipien war es ein gewöhnlich vorkommendes Mittel, absichtlich die Ansichten des Gegners lächerlich zu machen, seine Behauptungen zu verdrehen und ihm Worte unterzulegen, um dagegen Einwürfe vorzubringen. Die richtigsten, fruchtbarsten Ideen wurden durch solche Versuche [140] allmählich erschüttert und verloren ihr Gewicht; man wagte es gar nicht mehr, solche Sätze zu benützen, und die von den Gelehrten geleiteten Gesetzgeber entbehrten der Früchte derselben. Ein Beispiel statt vieler liefere die Abschreckungstheorie; man hatte sie herabgesetzt und die Sache so gedreht, als wenn es die Meinung gewesen wäre, bloß durch den Anblick der vollzogenen Strafen das Volk abzuschrecken, und die wahre Ansicht, daß durch die Anwendung der Strafe in den Bürgern die feste Uberzeugung von der Notwendigkeit des Gesetzes, die vielleicht unterdrückte Gesetzesachtung wieder belebt und der Glaube an den Ernst der Strafgerechtigkeit begründet werde, wurde
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verkannt und unterdrückt. Auf welche gemeine Weise wurde nicht auf ähnliche Art die wahre Ansicht der Sicherungstheorie entstellt und verächtlich gemacht! 3) Ging man aber, wie dies häufig geschah, mit dem Glauben, daß nur nach einer Strafrechtstheorie die Strafgesetze sich modeln müßten, an die Abfassung eines Strafgesetzbuches, so entstand daraus eine fürchterliche Konsequenz; und wir müssen dem gesunden Menschenverstande und einem nicht ganz schlummernden praktischen Sinne die Bewahrung vor den Extremen verdanken, zu welchen die Schule geführt hätte. Betrachtet man die Strafgesetzbücher, welche auch nach einem gewissen Strafprinzipe gearbeitet sind, so zeigt sich zum Glück bald, daß es mit der Konsequenz nicht so gar strenge gemeint war, und das System ist ein so weites, viel umfassendes, daß sehr gut zu dem nach der Sicherungstheorie bearbeiteten Gesetzbuche ein Anhänger der Wiedervergeltungstheorie die Motive und ein Freund der psychologischen Zwangstheorie einen doktrinellen Kommentar schreiben kann. [141] 4) Völlig aber kann eben das Spuken der Systemensucht in der Legislation nicht verkannt werden; vorzüglich war sie es, welche die Vernachlässigung der Kriminalpolitik bewirkte und den Glauben an die Möglichkeit eines allgemeinen, für alle Staaten zu bearbeitenden Gesetzbuches herbeiführte; so kam es, daß die einzelnen Teile nicht mit jener notwendigen Rücksicht auf den sittlichen, klimatischen, religiösen Zustand der Nation, nicht mit dem beständigen Hinblicke auf den bisherigen Rechtsstand und die Gewohnheiten bearbeitet wurden, daß man vielmehr die Forderung des obersten Prinzips als die höchste ansah und danach Strafgesetze gab. 5) Dieser Glaube an ein allein seligmachendes Strafprinzip war es, welcher eine andere dem Gesetzgeber so wichtige Wahrheit verdrängte. Unleugbar ist es, was Oerstedt so richtig bemerkt: „so wenig als das höchste Prinzip der Sittenlehre, verbunden mit einer richtig subsumierenden Urteilskraft, hinreicht, um ein System der Ethik zu begründen, sondern es dazu noch einer klaren und umfassenden Einsicht in das Wesen der Verhältnisse des Lebens bedarf, für welche die Ethik Gesetze geben soll, ebensowenig kann man mit dem Strafrechtsprinzipe allein etwas ausrichten, wenn man nicht zugleich von richtigen Begriffen über die rechtliche Ordnung, über die feindseligen Kräfte, die sich ihr widersetzen, und deren Gebrauch geleitet wird.“ Wahr ist es, daß, bei der Abfassung der Gesetzbücher, es auf die Mittelsätze im Systeme des Kriminalrechts viel mehr als auf den obersten Grundsatz ankommt. Diese Mittelsätze aber sind es gerade, auf welche die Doktrin am wenigsten Wert legte [142] und von welchen die Legislation am seltensten Gebrauch machte; daher findet sich in den meisten Gesetzbüchern keine sichere Ansicht über die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, über den Anfangspunkt der Strafbarkeit der Versuchshandlungen; über die Zurechnung und den Maßstab, um die Strafe und das Verbrechen in ein richtiges Verhältnis zu stellen, über die Grundsätze von der Zurechnung der Folgen u.dgl., und man bemerkt, daß man mit einem oft kaum begreiflichen Leichtsinne über diese Punkte hinweggeschlüpft und zu dem Glauben gekommen ist, daß mit einem Prinzipe des Strafrechts alles leicht geschehen sei. [143]
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V. Im Zusammenhange mit dem vorigen Fehler steht vorzüglich der Einfluß, welchen eine durch die philosophischen Untersuchungen über das Strafprinzip begründete Meinung auf die Doktrin und Legislation äußerte, – die Meinung nämlich, daß nur harte Strafen die zweckmäßigsten Mittel seien, um von Verbrechen abzuschrecken. Mit Unrecht hatte man, um diese Ansicht geltend zu machen, einen möglichen Nebenzweck des Strafgesetzes mit dem Hauptzweck der Strafe verwechselt und eine unrichtige Vorstellung von der menschlichen Handlungsweise zugrunde gelegt. Man schien zu vergessen, daß den menschlichen Handlungen nur in seltenen Fällen ein kaltes Abwägen der Gründe pro et contra vorausgehe, daß die gegenwärtige Lust an der Befriedigung der Begierde, die zum Verbrechen antreibt, weit alle auch noch so großen Vorstellungen von einem künftig möglicherweise zu fürchtenden, durch Klugheit aber vermeidlichen Strafübel übersteige. Geschichte, Erfahrung und die Kenntnis der menschlichen Natur widersprechen der Ansicht, daß nur harte Strafen von Verbrechen abschrecken. Hätte man die Erfahrung gefragt, so würde sie belehrt haben, daß an harte Strafen und an ihre Vollziehung niemand glaubt, weil jeder weiß, daß in die Länge ohne Grausamkeit solche Strafgesetze nicht gehalten werden können; daher auch jedes harte Strafgesetz die Versicherung einer baldigen Aufhebung in sich trägt. Wird die Strafe auch am Anfange vollzogen, [144] so fordert ihre Härte um so mehr zur Klugheit auf, das Verbrechen so zu verüben, daß keine Entdeckung zu fürchten ist, und jeder Bürger hält es für Pflicht, den Unglücklichen, den eine so harte Strafe treffen soll, zu retten; an eine Anzeige wäre nicht zu denken, da natürlich Scheu jeden Bürger abhielte, einer so grausamen Justiz einen Verbrecher in die Hände zu liefern; und selbst im Falle des Zeugnisses sucht jeder, weil er nicht beitragen mag, das harte Gesetz vollziehen zu helfen, so gut es möglich ist, zum Vorteile des Angeschuldigten auszusagen. Der Staat aber verliert nicht bloß den erwarteten Vorteil, vom Verbrechen abzuschrecken, sondern bewirkt durch seine harte Strafe, daß schwerere Verbrechen verübt werden, als wohl sonst der Fall gewesen sein möchte, da jeder, wenn er einmal weiß, daß die Strafe hart ausfalle, lieber mehr wagt und seine Lust durch ein größeres Verbrechen befriedigt, das auch die Mühe lohnte. Es war ein trauriges Verkennen einer naheliegen- [145] den Wahrheit, was die Rechtslehrer und Gesetzgeber irreführte; nicht die Härte der Strafen, sondern die Gewißheit, daß die im natürlichen Verhältnisse mit jedem Verbrechen stehende Strafe unvermeidlich den Verbrecher ereile, ist ein Abhaltungsmittel von Verbrechen. Daher hat der Kriminalprozeß eine vorzügliche Bedeutung für die Strafe, und die zweckmäßigste Einrichtung desselben, nach welcher jeder Schuldige am sichersten und schnellsten von seiner verdienten Strafe ereilt wird, ist die sicherste Bedingung der Wirksamkeit des Strafgesetzes. Der Glaube an die Kraft harter Strafen gab aber 1) unsern neueren Strafgesetzbüchern einen Charakter der Härte, den erst derjenige am besten bemerkt, der ein neues Gesetzbuch in seiner Anwendung beobachtet. Hatte ein Gesetzgeber die Aufgabe, ein gewisses Verbrechen künftig seltener zu machen, so fand er dies leicht, er belegte die Handlung mit einer möglichst harten Strafe und hoffte zuverlässig auf Abschreckung. Die Erfahrung hat, aus den zuvor angegebenen Gründen, das Gegenteil gelehrt, und in dem Lande, in welchem auf jeden Holzdiebstahl, auch wenn der Wert nur sechs Groschen betrug, oder auf eine Obstentwendung zur Nachtzeit, auch vom Werte zu
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einem Groschen, ein dreijähriges Gefängnis gesetzt war, wurde nach der Publikation des Gesetzes ebensoviel Holz und Obst gestohlen, als es früher der Fall war, bis die Gesetzgebung selbst zur Aufhebung ihres Gesetzes genötigt wurde. Denke man sich dazu noch unsere neueren, in hochstudierter, mit aller Mühe zusammengedrängter Sprache doktrinell abgefaßten Gesetzbücher, welche kaum der gelehrte Kriminalist versteht, [146] denke man sich die Gleichgültigkeit unserer Staaten in Ansehung der Publikation der Strafgesetze, und betrachte ein Land, in welchem bisher solche plötzlich hart bestraften Handlungen gar nicht oder nur sehr leicht bestraft wurden, so kann man ein hartes Gesetz, von dessen Dasein niemand etwas weiß und das die Bürger erst durch die Beispiele der Anwendung erfahren, nur ungerecht nennen. 2) Diese gepriesene Allmacht der harten Strafgesetze war es auch, welche die Ausdehnung des kriminellen Gebietes und die Ansicht hervorbrachte, daß man nur durch den Strafzwang alle feindseligen Kräfte, die sich der rechtlichen Ordnung widersetzen, bekämpfen könne. Fand ein Gesetzgeber irgendeine Handlung, die ihn vielleicht moralisch empörte oder deren Vorkommen dem Staate gefährlich schien, so glaubte man das einfachste Mittel gefunden zu haben, man stempelte die Handlung zu einem Verbrechen und bestrafte sie hart. Die Rechtsgelehrten hatten auch hier den Gesetzgebern vorgearbeitet und im törichten Wahne das gemeine Recht mit einer Reihe von Verbrechen angefüllt, für welche es kein Strafgesetz gab, die Richter folgten dieser Wut, überall Verbrechen zu sehen, und vergessend, was Michaelis sagt, daß solche Vervielfältigung der Strafgesetze heiligen Eifer ohne Kenntnis der Welt verrate, benutzten die Gesetzgeber das gepriesene System. Sich selbst ein niederschlagendes testimonium paupertatis ausstellend, die Nation herabwürdigend durch die Masse der Verbrechen, bemerkte man nicht, daß durch diese Vervielfältigung der Verbrechen die heilige notwendige Scheu vor dem ernsten Gebiete des Kriminellen sich verliere, wenn auch der Redlichste, aber Leichtsinnige, der sich bloß über eine Form hinwegsetzt, in die [147] Schranken treten muß, die nur dem verworfenen Verbrecher sich öffnen sollen; man schien nicht zu bemerken, daß der Staat sich eine Masse von Verbrechern großziehe, vor deren Menge er am Ende schaudert, daß er durch zu unkluges Hinausstoßen eines sonst braven, aber strauchelnden Bürgers in die Reihe der Verbrecher diesem die Bahn zu größeren Verbrechen erst eröffne, und daß zuletzt der Staat sich selbst wegen der Ablegung des Zeugnisses, wegen der Folgen der Strafe auf die Ehre u.dgl. schade. Man hatte auch hier, untreu den Belehrungen, welche die Geschichte gibt, eine naheliegende Wahrheit übersehen, die, daß ein wohlberechneter, auf ein genau zusammenhängendes Aktionensystem gegründeter Ziviljustizzwang viel sicherer die rechtliche Ordnung aufrechterhalten könne als der Strafzwang, der nur da eintreten darf, wenn kein anderes Mittel dem Staate zu Gebote steht. Daher beweist auch die Geschichte, daß die Strafgesetzgebung immer um so einfacher und auf weniger Verbrechen beschränkt war, je ausgebildeter und trefflicher die Zivilgesetzgebung war. Noch immer ist das System, welches die Römer bei ihren Aktionen kannten, das Ineinandergreifen ihrer Privatstrafklagen, Popularklagen u.a. unbenützt und unbefolgt geblieben; es blieb unbemerkt, daß durch Gewährung von Aktionen begangene Verletzungen viel sicherer und wegen des dabei eintretenden Zivilverfahrens viel leichter entdeckt und mit Strafen belegt werden könnten, deren Wirksamkeit um so zuverlässiger war, als sie
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mit der Grundtriebfeder der Mehrheit der Menschen, dem Eigennutze, zusammenhingen. Es kann leicht an einem [148] anderen Orte, an welchem das römische Strafsystem nächstens entwickelt werden soll, bewiesen werden, daß die Römer durch ihre Klagen und Privatstrafen bei Diebstahl, Stellionat, Selbsthilfe u.a. viel besser für die Privat- und öffentliche Sicherheit sorgten, als wir es mit unseren harten, auf dem Papiere prangenden, aber in drei Fällen, während sieben unbestraft bleiben, angewendeten Strafgesetzen vermögen. VI. Noch darf ein mit dem eben bemerkten in Verbindung stehender Fehler nicht verschwiegen werden, welcher auf das unrichtige, von unseren Gesetzbüchern zugrunde gelegte Strafmaß sich bezieht, bei dessen Vergleichung man bald sieht, daß die Gesetzgeber mehr von lange dauernden als von kürzeren, aber dagegen intensiv strengeren Gefängnisstrafen Heil erwarten. Daher wird schon in der Skala auf dem niedrigsten Punkte, von welchem man ausgeht, eine der Dauer nach strenge Strafe z.B. von einem Jahre zugrunde gelegt, und danach erst wird in den höheren Graden gesteigert; auf gleiche Weise wird auch den Richtern bei der Schärfung der Strafen immer die Schärfung durch die Extension der Strafe vorgeschrieben. Diese Ansicht, welche auch schon lange zuvor von den Rechtsgelehrten gepredigt wurde, ehe sie in die Gesetzbücher überging, gründet sich 1) im allgemeinen auf den Glauben an die Wirksamkeit harter Strafen überhaupt und insbesondere auf die Meinung, daß lange dauernde Strafen am besten abschrecken. Diese Meinung wird aber bald durch die Erfahrung und das Studium der menschlichen Natur widerlegt, und ihr Feind ist die Macht der Gewohnheit. Diese, die dem armen geplagten Erdenpilger oft allein sein kümmerliches Dasein erträglich macht, in- [150] dem sie das Gefühl abstumpft gegen die Eindrücke, welche in ihrer Neuheit verwunden, und Gleichgültigkeit bei dem Kälteren hervorbringt, den lebhafteren Menschen aber lehrt, selbst aus dem traurigen Zustande Freuden sich zu suchen, übt ihr Recht auch über die Gefangenen aus, und die Strafe, die in den ersten Monaten eine Qual ist, wird zuletzt gleichgültig und ruhig ertragen und verliert ihren Stachel, woraus der für den Gesetzgeber wohl zu benützende Satz sich ergibt, daß lange dauernde Gefängnisstrafen am wenigsten wirksam sind. 2) Durch den einmal angenommenen Maßstab der Extension kommt aber in die Strafgesetzgebung eine nie zu rechtfertigende Härte. Da schon die Grundzahl, von der man ausgeht (z.B. als Minimum bei einem Diebstahl von 25 fl. ein Jahr), hoch steht, so wird der Gesetzgeber genötigt, für die höheren Grade des Verbrechens immer mehr die Strafe zu steigern und ihre Dauer zu vermehren; bei einem ganz einfachen Diebstahle von 1400 fl. kommt man schon zu einem achtjährigen Arbeitshause; treten noch Erschwerungen dazu, so kommen schon zwölf und bei vermehrten Qualifikationen leicht zwanzig Jahre heraus. Dieser Geist weht denn durch das ganze Gesetzbuch und nötigt den Gesetzgeber mit der Kraft der Konsequenz zu einer oft empörenden und doch unnützen Härte. 3) In diesem Grundsatze der Extension liegt auch der Grund der häufig unzweckmäßigen Einrichtung unserer Strafanstalten. Man leugnet nicht, daß die früheren Gefängnisse die Summe der Übel zu sehr vermehrten und der edeln Aufmerksamkeit Howards, Arnims u.a. wohl wert waren, aber unsere neueren Strafgefängnisse
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sind zu dem entgegengesetzten Extrem gekommen. Da wegen der langen Dauer der Stra- [151] fen zu viele Verbrecher in den Zuchthäusern sich häufen, so war der Gesetzgeber auf einer Seite genötigt, durch eine milde und sehr wenig drückende Einrichtung der Strafhäuser der langen Dauer der Strafe, auf die man soviel Wert legte, ein Gegengewicht zu setzen, gleichsam den Verbrecher zu entschädigen, und zugleich auf der anderen Seite die Strafanstalten so zu benützen, daß sie dem Staate nicht zu große Kosten verursachten. Dadurch kam man zu einer in einem empfindelnden Zeitalter ohnehin leicht begreiflichen sogenannten humanen und übertrieben milden Behandlung der Gefangenen, von welchen mancher in seiner Freiheit kaum so gute Tage genossen hatte, als in dem Zuchthause ihm wurden. Auf diesem Wege kam man auch dazu, die Strafhäuser zu lukrativen Fabrikanstalten zu machen, die Züchtlinge, die bald in die Launen ihres Meisters sich finden und ihm heucheln, als Aufseher zu benützen und eine eigene Republik darin zu organisieren. Dadurch aber schwand der Charakter der Strafe, die Züchtlinge fühlten keine Übel, die doch in der Strafe liegen sollen, das Gefühl des Verlustes der Freiheit stumpfte die Gewohnheit ab, und mancher Züchtling wünschte gar, nie die Strafanstalt zu verlassen, oder beging, wie die Fälle sich ereigneten, neue Verbrechen, um wieder in das Zuchthaus zu kommen. 4) Durch die lange Dauer der Strafen entzog man dem Staate und den Familien eine große Zahl arbeitsamer Hände, vorzüglich schwächte man den Landbau; gewöhnt an die Fabrikarbeiten der Strafhäuser, entwöhnt der schwereren Landarbeit, trat der auf zwei Jahre eingesperrte Holzdieb, Wildfrevler etc. unbrauchbar häufig in den Kreis der Seinigen zurück, nicht bloß physisch untüchtig, sondern 5) moralisch durch die Strafanstalt selbst, durch die Gesellschaft ver- [152] dorbener Verführer entartet und um so tiefer herabgesunken, je länger er im Strafhause war. Ein einfaches, trefflich durchzuführendes System hätte dagegen die Gesetzgebung gewonnen, wenn sie sich treu an den Satz gehalten hätte, daß ein intensiv strenges, passend eingerichtetes Gefängnis viel wirksamer sei als ein der Dauer nach noch einmal so hartes Gefängnis. Hätte man als die geringste Strafzahl für den Diebstahl als Verbrechen bei der Summe von 25 fl. (wenn man überhaupt nach Summen abstufen mag) ein monatliches Gefängnis gesetzt, so würde man zu acht Monaten da gekommen sein, wo der Gesetzgeber mit der Grundzahl von einem Jahre zu acht Jahren kommen mußte, und nach diesem Verhältnisse würden alle höheren Gradationen kräftig, aber nicht unmäßig hart bestraft worden sein. Hätte man dafür gesorgt, in den Strafanstalten die Verbrecher zweckmäßig zu beschäftigen, und vielleicht selbst durch körperliche Züchtigungen oder, besser noch, durch aufgelegtes Fasten, durch Entziehung der gewöhnlichen Kost etc. an den Gedächtnistagen des begangenen Verbrechens das Andenken an die Strafe lebhaft erhalten, so würde der Staat wirksamere Strafen gewonnen und alle jene Nachteile nicht gelitten haben, die unvermeidlich an das System der Extension der Strafen sich knüpfen. Möchten diese aus redlichem Eifer für die Ausbildung der Kriminalrechtswissenschaft und Legislation entstandenen Betrachtungen eine freundliche Aufnahme finden. Dürfen sie sich dieser erfreuen, so soll eine baldige Fortsetzung, zu welcher es am Stoffe nicht fehlt, folgen.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) Erster Teil. Das abstrakte Recht. [...] [172] Dritter Abschnitt. Das Unrecht. § 82. Im Vertrage ist das Recht an sich als ein Gesetztes, seine innere Allgemeinheit als ein Gemeinsames der Willkür und besonderen Willens. Diese Erscheinung des Rechts, in welchem dasselbe und sein wesentliches Dasein, der besondere Wille, unmittelbar, d.i. zufällig übereinstimmen, geht im Unrecht zum Schein fort – zur Entgegensetzung des Rechts an sich und des besonderen Willens, als in welchem es ein besonderes Recht wird. Die Wahrheit dieses Scheins aber ist, daß er nichtig ist und daß das Recht durch das Negieren dieser seiner Negation sich wiederherstellt, durch welchen Prozeß seiner Vermittlung, aus seiner Negation zu sich zurückzukehren, es sich als Wirkliches und Geltendes bestimmt, da es zuerst nur an sich und etwas Unmittelbares war. [173] Zusatz. Das Recht an sich, der allgemeine Wille, als wesentlich bestimmt durch den besonderen, ist in Beziehung auf ein Unwesentliches. Es ist das Verhältnis des Wesens zu seiner Erscheinung. Ist die Erscheinung auch dem Wesen gemäß, so ist sie von anderer Seite angesehen demselben wieder nicht gemäß, denn die Erscheinung ist die Stufe der Zufälligkeit, das Wesen in Beziehung auf Unwesentliches. Im Unrecht aber geht die Erscheinung zum Scheine fort. Schein ist Dasein, das dem Wesen unangemessen ist, das leere Abtrennen und Gesetztsein des Wesens, so daß an beiden der Unterschied als Verschiedenheit ist. Der Schein ist daher das Unwahre, welches verschwindet, indem es für sich sein will, und an diesem Verschwinden hat das Wesen sich als Wesen, das heißt als Macht des Scheins gezeigt. Das Wesen hat die Negation seiner negiert und ist so das Bekräftigte. Das Unrecht ist ein solcher Schein, und durch das Verschwinden desselben erhält das Recht die Bestimmung eines Festen und Geltenden. Was wir eben Wesen nannten, ist das Recht an sich, dem gegenüber der besondere Wille als unwahr sich aufhebt. Wenn es früher nur ein unmittelbares Sein hatte, so wird es jetzt wirklich, indem es aus seiner Negation zurückkehrt; denn Wirklichkeit ist das, was wirkt und sich in seinem Anderssein erhält, während das Unmittelbare noch für die Negation empfänglich ist.
§ 83. Das Recht, das als ein Besonderes und damit Mannigfaltiges gegen seine an sich seiende Allgemeinheit und Einfachheit [174] die Form eines Scheines erhält, ist ein solcher Schein teils an sich oder unmittelbar, teils wird es durch das Subjekt als Schein, teils schlechthin als nichtig gesetzt, – unbefangenes oder bürgerliches Unrecht, Betrug und Verbrechen. [...] Zusatz. Das Unrecht ist also der Schein des Wesens, der sich als selbständig setzt. Ist der Schein nur an sich und nicht auch für sich, das heißt, gilt mir das Unrecht für Recht, so ist T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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dasselbe hier unbefangen. Der Schein ist hier für das Recht, nicht aber für mich. Das zweite Unrecht ist der Betrug. Hier ist das Unrecht kein Schein für das Recht an sich, sondern es findet so statt, daß ich dem andern einen Schein vormache. Indem ich betrüge, ist für mich das Recht ein Schein. Im ersten Fall war für das Recht das Unrecht ein Schein. Im zweiten ist mir selber, als dem Unrecht, das Recht nur ein Schein. Das dritte Unrecht ist endlich das Verbrechen. Dies ist an sich und für mich ein Unrecht: ich will aber hier das Unrecht und gebrauche auch den Schein des Rechts nicht. Der andere, gegen den das Verbrechen geschieht, soll das an und für sich seiende Unrecht nicht als Recht ansehen. Der Unterschied zwischen Verbrechen und Betrug ist, daß in diesem in der Form des Tuns noch eine Anerkennung des Rechts liegt, was bei dem Verbrechen ebenfalls fehlt.
A. Unbefangenes Recht. § 84. Die Besitznahme [...] und der Vertrag für sich und nach ihren besonderen Arten, zunächst verschiedene Äußerungen und Folgen meines Willens überhaupt, sind, weil der Wille [175] das in sich Allgemeine ist, in Beziehung auf das Anerkennen anderer Rechtsgründe. In Ihrer Äußerlichkeit gegeneinander und Mannigfaltigkeit liegt es, daß sie in Beziehung auf eine und dieselbe Sache verschiedenen Personen angehören können, deren jede aus ihrem besonderen Rechtsgrunde die Sache für ihr Eigentum ansieht, womit Rechtskollisionen entstehen. [...] § 85. Diese Kollision, in der die Sache aus einem Rechtsgrunde angesprochen wird und welche die Sphäre des bürgerlichen Rechtsstreits ausmacht, enthält die Anerkennung des Rechts als des Allgemeinen und Entscheidenden, so daß die Sache dem gehören soll, der das Recht dazu hat. Der Streit betrifft nur die Subsumtion der Sache unter das Eigentum des einen oder des anderen; – ein schlechtweg negatives Urteil, wo im Prädikate des Meinigen nur das Besondere negiert wird. § 86. In den Parteien ist die Anerkennung des Rechts mit dem entgegengesetzten besonderen Interesse und ebensolcher Ansicht verbunden. Gegen diesen Schein tritt zugleich in ihm selbst (vorherg. §) das Recht an sich als vorgestellt und gefordert hervor. Es ist aber zunächst nur als ein Sollen, [176] weil der Wille noch nicht als ein solcher vorhanden ist, der sich von der Unmittelbarkeit des Interesses befreit, als besonderer den allgemeinen Willen zum Zwecke hätte; noch ist er hier als eine solche anerkannte Wirklichkeit bestimmt, gegen welche die Parteien auf ihre besondere Ansicht und Interesse Verzicht zu tun hätten. Zusatz. Was an sich Recht ist, hat einen bestimmten Grund, und mein Unrecht, das ich für Recht halte, verteidige ich auch aus irgendeinem Grunde. Es ist die Natur des Endlichen und Besonderen, Zufälligkeiten Raum zu geben; Kollisionen müssen also hier stattfinden, denn wir sind hier auf der Stufe des Endlichen. Dies erste Unrecht negiert nur den besonderen Willen, während das allgemeine Recht respektiert wird, es ist also das leichteste Unrecht überhaupt. Wenn ich sage, eine Rose sei nicht rot, so erkenne ich doch noch an, daß
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sie Farbe habe, ich leugne daher die Gattung nicht und negiere nur das Besondere, das Rote. Ebenso wird hier das Recht anerkannt; jede Person will das Rechte, und ihr soll nur werden, was das Rechte ist; ihr Unrecht besteht nur darin, daß sie das, was sie will, für das Rechte hält.
B. Betrug. § 87. Das Recht an sich, in seinem Unterschiede von dem Recht als dem besonderen und daseienden, ist als ein gefordertes zwar als das wesentliche bestimmt, aber darin zugleich nur ein gefordertes, nach dieser Seite etwas bloß Subjektives, damit Unwesentliches und bloß Scheinendes. So das Allgemeine von dem besonderen Willen zu einem nur Scheinenden, zunächst im Vertrage zur nur äußerlichen Gemeinsamkeit des Willens herabgesetzt, ist es der Betrug. [...] [177] [...] Zusatz: Der besondere Wille wird in dieser zweiten Stufe des Unrechts respektiert, aber das allgemeine Recht nicht. Im Betruge wird der besondere Wille nicht verletzt, indem dem Betrogenen aufgebürdet wird, daß ihm Recht geschehe. Das geforderte Recht ist also als ein subjektives und bloß scheinendes gesetzt, was den Betrug ausmacht.
§ 88. Im Vertrage erwerbe ich Eigentum um der besonderen Beschaffenheit der Sache willen und zugleich nach ihrer inneren Allgemeinheit teils nach dem Werte, teils als aus dem Eigentum des anderen. Durch die Willkür des anderen kann mir ein falscher Schein hierüber vorgebracht werden, so daß es mit dem Vertrage als beiderseitiger freier Einwilligung des Tausches über diese Sache, nach ihrer unmittelbaren Einzelheit, seine Richtigkeit hat, aber die Seite des an sich seienden Allgemeinen darin fehlt. [...] § 89. Daß gegen diese Annahme der Sache bloß als dieser und gegen den bloß meinenden sowie den willkürlichen Willen das Objektive oder Allgemeine teils als Wert erkennbar, teils als Recht geltend sei, teils die gegen das Recht subjektive Willkür aufgehoben werde, ist hier zunächst gleichfalls nur eine Forderung. Zusatz. Auf das bürgerliche und unbefangene Unrecht ist keine Strafe gesetzt, denn ich habe hier nichts gegen das Recht gewollt. [178] Beim Betruge hingegen treten Strafen ein, weil es sich hier um das Recht handelt, das verletzt ist.
C. Zwang und Verbrechen. § 90. Daß mein Wille im Eigentum sich in eine äußerliche Sache legt, darin liegt, daß er ebensosehr, als er in ihr reflektiert wird, an ihr ergriffen und unter die Notwendig-
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keit gesetzt wird. Er kann darin teils Gewalt überhaupt leiden, teils kann ihm durch die Gewalt zur Bedingung irgendeines Besitzes oder positiven Seins eine Aufopferung oder Handlung gemacht, Zwang angetan werden. [...] Zusatz. Das eigentliche Unrecht ist das Verbrechen, wo weder das Recht an sich noch das Recht, wie es mir scheint, respektiert wird, wo also beide Seiten, die objektive und die subjektive, verletzt sind.
§ 91. Als Lebendiges kann der Mensch wohl bezwungen, d.h. seine physische und sonst äußerliche Seite unter die Gewalt anderer gebracht, aber der freie Wille an und für sich nicht gezwungen werden [...], als nur sofern er sich selbst aus der Äußerlichkeit, an der er festgehalten wird, oder aus [179] deren Vorstellung nicht zurückzieht [...] Es kann nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will. [...] § 92. Weil der Wille, nur insofern er Dasein hat, Idee oder wirklich frei und das Dasein, in welches er sich gelegt hat, Sein der Freiheit ist, so zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst, als Äußerung eines Willens, welche die Äußerung oder Dasein eines Willens aufhebt. Gewalt oder Zwang ist daher, abstrakt genommen, unrechtlich. [...] § 93. Der Zwang hat davon, daß er sich in seinem Begriff zerstört, die reelle Darstellung darin, daß Zwang durch Zwang aufgehoben wird; er ist daher nicht nur bedingt rechtlich, sondern notwendig – nämlich als zweiter Zwang, der ein Aufheben des ersten Zwanges ist. [...] [180] [...] § 94. Das abstrakte Recht ist Zwangsrecht, weil das Unrecht gegen dasselbe eine Gewalt gegen das Dasein meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache ist, die Erhaltung dieses Daseins gegen die Gewalt hiermit selbst als eine äußerliche Handlung und eine jene erste aufhebende Gewalt ist. Das abstrakte oder strenge Recht sogleich von vornherein als ein Recht definieren, zu dem man zwingen dürfe, heißt es an einer Folge auffassen, welche erst auf dem Umwege des Unrechts eintritt. [...] [181] [...] Zusatz. Hier ist der Unterschied zwischen dem Rechtlichen und Moralischen hauptsächlich zu berücksichtigen. Bei dem Moralischen, das heißt bei der Reflexion in mich, ist auch eine Zweiheit, denn das Gute ist mir Zweck, und nach dieser Idee soll ich mich bestimmen. Das Dasein des Guten ist mein Entschluß, und ich verwirkliche dasselbe in mir; aber dieses Dasein ist ganz innerlich, und es kann daher kein Zwang stattfinden. Die Staatsgesetze können sich also auf die Gesinnung nicht erstrecken wollen, denn im Moralischen bin ich für mich selbst, und die Gewalt hat hier keinen Sinn.
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§ 95. Der erste Zwang als Gewalt von dem Freien ausgeübt, welche das Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinne, das Recht als Recht verletzt, ist Verbrechen, – ein negativ-unendliches Urteil in seinem vollständigen Sinne [...] [182] [...], durch welches nicht nur das Besondere, die Subsumtion einer Sache unter meinen Willen (§ 85), sondern zugleich das Allgemeine, Unendliche im Prädikate des Meinigen, die Rechtsfähigkeit, und zwar ohne die Vermittlung meiner Meinung (wie im Betrug; § 88) ebenso gegen diese negiert wird – die Sphäre des peinlichen Rechts. Das Recht, dessen Verletzung das Verbrechen ist, hat zwar bis hierher nur erst die Gestaltungen, die wir gesehen haben, das Verbrechen hiermit auch zunächst nur die auf diese Bestimmungen sich beziehende nähere Bedeutung. Aber das in diesen Formen Substantielle ist das Allgemeine, das in seiner weiteren Entwicklung und Gestaltung dasselbe bleibt und daher ebenso dessen Verletzung, das Verbrechen, seinem Begriffe nach. Den besonderen, weiter bestimmten Inhalt, z.B. in Meineid, Staatsverbrechen, Münz-, Wechselverfälschung usf., betrifft daher auch die im folgenden § zu berücksichtigende Bestimmung. [...] [183] [...]
§ 96. Insofern es der daseiende Wille ist, welcher allein verletzt werden kann, dieser aber im Dasein in die Sphäre eines quantitativen Umfangs sowie qualitativer Bestimmungen eingetreten, somit danach verschieden ist, so macht es ebenso einen Unterschied für die objektive Seite der Verbrechen aus, ob solches Dasein und dessen Bestimmtheit überhaupt in ihrem ganzen Umfang, hiermit in der ihrem Begriffe gleichen Unendlichkeit (wie in Mord, Sklaverei, Religionszwang usf.), oder nur nach einem Teile, sowie nach welcher qualitativen Bestimmung verletzt ist. Die stoische Ansicht, daß es nur eine Tugend und ein Laster gibt, die drakonische Gesetzgebung, die jedes Verbrechen mit dem Tode bestraft, wie die Rohheit der formellen Ehre, welche die unendliche Persönlichkeit in jede Verletzung legt, haben dies gemein, daß sie bei dem abstrakten Denken des freien Willens und der Persönlichkeit stehenbleiben und sie nicht in ihrem konkreten und bestimmten Dasein, das sie als Idee haben muß, nehmen. – Der Unterschied von Raub und Diebstahl bezieht sich auf das Qualitative, daß bei jenem mein Ich auch als [184] gegenwärtiges Bewußtsein, also als diese subjektive Unendlichkeit verletzt und persönliche Gewalt gegen mich verübt ist. – Manche qualitative Bestimmungen, wie die Gefährlichkeit für die öffentliche Sicherheit, haben in den weiter bestimmten Verhältnissen ihren Grund, aber sind auch öfters erst auf dem Umwege der Folgen statt aus dem Begriffe der Sache aufgefaßt; – wie eben das gefährlichere Verbrechen für sich, in seiner unmittelbaren Beschaffenheit, eine dem Umfange oder der Qualität nach schwerere Verletzung ist. – Die subjektive moralische Qualität bezieht sich auf den höheren Unterschied, inwiefern ein Ereignis und Tat überhaupt eine Handlung ist, und betrifft deren subjektive Natur selbst, wovon nachher. [...] [185] [...] Zusatz. Wie ein jedes Verbrechen zu bestrafen sei, läßt sich durch den Gedanken nicht angeben, sondern hierzu sind positive Bestimmungen notwendig. Durch das Fortschreiten der Bildung werden indessen die Ansichten über die Verbrechen milder, und man bestraft heutzutage lange nicht mehr so hart, als man es vor hundert Jahren getan. Nicht gerade die Verbrechen oder die Strafen sind es, die anders werden, aber ihr Verhältnis.
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§ 97. Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist. Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung jener Verletzung – die Wirklichkeit des Rechts, als seine sich mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung vermittelnde Notwendigkeit. Zusatz. Durch ein Verbrechen wird irgendetwas verändert, und die Sache existiert in dieser Veränderung; aber diese Existenz ist das Gegenteil ihrer selbst und insofern in sich nichtig. Das Nichtige ist dies, das Recht als Recht aufgehoben zu haben. Das Recht nämlich als Absolutes ist unaufhebbar, also ist die Äußerung des Verbrechens an sich nichtig, und diese Nichtigkeit ist das Wesen der Wirkung des Verbrechens. Was aber nichtig ist, muß sich als solches manifestieren, das heißt sich als selbst verletzbar hinstellen. Die Tat des Verbrechers ist nicht ein Erstes, Positives, zu welchem die Strafe als Negation käme, sondern ein Negatives, so daß die Strafe nur Negation der Negation ist. Das wirkliche Recht ist nun Aufhebung dieser Verletzung, das eben darin seine Gültigkeit zeigt und sich als ein notwendiges vermitteltes Dasein bewährt.
§ 98. Die Verletzung als nur an dem äußerlichen Dasein oder Besitze ist ein Übel, Schaden an irgendeiner Weise des Eigentums oder Vermögens; die Aufhebung der Verletzung als einer Beschädigung ist die zivile Genugtuung als Ersatz, insofern ein solcher überhaupt stattfinden kann. In dieser Seite der Genugtuung muß schon an die Stelle der qualitativen spezifischen Beschaffenheit des Schadens, insofern die Beschädigung eine Zerstörung und überhaupt unwiederherstellbar ist, die allgemeine Beschaffenheit derselben, als Wert, treten. [...] [187] [...]
§ 99. Die Verletzung aber, welche dem an sich seienden Willen (und zwar hiermit ebenso diesem Willen des Verletzers als des Verletzten und aller) widerfahren, hat an diesem an sich seienden Willen als solchem keine positive Existenz, sowenig als an dem bloßen Produkte. Für sich ist dieser an sich seiende Wille (das Recht, Gesetz an sich) vielmehr das nicht äußerlich Existierende und insofern das Unverletzbare. Ebenso ist die Verletzung für den besonderen Willen des Verletzten und der übrigen nur etwas Negatives. Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers. Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens also ist das Aufheben der Verbrechens, das sonst gelten würde und ist die Wiederherstellung des Rechts. Die Theorie der Strafe ist eine der Materien, die in der positiven Rechtswissenschaft neuerer Zeit am schlechtesten weggekommen sind, weil in dieser Theorie der Verstand nicht ausreicht, sondern es wesentlich auf den Begriff ankommt. – Wenn das Verbrechen und dessen Aufhebung, als welche sich weiterhin als Strafe bestimmt, nur als ein Übel überhaupt wird, so kann man es freilich als unvernünftig ansehen, ein Übel bloß deswegen zu wollen, weil schon ein anderes Übel vorhanden ist. (Klein, Grundsätze des peinlichen Rechts, § 9 f.). Dieser oberflächliche Charakter eines Übels wird in den verschiedenen Theorien über die Strafe der Verhütungs-, Abschreckungs-, Androhungs-, Besserungs u.s.w. Theorie, als das Erste vorausgesetzt, und was dagegen he-
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rauskommen soll, ist ebenso [188] oberflächlich als ein Gutes bestimmt. Es ist aber weder bloß um ein Übel, noch um dies oder jenes Gute zu tun, sondern es handelt sich bestimmt um Unrecht und um Gerechtigkeit. Durch jene oberflächlichen Gesichtspunkte aber wird die objektive Betrachtung der Gerechtigkeit, welche der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen ist, bei Seite gestellt, und es folgt von selbst, daß der moralische Gesichtspunkt, die subjektive Seite des Verbrechens, vermischt mit trivialen psychologischen Vorstellungen von den Reizen und der Stärke sinnlicher Triebfeder gegen die Vernunft, von psychologischem Zwang und Einwirkung auf die Vorstellung (als ob eine solche nicht durch die Freiheit ebenso wohl zu etwas nur Zufälligem herabgesetzt würde) – zum Wesentlichen wird. Die verschiedenen Rücksichten, welche zu der Strafe als Erscheinung und ihrer Beziehung auf das besondere Bewußtsein gehören und die Folgen auf die Vorstellung (abzuschrecken, zu bessern usf.) betreffen, sind an ihrer Stelle und zwar vornehmlich bloß in Rücksicht der Modalität der Strafe, wohl von wesentlicher Betrachtung, aber setzen die Begründung voraus, daß das Strafen an und für sich gerecht sei. In dieser Erörterung kommt es allein darauf an, daß das Verbrechen, und zwar nicht als die Hervorbringung eines Übels, sondern als Verletzung des Rechts als Rechts aufzuheben ist, und dann, welches die Existenz ist, die das Verbrechen hat und die aufzuheben ist; sie ist das wahrhafte Übel, das wegzuräumen ist, und worin sie liege, der wesentliche Punkt; solange die Begriffe hierüber nicht bestimmt erkannt sind, so lange muß Verwirrung in der Ansicht der Strafe herrschen. [...] [190] [...] Zusatz: Die Feuerbachische Straftheorie begründet die Strafe auf Androhung und meint, wenn jemand trotz derselben ein Verbrechen begehe, so müsse die Strafe erfolgen, weil sie der Verbrecher früher gekannt habe. Wie steht es aber mit der Rechtlichkeit der Drohung? Dieselbe setzt den Menschen als nicht Freien voraus, und will durch die Vorstellung eines Übels zwingen. Das Recht und die Gerechtigkeit müssen aber ihren Sitz in der Freiheit und im Willen haben, und nicht in der Unfreiheit, an welche sich die Drohung wendet. Es ist mit der Begründung der Strafe auf diese Weise, als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt. Aber die Drohung, die im Grunde den Menschen empören kann, daß er seine Freiheit gegen dieselbe beweist, stellt die Gerechtigkeit ganz beiseite. Der psychologische Zwang kann sich nur an den qualitativen und quantitativen Unterschied des Verbrechens beziehen, nicht auf die Natur des Verbrechens selbst, und die Gesetzbücher, die etwa aus dieser Lehre hervorgegangen sind, haben somit des eigentlichen Fundaments entbehrt.
§ 100. Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht, – als gerecht ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Daseyn seiner Freiheit, sein Recht –; sondern sie ist auch ein Recht an den Verbrecher selbst, d.i. in seinem daseienden Willen, in seiner Handlung gesetzt. Denn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also, als unter sein Recht, subsumiert werden darf. Beccaria hat dem Staate das Recht zur Todesstrafe bekanntlich aus dem Grunde abgesprochen, weil nicht prä- [191] sumiert werden könne, daß im gesellschaftlichen Vertrage die Einwilligung der Individuen, sich töten zu lassen, enthalten sei, vielmehr das Gegenteil angenommen werden müsse. Allein der Staat ist überhaupt nicht in Vertrag (s. § 75), noch ist der Schutz und die Sicherung des Lebens und Eigenthums der Individuen als Einzelner so unbedingt sein substantielles Wesen, vielmehr ist er das Höhere, welches dieses Leben und Eigenthum selbst auch in Anspruch nimmt und die Aufopfe-
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Zusatz: Was Beccaria verlangt, daß der Mensch nämlich seine Einwilligung zur Bestrafung geben müsse, ist ganz richtig, aber der Verbrecher erteilt sie schon durch seine Tat. Es ist ebensowohl die Natur des Verbrechens wie der eigene Wille des Verbrechers, daß die von ihm ausgehende Verletzung aufgehoben werde. Trotzdem hat diese Bemühung Beccarias, die Todesstrafe aufheben zu lassen, vorteilhafte Wirkungen hervorgebracht. Wenn auch weder Joseph II. noch die Franzosen die gänzliche Abschaffung derselben jemals haben durchsetzen können, so hat man doch einzusehen angefangen, was todeswürdige Verbrechen seien und was nicht. Die Todesstrafe ist dadurch seltener geworden, wie diese höchste Spitze der Strafe es auch verdient.
§ 101. Das Aufheben des Verbrechens ist insofern Wiedervergeltung, als sie dem Begriffe nach Verletzung der Verletzung ist und dem Dasein nach das Verbrechen einen bestimmten, qualitativen und quantitativen Umfang, hiermit auch dessen Negation als Dasein einen eben solchen hat. Diese auf dem Begriffe beruhende Identität ist aber nicht die Gleichheit in der spezifischen, sondern in der an sich seienden Beschaffenheit der Verletzung, – nach dem Werte derselben. Da in der gewöhnlichen Wissenschaft die Definition einer Bestimmung, hier der Strafe, aus der allgemeinen Vorstellung der psychologischen Erfahrung des Bewußtseins [193] genommen werden soll, so würde dies wohl zeigen, daß das allgemeine Gefühl der Völker und Individuen bei dem Verbrechen ist und gewesen ist, daß es Strafe verdiene und dem Verbrecher geschehen solle, wie er getan hat. Es ist nicht abzusehen, wie diese Wissenschaften, welche die Quelle ihrer Bestimmungen in der allgemeinen Vorstellung haben, das andere Mal einer solchen auch sogenannten allgemeinen Tatsache des Bewußtseins widersprechende Sätze annehmen. – Eine Hauptschwierigkeit hat aber die Bestimmung der Gleichheit in die Vorstellung der Wiedervergeltung hereingebracht; die Gerechtigkeit der Strafbestimmungen nach ihrer qualitativen und quantitativen Beschaffenheit ist aber ohnehin ein Späteres als das Substantielle der Sache selbst. Wenn man sich auch für dieses weitere Bestimmen nach anderen Prinzipien umsehen müßte als für das Allgemeine der Strafe, so bleibt dieses, was es ist. Allein der Begriff selbst muß überhaupt das Grundprinzip auch für das besondere enthalten. Diese Bestimmung des Begriffs ist aber eben jener Zusammenhang der Notwendigkeit, daß das Verbrechen, als der an sich nichtige Wille, somit seine Vernichtung, – die als Strafe erscheint – in sich selber enthält. Die innere Identität ist es, die am äußerlichen Dasein sich für den Verstand als Gleichheit reflektiert. Die qualitative und quantitative Beschaffenheit des Verbrechens und seines Aufhebens fällt nun in die Sphäre der Äußerlichkeit; in dieser ist ohnehin keine absolute Bestimmung möglich [...]; diese bleibt im Felde der Endlichkeit nur eine Forderung, die der Verstand immer mehr zu begrenzen hat, was
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von der höchsten Wichtigkeit ist, die aber ins Unendliche fortgeht und nur eine Annäherung zuläßt, die perennierend ist. – Übersieht man nicht nur diese Natur der Endlichkeit, sondern bleibt man auch vollends bei der abstrakten spezifischen Gleichheit stehen, so entsteht nicht nur eine unübersteigliche Schwierigkeit, die Strafen zu bestimmen (vollends wenn noch die Psychologie die Größe [194] der sinnlichen Triebfedern und die damit verbundene – wie man will – entweder um so größere Stärke des bösen Willens oder auch die um so geringere Stärke und Freiheit des Willens überhaupt herbeibringt), sondern es ist sehr leicht, die Wiedervergeltung der Strafe (als Diebstahl um Diebstahl, Raub um Raub, Aug um Aug, Zahn um Zahn, wobei man sich vollends den Täter als einäugig oder zahnlos vorstellen kann) als Absurdität darzustellen, mit der aber der Begriff nichts zu tun hat, sondern die allein jener herbeigebrachten spezifischen Gleichheit zuschulden kommt. Der Wert als das innere Gleiche von Sachen, die in ihrer Existenz spezifisch ganz verschieden sind, ist eine Bestimmung, die schon bei den Verträgen [...], ingleichen in der Zivilklage gegen Verbrechen (§ 95) vorkommt und wodurch die Vorstellung aus der unmittelbaren Beschaffenheit der Sache in das Allgemeine hinübergehoben wird. Bei dem Verbrechen, als in welchem das Unendliche der Tat die Grundbestimmung ist, verschwindet das bloß äußerlich Spezifische um so mehr, und die Gleichheit bleibt nur die Grundregel für das Wesentliche, was der Verbrecher verdient hat, aber nicht für die äußere spezifische Gestalt dieses Lohns. Nur nach der letzteren sind Diebstahl, Raub- und Geld-, Gefängnisstrafe usf. schlechthin Ungleiche, aber nach ihrem Werte, ihrer allgemeinen Eigenschaft, Verletzungen zu sein, sind sie Vergleichbare. Es ist dann, wie bemerkt, die Sache des Verstandes, die Annäherung an die Gleichheit dieses ihres Wertes zu suchen. Wird der an sich seiende Zusammenhang des Verbrechens und seiner Vernichtung und dann der Gedanke des Wertes und der Vergleichbarkeit beider nach dem Werte nicht gefaßt, so kann es dahin kommen, daß man (Klein, Grunds. des peinl. Rechts, § 9) in einer eigentlichen Strafe eine nur willkürliche Verbindung eines Übels mit einer unerlaubten Handlung sieht. [...] [196] [...] Zusatz. Die Wiedervergeltung ist der innere Zusammenhang und die Identität zweier Bestimmungen, die als verschieden erscheinen und auch eine verschiedene äußere Existenz gegeneinander haben. Indem dem Verbrecher vergolten wird, hat dies das Ansehen einer fremden Bestimmung, die ihm nicht angehört; aber die Strafe ist doch nur, wie wir gesehen haben, Manifestation des Verbrechens, das heißt die andere Hälfte, die die eine notwendig voraussetzt. Was die Wiedervergeltung zunächst gegen sich hat, ist, daß sie als etwas Unmoralisches, als Rache erscheint und daß sie so für ein Persönliches gelten kann. Aber nicht das Persönliche, sondern der Begriff führt die Wiedervergeltung selbst aus. „Die Rache ist mein“ sagt Gott in der Bibel, und wenn man in dem Worte Wiedervergeltung etwa die Vorstellung eines besonderen Beliebens des subjektiven Willens haben wollte, so muß gesagt werden, daß es nur die Umkehrung der Gestalt selbst des Verbrechens gegen sich bedeutet. Die Eumeniden schlafen, aber das Verbrechen weckt sie, und so ist es die eigene Tat, die sich geltend macht. Wenn nun bei der Vergeltung nicht auf spezifische Gleichheit gegangen werden kann, so ist dies doch anders beim Morde, worauf notwendig die Todesstrafe steht. Denn da das Leben der ganze Umfang des Daseins ist, so kann die Strafe nicht in einem Werte, den es dafür nicht gibt, sondern wiederum nur in der Entziehung des Lebens bestehen.
§ 102. Das Aufheben des Verbrechens ist in dieser Sphäre der Unmittelbarkeit des Rechts zunächst Rache, dem Inhalte nach gerecht, insofern sie Wiedervergeltung ist. Aber der Form nach ist sie die Handlung eines subjektiven Willens, der in jede geschehene Verletzung seine Unendlichkeit legen kann und dessen Gerechtigkeit
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daher überhaupt zufällig, so wie er auch für den andern nur als besonderer ist. Die Rache wird hierdurch, daß sie als positive Handlung eines besonderen Willens ist, eine neue Verletzung: sie verfällt als dieser Widerspruch in den Progreß ins Unendliche und erbt sich von Geschlechtern zu Geschlechtern ins Unbegrenzte fort. [197] Wo die Verbrechen nicht als crimina publica, sondern privata (wie bei den Juden, bei den Römern Diebstahl, Raub, bei den Engländern noch in einigem usf.) verfolgt und bestraft werden, hat die Strafe wenigstens noch einen Teil von Rache an sich. Von der Privatrache ist die Racheübung der Heroen, abenteuernder Ritter usf. verschieden, die in die Entstehung der Staaten fällt. [...] Zusatz. In einem Zustande der Gesellschaft, wo weder Richter noch Gesetze sind, hat die Strafe immer die Form der Rache, und diese bleibt insofern mangelhaft, als sie die Handlung eines subjektiven Willens, also nicht dem Inhalte gemäß ist. Die Personen des Gerichts sind zwar auch Personen, aber ihr Wille ist der allgemeine des Gesetzes, und sie wollen nichts in die Strafe hineinlegen, was nicht in der Natur der Sache sich vorfindet. Dagegen erscheint dem Verletzten das Unrecht nicht in seiner quantitativen und qualitativen Begrenzung, sondern nur als Unrecht überhaupt, und in der Vergeltung kann er sich übernehmen, was wieder zu neuem Unrecht führen würde. Bei ungebildeten Völkern ist die Rache eine unsterbliche, wie bei den Arabern, wo sie nur durch höhere Gewalt oder Unmöglichkeit der Ausübung unterdrückt werden kann, und in mehreren heutigen Gesetzgebungen ist noch ein Rest von Rache übriggeblieben, indem es den Individuen überlassen bleibt, ob sie eine Verletzung vor Gericht bringen wollen oder nicht.
§ 103. Die Forderung, daß dieser Widerspruch (wie der Widerspruch beim andern Unrecht [...]), der hier an der Art und Weise des Aufhebens des Unrechts vorhanden ist, aufgelöst sei, ist die Forderung einer vom subjektiven Interesse und Gestalt sowie von der Zufälligkeit der Macht befreiten, so nicht rächenden, sondern strafenden Gerechtigkeit. Darin liegt zunächst die Forderung eines Willens, der als [198] besonderer subjektiver Wille das Allgemeine als solches wolle. Dieser Begriff der Moralität aber ist nicht nur ein Gefordertes, sondern in dieser Bewegung selbst hervorgegangen. § 104. Übergang vom Recht in Moralität. Das Verbrechen und die rächende Gerechtigkeit stellt nämlich die Gestalt der Entwicklung des Willens als in die Unterscheidung des allgemeinen an sich seienden und des einzelnen, für sich gegen jenen seienden Willens hinausgegangen dar und ferner, daß der an sich seiende Wille durch Aufheben dieses Gegensatzes in sich zurückgekehrt und damit selbst für sich und wirklich geworden ist. So ist und gilt das Recht, gegen den bloß für sich seienden einzelnen Willen bewährt, als durch seine Notwendigkeit wirklich. – Diese Gestaltung ist ebenso zugleich die fortgebildete innere Begriffsbestimmtheit des Willens. Nach seinem Begriffe ist seine Verwirklichung an ihm selbst dies, das Ansichsein und die Form der Unmittelbarkeit, in welcher er zunächst ist und diese als Gestalt am abstrakten Rechte hat, aufzuheben [...],– somit sich zunächst in dem Gegensatze des allgemeinen an
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sich und des einzelnen für sich seienden Willens zu setzen und dann durch das Aufheben dieses Gegensatzes, die Negation der Negation, sich als Wille in seinem Dasein, daß er nicht nur freier Wille an sich, sondern für sich selbst ist, als sich auf sich beziehende Negativität zu bestimmen. Seine Persönlichkeit, als welche der Wille im abstrakten Rechte nur ist, hat derselbe so nunmehr zu seinem Gegenstande; die so für sich unendliche Subjektivität der Freiheit macht das Prinzip des moralischen Standpunkts aus. Sehen wir näher auf die Momente zurück, durch welche der Begriff der Freiheit sich aus der zunächst abstrakten [199] zur sich auf sich selbst beziehenden Bestimmtheit des Willens, hiermit zur Selbstbestimmung der Subjektivität fortbildet, so ist diese Bestimmtheit im Eigentum das abstrakte Meinige und daher in einer äußerlichen Sache, im Vertrage das durch den Willen vermittelte und nur gemeinsame Meinige; im Unrecht ist der Wille der Rechtssphäre, sein abstraktes Ansichsein oder Unmittelbarkeit als Zufälligkeit durch den einzelnen selbst zufälligen Willen gesetzt. Im moralischen Standpunkt ist sie so überwunden, daß diese Zufälligkeit selbst als in sich reflektiert und mit sich identisch die unendliche in sich seiende Zufälligkeit des Willens, seine Subjektivität ist. [...]
Johann Michael Franz Birnbaum (1792–1877) Über das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens (1834) [149] Der Begriff einer Verletzung ist im Strafrechte von jeher auf verschiedene Weise aufgefaßt, und in Verbindung mit verschiedenen andern Begriffen zum Aufstellen allgemeiner Sätze benutzt worden, die eben durch ihre Allgemeinheit, wenn auch nicht immer, unmittelbar Irrthum erzeugt, doch meistentheils die Erkenntniß der Wahrheit erschwert, wenigstens eine ungeeignete Darstellung veranlaßt haben, von welcher insbesondere in einigen der neuesten Erzeugnisse der deutschen Gesetzgebung noch Spuren sich finden, die das Verständniß und die richtige Anwen- [150] dung der Gesetze selbst zu hindern nach meiner Ansicht wohl im Stande seyn dürften. Der natürlichste Begriff von Verletzung scheint der zu seyn, nach welchem wir ihn auf eine Person oder auf eine Sache beziehen, insbesondere auf eine solche, die wir als uns gehörig denken, oder auf etwas, was für uns ein Gut ist, das uns durch die Handlung eines Andern entzogen oder vermindert werden kann. In diesem Sinne haben auch die Römer im Zusammenhange mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen neminem laedere und suum cuique tribuere von laesio alterius und laesio rebus illata geredet, und in unsern neuesten Strafgesetzen ist noch in ähnlichem Sinne von Körper-, Eigenthums-, Ehrenverletzung oder davon, daß jemand an seinem Leben u.dgl. verletzt wird, nicht selten die Rede. Diese Ausdrücke haben im gemeinen Sprachgebrauch und in concreten Vorstellungen ihren Grund, und jeweniger ein Gesetzgeber dieselben nach der Natur der Sache umgehen kann, jemehr er auf die Kenntniß des Gesetzes bauen und durch dasselbe auf die Vorstellungen derjenigen wirken will, die von Verbrechen abgehalten werden sollen, umso mehr sollte er sich bestreben, solche Ausdrücke zu vermeiden, die von jenen abgeleitet, eigentlich nur figürlich eine Verletzung bezeichnen, und zum Theil aus abstracten Begriffen der neueren Philosophie erst in den juristischen Sprachgebrauch über gegangen sind. [...] [152] [...] Es haben zwar in neuerer Zeit [...] Gesetzgeber von den auf Handlungen oder Unterlassungen gesetzten Strafen den Begriff des Verbrechens im Allgemeinen abhängig gemacht, allein es ist dies weniger in der Absicht, eine eigentliche Definition des Verbrechens zu geben, als darum geschehen, um den Richtern und den zu Richtenden ein allgemeines Merkmal anzugeben, woran erkannt werden könnte, was der Staat als Verbrechen betrachtet wissen will. [...] [Wir müssen] das Merkmal der Strafbarkeit einer Handlung jedenfalls festhalten, um den juristischen Begriff des Verbrechens festsetzen zu können, obwohl [...] [153] [...] es nicht zu übersehen [ist], daß nach dem positiven Rechte eines Volkes, nach welchem eine Strafe im eigentlich juristischen Sinne nicht angewandt werden darf, außer wenn sie durch ein ausdrückliches Gesetz ausgesprochen worden ist, und, wie dies bei der Unvollkommenheit aller menschlichen Dinge auch bei den besten Strafgesetzgebungen der Fall seyn wird, gegebenen Gesetzen zufolge wenigstens hin und wieder Handlungen bestraft werden müssen, die vernunftgemäß einer T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Bestrafung nicht unterliegen sollten, vom Verbrechen auch gar keine andere Definition gegeben werden kann, als indem man es Verletzung eines Strafgesetzes nennt, wobei das Wort Verletzung einen doppelten Begriff ausdrücken soll: einmal, daß gegen das Gesetz gehandelt, und dann, daß diese Handlung zugerechnet werden könne. Uebrigens liegt es in der Natur der Sache, daß es außer dem angegebenen positiven Rechtsbegriff des Verbrechens einen natürlichen Begriff desselben geben müsse. [...] [155] [...] Wenn wir vom natürlichen Rechtsbegriffe des Verbrechens reden, so verstehen wir darunter dasjenige, was nach der Natur des Strafrechts vernunftgemäß in der bürgerlichen Gesellschaft als strafbar angesehen werden kann, insofern es in einem gemeinsamen Begriff zusammengefaßt wird. Es ist aber eine bekannte Sache, daß in Deutschland seit längerer Zeit die Eigenschaft einer Rechtsverletzung hierbei, als das Wesentliche, bei weitem von den meisten Rechtsgelehrten und auch wohl von den meisten Gesetzgebern angesehen wurde, obgleich hin und wieder schon früher eine Mißbilligung dieser Ansicht ausgesprochen worden ist. [156] Insbesondre einflußreich ist die Feuerbachsche Definition geworden, nach welcher das Verbrechen eine unter einem Strafgesetz enthaltene Beleidigung, Rechtsverletzung oder Läsion, oder eine durch ein Strafgesetz bedrohte, dem Rechte eines Andern widersprechende Handlung genannt wird. [...] [157] [...] Wir [haben] es uns hier nicht zur Hauptaufgabe gemacht [...], zu untersuchen, ob nach der Natur der Sache nur Rechtsverletzungen als Verbrechen bestraft werden dürfen, son- [158] dern [wollen] die Sache von einem andern Gesichtspunkte aus betrachten, der mehr die Rechtsanwendung als die Gesetzgebung betrifft, und von diesem Gesichtspunkte aus ist unsere erste Frage die, ob es passend sey, in einem System des positiven Strafrechts, namentlich in dem des gemeinen deutschen Strafrechts, ohne weitere Unterscheidung einem natürlichen und positiven Rechtsbegriffe eine solche Definition voranzustellen, nach welcher das Verbrechen eine unter einem Strafgesetze enthaltene Rechtsverletzung genannt wird. [...] [159] [...] Daß nun das gemeine deutsche Strafrecht blos Rechtsverletzungen mit Strafe belege, wird wohl auch bei der Annahme des weitesten Sinnes dieses Wortes Niemand behaupten wollen. Da aber Feuerbach nichts desto weniger das Merkmal der Rechtsverletzung zum allgemeinen Erforderniß des gemeinrechtlichen Begriffs des Verbrechens gemacht, und diesen Begriff nicht müßig an die Spitze des Systems gestellt, sondern als philosophischer und logisch consequenter Jurist öfters angewandt hat, so ist in der That auch vieles Nicht-Gemeinrechtliche von ihm als gemeinrechtlich angenommen worden, was, wie Thibaut bemerklich machte, ihm um so mehr zum Vorwurf gereicht, da er an einem anderen Orte selbst den Grundsatz ausgesprochen hat, der Richter dürfte, im Falle, wo der Gesetzgeber eine That, wenn sie gleich keine Läsion wäre, und ihre Bestrafung der Vernunft widersprechen sollte, einem Strafgesetze unterworfen habe, sie nicht von der Strafe ausnehmen, und blos darum, weil ihre Bestrafung der Philosophie des Criminalrechts nicht gemäß sey, ungestraft lassen. [...] [161] [...] [Jedoch] liegt wenigstens in [162] unsern gemeinrechtlichen Quellen eine Unterscheidung zwischen Polizei- und andern Verbrechen, die dem neueren Unterschiede zwischen Staats- und Privat- Verbrechen näher steht als der neuern Unterscheidung zwischen Polizeiübertretungen und eigentlichen Verbrechen, und ich rechne es zu den
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philosophischen Fehlgriffen Feuerbachs, daß er das Positive dieser Begriffe nach gemeinem deutschen Strafrechte nicht hinreichend erörterte, ja sie beinahe ganz von dem unabhängig machte, was ihm in der Natur der Sache zu liegen schien, wobei der Begriff der Polizeiübertretungen nicht eben sehr logisch unter den allgemeinen Verbrechensbegriff gestellt, und weder Positives und Philosophisches, noch Gemeinrechtliches und Particularrechtliches, noch gesetzliche Ansicht und neuere Praxis gebührend geschieden worden sind. [...] [166] [...] Freilich hat auch Feuerbach unter seinen Begriff von Verbrechen im Allgemeinen sowohl dasjenige subsumirt, was er Verbrechen im engern Sinne, als auch dasjenige, was er Vergehen oder Polizeiübertretung nannte, und unter diese auch unsittliche und andere Handlungen gerechnet. Allein ist schon das Zusammenwerfen unsittlicher Handlungen, insofern sie nach Uebereinstimmung aller Völker einer Bestrafung [167] zu unterwerfen sind, mit solchen, die [...] gefährliche genannt werden können, in eine Klasse wenig zu billigen, besonders wenn, wie dies öfters geschieht, die Idee der geringsten Strafbarkeit das Festsetzen einer solchen Klasse bestimmt. [...] Um mit Feuerbach alle diejenigen Handlungen, die er unter den Begriff von Poli- [168] zeiübertretungen zusammenfaßt, unter den allgemeinen Begriff des Verbrechens als einer Rechtsverletzung zu bringen, [bedarf] es gewissermaßen eines Kunstgriffs. [...] Ist es nicht unlogisch, etwas als Unterart einer Gattung aufzuführen, was in dem Gattungsbegriff gar nicht enthalten ist? Daß dies aber Feuerbach gethan habe, wird kein Unbefangener in Frage stellen. Wird das Verbrechen im Allgemeinen definirt [als] eine durch ein Strafgesetz bedrohte, dem Rechte eines Andern widersprechende Handlung, so wird hierbei unstreitig vorausgesetzt, daß die Handlung an sich schon und ehe das Strafgesetz existirte, eine Rechtsverletzung war. Wird dagegen von Polizeiübertretungen gesagt, sie seyen an sich nicht rechtswidrige Handlungen, oder sie seyen Handlungen, die den Unterthanen ursprünglich rechtlich möglich waren, die aber der Staat zu verbieten berechtigt sey, sowie das geschehene Verbot ein Recht auf Gehorsam begründe; wird [169] dann weiter behauptet, dadurch daß das Recht auf Gehorsam durch eine Strafdrohung geschützt, nichts desto weniger aber durch Begehung der verbotenen Handlungen verletzt werde, entstehe der Begriff einer Polizeiübertretung; so liegt am Tage, daß diese nicht eine durch ein Strafgesetz bedrohte Rechtsverletzung genannt werden könne, sondern eine Handlung, die dadurch, daß sie verboten und mit Strafe bedroht worden ist, erst die Eigenschaft einer Rechtsverletzung erhält, wenn sie nämlich nach erlassenem Strafverbot demungeachtet begangen wird. Es liegt ferner am Tage, daß hiermit nicht das Mindeste gesagt ist, um den Rechtsgrund der Bestrafung solcher Handlungen darzuthun, und daß durch jenes behauptete Recht auf Gehorsam die unschuldigste Handlung zur Rechtsverletzung gestempelt werden könnte. Wir haben aber noch auf Andres aufmerksam zu machen, was aus den angegebenen Definitionen und Unterscheidungen für die Praxis Nachtheiliges entstehen kann. [...] [170] [...] Denken wir uns [..] vier verschiedene Umstände, unter denen von vier verschiedenen Individuen ein mit einer Kugel geladenes Feuergewehr losgeschossen wurde. Der Erste that es so, daß er bei der geringsten Ueberlegung es als möglich hätte denken müssen, daß Jemand durch den Schuß verletzt würde, aber er hatte weder die Absicht Jemand zu verletzen, noch hat seine Kugel Jemand getroffen, obgleich sie dicht an einem Menschen vorüberstreifte. Der Zweite befand sich ganz in demselben Falle, nur traf seine
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Kugel unglücklicherweise einen Menschen, der dadurch seines Lebens beraubt wurde. Der Dritte hatte die Absicht zu treffen und verfehlte seinen Mann. Der Vierte erreichte mit gleicher Absicht sein Ziel, und streckte seinen Gegner leblos zu Boden. Nach der Terminologie vieler unserer Criminalisten wird in den drei letzten Fällen allein von einer eigentlichen Rechtsverletzung gesprochen, und auch Feuerbach nimmt nur in diesen Fällen ein Verbrechen im engeren Sinne an, bei denen man sonst von vorsätzlichen Verbrechen, verschuldeten Verbrechen, und Verbrechensversuch redet, während im ersten Falle, wenn deßhalb wirklich Bestrafung eintreten kann, die Handlung höchstens, und zwar nicht blos darum, weil sie als die leichteste bei einer darnach angeordneten Verschiedenheit der Strafbehörden zur Bestrafung vor Polizeibehörden verwiesen wird, sondern ihrer Natur nach, wie man sagt, als Polizeiübertretung angesehen wird. Dies ist auch nach Feuerbachs Betrachtungsweise der Fall. Wenn nun aber das Verbrechen im engern Sinne als eigentliche Rechtsverletzung darin bestehen soll, daß es eine an sich schon dem Rechte eines Andern widersprechende Handlung sey, so sieht man nicht leicht ein, warum im ersten Fall ein [171] eigentliches Verbrechen nicht begangen worden seyn soll? Wir haben im ersten und zweiten Fall dieselbe That, dieselbe Fahrlässigkeit des Handelnden vorausgesetzt, sollte also der bloße Erfolg die Natur der Handlung bestimmen? [...] [172] [...] [Andererseits:] Dadurch, daß wir etwas verlieren oder einer Sache beraubt werden, die Gegenstand unsers Rechtes ist, daß uns ein Gut, welches uns rechtlich zusteht, entzogen oder vermindert wird, wird ja unser Recht selbst weder vermindert noch entzogen. Zwar kann dadurch, daß wir des Lebens beraubt werden, nach der Natur der Sache nicht mehr von Ausübung unserer Rechte durch uns selbst die Rede seyn, und dadurch, daß uns eine uns gehörige bestimmte körperliche Sache zerstört wird, das Recht auf diese individuelle Sache nicht mehr als bestehend, sondern nur ein Recht auf ein Aequivalent uns zustehend angenommen werden. Allein solche einzelne Fälle, in welchen der gewöhnliche Sprachgebrauch nicht ganz unpassend seyn dürfte, rechtfertigen keineswegs den Sprachgebrauch im Allgemeinen. [...] [175] [...] Wenn man das Verbrechen als Verletzung betrachten will, [so muß] dieser [176] Begriff naturgemäß nicht auf den eines Rechtes, sondern auf den eines Gutes bezogen werden. [...] Die Beziehung des in dem Verbrechensbegriff enthaltenen Merkmals der Verletzung auf den Begriff eines durch die Gesetze zu schützenden Guts habe ich [...] [177] [...] ungemein ergiebig und zur Vermeidung mannichfaltiger Irrtümer besonders geeignet gefunden. Sie hängt mit meinen Ansichten von dem Wesen des Strafrechts aufs innigste zusammen, und obgleich eine ausführlichere Darlegung derselben einer andern Gelegenheit vorbehalten werden muß, so dürfte eine kurze Andeutung derselben eben jetzt nicht unpassend seyn, wo diese Zeitschrift mit theilweise geändertem Plan in eine Periode ihres Bestehens eintreten soll. Wie man auch immer über Rechtsgrund und Zweck des Staates denken mag, es wird sich mit verschiedenen Ansichten hierüber vereinigen lassen, wenn man annimmt, daß es zum Wesen der Staatsgewalt gehöre, allen im Staate lebenden Menschen auf gleichmäßige Weise den Genuß gewisser Güter zu gewährleisten, welche den Menschen von der Natur gegeben oder eben das Resultat ihrer gesellschaftlichen Entwicklung und des bürgerlichen Vereines sind. Es mag dahin ge-
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stellt bleiben, ob der Mensch außer dem Staate in einem sogenannten Naturzustande schon Rechte habe oder nicht. Aber einem Zweifel kann es nicht erliegen, daß die Güter, auf deren Allen gleichmäßig zu garantirenden Genuß im Staate sich die Rechtssphäre eines Jeden bezieht, theils dem Menschen schon von der Natur gegeben, theils Ergebniß seiner gesellschaftlichen Entwicklung sind, und so kann, wie bei Festsetzung der Definition, so auch bei Eintheilung der Verbrechen, derselbe einfache Begriff zu Grunde gelegt, und auch wohl in einem gewissen leicht faßlichen Sinne eine Eintheilung der Verbrechen in natürliche und soziale angenommen werden. Es mag ferner dahin gestellt bleiben, inwiefern im Staate Rechte des Staates selbst als moralischer Person, und Rechte der Staatsbürger unterschieden werden können und darnach eine Ein- [178] theilung der Verbrechen in Staats- und Privatverbrechen zu billigen sey. Aber keinem Zweifel kann es unterliegen, daß unter denjenigen Handlungen, die als Verbrechen in allen Staaten bestraft zu werden pflegen, einige von der Art sind, daß durch dieselben zunächst bestimmte Personen an einem der durch die Staatsgewalt Allen zu garantirenden Güter verletzt werden, andere von der Art, daß die Handlung der Gesamtheit unmittelbar eines dieser Güter entzieht, vermindert oder gefährdet, und so läßt sich auch nach den in Beziehung auf das unmittelbar verletzte oder bedrohte Subject verschiedenen Umfange der Verletzung oder Gefährdung, oder was dasselbe ist, nach der Beschaffenheit des vorzugweise durch die Handlungen bedrohten oder verminderten Guts die Classification der Verbrechen überhaupt bestimmen, eine Eintheilung derselben in Verbrechen gegen das Gemeinwesen und Verbrechen gegen Individuen naturgemäß, auch der Unterschied zwischen Versuch und Vollendung des Verbrechens auf eine natürlichere Weise bestimmen als es nach dem unsichern Begriff der Rechtsverletzung im gewöhnlichen Sinne möglich ist. Darnach läßt sich auch am richtigsten der Gesichtspunkt angeben, nach dem unsittliche und irreligiöse Handlungen, sofern sie überhaupt strafbar seyn können, zu beurtheilen sind. Wie ein Volk auch immer über den Werth positiver Religionen denken mag, und wie vielerlei positive Religionen in einem Staat bestehen mögen, immer wird eine Summe religiöser und sittlicher Vorstellungen als ein unter die allgemeine Garantie zu stellendes Gemeingut des Volks angesehen werden können, dessen Erhaltung mit der Erhaltung der Verfassung selbst in so innigem Verbande steht, daß auch unabhängig von einem unter Strafdrohung erlassenen bestimmten Verbote gewisse Arten unsittlicher oder irreligiöser Handlungen an sich als rechts- [179] widrig für die im Staate lebenden Menschen angesehen werden müssen. [...] Nach diesen meinen Ansichten glaube ich denn auch, daß als Verbrechen nach der Natur der Sache oder als vernunftgemäß im Staate strafbar jede dem menschlichen Willen zuzurechnende Verletzung oder Gefährdung eines durch die Staatsgewalt Allen gleichmäßig zu garantirenden Gutes anzusehen sey, wenn eine allgemeine Gewährleistung anders nicht bewirkt werden kann, als durch Androhung einer bestimmten Strafe und durch Vollstreckung der gesetzlichen Drohung gegen jeden Uebertreter. Hiernach glaube ich eben so wenig denjenigen beistimmen zu können, die eine Rechtsverletzung im gewöhnlichen Sinn, als denjenigen, welche die Gemeingefährlichkeit zum Wesen des Verbrechens oder zum Merkmal der Erkennbarkeit des Strafbaren einer Handlung erheben. Denn wenn auch gleich in gewissem Sinne das eine wie das andere Merkmal in allem, wirklich Strafbaren
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enthalten ist, so leitet doch leicht der eine wie der andere Ausdruck zu einer gewissen Einseitigkeit der Ansicht hin und giebt zu Mißverständnissen Anlaß, die bei der Gesetzgebung wie bei der Anwendung [180] nur nachtheilig wirken können. Insbesondere könnte die Annahme der Gemeingefährlichkeit als des Wesentlichen eines jeden Verbrechens leicht zu der Ansicht führen, als läge z.B. die Pflicht der Staatsgewalt, den Mord zu strafen, weniger in der Verpflichtung derselben, das Leben der einzelnen Menschen als solcher zu schützen, als vielmehr in der Verpflichtung, den Staat als ein Ganzes zu erhalten. Es könnte demnach das Ansehen gewinnen, als wollte man sagen, die Menschen seyen nur vorhanden, damit der Staat bestehe, anstatt den Staat der Interessen der Menschen wegen nothwendig anzunehmen. Der abstracte Begriff des Staats aber darf meines Erachtens eben auch nicht auf die Höhe gestellt werden, die wohl ehedem, zu Zeiten, wo man den Staat so gern mit dem Staatsoberhaupt identificirte, zuweilen für diesen selbst in Anspruch genommen wurde. Was den Begriff der Rechtsverletzung angeht, so wollen wir zu dem hierüber schon im Vorhergehenden Gesagten nur noch Einiges hinzufügen, um noch mehr die Mißgriffe hervorzuheben, zu welchen der Gebrauch dieses Wortes und die ihm im Allgemeinen beigelegte Wichtigkeit führen können. Daß man von Verletzungen des Lebens, der menschlichen Kräfte, der Ehre, der persönlichen Freiheit, des Vermögens, als besondern Verbrechen rede, ist natürlich und natürlichen Vorstellungen gemäß; denn alle die genannten Güter sind einer Entziehung oder Verminderung durch Handlungen Anderer unterworfen, so wie sie als Gegenstände unserer Rechte angesehen werden können. [...] An- [181] statt diesem natürlichen Sprachgebrauche zu folgen, hat Feuerbach bei Aufzählung der einzelnen Privatverbrechen erst von Verbrechen gegen ursprüngliche Rechte des Menschen und Bürgers, und unter dieser Rubrik von Verletzung des Rechts auf Leben, von Verbrechen an dem Recht des Bürgers auf freie Disposition an seinem Körper, von Verletzung des Rechts auf Ehre, dann von Verbrechen gegen erworbene Rechte und unter diesem Titel von Verletzung des Rechts auf Sachen, von Verletzung des Rechts aus Verträgen, insbesondere von Verletzung des ehelichen Vertrags gesprochen, was man sonst, ebenfalls natürlicher, Verletzung der ehelichen Treue nennt, die ähnlich der Ehrenverletzung in der Entziehung eines intellectuellen Gutes besteht, in Beziehung auf den, gegen welchen dies Verbrechen begangen wird. In Beziehung auf eine Klasse von Verbrechen gegen die ursprünglichen Rechte, die Feuerbach als Verletzungen der Integrität menschlicher Kräfte darstellte, ist er dem natürlichen Sprachgebrauch treu geblieben1. Daß übrigens fast bei allen angeführten Verbrechensgattungen die von ihm gewählte Bezeichnung zu Begriffsverwirrungen führen könne, dürfte leicht nachgewiesen werden können. [...] [182] Wenn wir die oben unterschiedenen vier Fälle des Abschießens eines Feuergewehrs betrachten, so sind sie nach dem bereits Gesagten streng genommen alle vier als Verletzungen des Rechts auf Leben anzusehen, insofern man unter Rechtsverletzung weiter nichts als eine einem Recht widersprechende Handlung versteht; denn unfehlbar hat auch der eine solche begangen, der einen Andern durch Unvor1
Vgl. die Ueberschriften vor §§ 206, 244, 251, 271, 310, 370, 373.
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sichtigkeit der Gefahr sein Leben zu verlieren ausgesetzt hat. Da nun unter jener Rubrik Feuerbach solche Handlungen nicht mitbegriff, so hat er auch keineswegs das Charakteristische der unter derselben abgehandelten Verbrechen, das sie von allen anderen Verbrechen Unterscheidende mit jenen Worten ausgedrückt. Wollte man sagen, dergleichen Handlungen gehörten nicht unter die Rubrik, weil sie doch keine eigentlichen Verletzungen am Leben seyen, so würde man im natürlichen Sprachgebrauch bleibend ganz Recht haben, was den letzten Theil des Satzes angeht; allein nach diesem natürlichen Sprachgebrauch würde auch der Versuch der Tödtung oder der dritte der oben angegebenen Fälle eine Verletzung am Leben nicht, sondern nur Lebensgefährdung zu nennen seyn, und gleichwohl hat auch diesen Fall Feuerbach unter die Rubrik der Verbrechen gegen das Recht auf Leben mit aufgenommen. Nach der Natur der Sache verhält sich der erste jener oben gegebenen Fälle zum zweiten wie der dritte zum vierten, eine Lebensgefährdung ist im ersten wie im dritten, eine Lebensberaubung, = Entziehung oder Verletzung im zweiten wie im vierten enthalten, und die beiden ersten unterscheiden sich von den beiden letzten nur dadurch, daß in jenen die That aus Fahrlässigkeit, in diesen aus böser Absicht stammte. Dies wird auch genügen, um zu zeigen, daß durch jene Benennung Verletzung des Rechts [183] auf Leben u.dgl. gar nichts gelehrt wird, was nicht viel natürlicher aus den Worten Verbrechen gegen das Leben u.dgl. hervorginge. Sie kann aber leicht zu Mißverständnissen führen und verrückt uns völlig den Standpunkt, von welchem aus zwischen Vollendung und Versuch bei diesem Verbrechen zu unterscheiden ist. Sieht man nämlich z.B. in dem Verbrechen wider das Leben als das Charakteristische die Verletzung des Rechts auf Leben, so muß man consequent schon in dem Tödtungsversuche ein vollendetes Verbrechen sehen; denn eine Verletzung des Rechts auf Leben ist schon hiermit vollendet, oder das Recht zu leben ist durch den Tödtungsversuch nicht mehr und nicht weniger als durch die Tödtung selbst verletzt. Die Lebensverletzung aber ist durch den Tödtungsversuch nicht vollendet, das Gut des Lebens ist in dem oben angeführten vierten Falle weder entzogen noch vermindert, sondern nur gefährdet worden. [...]
Karl Marx (1818–1883) Debatten über das preußische Holzdiebstahlsgesetz (1842) „Rheinische Zeitung“ Nr. 298 v. 25. Okt. 1842 [110] [...] Wir stellen in den Debatten des Landtags über das Diebstahlsgesetz unmittelbar die Debatten des Landtags über seinen Beruf zur Gesetzgebung dar. Gleich im Beginn der Debatte opponiert ein Stadtdeputierter gegen die Überschrift des Gesetzes, wodurch die Kategorie „Diebstahl“ auf einfache Holzfrevel ausgedehnt wird. Ein Deputierter der Ritterschaft erwidert: „Daß eben, weil man es nicht für einen Diebstahl halte, Holz zu entwenden, dies so häufig geschehe.“
Nach dieser Analogie müßte derselbe Gesetzgeber schließen: weil man eine Ohrfeige für keinen Totschlag hält, darum sind die Ohrfeigen so häufig. Man dekretiere also, daß eine Ohrfeige ein Totschlag ist. Ein anderer Deputierter der Ritterschaft findet es „noch bedenklicher, das Wort ‘Diebstahl’ nicht auszusprechen, weil die Leute denen die Diskussion über dieses Wort bekannt würde, leicht zu dem Glauben veranlaßt werden könnten, als werde die Entwendung von Holz auch von dem Landtage nicht dafür gehalten.“
Der Landtag soll entscheiden, ob er einen Holzfrevel für einen Diebstahl hält; aber wenn der Landtag einen Holzfrevel nicht für einen Diebstahl erklärte, könnten die Leute glauben, der Landtag hielte wirklich einen Holzfrevel nicht für einen Diebstahl. Es ist also am besten, diese verfängliche Kontroversfrage auf sich beruhen zu lassen. Es handelt sich von einem Euphemismus, und man muß Euphemismen vermeiden. Der Waldeigentümer läßt den Gesetzgeber nicht zu Wort kommen, denn die Wände haben Ohren. Derselbe Deputierte geht noch weiter. Er betrachtet diese ganze Untersuchung über den Ausdruck „Diebstahl“ als „eine bedenkliche Beschäftigung der Plenarversammlung mit Redaktionsverbesserungen“. Nach diesen einleuchtenden Demonstrationen votierte der Landtag die Überschrift. Von dem eben empfohlenen Standpunkt aus, der die Verwandlung eines Staatsbürgers in einen Dieb für pure Redaktionsnachlässigkeit versieht und alle Opposition dagegen als grammatischen Purismus zurückweist, versteht es sich von selbst, daß auch das Entwenden von Raffholz oder Auflesen von trockenem Holz unter die Rubrik Diebstahl subsumiert und ebenso bestraft wird wie die Entwendung von stehendem grünen Holz. [111] Der obenerwähnte Deputierte der Städte bemerkte zwar: „Da sich die Strafe bis zu langem Gefängnis steigern könne, so führe eine solche Strenge Leute, die sonst noch auf dem guten Wege wären, gerade auf den Weg des Verbrechens. Das geschehe auch dadurch, daß sie im Gefängnis mit Gewohnheitsdieben zusammenkämen; er halte daher dafür, daß man das Sammeln oder Entwenden von trockenem Raffholz bloß mit einer einfachen Polizeistrafe belegen solle.“
Aber ein anderer Stadtdeputierter widerlegte ihn durch die tiefsinnige Anführung, T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Karl Marx „daß in den Waldungen seiner Gegend häufig junge Bäume zuerst bloß angehauen und, wenn sie dadurch verdorben, später als Raffholz behandelt würden.“
Man kann unmöglich auf elegantere und zugleich einfachere Weise das Recht der Menschen vor dem Recht der jungen Bäume niederfallen lassen. Auf der einen Seite nach Annahme des Paragraphen steht die Notwendigkeit, daß eine Masse Menschen ohne verbrecherische Gesinnung von dem grünen Baum der Sittlichkeit abgehauen und als Raffholz der Hölle des Verbrechens, der Infamie und des Elends zugeschleudert worden. Auf der anderen Seite nach Verwerfung des Paragraphen steht die Möglichkeit der Mißhandlung einiger jungen Bäume, und es bedarf kaum der Anführung! die hölzernen Götzen siegen, und die Menschenopfer fallen! Die hochnotpeinliche Halsgerichtsordnung subsumiert unter dem Holzdiebstahl nur das Entwenden gehauenen Holzes und das diebische Holzhauen. Ja, unser Landtag wird es nicht glauben: „Wo aber jemandt bei tag essendt früchte nem, und damit durch wegtragen derselben nit großen geuerlichen schaden thett, der ist nach gelegenhaydt der personen und der sach burgerlich“ (also nicht kriminell) „zu straffen.“
Die hochnotpeinliche Halsgerichtsordnung des 16. Jahrhunderts fordert uns auf, sie vor dem Tadel übertriebener Humanität gegen einen rheinischen Landtag des 19. Jahrhunderts in Schutz zu nehmen, und wir folgen dieser Aufforderung. Sammeln von Raffholz und der kombinierteste Holzdiebstahl! Eine Bestimmung ist beiden gemein. Das Aneignen fremden Holzes. Also ist beides Diebstahl. Darauf resumiert sich die übersichtige Logik, die soeben Gesetze gab. Wir machen daher zunächst auf den Unterschied aufmerksam, und wenn man zugeben muß, daß der Tatbestand dem Wesen nach verschieden, so wird man kaum behaupten dürfen, daß er dem Gesetz nach derselbe sei. Um grünes Holz sich anzueignen, muß man es gewaltsam von seinem organischen Zusammenhang trennen. Wie dies ein offenes Attentat auf den [112] Baum, so ist es durch denselben ein offenes Attentat auf den Eigentümer des Baumes. Wird ferner gefälltes Holz einem Dritten entwendet, so ist das gefällte Holz ein Produkt des Eigentümers. Gefälltes Holz ist schon formiertes Holz. An die Stelle des natürlichen Zusammenhanges mit dem Eigentum ist der künstliche Zusammenhang getreten. Wer also gefälltes Holz entwendet, entwendet Eigentum. Beim Raffholz dagegen wird nichts vom Eigentum getrennt. Das vom Eigentum getrennte wird vom Eigentum getrennt. Der Holzdieb erläßt ein eigenmächtiges Urteil gegen das Eigentum. Der Raffholzsammler vollzieht nur ein Urteil, was die Natur des Eigentums selbst gefällt hat, denn ihr besitzt doch nur den Baum, aber der Baum besitzt jene Reiser nicht mehr. Sammeln von Raffholz und Holzdiebstahl sind also wesentlich verschiedene Sachen. Der Gegenstand ist verschieden, die Handlung in Bezug auf den Gegenstand ist nicht minder verschieden, die Gesinnung muß also auch verschieden sein, denn welches objektive Maß sollten wir an die Gesinnung legen, wenn nicht den Inhalt der Handlung und die Form der Handlung? Und diesem wesentlichen Unterschiede zum Trotz nennt ihr beides Diebstahl und bestraft beides als Diebstahl. Ja, ihr bestraft das Raffholzsammeln strenger als den Holzdiebstahl, denn ihr bestraft es
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schon, indem ihr es für Diebstahl erklärt, eine Strafe, die ihr offenbar über den Holzdiebstahl selbst nicht verhängt. Ihr hättet ihn den Holzmord nennen und als Mord bestrafen müssen. Das Gesetz ist nicht von der allgemeinen Verpflichtung entbunden, die Wahrheit zu sagen. Es hat sie doppelt, denn es ist der allgemeine und authentische Sprecher über die rechtliche Natur der Dinge. Die rechtliche Natur der Dinge kann sich daher nicht nach dem Gesetz, sondern das Gesetz muß sich nach der rechtlichen Natur der Dinge richten. Wenn das Gesetz aber eine Handlung, die kaum ein Holzfrevel ist, einen Holzdiebstahl nennt, so lügt das Gesetz, und der Arme wird einer gesetzlichen Lüge geopfert. „Il y a deux genres de corruption“, sagt Montesquieu, „l’un lorsque le peuple n’observe point les lois; l’autre lorsqu’il est corrumpu par les lois: mal incurable parce qu’il est dans le remède même.“ So wenig es euch gelingen wird, den Glauben zu erzwingen: hier ist ein Verbrechen, wo kein Verbrechen ist, so sehr wird es euch gelingen, das Verbrechen selbst in eine rechtliche Tat zu verwandeln. Ihr habt die Grenzen [113] verwischt, aber ihr irrt, wenn ihr glaubt, sie seien nur in euerm Interesse verwischt. Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist. Indem ihr die Kategorie des Diebstahls da anwendet, wo sie nicht angewendet werden darf, habt ihr sie auch da beschönigt, wo sie angewendet werden muß. Und hebt sich diese brutale Ansicht, die nur eine gemeinschaftliche Bestimmung in verschiedenen Handlungen festhält und von den Verschiedenheiten abstrahiert, nicht selber auf? wenn jede Verletzung des Eigentums ohne Unterschied, ohne nähere Bestimmung Diebstahl ist, wäre nicht alles Privateigentum Diebstahl? schließe ich nicht durch mein Privateigentum jeden Dritten von diesem Eigentum aus? verletze ich also nicht sein Eigentumsrecht? wenn ihr den Unterschied wesentlich verschiedener Arten desselben Verbrechens verneint, so verneint ihr das Verbrechen als einen Unterschied vom Recht, so hebt ihr das Recht selbst auf, denn jedes Verbrechen hat eine Seite mit dem Recht selbst gemein. Es ist daher ein ebenso historisches als vernünftiges Faktum, daß die unterschiedslose Härte allen Erfolg der Strafe aufhebt, denn sie hat die Strafe als einen Erfolg des Rechts aufgehoben. Doch worüber streiten wir? Der Landtag verwirft zwar den Unterschied zwischen Raffholzsammeln, Holzfrevel und Holzdiebstahl. Er verwirft den Unterschied der Handlung als bestimmend für die Handlung, sobald es sich um das Interesse des Forstfrevlers, aber er erkennt ihn an, sobald es sich um das Interesse des Waldeigentümers handelt. So schlägt der Ausschuß zusätzlich vor, „als erschwerende Umstände zu bezeichnen, wenn grünes Holz mittels Schneideinstrumenten abgehauen oder abgeschnitten und wenn statt der Axt die Säge gebraucht wird.“
Der Landtag approbiert diese Unterscheidung. Derselbe Scharfsinn, der so gewissenhaft ist, in seinem Interesse eine Axt von einer Säge, ist so gewissenlos, Raffholz von grünem Holz nicht im fremden Interesse zu unterscheiden. Der Unterschied ist bedeutsam als erschwerender, aber er ist ohne alle Bedeutung als
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mildernder Umstand, obgleich ein erschwerender Umstand nicht möglich ist, sobald die mildernden Umstände unmöglich sind. [...] [114] [...] Wenn der Begriff des Verbrechens die Strafe, so verlangt die Wirklichkeit des Verbrechens ein Maß der Strafe. Das wirkliche Verbrechen ist begrenzt. Die Strafe wird schon begrenzt sein müssen, um wirklich, sie wird nach einem Rechtsprinzip begrenzt sein müssen, um gerecht zu sein. Die Aufgabe besteht darin, die Strafe zur wirklichen Konsequenz des Verbrechens zu machen. Sie muß dem Verbrecher also die notwendige Wirkung seiner eigenen Tat, daher als seine eigene Tat erscheinen. Die Grenze seiner Strafe muß also die Grenze seiner Tat sein. Der bestimmte Inhalt, der verletzt ist, ist die Grenze des bestimmten Verbrechens. Das Maß dieses Inhalts ist also das Maß des Verbrechens. Dieses Maß des Eigentums ist sein Wert. Wenn die Persönlichkeit in jener Grenze immer ganz, so ist das Eigentum immer nur in einer Grenze vorhanden, die nicht nur bestimmbar, sondern bestimmt, nicht nur meßbar, sondern gemessen ist. Der Wert ist das bürgerliche Dasein des Eigentums, das logische Wort, in welchem es erst soziale Verständlichkeit und Mitteilbarkeit erreicht. Es versteht sich, daß diese objektive, durch die Natur des Gegenstandes selbst gegebene Bestimmung ebenso eine objektive und wesentliche Bestimmung der Strafe bilden muß. Kann die Gesetzgebung hier, wo es sich um Zahlen handelt, nur äußerlich verfahren, um sich nicht in eine Endlosigkeit des Bestimmens zu verlaufen, so muß sie wenigstens regulieren. Es kommt nicht darauf an, daß die Unterschiede erschöpft, aber es kommt darauf an, daß sie gemacht werden. Dem Landtag aber kam es überhaupt nicht darauf an, seine vornehme Aufmerksamkeit solchen Kleinigkeiten zu widmen. [...] [118] [...]
„Rheinische Zeitung“ Nr. 300 v. 27. Okt. 1842 [...] alle Gewohnheitsrechte der Armen basierten darauf, daß gewisses Eigentum einen schwankenden Charakter trug, der es nicht entschieden zum Privateigentum, aber auch nicht entschieden zum Gemeineigentum stempelte, eine Mischung von Privatrecht und öffentlichem Recht, wie sie uns in allen Institutionen des Mittelalters begegnet. Das Organ, mit welchem die Gesetzgebungen solche zweideutigen Gestaltungen auffaßten, war der Verstand, und der Verstand ist nicht nur einseitig, sondern es ist sein wesentliches Geschäft, die Welt einseitig zu machen, eine große und bewunderungswürdige Arbeit, denn nur die Einseitigkeit formiert und reißt das Besondere aus dem unorganischen Schleim des Ganzen. Der Charakter der Dinge ist ein Produkt des Verstandes. Jedes Ding muß sich isolieren und isoliert werden, um etwas zu sein. Indem der Verstand jeden Inhalt der Welt in eine feste Bestimmtheit bannt und das flüssige Wesen gleichsam versteinert, bringt er die Mannigfaltigkeit der Welt hervor, denn die Welt wäre nicht vielseitig ohne die vielen Einseitigkeiten. Der Verstand hob also die zwitterhaften, schwankenden Formationen des Eigentums auf, indem er die vorhandenen Kategorien des abstrakten Privatrechts, deren Schema sich im römischen Recht vorfand, anwandte. Um so mehr glaubte der gesetzgebende Verstand berechtigt zu sein, die Verpflichtungen dieses schwankenden Eigentums gegen die ärmere Klasse aufzuheben, als er auch seine staatlichen Privilegien aufhob; allein er vergaß, daß, selbst rein privatrechtlich betrach-
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tet, hier ein doppeltes Privatrecht vorlag, ein Privatrecht des Besitzers und ein Privatrecht des Nichtbesitzers, abgesehen davon, daß keine Gesetzgebung die staatsrechtlichen Privilegien des Eigentums abgeschafft, sondern sie nur ihres abenteuerlichen Charakters entkleidet und ihnen einen bürgerlichen Charakter erteilt hat. Wenn aber jede mittelalterliche Gestalt des Rechts, also auch das Eigentum, von allen Seiten zwitterartigen, dualistischen, zwiespältigen Wesens war und der Verstand seinen Grundsatz der Einheit gegen diesen Widerspruch der Bestimmung mit Recht geltend machte, so übersah er, daß es Gegenstände des Eigentums gibt, die ihrer Natur nach nie den Charakter des vorherbestimmten Privateigentums erlangen können, die durch ihr elementarisches Wesen und ihr zufälliges Dasein dem Okkupationsrecht anheimfallen, also dem Okkupationsrecht der Klasse anheimfallen, welche eben durch das Okkupationsrecht von allem anderen Eigentum ausgeschlossen ist, welche in der bürgerlichen Gesellschaft dieselbe Stellung einnimmt wie jene Gegenstände der Natur. Man wird finden, daß die Gewohnheiten, welche Gewohnheiten der ganzen armen Klasse sind, mit sicherem Instinkt das Eigentum an seiner unentschiedenen Seite zu fassen wissen, man wird nicht nur finden, daß diese Klasse [119] den Trieb fühlt, ein natürliches Bedürfnis, sondern ebensosehr, daß sie das Bedürfnis fühlt, einen rechtlichen Trieb zu befriedigen. Das Raffholz dient uns als Beispiel. Es steht so wenig in einem organischen Zusammenhang mit dem lebendigen Baum, als die abgestreifte Haut mit der Schlange. Die Natur selbst stellt in den dürren, vom organischen Leben getrennten geknickten Reisern und Zweigen im Gegensatz zu den festwurzelnden, vollsaftigen, organisch Luft, Licht, Wasser und Erde zu eigener Gestalt und individuellem Leben sich assimilierenden Bäumen und Stämmen gleichsam den Gegensatz der Armut und des Reichtums dar. Es ist eine physische Vorstellung von Armut und Reichtum. Die menschliche Armut fühlt diese Verwandtschaft und leitet aus diesem Verwandtschaftsgefühl ihr Eigentumsrecht ab, und wenn sie daher den physisch-organischen Reichtum dem prämeditierenden Eigentümer, so vindiziert sie die physische Armut dem Bedürfnis und seinem Zufall. Sie empfindet in diesem Treiben der elementarischen Mächte eine befreundete Macht, die humaner ist als die menschliche. An die Stelle der zufälligen Willkür der Privilegierten ist der Zufall der Elemente getreten, die von dem Privateigentum abreißen, was es nicht mehr von sich abläßt. So wenig den Reichen Almosen, die auf die Straße geworfen werden, gebühren, so wenig diese Almosen der Natur. [...] Es lebt also in diesen Gewohnheiten der armen Klasse ein instinktmäßiger Rechtssinn, ihre Wurzel ist positiv und legitim, und die Form des Gewohnheitsrechts ist hier um so naturgemäßer, als auch das Dasein der armen Klasse selbst bisher eine bloße Gewohnheit der bürgerlichen Gesellschaft ist, die in dem Kreis der bewußten Staatsgliederung noch keine angemessene Stelle gefunden hat. [...] [120] [...] Der weise Gesetzgeber wird das Verbrechen verhindern, um es nicht bestrafen zu müssen, aber er wird es nicht dadurch verhindern, daß er die Sphäre des Rechts verhindert, sondern dadurch, daß er jedem Rechtstrieb sein negatives Wesen raubt, indem er ihr eine positive Sphäre der Handlung einräumt. Er wird sich nicht darauf beschränken, den Teilnehmern einer Klasse die Unmöglichkeit wegzuräumen, einer höheren berechtigten Sphäre anzugehören, sondern er wird ihre eigene Klas-
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se zu einer realen Möglichkeit von Rechten erheben, aber wenn der Staat hierzu nicht human, nicht reich und nicht großsinnig genug ist, so ist es wenigstens seine unbedingte Pflicht, nicht in ein Verbrechen zu verwandeln, was erst Umstände zu einem Vergehen machen. Er muß mit der höchsten Milde als eine soziale Unordnung korrigieren, was er nur mit dem höchsten Unrecht als ein antisoziales Verbrechen bestrafen darf. Er bekämpft sonst den sozialen Trieb, indem er die unsoziale Form desselben zu bekämpfen meint. Mit einem Worte, wenn man volkstümliche Gewohnheitsrechte unterdrückt, so kann deren Ausübung nur als einfache Polizeikontravention behandelt, aber nimmer als ein Verbrechen bestraft werden. Die Polizeistrafe ist der Ausweg gegen eine Tat, welche Umstände zu einer äußern Unordnung stempeln, ohne daß sie eine Verletzung der ewigen Rechtsordnung wäre. Die Strafe darf nicht mehr Abscheu einflößen als das Vergehen, die Schmach des Verbrechens darf sich nicht verwandeln in die Schmach des Gesetzes; der Boden des Staates ist unterminiert, wenn das Unglück zu einem Verbrechen oder das Verbrechen zu einem Unglück wird. Weit entfernt von diesem Gesichtspunkt, beobachtet der Landtag nicht einmal die ersten Regeln der Gesetzgebung. Die kleine, hölzerne, geistlose und selbstsüchtige Seele des Interesses sieht nur einen Punkt, den Punkt, wo sie verletzt wird, gleich dem rohen [121] Menschen, der etwa einen Vorübergehenden für die infamste, verworfenste Kreatur unter der Sonne hält, weil diese Kreatur ihm auf seine Hühneraugen getreten hat. Er macht seine Hühneraugen zu den Augen, mit denen er sieht und urteilt; er macht den einen Punkt, in welchem ihn der Vorübergehende tangiert, zu dem einzigen Punkt, worin das Wesen dieses Menschen die Welt tangiert. Nun kann ein Mensch aber doch wohl mir auf die Hühneraugen treten, ohne deswegen aufzuhören, ein ehrlicher, ja ein ausgezeichneter Mensch zu sein. So wenig ihr nun die Menschen mit eueren Hühneraugen, so wenig müßt ihr sie mit den Augen eures Privatinteresses beurteilen. Das Privatinteresse macht die eine Sphäre, worin ein Mensch feindlich mit ihm zusammentrifft, zur Lebenssphäre dieses Menschen. Es macht das Gesetz zum Rattenfänger, der das Ungeziefer vertilgen will, denn er ist kein Naturforscher und sieht deshalb in den Ratten nur Ungeziefer; aber der Staat muß in einem Holzfrevler mehr sehen als den Frevler am Holz, mehr als den Holzfeind. Hängt nicht jeder seiner Bürger durch tausend Lebensnerven mit ihm zusammen, und darf er alle diese Nerven zerschneiden, weil jener Bürger selbst einen Nerv eigenmächtig zerschnitten hat? Der Staat wird also auch in einem Holzfrevler einen Menschen sehen, ein lebendiges Glied, in dem sein Herzblut rollt, einen Soldaten, der das Vaterland verteidigen, einen Zeugen, dessen Stimme vor Gericht gelten, ein Gemeindemitglied, das öffentliche Funktionen bekleiden soll, einen Familienvater, dessen Dasein geheiligt, vor allem einen Staatsbürger, und der Staat wird nicht leichtsinnig eins seiner Glieder von all diesen Bestimmungen ausschließen, denn der Staat amputiert sich selbst, so oft er aus einem Bürger einen Verbrecher macht. Vor allem aber wird es der sittliche Gesetzgeber als die ernsteste, schmerzlichste und gefährlichste Arbeit betrachten, eine bisher unbescholtene Handlung unter die Sphäre der verbrecherischen Handlungen zu subsumieren. Das Interesse aber ist praktisch, und nichts ist praktischer auf der Welt, als daß ich meinen Feind niederstoße! „Wer haßt ein Ding und brächt’ es nicht gern um“ lehrt
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schon Shylock. Der wahre Gesetzgeber darf nichts fürchten als das Unrecht, aber das gesetzgebende Interesse kennt nur die Furcht vor den Konsequenzen des Rechts, die Furcht vor den Bösewichten, gegen die es Gesetze gibt. Die Grausamkeit ist der Charakter der Gesetze, welche die Feigheit diktiert, denn die Feigheit vermag nur energisch zu sein, indem sie grausam ist. Das Privatinteresse ist aber immer feig, denn sein Herz, seine Seele ist ein äußerlicher Gegenstand, der immer entrissen und beschädigt werden kann, und wer zitterte nicht vor der Gefahr, Herz und Seele zu verlieren? Wie sollte der eigennützige Gesetzgeber menschlich sein, da das Unmenschliche, ein fremdes materielles Wesen, sein höchstes Wesen ist? [...] [125] [...] Der Staat hat ein Recht gegen den Angeklagten, weil er diesem Individuum als Staat gegenübertritt. Unmittelbar folgt daher für ihn die Pflicht, als Staat und in der Weise des Staates sich zu dem Verbrecher zu verhalten. Der Staat hat nicht nur die Mittel, auf eine Weise zu agieren, die ebenso seiner Vernunft, seiner Allgemeinheit und Würde, wie dem Recht, dem Leben und Eigentum des inkriminierten Bürgers angemessen ist; es ist seine unbedingte Pflicht, diese Mittel zu haben und anzuwenden. Vom Waldeigentümer, dessen Wald nicht der Staat und dessen Seele nicht die Staatsseele ist, wird dies niemand verlangen. – Was folgert man? Daß, weil das Privateigentum nicht die Mittel hat, sich auf den Staatsstandpunkt zu erheben, der Staat die [126] Verpflichtung hat, zu den vernunft- und rechtswidrigen Mitteln des Privateigentums herabzusteigen. Diese Anmaßung des Privatinteresses, dessen dürftige Seele nie von einem Staatsgedanken erleuchtet und durchzuckt worden ist, ist eine ernste und gründliche Lektion für den Staat. Wenn der Staat sich auch nur an einem Punkt so weit herabläßt, statt in seiner eigenen Weise in der Weise des Privateigentums tätig zu sein, so folgt unmittelbar, daß er sich in der Form seiner Mittel den Schranken des Privateigentums akkommodieren muß. Das Privatinteresse ist schlau genug, diese Konsequenz dahin zu steigern, daß es sich in seiner beschränktesten und dürftigsten Gestalt zur Schranke und zur Regel der Staatsaktion macht, woraus, abgesehen von der vollendeten Erniedrigung des Staats, umgekehrt folgt, daß die vernunftund rechtswidrigsten Mittel gegen den Angeklagten in Bewegung gesetzt werden, denn die höchste Rücksicht auf das Interesse des beschränkten Privateigentums schlägt notwendig in eine maßlose Rücksichtslosigkeit gegen das Interesse des Angeklagten um. Wenn es sich hier aber klar herausstellt, daß das Privatinteresse den Staat zu den Mitteln des Privatinteresses, wie sollte nicht folgern, daß eine Vertretung der Privatinteressen, der Stände, den Staat zu den Gedanken des Privatinteresses degradieren will und muß? Jeder moderne Staat, entspreche er noch so wenig seinem Begriff, wird bei dem ersten praktischen Versuch solcher gesetzgebenden Gewalt gezwungen sein, auszurufen: Deine Wege sind nicht meine Wege, und deine Gedanken sind nicht meine Gedanken! [...] [135] [...] Wir kommen zu den Strafbestimmungen. „Ein Deputierter der Ritterschaft hielt den Waldeigentümer immer noch nicht für hinlänglich entschädigt, wenn ihm selbst die Strafgelder (außer der Erstattung des einfachen Werts) zufielen, die häufig nicht einziehbar sein würden.“
Ein Abgeordneter der Städte bemerkte:
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Karl Marx „Die Bestimmung dieses Paragraphen (§ 15) könnte zu den bedenklichsten Folgen führen. Der Waldeigentümer erhalte auf diese Weise dreifache Entschädigung, nämlich den Wert, vier-, sechs- oder achtfache Strafe und noch besondren Schadenersatz, welcher oft ganz arbiträr ermittelt und mehr das Resultat einer Fiktion als der Wirklichkeit sein werde. Jedenfalls scheine ihm angeordnet werden zu müssen, daß die fragliche besondere Entschädigung gleich am Forstgericht vorgefordert und im Forsturteil zugesprochen werden müsse. Daß der Beweis des Schadens besonders geliefert und nicht lediglich auf das Protokoll gegründet werden könne, liege in der Natur der Sache.“
Es wurde hiegegen durch den Herrn Referenten und ein anderes Mitglied erläutert, wie der hier angeführte Mehrwert sich in verschiedene von ihnen bezeichneten Fällen ergeben könne. Der Paragraph ward angenommen. [136] Das Verbrechen wird zu einer Lotterie, in welcher der Waldeigentümer, wenn das Glück will, sogar noch Gewinste ziehen kann. Es kann sich ein Mehrwert ergeben, aber es kann auch der Waldeigentümer, der schon den einfachen Wert erhält, durch die vier-, sechs-, oder achtfache Strafe ein Geschäft machen. Erhält er aber außer dem einfachen Wert noch besonderen Schadenersatz, so ist die vier-, sechs-, oder achtfache Strafe jedenfalls reiner Gewinn. Glaubt ein Mitglied des Ritterstandes, die zufallenden Strafgelder seien keine hinreichenden Garantien, weil sie häufig nicht einziehbar sein würden, so werden sie dadurch doch keinesfalls einziehbar, daß außer ihnen noch Wert und Schadenersatz einzuziehen sind. Wir werden übrigens sehen, wie man dieser Nichteinziehbarkeit ihren Stachel zu rauben weiß. Konnte der Waldeigentümer sein Holz besser assekurieren, als es hier geschehen ist, wo man Verbrechen in eine Rente verwandelt hat? Ein geschickter Feldherr, verwandelt er den Angriff auf sich in eine unfehlbare Gelegenheit siegreichen Gewinnes, denn sogar der Mehrwert des Holzes, die ökonomische Schwärmerei, verwandelt sich durch den Diebstahl in eine Substanz. Dem Waldeigentümer muß nicht allein sein Holz, sondern auch sein Holzgeschäft garantiert werden, während die bequeme Huldigung, die er seinem Geschäftsführer, dem Staat, darbringt, darin besteht, daß er ihn nicht bezahlt. Es ist ein exemplarischer Einfall, die Strafe des Verbrechens aus einem Siege des Rechts gegen die Attentate auf das Recht in einen Sieg des Eigennutzes auf die Attentate auf den Eigennutz zu verwandeln. Wir machen unsere Leser aber vorzugsweise auf die Bestimmung des § 14 aufmerksam, eine Bestimmung, wobei man sich der Gewohnheit entschlagen muß, die leges barbarorum für Gesetze der Barbaren zu halten. Die Strafe nämlich als solche, die Wiederherstellung des Rechts, wohl zu unterscheiden von der Erstattung des Wertes und dem Schadensersatz, der Wiederherstellung des Privateigentums, wird aus einer öffentlichen Strafe zu einer Privatkomposition, die Strafgelder fließen nicht in die Staatskasse, sondern in die Privatkasse des Waldeigentümers. Ein Abgeordneter der Städte meint zwar: „Dies widerstreite der Würde des Staats und den Prinzipien einer guten Strafrechtspflege“, aber ein Deputierter der Ritterschaft „appelliert an das Rechts- und Billigkeitsgefühl der Versammlung zum Schutz des Interesses des Waldeigentümers“, also an ein apartes Rechts- und Billigkeitsgefühl.
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Die barbarischen Völker lassen dem Beschädigten für ein bestimmtes Verbrechen eine bestimmte Komposition (Sühnegeld) zahlen. Der Begriff der öffentlichen Strafe kam erst im Gegensatz zu dieser Ansicht auf, die im [137] Verbrechen nur eine Verletzung des Individuums erblickt, aber das Volk und die Theorie müssen noch erfunden werden, welche dem Individuum die Privat- und Staatsstrafe zu vindiziern die Gefälligkeit besitzen. [...] Durch die Erstattung des Werts und noch gar eines besonderen Schadenersatzes existiert kein Verhältnis mehr zwischen dem Holzdieb und dem Waldeigentümer, denn die Holzverletzung ist vollständig aufgehoben. Beide, Dieb und Eigentümer, sind in die Integrität ihres frühern Zustand zurückgetreten. Der Waldeigentümer ist bei dem Holzdiebstahl nur soweit affiziert, als das Holz, aber nicht soweit, als das Recht verletzt ist. Nur die sinnliche Seite des Verbrechens trifft ihn, aber das verbrecherische Wesen der Handlung ist nicht die Attacke auf das materielle Holz, sondern die Attacke auf die Staatsader des Holzes, auf das Eigentumsrecht als solches, die Verwirklichung der unrechtlichen Gesinnung. Hat der Waldeigentümer Privatansprüche auf die rechtliche Gesinnung des Diebes, und was sollte die Vervielfachung der Strafe bei Wiederholungsfällen anders sein als eine Strafe der verbrecherischen Gesinnung? Oder kann der Waldeigentümer Privatforderungen haben, wo er keine Privatansprüche hat? War der Waldeigentümer vor dem Holzdiebstahle der Staat? Nein, aber er wird es nach dem Holzdiebstahl. Das Holz besitzt die merkwürdige Eigenschaft, sobald es gestohlen wird, seinem Besitzer Staatsqualitäten zu erwerben, die er früher nicht besaß. Der Waldeigentümer kann doch nur zurückerhalten, was ihm genommen wurde. Wird ihm der Staat zurückgegeben, und er wird ihm zurück gegeben, wenn er außer dem Privatrecht das Staatsrecht auf den Frevler erhält, so muß ihm auch der Staat geraubt werden, so muß der Staat sein Privateigentum gewesen sein. Der Holzdieb trug also, ein zweiter [138] Christophorus, in den gestohlenen Blöcken den Staat selbst auf seinem Rücken. Die öffentliche Strafe ist die Ausgleichung des Verbrechens mit der Staatsvernunft, sie ist daher ein Recht des Staats, aber sie ist ein Recht des Staats, welches er sowenig an Privatleute zedieren, als ein Individuum dem andern sein Gewissen abtreten kann. Jedes Recht des Staats gegen den Verbrecher ist zugleich ein Staatsrecht des Verbrechers. Sein Verhältnis zum Staat kann durch kein Unterschieben von Mit[tel]gliedern in ein Verhältnis zu Privaten verwandelt werden. Wollte man dem Staat selbst das Aufgeben seiner Rechte, den Selbstmord, gestatten, so wäre doch immerhin das Aufgeben seiner Pflichten nicht nur eine Nachlässigkeit, sondern ein Verbrechen. Der Waldeigentümer kann also ebensowenig durch den Staat ein Privatrecht auf die öffentliche Strafe erhalten, als er an und für sich irgendein denkbares Recht darauf besitzt. Wenn ich aber die verbrecherische Tat eines Dritten in Ermangelung rechtlicher Ansprüche zu einer selbständigen Erwerbsquelle mir gestalte, werde ich dadurch nicht sein Mitschuldiger? Oder bin ich weniger sein Mitschuldiger, weil ihm die Strafe und mir der Genuß des Verbrechens zufällt? Die Schuld wird nicht gemildert, wenn ein Privatmann seine Qualität als Gesetzgeber dazu mißbraucht, sich selber Staatsrechte durch das Verbrechen Dritter zu arrogieren. Der Unterschleif öffentlicher Staatsgelder ist ein Staatsverbrechen, und sind die Strafgelder keine öffentlichen Staatsgelder? [...] [139]
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„Rheinische Zeitung“ Nr. 307 vom 3. November 1842 [...] [141] [...] Der Staat kann und muß sagen: ich garantiere das Recht gegen alle Zufälle. Das Recht allein ist in mir unsterblich, und darum beweise ich euch die Sterblichkeit des Verbrechens, indem ich es aufhebe. Aber der Staat kann und darf nicht sagen: ein Privatinteresse, eine bestimmte Existenz des Eigentums, eine Waldhut, ein Baum, ein Holzsplitter, und gegen den Staat ist der größte Baum kaum ein Holzsplitter, ist gegen alle Zufälle garantiert, ist unsterblich. Der Staat kann nicht an gegen die Natur der Dinge, er kann das Endliche nicht gegen die Bedingungen des Endlichen, nicht gegen den Zufall stichfest machen. Sowenig euer Eigentum vor dem Verbrechen von dem Staat gegen jeden Zufall garantiert werden konnte, so wenig kann das Verbrechen diese unsichere Natur eures Eigentums ins Gegenteil verkehren. Allerdings wird der Staat euer Privatinteresse sichern, soweit es durch vernünftige Gesetze und vernünftige Präventivmaßregeln gesichert werden kann, aber der Staat kann eurer Privatforderung an den Verbrecher kein anderes Recht zugestehen als das Recht der Privatforderung, den Schutz der Zivilgerichtsbarkeit. Könnt ihr euch auf diesem Wege wegen der Mittellosigkeit des Verbrechers keine Kompensation verschaffen, so folgt weiter nichts als, daß jeder rechtliche Weg zu dieser Kompensation aufgehört hat. Die Welt fällt deswegen nicht aus ihren Angeln, der Staat verläßt deswegen nicht die Sonnenbahn der Gerechtigkeit, und ihr habt die Vergänglichkeit alles Irdischen erfahren, eine Erfahrung, die eurer gediegenen Religiösität kaum als pikante Neuigkeit oder wunderlicher als Stürme, Feuersbrunst und Fieber erscheinen wird. Wollte der Staat aber den Verbrecher zu eurem temporellen Leibeigenen machen, so opferte er die Unsterblichkeit des Rechts eurem endlichen Privatinteresse. Er bewiese also dem Verbrecher die Sterblichkeit des Rechts, dessen Unsterblichkeit er ihm in der Strafe beweisen muß. [...]
Christian Reinhold Köstlin (1813–1856) System des deutschen Strafrechts (1855) Einleitung. §. 1. Das Recht ist eine Form der Sittlichkeit. Was in subjektiver Form die Moral ist, das ist in objektiver Form das Recht. Wie alle Formen der Sittlichkeit, so besteht auch das Recht in der Einheit des allgemeinen Willens mit dem des Einzelnen. Seine Eigenthümlichkeit andern sittlichen Mächten gegenüber liegt aber eben darin, daß es das äußere Leben der Gattung und ihr gesellschaftliches Zusammensein zu seiner Sphäre hat. Alles, was am Begriffe des Rechtes Theil nimmt, fällt daher nothwendig in den Bereich des äußeren Daseins, sowie umgekehrt alle sittlichen Elemente (z.B. Religion, Wissenschaft etc.), sobald sie diesen Boden betreten, unter den Typus des Rechts fallen. N.Rev. S. 21–27. §. 2. Das Unrecht ist das Gegentheil des Rechts; es muß daher darin bestehen, daß der Einzelwille in der Sphäre des äußern Daseins mit dem allgemeinen nicht identisch ist. Dieser Gegensatz verwirklicht sich aber in folgenden Stufen: 1) der Wille ist zunächst die Möglichkeit zu beidem, dem Rechte gemäß zu sein oder dasselbe zu verletzen, – das bloß mögliche (polizeiliche) Unrecht; – 2) der Einzelwille hebt seine Einheit mit dem allgemeinen wirklich auf, aber noch ohne bestimmtes Bewußtsein dieses Unterschieds, – das bürgerliche Unrecht; – 3) der Unterschied des Einzelwillens vom allgemeinen wird zum bewußten Gegensatze, – das Verbrechen. N.Rev. S. 28–31. Auch im Gebiete 2) giebt es eine Klasse von Unrecht, welches nicht mehr (mit Hegels sonst glücklichem Ausdruck) unbefangenes Unrecht genannt, gleichwohl aber auch nicht dem Verbrechen (Nr. 3) zugezählt werden kann. Dahin gehören alle die Fälle, wo durch eine in civilrechtlichem Sinne dolose oder kulpose [2] Handlungsweise – Frivolität, Eigenmächtigkeit, Leichtsinn, Trägheit u. drgl. – Schadenersatzpflicht begründet wird, ohne daß doch dem Schuldigen eine prinzipielle Entgegensetzung seines Willens gegen das Recht als solches nachzuweisen ist, mit welchem er vielmehr, wenn auch auf der äußersten Grenzlinie, immer noch sich zu konformiren wünscht und glaubt (ein noch wenig beachteter Punkt). §. 3. In allen seinen Formen ist jedoch das Unrecht das in sich selbst Nichtige, weil es der Begriff des Rechts ist, das unbedingte Wesen aller in die äußere Existenz fallenden Verhältnisse zu sein, hiegegen aber der Begriff des Unrechts ein bloßer Schein, mithin ein sich selbst Aufhebendes und sein Gegentheil Forderndes ist. Diese Forderung gestaltet sich aber verschieden nach den Stufen des Unrechts. 1) Das erste bloß mögliche Unrecht kann eben insofern nicht Gegenstand einer WieT. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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deraufhebung sein, sondern nur die Thätigkeit des Schutzes und der Vorbeugung gegen sich hervorrufen (Sicherheitspolizei). 2) Dagegen ist nun das bürgerliche Unrecht ein bereits in die Wirklichkeit getretenes und darum wiederaufzuhebendes. Da es jedoch seine Existenz nicht im Willen, sondern nur in der Sphäre des äußeren Daseins hat, so genügt seine Wiederaufhebung in dieser Sphäre, welche sich als Vergütung des gestifteten Schadens vollzieht (bürgerliche Rechtspflege). 3) Auch das peinliche Unrecht kann einen solchen äußeren Schaden stiften, der vergütet werden muß. Allein hier genügt es an dieser Entschädigung nicht. Da vielmehr dieses Unrecht seine Existenz wesentlich im Willen hat, so fordert es seine Wiederaufhebung auch in dieser Sphäre (Strafrechtspflege). N.Rev. S. 32–37. Das abstrakte Wesen des polizeilichen Unrechts ist von seinem Hervortreten im Staate, womit die Polizeistrafgerichtsbarkeit zusammenhängt, wohl zu unterscheiden [...] – Das Verhältniß der neueren deutschen Gesetzgebungen zu dem §. 1 aufgestellten Begriff ist als ein allmälig sich annäherndes zu bezeichnen, da man immer mehr einsieht, daß der noch im Anf. dieses Jahrhunderts herrschend gewesene, vornämlich nur vom Privatrechte abgezogene und höchstens durch Fiktionen ausgedehnte Rechtsbegriff ein zu enger ist, der innerlich und äußerlich erweitert werden muß. Aeltere Rechtsquellen enthielten hier oft in ihrer Unbefangenheit viel Richtiges, wozu man erst jetzt wieder zurückkehrt. [3]
Erster Theil. Das Verbrechen. §. 4. Als eine Art des Unrechts (§. 2.) besteht das Verbrechen in einer Losreißung des Einzelwillens vom allgemeinen im Gebiete des äußern Daseins. Hiermit ist gesetzt 1) als Inhalt des Verbrechens die grundsätzliche Verletzung des Rechts, 2) als seine Form die Gegenständlichmachung des Willens im äußeren Dasein, d.h. die Handlung; 3) beides zusammen ergiebt den Begriff oder allgemeinen Thatbestand des Verbrechens.
Erstes Kapitel. Die Rechtsverletzung. §. 5. Den Inhalt des Verbrechens bildet die Verletzung des Rechts als solchen. Denn eben dadurch unterscheidet es sich von den übrigen Arten des Unrechts. Da nun aber (§. 1.) das Recht die Sittlichkeit in der Form des äußern Daseins ist, so folgt, daß es eben auch nur in dieser Form verletzt werden kann. Es ist hiernach am Verbrechen a) ein substantielles Moment, und b) das Moment der Erscheinung zu unterscheiden; aber erst c) die konkrete Einheit beider macht den vollen Inhalt des Verbrechens seinem Gegenstand nach aus.
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Erster Abschnitt. Substantielles Moment. §. 6. Das Verbrechen hat im Gegensatze zu jeder andern Art von Unrecht seine Eigenthümlichkeit darin, daß es nicht bloß gegen eine bestimmte Erscheinung des Rechts, sondern gegen dessen Wesen gerichtet ist. Es negirt das Recht in seiner Allgemeinheit, es stellt [4] den Grundsatz in Frage, auf welchem das angegriffene besondere Recht beruht. N.Rev. S. 40–431. §. 7. Das Wesen der Sittlichkeit ist dasselbe in allen seinen Formen. Daraus folgt, daß eine Verletzung des Rechts als Recht niemals moralische oder religiöse Pflicht sein kann2. Umgekehrt giebt es aber allerdings Verletzungen von Pflichten, welche keineswegs den Charakter von Rechtsverletzungen haben, weil die betreffende sittliche Potenz nicht in den Kreis des äußern Daseins fällt. N.Rev. §. 157.158. Erstere Bestimmung hat allerdings einen auf sittlicher Grundlage beruhenden Staat zur Voraussetzung. Wo es hieran oder wenigstens an einer auf sittlicher Grundlage beruhenden Staatsverwaltung fehlt, da können freilich für den Einzelnen Pflichtenkonflikte entstehen, deren Lösung nicht mehr im Bereiche der Wissenschaft liegt. Die letztere Bestimmung ist – im entschiedenen Gegensatz zu den morgenländischen Rechten – von den abendländischen von jeher anerkannt worden. [...] §. 8. Als Rechtsverletzung muß nämlich das Verbrechen auch die dem Rechte seinem Wesen nach zukommende Bestimmtheit annehmen. Die im Begriffe des Verbrechens liegende unendlich negative Tendenz gegen das Recht muß sich daher zum bestimmten, äußerlich hervortretenden Akte besondern. N.Rev. S. 44–45. [5]
Zweiter Abschnitt. Moment der Erscheinung. §. 9. Dieses Moment enthält selbst wieder ein doppeltes: 1) die formelle Daseinsbestimmtheit des Rechts überhaupt, – seine Positivität; 2) seine Besonderung dem Inhalte nach. 1
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Abegg Lb. §. 100. Da nun keine andere Art von Unrecht außer dem Verbrechen den Strafzwang hervorruft (§. 3), so fällt die Eigenschaft der Strafbarkeit zusammen. A.M. Abegg ebend. §. 110. 111. Daß die Strafbarkeit sich sofort zur Strafgesetzwidrigkeit fortbestimmen muß, darüber s. §. 10 ff. Selten wird gerade dieses Hauptmoment richtig erkannt, selbst von solchen, die im Allgemeinen der richtigen Ansicht folgen. N. Rev. S. 608–612.
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I. Die Positivität des Rechts. §. 10. Der sittliche Geist – in der Form des Rechts, wie in der Form der Pflicht – ist der Potenz nach im menschlichen Geiste gesetzt, aber eben nur als ein Keim, den die Willkühr nach Belieben entwickeln kann. Deßhalb muß er zugleich Formen annehmen, welche der menschlichen Freiheit als unbedingte Normen des Wollens gegenüberstehen. Die angemessene Form dieser Art für die Sphäre des objektiven Daseins der Sittlichkeit (des Rechts) ist die – des Gesetzes, welches gegen die Freiheit des Menschen gleichgiltig, seine unbedingte Erfüllung verlangt und diese Forderung nöthigenfalls durch Zwang verwirklicht. N.Rev. S. 640–644. §. 11. In dieser Formbestimmtheit als Gesetz tritt das Recht in’s Dasein und fällt a) als gesetztes (positives) Recht unter die Bedingungen des Raums und der Zeit; b) wird es eine Sache des gesellschaftlichen Bedürfnisses und Wohls; c) unterliegt es der Nothwendigkeit, einem bestimmten Staate anzugehören. 1. Das positive Recht. §. 12. Als die absolute Norm des objektiv Sittlichen ist nun das Recht in der That schon seiner Natur gemäß stets in einer vom Einzelwillen unterschieden Formbestimmtheit gesetzt, d.h. es ist als die allgemeine Regel der dem gesellschaftlichen Leben angehörigen Handlungen mehr oder minder bestimmt für das Bewußtsein fixirt und als diese Regel bekannt. Durch diese Bestimmtheit ist es Gesetz (im w.S.), – positives Recht, und zwar auch schon in der Form der Sitte oder des Gewohnheitsrechts. N.Rev. §. 173.174. Als eigentliches Gewohnheitsrecht (im e.S.) kommt allerdings das Strafrecht seiner eigenthümlichen Natur nach nur in Zeiten unreifer Staatsbildung vor (s. z.B. die deutschen Volksrechte), während es, sobald einmal eine gesetzge- [6] bende Gewalt besteht, nur noch in der Form des Gerichtsgebrauchs wirksam werden kann. [...] §. 13. Hierdurch giebt sich das Recht an die Bedingungen der Endlichkeit hin, es verfällt der Nothwendigkeit der Entwicklung in Raum und Zeit. Da nun in dieser Sphäre des Daseins die Besonderheit und Zufälligkeit ihre Stelle haben, so kann das gesetzte (positive) Recht allerdings seinem Inhalte nach von dem verschieden sein, was an sich Recht ist. N.Rev. S. 650–6523.
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Hegel Rechtsphilos. §. 212. vgl. Abegg Strafrechtstheorien 58–63.
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Die Rechtsidee ist der Nothwendigkeit einer weltgeschichtlichen Entwicklung und einer durch örtlich und zeitlich bedingte, mannigfach unvollkommene Erscheinungen hindurchgehenden allmäligen Vervollkommnung ihres endlichen Lebens unterworfen4. Diese Einsicht, zu welcher nur die (freilich nur erst in Anfängen [7] kultivirte) Philosophie der Geschichte zu führen vermag, giebt dem Juristen allein diejenige feste Stimmung, welche ihn ebenso gegen jeden radikalen Versuch, alles Bestehende umzustürzen, wie gegen jedes geist- und gewissenlose Unternehmen, eine überwundene Kulturstufe gewaltthätig festzuhalten, widerstandskräftig zu machen im Stande ist. §. 14. Da mithin das Recht, welches den Gegenstand der Verletzung bildet, nur in einem durch Gesetz und Gewohnheitsrecht bestimmten Dasein vorkommen kann, so muß ein Verbrechen immer die Uebertretung eines Gesetzes im w. S., d.h. einer positiven Rechtsbestimmung sein. N.Rev. §. 177. Da Feuerbach diesen Satz (wenn auch mit unrichtiger Ausschließung des Gewohnheitsrechts) nicht nur anerkennt, sondern sogar sein ganzes Strafrechtssystem auf die Abschreckung durch das Strafgesetz baut, so hat es geringe praktische Bedeutung, wenn er unter den Quellen des positiven Strafrechts auch die Philosophie des Strafrechts aufführt. Jetzt ist es aber wohl als allgemein angenommen zu betrachten, daß es ein "natürliches" Strafrecht mit praktischer Bedeutung nicht gebe. [...] §. 15. Daraus folgt, daß kein Verbrechen vorliegt, wo eine Handlung, sollte sie auch übrigens die Eigenschaft einer Rechtsverletzung an sich zu haben scheinen, vom Gesetze (im w. S.) entweder geduldet oder sogar geboten, oder wo dem Gegenstande derselben durch das Gesetz diejenige Eigenschaft entzogen ist, vermöge welcher sie eben den Charakter der Rechtsverletzung haben würde. N.Rev. §. 178. [16] [...] 2. Das Recht als Sache des gesellschaftlichen Bedürfnisses und Wohls. §. 16. In der Nothwendigkeit der allgemeinen Verbindlichkeit des Gesetzes (im w. S., d.h. als positiven Rechts) liegt nun aber die Forderung, daß es auch wirklich für das Bewußtsein derer, die es verbinden soll, die Form der Allgemeinheit habe, d.h. daß es ausdrücklich allgemein bekannt gemacht sei. Zwar wird nicht erst hiedurch die allgemeine Verbindlichkeit begründet; aber es ist ein Unrecht des Staats, wenn er auf einem gewissen Standpunkte der Bildung diese Forderung zu befriedigen versäumt. N.Rev. S. 654– 655. 4
Abegg Lb. S. 94. 95.
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Der gründlich durchgefochtene Streit über Kodifikationen ist im Gebiete des Strafrechts auf dem Wege des Bedürfnisses zur Entscheidung gebracht worden, – leider nicht mehr zum Heile der Einheit des deutschen Rechts. [17] §. 17. Indem das Recht als Gesetz im w. S. Dasein hat, so hat es auch für das allgemeine Bewußtsein unter den räumlichen und zeitlichen Bedingungen seiner Existenz Dasein. Das Verbrechen als Verletzung des so bestimmten Rechts nimmt daher zugleich Beziehungen auf das allgemeine Wissen und Wollen der Gesellschaft an, für welche das Gesetz gilt. Es erscheint nicht mehr bloß als Verletzung einer einzelnen Berechtigung, sondern als die Verletzung aller ähnlichen Berechtigungen. Hiermit erhält es den Charakter der Gefährlichkeit für die Gesellschaft; es stellt sich als ein nicht bloß isolirter, sondern weitere Gefahren (von Seiten des Thäters und von Seiten der Uebrigen, die ein böses Beispiel daran nehmen können) drohender Akt dar, der über seine Besonderheit hinaus eine allgemeine Wirkung haben kann5. N.Rev. S. 677–683. §. 18. Eben vermöge seiner Beziehung auf den allgemeinen gesellschaftlichen Zustand erweitert sich aber der Begriff des Verbrechens über sich selbst hinaus zu dem Begriff der nicht das Recht als Recht verletzenden, dagegen das Wohl der Gesellschaft und mittelbar den Rechtszustand selbst gefährdenden – gefährlichen Handlung im e.S., deren nothwendige Abwehr eine neben der Rechtspflege bestehende eigenthümliche allgemeine Thätigkeit, die Sicherungspolizei voraussetzt. Die Nothwendigkeit der gedachten Thätigkeit liegt in der Absolutheit des Rechts als der unverbrüchlichen Norm des gesellschaftlichen Lebens, welche durch die Rechtspflege nicht vollkommen gesichert wird, noch gesichert werden kann. Da diese nämlich für den Eintritt ihrer Thätigkeit stets eine bereits in's Dasein getretene konkrete Verletzung des Rechts voraussetzt, so läßt sie eben darum die Existenz des die erlaubten Zwecke des einzelnen und des Gemeinwohls mitumfassenden rechtlichen Zustandes überhaupt in der Zufälligkeit beharren, welche ihm schlechthin unangemessen ist. Die Folge hievon ist, daß neben der Rechtspflege eine andere allgemeine Thätigkeit bestehen muß, deren Aufgabe darin besteht, dem Unrecht vorzubeugen und eben zu diesem Behuf auch an sich nicht rechtsverletzende, aber gefährliche Handlungen unter Strafandrohung zu verbieten. Solche Handlungen können entweder in einer an und für sich schon zum [18] Verbrechen sich neigenden Gesinnung ihren Ursprung haben, oder können sie an sich nicht unrechtliche Akte sein, die jedoch durch den Konflikt mit irgend einer zum Zweck des gemeinen Wohls bestehenden Anstalt dem Rechte Gefahr drohen. Immer haben sie den Charakter, die reale Möglichkeit der Verletzung eines Rechts in sich zu schließen. Die hiernach ihrem Begriffe anklebende Unbestimmtheit erzeugt die doppelte Forderung: 1) daß gesetzlich genau bestimmt werde, was als eine solche gefährliche und darum verbotene Handlung gelten soll, 2) daß nur solche Handlungen hiezu gestempelt werden, welche ihrer Natur und der Regel nach aus sub5
Hegel §. 218.
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jektiven oder objektiven Gründen als Vermittlungen von Rechtsverletzungen betrachtet werden können. N.Rev. S. 692–703. [19] [...] Was [...] die [...] Frage nach der Existenz und Natur eigenthümlicher Polizeivergehen und folgeweise eines spezifischen Polizeistrafrechts betrifft, so kreuzen sich [...] auf diesem von den Schriftstellern über Polizei selbst meist als trostlosem Labyrinth anerkannten Gebiete noch immer sehr verschiedene Ansichten, die indessen von unserem Standpunkte aus folgende Uebersicht zulassen. a) Eine in Deutschland ausgestorbene, dagegen in romanischen Ländern noch immer nachtreibende Schule ließ die Strafrechtspflege selbst in dem Begriff der Sicherungspolizei aufgehen, sofern sie den Strafzwang überhaupt auf den Grundsatz der Sicherung zu begründen suchte. Nach dieser Grundansicht muß natürlich eine Polizeistrafgerechtigkeit anerkannt werden, aber ihr Unterschied von der peinlichen kann nur ein quantitativer sein. Dies zeigt sich in der Prinziplosigkeit der Scheidung beider Gebiete, wie auf's Deutlichste aus der auf jener Grundlage geschriebenen scharfsinnigen Abh. von Stübel über die gefährlichen Handlungen hervorgeht6. b) Gerade umgekehrt behaupten Andere, daß neben der Kriminalrechtspflege von einer besonderen Polizeistrafrechtspflege nicht die Rede sein könne; der eine aus staatsrechtlichen Gründen, weil dadurch alle bürgerliche Freiheit vernichtet werde7, andere deßhalb, weil sie die Polizei ihrem Begriffe nach vor allem und jedem Eingreifen in Strafgesetzgebung und Strafjustiz ausschließen und lediglich auf das Vorbeugen mittelst physischer Gewalt eingrenzen zu müssen glauben8. c) Dagegen ist die in allen Kreisen weit am meisten ver- [20] breitete Ansicht die, daß allerdings Verbrechen und bloße Polizeivergehen unterschieden werden müssen, weil letztere, wenn sie sich auch immerhin letzlich doch wieder auf einen kriminalrechtlichen Gesichtspunkt (Ungehorsam) zurückzuführen lassen, gleichwohl eine von Grund aus verschiedene Natur haben, welche nicht allein bestimmte Einrichtungen der Gerichtsorganisation, sondern auch eine mannigfach verschiedene materielle Behandlung (namentlich z.B. in Beziehung auf Zurechnung zu dolus oder culpa, Versuch, Rechtsirrthum etc.) bedingt. Allein die schwierige Frage ist nun eben die über die Grenze zwischen dem eigentlichen Kriminal- und dem bloßen Polizeistrafrecht. [...] [folgt: Darstellung der Ansätze] [...] [26] [...] §. 19. Beide Forderungen, die Gesetze über Verbrechen überhaupt bekannt zu machen (§. 16), und die als gefährlich zu verbietenden Handlungen insbesondere gesetzlich festzustellen (§. 18.), setzen eine Macht voraus, welche berechtigt und verpflichtet ist, den allgemeinen Willen in der ihm angemessenen Form der Allgemeinheit auszusprechen. Beide Forderungen sind aber Ausflüsse der allgemeinen 6
7 8
Im NArchCrR VIII. 236–323. Stübel unterscheidet sich denn auch von seinen Nachbetern sehr vortheilhaft gerade dadurch, daß er dies offen heraussagt. s. bes. S. 249–254. 257. 266–275. 286. 307. 309. [...] Vgl. Feuerbach §. 22. n. 2. [...] s. bes. Lotz im NArchCrR IV. 485 ff. [...]
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doppelten Forderung, daß das Recht überall als das Wohl der Einzelnen verwirklicht und daß das Wohl der Einzelnen als Rechtsangelegenheit behandelt werde, und hiernach der weiteren Forderung einer höheren allgemeinen, eben diese Wechselwirkung organisch realisirenden Thätigkeit. Da nun in der Vermittlung von Recht und Wohl nichts Anderes sich darstellt, als die im Begriff des Rechts liegende Vermittlung des allgemeinen mit dem Einzelwillen in dem Kreise des äußeren Daseins (die als das eigene Interesse der Individuen verwirklichte Herrschaft des sittlich Nothwendigen in dieser Sphäre, §. 1), so liegt in der Realisation jener Wechselwirkung die organische Verwirklichung der Rechtsidee selbst in ihrer Totalität. §. 20. Die allgemeine Macht, welche hiezu den Beruf hat, ist diejenige, welche, den allgemeinen Willen (gleichsam die allgemeine Persönlich-[27] keit) in sich verkörpernd, den Individuen als ein aus sich seiendes, das gesammelte Gebiet der objektiven Existenz des sittlich Nothwendigen umspannendes Ganzes gegenüber tritt, – der Staat. N.Rev. §. 185. 3. Der Staat. §. 21. Als dieser Ausdruck der sittlichen Idee im Gebiete des äußeren gesellschaftlichen, räumlich und zeitlich bedingten Daseins hat der Staat 1) den besonderen Volksgeist zu seinem Organe9. Der allgemeine Wille in dieser Sphäre ist daher Ausfluß der Volksüberzeugung, und das positive Recht erscheint als Ausdruck des Volkswillens, der einer unter die Kategorieen von Raum und Zeit fallenden Entwicklung unterliegt. Somit ist auch das positive Strafrecht als Recht eines bestimmten Staats wesentlich durch die Nationalität bestimmt und steht unter den allgemeinen Gesetzen der Endlichkeit. – 2) Indem nun aber der Staat den Organismus der Rechtsidee in ihrer Totalität darstellt, so umfaßt und trägt er nothwendig alle einzelnen Rechtssubjekte und relativen sittlichen Organismen, soweit sie überhaupt den Boden des äußeren Daseins betreten und deshalb den Typus des Rechts annehmen (Persönlichkeit, Familie, Kirche etc. §. 1.) als das höhere und fundamentale Ganze. Jedes Verbrechen gegen eine solche besondere sittliche Potenz erscheint daher, da das Verbrechen stets ein prinzipieller Angriff auf das Recht ist (§. 6.), als ein Angriff auf das Grundprinzip des Staats selbst, und eben deshalb ist nicht der Träger des verletzten besondern Rechts, sondern der Staat, als das Organ der angegriffenen Substanz der Rechtsidee, die zur Reaktion gegen das Verbrechen ebenso schlechthin berechtigte wie verpflichtete Macht. Indem jedoch der Staat alle sittlichen Kreise, sofern sie den Boden des äußeren Daseins betreten, in sich aufnimmt, so muß er gegen diejenigen derselben, welche ihr Prinzip außerhalb der objektiven Sittlichkeit haben und nur relativ den Rechtstypus annehmen (Familie, Kirche, Schule) die Grenze der beiderseitigen Berechtigung genau einhalten. – 3) 9
Vgl. v. Savigny System I. S. 13 ff.
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Je schärfer er aber diese Grenze einhält, um so unbedingter erscheint er innerhalb seines eigenthümlichen Gebiets als die zur Gesetzgebung und Rechtspflege gegen Verbrechen und gefährliche Handlungen ausschließlich berechtigte sittliche Macht.
A) Die Beziehung des Verbrechens auf die Strafgesetze eines bestimmten Staats. [...]
B) Die Grenzen der strafrechtlichen Wirksamkeit des Staats. [...]
C) Ausschließlichkeit der Rechtspflege des Staats in seiner eigenthümlichen Sphäre. §. 27. [73] [...] Innerhalb der ihm eigenthümlichen Sphäre (bleibt) der Staat die zur Reaktion gegen das objektiv Unsittliche, die Verletzung des Rechts als solchen allgemein und ausschließlich berechtigte und verpflichtete Macht; und, was ihm hier sogar mit Ausschluß jedes Privatvergleichs zusteht, das gebührt ihm in der Sphäre des Civilunrechts zum Mindesten für den Fall, daß die streitenden Partheien nicht gütlich übereinkommen können. Abgesehen von diesem Fall ist daher die Selbsthilfe, namentlich die Privatrache widerrechtlich. N.Rev. S. 705–708. [...] [386]
Zweiter Theil. Die Strafe und ihre Surrogate. §. 114. Alles Unrecht, hiermit zumeist das Verbrechen als höchste Stufe desselben, ist ein in sich Nichtiges und deshalb schlechthin Wiederaufzuhebendes (§. 1–3). Wie aber das Verbrechen selbst zwei wesentliche Momente hat, ein objektives (als Verletzung des im Staate gesetzten Rechts §. 5 ff.) und ein subjektives (als schuldvolle, das Recht mit Wissen und Willen verletzende Handlung eines Menschen §. 38 ff.), so muß auch die angemessene Wiederaufhebung desselben zwei entsprechende Seiten haben, – objektiv die Wiederherstellung des verletzten Rechts, subjektiv die Tilgung der verbrecherischen Schuld. Diese adäquate Tilgung des Verbrechens vollzieht sich durch die Strafe. [...]
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Erstes Kapitel. Die Strafe. §. 115. Dem Begriffe des Verbrechens gemäß (§ 112) ergiebt sich als angemessene, weil beiden wesentlichen Seiten entsprechende Wiederaufhebung desselben die Strafe. Eben hieraus konstituirt sich 1) ihr Begriff. Aus beiden Momenten lassen sich aber 2) verschiedene Zwecke der Strafe ableiten, welche – abstrakt aufgefaßt – mannigfach mit einander kollidiren. Aus der Rückbeziehung dieser vielfach [387] auseinanderlaufenden Zwecke auf den Begriff ergiebt sich jedoch 3) das Prinzip für die Strafe im e. S., d.h. für die vom Staat ausgehende, auf Verbrechen im e. S. sich beziehende Strafe. N.Rev. §. 197.
Erster Abschnitt. Begriff der Strafe. §. 116. Die Strafe enthält a) die objektive Wiederherstellung des Rechts aus seiner Verletzung. Darin liegt ihre abstrakte Gerechtigkeit und absolute Nothwendigkeit. Ueberall fordert nämlich die Gerechtigkeit, daß das Unrecht, als das in sich Nichtige, auch wirklich als solches aufgewiesen und behandelt, daß mithin der Zwang, den es enthält, durch Zwang wiederaufgehoben werde. Gegenüber dem bürgerlichen Unrechte (§. 3) wird diese Forderung durch den Entschädigungszwang erfüllt. Denn der Gegenstand der Verletzung ist hier nicht das Recht als solches (der Substanz nach), sondern das Unrecht liegt nur in einer irrigen Subsumtion des besondern Interesses unter den an sich in seiner absoluten Geltung anerkannten Rechtsbegriff. Ein Unrecht liegt auch hierin, weil immer ein Recht verletzt oder mit Verletzung bedroht ist und zwar mit dem Willen der betreffenden Person, die sich nur des Widerspruchs ihres Anspruchs mit dem an sich anerkannten Rechte nicht bewußt ist oder diesen Widerspruch wenigstens vor sich selbst verläugnet. Da aber das Unrecht hier unbewußt und unbefangen ist, so wird dasselbe völlig gut gemacht, wenn der betreffenden Person das Irrige ihrer Voraussetzung ausgewiesen und sie infolge davon angehalten wird, den streitigen Gegenstand oder seinen Werth zu restituiren. Dagegen kann die im Verbrechen liegende Verletzung der Substanz des Rechts (§. 6.) durch die etwa mögliche (u. betr. Falls notwendige) Restitution der äußerlichen Sache oder ihres Werths nicht wieder aufgehoben werden, da sie weit über diese hinausgeht, abgesehen davon, daß in vielen Fällen eine solche Entschädigung unmöglich wäre. Hier handelt es sich stets um eine grundsätzliche Verletzung des Rechts, um einen Angriff auf dasselbe in seinem innersten Kern und Wesen, mithin um ein Unrecht, das im Wissen und Willen des Handelnden liegt. Da nun das spezifische Unrecht beim Verbrechen eben nur in diesem Willen liegt, so folgt, daß die Wiederaufhebung des Verbrechens sich am Willen des Verbrechers vollzieht, in einem Zwange gegen diesen Willen bestehen muß. N.Rev. §. 198. [388] [...]
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§. 117. Die objektive Genugthuung für das verletzte Recht enthält nur erst den abstrakten Akt der Gerechtigkeit, die Nichtigerklärung des verbrecherischen Willens an sich. Der Begriff der Strafe muß aber ebensowohl b) die Tilgung der verbrecherischen Schuld in sich schließen (§. 114), d.h. eine Beziehung auf das Innere des Verbrechers haben, zu seiner Abschreckung von weiteren Verbrechen, zu seiner Besserung dienen. N.Rev. §. 199. [...] [389] [...] §. 118. Diese subjektive Beziehung der Strafe (§. 117.) würde jedoch für sich festgehalten, die Strafe zu einer allgemeinen Reaktion gegen die gesammte Subjektivität des Verbrechers verflüchtigen. Da aber die Strafe im e. S. durch das Verbrechen, d.h. durch eine bestimmte Handlung bedingt ist, so darf auch die subjektive Beziehung der Strafe nicht über das Maß der bestimmten verbrecherischen Handlung hinaus sich geltend machen. Sie darf also nur als Modalität innerhalb des objektiven Moments (§. 116) wirksam werden. Es ergiebt sich daher c) als Maß für die Strafe die Größe des begangenen Verbrechens, d.h. der verbrecherische Wille ist in demselben Umfange und in derselben Intensität einem Zwange zu unterwerfen, in welchem er dem im Gesetz ausgesprochenen allgemeinen Willen Zwang angethan hat. Dieser Zwang gegen den verbrecherischen Willen in dem Maße, welches er selbst durch die verbrecherische Handlung aufgestellt hat, ist eben nur die Selbstdarstellung seiner Nichtigkeit und erscheint [390] äußerlich als Wiedervergeltung. Sie ist als solche objektiv gerecht, indem sie nur Gleiches mit Gleichem (aber in der idealen Form des Werths) vergilt. Zugleich ist sie subjektiv gerecht, indem sie den Verbrecher nur nach dem Gesetze behandelt, das er selbst aufgestellt hat. Sie erscheint äußerlich als ein Uebel, ist aber in Wahrheit ein Gut, sofern sie dem Verbrecher die Nichtigkeit seines unvernünftigen Willens (eben so weit er es ist) zum Bewußtsein bringt und die Wiederherstellung seines Vernunftwillens aus seiner Selbstverneinung zum Zwecke hat. N.Rev. §. 198 a.E., 20010. [395] [...]
Zweiter Abschnitt. Die Zwecke der Strafe. §. 119. Die Zwecke der Strafe können sich, wenn diese nicht ihrer begriffsmäßigen Nothwendigkeit und ihres sittlichen Charakters ganz entkleidet werden soll, nur auf ihren Begriff selbst, d.h. entweder auf das objektive Moment (§. 16.) oder auf das subjektive (§. 117.) beziehen, in beiden Richtungen aber höchst mannigfaltig sein, da beide der Betrachtung verschiedene Seiten darbieten, die für sich in’s Auge gefaßt werden können. Alle diese Zwecke aber, auch die vom objektiven Moment abgeleiteten, [...] geben der Strafe mehr oder minder einen subjektiven Charakter, sofern sie in Vortheilen bestehen, welche durch die Strafe für den Ver10
Hegel Rechtsphil. §. 99–101. 220. Abegg Lb. §. 48. 49. 114–116. [...]
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brecher oder für Andre erzielt werden sollen. Diese Zweckbestimmungen haben nun ihre Berechtigung in der Einsicht, daß das Objektivistische (das Recht), wie alles Sittliche, durch Freie und für Freie gesetzt sei, mithin das Individuum nicht bloß als Accidenz des Staats betrachtet werden, vielmehr das Recht auch um des Menschen willen, für ihr Wohl dasein müsse, – eine Anerkennung, die am wenigstens in der Strafrechtspflege fehlen darf, da diese den Menschen in seinem Innersten, im freien Willen selbst ergreift. So wäre daher ein Unrecht, sie verläugnen zu wollen, ebensosehr aber eine Verkehrtheit, die eine oder andre, oder mehrere davon als Prinzipien für die Strafe setzen zu wollen, wozu nicht einmal ihre Gesammtheit wegen der ihnen allen anklebenden Relativität ausreichen würde. N.Rev. §. 201–204. S. 789. [...] [396] [...] §. 120. Sämmtliche relative (d.h. die Strafe durch Zwecke rechtfertigende) Theorieen stimmen negativ überein, daß sie die Absolutheit vielmehr (wenn auch auf verschiedene Weise) zu einem Produkte des Ichs machen. Der positive Ausdruck dafür ist: daß ihnen der Begriff des Wohls (der Summe aller Zwecke des Ichs) das höchste Prinzip bildet, das, wie in allen Staatsfunktionen, so auch in der Ausübung der Strafjustiz das oberste Gesetz ausmachen soll. Das Wohl kann nun entweder abstrakt als Einzelwohl (des Verbrechers), oder ebenso abstrakt als das Wohl Andrer (mit Ausschluß des ersteren), oder als das Wohl Aller und letzteres wieder von sehr verschiedenen Seiten aus aufgefaßt werden. Außerdem entstehen Unterschiede, je nachdem man den Strafzweck oder eine Mehrheit von Strafzwecken aus dem Bereich des objektiven oder aus dem des subjektiven Moments im Begriffe der Strafe oder aus beiden hernimmt. Ferner, je nachdem man den durch die Strafe zu erreichenden Zweck auf das begangene Verbrechen oder auf künftige Verbrechen derselben Person oder anderer Personen bezieht. Desgleichen, je nachdem man den Zweck durch Androhung oder durch Zufügung der Strafe erreichen will. Endlich wird bald ein Zweck ausschließlich zum Prinzip erhoben, bald eine Mehrheit von Zwecken anerkannt. [413]
Dritter Abschnitt. Das Prinzip der Strafe (und die Strafarten). §. 121. Das eigenthümliche Wesen des Staats besteht in der Verwirklichung des Sittlichen zu objektiver Geltung. Gleichwohl ist der Staat der Ausdruck der sittlichen Idee selbst, – auf einer bestimmten Stufe ihrer Verwirklichung. Daher darf er auch gegen die subjektive Verinnerlichung des sittlich Nothwendigen sich nicht abschließen. Wie daher alle Staatsthätigkeiten zur Vermittlung des Wohls der Einzelnen sich ausschließen müssen, so muß auch die Strafrechtspflege des Staats die Zwecke der Strafe für das Gemein- und Einzelwohl anerkennen und die Möglichkeit ihrer Verwirklichung, wo der Staat sie seinem spezifischen Wesen gemäß nicht direkt erstreben kann und darf, wenigstens passiv anerkennen. [...] Die Strafe des Staats [...] hat [...] nur Verbrecher zur Voraussetzung, d.h. solche Individuen,
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bei denen einer allgemeinen Norm zufolge die Freiheit als dem Stadium der Erziehung entwachsen anzunehmen ist. Daher darf der Staat zwar der Strafe keine der in ihrem Wesen liegenden subjektiven Intention (Erziehung, Züchtigung, Besserung etc.) entgegengesetzte Qualität geben; allein ebensowenig darf er diese subjektive Intention als die Hauptsache mit Zwang zu verwirklichen suchen (§. 118.). Vielmehr darf er mit seiner Reaktion die Subjektivität des Verbrechers nur in dem Maße ergreifen, wie dieser sie in der bestimmten Handlung selbst entäußert hat. Aber auch die auf das Gemeinwohl sich beziehenden Zwecke der Strafe können im Staatsstrafrecht keine abstrakte Geltendmachung ansprechen, da zwar allerdings das Recht zugleich als das allgemeine Wohl verwirklicht werden muß, hiebei aber das Prinzip des Wohls um so mehr als das sekundäre erscheint, als es die wesentliche Aufgabe einer andern Staatsthätigkeit (der Polizei) ist, das letztere Prinzip zum primären zu machen. Das Prinzip der vom Staat ausgehenden Strafe bestimmt sich daher dahin, daß sämmtliche aus dem objektiven oder subjektiven Moment der Strafe für das Einzel- und Gemeinwohl abzuleitenden Zwecke innerhalb des im §. 118. angegebenen, dem Begriff des Staates als rechtlichen Instituts, wie dem Begriff des Verbrechens als einzelner Handlung entsprechenden Maßes gehalten bleiben müssen. N.Rev. §. 200.204.205. §. 122. Als Prinzip der Strafe im Staate – im Unterschied von der Strafe in andern sittlichen Kreisen – ergiebt sich daher die objektive Genugthuung nach dem Werthe (Wiedervergeltung). Da nun aber alle Staatsthätigkeiten als Aeußerungen der praktischen Vernunft ein organisches System bilden müssen, so folgt 1), daß auch in der Strafrechtspflege das relativ selbständige Hervortreten der Zwecke durch das Prinzip selbst hervorgerufen und je an geeigneter Stelle gesetzt sein muß. Soll mithin die Strafe den Zweck erhalten, absolutes Sicherungsmittel für die Gesellschaft zu werden, so muß das Verbrechen von solcher Tiefe sein, daß der Handelnde dadurch sein Recht, in der sittlichen Gemeinschaft thätig zu sein, ganz verwirkt haben muß. Soll die Strafe unter der Kategorie der Abschreckung, Züchtigung und Besserung sich zeigen dürfen, so muß die Subjektivität in der Handlung als eine solche hervorgetreten sein, welche in den Stand der sittlichen Unmündigkeit zurückgesunken ist und deshalb der Zucht bedarf. 2) Sind aber diese Bedingungen vorhanden, so muß auch sofort der gesetzte Zweck als solcher wirklich bestimmende Norm für die Strafbestimmung und Vollziehung werden, wenn auch immer nur innerhalb der durch das Prinzip der objektiven Genugthuung gegebenen Maßbestimmtheit. 3) Umgekehrt setzt aber das Prinzip in der Anerkennung dieser Zwecke sich selbst die Schranke, denselben nicht entgegenwirken, namentlich also keine damit unvereinbaren Strafarten anerkennen zu dürfen. Desgleichen muß die Vollziehungsweise der anzuerkennenden Strafarten so beschaffen sein, daß dadurch jene Zwecke mit befriedigt oder mindestens nicht ausgeschlossen werden (z.B. die Kraft der Abschreckung nicht verloren, die Wirkung der Besserung nicht gehemmt wird). N.Rev. §. 20611. [415] 11
Die hier gegebenen Bestimmungen über die Voraussetzungen und bei gegebenen Voraussetzungen über die Nothwendigkeit bei Pönitentiarbehandlung sind um so wesentli-
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§. 123. Hiermit sind aber alle aus dem Prinzip des Wohls abzuleitenden Forderungen so vollständig befriedigt, als es innerhalb einer vorzugsweise zur Herstellung des Rechts berufenen Staatsthätigkeit geschehen kann12, und zwar auf eine solche Weise, daß der Staat in der Ausübung objektiver Gerechtigkeit zugleich subjektiv gerecht gegen die Freiheit des Individuums bleibt. N.Rev. §. 207. Gerade diese gerechte Anerkennung der aus dem Prinzip des Wohls fließenden Zwecke der Strafe fehlt bei Hegel.
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cher, je mehr sie gewöhnlich ignoriert werden. Was Abegg N. Arch. 1845. S. 239–269 ausführt, ist durchaus nicht genügend, da daraus vielmehr die Zulässigkeit der Pönit.behandlung unter allen Umständen folgen würde (s. auch Naumann üb. d. Strafrechtstheorie und das Pönit.system). Ueber diesen viel zu vagen, gerade das Hauptmoment übersehenden Gesichtspunkt kommt aber auch Mittermaier in seinen vielfach wiederholten Ausführungen über die wahre Bedeutung des Besserungszwecks, wobei er eben nur Abegg folgt, nicht hinaus. s. z.B. NArchCrR 1846. S. 143 ff. Neuester Zustand der Gefängnißeinrichtungen in England. S. 78 ff., daher er wohl nicht berechtigt war, der N. Rev. in diesem Punkte Lücken und Mißverständnisse vorzuwerfen, welcher Vorwurf vielmehr ihn selbst trifft. [...] Die Forderung der Prävention durch Androhung der Strafe erfüllt sich durch die anderweitig bewiesene Nothwendigkeit, dem Rechte gesetzliches Dasein zu geben. Die Forderung der Spezialprävention vollzieht sich durch die (§. 122.) aufgezeigte Nothwendigkeit, daß die Strafe die Möglichkeit der Abschreckung von künftigen Verbrechen involviren und daß diese Möglichkeit gegenüber einem erziehungsbedürftigen Subjekte als wirkliche Zucht hervortreten müsse. Eben dadurch und durch die damit gegebene Möglichkeit, bei Verbrechen von besonderer Tiefe den Verbrecher zugleich relativ als Mittel zur Abschreckung Anderer zu gebrauchen, erfüllt sich die Forderung, daß die Strafe als Mittel benützt werde, das gleiche widerrechtliche Ferment in Andern zu vertilgen und den Reiz zur Nachahmung aufzuheben. Indem aber die objektive Genugthuung das Strafprinzip selbst bildet, so ist damit an und für sich die Forderung erfüllt, die Gesetze als die Grundpfeiler der Rechtsordnung aufrecht zu erhalten und den darin ausgesprochenen allgemeinen Willen als den unverbrüchlichen aufzuweisen, sowie eben damit zugleich der Zweck, den durch das Verbrechen erzeugten idealen Schaden wieder aufzuheben, von selbst seine Befriedigung findet. Endlich aber ist durch die aufgezeigte Nothwendigkeit, in der Strafe die Forderung der Tilgung der Schuld als eine theils vom Verbrecher selbst zu vollziehende, theils vom Staate vormundschaftlich zu befördernde anzuerkennen, auch der Zweck befriedigt, jenen nicht dem Gemeinwohl zu opfern, sondern möglichst seine Erhaltung für den Staat zu erstreben.
Karl Binding (1841–1920) Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft (1877/1915) [63] Die Aufgaben des Rechts werden ihm vorgezeichnet durch die Natur der unter ihm vereinigten Menschen. Gäbe es eine menschliche Gemeinschaft, wo jeder, seiner selbst gewiß, die natürlichen Grenzen seines Freiheitsgebietes stets achtungsvoll inne hielte, so erwüchse dem Gesetzgeber wie in Platos Gerechtigkeitsstaate eine schwere Pflicht weniger. Er dürfte sich begnügen die Güterwelt zu verteilen, das Verhältnis der Lebensalter, der Geschlechter, der Stände zueinander zu regeln, und die so geschaffene Ordnung zu schützen gegen äußere Störung und gutgläubige Irrung. Auf das Schwert könnte die Gerechtigkeitspflege verzichten: denn sie fände keinen Gegner, den das Schwert treffen könnte. Der Traum vom ewigen Frieden wäre fast verwirklicht – freilich um welchen Preis! Nun ist aber dem Menschengeschlecht dies glücklich-unglückselige Los paradiesischer Unschuld nicht beschert. Berufen zur Tat, verfällt es dem Begehren, damit der Begierde, – und so kommt es, daß, während die längsten und blutigsten Kriege vergehen, ihre Wunden vernarben und auf den Gräbern der Gefallenen der Lorbeer der Erinnerung wächst, ein Kampf ruhelos weiter ringt: der Kampf der Menschheit wider ihren furchtbarsten, sich ewig verjüngenden und deshalb unbesieglichen Gegner: ihre in Tat ausbrechende Leidenschaft. Er war es, der die Gerechtigkeit zwang, sich mit der Waffe zu gürten schon bei ihrer Entstehung, und soweit menschliches Voraussehen reicht, kann sie das Strafschwert nie mehr aus der Hand legen, um es in die Pflugschar umschmieden zu lassen und sich des Friedens zu freuen: denn ihr blüht kein Friede! I. Dieser tragische Konflikt zwischen der Macht des Rechts und der Gewalt der Willkür hat schon sehr frühe die Auf- [64] merksamkeit der Denker auf sich gezogen. Was ist das Verbrechen, daß gerade es mit der Strafe heimgesucht werden muß? Was ist die Strafe, daß sie gerade dem Verbrechen folgt? – Diese Fragen sind so alt wie alle Rechtsphilosophie, und gerade die hervorragendsten Geister unter den Philosophen und Theologen, den Staatsmännern und den Juristen des Abendlandes haben sich an ihrer Lösung versucht. So ist im Laufe der Zeiten eine Unzahl sogenannter Straftheorien entstanden – jede einzelne packend nicht nur als treues Bild der geistigen Atmosphäre, aus der sie stammt, sondern auch als Werk ihres Urhebers, was seine vielfach großartigen Züge trägt. Gibt es doch kein besseres Zeugnis für des erhabensten Apostels der Gerechtigkeit, für Kants Charakter, als seine großartige Straftheorie in ihrem eklatanten Widerspruche zu seiner Lehre von der Entstehung des Rechts aus der Willkür! Schreiten wir dann von Meinung zu Meinung, so scheint jede eigenartig und neu. Neu ist der Ausdruck, neu die eigentümliche Kombination der Vorstellungsreihen, – und staunend sieht der Beschauer den scheinbar unendlichen Reichtum von Lösungsversuchen, den die Vergangenheit aufgehäuft hat, und nicht ohne Neugier, T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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aber fast ohne Erwartung wendet er sich den neuen Antworten der Zukunft entgegen. Entkleidet dann aber der Kritiker die einzelnen Theorien ihrer eigentümlichen äußeren Gewandung, spürt er den einfachen Bestandteilen nach, den geistigen Elementen jener ehrwürdigen Versuche, alte quälende Rätsel aus der Welt zu schaffen, so nimmt seine Verwunderung Schritt für Schritt ab: denn jener scheinbar unermeßliche Reichtum zerschmilzt ihm unter den Händen, und fast betroffen bricht er endlich in die Frage aus: Ist es denn glaublich, daß aus so wenigen Grundgedanken über Verbrechen und Strafe, die den alten Hellenen schon alle bekannt waren, so zahllose Theorien erbaut werden konnten? Ist denn die Geschichte des Straf- [65] problems wirklich nichts anderes, als ein ewig abwechselndes Auf- und Niedertauchen jener elementaren Vorstellungen? Und wenn ja – was kann man noch von der Zukunft hoffen? Ist es denn erlaubt, die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Gegenwart und ihre doch allem Vermuten nach gleich vergeblichen Anstrengungen zu richten? Wie sollte sie die Fragen nach dem Wesen des Verbrechens, der Natur der Strafe und dem Inhaber der Strafgewalt bündiger beantworten können, als eine tausendjährige Vergangenheit? II. Ob man nun aber doch von der Zukunft eine sichere Antwort über die Strafe im Recht erwarten darf, hängt ganz von der Methode ab, diese Antwort zu suchen. Eine gewaltige Erscheinung des positiven Rechts soll begriffen werden, und sie kann es nur aus ihrer Entstehung im Recht und aus ihrer Geschichte darin, in die als ihr vorübergehender Endpunkt natürlich auch das Recht der Gegenwart einbezogen werden muß – also durchaus esoterisch. Es ist das Schicksal aller jener früheren Theorien gewesen, dies nicht begriffen zu haben. Keine ist pietätvoll dem geltenden Recht abgewonnen – keine vermag deshalb die Strafe in ihm zu erklären. Phantasiestrafrechte haben ihre Urheber gedichtet, und in diesen Systemen fanden nur Phantasiestrafen Raum. Je mehr Wirklichkeitselemente in diese Phantasiegebilde verwebt waren, um so mehr Aussicht hatte die gedachte Strafe der wirklichen zu entsprechen. Dieser Bewegung, die wegen ihrer unwissenschaftlichen Methode ungesund war, aber trotzdem durch Jahrtausende gedauert hat, wurde aber in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Halt zu gebieten versucht. Es bleibt Adolf Merkels unsterbliches Verdienst, mit der exakten Bearbeitung des Strafproblems auf dem Boden des geltenden Rechts begonnen zu haben1. Untersuchungen [66] bleibenden Wertes wurden angestellt. Sie wurden von Andern weitergeführt und ergänzt, und schon ist eine Anzahl wissenschaftlicher Wahrheiten gefunden, deren sicherer Besitz sich wohl vermehren, aber nicht mehr vermindern läßt. Man hätte glauben sollen, den Männern der Rechtswissenschaft wenigstens würde dieser Haltruf gegenüber dem sogenannten Philosophieren über die Strafe Ein1
In dessen Kriminalistischen Abhandlungen I. Gießen 1867.
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druck machen und sie auf den rechten Weg rufen. Aber weit gefehlt! Beeinflußt von auswärtigen Dilettanten im Verein mit inländischen wurde grade auch von ihnen die alte Weise wieder aufgenommen. Nicht aus dem Recht, sondern aus den Naturwissenschaften, besonders der Anthropologie, ferner aus der sogenannten Soziologie sollte die Strafe abgeleitet werden – und auf die Strafe des Rechts und der Geschichte begann eine wilde Jagd mit dem Ziele, von ihr nicht mehr übrig zu lassen, als ihren Namen zur falschen Etikettirung der Polizeimaßregel, die an ihre Stelle treten sollte. Ärger ist das Strafproblem nie mißhandelt worden, als gerade in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts! Den Hauptanlaß dazu bot die Überhandnahme der Leugnung menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit. Unzerreißbar ist die Strafe in der Geschichte an die Schuld gebunden gewesen, ist sie es noch und wird sie es immer bleiben. Man kann sich denken, zu welchen Monstren die Straftheorien der Schuldleugner auswachsen mußten! Aber den unsicheren Köpfen hat das Monströse ja immer imponirt! Für mich versteht sich von selbst, daß ich nicht eine Strafe dichten und nicht so unbescheiden sein darf, die gedichtete von der Zukunft zu fordern, sondern daß ich bescheiden die geschichtlich gewordene zu verstehen und zu erklären trachte. Ich möchte zeigen, wie die Gegenwart – will sagen ihre ernste Wissenschaft – die alte Frage neu stellt, wie weit sie Antwort darauf zu geben weiß, wie weit sie erst von geduldigem Vorwärtsschreiten ergänzende Resultate erwartet. [67] III. Ich habe vorhin davon gesprochen, daß in der Geschichte des Strafproblems so wenige Grundgedanken über Verbrechen und Strafe stets einander abgelöst hätten. Zum Verständnis des heutigen Standes wissenschaftlicher Forschung erscheint eine Orientirung über diese Elementaranschauungen unumgänglich. Ihrer sind zwei von Grund aus verschiedene hervorgetreten, deren jede sich wieder in Unterarten gespalten hat. Man nennt sie den Grundgedanken der absoluten und den der relativen Strafrechtstheorien. Die Unterscheidung ist vielfach angefochten worden: sie ist aber wirklich eine Unterscheidung von Grund aus, sie muß nur richtig verstanden werden. 1. Die absolute Theorie sieht – darin durchaus im Einklang mit der Rechtsgeschichte der Strafe – in der schuldhaft rechtswidrigen Tat, zu deren Bezeichnung der deutschen Sprache das einfache Wort fehlt, und die ich deshalb mit den Römern als „Delikt“ bezeichnen will – den Grund der Strafe, gleichsam ihren Erzeuger, und zwar den alleinigen Grund. Denken wir uns die Strafe personifizirt, so wendet sie – nach ihrem Grunde schauend – ihr ernsthaftes Haupt rückwärts dem begangenen Verbrechen zu. Es wird gestraft: quia peccatum est. Dies oft gebrauchte Bild ist Schuld an zwei nicht unbedenklichen Unterlassungen geworden. Über der zu strafenden Tat wurde das eigentliche Objekt der Strafe, ihr Täter, in der Sprache übergangen, und über dem Grund der Strafe vergaß man
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nach ihrem Zweck zu fragen2. Der nächste Zweck aller Strafe ist aber stets gewesen, das Haupt des Verbrechers schmerzhaft zu treffen. Diesen Strafzweck hat die absolute Theorie stets als durch die Strafverbüßung voll erreicht angesehen und die Strafvollstreckung nie bloß als ein Mittel zur versuchten Erreichung [68] außerhalb ihrer, zeitlich nach ihr liegender Zwecke betrachtet. Diese unleugbare Tatsache ist in der neueren Bewegung oft vollständig übersehen worden. Das Bedürfnis, Verbrechen und Strafe in den möglichst engen Kausalzusammenhang zu setzen, hat gar manchen Denker und Vertreter der absoluten Theorie bestimmt, die Strafe nicht nur als die Rechtsfolge des Delikts, sondern als dessen notwendige, unausbleibliche Folge zu bezeichnen. Die absolute Theorie in dieser Übertreibung führt den Namen der Notwendigkeitstheorie. 2. Der absoluten Theorie tritt nun die relative gegenüber. In der Handlung, in welcher die absolute den einzigen Grund der Strafe findet, sieht die seltsamerweise nur eine unentbehrliche Voraussetzung, aber grade nicht den Grund der Strafe. Vielmehr bildet die Missetat nur ein Symptom, einen Erkenntnisgrund für das Vorhandensein eines außer ihr liegenden Strafgrundes. Es wird nicht gestraft quia peccatum est, sondern postquam peccatum est, ne peccetur. Der wirkliche Strafgrund bei allen relativen Theorien ist eine durch das Verbrechen offengelegte, aber keineswegs erzeugte drohende Gefahr für die künftige Sicherheit der Gesellschaft. Der Zweck der Strafe ist Beseitigung dieses Strafgrundes, also künftige Sicherung. Der Blick der Strafe ist nicht rückwärts, auch nicht in die Gegenwart, sondern vorwärts gewendet. Die ganze Strafe ist nichts anderes als, in der Sprachweise der neueren Wissenschaft gesprochen, sichernde Maßnahme. Der Strafvollzug ist deshalb weit entfernt den Zweck der Strafe zu erfüllen, sondern dient nur als ein mehr oder weniger tauglicher Versuch, den Zweck der Gesellschaftssicherung durch die Strafe nach deren Vollstreckung zu erreichen. Die sogenannte Abschreckungstheorie straft den Mörder nicht, weil er gemordet hat, sondern weil außer ihm noch mordsüchtiges Volk im Lande wohnt, das von späteren Misse- [69] taten durch das warnende Beispiel abgeschreckt werden soll. Die praktisch mannigfach segensreich wirkende Besserungstheorie setzt den Räuber nicht deshalb ins Zuchthaus, weil er fremdes Gut und fremde Freiheit verletzt, sondern weil er sich als ein unsicheres Mitglied der Gesellschaft bewährt hat, und weil in dieser moralischen Unzuverlässigkeit künftige Gefahren schlummern. Die gegensätzliche Betrachtungsweise des Strafphänomens seitens der absoluten und der relativen Theorien wurzelt vielfach, aber durchaus nicht immer, in tiefer Verschiedenheit der Weltauffassung. Wie die ganze Rechtsgeschichte in der Mißtat nie etwas Anderes gesehen hat als Schuldverwirklichung, so steht und fällt auch die ganze absolute Theorie mit der Überzeugung von der Schuldfähigkeit des normalen Menschen. Wer aber diese leugnet und den Schuldlosen doch strafen will, dessen Strafbegründung kann nicht 2
Die moderne sog. Zweckstrafe, gedacht als Gegenstück gegen eine zwecklose Strafe, ist ein Ungedanke, der sich nie hätte an das Licht wagen dürfen.
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mehr wissenschaftliche Erklärung der bestehenden Strafe sein, und unabwendbar wird er mit seiner Strafbegründung in das Lager der relativen Theorie gedrängt – mag er wollen oder nicht. So fällt der Grund der Verschiedenheit zwischen der absoluten und der relativen Theorie durchaus nicht mit der Verschiedenheit von Indeterminismus und Determinismus zusammen, aber der letztere muß der absoluten Theorie Absage tun. Sehr seltsam berührt die ganz verschiedene Wertung der Persönlichkeit des Sträflings nach beiden. Die absolute Theorie sieht ihn mit der Schuld belastet. Man sollte glauben, daß diese Schuld seinen Wert in ihren Augen mindern müßte. Die deterministischen Anhänger der relativen Theorie sehen ihn schuldfrei – Grund genug zu seiner Wertsteigerung! Aber die Erwartung wird vollständig getäuscht. Nach weitaus den meisten relativen Theorien findet eine tiefe Herabwürdigung des verurteilten Schuldlosen statt, die in dem Vorschlag der unbestimmten Verurteilung eine gradezu [70] unheimliche Mißachtung seiner Rechtspersönlichkeit erreicht. Der absoluten Theorie steht der Schuldige weit höher als der Schuldlose der relativen. IV. Bei aller Hochachtung nun vor dem Scharfsinn und der edlen Gesinnung gar mancher Anhänger der verschiedenen relativen Theorien kann man sich ihre wissenschaftliche Haltlosigkeit nicht verhehlen. Daß die relative Theorie trotzdem unsterblich bleiben wird, tut dieser Wahrheit keinen Abbruch. Auch bei dem Gelehrten siegt das Temperament ja so oft über die Vernunft. Obgleich nun alle Strafgesetze der Welt in seltener Eintönigkeit verkünden, der Verbrecher werde gestraft, weil er so und so delinquirt habe, ist nach der relativen Theorie das Delikt doch nicht Grund, sondern nur notwendige Voraussetzung der Strafe. Aber warum dies? Warum wird nur gestraft, nachdem verbrochen ist? Warum ist das Delikt das einzige Symptom, woraus die Gefahren der Gesellschaft erkannt werden können? Denn nur durch die rechtswidrige Handlung wird auch nach der relativen Theorie die Strafe ausgelöst. Wie kommt ferner die relative Theorie dazu, den zu strafen, dessen Tat nicht Strafgrund ist, dessen Tat nur den wahren Strafgrund, die Unsicherheit der Gesellschaft, enthüllt hat? Schuldete man ihm nicht weit eher Dank statt Strafe? Wäre es von diesem Standpunkt nicht allein zulässig, das Verbrechen mit einer Verbesserung der Schul- oder der Polizeieinrichtungen oder der sozialen Verhältnisse zu beantworten? Und wie kann es die relative Theorie rechtfertigen, den Delinquenten, also doch einen Menschen, herabzuwürdigen zum Objekt des Experiments, ob durch seine Bestrafung Quellen künftigen Unheils für andere ihm gleichartige und gleichwertige Menschen verstopft werden können, noch dazu, da dieses Experiment in so vielen Fällen kläglich mißlingt, also die Strafe, deren einziger Rechtsgrund die Zweckmäßigkeit sein soll, ihren Zweck verfehlt? [71] Endlich muß die relative Theorie konsequent bei dem Satze anlangen: nicht der Staat, der heute doch allein strafberechtigt ist, sondern die bedrohten Gesellschaftskreise ohne Rücksicht auf die sie durchschneidenden Staatsgrenzen müßten
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das Strafrecht besitzen. Denn die durch das Verbrechen aufgedeckte Unsicherheit der Gesellschaft macht doch nicht an den Staatsgrenzen halt. Eine Strafrechtstheorie aber, die nicht zu sagen weiß, warum sie überhaupt straft, warum sie nur straft, nachdem verbrochen ist, obgleich sie nicht straft, weil verbrochen ist, warum sie den Verbrecher straft, obgleich dessen Tat den Rechtsgrund der Strafe nicht abgibt, warum sie endlich zugibt, daß der Staat den Verbrecher straft, eine solche Theorie kann in der Wissenschaft eine Stellung nicht mehr beanspruchen. Es sei noch zum Schlusse betont, daß die relative Theorie gegenüber der Privatstrafe völlig versagt. V. So stellt sich die neuere Forschung zunächst ganz mit Recht auf den Boden der sogenannten absoluten Theorie, und sucht nach dem inneren Zusammenhange nicht von Unrecht und Strafe – denn es gibt auch strafloses Unrecht –, aber von Delikt und Strafe. Alle absoluten Theorien nun gehen aus zwei verschiedenen Grundgedanken hervor, die man übrigens öfter zu kombiniren versucht hat. 1. Das Verbrechen betrachten die Einen als eine Tatsache, welche in ihrer Schädlichkeit nicht unwiderruflich ist, vielmehr durch Bestrafung des Missetäters wieder gut gemacht, geheilt oder gesühnt werden kann. Die Strafe ist dann dem Schadenersatze gleichartig, und nicht nur kein Übel, sondern Erlösung von einem solchen. Ich nenne diese Theorien Heilungs- und Sühnungstheorien. Objekt des Heilverfahrens ist nicht wie bei der relativen Besserungstheorie der Verbrecher, sondern das Verbrechen selbst – genau gesprochen seine Wirkungen: bald das gebrochene Recht, bald das gebrochene und zerrissene Verhältnis des Verbrechers [72] zu Gott, zur Sittlichkeit oder zum Recht, bald die schlimmen Folgen der rechtswidrigen Tat. 2. Den Andern aber tritt im Verbrechen die ein für alle Mal unwiderrufliche schuldhafte Auflehnung des Einzelwesens gegen eine höhere Ordnung entgegen, – eine Ordnung, die ausdrücklich erklärt hat, solche Verachtung nicht dulden zu wollen. Dieser Bruch erscheint ihnen höchstens in einigen seiner Folgen, nie jedoch in seiner Wesenheit, heilbar. Das Unheilbare heilen zu wollen kann, weil durchaus unvernünftig, nicht Zweck der Strafe sein. Vielmehr kann in ihr nur die Antwort des Gemeinwesens auf die von dem Verbrecher gestellte Machtfrage erkannt werden: Zwangsweise wird der Verbrecher gerade der Gewalt unterworfen, die er schuldhaft mißachtet hat. Die Antwort auf eine Tat freien, aber rechtswidrigen Willens ist die Unterwerfung des Täters unter die Gewalt einer freien, aber rechtmäßigen und rechtserhaltenden Macht. Diesen Gegenschlag pflegt man nicht ganz unmißverständlich und gerne mißverstanden als staatliche Vergeltung zu bezeichnen. Durch ihre Duldung wird der Verbrecher gezwungen, der gebrochenen Ordnung Genugtuung zu leisten. Solche Strafvergeltung verlangen nun die Einen im Namen Gottes, die Andern im Namen der durch das Verbrechen verletzten sittlichen Ordnung, eine dritte Gruppe endlich im Namen der davon scharf zu scheidenden Rechtsordnung.
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VI. So steht die neuere Wissenschaft zunächst vor der Aufgabe, durch sorgfältige Analyse des positiven Rechts der Gegenwart und der Vergangenheit zu einer zutreffenden Wahl zwischen den Theorien der Heilung, der göttlichen, der sittlichen und der rechtlichen Vergeltung zu gelangen, und das gesamte positivrechtliche Material zur Ausgestaltung der Theorie zu verwerten – die einzige Art und Weise, wie man heutzutage die sogenannte Rechtsphilosophie, die nichts anderes als sublimirte Jurisprudenz ist, betreiben darf. [73] VII. Bildet nun das Delikt den Rechtsgrund der Strafe, so handelt es sich vor allen Dingen darum, unrichtige Auffassungen desselben zurückzuweisen und seine wahre Bedeutung zum Ausgangspunkte zu nehmen. Nun gibt es nichts Menschlicheres als das Recht! Entstanden nach den Menschen, geschaffen von ihnen, gemünzt auf sie, und bestimmt, dem Zweitletzten unseres Geschlechtes ins Grab zu folgen, kann die Rechtsordnung nicht, wie dies von Stahl und Andern geschieht, als unmittelbare Verkörperung des göttlichen Willens, und es kann das Verbrechen als solches nicht als Auflehnung gegen göttliches Recht gefaßt werden. Ich gehe einen Schritt weiter. Auch das Moment der Unsittlichkeit ist für den Verbrechensbegriff unwesentlich. Ja es enthält eine sehr starke Verkennung desselben, wenn das sogenannte Sittengesetz als Angriffsobjekt der Missetat gefaßt wird. Alle sogenannten ethischen Gesetze binden den Einzelnen nur insoweit, als er bei sorgfältiger Prüfung den Einklang zwischen dieser Satzung und seinem Gewissen als vorhanden konstatirt hat. Wer aus innerstem Gewissensdrange dem sogenannten Sittengesetze nicht konform handelt, der verletzt das Gesetz nicht: denn für ihn existirt es in diesem Falle nicht! Eine Gehorsamspflicht auf dem Gebiete des Ethos ist undenkbar. Und so sehr auch die sittlichen Gesamtanschauungen eines Volkes eine faktische Autorität üben, – in Wahrheit erbaut sich das Reich der Sittlichkeit auf der sittlichen Freiheit des Einzelnen: denn das Gewissen widerstrebt jeder Fesselung. Dagegen würde eine solche Anerkennung der Freiheit individueller Entscheidungen für das Gebiet des Rechts den Beginn des Chaos bedeuten. Denn das Recht muß Gehorsam fordern auch von dem, der es zu billigen nicht vermag: sein ganzer stolzer Bau ruht auf der Unterwerfung des Einzelwillens unter den Gesamtwillen. Nur wenn man an der scharfen Unterscheidung der rechtlichen von der sittlichen Ord- [74] nung festhält, läßt sich auch erklären, daß es rechtmäßige Handlungen gibt, die sehr unsittlich sind, sittliche Handlungen aber, die vom Standpunkte des Rechts aus entschieden verworfen werden müssen. So bleibt für die Aufstellung einer Strafrechtstheorie nur noch eine Basis übrig: es ist das Delikt gefaßt in seiner Eigentümlichkeit als Auflehnung des Einzelwillens gegen den Gesamtwillen, als Rechtsbruch. VIII. Dieser Rechtsbruch, der durch die Schwere der begangenen Handlung in sehr verschiedenem Maße verschärft wird, und sich zum geradezu frevelhaften Angriff auf den Bestand unserer ganzen rechtlichen Ordnung steigern kann, ist irreparabel. „Das eine ist den Göttern selbst verwehrt, das, was geschehen ist, ungeschehen zu machen.“ Nicht minder unwiderruflich sind die Wirkungen der schwersten Verbrechen. Wer ruft den Erschlagenen zum Leben zurück? Wer heilt
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den Gelähmten? Wer hebt das versenkte Schiff vom Boden des Meeres? Wahrlich! Wenn es Aufgabe der Strafe wäre zu heilen und wiederherzustellen: das Verbrechen kann sie nicht heilen. Es ist geschehen und bleibt geschehen. Aber vielleicht könnte es ihre Aufgabe sein, den aufrührerischen Sinn des Verbrechers zur Zucht zurückzuführen, den Frieden zwischen ihm und dem Gesetze wieder herzustellen, wie der Sophist Protagoras sagt: die krummen Hölzer gerade zu biegen? Der Strafe aber diese Aufgabe stellen, heißt ihr Unmögliches zumuten, sie also zum Bankrott verurteilen. Den Sträfling diesem Versuche der Verwandlung seines inneren Menschen zu unterwerfen, bis das so schwierige und delikate Experiment gelungen ist oder richtiger gelungen zu sein scheint, würde bedeuten, ihn für ungemessene Zeit auf Gnade und Ungnade den Organen der Strafvollstreckung auszuliefern – Organen denen jedes sichere Urteil über diese Seelenwandlung unmöglich wäre, und über die Tag für Tag die geschickten Heuchler ihrerseits schadenfrohe Triumphe feiern würden. [75] Die Durchführung des in neuerer Zeit öfter – erst von Psychiatern gemachten, dann mehrhaftig von Juristen aufgenommenen – Vorschlags der Abschaffung des Strafmaßes bedeutete ein doppeltes furchtbares Unheil für den Delinquenten wie für die Vollstreckungsbehörden. Wieder sieht man, daß Teleologen, die unmöglichen Zwecken nachjagen, allzuleicht gemeingefährlich werden! Deshalb hat nach Rechtsauffassung der Räuber seine Strafe verbüßt, der zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt die Zelle verläßt, unerschütterten Trotzes und heißes Rachegefühl im Herzen tragend. Die schwere, gewaltige Faust des Rechts hat er zur Genüge an seinem Leibe gespürt! Andererseits darf dem reuigen Verbrecher trotz seiner Reue die Strafe nicht erlassen werden, auch wenn er den festen Entschluß gefaßt hat, von nun an die Pfade des Verbrechens zu meiden. So scheitern die etwas unklaren Heilungstheorien an der Unmöglichkeit ihres Zweckes, und wenn sich die Folgen des Verbrechens vielleicht teilweise aufheben lassen, wenn der Dieb gezwungen werden kann, dem Bestohlenen die Beute zurückzugeben, so ist es gerade nicht die Strafe, wodurch diese Besserung vollführt wird. IX. Mit dieser Negation ist freilich die Stichhaltigkeit der rechtlichen Vergeltungsoder Genugtuungstheorie keineswegs bewiesen. Wir wollen uns auch hüten, den Beweis für sie als erbracht anzusehen, wollen vielmehr den einfachen Satz wissenschaftlich zu erklären suchen: es gibt Delikte, die gestraft werden. Bevor ich aber zu dieser Erklärung vorschreite, möchte ich ein Wort sagen über unerhörte Mißverständnisse des Vergeltungsgedankens – eines der größten in der ganzen Geschichte – die sich neuerdings oft verlauten lassen, und die zum Teil absichtliche Mißverständnisse sind. Rache ist nicht Vergeltung, und der racheschnaubende Jehovah der Juden, der die Sünde heimsuchen wollte an dem Sünder und seinen schuldlosen Kindern und
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Kindes- [76] kindern, ist wahrhaftig das häßlichste Gegenteil der Inkarnation gerechter Vergeltung. Vergeltung – Gegenleistung – ist ihrem Wesen nach nicht Erwiderung des Bösen mit Bösem. Es kann auch das Gute mit Gutem und es kann endlich das Böse mit Gutem vergolten werden. Und gerade die letzte Art der Vergeltung – die denkbar edelste – sie ist es, welche die Anhänger der Vergeltungstheorie für die Strafe in Anspruch nehmen. Dem rechtsfeindlichen Angriffe des Verbrechers antwortet die Rechtsordnung mit der Unterwerfung des Unbotmäßigen unter die Herrlichkeit des Rechts: dem Rechtsbruche mit einer rechtserhaltenden Maßnahme, die den Verbrecher zugleich mit der gebrochenen Rechtsordnung wieder versöhnt. Edlere „Vergeltung“ kann nicht geübt werden! Und nun kehre ich zum Thema zurück. Ich habe gesagt: es handle sich um die Erklärung des wichtigen Satzes: es gäbe strafbare neben straflosen Delikten. Sofort aber beginnen die Schwierigkeiten, welche uns in der jüngsten Zeit zu schaffen gemacht haben. A. Wir sehen gestraft zwar den Mörder, den Räuber, den Brandstifter, den Betrüger, ja selbst noch den, der einem andern vorsätzlich eine Fensterscheibe von geringstem Werte eingeschlagen hat. Geschieht dies letztere fahrlässig, so fällt schon die Strafe weg, und ebensowenig wird gestraft, wer durch vorsätzliche, aber nicht betrügerische Überschreitung eines Auftrages seinem Mandanten einen Vermögensschaden von Tausenden oder Millionen beigebracht hat. Wie erklärt sich, daß nur ein Teil der Delikte gestraft wird, der andere Teil aber nicht? Es liegt außerordentlich nahe, diese Erscheinung zurückzuführen auf verschiedene Arten des Unrechts seinem Tatbestande nach. Wer dies tut, hat die Aufgabe, zu zeigen, wodurch sich als Unrecht – somit abgesehen von Strafbarkeit und Straflosigkeit – der Mord und die Über- [77] tretung irgendeines Polizeiverbotes von der vorsätzlichen Vermögensbeschädigung unterscheiden? Welch unglaubliche Mühe hat doch die deutsche Wissenschaft auf den Nachweis einer qualitativen Unterscheidung von kriminellem und zivilem Unrecht verwendet! Nun ist das dauernde Verdienst von Merkel, alle diese Versuche in ihrer Ergebnislosigkeit nachgewiesen zu haben, wenn auch die Wege, die seine Untersuchung eingeschlagen hat, nicht immer die unsrigen sein können. Gewiß kann man Arten des Unrechts aufstellen und darf eine große Art desselben, das sog. objektive Unrecht, insbesondere alle rechtsverletzenden Akte, die der Schuld ermangeln, als strafunfähig bezeichnen. Aber die Schwierigkeit liegt grade darin, daß in keiner Weise das Delikt als das strafbare Unrecht definirt werden darf. Diese Einteilung des Unrechts dem Tatbestande nach fällt mit der Einteilung desselben in strafbares und nicht strafbares nicht zusammen. Vielmehr läuft die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Unrecht mitten durch das Deliktsgebiet. So erhebt sich die Frage, ob sich die Verschiedenheit der
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Rechtsfolgen doch vielleicht aus qualitativer Verschiedenheit der deliktischen Tatbestände ableiten läßt? Solche qualitative Differenzen gibt es, obgleich alle Delikte darin übereinstimmen, schuldhafte Übertretungen staatlicher Normen zu sein. Qualitative Verschiedenheiten innerhalb dieser Übertretungen können nur auf zwei Arten entstehen: entweder werden verschiedene Normen übertreten, oder bei den Übertretungen differenzirt sich die Schuld. Die tiefste Verschiedenheit zwischen den pflichtbegründenden Rechtssätzen, die ich Normen getauft habe, ist die zwischen Verboten, welche bestimmte Handlungen untersagen, und Geboten, welche bestimmte Handlungen fordern. Nun ist zwar die verbotene Handlung regelmäßig straf- [78] würdiger als die verbotene Unterlassung. Nichtsdestoweniger aber finden wir auch die Unterlassung unter Strafe gestellt, und eine Reihe verbotener Handlungen bleibt straflos. Ja, bei näherem Zusehen zeigt sich, daß die Übertretungen eines und desselben Verbotes zum Teil strafbar, zum Teil straflos sind. Strafbar ist der vorsätzliche Ehebruch, straflos aber der fahrlässige; strafbar die vorsätzliche Sachbeschädigung, straflos die fahrlässige. Verboten ist jedenfalls, daß ein Gefangener sich selbst befreit, aber er wird nicht einmal straffällig, wenn er dies Unrecht absichtlich verübt, sondern nur dann, wenn er sich durch Meuterei seiner Haft entledigt. Eine ganze Reihe von verbotenen Handlungen wird nur dann gestraft, wenn sie gewerbs- oder gewohnheitsmäßig begangen werden, die einzelne Handlung bleibt dann als solche straflos: das Verbrechen „verletzt“ also mit nichten andere Gesetze als das Nichtverbrechen! Vielleicht aber liegt die Grenze nicht auf der objektiven Seite des übertretenen Rechtssatzes, sondern auf der subjektiven, der Verschuldung des Täters, wie dies besonders Hegel behauptet hat. Einer Norm wird entweder absichtlich Trotz geboten oder sie wird fahrlässig übertreten. Die vorsätzliche Auflehnung gegen den Staatswillen ist selbstverständlich weit strafwürdiger als das Versehen. Nichtsdestoweniger fällt der dolus durchaus nicht vollständig der Strafe anheim – gibt es doch selbst straflose Diebstähle! –, und eine ganze Anzahl fahrlässiger Delikte steht unter Strafe. Wo sollten wir auch hinkommen, wenn das Strafgesetz sich gegen fahrlässige Tötung und fahrlässige Brandstiftung, gegen fahrlässige Körperverletzung und fahrlässige Überschwemmung von ganzen Landstrichen gleichgültig verhalten wollte? Somit ist das Verbrechen als Delikt nicht andersartig als das straflose Delikt, vielmehr gleichen Wesens mit ihm! Die Verschiedenheit der Rechtsfolgen erklärt sich also nicht aus qualitativer Verschiedenheit der Tatbestände! [79] Nun könnte man versuchen, an Stelle qualitativer Unterscheidung die quantitative treten zu lassen. Man könnte die These aufstellen: der Strafgesetzgeber ordne die Rechtsverletzungen nach der Schwere und lasse von einem bestimmten Gewicht an die Strafbarkeit beginnen, während er alles leichtere Unrecht mit Strafe verschone.
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Allein auch diese quantitative Abstufung führt nicht zum Ziel. Wer vorsätzlich den Vertrag bricht, kann viel schwereres Unrecht begehen als wer sich eine fremde Apfelsine aneignet oder den harmlosesten aller Hunde zur Zeit der Maulsperre einmal ohne Beißkorb sich auswärts vergnügen läßt. Und doch wird im leichteren Falle gestraft, im schwereren nicht! X. Ist nun alles Delikt als solches in seinem Tatbestande gleichartig, und kann man es dennoch in das strafbare und in das straflose Delikt zerlegen, so ist nur ein Doppeltes möglich: entweder das Delikt als solches ist straffähig, und die Tatsache, daß nur ein Teil desselben gestraft wird, erklärt sich aus dem Delikte allein nicht; oder das Delikt als solches ist strafunfähig, und daß ein Teil von ihm doch gestraft wird, ist für es zufällig und erklärt sich nur aus Gründen, die außerhalb des Deliktes liegen. Unter diesen beiden Möglichkeiten wäre die Wahl leicht, wenn, wie man dies in den verschiedensten Wendungen behauptet, die Strafe die unmittelbare Folge des Delikts wäre, wenn nicht der Staat den Missetäter, sondern seine Tat, ihren Urheber strafte. Aber nach deutschem Sprichwort muß zwar, „wer die Hand in Blut wäscht, sie in Tränen baden“; indessen die Unruhe des Gewissens und die Schmerzen der Reue sind keine Strafe. Sie bedarf eines Armes, der stets einem Andern angehören muß als demjenigen, der den tödlichen Streich führte: Menschen strafen Menschen, nicht Taten sich selbst. Am klarsten tritt dies hervor, wenn der Blick auf die Entstehung der Strafe fällt. Die uralte Rechtsfolge des [80] Friedensbruches ist die Friedlosigkeit, die eintritt unmittelbar mit der Tat, ohne daß sie der Richter erst zu verhängen brauchte, die den bisherigen Rechtsgenossen hinausjagt in die Wälder, ihn in den Wolf verwandelt. Aber die Friedlosigkeit ist keine Strafe. Stößt den Verbrecher seine Tat zu den Wölfen, so war seine Tat wölfisch: man kann den Freien zum Sklaven machen zur Strafe, sobald man aber dem Verbrecher die Menschlichkeit abspricht, verneint man seine Strafbarkeit. Die Friedlosigkeit ist also das Gegenteil der Strafe. Den Gedanken der Vergeltung und die Vorläufer wirklicher Strafen an Leib und Leben, Freiheit und Ehre bürgerte erst derjenige ein, den eine unaufgeklärte Rechtsgeschichte lange für den größten Gegner des Friedens und der rechtlichen Ordnung gehalten hat, während er dessen kräftigster und unentbehrlichster Anwalt war: der Rächer, der aus der Friedlosigkeit des Verbrechers die Freiheit zur Rache schöpfte, der aber – in seiner Leidenschaft milder als die Gemeinde in ihrem Urteile – ihn als Menschen zur Verantwortung zog. Er ist der Erfinder der Strafmittel: die Racheübung, nicht die Friedlosigkeit ist die erste Vorstufe der Strafe. Von jenen ältesten Zeiten an entsteht nach dem Verbrechen, sei es durch dasselbe, sei es aus anderen Gründen, ein Recht auf Strafzufügung; ich sage absichtlich nicht eine Pflicht, sondern ein Recht. Dieses Recht hat jedenfalls der Verbrecher nicht, sondern ein anderes Rechtssubjekt wider ihn. Zwischen Verbrechen und Strafe schiebt sich also der freie Entschluß des Strafberechtigten ein, dies Recht auch auszuüben. Die Strafe ist stets eine freie Tat des Inhabers der Strafgewalt, auch wenn sie pflichtmäßig zugefügt werden sollte, also weder eine unmittelbare, noch eine unausbleibliche Folge des Delikts.
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Wo entspringt nun diese Strafbefugnis? Warum entsteht sie prinzipiell nie gegen den Schuldlosen und nur gegen den Gesetzesverächter? [81] Es erklärt sich dies nur aus den Gesetzen, die der Urheber des Deliktes übertritt. Von juristischem Standpunkte aus haben die Sophisten mit vollem Fuge gesagt: das Gerechte und Ungerechte sei dies nicht von „Natur, sondern durch Satzung. Keine Handlung wird unerlaubt, sie sei denn zuvor von Rechts wegen untersagt worden“. Aus jedem Rechtsverbote nun entspringt für den, der es erlassen, ein Recht auf Nachachtung, Botmäßigkeit, Gehorsam gegen die Gesetzesuntertanen. Dies Recht aber ist unerzwingbar. An den freien Willen der Menschen müssen sich die Verbote der Tötung, des Diebstahls, des Ehebruchs wenden; denn nur durch diesen Willen sind sie realisirbar. Wenn nun aber jemand das Gesetz nicht achtet und es verletzt? Soll dann jenes Recht des Staates gegen den Untertanen auf Unterwerfung unter das Gesetz nicht illusorisch werden und schließlich dem Gespötte der Menge anheimfallen, so muß es sich verwandeln in das Recht des Staates, Genugtuung zu nehmen von dem Delinquenten für seine Gesetzesverachtung. Das Delikt verwandelt also das Recht des Staates auf Gehorsam in ein Recht des Staates auf Strafe wegen Ungehorsam. Das Delikt und nur es ist die Quelle des Strafrechts gegen den Delinquenten. XI. In jedem Delikt aber liegt 1. die Auflehnung des Einzelwillens gegen den Gesamtwillen, liegt eine Mißachtung jenes Rechts auf Unterwerfung; aus jedem Delikt also, dem kleinsten wie dem größten, erwächst ein Recht, den Delinquenten zur Verantwortung zu ziehen; straffähig ist jedes Delikt. 2. Ist aber erst die Auffassung überwunden, wonach es an erster Stelle den verletzten Einzelnen trifft und wonach diesem das Recht auf Genugtuung in Gestalt des Anspruchs auf Privatstrafe zusteht, dann kann Inhaber des Strafrechts nur derjenige sein, dessen Autorität durch die verbotene Handlung mißachtet worden ist, das Gemeinwesen, der Staat, nicht ein Einzelner oder eine Ver- [82] bindung, nicht die Familie, die Schule, die Kirche. Für den Juristen gibt es nach Überwindung der Privatstrafe nur eine unmittelbare oder mittelbare Staatsstrafe3. 3. Diese seine höchst umfassende Strafbefugnis übt der Staat nur in verhältnismäßig wenigen Fällen aus. Die Masse des straflosen Unrechts ist weit größer als regelmäßig angenommen wird. Nur aus dem Inhalt des Strafrechts kann sich erklären lassen, warum der Staat auf dessen Ausübung so vielfach glaubt verzichten zu müssen. Wie auch die Strafe beschaffen sein mag, sei sie Lebens- oder Leibesstrafe, Verbannung, Gefängnis oder Geldbuße, stets ist ihr Vollzug auffälligerweise eine Handlung, welche, wie Tötung, Freiheitsberaubung, Vermögensbeschädigung, regelmäßig verboten und nur ausnahmsweise erlaubt ist. Abgesehen von dem allerdings sehr tiefgreifenden Unterschiede zwischen Recht und Unrecht haben das Verbrechen der Freiheitsberaubung und die Strafe der Einsperrung nahe verwandten Inhalt: Rechtsgüter bestimmter Personen werden dadurch vernichtet oder geschmälert. Das Opfer des Verbrechens und der Urheber des Delikts, der um 3
Mittelbar, wenn der Staat seine Strafgewalt zum kleinen Teil an die Gemeinden delegirt.
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seiner Tat willen gestraft wird, beide erdulden nach Auffassung des Rechtes ein Übel, weil eine Rechtsgüterbeeinträchtigung, nur jenes per nefas, dieser per fas. Diese Übelnatur der Strafe ist aber zweischneidig: die Strafe wirkt nicht nur als Übel für den Sträfling, sondern auch – freilich nur zu einem Teile – für den Staat. Will er sie verfolgen, so nötigt sie ihn zur Einsetzung von Gerichten und Strafrichtern, von Organen der Strafklage und der Verteidigung; sie zwingt ihn ferner, Menschen zu vernichten oder einzusperren, deren Leben und Freiheit nicht nur für ihre Träger und deren Familien, [83] sondern auch für die Rechtsgemeinschaft von Wert sind; sie legt dem Staate des weiteren schwere Sorgen wegen des Strafvollzugs auf und bebürdet ihn mit großen Opfern am Vermögen. Das Strafrecht auszuüben ist für den Inhaber der Strafgewalt eine empfindliche Last, die er nach eigener Auffassung nur dann auf sich nehmen darf, wenn er dies für notwendig erkannt hat. Dann freilich muß das Strafrecht sich für ihn in Strafpflicht verwandeln. 4. Und hier stehen wir an einem bisher wenig beachteten Punkte. Das Delikt erzeugt ein Strafrecht; mit nichten aber verpflichtet es den Staat zur Strafe; sonst müßte eben jedes Delikt Verbrechen sein, und die Gnade wäre ein Unding. So muß erklärt werden, was denn außerhalb des Delikts diese Umwandlung des Strafrechts in eine Strafpflicht bewirkt, was den Staat seines Erachtens nötigt, den Mörder zu töten und Brandstifter, Räuber, Diebe ins Zuchthaus oder ins Gefängnis zu setzen. Da der Staat nur dann ein Übel auf sich nehmen darf, wenn er dadurch ein größeres von sich abwendet, so kann er sich zur Strafe nur dann für verpflichtet achten, wenn ihm das Übel der Nichtbestrafung noch größer deuchte als das der Bestrafung. Nun kann die Nichtbestrafung als Übel nur unter zwei Gesichtspunkten erscheinen: entweder weil die Rechtsgüter, wie Leben oder Freiheit, welche dem unbestraften Delinquenten verbleiben, für die Gesellschaft Gefahr drohen. Allein die Gefährlichkeit des Delinquenten zwingt den Staat wol zu sichernden Maßnahmen für die Zukunft, aber nicht zur Strafe. Müßte ihretwegen Strafe eintreten, so müßte die Schwere der Strafe der Gefährlichkeit des Sträflings für die Zukunft proportional sein, wovon unser Strafrecht so wenig weiß wie seine Geschichte, und notwendig müßte künftige Ungefährlichkeit einen Strafausschliessungsgrund bilden, was de lege lata nicht zutrifft. Denn auch der Verbrecher, der aller Voraussicht nach nie mehr rückfällig werden wird, auch der [84] Mörder, dem ein Schlaganfall beide Arme gelähmt hat, wird in Strafe genommen. In der Persönlichkeit des Verbrechers liegt also der Zwang zur Strafe nicht. Ist diese aber nichts anderes als das staatsseitig geltend gemachte Recht auf Achtung vor dem Gesetze, so kann die unterlassene Strafverfolgung nur als unterlassene Geltendmachung der Gesetze als ein Übel erscheinen. „Gesetz ohne Strafe ist Glocke ohne Klöppel“, sagt das deutsche Sprichwort – zum Teil unrichtig: denn selbst die leges imperfectae üben, und zwar deshalb, weil die meisten Menschen sei's aus Selbstsucht, sei's aus Rechtssinn ihnen nachleben wollen, eine sehr heilsame und häufig gerade die Wirkung aus, auf die es dem Staate ankommt.
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Aber allerdings, das Interesse des Staates an der Befolgung seiner Verbote und Gebote ist nicht gleich groß: die Autorität der Norm gegen Tötung beispielsweise muß soweit aufrechterhalten werden als nur irgend geht, weil jede Tötung die Rechtswelt aufs schwerste schädigt, während sich das Recht begnügen kann, den Kaufmann, der unerlaubterweise keine Handelsbücher führt, straflos sich selbst und seiner Unordnung zu überlassen. Grade die Strafe ist der Ausdruck und das Maß des Interesses, welches der Staat an der Befolgung der einzelnen Gesetze nimmt. Soweit seiner Ansicht nach die ruhige Hinnahme des Unrechts mit der Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit des Gesetzes in unerträglichem Widerspruche stehen, oder soweit dauernde Straflosigkeit die Autorität eines Gesetzes mehr abschwächen würde, als dieses ertragen kann, soweit ist für ihn die Strafpflicht begründet. So ist der Anspruch der Norm auf ihre Befolgung Voraussetzung des Delikts und zugleich Gegenstand der Verletzung durch dasselbe. Das Recht auf Strafe ist nichts als das durch die Unbotmäßigkeit des Delinquenten verwandelte Recht auf Botmäßigkeit gegenüber dem Gesetz. Das Strafrecht ist also die spezifische Rechtsfolge grade des Delikts. [85] So läßt sich die Strafe definiren als das gegen den Delinquenten geltend gemachte Recht auf Befolgung der staatlichen Normen behufs notwendiger Bewährung der Autorität des jeweilen verletzten Gesetzes. Gegenüber dem Verbrecher rechtfertigt sie sich lediglich durch dessen Tat: weil er das Recht mißachtet hat, empfindet er dessen Macht am eigenen Leibe, und diese Macht kann ihm nur dadurch bewiesen werden, daß dasselbe Recht, welches ihn mit Gütern ausstattet und ihn in deren Besitz schützt, ihn nun dieser Güter und des ihnen gewährten Schutzes entkleidet. Man würde mich völlig mißverstehen, wenn man als meine Ansicht ausgäbe, die nötige Abschreckung verwandle das Strafrecht in eine Strafpflicht. Die Strafe soll nicht abschrecken und kann es nicht: denn die meisten Verbrechen werden in der Hoffnung der Verheimlichung, also der Straflosigkeit, begangen. Vielmehr soll die Strafe die Vorstellung von der Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit der mit ihr ausgestatteten Pflichten erhalten und verstärken und so darauf hinwirken, daß sich die größtmögliche Anzahl von Menschen aus eigener besserer Einsicht dazu bestimme, jenen Pflichten konform zu leben, somit statt verbrecherische Pläne zu fassen sich vielmehr der Autorität der Gesetze zu beugen. Es wäre eine unzulässige Präsumtion, anzunehmen, daß die Strafe in jedem einzelnen Falle ihrer Verhängung dem durch das Verbrechen verletzten Gesetze so viel Stabilität zurückgäbe oder auch nur zurückgeben sollte, als ihm davon vielleicht durch das Verbrechen genommen worden ist, daß sie also Heilung wäre oder sein sollte. Aber richtig ist, daß wie die Verbrecher die Gesetze zu untergraben suchen, so die Strafe bemüht ist, sie in ihrer weithin herrschenden Kraft zu stätigen. So trägt die Strafe allerdings, wie Heinze sagt, ein Janushaupt. Das Strafrecht entspringt allein dem be- [86] gangenen Verbrechen, die Strafpflicht zugleich der Rücksicht auf die gegenwärtige und künftige Autorität der Gesetze. Die Strafan-
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wendung hat also ihren Rechtsgrund nicht allein im Delikt, sondern ist doppelt bedingt. Und dies ist der richtige Kern in den sog. Vereinigungstheorien. Eine der dringendsten Aufgaben der gegenwärtigen Strafrechtswissenschaft ist es aber, auf Grund des gesamten positiv-rechtlichen Materials zu untersuchen, aus welchen sachlichen Motiven der Staat das ihm aus Delikten erwachsene Strafrecht bald ignorirt, bald in eine Strafpflicht umwandelt. Erst wenn diese mühevolle Untersuchung, die kaum begonnen hat, einmal abgeschlossen ist und jene Gründe ins Bewußtsein erhoben hat, erst dann wird uns ein Urteil darüber zustehen, ob die Grenzlinie zwischen strafbarem und straflosem Unrecht so stark im Zickzack laufen muß, wie sie dies gegenwärtig tut. Bei dieser Untersuchung dürfte sich ergeben, daß die Strafgesetzgebung zu einem nicht geringen Teil unsystematische Gelegenheitsgesetzgebung ist4, daß sie infolgedessen schwer strafwürdige Delikte nicht selten unbeachtet, also straflos läßt, daß andrerseits die Opportunitätserwägungen für oder gegen die Strafbarkeit bestimmter Delikte, die den Ausschlag nach der einen oder der andern Seite gegeben haben, oft ungemein anfechtbar sind. Seltsam berührt den Kritiker eine unverkennbare Lust des Gesetzgebers, grade die erbärmlichsten Delikte mit Strafe, oft sogar mit ganz unverhältnismäßiger Strafe auszustatten! XII. Darf man nun die Strafe als die spezifische Rechtsfolge des Delikts und den Zweck der Strafe als die Unterwerfung des Sträflings unter die Rechtsmacht zur Aufrechthaltung der Autorität der verletzten Gesetze bezeichnen, so hat man damit eine sichere Position gewonnen, um den letzten Bestandteil des Strafproblems in Angriff zu nehmen: [87] nämlich die Strafe abzuscheiden von der Richtstrafe, und ihr Verhältnis zu Erscheinungen festzustellen, welche leicht als mit der Strafe verwandt, vielleicht gar als ihrem Gebiet zugehörig aufgefaßt werden. Auch in diesen Untersuchungen sind wir noch begriffen, doch glaube ich, daß bestimmte Resultate – wenn auch vielleicht noch nicht voll anerkannt – doch mit der Zeit Anerkennung finden werden, und ich will versuchen, sie zu formuliren. 1. In den verschiedensten Lebensverhältnissen, besonders denen des öffentlichen Dienstes, aber auch in denen der Kirche, der Familie, bestimmter Vereine und Verbände, begegnet die sog. Disziplinarstrafe. Sie knüpft sich durchaus nicht lediglich an Delikte, sondern an Ordnungswidrigkeiten der verschiedensten Art an. In ihren leichtesten Formen hat sie nicht einmal die Schuld zur Voraussetzung. Ihr Zweck kann demnach auch nicht der der Genugtuung zur Aufrechterhaltung der Autorität der Gesetze sein: er ist vielmehr die Ordnungsmäßigkeit, Würdigkeit und Reinhaltung der Amts-, der Dienst- oder Lebensführung. Sie ist also auch nur präventiver Natur. Sie will zunächst den Disziplinirten, indirekt auch seine Genossen auf den rechten Weg weisen und auf ihm halten, durch ihr äußerstes Mittel aber, durch seine Ausstoßung, den Stand reinigen.
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S. darüber mein Lehrbuch des Strafrechts I bes. S. 20 ff.
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Ihre Verhängung ist nicht ausschließlich Sache des Staates. Wird sie wegen eines Delikts verhängt, so schließt sie die Verbrechensstrafe grundsätzlich nicht aus, sondern konkurrirt mit ihr kumulativ. Gewiß bedarf diese Disziplinarstrafe noch eingehender Untersuchung; sie ist von der Strafe im Rechtssinne wesentlich verschieden, aber schon heute steht fest: sie ist auch aus ihr in keiner Weise abgeleitet, sondern ganz originär aus selbständigen Bedürfnissen erwachsen. Sie hieße weit richtiger Disziplinarmaßregel als Disziplinarstrafe. Weil sie keine Strafe ist, sind auch die Gliedstaaten des [88] Deutschen Reiches für ihre Disziplinarstrafgesetze nicht wie für ihre wirklichen Strafgesetze an die Strafarten gebunden, welche das Reich der Landesgesetzgebung überwiesen hat5. 2. Im heftigsten Kampfe befindet sich aber die heutige Wissenschaft über das Verhältnis der Strafe zu einer andern umfassenden Rechtsfolge: der Schadenersatz-, richtiger der Reparationsverbindlichkeit. Es ist dies die rechtliche Verpflichtung, einen dem Rechte nicht entsprechenden Zustand, dessen Aufhebung möglich ist, durch den rechtgemäßen Zustand oder durch ein gesetzlich anerkanntes Surrogat zu ersetzen. Der Dieb, der Brandstifter, der Betrüger, sie werden nicht nur gestraft, sondern müssen auch dem Geschädigten sei's wiedergeben, was sie ihm genommen, sei's ersetzen worum sie sein Vermögen verringert haben. Und gar mancher, der ein strafloses Unrecht begangen, beispielsweise eine Spiegelscheibe fahrlässig eingestoßen hat, ist wenigsten den Ersatz schuldig. Nun weiß ja jedermann, daß die Ersatzverbindlichkeit sehr häufig da begründet ist, wo eine widerrechtliche Handlung gar nicht vorliegt: so wenn ich einem Pächter zu ersetzen verspreche, was ihm der Hagel an Saaten vernichtet hat. Daß dieser Schadenersatz mit der Strafe auch nicht einmal verwandt ist, wird allgemein zugegeben. Wenn nun aber der Geschädigte durch ein Delikt geschädigt worden ist? Fungirt die Ersatzverbindlichkeit nicht wenigstens dann als Strafe für den Delinquenten? Daß diese an das Delikt geknüpfte Ersatzverbindlichkeit geschichtlich zu einem großen Teil aus der Privatstrafe herausgewachsen ist und den Strafcharakter nur sehr allmählich abgeworfen hat, wenn sie ihn überhaupt abgeworfen hat, was ja bestritten ist, daß dann die Ersatzverbindlichkeit noch lange Zeit – abgesehen von ihrer vertragsmäßigen oder rein gesetzmäßigen Statuirung – als Deliktsfolge betrachtet wurde [89] und zum Teil noch als solche betrachtet wird, sei hier hervorgehoben. Aber mich interessirt an dieser Stelle das ganze Institut in seiner heutigen Ausgestaltung. Nun lassen sich bezüglich des Verhältnisses von Strafe und Ersatz für diese Fälle nur drei Ansichten aufstellen. Die Ersatzverbindlichkeit ist Deliktsfolge und zwar nur eine Art der Strafe, oder sie ist zwar eine Deliktsfolge, aber von der Rechtsfolge der Strafe wesentlich verschieden, oder aber sie ist keine Deliktsfolge, also auch keine Strafe.
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S. EG z. StrGB Art. 6.
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Die Frage hat außer einer großen dogmatischen eine nicht geringere praktische Bedeutung. Ist der Schadenersatz eine Art der Strafe, so kann sich der Gesetzgeber in vielen Fällen, wo er eine Ersatzverbindlichkeit anerkennt, damit begnügen und braucht öffentliche Strafe nicht anzudrohen. Freilich müßte dann der von dem Verurteilten nicht beizutreibende Schaden in andere Strafe verwandelt werden, analog wie bei den römischen Privatstrafen an Stelle der nicht beizutreibenden Buße eine Leibesstrafe wirklich trat. Ferner müßte bei allen Verbrechen, welche einen ersetzbaren Schaden angerichtet haben, die Leistung des Ersatzes durch den Schuldigen, möchte sie freiwillig oder unfreiwillig geschehen, als Grund des Wegfalls oder jedenfalls der Milderung der öffentlichen Strafe erscheinen. Die beiden Kriminalisten, welche m. E. sich neben einem philosophischen Schriftsteller, Laistner, das größte Verdienst um die Behandlung des Strafproblems in neuerer Zeit erworben haben, Merkel und Heinze, treten beide ein für die wesentliche Gleichheit von Strafe und Schadenersatz. Das Delikt hat dann nur eine Rechtsfolge: die Strafe, welche in zwei verschiedenen Gestalten, einer strengeren und einer milderen, zur Verwertung kommt. Auch die mildere Form, der von Merkel sog. Zivilzwang, bekämpft dann nicht das äußere Faktum des Schadens, sondern die Objektivirung eines der Herrschaft des Rechts widerstrebenden Willens. [90] Diese Ansicht ist besonders bequem zur Erklärung der Tatsache, daß ein Teil der Vermögensbeschädigungen, obgleich er Ersatzverbindlichkeit zur Folge hat, wie eine ganze Anzahl von Vertragsverletzungen, mit Strafen in strengerem Sinne verschont werden; und sie ist auch gerade zu diesem Zweck aufgestellt worden. Sie bildet das Gegenstück zu der besonders von Welcker vertretenen Theorie, daß Strafe und Ersatz gleichartig seien, weil die Strafe sich als eine Art des Ersatzes darstellt. Allein beide Ansichten sind unrichtig! Strafe und Ersatz sind in nicht weniger als allen wesentlichen Merkmalen verschieden. Die Rechte auf Strafe und Ersatz haben immer ganz verschiedene Subjekte, ganz verschiedenen Inhalt, ganz verschiedene Entstehungsgründe, und wenigstens häufig werden sie geltend gemacht gegen ganz verschiedene Personen. Sie haben verschiedene Subjekte. Ein Recht auf Strafe besitzt heute nur der Staat, ein Recht auf Ersatz kann diesem unmöglich als solchem, sondern nur als dem Geschädigten zustehen. Wenn ein Dieb eine Ballgarderobe ausräumt, so hat der Staat gegen ihn nur eine Strafklage, während Ersatzklagen gegen den Stehler so viele entstanden sind, als Ballgäste jene Garderobe benutzt haben. Beide Rechte haben ganz verschiedenen Inhalt, obgleich sich Geldstrafe und Ersatz äußerlich sehr ähnlich sehen können. Das Recht auf Strafe geht dahin, einem ganz bestimmten Schuldigen, daß ich den weitesten Ausdruck gebrauche, einen Rechtsnachteil zuzufügen, und sie fügt ihn immer zu, während der Ersatz für den, der ihn leistet, nicht notwendig einen Vermögensnachteil bedeutet. Wer nur herausgeben muß, was er durch eine rechtswidrige Handlung erlangte, hat delinquirt, ohne infolge des Ersatzes ärmer geworden zu sein als er vor dem Delikt gewesen ist. Die Strafe soll eine Wunde schlagen, der Schadenersatz eine andere heilen,
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womöglich ohne eine zweite zu verursachen. [91] Das Wesen des Schadenersatzes besteht in seiner Bestimmung, zu repariren. Wer aber Strafe leidet, soll ja grade Genugtuung geben für den von ihm verübten irreparablen Rechtsbruch. Wer Strafe einklagt, verfolgt sein Recht zum Zwecke der Unrechtsverfolgung; wer Ersatz einklagt, verfolgt sein Recht um seiner selbst willen: die Strafklage ist selbstlos, die Ersatzklage egoistisch. Demgemäß bestehen auch für die Bemessung des Inhaltes beider Rechte ganz verschiedene Maßstäbe. Die Strafe bemißt sich nach der Schwere der Schuld und der Bedeutung des übertretenen Gesetzes, die beide an bezifferten Maßstäben nicht abzulesen sind. Dagegen ist der Schaden eine mathematisch bestimmte, wenn auch hie und da schwer zu berechnende Größe, und sie allein, und nicht die Verschuldung, die vielleicht dem Beklagten zur Last fällt, bestimmt die Größe der Ersatzforderung. Beide Rechte haben endlich ganz verschiedene Entstehungsgründe. Die Strafe nur das Delikt samt dem Bedürfnis des Staates, dagegen zu reagiren; die Ersatzverbindlichkeit meiner Überzeugung nach nie das Delikt, auch bei sog. Deliktsobligationen heutzutage nicht mehr. Nicht aus dem Konflikt des Schädigers mit der Norm, sondern aus dem Konflikt seiner Handlung mit dem Rechtskreis des Geschädigten entsteht dessen Anspruch. Nicht in der Schuld des Schädigers, sondern in seiner Verursachung des Schadens liegt die Quelle der Ersatzpflicht. Am deutlichsten zeigt sich das eben grade in der Verschiedenheit der mit Strafe und Ersatzforderung in Anspruch zu nehmenden Personen. Den Unschuldigen strafen ist Justizmord; die Strafe ist ausnahmelos eine höchst persönliche Leistung des Delinquenten: denn das Delikt kann nur seine Urheber verpflichten. Dagegen nimmt das Recht gar keinen Anstoß daran, die Ersatzklage vielfach auch gegen völlig Schuldlose sowie gegen einen andern als den Schädiger zu [92] gewähren, und wenn ein Dritter, um dem Schädiger zu helfen, dem Geschädigten Ersatz leistet, begeht jener keine verbotene Begünstigung, und kann dieser das Angebot nicht zurückweisen, um sich allein an den Schädiger zu halten. Wäre die Ersatzforderung an das Delikt geknüpft und strafartig, so müßte sie wegfällig werden sowol durch Wahnsinn des Schädigers als durch seinen Tod. Beides aber ist nicht der Fall. Auch der Wahnsinnige und der Erbe des Schädigers haften für Ersatz. So ist der Ersatz keine Strafe, und so kann er auch weder Strafausschließungs- noch Strafmilderungsgrund sein. Vielmehr bauen sich nebeneinander auf zwei sich ebenbürtige, gleich einheitliche, gleich wichtige, aber wesentlich voneinander verschiedene Rechtsfolgen: heilende Besserung und schneidige Strafe! 3. Der neueste Kampf gegen die Strafe, wie sie uns die Geschichte als scharf geschliffene Waffe wider das Unrecht überliefert hat, – geführt von einem Teile der Deterministen – galt ihrer Verwandlung in eine sog. sichernde Maßnahme gegen den die Rechtsordnung gefährdenden Menschen. Die repressive Natur der Strafe sollte in eine rein präventive verwandelt werden. Die relative Theorie sollte ihren endgültigen Triumph feiern.
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Dieser von ganz unhaltbaren Ausgangspunkten ausgegangene Versuch mußte jämmerlich scheitern. Er hat aber eine gute Folge gehabt: eine große Lücke des Rechtsschutzes für die Gesellschaft wurde in umfassenderem Maße als bisher bloßgelegt: ihr ungenügender Schutz gegen gefährliche Menschen, und Vorschläge zur Ausfüllung der Lücke wurden gemacht. Es leuchtet ein, daß diese sichernden Maßnahmen grundsätzlich Deliktsfolgen nie sind. Auch der schwerste Verbrecher läßt vielleicht nicht die geringste Gewalttat von seiner Seite mehr befürchten. [93] Die sog. sichernden Maßnahmen sind Charakter- nicht Tatfolgen. Die Gefährlichkeit des Charakters kann sich durch verbrecherische Tat enthüllt haben, sie kann aber grade so gut auch ohne sie erkennbar gewesen sein, und der Schuldunfähige ist oft viel gefährlicher als der Schuldfähige. Diese Maßnahmen können äußerlich echten Strafmaßnahmen sehr ähnlich sehen, wie ja auch der Ersatz mit der Geldstrafe große äußere Ähnlichkeit aufweist. Aber ihr ganzer Ausbau und ihr Zweck sind von denen der Strafe fundamental verschieden. Bei diesem Kampfe ist aber noch eine weitere Tatsache schärfer als bisher hervorgetreten, nämlich die, daß zeitweise das Strafrecht durch die Aufnahme gewisser angeblicher Strafmittel – man denke besonders an die Stellung unter Polizeiaufsicht und an die sog. korrektionelle Nachhaft – diesen Schutz der Gesellschaft gegen den gefährlichen Menschen zu einem Teil recht ungeschickt und natürlich sehr unzulänglich zu leisten versucht hat. So sind infolge dieses Kampfes die beiden großen Aufgaben, die Bestrafung des Delinquenten und der Schutz der Gesellschaft vor dem ihr gefahrdrohenden Menschen, klarer wie bisher in ihrer fundamentalen Verschiedenheit einander gegenübergetreten, und eine schärfere Scheidung der Strafmittel und der Sicherungsmittel ist angebahnt worden. Aber mit der Verbrechensverfolgung hat die sichernde Maßnahme nicht das Geringste zu schaffen. XIII. Ich stehe am Ende und ziehe den Schluß: es gibt nur ein straffälliges Unrecht, das Delikt, und nur eine Strafe! Nicht zwei Schwerter ließ – um mit dem Sachsenspiegel zu sprechen – Gott auf Erden, eines dem Papst und eines dem Kaiser: das Schwert ist allein des Kaisers, will sagen des Staates. Nach seinem Gutdünken entscheidet er, wo er strafen will und wie er strafen will. Niemand kann die Autorität seiner Entscheidung anfechten; formell ist die Kompetenz des Staates, Handlungen zu ver- [94] bieten und Delikte zur Strafe zu ziehen, unbeschränkt. Aber grade die Fülle der Gewalt legt ihrem Inhaber eine schwere Verantwortung auf: es ist nicht gegen die Kompetenz, aber gegen den Beruf des Staates, Strafen zu verhängen, wo sie entbehrlich sind, oder die Strafen auch nur ein weniges über Gebühr zu verschärfen. Daß der Staat seinem Berufe nach dieser Richtung hin treu bleiben kann, hat die Wissenschaft zu ermöglichen. Es ist ein Vorzug des Jurisprudenz, daß selbst von den Gipfeln der Abstraktion der Weg leicht und rasch abwärts führt ins praktische Leben. Je mehr es ihr gelingt, die Grundgedanken des Rechts zu enthüllen, desto reichere und wichtigere Kon-
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sequenzen kann sie ziehen, damit das bunte Leben in seinen tausend Gestalten zweckmäßig geregelt werde. Es ist ein Vorzug der deutschen Strafrechtswissenschaft, daß ihre Früchte unserem ganzen Vaterlande zugute kommen, weil dieses im wesentlichen nur ein Strafrechtsgebiet darstellt. Und so wird auch die weitere Forschung über das Problem der Strafe ihren Teil beitragen zur Erreichung des anzustrebenden Zieles, daß die Achtung vor dem Gesetze in Deutschland gewahrt bleibe, so weit es geht, ohne Strafe, so weit es zulässig, mittelst gelinder Strafe, so weit es aber nötig, mit der Schärfe des Schwertes: damit das Deutsche Reiche, ebenso fern von einer Schwäche, die ihm nicht ansteht, als von einer Härte, deren es nicht bedarf, Rechtsstaat sei im edelsten Sinne des Wortes! (Abgeschlossen 1. März 1915.)
Rudolf von Jhering (1818–1892) Der Zweck im Recht (1877) [435] [...] Der Zweck des Rechts – die Lebensbedingungen der Gesellschaft. Die beiden im Bisherigen entwickelten Momente des Rechts im objectiven Sinn: die Norm und der Zwang sind rein formale Momente, die uns über den Inhalt des Rechts nichts aussagen; mittelst ihrer wissen wir nur, daß die Gesellschaft gewisse Dinge von ihren Mitgliedern erzwingt, aber nicht warum und wozu; es ist die äußere Form des Rechts, die sich überall gleicht bleibt, fähig, den verschiedensten Inhalt in sich aufzunehmen. Erst durch den Inhalt erfahren wir, wozu das Recht der Gesellschaft eigentlich dient, und das bildet die Aufgabe der folgenden Darstellung. Eine unlösbare Aufgabe, höre ich ausrufen, denn dieser Inhalt ist ja ein ewig wechselnder, hier dieser, dort jener, ein Chaos in unausgesetztem Fluß begriffen, ohne Bestand, ohne Regel. Was hier verboten, ist dort erlaubt, was [436] hier vorgeschrieben, dort untersagt. Glaube und Aberglaube, Rohheit und Cultur, Rachsucht und Liebe, Grausamkeit und Menschlichkeit, und was soll ich sonst noch nennen? alles hat im Recht willige Aufnahme gefunden, widerstandslos scheint es sich allen Einflüssen, die mächtig genug sind, es sich dienstbar zu machen, zu fügen, ohne eigenen festen innern Halt. Der Widerspruch, der ewige Wechsel scheint inhaltlich das Wesen des Rechts auszumachen. Das Resultat wäre ein wahrhaft trostloses, wenn die Verwirklichung eines an sich Wahren die Aufgabe des Rechts bildete. Unter dieser Voraussetzung könnten wir nicht anders als eingestehen, daß das Recht zum ewigen Irren verdammt sei. Jede folgende Zeit würde, indem sie das Recht änderte, über die vorhergehende, welche in ihren Rechtssätzen das an sich Wahre getroffen zu haben glaubte, den Stab brechen, um ihrerseits bald wieder des Irrthums geziehen zu werden. Die Wahrheit würde dem Recht stets um einige Schritte voraus sein, ohne je eingeholt zu werden, ein Schmetterling, den ein Knabe zu haschen sucht, – kaum schleicht er heran, so entfliegt er ihm wieder. Auch die Wissenschaft ist zum ewigen Suchen verdammt. Aber ihr Suchen ist nicht bloßes Suchen, sondern stetes Finden – was sie wirklich gefunden hat, verbleibt ihr für ewige Zeiten. Und ihr Suchen ist völlig frei. Auf ihrem Gebiete gibt es keine Autorität, die dem Irrthum [437] die Macht der Wahrheit verliehe, wie dies beim Recht der Fall ist, die Sätze der Wissenschaft lassen sich stets anfechten, die des Rechts haben positive Geltung; auch wer sie als Irrthum erkannt hat, muß sich ihnen unterwerfen. Wer derartige Klagen über das Recht laut werden lässt, hat sich selber anzuklagen, denn er legt an das Recht einen Maaßstab an, der für dasselbe nicht paßt: den der Wahrheit. Wahrheit ist das Ziel der Erkenntniß, aber nicht das des Handelns. Die Wahrheit ist stets nur eine, und jede Abweichung von ihr ist Irrthum, der Gegensatz von Wahrheit und Irrthum ist ein absoluter. Aber für das Handeln oder, was T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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dasselbe, für den Willen gibt es keinen absoluten Maaßstab, so daß nur der eine Willensinhalt der wahre, jeder andere ein falscher wäre, sondern der Maaßstab ist ein relativer, der Willensinhalt kann in dieser Lage, auf dieser Stufe ein anderer sein als auf jener, und gleichwohl in beiden der richtige, d.h. der zweckentsprechende sein. Die Richtigkeit des Willensinhaltes liegt beschlossen in seinem Zweck. Nach diesem mit jedem Wollen gegebenen Moment der „Richtung“ auf den Zweck, d.i. das Ziel des Wollens, charakterisirt die Sprache das Handeln entweder als ein „richtiges“ oder als ein „unrichtiges“. Richtigkeit ist der Maaßstab des Praktischen, d.h. des Handelns, Wahrheit der des Theoretischen, d.h. des Erkennens. Richtigkeit bezeichnet die Übereinstimmung des Willens mit dem, was sein soll, Wahr- [438] heit die der Vorstellung mit dem, was ist. Von dem Arzt, der ein verkehrtes Mittel verschreibt, sagen wir nicht, daß er ein unwahres, sondern daß er ein unrichtiges Mittel gewählt habe. Nur insofern das Finden der Wahrheit als praktische Aufgabe gesetzt oder gedacht wird, also als etwas, wobei es des Suchens, Ringens, Sichabmühens, kurz der Anstrengung der Willenskraft bedarf, wenden wir auch auf diese lediglich der Wahrheit sich zukehrende Aufgabe den Ausdruck „richtig“ an. Wir sagen vom Schüler, daß er sein Exempel richtig gerechnet, vom Arzt, daß er den Zustand des Kranken richtig erkannt habe, wir haben dabei nicht die Wahrheit als solche im Auge, sondern das Subject, welches dieselbe sucht, ihre Auffindung sich als Ziel vorgesetzt hat, und von diesem subjectiven Standpunkt bezeichnen wir die Erreichung des Ziels als richtig. Der Ausdruck „richtig“ schließt die Vorstellung der Richtung, d.i. des Weges in sich, den Jemand einzuschlagen hat, um das Ende desselben: das Ziel zu erreichen. Es ist dieselbe Vorstellung, welche die Sprache, wie wir oben [...] sahen, im Recht in so reicher Weise verwendet hat (Richter, Richtsteig, Weg Rechtens, recht = reht, d.i. gerade, regere, rex, regula, rectum, regieren, dirigere, directum, diritto, derecho, droit). Alle diese Ausdrücke sind nicht dem eigenthümlichen Wesen des Rechts als solchen entnommen, sondern dem, was das Recht als Vorschrift des menschlichen Handelns mit jedem [439] Handeln gemeinsam hat: die Innehaltung des geraden, rechten, richtigen Weges, die Richtung auf das Ziel, den Zweck. So erklärt es sich, daß wir uns des Ausdrucks „recht“ auch im nichtjuristischen Sinn für richtig, angemessen bedienen. So sagen wir z.B. vom Arzt, daß er das rechte Mittel ergriffen habe, d.h. dasjenige, welches dem Zweck entsprach. Ja wir gehen auch hier (wie bei „richtig“) noch einen Schritt weiter. Wir gebrauchen den Ausdruck „recht“ auch für die Wahrheit, insofern sie mit dem Zweck in Beziehung tritt. Wir sagen vom Schüler, daß er seine Aufgabe „recht“ gemacht habe, und von demjenigen, der etwas behauptet oder ein Urtheil fällt, daß er „Recht“ habe; wir nennen einen Menschen „rechthaberisch“, der hartnäckig seine Ansichten vertheidigt. In allen diesen Fällen handelt es sich allerdings um die Wahrheit, aber um die Wahrheit unter dem Gesichtspunkt eines praktischen Zwecks (Suchen, Finden, Behaupten, Vertheidigen, Leugnen). Ich kehre zurück zu meiner obigen Behauptung: der Maaßstab des Rechts ist nicht der absolute der Wahrheit, sondern der relative des Zwecks. Darin liegt, daß der Inhalt des Rechts ein unendlich verschiedener nicht bloß sein kann, sondern sein muß. So wenig der Arzt allen Kranken dasselbe Mittel verschreibt, sondern seine
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Mittel dem Zustande des Patienten anpaßt, ebenso wenig kann das Recht überall dieselben Bestimmungen erlassen, es [440] muß sie vielmehr ebenfalls dem Zustand des Volks, seiner Culturstufe, den Bedürfnissen der Zeit anschmiegen, oder richtiger es ist dies kein bloßes Soll, sondern eine geschichtliche Thatsache, die sich stets und überall mit Nothwendigkeit vollzieht. Die Idee, daß das Recht im Grunde überall dasselbe sein müsse, ist um nichts besser, als daß die ärztliche Behandlung bei allen Kranken die gleiche sein müsse – ein Universalrecht für alle Völker und Zeiten steht auf einer Linie mit einem Universalrecept für alle Kranke, es ist der ewig zu Suche stehende Stein der Weisen, den in Wirklichkeit nicht die Weisen, sondern nur die Thoren zu suchen ausgehen können. In ihrem innersten Grunde falsch, weil auf einer Uebertragung des nur für die Erkenntnis zutreffenden Gesichtspunktes der Wahrheit auf das Wollen beruhend und darum mit der Geschichte in unversöhnbarem Widerspruch, hat diese Anschauung doch einen gewissen Schein der Wahrheit für sich. Gewisse Rechtssätze wiederholen sich bei allen Völkern, Mord und Raub sind überall verboten, Staat und Eigenthum, Familie und Vertrag kehren überall wieder1. Folglich! Da kommt ja die Wahrheit zum Vorschein, das [441] sind ja offenbar absolute „Rechtswahrheiten“, über welche die Geschichte keine Macht hat. Mit demselben Recht könnte man die Grundeinrichtungen der menschlichen Cultur: Häuser, Straßen, Bekleidung, Gebrauch von Feuer und Licht Wahrheiten nennen. Es sind Niederschläge der Erfahrung in Bezug auf die gesicherte Erreichung gewisser menschlicher Zwecke. Die Sicherung der öffentlichen Straßen gegen Straßenräuber ist um nichts weniger ein Zweck als die Sicherung derselben gegen Ueberschwemmungen durch Dämme. Das Zweckmäßige verliert dadurch nicht den Charakter des Zweckmäßigen, daß diese seine Eigenschaft über allen Zweifel erhaben, in diesem Sinn also wahr ist. Nun mag eine Wissenschaft, die wie die des Rechts das Zweckmäßige zum Gegenstand hat, immerhin alle diejenigen Einrichtungen, die in dieser Weise ihre Probe in der Geschichte bestanden haben, von den übrigen, die sich nur einer bedingten (zeitlichen oder örtlichen) Zweckmäßigkeit rühmen können, unterscheiden und sie zu einer besondern Klasse zusammenfassen, wie dies die Römer mit dem jus gentium und der naturalis ratio im Gegensatz zum jus civile und der civilis ratio thaten, aber sie soll nicht vergessen, daß sie es auch hier nicht mit dem Wahren, sondern mit dem Zweckmäßigen zu thun hat. Wie wenig sie dies beachtet hat, werde ich in dem zweiten Theil des Werks Gelegenheit haben nachzuweisen, das „Rechtmäßige“, das sie als das eigentlich Wahre, weil ewig [442] Bleibende im Recht, in Gegensatz zum „Zweckmäßigen“ als dem Vergänglichen und Vorübergehenden stellt, wird sich dort als eine Art des letzteren ergeben: das zur festen Gestalt Niedergeschlagene, Verdichtete im Gegensatz zu dem noch Flüssigen, Beweglichen. Es ist das Zweckmäßige, das die Probe von vielen Jahrtausenden 1
Der Begriff des römischen jus gentium. Quod vero naturalis ratio inter omnes homines constituit, id apud omnes peraeque custoditur vocaturque jus gentium, quasi quo jure omnes gentes utantur, I. 9 de I. et I. (1.1). Ex hoc jure gentium introducta bella, discretae gentes, regna condita, dominia distincta, agris termini positi, aedificia collocata, commercium, emtiones venditiones, locationes conductiones, obligationes institutae. I. 5 ibid.
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bestanden hat, die niederste, im tiefen Grunde abgelagerte Schicht desselben, welche alle andern trägt, und darum in ihrem Bestande völlig gesichert. Aber der Bildungsproceß dieser tiefsten Schicht ist kein anderer gewesen als der der jüngern, sie ist nichts als abgelagerte, durch die Erfahrung erprobte und über allen Zweifel erhobene Zweckmäßigkeit. Alles, was auf dem Boden des Rechts sich findet, ist durch den Zweck ins Leben gerufen und um eines Zweckes willen da, das ganze Recht ist nichts als eine einzige Zweckschöpfung, bei der nur die meisten einzelnen schöpferischen Akte in eine so ferne Vergangenheit zurückreichen, daß der Menschheit die Erinnerung daran verloren gegangen ist. Sache der Wissenschaft ist es, wie in Bezug auf die Bildung der Erdrinde, so auch in Bezug auf die Bildungsgeschichte des Rechts die wirklichen Vorgänge zu reconstruiren, und das Mittel dazu gewährt ihr der Zweck. Nirgends ist für denjenigen, der das Suchen und Nachdenken nicht scheut, der Zweck so sicher zu entdecken, wie auf dem Gebiete des Rechts – ihn zu suchen, ist die höchste Aufgabe der Rechtswissenschaft, gleich- [443] mäßig in Bezug auf die Dogmatik, wie in Bezug auf die Geschichte des Rechts. Was ist nun der Zweck des Rechts? Ich habe früher [...] auf die Frage: was bezweckt das Handeln des lebenden Wesens? die Antwort ertheilt: die Verwirklichung seiner Daseinsbedingungen, und daran knüpfe ich nunmehr an, indem ich das Recht inhaltlich definire als die Form der durch die Zwangsgewalt des Staates beschafften Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft. Die Rechtfertigung dieser Definition erfordert eine Verständigung über den hier zu Grund gelegten Begriff der Lebensbedingungen. Derselbe ist ein relativer, er bestimmt sich nach dem, was zum Leben gehört. Was gehört dazu? Heißt Leben bloß physisches Dasein, so beschränkt er sich auf die schmale Nothdurft des Lebens: Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung. Selbst in dieser Richtung aber bewährt er den Charakter des Relativen, denn er bestimmt sich gänzlich verschieden nach dem individuellen Bedürfniß – der Eine hat mehr und hat anderes nöthig als der Andere. Aber Leben heißt nicht bloß physisches Dasein; selbst der Aermste und Geringste verlangt mehr vom Leben als die bloße Erhaltung desselben, er will Wohlsein, nicht bloßes Dasein, und wie verschieden er sich dasselbe auch denke – bei dem Einen fängt das Leben in diesem [444] Sinn erst da an, wo es bei dem Andern aufhört – die Vorstellung, die er davon in sich trägt: sein Idealbild des Lebens enthält für ihn den Maaßstab, nach dem er den Werth seines wirklichen Lebens bemißt, die Verwirklichung desselben das Ziel seines ganzen Strebens, den Hebel seines Willens. Die Voraussetzungen, an welche subjectiv das Leben in diesem weitern Sinn geknüpft ist, nenne ich Lebensbedingungen. Ich verstehe darunter also nicht bloß die des physischen Daseins, sondern alle diejenigen Güter und Genüsse, welche nach dem Urtheil des Subjects dem Leben erst seinen wahren Werth verleihen. Die Ehre ist keine Bedingung des physischen Lebens, und doch was ist das Leben für den Mann von Ehre ohne sie? – wo beide in Conflict mit einander gerathen, setzt er das Leben daran, um die Ehre zu retten, zum besten Beweise, daß für ihn das Leben ohne Ehre werthlos ist. Die Freiheit und die Nationalität sind keine Bedin-
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gungen des physischen Daseins, aber kein freiheitliebendes Volk hat sich besonnen, für sie in den Tod zu gehen. Der Selbstmörder legt Hand an sich, wenn das Leben seinen Werth für ihn verloren hat, obschon es ihm an den äußern Bedingungen desselben vielleicht in keiner Weise fehlt. Kurz die Güter und Genüsse, durch welche der Mensch sein Leben bedingt fühlt, sind nicht bloß sinnlicher, materieller, sondern auch immaterieller, idealer Art, sie umfassen alles, was das Ziel des menschlichen Ringens und Strebens bildet: Ehre, [445] Liebe, Thätigkeit, Bildung, Religion, Kunst, Wissenschaft. Die Frage von den Lebensbedingungen sowohl des Individuums wie der Gesellschaft ist eine Frage der nationalen und individuellen Bildung. Indem ich nun meiner obigen Definition des Rechts diesen Begriff der Lebensbedingungen zu Grunde lege, gedenke ich im Folgenden ein Doppeltes nachzuweisen, erstens, daß derselbe ein richtiger, und sodann daß er ein wissenschaftlich werthvoller, fruchtbarer ist. Die Richtigkeit desselben wird sich daran erproben, daß sich sämmtliche Rechtssätze, welcher Art sie auch sein, und wo sie sich auch finden mögen, auf ihn zurückführen lassen, der Werth desselben daran, daß unsere Einsicht vom Recht durch ihn gefördert wird. Ein Gesichtspunkt, der nichts weiter ist als richtig, ist um nichts besser als ein Futteral – man steckt den Gegenstand hinein und zieht ihn wieder heraus, er selber bleibt, wie er war, ohne daß seine Erkenntnis dadurch gefördert wird. Von wissenschaftlichem Werth ist ein Gesichtspunkt nur dann, wenn er sich als productiv erweist, d.h. wenn er die Erkenntniß des Gegenstandes fördert, Seiten an ihm erschließt, welche bisher übersehen wurden. Versuchen wir, ob unser Gesichtspunkt in beiden Richtungen die Probe besteht. Gegen die Richtigkeit desselben habe ich mehrere Einwendungen zu gewärtigen. Wenn das Recht die Lebensbedingungen der Gesell- [446] schaft zum Gegenstand hat, wie kann dasselbe sich in dem Maaße widersprechen, daß es hier verbietet, was es dort erlaubt oder gebietet? Damit scheint es ja zu beweisen, daß der Punkt, der einer so verschiedenen Behandlung fähig war, nicht zu den Lebensbedingungen der Gesellschaft gehörte, daß letztere es vielmehr mit ihm halten konnte, wie sie Lust hatte. Der Einwand übersieht die Relativität des Zweckmäßigen. So wenig wie der Arzt sich widerspricht, wenn er je nach Verschiedenheit des Zustandes des Patienten heute verordnet, was er gestern verboten hat, ebensowenig der Gesetzgeber – die Lebensbedingungen variiren, wie beim Individuum, so auch bei der Gesellschaft, was hier entbehrlich, ist dort nöthig, was hier nützlich, ist dort schädlich. [...] [483] [...] Das Verbrechen. Man hat das Verbrechen (worunter hier auch die Vergehen und die Uebertretungen verstanden werden sollen)2 [484] definirt als eine mit öffentlicher Strafe be2
Etymologisch charakterisirt sich das Ver-brechen als das Brechen der Ordnung, das Ver-gehen als Hinaus-gehen, die Ueber-tretung als das Hinaus-treten aus der Bahn des Rechts; ebenso das römische delictum von de-linquere, linquere, dem Verlassen des vom Gesetz vorgeschriebenen Weges.
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legte oder strafgesetzwidrige Handlung. Die Definition ist richtig, sie enthält das äußere Kriterium, an dem dasselbe zu erkennen ist, aber sie ist lediglich formaler Art, sie setzt uns in Stand, die menschlichen Handlungen nach Anleitung eines bestimmten positiven Rechts zu classificiren, ob sie Verbrechen sind oder nicht, ohne uns über die wichtige Frage Auskunft zu ertheilen: was das Verbrechen ist und warum das Gesetz es mit Strafe belegt – kurz sie gibt uns das äußere Merkmal, aber nicht das innere Wesen des Verbrechens. Diesem Mangel haben andere Definitionen abzuhelfen gesucht, aber meines Erachtens mit wenig Glück. Die eine setzt das Wesen des Verbrechens in die Verletzung von subjectiven Rechten (des Individuums oder Staats). Aber die Verbrechen wider die Sittlichkeit, der Meineid, die Gotteslästerung u.a. verletzen kein subjectives Recht. Oder in die Verletzung der durch den Staat gesicherten Freiheit. Aber durch die genannten Verbrechen wird die Freiheit nicht verletzt. Oder in die Verletzung der Rechtsordnung. Aber die Rechtsordnung umfaßt auch das Privatrecht, und das Privatrecht ist nicht durch Strafe geschützt, nicht jede rechtswidrige Handlung ist ein Verbrechen. Ganz dasselbe ist gegen die Definition des Verbrechens als [485] Auflehnung des Einzelnen gegen den allgemeinen Willen zu bemerken. Denn insoweit dieser allgemeine Wille rechtliche Gestalt angenommen hat – und darüber hinaus kann von einer rechtlich verpflichtenden Kraft desselben nicht die Rede sein – fällt er zusammen mit der Rechtsordnung. Die Definition sagt ganz dasselbe aus, wie die vorhergehende, nur in schlechterer, weil unbestimmterer Fassung. Bringt man sie zur Anwendung, wie sie lautet, so enthält auch die Abweichung von der herrschenden Mode oder der häuslichen Lebensweise ein Verbrechen, und supplirt man das fehlende Moment „rechtlich“, so sind auch alle privatrechtlichen Rechtswidrigkeiten als eine Auflehnung gegen den allgemeinen Willen zu charakterisiren; letzterer befiehlt dem Schuldner, seine Schuld zu bezahlen, – thut er es nicht, so lehnt er sich gegen ihn auf. Der Zweck des Strafgesetzes ist kein anderer als der eines jeden Gesetzes: Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft, nur die Art, wie es diesen Zweck verfolgt, ist eine eigenthümliche, es bedient sich dabei der Strafe. Warum? Etwa, weil jede Nichtachtung eines Gesetzes eine Auflehnung gegen die Autorität der Staatsgewalt enthält und darum Strafe verdient? Dann müsste jede Rechtswidrigkeit bestraft werden, die Weigerung des Verkäufers, den Contract zu erfüllen, des Schuldners, das Darlehn zurückzuzahlen, und unzähliges andere, und es könnte dann consequenter Weise nur eine einzige Strafe geben: die wegen [486] Nichtachtung des Gesetzes, und nur ein Verbrechen: das der Widersetzlichkeit des Unterthanen gegen die Gebote oder Verbote der Staatsgewalt. Worin liegt der Grund, daß das Gesetz, während es einerseits gewisse Handlungen, die sich mit ihm in Widerspruch setzen, bestraft, andere ohne Strafe läßt? Bei diesen wie bei jenen handelt es sich um eine Nichtachtung des Rechts, also, wenn letzteres der Inbegriff der Lebensbedingungen der Gesellschaft ist, um eine Antastung derselben. Wenn die Kaufcontracte nicht erfüllt, die Darlehen nicht zurückgezahlt werden, so kann die Gesellschaft ebensowenig bestehen, als wenn Einer den Andern erschlägt oder ausplündert. Warum hier Strafe, dort nicht?
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Auch die Selbsterhaltung, die Fortpflanzung und die Arbeit sind Lebensbedingungen der Gesellschaft: warum sichert sie sich dieselben nicht durch Gesetz? Die Antwort lautet: weil sie es nicht nöthig hat. [...] Dieselbe Erwägung, welche sie veranlaßt, zum Gesetz überhaupt ihre Zuflucht zu nehmen: die Erkenntniß, daß sie dessen bedarf, leitet sie auch in Bezug auf das Strafgesetz. Wo die sonstigen Mittel zur Verwirklichung des Rechts ausreichen, wäre die Anwendung der Strafe unverantwortlich, weil die Gesellschaft selber darunter zu leiden hätte [...], die Frage, für welche Fälle die Gesetzgebung eine Strafe festsetzen soll, ist eine reine Frage der socialen Politik, ich meine nicht derjenigen, welche ihr Augenmerk bloß auf die äußeren Güter richtet, sondern der Politik [487] im vollen Umfang des Wortes, welche gleichbedeutend ist mit der praktischen Würdigung und Sicherung aller, auch der moralischen Bedingungen des Gedeihens der Gesellschaft. Das römische Recht hat es aus gutem Grunde für geboten gehalten, der Freigebigkeit der Ehegatten gegen einander in ihrem eigenen Interesse und in dem der Kinder Schranken zu setzen, es untersagt aus diesem Grunde die Schenkung unter Ehegatten. Aber auf die Uebertretung dieser Vorschrift setzt es keine Strafe. Warum nicht? Die Nichtigkeit der Schenkung reicht für den Zweck vollkommen aus, eine Strafe wäre zwecklos. Dasselbe gilt für den Fall, daß der Verkäufer sich weigert, den Kaufcontract zu erfüllen, oder der Schuldner, das Darlehn zurückzuzahlen; der Zwang zur Erfüllung reicht vollkommen aus, einer Strafe bedarf es nicht. Dort wie hier endet die Nichtachtung des Gesetzes, die obige Auflehnung des partikulären gegen den allgemeinen Willen, mit der Machtlosigkeit des individuellen Willens, es behält beim bloßen Versuch sein Bewenden. Die Voraussicht dieses Erfolges reicht im Leben regelmäßig aus, diesen Versuch selber im Keim zu ersticken – auf einen Fall des versuchten Widerstandes kommen Millionen der widerstandslosen Unterwerfung unter das Gesetz, der Widerstand ist in geordneten Rechtszuständen regelmäßig nur da zu besorgen, wo entweder das Factum, oder die rechtliche Beurtheilung desselben Gegenstand des Streits sein kann. [488] Angenommen aber, dies Verhältniß änderte sich, und das Civilrecht nähme in gewissen Richtungen z.B. in Bezug auf die Zuverlässigkeit des Gewichts oder die Echtheit der Waare Dimensionen an, welche die nationale Ehrlichkeit und Solidität im Auslande in Mißcredit brächten und folgeweise den Absatz nach außen schmälerten, was würde hier der Gesetzgeber zu thun haben? Etwa die Hände in den Schooß legen aus dem doctrinären Grunde, weil es sich hierbei lediglich um das Civilunrecht, nicht um das Kriminalunrecht handle? Der Gegensatz beider und die Grenzen zwischen ihnen bestimmt er selber, nicht er hat sie von der Theorie, sondern sie dieselben von ihm entgegen zu nehmen – das Kriminalunrecht beginnt da, wo die Strafe durch die Interessen der Gesellschaft geboten ist, und wenn Treue und Ehrlichkeit im Verkehr sich sonst nicht aufrecht erhalten lassen, so muß zur Strafe gegriffen werden. [...] [490] [...] Also nochmals: die Frage von der legislativen Verwendung der Strafe ist eine reine Frage der socialen Politik im obigen Sinn, sie faßt sich in die Maxime zusammen: Strafe überall da, wo die Gesellschaft ohne sie nicht auskommen kann! Da dies Sache der historischen Erfahrung, der Lebenszustände und Sittlichkeit der verschiedenen Völker und Zeiten ist, so ist demgemäß die Geltungsspähre der Strafe gegenüber der des Civilrechts oder, was dasselbe, des Verbrechens im wei-
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teren Sinn eine historisch wandelbare, ebenso wie die des Rechts im Verhältniß zur Sittlichkeit. Es gab eine Zeit in Rom, wo gewisse Vertragsverhältnisse, wie z.B. die Fiducia, das Mandat des Rechtsschutzes völlig entbehrten und lediglich auf den Schutz der Sitte (Infamie) angewiesen waren, dann kam der Civilrechtsschutz (die actio fiduciae, mandati) und endlich der Kriminalrechtsschutz (crimen stellionatus). Aber so wandelbar auch das Ausdehnungsgebiet des Verbrechens sein möge, der Begriff desselben ist überall derselbe. Ueberall vergegenwärtigt uns derselbe von Seiten des Verbrechers einen Angriff auf die Lebensbedingungen der Gesellschaft, auf Seiten der Gesellschaft ihre in Form Rechtens zum Ausdruck gebrachte Ueberzeugung, daß sie sich desselben nur durch Strafe erwehren könne – Verbrechen ist die von Seiten der Gesetzgebung con- [491] statirte nur durch Strafe abzuwehrende Gefährdung der Lebensbedingungen der Gesellschaft. Der Maaßstab, nach dem der Gesetzgeber diesen Charakter des Verbrechens bemißt, ist nicht die concrete Gefährlichkeit der einzelnen Handlung, sondern die abstracte der ganzen Kategorie von Handlungen. Die Bestrafung der einzelnen Handlung ist nur die nothwendige Folge der einmal geschehenen Strafandrohung, ohne sie würde letztere wirkungslos sein; ob die einzelne Handlung die Gesellschaft gefährdet oder nicht, ist vollkommen gleichgültig, es gibt keinen verhängnisvolleren Abweg im Kriminalrecht, als dem Standpunkt der Strafandrohung den der Strafvollziehung zu substituiren. Auch das Civilunrecht setzt sich mit den Lebensbedingungen der Gesellschaft in Widerspruch, aber es ist der Versuch eines Ohnmächtigen gegen den Mächtigen, der wirkungslos an ihm abgleitet; die Mittel des Civilrechts (Klage und Nichtigkeit) reichen für die Gesellschaft vollkommen aus, sich jenes Angriffs zu erwehren, die völlige Erfolglosigkeit desselben macht die Strafe überflüssig. Das Strafrecht zeigt uns überall eine Abstufung der Strafe nach Verschiedenheit der Verbrechen. Man wird mir zugeben, daß eine Definition des Verbrechens, welche den Schlüssel für die Erklärung dieser Thatsache und zugleich den Maßstab für die Schwere der Strafe darbietet, den Vorzug verdient vor jeder andern, welche dies zu leisten nicht im Stande ist. Ich glaube dies der meinigen [492] nachrühmen zu können. Der Gesichtspunkt der Gefährdung der Lebensbedingungen der Gesellschaft schließt zwei der Abstufung fähige und damit für die legislative Strafzumessung zu beachtende Momente in sich: die Lebensbedingungen – nicht alle stehen in Bezug auf ihre Dringlichkeit auf einer Linie, die einen sind wesentlicher als die andern – und die Gefährdung – nicht jede Verletzung derselben gefährdet die Gesellschaft in gleicher Weise. Je höher uns ein Gut steht, desto mehr nehmen wir Bedacht auf seine Sicherung. Ebenso macht es die Gesellschaft mit ihren Lebensbedingungen – ich will sie die socialen Güter nennen – hinsichtlich des zu ihrer Sicherung aufgebotenen Rechtsschutzes. Je höher das Gut, desto höher die Strafe. Der Tarif der Strafe ist der Werthmesser der socialen Güter. Was der Preis für den Verkehr, das bedeutet die Strafe für das Kriminalrecht. Wer auf die eine Seite die socialen Güter und auf die andere Seite die Strafen stellt, hat die Werthscala der Gesellschaft, und wer dies für die verschiedenen Völker und Zeiten thut, wird finden, daß dieselben Werth-
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schwankungen, welche der Verkehr in Bezug auf die durch den Preis bezifferten ökonomischen Güter aufweist, sich auch im Kriminalrecht bei den durch die Strafe bezifferten socialen Gütern wiederholen – das Leben, die Ehre, die Religion, die Sittlichkeit, die militärische Disciplin u.s.w. haben nicht überall denselben Cours ge- [493] habt3, bei uns steht tief, was früher sehr hoch stand, und umgekehrt, das Urtheil der Gesellschaft über die höhere oder geringere Dringlichkeit gewisser Lebensbedingungen variirt. In aller Naivität tritt uns dieser Gesichtspunkt der strafrechtlichen Werthung der verletzten Güter in den Bestimmungen der altgermanischen Rechte über Körperverletzung und Todtschlag entgegen. Alle Körpertheile waren genau abgeschätzt. Nase, Ohren, Zähne, Augen, Fuß, Hand, Finger, alles hatte seinen bestimmten Preis – „strafrechtliche Preiscourante“, wie man sie genannt hat.4 Ebenso das Leben des Edlen, des Freien, des Skalen. Es war die Tarifirung des Menschen vom Standpunkt des Kriminalrechts. Die Gesellschaft, in ähnlicher Weise tarifirt, ist das Strafrecht. Wie hoch steht das Menschenleben, die Ehre, die Freiheit, das Eigen- [494] thum, die Ehe, die Sittlichkeit, die Sicherheit des Staats, die militärische Disciplin u.s.w.? Schlage das Strafgesetzbuch auf, und du wirst es finden. Im Verkehr ermöglicht das System des Geldes, d.h. die Werthverschiedenheit von Gold, Silber, Kupfer, Nickel und die Theilbarkeit der Metalle die Fixirung der minimalsten Werthdifferenzen. Das Strafrecht löst dieselbe Aufgabe ebenfalls theils durch die Verschiedenheit der Strafen (Lebens-, Ehren-, Freiheits-, Geldstrafen), theils durch ihre Theilbarkeit (Freiheits- und Geldstrafen, dauernde oder vorübergehende Entziehung der bürgerlichen Ehrenrechte – die Ehre kann nicht vorübergehend aberkannt werden. Inmitten der niedersten Geld- oder Freiheitsstrafe und der Todesstrafe liegt ein weiter Spielraum, weit genug, um die feinste strafrechtliche Nüancirung und Individualisirung zu ermöglichen. Zu dem objectiven Moment des bedrohten Guts auf Seiten der Gesellschaft gesellt sich auf Seiten des Verbrechers noch das subjective Moment der aus seiner Willensbestimmung und der Art der Ausführung des Verbrechens sich ergebenden Gefährlichkeit desselben für die Gesellschaft hinzu. Nicht jeder Verbrecher, der dasselbe Verbrechen begeht, gefährdet sie in gleicher Weise. Von dem rückfälli3
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Exemplificirt in meinem Kampf ums Recht, Aufl. 7. S. 32; ich lasse den Passus hier abdrucken: „Die Theokratie stempelt die Gotteslästerung und Abgötterei zu einem todeswürdigen Verbrechen, während sie in der Grenzverrückung nur ein einfaches Vergehen erblickt (mosaisches Recht). Der Ackerbau treibende Staat dagegen wird umgekehrt letztere mit der ganzen Wucht der Strafe heimsuchen, während er den Gotteslästerer mit mildester Strafe davon lässt (altrömisches Recht). Der Handelsstaat wird Münzfälschung und überhaupt Fälschung, der Militärstaat Insubordination, Dienstvergehen u.s.w., der absolute Staat das Majestätsverbrechen, die Republik das Streben nach königlicher Gewalt an die erste Stelle rücken, und alle werden an dieser Stelle eine Strenge bethätigen, die mit der Art, wie sie andere Verbrechen verfolgen, einen schroffen Gegensatz bildet. Kurz die Reaction des Rechtsgefühls der Staaten und Individuen ist da am heftigsten, wo sie sich in ihren eigenthümlichen Lebensbedingungen unmittelbar bedroht fühlen.“ Wilda, Strafrecht der Germanen. Halle 1842, S. 729.
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gen Verbrecher oder dem Gewohnheitsverbrecher hat die Gesellschaft mehr zu fürchten als von dem Neuling im Verbrechen, von dem Komplott, von der Bande mehr als von dem Einzelnen, die Verschlagenheit [495] droht ihr eine höhere Gefahr als der Jähzorn, der Vorsatz als die Fahrlässigkeit. Ich wende mich der Classification der Verbrechen nach Verschiedenheit des Subjects zu, gegen welches sie sich richten. Es wird keinem Mißverständniß ausgesetzt [496] sein, wenn ich der Kürze wegen auch beim Verbrechen von einem Zwecksubject spreche, während ich richtiger sagen müßte: Zwecksubject in Bezug auf das Verbot des Verbrechens. Das Zwecksubject beim Verbrechen kann sein: a) das Individuum. Die gegen das Individuum gerichteten Verbrechen hat die kriminalistische Theorie unter dem Namen der Privatverbrechen längst zur Einheit des Begriffs zusammengefaßt. Ich unterscheide drei Classen derselben, je nachdem dieselben nämlich entweder die physischen oder die ökonomischen oder die idealen Lebensbedingungen des Subjects bedrohen. Die physischen Lebensbedingungen werden bedroht und zwar in ihrer Totalität (Leben) durch Mord und Todtschlag, Aussetzung hilfloser Personen (über Kindesabtreibung und Duell s.u.), partiell durch Körperverletzung (Verstümmelung des Körpers, Beschädigung der Gesundheit, der Geisteskräfte). Die ökonomischen d.i. das Vermögen durch Raub, Diebstahl, Unterschlagung, Sachbeschädigung, Grenzverrückung, Erpressung, strafbaren Eigennutz, Betrug, Untreue. Unter den idealen Lebensbedingungen verstehe ich alle diejenigen Güter, welche nicht äußerlich sichtbar, sondern nur in der Vorstellung existiren, und ohne deren [497] Sicherung nach den Begriffen der Gesellschaft ein befriedigendes sittliches Dasein nicht möglich ist. Es sind die Freiheit (Verbrechen wider dieselbe: Menschenraub, Entführung, Nothzucht, Beraubung des Gebrauchs der persönlichen Freiheit, ungesetzliche Verhaftung, Nöthigung, Hausfriedensbruch), die Ehre (Beleidigung, falsche Anschuldigung, Verletzung fremder Geheimnisse, Verleitung zum Beischlaf), die Familie (Ehebruch, Bigamie, Verbrechen in Beziehung auf den Personenstand, insbesondere Kindesunterschiebung); b) der Staat. Die Verbrechen, welche sich gegen ihn richten, beschränken sich keineswegs auf die Staatsverbrechen der kriminalistischen Theorie, sondern sie erstrecken sich ebenso weit, als die Lebensbedingungen des Staats reichen, welche durch sie bedroht werden können. Der Ausdruck: öffentliche Verbrechen ist für sie meines Erachtens nicht geeignet, da er ebenso wie der lateinische: publicus (publica utilitas, publica interest) auch in Anwendung auf die Gesellschaft gebraucht wird (Verbrechen wider die öffentliche Sicherheit s.u.). Um diese Verbrechen von den gesellschaftlichen zu unterscheiden, bediene ich mich des Ausdrucks: politische. Das politische Verbrechen charakterisirt sich als ein Angriff auf die Lebensbedingungen des Staats. Lassen letztere sich classificiren? Wenn es möglich wäre, so
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ge- [498] wännen wir damit zugleich eine Classification der gegen sie gerichteten Verbrechen. Am nächsten liegt die Uebertragung der oben bei dem Individuum aufgestellten Eintheilung, die, wie wir unten sehen werden, auch bei der Gesellschaft ihre Brauchbarkeit bewährt. Das Bedenkliche besteht nur darin, daß der Staat keine physische Existenz im eigentlichen Sinn des Worts hat. Physisch betrachtet ist er nichts als die Summe der sämmtlichen Staatsangehörigen. Aber auch der Staat existirt, und die unerläßlichen Bedingungen dieser seiner Existenz können wir mit denen des Individuums auf eine Linie stellen, nur daß wir auch bei ihm wie bei letzterem die ökonomischen Lebensbedingungen von den physischen trennen, obschon das physische Leben ohne die ökonomischen Mittel zur Erhaltung desselben beim Staat ebensowenig möglich ist, wie beim Individuum. Unerläßlich in diesem Sinn des durch den Begriff des Staats mit absoluter Nothwendigkeit Gesetzten, also metaphorisch gesprochen: eine physische Lebensbedingung des Staats, ein sein Wesen constituirendes Moment ist der Eigenbesitz eines Territoriums. Sodann der Besitz der höchsten Gewalt, also die Organisation der Staatsgewalt (die Verfassung), das Beamtenthum, den Landesherrn als höchsten durch die Geburt bestimmten Beamten des Staats mit inbegriffen, das Heer. Alle Handlungen, welche die Entziehung oder Bedrohung dieser mit der [499] Existenz des Staats gesetzten Gewaltstellung desselben zum Zweck haben, würde ich unter den Gesichtspunkt der Gefährdung der physischen Lebensbedingungen des Staats bringen, mithin: Landesverrath, Hochverrath, Aufruhr, Auflauf, feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten. Sodann die eigenthümlichen Verbrechen der Beamten, auf deren pflichtmäßigem Verhalten das ganze Gewaltsystem des Staats beruht, und der Soldaten, von deren Dienstpflicht (Umgehung der Wehrpflicht, Desertion) und Gehorsam (Insubordination, Meuterei) ganz dasselbe gilt. Die ökonomischen Lebensbedingungen des Staats werden bedroht durch Steuerverweigerung, Defraudationen, Unterschlagung öffentlicher Gelder. Als die idealen Lebensbedingungen des Individuums habe ich die Freiheit, Ehre, Familie genannt. Von einem Verbrechen wider die Ehre läßt sich auch beim Staat sprechen (Beleidigung des Landesherrn, der Amtsehre). Unter dem Verbrechen gegen die Freiheit des Staats verstehe ich diejenigen, welche seine Willensaction d.i. die zu dem Zweck nöthigen Functionen seiner Organe oder der Staatsbürger hindern, also die Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit, die Dienstverweigerung der Geschwornen und Zeugen, Verbrechen in Beziehung auf die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte u.a. Ich darf nicht verschweigen, daß ich bei diesem Versuch, den für das Individuum und die Gesellschaft zu- [500] treffenden Gegensatz der physischen, ökonomischen und idealen Lebensbedingungen auch auf den Staat zu übertragen, das Gefühl gehabt habe, daß dies nur in gezwungener Weise möglich ist; ich selber werde mich freuen, wenn diese Eintheilung durch eine andere, der Eigenthümlichkeit des Staats mehr entsprechende ersetzt wird. Das Zwecksubject beim Verbrechen kann schließlich sein
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c) die Gesellschaft. Ich bezeichne diese Verbrechen als die gesellschaftlichen. Es sind diejenigen, durch welche weder das Individuum, noch der Staat, sondern die Masse, die Gesellschaft bedroht wird (gemeingefährliche Handlungen). Die physischen Lebensbedingungen der Gesellschaft, d.h. die äußere Sicherheit ihrer Existenz wird bedroht durch Brandstiftung, Herbeiführung einer Ueberschwemmung, Zerstörung von Deichen, Dämmen, Eisenbahnen und auch durch Landfriedensbruch – es ist nicht dieser oder jener, den der Thäter dabei im Auge hat, oder wenn dies auch der Fall, der dabei leidet, sondern eine unbestimmte Vielheit von Personen, die Masse. Die ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft, d.i. die Sicherheit des Verkehrs wird bedroht durch Münzfälschung und Urkundenfälschung. Es ist [501] meines Erachtens völlig verkehrt, das erste Verbrechen zu den Staatsverbrechen zu stellen, denn der Staat wird dadurch in keiner Weise geschädigt, selbst nicht als Inhaber des Münzregals, denn welchen Schaden fügen ihm die falschen Münzen zu? das Münzregal hat mit dem Wesen des Staats, d.h. seiner Machtstellung nichts zu schaffen, statt seiner könnten auch Banken Münzen prägen, wie sie ja in der That Banknoten ausgeben, deren Fälschung im Interesse des Publikums ganz so gestraft werden muß und gestraft wird wie die des vom Staat ausgegebenen Papiergeldes oder der von ihm geprägten Münzen. Beschädigt durch falsche Münzen oder falsches Geld wird lediglich die Gesellschaft. Nicht der Einzelne, der es gerade eingenommen hat, denn das falsche Geld geht aus einer Hand in die andere. Der Verkehr im Ganzen leidet, das Sicherheitsgefühl hört auf. Ebenso durch falsche Urkunden. Der Verkehr kann nicht bestehen, wenn man jede Münze und jede Urkunde erst auf ihre Echtheit prüfen muß. Die idealen Lebensbedingungen der Gesellschaft werden bedroht in ihren sittlichen und religiösen Grundlagen z.B. durch den Meineid, durch Vergehen gegen die Sittlichkeit und Religion. Kann man ein Verbrechen begehen gegen die Religion und die Sittlichkeit? Nur in demselben Sinn wie gegen das Eigenthum oder die Ehre, d.h. das Verbrechen wird nicht gegen diese Begriffe begangen, was ein ebensolches Unding wäre als ein Verbrechen gegen die Luft, die man verpestete, oder das Wasser, das man ver[502] giftete, sondern stets nur gegen die Person. Bei den Verbrechen gegen die Ehre und das Eigenthum ist das Individuum, bei den oben genannten ist die Gesellschaft die Person, welche dadurch verletzt wird. Nicht Gott, wie man früher rücksichtlich der religiösen Vergehen und des Meineids annahm, – man kann Gott nicht schädigen, – und der Umstand, daß das Verbrechen einen Abfall von Gott, d.h. eine Sünde enthält, gilt nicht bloß für gewisse, sondern für alle Verbrechen. Ebenso wenig der Staat, denn seine Machtstellung wird durch sie nicht bedroht. Zur Kategorie der gesellschaftlichen Verbrechen im weitern Sinn gehören auch die meisten Polizeivergehen; die Polizei ist recht eigentlich die Vertreterin der Interessen der Gesellschaft in unserm hier zu Grunde gelegten engern Sinn des Worts.
Franz von Liszt (1851–1919) 1. Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882/83) I. Der Ausgangspunkt. [...] [2] [...] Jahrzehnte hindurch hatte in der communis opinio der Strafrechtslehrer die Vergeltungsstrafe die unbestrittene Herrschaft geübt; mochten sie an Kant oder Fichte, an Hegel oder Herbart anknüpfen, mochten sie vielleicht auch bemüht sein, auf den Stamm absoluter Vergeltung das Reis des Zweckgedankens künstlich, mühselig und doch erfolglos aufzupfropfen – in dem Einen waren sie einig: in der rücksichtslosen Verwerfung, ich möchte sagen, in der wissenschaftlichen Brandmarkung aller jener Theorien, welche den Zweckgedanken zu ihrem Ausgangspunkte zu machen sich unterfingen. Noch im Jahre 1878 konnte [3] selbst Binding mit der ihm eigentümlichen Entschiedenheit den relativen Theorien das Recht absprechen, an der wissenschaftlichen Diskussion weiter teilzunehmen. [...] [4] [...] Aber rasch hatte die Sachlage sich geändert. Die totgesagten Gegner erhoben von neuem das Haupt und zückten das eingerostete Schwert. Kein Geringerer als Jhering hatte in seinem „Zweck im Recht“ schon 1877 den Grundgedanken der relativen Theorien zum Ausgangs- und Zielpunkte aller seiner Betrachtungen gemacht und den Zweck als die Triebkraft bezeichnet, welche Recht und Staat aus sich hervorbringt; und diese eine Thatsache hätte genügt, um jene vornehme Ablehnung wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Zweckgedanken als einigermaßen verspätet erscheinen zu lassen. Dazu trat ein zweiter Umstand. Die allgemeine Unzufriedenheit mit den praktischen Erfolgen der von der communis opinio beherrschten Strafgesetzgebung, das wachsende Entsetzen über die in der Kriminalstatistik zum unwiderlegbaren Ausdrucke gelangende Ohnmacht der doktrinären Strafrechtspflege hatten den Zweifel an der Wahrheit der seit Jahrzehnten an allen deutschen Universitäten vorgetragenen Doktrinen in weiten und weiteren Kreisen wachgerufen. Es bedurfte nur eines äußeren Anlasses, um die latenten Kräfte zu entfesseln. Und diesen äußeren Anlaß gab die bekannte Schrift Mittelstädts: „Gegen die Freiheitsstrafen“ (1879). Darin liegt ihre oft verkannte Bedeutung, darin das Geheimnis ihres Erfolges. Sie sprach rückhaltlos, vielleicht zu schroff und sicherlich zu einseitig aus, was die nicht unter dem Banne der Schule stehende Masse der Juristen längst gefühlt hatte. [...] [6] [...] Die Strafe ist ursprünglich, d.h. in jenen primitiven Formen, welche wir im Uranfange der menschlichen Kulturgeschichte zu erkennen vermögen, blinde, instinktmäßige, triebartige, durch die Zweckvorstellung nicht bestimmte Reaktion der Gesellschaft gegen äußere Störungen der Lebensbedingungen des einzelnen wie der vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen. Aber allmählich verändert die Strafe ihren Charakter. Ihre Objektivierung, d.h. der Übergang der Reaktion von den zunächst beteiligten Kreisen auf unbeteiligte ruhig prüfende Organe ermöglicht die unbefangene Betrachtung ihrer Wirkungen. Die Erfahrung erschließt das Verständnis der Zweckmäßigkeit der Strafe. Sie gewinnt durch den Zweckgedanken Maß und Ziel; die Voraussetzungen der Strafe (das Verbrechen) sowie T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Inhalt und Umfang derselben (das Strafensystem) werden entwickelt; in der Herrschaft des Zweckgedankens wird die Strafgewalt zum Strafrecht. Aufgabe der [7] Zukunft ist es, die begonnene Entwicklung weiter zu führen im gleichen Sinn, die blinde Reaktion konsequent umzugestalten in zielbewußten Rechtsgüterschutz. Die Stellung dieser Ansicht den bisherigen „Theorien“ gegenüber dürfte schon jetzt erkennbar sein. Sie wendet sich gegen die relativen Theorien, indem sie den von dem Zweckgedanken durchaus unabhängigen, mithin absoluten Ursprung der Strafe betont; sie bekämpft die absoluten Theorien, indem sie die Weiterbildung der Strafe durch den Zweckgedanken als Ergebnis der bisherigen Entwicklung nachweist und als Forderung der Zukunft aufstellt. Sie gestattet – und darauf lege ich großes Gewicht – jede metaphysische Grundlegung der Strafe und verwehrt zugleich – darauf lege ich nicht minder Gewicht – jeder metaphysischen Spekulation den Einfluß auf die empirische Gestaltung der Strafe. Sie ist also, wenn man so will, eine Vereinigungstheorie, aber fundamental verschieden von den bisher so genannten. [...] II. Die Strafe als Triebhandlung. [8] [...] Weil die primitive Strafe Triebhandlung, d.h. durch die Zweckvorstellung nicht bestimmte Reaktion ist gegen Störungen der Lebensbedingungen des einzelnen und der bereits vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen, also gegen Handlungen, die wir kurz, wenn auch ungenau, als Verbrechen bezeichnen können, eben darum ist die Strafe notwendige Folge des Verbrechens. Diese Konsequenz allein scheidet meine Ansicht grundsätzlich und endgültig von allen relativen Theorien. Um diese Notwendigkeit der Strafe, ihre Unabhängigkeit von Menschenwitz und staatlicher Klugheit, um die Ablehnung des Zweckgedankens in der primitiven Strafe in klarster und unzweideutigster Weise zum Ausdrucke zu bringen, habe ich sie als Triebhandlung bezeichnet; [...] [9] [...] [...] Nach der von mir bereits in meinem „Reichsstrafrecht“ angedeuteten Hypothese, von deren fruchtbringenden Bewährung ich mich mehr und mehr überzeugt habe, ist die primitive Strafe nicht bloß im negativen, sondern auch im positiven und eigentlichsten Sinne Triebhandlung, d.h. Ausfluß des Strebens nach Selbstbehauptung des Individuums, nach individueller Selbsterhaltung (und damit vielleicht in letzter Linie nach Arterhaltung), welches auf äußere Störungen seiner Lebensbedingungen durch repulsive Handlungen gegen die Ursache jener Störungen reagiert. Dadurch würde zugleich, da ja der Trieb auch in dieser positiven Bedeutung durch sein blindes, instinktmäßiges Walten sich charakteristisch von dem Willen im engeren Sinne abhebt, unsere Ablehnung des Zweckgedankens aufs neue gerechtfertigt und erklärt werden. Nun scheint mir die Zurückführung der primitiven Strafe auf jene repulsive Reaktion gegen äußere Störungen durch die Thatsachen so sicher beglaubigt und im wesentlichen so allgemein anerkannt zu sein, daß ich für meine Person die Erklärung der Strafe durch den individuellen Selbsterhaltungstrieb gar nicht einmal als Hypothese bezeichnen möchte, wenn ich auch keinen Anlaß habe, gegen diese Bezeichnung irgend welchen Einspruch zu erheben. Wie das Tier, so [10] reagiert der primitive Mensch gegen äußere Störungen, mögen sie von einem belebten, sei
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es vernunftbegabten, sei es vernunftlosen, Wesen ausgehen, mögen sie in dem Walten der Naturkräfte ihren Grund haben; wie bei jenem, so erfolgt bei diesem die Reaktion als Selbstbehauptung durch Vernichtung oder Verletzung des sinnlichen Urhebers der Störungen. Wie sehr auch die fortschreitende Zivilisation die triebartige Reaktion zurückgedrängt hat, indem sie für Befriedigung des Triebes auf indirekten Wegen sorgt: noch in unseren Tagen durchbricht in dem „Lynchgesetz“ der unterdrückte Trieb mit elementarer Gewalt (dem Kennzeichen des Triebes) die von der Gesellschaft gezogenen Schranken. Die Hypothese beginnt erst, wenn wir uns den individuellen Selbsterhaltungstrieb denken als im unbewußten Dienste der Arterhaltung stehend. [...] Ich will diese Hypothese, die uns manchen tieferen Einblick in das Wesen der Strafe gewähren wird und dadurch sich selbst rechtfertigen mag, hier nicht weiter verfolgen. [...] Aber es ist vielleicht nicht ohne Interesse, zu beachten, daß derselbe Gedanke in den verschiedensten Wendungen immer wiederkehrt, von dem physei politikon zoon des Aristoteles bis zu der Jheringschen „Koinzidenz der Zwecke“, nach welcher der Egoismus im Dienste der [11] Gesamtheit arbeitet. [...] [...] Die primitive Strafe als, wenn auch nur mittelbar, Ausfluß des Arterhaltungstriebes muß von allem Anfange an gesellschaftlichen Charakter tragen, als soziale Reaktion gegen soziale Störungen erscheinen. Sowenig das bellum omnium contra omnes als Urzustand der Menschheit anderswo als in der ungeschichtlichen Spekulation vergangener Zeiten existiert, ebensowenig hat es in der Geschichte der Menschheit eine aller gesellschaftlichen Elemente entkleidete Privatrache gegeben. Der Mensch tritt als politikon zoon in die Weltgeschichte ein: was etwa vorherging, fällt auch [12] vom Standpunkte des Darwinismus und gerade von diesem, vor die Menschwerdung. [...] Die Betrachtung der Geschichte bestätigt diese aus unserer Hypothese gezogene Konsequenz. Die erste Form der primitiven Strafe, die Blutrache, ist nicht Privatrache, sondern Familien- oder Geschlechterrache. Sie wurzelt in der primitiven Gesellung, der Blutsgenossenschaft, der Sippe. [...] Noch deutlicher tritt uns der soziale Charakter in der zweiten Form der primitiven Strafe entgegen, in der Friedloslegung, der Ausstoßung aus der Gemeinschaft der Friedensgenossen. [...] [13] Mit der Entwicklung der Geschlechts- und Friedensgenossenschaften zu staatlichen Verbänden entsteht die dritte Form der primitiven Strafe: die staatliche Strafe; mag sie geübt werden von dem Häuptling, oder von dem Heerführer im Kriege, oder von dem Priester als Leiter der Völkerschaftsversammlung, als Hüter und Rächer des Ding- und Heerfriedens. [...] Der soziale Charakter dieser Form ist unverkennbar. [...] Der soziale Charakter der primitiven Strafe in allen ihren Formen ist aber zugleich eine neue Bestätigung unserer Auffassung derselben als einer Triebhandlung. Wäre die Strafe bewußte, zweckbestimmte Reaktion, so könnten wir uns ihren sozialen Charakter auf den Anfangsstufen der menschlichen Kultur nicht erklären. Denn zweckbewußte Reaktion der Gesellschaft ist bedingt durch klare Einsicht in die Bedeutung, welche das Verbrechen für die vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen (Familie, Friedensgenossenschaft, Staat) besitzt. Diese Einsicht aber ist
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das Ergebnis jahrhundertelanger, im Kampf ums Dasein errungener Erfahrung. Und die Strafe finden wir vor aller Erfahrung. [...] Die Auffassung der primitiven Strafe als einer Triebhandlung eröffnet uns weiter einen wichtigen Einblick in das Verhältnis der Strafe zur Ethik. Als Triebhandlung kann die Strafe nicht der Ausdruck eines sittlichen Werturteils des Strafenden sein, kann sie ihren Grund nicht haben in einem als unsittlich erkannten Thun des Bestraften. Die Triebhandlung hat mit der Ethik nichts zu schaffen. Der Ursprung der Strafe kann und muß mithin von der Ethik losgelöst werden, ohne daß diese irgendwie geleugnet oder auch nur zurückgedrängt zu werden brauchte. Der Vorteil dieser Trennung ist nicht hoch genug anzuschlagen: sie befreit die Wissenschaft [14] des Strafrechts von der Gefahr, in den unausgetragenen Kampf um die Grundlegung der Ethik hineingezogen zu werden und enthebt sie der Verpflichtung, den Rechtstitel, auf den sie ihre Existenz gründet, täglich von neuem nachweisen zu müssen. [...] [...] [16] Die in der menschlichen Geschichte auftretende primitive Strafe ist unabhängig von irgend einem sittlichen Urteile über die geschehene Störung der Lebensbedingungen. Sie richtet sich gegen das schädigende Tier, gegen das Kind, gegen den Wahnsinnigen; sie tritt ein ohne jede Rücksicht auf das Verschulden des Thäters, ohne Scheidung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Zufall; sie beschränkt sich auch gar nicht auf den Thäter, sondern wendet sich in der Blutrache gegen die ganze Sippe desselben. Der Schuldbegriff ist das Ergebnis einer langen, allmählichen Entwicklung. [...] Das sittliche Werturteil ist ohne den Schuldbegriff undenkbar; die Strafe ist vor ihm dagewesen. Die Strafe muß daher unabhängig sein von der Ethik. [...] Und in demselben Verhältnis steht die Strafe zum Recht. Im Rechte steckt der Zweckgedanke; er ist das Wesen des Rechts. Das ist der Grundgedanke der Jheringschen Auffassung. Die Triebhandlung aber ist begrifflich unabhängig von dem Zweckgedanken und ihm zeitlich vorangegangen. Daraus folgt nicht etwa die Un[17] vereinbarkeit meiner Auffassung der Strafe mit dem Jheringschen Zweckgedanken; es empfängt vielmehr jene durch diesen eine neue Erläuterung und Bestätigung; und ebenso umgekehrt. Wie Jhering selbst betont, [...] ist die Erfahrung die Quelle des Rechts wie der Sittlichkeit; die primitive Strafe aber liegt vor der Erfahrung, mithin nicht bloß vor der Sittlichkeit, sondern auch vor dem Recht. [...] Erst auf einer höheren Stufe ihrer Entwicklung, als objektiver Strafe beruht sie auf der Erfahrung; als Rechtsstrafe erst nimmt sie den Zweckgedanken in sich auf. Wenn daher Jhering in seiner Grundlegung der Ethik [...] sagt: „daß der Mensch nicht morden, rauben, stehlen darf, hat er erst auf dem Wege der Erfahrung lernen müssen [...] auch im Recht wie in allen anderen Dingen hat der Mensch erst durch Schaden klug werden müssen“ – so werden wir diesen Satz nicht mißverstehen können. Allerdings reagiert der primitive Mensch, wie das Tier, instinktiv und triebartig gegen Störungen der Lebensbedingungen; und diese Reaktion braucht er nicht erst zu „lernen“, so wenig wie das Tier sie zu lernen nötig hat.
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III. Die Objektivierung der Strafe. Aller Fortschritt in der geistigen Entwickelung des Einzelindividuums wie der Menschheit besteht darin, daß die Triebhandlung [18] in die Willenshandlung sich umsetzt, [..] d.h. daß die Zweckmäßigkeit der Triebhandlung erkannt und die Vorstellung des Zweckes zum Motive des Handelns wird. Der Zweckgedanke ist es, der die Willenshandlung von der Triebhandlung unterscheidet. Der Trieb wird in den Dienst des Zweckes gestellt, die Handlung dem Zwecke angepaßt. [...] Damit die Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen Rechtsgüterwelt, Verbrechen und Strafe möglich werde, bedarf es unbefangener, affektloser Betrachtung der gemachten Erfahrungen. Diese ist bedingt durch die Objektivierung der Strafe, d.h. durch den Übergang der Funktion des Strafens von den zunächst beteiligten Kreisen auf unbeteiligte, unbefangen prüfende Organe. [...] [19] [...] [...] Die Objektivierung der Strafe ermöglicht zunächst die Erkenntnis der Lebensbedingungen der staatlichen Gemeinschaft und der in ihr befaßten einzelnen, gegen welche das Verbrechen sich richtet. Sie werden fixiert, gegen einander abgewogen, zu rechtlich geschützten Interessen, zu Rechtsgütern erklärt durch die generellen Imperative: du sollst nicht töten; nicht stehlen; nicht ehebrechen; dem Leben deines Fürsten nicht nachstellen; den Heerschild nicht über des Landes Grenzwall tragen u.s.w. [...] An die Erkenntnis der Rechtsgüter schließt sich genauere Betrachtung der gegen diese gerichteten Handlungen, der Verbrechen im weitesten Sinne. Sie werden erst kasuistisch, dann in begrifflicher Allgemeinheit aufgezählt; der rechtliche Imperativ verwandelt sich in den begriffsentwickelnden Rechtssatz. Diese allmähliche Ausbildung der Begriffe der einzelnen Verbrechen [...], welche zu den interessantesten Erscheinungen in der Geschichte des Strafrechts gehört, ist noch heute nicht völlig abgeschlossen. [...] [20] [...] Es muß ein weiterer Schritt gethan werden. Aus den einzelnen Verbrechensbegriffen sind diejenigen Merkmale zu abstrahieren, welche jedes Verbrechen an sich trägt, ist das System jener begriffsentwickelnden Rechtssätze zu schaffen, welche den allgemeinen Teil des Strafrechts ausmachen. [...] [21] [...] Die unbefangene Betrachtung ermöglicht weiter die Einsicht in die Wirkungen der Strafe. Sie wird erkannt als Mittel zum Schutze der Rechtsordnung. [...] So hat die Objektivierung der Strafe dahin geführt, daß sowohl die Voraussetzungen des Eintritts als auch Inhalt und Umfang der als Strafe erscheinenden Reaktion bestimmt und dem [22] Zweckgedanken untergeordnet werden. [...] Unser Ergebnis aber können wir dahin zusammenfassen: Durch Selbstbeschränkung ist die Strafgewalt zum Strafrecht (jus puniendi), durch Aufnahme des Zweckgedankens die blinde zügellose Reaktion zur Rechtsstrafe, die Triebhandlung zur Willenshandlung geworden. Die Staatsgewalt hat das Schwert der Gerechtigkeit in die Hand genommen, um die Rechtsordnung zu schützen gegen den Frevler, der an ihr sich vergreift.
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Es ist derselbe Gedanke, den Jhering in seinem „Zweck im Recht“, wenn auch von andern Ausgangspunkten ausgehend, seiner Begriffsbestimmung des Rechts zu Grunde gelegt hat. [...] Sobald wir diese Bedeutung der objektivierten Strafe, die Selbstbeschränkung der zügellosen Strafgewalt zur Rechtsstrafe in den Vordergrund stellen, wird der Wert klar, welchen die Objektivierung auch für den Verbrecher und gerade für ihn hat [...] Es ist ein [23] wichtiges Recht des Staatsbürgers, gestraft zu werden (Fichte); in der Strafe wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt (Hegel); diese und ähnliche Sätze sind der nur scheinbar paradoxe Ausdruck des innersten Kerns, der eigentlichsten Wesenheit, nicht etwa der Strafe überhaupt, wohl aber objektivierten Strafe. IV. Das Maßprinzip der Strafe. [...] Der Familienstreit aber der absoluten Theorien untereinander hat unser Interessse zu erregen nicht vermocht; er kann nur auf metaphysischem Boden ausgetragen werden, und diesen zu betreten bleibt der Wissenschaft als solcher verwehrt. Von den möglichen Deutungen des Absoluten bleibt uns die eine so nahe wie die andre und ebenso fern. Aber der Streit der Anschauungen hat, wie ich schon in der Einleitung betonte, unmittelbar praktische Bedeutung. Seine Entscheidung ist präjudiziell für die Beantwortung der beiden Fragen: 1) Welche Handlungen sind mit Strafe zu belegen? 2) wie ist die Strafe nach Qualität und Quantität zu bemessen? [...] Bezüglich der ersten erteilt heute bereits die Mehrzahl der Schriftsteller [..] jene Antwort, welche uns durch unsre bisherigen Erörterungen vorgezeichnet ist: Jene Handlungen, welche für dieses Volk zu dieser Zeit als Störungen seiner Lebensbedingungen erscheinen, sind unter Strafe zu stellen; das kriminelle Unrecht ist nicht der Art [24] nach von dem zivilen unterschieden; der Zweckgedanke allein zieht die Grenzlinie. Ich darf daher wohl diese Frage als erledigt betrachten und mich auf die Besprechung der zweiten beschränken. Daß wir von unserem Standpunkte aus das Maß der Strafe (Inhalt und Umfang, Strafart und Strafgröße) nur aus dem Zweckgedanken herleiten dürfen, bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Wir haben auf der durch die Geschichte vorgezeichneten Bahn weiter fortzuschreiten. Und nur darum kann es sich handeln, den Zweckgedanken der Strafe genauer zu erforschen, klarer zu bestimmen. [...] [27] [...] Aus dem metaphysischen Prinzip [28] der Strafe, welches alle absoluten Theorien zu Grunde legen, läßt sich ein festes Prinzip des Strafmaßes nicht ableiten. [...] [31] [...] Unsere Auffassung der Strafe als Rechtsgüterschutz verlangt unabweislich, daß im einzelnen Falle diejenige Strafe (nach Inhalt und Umfang) verhängt werde, welche notwendig ist, damit durch die Strafe die Rechtsgüterwelt geschützt werde. Die richtige, d.h. die gerechte Strafe ist die notwendige Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist die Einhaltung des durch den Zweckgedanken erforderten Strafmaßes. Wie die Rechtsstrafe als Selbstbeschränkung der Strafgewalt durch die Ob-
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jektivierung entstanden ist, so erhält sie ihre höchste Vollkommenheit durch die Vervollkommnung der Objektivierung. Das völlige Gebundensein der Strafgewalt durch den Zweckgedanken ist das Ideal der strafenden Gerechtigkeit. Nur die notwendige Strafe ist gerecht. Die Strafe ist uns Mittel zum Zweck. Der Zweckgedanke aber verlangt Anpassung des Mittels an den Zweck und möglichste Sparsamkeit in seiner Ver- [32] wendung. Diese Forderung gilt ganz besonders der Strafe gegenüber; denn sie ist ein zweischneidiges Schwert: Rechtsgüterschutz durch Rechtsgüterverletzung. Es läßt sich eine schwerere Versündigung gegen den Zweckgedanken gar nicht denken als verschwenderische Verwendung der Strafe, als die Vernichtung der körperlichen, ethischen, nationalökonomischen Existenz eines Mitbürgers, wo diese nicht unabweislich durch die Bedürfnisse der Rechtsordnung gefordert wird. So ist die Herrschaft des Zweckgedankens der sicherste Schutz der individuellen Freiheit gegen jene grausamen Strafen früherer Zeiten, welche – es ist gut, sich daran zu erinnern – nicht durch die glaubensstarken Idealisten der Vergeltungsstrafe, sondern durch die Vorkämpfer des „flachen Rationalismus“ beseitigt worden sind. [...] So haben wir im Zweckgedanken das Prinzip des Strafmaßes gefunden, und es handelt sich nun weiter darum, aus dem Prinzipe das Maß der im Einzelfalle zu verhängenden Strafe zu bestimmen, die nach dem Prinzipe diesem Verbrechen entsprechende, die im konkreten Falle gerechte Strafe zu bemessen. [33] [...] V. Die Strafe als zweckbewußter Rechtsgüterschutz. [...] Es ist das unverlierbare Verdienst der relativen Theorien, mit den geringen damals zu Gebote stehenden Mitteln die in der Strafe liegenden Triebkräfte, die nächsten Wirkungen derselben, erforscht und festgestellt zu haben. Die Kriminalstatistik wird an diesen Ergebnissen nichts oder nur wenig ändern. Der Fehler der relativen Theorien lag nur in ihrer Einseitigkeit. Vor dieser werden wir uns zu hüten haben. Die Strafe ist Zwang. Sie wendet sich gegen den Willen des Verbrechers, indem sie die Rechtsgüter verletzt oder vernichtet, in welchen der Wille Verkörperung gefunden hat. Als Zwang kann die Strafe doppelter Natur sein. a) Indirekter, mittelbarer, psychologischer Zwang oder Motivation. Die Strafe gibt dem Verbrecher die ihm fehlenden Motive, welche der Begehung von Verbrechen entgegen zu wirken geeignet [34] sind, und die vorhandenen Motive vermehrt und kräftigt sie. Sie erscheint als künstliche Anpassung des Verbrechers an die Gesellschaft und zwar entweder Į. durch Besserung, d.h. durch Einpflanzung altruistischer, sozialer Motive. ȕ. durch Abschreckung, d.h. durch Einpflanzung und Kräftigung egoistischer, aber in der Wirkung mit den altruistischen zusammenfallender Motive. b) Direkter, unmittelbarer, mechanischer Zwang, oder Gewalt. Die Strafe ist Sequestrierung des Verbrechers; vorübergehende oder dauernde Unschädlichmachung, Ausstoßung aus der Gesellschaft oder Internierung in derselben. Sie erscheint als künstliche Selektion des sozial untauglichen Individuums. „Die Natur
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wirft denjenigen, der sich gegen sie vergangen hat, aufs Bett, der Staat wirft sie ins Gefängnis“ [Jhering]. Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung: das sind demnach die unmittelbaren Wirkungen der Strafe; die in ihr liegenden Triebkräfte, durch welche sie den Schutz der Rechtsgüter bewirkt. Es wird sich diesen Wirkungen des Strafvollzuges nichts Wichtiges hinzufügen lassen. Daß die Strafe eine ganze Reihe von Reflexwirkungen hat, wie ich sie nennen möchte, ist klar, aber nicht bedeutsam genug, um unsre Einteilung umzustoßen. Nur eins bedarf noch der Erwähnung: Die Bedeutung der Strafdrohung. Warnend und abschreckend verstärkt sie die vom Verbrechen abhaltenden Motive. Wir dürfen diese Wirkung nicht übersehen, müssen sie aber hier bei Seite lassen. Denn nicht um die staatlichen Imperative, sondern um die staatliche Strafe handelt es sich für uns; die Strafdrohung aber ist nur ein verschärfter Imperativ. Der Wert eines konkreten Strafensystems hängt von der Sicherheit und der Elastizität ab, mit welcher es die Erreichung eines jeden der drei Strafzwecke ermöglicht. Und genau dasselbe gilt von dem [35] einzelnen Strafmittel. Darin liegt die [...] Bedeutung der Freiheitsstrafe, welche, eben weil sie allen Strafzwecken sich anzuschmiegen geeignet ist wie keine andere Strafart, die erste und führende Stelle im Strafensystem einzunehmen unzweifelhaft berufen ist. Bedarf es einer besonderen Betonung, daß im einzelnen Falle die drei Strafzwecke sich ausschließen; daß ich eben die Strafe nach Art und Umfang demjenigen Strafzweck anpassen muß, dessen Erreichung im einzelnen Falle notwendig und möglich ist? daß ich durch Köpfen und Hängen den Verbrecher nicht bessern und nicht abschrecken, durch fünfundzwanzig Stockstreiche bei ihm keine besonders lebhaften altruistischen Motive hervorrufen werde? daß es zwar ein Widerspruch ist, wenn ich den A durch eine und dieselbe Strafe (vielleicht 300 Mk.) bessern, abschrecken und unschädlich machen will; kein Widerspruch aber, den A durch die Geldstrafe abzuschrecken, den B durch Einzelhaft zu bessern, den C durch lebenslange Freiheitsstrafe zu sequestrieren? Vielleicht war es nicht ganz überflüssig, darauf ausdrücklich hinzuweisen. [...] 2. Wenn aber Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung wirklich die möglichen wesentlichen Wirkungen der Strafe und damit zugleich die möglichen Formen des Rechtsgüterschutzes durch Strafe sind, so müssen diesen drei Strafformen auch drei Kategorien von Verbrechern entsprechen. Denn gegen diese, nicht aber gegen die Verbrechensbegriffe, richtet sich die Strafe; der Verbrecher ist der Träger der Rechtsgüter, deren Verletzung oder Vernichtung das Wesen der Strafe ausmacht. Diese logische Forderung wird durch die bisherigen Ergebnisse der Kriminalanthropologie im wesentlichen bestätigt. Doch gestattet die Lückenhaftigkeit und Unsicherheit der bisher gewonnenen Resultate keine abschließenden, ins einzelne gehende Schlußfolgerung. Im Allgemeinen aber dürfte folgende Einteilung zum Ausgangspunkte weitere Betrachtungen genommen werden können [36] 1) Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; 2) Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher;
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3) Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher. [...] Erste Gruppe. Die Unverbesserlichen. Energische Bekämpfung des Gewohnheitsverbrechertums ist eine der dringendsten Aufgaben der Gegenwart. Wie ein krankes Glied den ganzen Organismus vergiftet, so frißt der Krebsschaden des rapid zunehmenden Gewohnheitsverbrechertums sich immer tiefer in unser soziales Leben. Der auf dem Gebiet der Strafrechtswissenschaft herrschende Doktrinarismus hat eine schwere Schuld auf sich geladen, indem er, in rein begriffliche Konstruktionen vertieft, dieser Thatsache gegenüber bis auf den heutigen Tag – von wenigen Ausnahmen abgesehen – teilnahmslos geblieben ist. [...] [37] Das Gewohnheitsverbrechertum findet seinen juristischen Ausdruck in den Ziffern der Rückfallstatistik. Wir können dieser, trotz ihrer von keiner Seiten geleugneten Unvollkommenheit, einige wertvolle Thatsachen entnehmen; Thatsachen, welche uns genügend Anhalt zu unmittelbarem Einschreiten bieten. Zunächst die Thatsache, daß die Rückfälligen die Mehrheit der Verbrecher, und die Unverbesserlichen die Mehrheit der Rückfälligen ausmachen. [...] [38] [...] Unsre gegenwärtige Behandlung der Rückfälligen [ist] durchaus verkehrt und unhaltbar [...]; mindestens die Hälfte aller jener Personen, welche Jahr aus, Jahr ein unsre Strafanstalten bevölkern, [sind] unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher; [...] solche Leute in Zellengefängnissen um teures Geld bessern zu wollen, ist einfach widersinnig; sie nach Ablauf von einigen Jahren gleich einem Raubtier auf das Publikum loszulassen, bis sie, nachdem sie wieder drei bis vier neue Verbrechen begangen haben, in ein oder zwei Jahren neuerdings eingezogen und wiederum „gebessert“ werden: das ist mehr und ist etwas anderes als widersinnig. Aber unser Strafrahmen- [39] system gestattet und fordert es; der „Vergeltung“ ist Genüge gethan und die Strafrechtswissenschaft hat mit der Lehre vom Kausalzusammenhange, mit der Kontroverse über die Unterlassungsdelikte und andere Dinge so viel zu thun, daß ihre Zeit es ihr nicht gestattet, mit solchen Kleinigkeiten sich abzugeben. Gegen die Unverbesserlichen muß die Gesellschaft sich schützen; und da wir köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bezw. auf unbestimmte Zeit). [...] Es wird Aufgabe der Kriminalstatistik sein, nachzuweisen, welche Verbrechen überhaupt gewohnheitsmäßig begangen zu werden pflegen; die KriminalAnthropologie wird ihr dabei wesentliche Dienste zu leisten in der Lage sein. Aber schon auf Grund der heute vorliegenden Ergebnisse können wir mit einiger Bestimmtheit den Umkreis dieser Verbrechen ziehen. Es sind in erster Linie die Eigentums-, in zweiter gewisse Sittlichkeitsdelikte; also jene Verbrechen, welche auf den stärksten und unsprünglichsten menschlichen Trieben beruhen. Genauer ließen sich folgende Verbrechen hierher rechnen: Diebstahl, Hehlerei, Raub, Erpressung, Betrug, Brandstiftung, Sachbeschädigung, gewaltsame Unzucht und Unzucht gegen Kinder. Eine Ergänzung dieser Liste auf Grund genauerer Beobachtung ist natürlich nicht ausgeschlossen. Die „Unschädlichmachung“ der Unverbesserlichen denke ich mir in folgender Weise. Das Strafgesetzbuch bestimmt [...], daß bei dritter Verurteilung wegen
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eines der oben genannten Verbrechen auf Einschließung auf unbestimmte Zeit zu erkennen sei. Die Strafe wird in besonderen Anstalten (Zucht- oder Arbeitshäusern) [40] in Gemeinschaft verbüßt. Sie besteht in „Strafknechtschaft“ mit strengstem Arbeitszwang; als Disziplinarstrafe wäre die Prügelstrafe kaum zu entbehren; obligatorischer und dauernder Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte müßte den unbedingt entehrenden Charakter der Strafe scharf kennzeichnen. Einzelhaft hätte nur als Disziplinarstrafe, verbunden mit Dunkelarrest und strengstem Fasten, einzutreten. Es braucht nicht jede Hoffnung auf Rückkehr in die Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Irrtümer des Richters bleiben ja immer möglich. Aber die Hoffnung müßte eine ganz entfernte, die Entlassung eine ganz ausnahmsweise sein. Alle fünf Jahr könnte der Aufsichtsrat bei dem Landgerichte, in dessen Sprengel die Verurteilung ausgesprochen wurde, den Antrag auf Entlassung stellen. Gibt die Strafkammer diesem Antrag statt, so erfolgt die Übergabe an die unten zu erwähnenden Besserungsanstalten. Schlechte Führung hat die Rückversetzung in das Arbeitshaus zur Folge. [...] Zweite Gruppe. Die Besserungsbedürftigen. Der Umkreis derjenigen Verbrechen, welche gewohnheitsgemäß begangen zu werden pflegen, umgrenzt zugleich unsre zweite Gruppe. Aus den besserungsbedürftigen, durch vererbte oder erworbene Anlagen zum Verbrechen hinneigenden, aber noch nicht rettungslos verlorenen Individuen rekrutiert sich das Gewohnheitsverbrechertum. Die kleinen Gefängnisse sind die Haupterwerbsstellen; aber verlotterte Herbergen, Schnapsbuden und Bordelle machen ihnen den Rang streitig. Diese Anfänger auf der Verbrecherlaufbahn können in zahlreichen Fällen [41] noch gerettet werden. Aber nur durch ernste und anhaltende Zucht. Das Minimum der hier eintretenden Freiheitsstrafe dürfte daher m.E. nicht unter ein Jahr herabsinken. Es gibt nichts entsittlichenderes und widersinnigeres als unsre kurzzeitigen Freiheitsstrafen gegen die Lehrlinge auf der Bahn des Verbrechens. Wenn irgendwo trägt hier die Gesellschaft den Löwenanteil an der Schuld, unter welcher der künftige Gewohnheitsverbrecher zusammenbricht. Praktisch hätte sich die Sache folgendermaßen zu gestalten. Bei der ersten und zweiten Begehung einer der oben genannten strafbaren Handlungen hat das Gericht die Abgabe in eine Besserungsanstalt auszusprechen. Das Urteil hat Suspension, nicht Verlust der Ehrenrechte zur Folge. Die (im Urteil nicht auszusprechende) Dauer der Strafe beträgt mindestens ein Jahr, höchstens fünf Jahre. Die Strafe beginnt mit Einzelhaft. Bei guter Führung kann widerrufliche Versetzung in progressive Gemeinschaftshaft durch den Aufsichtsrat ausgesprochen werden. Arbeit und Elementarunterricht sind als Mittel zur Stärkung der Widerstandskraft zur Anwendung zu bringen. Prügelstrafe als Disziplinarstrafe ist unbedingt ausgeschlossen. Alle Jahre kann der Aufsichtsrat an das Landgericht den Antrag auf Entlassung der anscheinend gebesserten Häftlinge richten. Der Entlassene wird auf dieselbe Zeit, die er in der Anstalt zugebracht hat, unter Polizeiaufsicht gestellt. Nach fünf Jahren seit der Einlieferung muß unter allen Umständen die Entlassung erfolgen; der Entlassene tritt auf weitere fünf Jahre unter Polizeiaufsicht. [...]
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Die dritte Gruppe wird, nach Abzug der unverbesserlichen und der verbesserungsbedürftigen Verbrecher, gebildet durch die große Zahl derjenigen, die wir kurz als Gelegenheitsverbrecher bezeichnen [42] wollen; d.h. aller derjenigen, für welche die begangene That eine Episode, eine durch überwiegend äußere Einflüsse hervorgebrachte Verirrung, bei welcher daher die Gefahr einer öfteren Wiederholung der begangenen strafbaren Handlung eine minime, eine systematische Besserung daher durchaus zwecklos ist. Hier soll die Strafe lediglich die Autorität des übertretenen Gesetzes herstellen; sie soll Abschreckung sein, eine gewissermaßen handgreifliche Warnung, ein „Denkzettel“ für den egoistischen Trieb des Verbrechers. Sachlich umfaßt mithin das Gebiet der Abschreckungsstrafe alle Verbrechen und Vergehen mit Ausnahme der oben genannten, also alle diejenigen, bezüglich deren gewohnheitsmäßige Begehung durch die Kriminalistik nicht erwiesen wird. Im allgemeinen könnten hier die Strafdrohungen unseres Strafgesetzbuches, wenn auch unter Einschränkung der zahlreichen Abstufungen festgehalten werden; doch würde sich eine einheitliche, nicht notwendig in Einzelhaft zu vollstreckende, Freiheitsstrafe von nicht zu geringem Minimum (nicht unter 6 Wochen) und nicht zu hohem Maximum (10 Jahre sind mehr als genügend), mit fakultativer Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, am meisten empfehlen; neben und statt ihr könnte die Geldstrafe in weiterem Umfange als bisher Verwertung finden. Die Todesstrafe scheint mir entbehrlich, sobald die Unverbesserlichen unschädlich gemacht sind. Diese Vorschläge sollen zunächst nur den Beweis liefern, daß die Durchführung des durch den Zweckgedanken geforderten Prinzipes des Strafmaßes durchaus möglich ist, u.z. ohne daß an den Fundamentalsätzen des in den Kulturländern geltenden Strafrechts gerüttelt zu werden braucht. Auch das System der Strafrahmen wird zwar umgestaltet und eingeschränkt, aber nicht umgestoßen; weder die Abschaffung des Strafmaßes, noch die Beseitigung der richterlichen Strafzumessung ist das Ziel meiner Vorschläge. In zwei Worten läßt sich zusammenfassen, was unbedingt und sofort angestrebt werden muß. Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, Besserung der Besserungsfähigen. Das Übrige findet sich. [...] [43] [...] Das Leitmotiv, das aus der endlosen Melodie von der Negation der Negation des Rechts uns rettet zu Klarheit und Einfachheit – es ist der Zweckgedanke. VI. Zielpunkte. Während wir unter der Führung des Zweckgedankens die Formen der Schutzstrafe und das Maß derselben zu gewinnen suchten, mußten wir die Vergeltungsstrafe bei Seite lassen. Kehren wir jetzt zu ihr zurück. [...] Die einzig haltbare und fruchtbare Form der Vergeltungsstrafe ist die Schutzstrafe. Nicht auf den Namen kommt es mir dabei an. Aber der Gegensatz zwischen dem quia peccatum est und dem ne peccetur muß endlich in seiner ganzen Hohlheit und Verkehrtheit erkannt werden. Das gilt nicht nur in bezug auf das Prinzip der Strafe, sondern ebenso in bezug auf den Begriff des strafbaren Unrechts und ebenso in bezug auf Inhalt und Umfang der Strafe. Das erstere glaube ich bewiesen zu haben, das zweite ist heute herrschende Ansicht, das dritte ist leicht einzusehen. Dem Verbrecher soll vergolten werden nach seinem Werte für die Rechtsordnung; sein rechtlicher Wert liegt in der Verschiebung des Gleichge-
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wichts der Kräfte, welche das staatliche Leben bestimmen, in der Erschütterung der Rechtsordnung; die Vergeltung besteht demnach in der Wiederherstellung des Gleichgewichts, in der Sicherung der Rechtsordnung. Die Schutzstrafe ist die Vergeltungsstrafe. Das ist, sollte ich meinen, auch der Grundgedanke aller absoluten [44] Theorien, aller metaphysischen Spekulationen über das Wesen der Strafe. Der Grund des Meinungszwiespaltes liegt in einem Fehlschlusse. Von Vergeltung kann nur einer konkreten That gegenüber die Rede sein, und diese ist untrennbar von der Person des Thäters. Mag sie eine Episode in seinem Charakterleben, mag sie der Ausdruck seines innersten Wesens sein: es gibt kein Verbrechen, das nicht der Verbrecher begangen hätte. That und Thäter sind keine Gegensätze, wie der verhängnisvolle juristische Irrtum annimt; sondern die That ist des Thäters. Ist sie es nicht, ist sie erzwungen, im Wahnsinn begangen, ein Werk des spielenden Zufalls, dann entfällt mit der Zurechnung die Vergeltung. Nur aus der zu vergeltenden konkreten Tat kann demnach das Maß der Vergeltung bestimmt werden. Von diesem Gedanken ausgehend sind wir zu den oben formulierten Vorschlägen gelangt. Aber die herrschende Ansicht bestimmt die Strafen für die von keinem Thäter begangene That; das heißt: ihre Strafen entsprechen dem Verbrechensbegriffe, der Abstraktion, welche Gesetzgebung und Wissenschaft aus den konkreten Thaten gebildet haben. Sie fragt: was verdient der Diebstahl, die Nothzucht, der Mord, der Meineid? statt zu fragen: was hat dieser Dieb, dieser Mörder, dieser falsche Zeuge, dieser Frauenschänder verdient? [...] Nicht der Begriff wird bestraft, sondern der Thäter; daher kann das Maß der vergeltenden Strafe nicht nach dem Begriff, sondern nur nach der That des Thäters sich richten. Das scheint eine wohlfeile Binsenweisheit zu sein, und doch ist es heute noch Ketzerei. Die Schutzstrafe ist also die richtig verstandene Vergeltungsstrafe. Der Gegensatz zwischen dem quia und dem ne ist ein eingebildeter. Oder weiter gefaßt: Repression und Prävention sind keine Gegensätze. Schwimme ich, weil ich ins Wasser gefallen bin oder damit ich nicht ertrinke? Nehme ich Medizin, weil ich krank bin, oder damit ich gesund werde [...]? [45] [...] Die Strafe ist Prävention durch Repression; oder wie wir ebensogut sagen dürfen: Repression durch Prävention. Damit sind auch die Fragen, welche Binding an die Anhänger des Zweckgedankens richtet, beantwortet: „Warum strafen wir nur, nachdem verbrochen ist?“ Ja: Warum werden nur die Menschen geheilt, welche krank geworden sind; warum heilen wir nicht auch die Gesunden? [...] – „Warum nicht lieber statt der Strafe Verbesserung der Schul- und Polizeieinrichtungen?“ Gewiß! Wenn eine zur Höhe der Vollkommenheit entwickelte Sanitätspolizei alle Krankheiten verhinden würde, dann brauchten wir die Ärzte nicht. Aber dieses goldene Zeitalter ist noch nicht angebrochen. [...] – „Warum wird dem Verbrecher, dessen That die Unsicherheit der Gesellschaft enthüllt hat, dafür nicht der Dank der Gesellschaft votiert?“ Aus demselben Grunde, aus welchem die symptomatische Behandlung das Fieber nicht hegt und pflegt, damit es wachse und gedeihe, sondern energisch bekämpft. – „Wie läßt es sich rechtfertigen, daß der Delinquent, also doch ein Mensch, herabgewürdigt wird zum Objekte eines zu gunsten andrer angestellten Experimentes?“ – Wir könnten darauf hinweisen, daß niemand es für eine menschenunwürdige Erniedrigung hält, wenn der Blatternkranke, also doch ein Mensch, zur Vermeidung der Ansteckung ins Blatternspital gebracht
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wird; aber wir haben es nicht nötig. Denn wir haben das Wesen der Strafe und ihre Rechtfertigung eben nicht in ihrer Reflexwirkung erblickt. Damit erledigt sich auch der Hinweis darauf, daß [46] dieses Experiment in so vielen Fällen erfolglos verläuft. Übrigens schützt die peinlichste Vorsicht „in so vielen Fällen“ nicht gegen Verbreitung von Epidemieen; und doch folgt daraus, wie ich glaube, nicht, daß alle Vorsichtsmaßregeln je eher desto besser aufzuheben seien. – „Endlich muß die relative Theorie konsequent bei dem Satz anlangen: nicht der Staat, sondern die bedrohten Gesellschaftskreise ohne Rücksicht auf die sie durchschneidenden Staatsgrenzen müssen das Strafrecht besitzen, während die Wirklichkeit das Gegenteil lehrt“. Mir ist der Sinn dieses Satzes nicht ganz klar geworden. Wenn das Verbrechen Störung der staatlichen Rechtsordnung, wenn die Strafe Schutz der staatlichen Rechtsordnung ist, dann können nicht die Gesellschaftskreise, dann muß der Staat das Strafrecht besitzen. Das ist die notwendige „Konsequenz“ der Schutztheorie. Allerdings sind auch gewisse Gesellschaftskreise Träger eines zum Schutze ihrer Sonderinteressen bestimmten, vom Staate teils anerkannten, teils sogar übertragenen Strafrechts: aber von diesen war und ist nicht die Rede. [...] [47] [...] Der Erforschung des Verbrechens als sozial-ethischer Erscheinung, der Strafe als gesellschaftlicher Funktion, muß innerhalb unserer Wissenschaft die ihr gebührende Beachtung werden. Daß es eine Kriminalanthropologie, eine Kriminalpsychologie, eine Kriminalstatistik als besondere, der Wissenschaft des Strafrechts mehr oder weniger fern stehende Disziplinen gibt, ist der Beweis des schweren Verschuldens, welches die wissenschaftlichen Vertreter des Strafrechts trifft; es ist aber auch der Grund für die bisherige Unfruchtbarkeit jener Disziplinen. Nur in dem Zusammenwirken der genannten Disziplinen mit der Wissenschaft des Strafrechts ist die Möglichkeit eines erfolgreichen Kampfes gegen das Verbrechertum gegeben. Unsrer Wissenschaft gebührt die Führung in diesem Kampfe. Ob die theoretischen und praktischen Vertreter des Strafrechts, ob die Lehrer, die Richter, die Staatsanwälte, die Polizeibeamten ihrer Aufgabe gerade nach dieser Richtung hin gewachsen sind, ob nicht eine ungleich erweiterte theoretische und praktische Vorbildung nötig wäre, ob nicht eine grundsätzliche Trennung der Strafrechtspflege von der Zivilrechtspflege, ähnlich jener des Justizdienstes vom Verwaltungsdienste, durch die wesentliche Verschiedenheit der gestellten Aufgaben und der zu ihrer Lösung unentbehrlichen Kenntnisse dringend gefordert wird: das sind Fragen, die ich hier nicht zu entscheiden und anzudeuten wage. Unzweifelhaft ist mir, daß Strafrechtswissenschaft, Strafgesetzgebung und Strafrechtspflege ihrer großen Aufgabe dem Leben gegenüber bisher in keiner Weise genügt haben. [...]
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2. Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe (1893) [...] [332] Die „neuen Horizonte“. Merkel wie Mittelstädt haben sich die Bekämpfung der in der I.K.V. verkörperten Ansichten und Bestrebungen sehr wesentlich dadurch erleichtert, daß sie die I.K.V. mit der kriminalanthropologischen Schule Lombrosos schlechthin in einen Topf werfen. Der letztere hebt (S. 240, 244) unter den „Gedanken- und Empfindungskreisen“, deren „Niederschlag“ in der I.K.V. sich zusammengefunden habe, die „italienische Schule Lombrosos“ ausdrücklich und an erster Stelle hervor. Merkel aber hat seiner Festgabe die bezeichnende Überschrift gegeben: Zur Beleuchtung der „neuen Horizonte“ in der Strafrechtswissenschaft [333] und durch diesen Hinweis auf eine der bekanntesten Schriften Ferris die Anhänger Lombrosos gewissermaßen als die Bannerträger der neuen Richtung hingestellt. [...] Darum […] möchte ich künftighin ernstlich gebeten haben: Verwirren wir die Sachlage nicht dadurch, daß wir bei unser Auseinandersetzungen Lombroso und seine Ansichten willkürlich herein zerren. Gern werde ich Rede und Antwort stehen für mich und meine Freunde, soweit ich für diese das Wort führen darf. Aber die Verantwortlichkeit für den von mir stets bekämpften Verbrechertypus Lombrosos lehne ich rundweg ab. Das Recht zu dieser Ablehnung glaube ich mir mehr als irgend ein anderer deutscher Fachmann erworben zu haben. Wer die „neue Schule“ bekämpft, der möge die Mühe nicht scheuen, über den wahren Stand der Dinge sich und seine Leser zu unterrichten. Schon der Untertitel der Merkelschen Schrift enthält eine Verschiebung der wahren Sachlage, die jede streng wissenschaftliche Auseinandersetzung erschwert und den Ruf der deutschen Gründlichkeit im Ausland arg gefährdet. Der Determinismus im Strafrecht. Aber all das sind Nebendinge. Mir liegt an dieser Stelle ein anderes viel mehr am Herzen. Der Reichsgerichtsrat Mittelstädt und der Rechtslehrer Merkel, sie beide bekennen sich, wie so viele vor ihnen, als Deterministen; aber gerade vom deterministischen [337] Standpunkte bekämpfen sie die Zweckstrafe. Hier ist eine gründliche Auseinandersetzung nicht zu umgehen. Zunächst sei es mir gestattet, meine eigne Stellung zu dem Problem der Willensfreiheit noch einmal kurz zu kennzeichnen. Ich werde mich dabei möglichst laienhaft ausdrücken und soweit tunlich die Polemik vermeiden. Mir war und ist das „Gesetz der Kausalität“ nicht mehr, aber auch nicht weniger, als eine Form unseres Erkennens. Eine Veränderung in der Außenwelt ohne Ursache, ohne Wirkung: das wäre ein Widerspruch mit den Gesetzen unsres Denkens, der diesem selbst und damit aller Erkenntnis, aller Erfahrung, aller Wissenschaft ein Ende machen würde. Mithin muß auch, für unser Erkennen, jede menschliche Handlung ihre Ursache in irgend einem sinnfälligem Ereignis haben, das seiner-
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seits als Wirkung verursacht ist. Das ist alles, was der Determinismus behauptet; aber daran muß er auch unbedingt und ohne alle Einschränkung festhalten. Aber wohl gemerkt: nur für unser Erkennen gibt es keine Wirkung ohne Ursache, ganz ebenso gut wie keine Ursache ohne Wirkung. Über das, was jenseits unsres Erkennens liegt, soll damit und kann damit nichts ausgesagt sein. Unser Erkennen aber bewegt sich in den Grenzen von Zeit und Raum. Die Annahme einer zeitlich und räumlich unbegrenzten Kausalreihe führt über die Grenzen des Erkennens hinaus, wie ihre Leugnung. Nur für die Welt der unserm Erkennen zugänglichen Erscheinungen gilt das Kausalgesetz. Darüber hinaus beginnt das Gebiet des Glaubens. Mit der ausnahmslosen Geltung des Kausalgesetzes steht der Glaube an die Erschaffung der Welt durch einen persönlichen Gott nicht im Widerspruch; auch nicht der Glaube, daß alles Erschaffene dereinst in den Schoß der Gottheit zurückkehren werde. Nur die Wissenschaft, d.h. unser geordnetes menschliches Erkennen [338] weiß nichts von einer ersten Ursache oder einer letzten Wirkung. Für das Recht aber kommt nur die Welt der Erscheinungen in Betracht. Nur der „empirische“ Mensch kann vor den Strafrichter gestellt, verurteilt, eingesperrt oder geköpft werden. Niemals der „intelligible“ Charakter. Ob dieser endlich oder unsterblich, ob er frei oder unfrei ist, das wissen wir nicht und können es niemals wissen, mögen wir auch gerade deshalb das eine oder das andere um so zuversichtlicher glauben. Der über die Grenzen des Erkennens hinausführende Determinismus ist eben so unwissenschaftlich wie sein Gegenstück. Der Verbrecher, der vor uns steht als Angeklagter oder als Verurteilter, ist also für uns Menschen unbedingt und uneingeschränkt unfrei; sein Verbrechen die notwendige, unvermeidliche Wirkung der gegebenen Bedingungen. Für das Strafrecht gibt es keine andere Grundlage als den Determinismus. Nochmals sei es, zur Vermeidung der beliebten Mißverständnisse, ausdrücklich gesagt: nicht der Determinismus als Weltanschauung, sondern jener Determinismus, der die ausnahmslose Geltung des Kausalgesetzes für unser Denken, also für die Welt der Erscheinungen behauptet. Ob bei dieser Auffassung die Begriffe von Schuld und Vergeltung sich noch halten lassen, wird spätere Untersuchung zeigen. Sehen wir einstweilen zu, inwieweit die bisher aufgestellten Grundsätze sich der Zustimmung unsrer beiden Gegner zu erfreuen haben. Für Mittelstädt ist die Willensfreiheit „ein Phantom, das sich noch immer ruhelos und zudringlich im heutigen Strafrecht umhertreibt“ (S. 387); „die Tage des philosophischen Indeterminismus, sowohl im Sinne der alten orthodoxen, wie im Sinne der neuern, vermittelnden Schule sind gezählt“ (S. 398); „es wäre an der Zeit, auf diese spekulative Grundlegung des Strafrechts ganz zu verzichten“ (S. 397). So weit stimmen wir also völlig überein. Und besonders wertvoll ist die Erklärung des Verfassers, [339] daß er, obwohl bewußter Determinist, niemals in irgend welchen Konflikt mit seinen Amtspflichten geraten sei (S. 392). [...] Aber ist Mittelstädt wirklich Determinist? Ich muß gestehen, daß mir die Antwort auf diese Frage zweifelhaft ist. Nach der ausdrücklichen Erklärung des Verf.’s (S. 394, 395, 396) „bleibt die Macht und Kraft der Fähigkeit unseres Innern, bei der Bildung unsres eigenen Charakters und der davon abhängigen Triebe mitzu-
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wirken, den sittlichen Beweggründen eine stärkere Energie, als den sinnlichen Anreizungen zu verleihen, unter all dieser kausalen Notwendigkeit unberührt bestehen“; wie die Naturkräfte, so vermag der Mensch „die in ihm selbst lebendigen Triebe dunkler Naturgewalten [340] [...] zu beherrschen, diese tierischen Elemente den höheren Bedürfnissen seines der Sonne zustrebenden Wesens unterthan zu machen“. Es kann sein, daß Mittelstädt uns mit diesen Sätzen ein Stück seines metaphysischen Glaubensbekenntnisses geben will, das sich selbstverständlich jeder Kritik entzieht. Manche Bemerkung (z.B. S. 397) würde darauf hinweisen. Aber ich möchte es doch nicht annehmen. Ich fürchte vielmehr, daß teils mangelhafte Durchdringung der Merkelschen Auffassung, teils die Abneigung gegen den „vulgären“ Determinismus hier ihre verhängnisvolle Rolle gespielt und den Verfasser zu einer Verleugnung der soeben erst vorgetragenen Ansichten verleitet haben. Wenn Mittelstädt dem Mensch die Fähigkeiten zuschreibt, seine Triebe zu beherrschen, was thut er da anders, als was die von ihm mit Recht bekämpften „vermittelnden“ Schriftsteller gethan haben? Ist seine Fassung etwa wirklich mehr wert als Bindings und anderer „ursachlose Willensentscheidung“? Vielleicht (ich weiß es nicht) wollte Mittelstädt sagen: der Angeklagte war zwar unfrei im Augenblick der That, aber er hätte durch andauernde Selbsterziehung sich frei machen können; daß er nichts getan, darin liegt sein Verschulden. Dieser Gedankengang wäre ebensowenig neu wie überzeugend. Er würde uns dahin führen, nicht wegen der begangenen That, sondern wegen der ihr vorangegangenen Lebensführung zu bestrafen. Und dann muß uns auch derjenige strafbar erscheinen, der durch Ausschweifungen aller Art eine Störung seines Geistes herbeigeführt und in diesem Zustand ein Verbrechen begangen hat. Wenn das aufgeklärter Determinismus sein soll, so ziehe ich immer noch den vulgären vor. Dieser vermeidet es wenigstens, alle unsre strafrechtlichen Begriffe auf den Kopf zu stellen. [...] [341] Die Vergeltungstrafe in deterministischem Gewande. [...] [342] [...] Ich erblicke (mit der Begründung des norddeutschen Entwurfs) das Wesen der Zurechnungsfähigkeit, also die Voraussetzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, in der normalen Bestimmbarkeit durch Motive. Wer in anormaler Weise, d.h. anders als der normale Durchschnittsmensch, auf Motive reagiert, der ist nicht zurechnungsfähig, und kann daher nicht gestraft werden. Da die Begriffe normal und anormal relative sind, gestattet uns diese dem geltendem Rechte zweifellos zu Grunde liegende, wenn auch in ihm nicht klar zum Ausdruck gebrachte Auffassung, allen Fortschritten der Psychologie und Psychatrie Rechnung zu tragen, und den Einzelfall in seiner Eigenart voll zu würdigen. Dabei bedarf es für den Kundigen nicht erst des ausdrücklichen Zusatzes, daß nicht jede Abweichung von dem Durchschnitt, sondern nur Abweichungen von einer gewissen Erheblichkeit als die Zurechnungsfähigkeit ausschließend in Betracht kommen können. Wenn alle, die einen kleinen Sparren im Kopf haben, als geisteskrank bezeichnet werden sollten, wie viele von uns würden dann noch übrig bleiben? Da der Geistesgesunde anders als der Geisteskranke, jener in normaler, dieser in anormaler, der sicheren Berechnung spottender Weise auf Motive reagiert, bietet die Strafe, zum mindesten soweit sie in der Einpflanzung oder Ausrottung, in der
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Stärkung oder Schwächung von motivierenden Vorstellungen besteht, nur dem Geistesgesunden gegenüber Aussichten auf Erfolg1. Den Geisteskranken [343] behandeln wir medizinisch, und nicht pädagogisch. Damit ist die scharfe Unterscheidung des Gefängnisses von der Irrenanstalt gerechtfertigt. Diese Unterscheidung kann einzig und allein durch den Nachweis erschüttert werden, daß auch die Handlungen des Geistesgesunden sich der psychischen Einwirkung, mithin der Berechnung entziehen; oder aber, daß man den Geisteskranken durch Einpflanzung oder Kräftigung altruistischer Motive, die dann die Stelle der ärztlichen Behandlung vertreten könnte, heilen kann. Diesen Nachweis kann ich abwarten. Die Schwierigkeiten der Sonderung beginnen erst, wenn es sich um die Eliminierung des Verbrechers aus der Gesellschaft, sei es durch Hinrichtung, sei es durch Einsperrung, handelt. Aber da die Gegner auf diese Schwierigkeit bisher nicht hingewiesen haben, darf ich wohl darauf verzichten, die, wie ich glaube, recht nahe liegende Lösung hier zu entwickeln. Nach dem Gesagten bedeutet „Verantwortlichkeit“ für mich nicht mehr als die Thatsache, daß wir den geistesgesunden Verbrecher für seine That strafrechtlich zur Verantwortung ziehen. Unsre Berechtigung, dies zu thun liegt einzig und allein in der Zurechnungsfähigkeit des Verbrechers, also in seiner Empfänglichkeit für die durch die Strafe bezweckte Motivsetzung. Merkel hat in seiner eigenartigen, geistvollen und anregenden Weise die Quellen des Verantwortlichkeitsgefühls genauer untersucht: das Bewußtsein der eigenen Kausalität einerseits, die von der Gesellschaft ausgeprägten Werturteile anderseits. So schön diese Untersuchungen an sich auch unzweifelhaft sind, so entbehrlich sind sie für meine Auffassung der Verantwortlichkeit. Die von mir festgehaltene Auffassung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit entspricht – und darauf allein kommt es mir hier an – einer streng deterministischen Auffassung. [...] [345] [...] Aber damit ergeben sich für mich unmittelbar und völlig unabweisbar zwei Folgerungen, welche zu ziehen Merkel sich scheut. 1. Der überlieferte Schuldbegriff ist unhaltbar. Er schließt, wollen wir nicht mit der souveränen Willkür des Stubengelehrten alle Ausdrücke umdeuten, wie es für unsre Zwecke paßt, notwendig neben dem Werturteil das weitere Urteil in sich: du hättest anders handeln können. Ich kann mich auch hier, zunächst wenigstens, auf Merkel berufen. In seinem Lehrbuch (S. 71) sagt er: „Schuld ist das an den geltenden Werturteilen gemessene und demnach in Anrechnung gebrachte kausale Verhalten selbst.“ Damit ist der hergebrachte Schuldbegriff aufgegeben. Die Schuld in Merkels Sinne ruht auf unserem Werturteile, und nur auf diesem. Ob wir die Tat eines Mannes 1
Man übersehe nicht, daß neben die Androhung der Vollzug der Strafe tritt. Hat jene nichts gefruchtet, so mag dieser helfen. Das gilt insbesondere auch dann, wenn dem Thäter bei Begehung der That das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit gefehlt haben sollte: der Strafvollzug wird es ihm schon einprägen.
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schlecht, oder ob wir sein episches Gedicht abgeschmackt und häßlich nennen – stets ist es nach Merkel unser Werturteil allein, auf das wir unsre Berechtigung stützen, seine That wie sein Machwerk ihm zur Anrechnung zu bringen. Ist es also zu viel behauptet, wenn ich sage, daß unter Merkels kritischer Beleuchtung der Schuldbegriff sich zur Unkenntlichkeit entstellt? Wird nicht jeder Mensch mit unbefangenen Sinnen zwischen Schlechtigkeit und künstlerischer Unfähigkeit einen unüberbrückbaren Unterschied finden: keiner „kann dafür“, daß er kein großer Künstler, aber jeder „kann dafür“, daß er schlecht ist? Wer das „Dafürkönnen“ streicht, der spielt mit den Worten, wenn er dennoch von der „Schuld“ des Schlechten spricht. Merkels „Schuldbegriff“ ist also in Wahrheit die Verneinung jeder Schuld in dem von der klassischen Schule jederzeit festgehaltenen, [346] auf der Möglichkeit des „Anders-Könnens“ beruhenden Sinne des Wortes. Was ihm noch übrigbleibt, mag dem Gelehrten zum Aufbau seines Systems, kann aber nimmermehr dem Volke oder dem Gesetzgeber als Grundlage des Strafrechts genügen. Für mich ist Schuld gleichbedeutend mit der Verantwortlichkeit für den Erfolg. Diese ist begründet bei Zurechnungsfähigkeit des Thäters und Zurechenbarkeit des Erfolges. Über die erstere habe ich mich bereits geäußert. Letztere ist anzunehmen, wenn entweder trotz Voraussicht des Erfolges (vorsätzlich) oder aber ohne Voraussicht, aber trotz Vorhersehbarkeit des Erfolges (fahrlässig) gehandelt worden ist. In dem Schuldurteil ist das Werturteil mit eingeschlossen; die Wahlfreiheit hat mit diesem so wenig zu schaffen, wie mit jenem. Ich möchte gern wissen, worin sich dieser mein Schuldbegriff inhaltlich von dem Merkelschen unterscheidet. Bisher habe ich keinen Unterschied entdecken können. Aber das scheint mir einleuchtend zu sein, daß mein Schuldbegriff, und daher auch der Merkelsche, mit dem klassischen Schuldbegriffe absolut nichts zu thun hat. Denn dieser steht und fällt mit dem Indeterminismus. Insoweit also hat der Determinist Merkel den Deterministen der I.K.V. nichts vorzuwerfen. 2. Mit dem Begriff der Schuld fällt aber auch der der Vergeltung. Wollen wir nicht wieder mit den Worten spielen und ihnen eine Bedeutung unterlegen, die sie niemals und nirgends gehabt haben; wollen wir nicht eine Sprache sprechen, die nur dem eingeweihtesten Fachmanne verständlich ist, allen Anderen, Gebildeten wie Nichtgebildeten gegenüber nur zur Verhüllung unsrer Gedanken dient – so müssen wir daran festhalten: vergolten werden kann nur, was vermieden werden konnte. Die Vergeltung setzt voraus, daß der Thäter auch anders hätte handeln können. Ohne Wahlfreiheit weder Schuld noch Vergeltung. Für den folgerichtigen Determinismus bleibt einzig und allein die Zweckstrafe übrig. Das unverschuldete Unglück vergelten wollen – daß ist nicht nur rohe Grausamkeit, sondern es ist abgeschmackt. Die Vergeltung auf deterministischer Grundlage ist nicht nur eine Versündigung des Herzens, sondern auch eine Verirrung des Verstandes. [347] Hier trete ich nun in scharfen Gegensatz zu Merkel. Dieser hält an der Vergeltungsstrafe fest. Darin liegt, wenn ich von seiner mißverständlichen Auffassung der „neuen Horizonte“ absehe, der einzige wesentliche Unterschied seiner
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Auffassung von der unsrigen. Und dieser Unterschied allein gibt seiner Polemik ein bestimmbares, greifbares Ziel und damit die innere Berechtigung. Aber was Merkel zur Begründung der Vergeltungsstrafe vom deterministischen Standpunkt aus anzuführen vermag, entbehrt aller und jeder überzeugenden Kraft. Sehen wir näher zu. Vergeltung im engeren Sinn ist nach Merkel (S. 10) „Selbstbejahung, Machtäußerung, durch feindliche, leidbringende Gegenwirkung gegen den Urheber von Unlust“. Das Recht aber „kann der äußern Sanktionen nicht entbehren, und diese können, wo die Natur der Sache den Zwang zu einem entsprechenden Verhalten ausschließt, nur in der Androhung und beziehungsweise Verwirklichung von Gegenwirkungen liegen, welche, was immer sie sonst noch bedeuten mögen, für den Betroffenen die Bedeutung einer Minderung an Freiheit und Lustgefühlen haben“ (S. 24). „Die staatliche Vergeltung wird daher dauern, solang das staatliche Recht dauert“ (S. 26). Von den Einwendungen, welche ich gegen diese Beweisführung zu erheben hätte, will ich nur die wichtigsten erwähnen. Zunächst scheint mir, als könne Merkels Ansicht in den an das Hegelsche Vorbild erinnernden Satz gekleidet werden: die Vergeltung ist die Form, in der die Rechtsordnung sich schützt; die Form der Selbstbejahung des verneinten Rechts und zwar die einzig mögliche Form. Damit ist das eine meiner Hauptbedenken bereits angedeutet: Gibt es wirklich keine andere Form der Selbstbejahung des Rechts als die feindliche Gegenwirkung gegen den Verbrecher, keine andere Form als die Vergeltungsstrafe? Soviel ich sehe, begegnet Merkel diesem Einwand mit zwei Gründen. Er sagt S. 5: „Danach (nach Ansicht der Gegner) hätte die Natur dem menschlichen Geschlecht den gewaltigen Vergeltungstrieb für nichts, als einen verderblichen Wahn eingepflanzt“. Ich meine, die Frage nach dem Zwecke, den „die Natur“ bei der „Einpflanzung“ dieses und andrer Triebe verfolgt habe – führt uns über die Grenzen der Wissenschaft hinaus in [348] die Naturphilosophie. Innerhalb des Gebietes der Erfahrung, das allein unsrer Erkenntnis zugänglich ist, leugnen wir weder die Macht jenes Triebes, noch unterschätzen wir seine Bedeutung für die Entwicklung von Staat, Recht und Sitte. Ich darf wohl daran erinnern, daß ich selbst als die geschichtliche Wurzel der Strafe den Vergeltungstrieb bezeichnet habe, und daß diese Auffassung heute ganz allgemein verbreitet ist. Aber wir behaupten (ich wenigstens thue es), daß es an der Zeit sei, die geschichtliche Entwicklung zum Abschluß zu bringen und die „triebartige“ Vergeltungsstrafe völlig zur bewußten Zweckstrafe zu gestalten. Wäre es wohl das erste Mal, daß ein „von der Natur uns eingepflanzter Trieb“ in seiner Bethätigung begrenzt, mit festen Schranken umgeben, und in dieser geregelten und geläuterten Gestalt in den Dienst gemeinsamer Interessen gestellt würde? Merkels zweiter Beweisgrund ist der Natur des Rechts entnommen. Die Selbstbejahung des Rechts kann, so behauptet Merkel, vom Zwang zu entsprechendem Verhalten abgesehen, nur durch Zufügung eines Übels erfolgen. Diese Behauptung steht völlig in der Luft. Zweifellos sind wir in der Lage, die Strafanstalt für Jugendliche wie das Arbeitshaus für „soziale Neurastheniker“ so angenehm zu gestalten, daß sie nicht daran denken, fortzulaufen. Und eben so gewiß können wir
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das auch in den Gefängnissen für Durchschnittsmenschen erreichen, soweit wir nicht Abschreckung, sondern Besserung des Verbrechers oder auch Sicherung der Gesellschaft verfolgen. Ich gebe zu, daß die Strafe ein malum passionis zwar nicht immer thatsächlich, wohl aber, nach heutiger Auffassung wenigstens, begrifflich ist. Aber ich bestreite, daß eine andere Art der Selbstbejahung des Rechts nicht denkbar wäre. Merkel hat für seine Behauptung nicht nur keinen Beweis erbracht; er hat uns sogar selbst den Fehler seiner Schlußfolgerung klar gelegt. S. 10 gehört zum Wesen der Vergeltung im engeren Sinne die „Lustminderung“; S. 24 kann die staatliche Vergeltung „eine Minderung an Freiheit und Lustgefühlen“ sein. Die „Freiheit“ fehlt in der Begriffsbestimmung der Vergeltung. Unvermittelt, ohne jede Begründung [349] tritt sie in dem Begriff der strafenden Vergeltung uns entgegen. Da aber eine „Minderung an Freiheit“ ohne „Minderung an Lustgefühlen“ sehr gut möglich ist, wie die tägliche Erfahrung uns beweist, so steht nichts im Wege, daß die Selbstbejahung des Rechts dem Verbrecher gegenüber auch anders als durch Zufügung eines Übels, das heißt in der Gestalt der Vergeltung erfolge. Damit aber ist der Merkelschen Auffassung der Boden entzogen. Noch deutlicher wird die völlige Unhaltbarkeit und Unbrauchbarkeit, die Weltfremdheit der Vergeltung im Sinne Merkels, wenn wir an die Todesstrafe denken. Will man ernstlich daran festhalten, daß die Hinrichtung eine „Lustminderung“ sei? Kann man sie nicht mit dem gleichen Rechte eine „Unlustminderung“ nennen? Dazu kommt eine weitere Erwägung. Wir stecken den Geisteskranken, der durch sein Benehmen das Sittlichkeitsgefühl der Mitmenschen verletzt, bis zur erfolgten Besserung in eine Irrenanstalt; wir bringen den gemeingefährlichen Cholerakranken in die Isolierbaracke. Das ist auch Freiheitsminderung, verbunden mit einer vielleicht recht tief einschneidenden Minderung der Lustgefühle; und es ist zweifellos Schutz rechtlicher Interessen, also Selbstbejahung des Rechts. Ist es Vergeltung oder nicht? Nimmt Merkel das letztere an, so hat er uns das unterscheidende Kennzeichen der Vergeltung verschwiegen; hält er das erstere für richtig, so verflüchtigt sich der Begriff der Strafe. In beiden Fällen aber ist der unternommene Nachweis mißglückt. Für den Deterministen kann es nur eine Rechtfertigung der Strafe geben: ihre Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung. Ihm kann und darf die Strafe nichts andres sein als ein Schutzmittel für die Gesellschaft. Der folgerichtige Determinismus führt notwendig zur völligen uneingeschränkten Verwerfung der Vergeltungsstrafe, zur ausschließlichen und rückhaltlosen Anerkennung der Zweckstrafe. Merkels Auffassung krankt an einem inneren Widerspruche; sie setzt sich aus zwei völlig heterogenen Elementen zusammen. Auf deterministischer Grundlage stehend, zieht Merkel alle die alten Folgerungen der Indeterministen. Die psychologische Wurzel dieses innern Widerspruches liegt klar zu Tage. Es ist Merkels Überschätzung der „geltenden ethischen Werturteile“, seine Scheu, mit den geschichtlich überlieferten ethischen Anschauungen zu brechen. Weil uns der Vergeltungs- [350] trieb noch in den Gliedern steckt, muß das Strafrecht auf ihm
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aufgebaut werden. Wozu hätte „die Natur“ ihn sonst uns eingepflanzt? Würde Merkel die Forderung aufstellen, daß bei der Überführung der Vergeltungsstrafe in die Schutzstrafe tiefgewurzelte Volksüberzeugungen geschont werden sollen, damit eine gefährliche Erschütterung des Volksrechtsbewußtseins vermieden werde – so könnte ich ihm beistimmen. Der Streit würde sich dann nur noch um das bei der Umgestaltung einzuschlagende Tempo drehen; und darüber ließe sich eine Verständigung erzielen. Aber nach Merkel soll die Vergeltungsidee auch nicht allmählich überwunden werden; sie ist ihm die notwendige, die einzig mögliche Grundlage des Strafrechts. Und dabei übersieht Merkel so völlig, daß seine deterministische Auffassung selbst im vollsten Widerspruch zu den herschenden ethischen Anschauungen steht, daß sie mit einer Jahrtausende alten Volksüberzeugung bricht. Hier rücksichtsloser Radikalismus, dort vorsichtigste Pflege der Überlieferung. Unumwunden bekenne ich, daß Merkels Auffassung den ganzen künstlerischen Reiz auf mich ausübt, der mit jeder, nur auf sich gestellten, sich selbst entwickelnden Eigenart verknüpft ist; ebenso unumwunden aber behaupte ich, daß diese Auffassung eben wegen ihrer höchstpersönlichen Eigenart völlig ungeeignet ist, der Wissenschaft oder der Gesetzgebung als Grundlage zu dienen. [...] [354] [...] Schutzstrafe und persönliche Freiheit. Ich habe es als den tiefsten Gegensatz zwischen der alten und der neuen Auffassung bezeichnet, daß jene den Erfolg der That, diese die Gesinnung des Thäters als das in erster Linie maßgebende Moment betrachtet. Dieser Satz bedarf näherer Erörterung. Mittelstädt sagt S. 254: „Was ist das für ein entsetzlich schiefer und schielender Gegensatz, mit welchem man eine neue Epoche des Strafrechts inaugurieren möchte, dieser Dualismus vom „Verbrechen“ und vom „Verbrecher“! Sind denn „Verbrechen“ etwas andres, als menschliche Handlungen, und sind denn menschliche Handlungen trennbar von den Personen der Handelnden?“ Der geehrte Verfasser hat den von uns ausgestellten Gegensatz doch wohl nicht richtig verstanden. Es ist ja zweifellos richtig und auch ohne tiefergehende Untersuchung klar, daß die heute herrschende Richtung die That nur an dem Thäter bestraft und daß auch wir den Thäter nur wegen der That zur Verantwortung ziehen wollen. Aber damit ist die Sache eben noch nicht erledigt. Nach der heute herrschenden Ansicht hat der Richter nur die einzelne, den Gegenstand der Anklage bildende That zu beurteilen, die That herausgegriffen aus dem Leben des Thäters, die auf den Isolierschemel der logisch-juristischen Abstraktion gestellte That; der Richter soll nicht zurückgreifen auf das, was vor der That gelegen ist, er darf nicht die Befürchtungen und Hoffnungen in Betracht ziehen, die der Thäter für die Zukunft weckt. Für die zur Aburteilung stehende That soll der Thäter büßen; und ist das geschehen, so betrachtet man die That als verbüßt: ne bis in idem. Nach unsrer Forderung dagegen soll die durch die That bewiesene Gesinnung des Thäters den Ausschlag geben. Seine Stellung zur Rechtsordnung, seine ganze Vergangenheit und was sie für die Zukunft erwarten läßt, soll bestimmend sein für
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die Art und Maß der Strafe. Ob der Angeklagte das erste Mal vor Gericht steht oder ob er zu den getreuen ortskundigen Stammgästen unsrer Anstalten gehört, soll entscheidend ins Gewicht fallen. [...] [355] [...] Die Berechtigung unsrer Forderung will ich hier ebensowenig untersuchen, wie ihre Tragweite. Nur andeuten will ich, daß in der geschichtlichen Entwicklung der strafrechtlichen Anschauung der äußere Erfolg der That mehr und mehr zurücktritt hinter der Berücksichtigung der Willensrichtung des Thäters, daß also auch hier wie sonst unsre Forderungen anknüpfen an vorhandene lebende und treibende Kräfte, deren Bedeutung von niemandem höher geschätzt werden kann als von uns; daß ich für meine Person endlich mir auch hier die Durchführung des Grundsatzes in der Gesetzgebung nur als eine allmähliche, schrittweise, als eine reformatorische, nicht als revolutionäre, denke. Viel wichtiger ist mir an dieser Stelle die Beseitigung eines nahe liegenden Einwandes. Wenn wirklich, so kann man fragen, die Gesinnung des Thäters das allein Auschlaggebende ist, warum wartet ihr ab, bis die verbrecherische That begangen ist; warum schreitet ihr nicht früher ein, ehe der Schaden geschehen ist? In den verschiedensten Fassungen tritt uns dieser Einwand entgegen. Die einen machen ihn geltend, um zu der nach ihrer Meinung allein folgerichtigen Forderung zu gelangen, daß wirklich die Gefährlichkeit, die temibilità, des Einzelnen an sich genügenden Anlaß zur, wenn nötig, dauernden Ausschließung aus der Gesellschaft geben solle; die andern weisen auf diesen angeblichen Folgesatz hin, um den Grundsatz selbst als unrichtig und unhaltbar darzuthun. Besonders eifrig und besonders gründlich ist die Frage in der außerdeutschen Litteratur der letzten Jahre erörtert, aber nicht gelöst worden. Die deutschen Schriftsteller haben sie zumeist nur gestreift. Auch was Merkel (S. 7, 32, 36, 39, 42) beibringt, wird der Tragweite des Problems in keiner Weise gerecht. Müßten wir die Berechtigung jener Schlußfolgerung zugeben, dann wäre in der That für das Strafrecht die letzte Stunde gekommen. Nicht würde, wie Merkel sagt, „das spezifisch richterliche [356] Geschäft seine Bedeutung einbüßen, der Richter hinter der Verwaltung verschwinden“, sondern die richterliche Thätigkeit wäre überhaupt zu Ende. Nicht würde die begriffliche Abgrenzung der einzelnen Verbrechen von einander nur mehr „einen geringen Wert in Anspruch nehmen“ (Merkel 39), sondern sie wäre völlig wertlos, weil widersinnig. Nur von Verwaltung wäre die Rede, auch wenn wir sie in die Hände von „Richtern“ legen wollten; denn Rechtspflege ist nicht denkbar ohne juristisch-logische Methode, ohne Rechtsbegriff und Rechtsregeln. Die gesetzliche Anerkennung des an die Stelle des Strafgesetzbuchs tretenden einzigen Satzes „jeder gemeingefährliche Mensch ist im Interesse der Gesamtheit unschädlich zu machen“, würde in der That die Strafrechtspflege durch die „soziale Hygiene“ ersetzen, wie Mittelstädt sagt. Das Strafgesetzbuch wäre beseitigt; mit ihm der ganze Wust von Lehr- und Handbüchern, von Kommentaren und Monographien, von Streitfragen und Reichsgerichtsentscheidungen. Wer die moderne Bewegung kennt, weiß auch, daß diese letzte, äußerste Folgerung vielfach, selbst von Lehrern des Strafrechts, gezogen
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worden ist. Die Erörterung und Beantwortung der Frage ist also von grundlegender Bedeutung. Ich ziehe jene Folgerung nicht; aus einem einzigen, sofort zu erwähnenden Grunde. Aber ich halte sie nicht eben für absurd. Dem Jugendlichen gegenüber wollen wir Zwangserziehung bei „bloßer sittlicher Verwahrlosung“, also auch wenn eine an sich strafbare Handlung noch nicht begangen ist, und wir weisen zur Unterstützung dieser Forderung auf eine ganze Reihe von Gesetzen hin, die in verschiedenen deutschen Einzelstaaten in unangefochtener Geltung stehen; die Gewohnheitssäufer sollen, nach einer mehr und mehr sich einwurzelnden Ansicht, in Trinkerasylen untergebracht werden; bei den Geisteskranken begnügen wir uns schon lange mit ihrer „Gefährlichkeit“, wenn die Entziehung ihrer Bewegungsfreiheit in Frage steht. Warum sollen wir dem gemeingefährlichen Geistesgesunden gegenüber anders verfahren? Ist nicht, gerade weil er im Vollbesitze seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten sich befindet, die Gefahr um so dringender und unsere Berechtigung zu vorbeugendem Einschreiten um so größer? [357] Mich hat es immer Wunder genommen, daß Freunde und Feinde der „neuen Richtung“ sich nicht sofort die einzig mögliche Antwort geben. Strafrecht ist (ich darf wohl meine alte Fassung hier in Erinnerung bringen) die rechtlich begrenzte Strafgewalt des Staates. Rechtlich begrenzt nach Voraussetzung und Inhalt; rechtlich begrenzt im Interesse der individuellen Freiheit. Nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege. Diese beiden Sätze sind das Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber der staatlichen Allgewalt; sie schützen den Einzelnen gegen die rücksichtslose Macht der Mehrheit, gegen den Leviathan. So paradox es klingt: das Strafgesetzbuch ist die magna charta des Verbrechers. Es verbrieft ihm das Recht, nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen und nur innerhalb der gesetzlichen Grenzen bestraft zu werden. Und damit ist die uns beschäftigende Frage in den großen Zusammenhang der politischen Entwicklung gestellt, den gerade unsre deutschen Schriftsteller so völlig zu übersehen pflegen. Die Interessen der Gesamtheit mit der Freiheit des Einzelnen in Einklang zu bringen, das ist die oberste Aufgabe einer jeden geordneten Gesellschaft. Jedes Volk und jede Zeit zieht die Grenzlinien anders. Das Zeitalter der Aufklärung hat uns jene beiden Sätze gebracht, die seitdem die Grundlage all unsrer modernen Gesetzbücher geworden sind. Dem liberalen Individualismus des 19. Jahrhunderts waren sie so selbstverständlich, daß er sie gar nicht näher prüfte. Aber das heranwachsende sozialistische Geschlecht, das die gemeinsamen Interessen schärfer betont als seine Vorgänger, für dessen Ohren das Wort „Freiheit“ einen archaistischen Klang gewonnen hat, rüttelt an diesen Grundlagen. Und wenn auch die Stürmer und Dränger nicht ahnen mögen, was sie beginnen; wenn sie auch nicht begreifen wollen, daß das zusammenstürzende Gebäude auch sie unter seinen Trümmern begraben würde – was sie thun, das liegt im Zuge der Zeit, und unsere Pflicht ist es, ihnen Rede und Antwort zu stehen. [...] [358] [...] Ich halte an jener Überlieferung des Zeitalters der Aufklärung grundsätzlich fest. Und soweit die Zukunft sich weissagen läßt, behaupte ich, daß auch die Umgestaltung der Gesetzgebung an ihnen festhalten wird. Die Strafgewalt auch des sozialistischen Staates wird gesetzlich begrenzt bleiben nach Voraussetzung und Inhalt.
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Die Strafgesetzbücher werden nicht ersetzt werden durch den einzigen Paragraphen: „Der Gemeingefährliche wird unschädlich gemacht“. Nach wie vor werden wir die Voraussetzungen einzeln aufzählen, unter welchen allein die staatliche Strafe eintreten darf; werden also die Begriffsbestimmungen der einzelnen Verbrechen im Gesetzbuch festgelegt, von der Wissenschaft nach der juristisch logischen Methode zergliedert, vom Richter nach derselben Methode angewendet werden. Nach wie vor werden wir Art und Maß der Strafe im Gesetz und im Richterspruch bestimmen. Das Strafrecht wird bleiben und mit ihm die Strafrechtswissenschaft wie die Strafrechtspflege. Wir werden weder das Strafgesetzbuch noch die Kommentare verbrennen; und der Strafrichter wird an Bedeutung nicht verlieren, sondern gewaltig gewinnen. Das glaube ich, das hoffe ich im Interesse der persönlichen Freiheit, die ich nicht schutzlos der „sozialen Hygiene“ preisgeben mag; das habe ich auch stets auf die Gefahr hin und mit dem Erfolge öffentlich gefordert, von den Stimmführern beider Heerlager des Eklektizismus geziehen zu werden. Aber freilich: Freiheit ist ein relativer Begriff, und in politischen Fragen gibt es keine durch die Logik unverrückbar gezogenen Grenzen. Die Voraussetzungen für den Eintritt der staatlichen Strafgewalt, also die Verbrechensbegriffe, können weiter und enger bestimmt werden, und, wie ich an anderer Stelle gesagt habe, auf die Unterscheidung von Unterschlagung und Diebstahl, von Thäterschaft und Beihilfe und gar manche andere Feinheit unseres heutigen Strafrechts leiste [359] ich mit tausend Freuden Verzicht. Art wie Maß der Strafe können der durch die That bewiesenen Gesinnung des Thäters anders als bisher Rechnung tragen, und sie sollen es. Aber all das sind Fragen, über die sich sprechen läßt. Die Forderung nach einer Umgestaltung der Strafgesetzgebung schließt das doppelte Anerkenntnis in sich: 1. daß wir auch in Zukunft eine Strafrechtspflege brauchen; 2. daß unser geltendes Recht der Umgestaltung bedarf. Dafür, daß diese Umgestaltung im Sinne einer schärferen Betonung der gemeinsamen Interessen erfolgen wird, bürgt die gesamte Entwicklung der letzten Jahrzehnte. [...] Kriminalpolitik und Strafrecht. [...] [361] [...] Das Verbrechen ist, nach meiner oft ausgesprochenen Ansicht, wie jede menschliche Handlung, das notwendige Ergebnis aus der teils angeborenen, teils erworbenen Eigenart des Thäters einerseits, der ihn im Augenblicke der That umgebenden gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnisse andrerseits. Die Bekämpfung des Verbrechens in seinen gesellschaftlichen Wurzeln ist nicht die eigentliche Aufgabe der Kriminalpolitik. Es ist meine (und nicht bloß meine) feste Überzeugung, [362] daß eine kräftige und zielbewußte Sozialpolitik gar manche Quelle des Verbrechens verstopfen wird. Die Lösung der ArbeiterWohnungsfrage interessiert daher auch den Kriminalisten, und die Beschäftigung mit dieser Frage wird für ihn lehrreicher sein, als die Auseinandersetzung mit gar mancher begrifflichen Konstruktion. Aber die Mitarbeit an der Lösung fällt nicht mehr in den Rahmen seines Berufs. [...]
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[364] Das Verbrechen kann und soll aber auch in seinen individuellen Wurzeln bekämpft werden, als eine im Leben des einzelnen sich konkretisierende soziale Erscheinung. Der Waffen in diesem Kampfe gibt es gar viele. Eine von ihnen ist die staatliche Strafe und die dieser verwandten Maßregeln. Ich kann an dieser Stelle nicht untersuchen, durch welche Kennzeichen sich die Strafe von anderen staatlichen Maßregeln zur Bekämpfung des Verbrechens in der Person des Einzelnen unterscheidet. Die wichtige und schwierige, bisher kaum in Angriff genommene Bestimmung des Strafbegriffes muß hier auf sich beruhen. Wir können, um die Beziehungen zwischen Kriminalpolitik und Strafrecht festzustellen, von denselben Fällen ausgehen, in welchen wir es nach unbestrittener Ansicht mit Strafe zu thun haben. [...] Ich möchte, vorbehaltlich besserer Belehrung, in folgender Weise unterscheiden: 1. Der Kriminalpolitik fällt zunächst die Aufgabe zu, die Fälle genau zu umschreiben, in welchen der Schutz durch die staatliche [365] Strafe einzutreten hat; und die anzuwendenden Strafmittel im allgemeinen zu bestimmen. Die logischtechnische Rechtswissenschaft kann ihr dabei wertvolle Dienste leisten; insbesondere fällt ihr die Fassung der gesetzlichen Begriffsbestimmungen zu. Aber die Abfassung eines Strafgesetzbuches ist in erster und letzter Linie ein Akt der Kriminalpolitik. Das werden auch unsere Gegner bei ruhiger Betrachtung nicht bestreiten wollen. 2. Solange unsre Strafgesetzgebung an dem, in seiner hohen politischen Bedeutung bereits erörterten Satze festhält: nullum crimen sine lege, ebenso lange ist die Feststellung, daß der Thatbestand eines Verbrechens als der Voraussetzung für den Eintritt der Strafgewalt des Staates vorliegt, ein ausschließlich richterlicher, nach Rechtsgrundsätzen erfolgender Akt. Damit ist, wie bereits erwähnt, die Fortdauer des Strafrechts zweifellos gesichert. Die Kriminalpolitik hat damit gar nichts zu schaffen. Das wird von meiner Seite als unbestreitbar zugegeben. 3. Ganz anders verhält es sich mit dem zweiten der oben erwähnten Sätze. Nulla poena sine lege bedeutet die gesetzliche Bestimmung der im Einzelfall anzuwendenden Strafe nach Inhalt und Umfang (Art und Größe). Dieser Satz, der folgerichtig durchgeführt ausschließlich absolute Strafdrohungen fordert, ist in unserer heutigen Gesetzgebung bereits durchbrochen. Die Strafgesetzbücher der Gegenwart lassen dem Richter, von den seltensten Ausnahmefällen abgesehen, die Wahl zwischen einer großen Zahl von Strafgrößen, meist auch zwischen zwei oder mehreren Strafarten. Innerhalb der gesetzlichen Strafrahmen bestimmt der Richter, und nicht das Gesetz, die Strafe. Das System der gesetzlichen Strafrahmen wird von uns nicht grundsätzlich angefochten, wenn auch die verschiedenartigsten Umgestaltungen unter Beibehaltung der bisherigen Grundlage in Vorschlag gebracht worden sind. [...] [366] [...] Die Verfolgung des Zweckgedankens in der Strafe fordert nach meiner Meinung aber weiter, daß die richterliche Zumessung der Strafe, wenigstens in gewissen Fällen, keine endgültige sei, daß vielmehr die Wirkung des Strafvollzuges, also die Erreichung oder Nicht-Erreichung des im Einzelfalle verfolgten Strafzwecks, die Dauer der Strafe bestimme. Auch diese Forderung, im geltenden Recht durch
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die „bedingte Entlassung“ teilweise, wenn auch recht ungenügend verwirklicht, kann nach meiner Meinung trotz aller entgegenstehenden Behauptungen, mit der Vergeltungsidee in Einklang gebracht werden. Auf diesem ganzen wichtigen Gebiete der Strafzumessung wogen also die Meinungen noch heftig und verworren auf und ab; aber die Verständigung ist nicht ausgeschlossen. 4. Sobald der Strafvollzug einsetzt, ist die Funktion des Strafrechts zu Ende und die Kriminalpolitik tritt in ihr volles Recht. Selbst die Anhänger der Vergeltungsstrafe leugnen nicht, daß der Strafvollzug bestimmte Zwecke zu verfolgen hat. Wie man diese Zwecke fassen will, ist für unsere heutige Untersuchung völlig gleichgültig. [...] [367] [...] Irre ich mich nicht, so stände demnach die Sache so: 1. Die Strafgesetzgebung ist unzweifelhaft Sache der Kriminalpolitik. 2. Der Schuldspruch muß, unter Vereinfachung der gesetzlichen Verbrechensbegriffe, nach festen Rechtsregeln, auf Grund einer logisch-juristischen Schlußfolgerung, gefällt werden. 3. Für die Strafzumessung verlangen wir, in wenigstens scheinbarem Gegensatze zur klassischen Schule, die Herrschaft kriminalpolitischer Erwägungen. 4. Diese spielen notwendig und unabweisbar die Hauptrolle im Strafvollzug. Das eigentliche Streitgebiet wird demnach durch die Strafzumessung gebildet. Aber auch hier hat uns die herrschende Richtung in dem landesherrlichen Begnadigungsrecht, ganz besonders aber in der bedingten Entlassung, heute schon tiefeinschneidende Zugeständnisse gemacht. Auch wir können uns einer uns entgegenkommenden Gesetzgebung gegenüber zu einer Abschwächung unserer Forderung verstehen. Aber diese praktischen Zugeständnisse, diese Dankbarkeit für Abschlagszahlungen mit Fristerstreckung für die Restforderung, bedeuten kein auch nur teilweises Aufgeben des grundsätzlichen Standpunktes. [...] Ich wäre durchaus zufrieden, wenn die von uns geforderte Umgestaltung zunächst nur bezüglich der Jugendlichen und der Unverbesserlichen durchgeführt würde. Dabei soll es uns auf den Namen nicht ankommen, den man dem Kinde geben will. Das ist ja die liebenswürdige Seite in dem Verhalten unserer Gegner, daß sie zufrieden sind, wenn die [368] altehrwürdigen Etiketten geschont werden. In der „Bestrafung“ des Gewohnheitsverbrechers darf das „Gleichmaß zwischen Schuld und Sühne“ nicht überschritten werden; aber gegen lebenslange oder doch sehr langwierige „Sicherheitsmaßregeln“ nach verbüßter Strafe haben die Gegner nichts einzuwenden. Zwei Jahre Gefängnis gegen den unverbesserlichen Landstreicher gestattet die „vergeltende“ Gerechtigkeit nicht; aber fünf Jahre des wesentlich empfindlicheren Arbeitshauses würden uns die Gegner wohl zugestehen. Laßt es uns also Sicherungsmaßregel und Arbeitshaus nennen; laßt uns nehmen, was wir bekommen können. Man mißverstehe mich nicht. Von meinem grundsätzlichen Standpunkte aus ist und bleibt diese Verquickung einer kurzen und eindruckslosen „Strafe“ mit einer langdauernden und einschneidenden „korrektionellen Nachhaft“ ein lächerlicher
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Widersinn. Aber wir verlangen eine Umgestaltung der Gesetzgebung, und die ist ohne Kompromisse nicht zu erzielen. Kein Kompromiß aber wird mir leichter werden, als der Verzicht auf einen bestimmten Namen. Wem der Schlauch mehr wert ist als der Wein, der mag getrost den neuen Wein in den alten Schlauch gießen. [...]
Friedrich Nietzsche (1844–1900) Zur Genealogie der Moral (1887) [285] Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes. 2. [...] [287] [...] Der Mensch wurde mit Hilfe der Sittlichkeit der Sitte und der sozialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht. Stellen wir uns dagegen ans Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Sozietät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zutage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveräne Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn „autonom“ und „sittlich“ schließt sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf – und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewußtsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewußtsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt. Dieser Frei- [288] gewordne, der wirklich versprechen darf, dieser Herr des freien Willens, dieser Souverän – wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor allem voraushat, was nicht versprechen und für sich selbst gutsagen darf, wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt – er „verdient“ alles dreies – und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Kreaturen notwendig in die Hand gegeben ist? Der „freie“ Mensch, der Inhaber eines langen unzerbrechlichen Willens, hat in diesem Besitz auch sein Wertmaß: von sich aus nach den andern hinblickend, ehrt er oder verachtet er; und ebenso notwendig als er die ihm Gleichen, die Starken und Zuverlässigen (die, welche versprechen dürfen) ehrt, – also jedermann, der wie ein Souverän verspricht, schwer, selten, langsam, der mit seinem Vertrauen geizt, der auszeichnet, wenn er vertraut, der sein Wort gibt als etwas, auf das Verlaß ist, weil er sich stark genug weiß, es selbst gegen Unfälle, selbst „gegen das Schicksal“ aufrechtzuerhalten –: ebenso notwendig wird er seinen Fußtritt für die schmächtigen Windhunde bereithalten, welche versprechen, ohne es zu dürfen, und seine Zuchtrute für den Lügner, der sein Wort bricht, im Augenblick schon, wo er es im Munde hat. Das stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewußtsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominierenden Instinkt – wie wird er ihn heißen, diesen dominierenden Instinkt, gesetzt, daß er ein Wort dafür bei sich nötig hat? Aber es ist kein Zweifel: dieser souveräne Mensch heißt ihn sein Gewissen. [...] [289]
T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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3. Sein Gewissen? [...] Es läßt sich vorauserraten, daß der Begriff „Gewissen“, dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung begegnen, bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat. Für sich gutsagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen – das ist, wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht – wie lange mußte diese Frucht herb und sauer am Baume hängen! Und eine noch viel längere Zeit war von einer solchen Frucht gar nichts zu sehn – niemand hätte sie versprechen dürfen, so gewiß auch alles am Baume vorbereitet und gerade auf sie hin im Wachsen war! – „Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergeßlichkeit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt?“ [...] Dieses uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis“ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. [...] [290] [...] Je schlechter die Menschheit „bei Gedächtnis“ war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze gibt insonderheit einen Maßstab dafür ab, wieviel Mühe sie hatte, gegen die Vergeßlichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens diesen Augenblicks-Sklaven des Affektes und der Begierde gegenwärtig zu erhalten. Wir Deutschen betrachten uns gewiß nicht als ein besonders grausames und hartherziges Volk, noch weniger als besonders leichtfertig und in-den-Taghineinleberisch; aber man sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um dahinterzukommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein „Volk von Denkern“ heranzuzüchten (will sagen: das Volk Europas, unter dem auch heute noch das Maximum von Zutrauen, Ernst, Geschmacklosigkeit und Sachlichkeit zu finden ist, und das mit diesen Eigenschaften ein Anrecht darauf hat, alle Art von Mandarinen Europas heranzuzüchten). Diese Deutschen haben sich mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtnis gemacht, um über ihre pöbelhaften Grund-Instinkte und deren brutale Plumpheit [291] Herr zu werden: man denke an die alten deutschen Strafen, zum Beispiel an das Steinigen (– schon die Sage läßt den Mühlstein auf das Haupt des Schuldigen fallen), das Rädern (die eigenste Erfindung und Spezialität des deutschen Genius im Reich der Strafe!), das Werfen mit dem Pfahle, das Zerreißenoder Zertretenlassen durch Pferde (das „Vierteilen“), das Sieden des Verbrechers in Öl oder Wein (noch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert), das beliebte Schinden („Riemenschneiden“), das Herausschneiden des Fleisches aus der Brust; auch wohl daß man den Übeltäter mit Honig bestrich und bei brennender Sonne den Fliegen überließ. Mit Hilfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs „ich will nicht“ im Gedächtnisse, in bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vorteilen der Sozietät zu leben – und wirklich! mit Hilfe dieser Art von Gedächtnis kam man endlich „zur Vernunft“! – Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche Nachdenken heißt, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen: wie teuer haben sie sich bezahlt gemacht! wieviel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller „guten Dinge“! [...]
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4. Aber wie ist denn jene andre „düstre Sache“, das Bewußtsein der Schuld, das ganze „schlechte Gewissen“ auf die Welt gekommen? [...] [292] [...] Haben sich die [..] bisherigen Genealogen der Moral auch nur von ferne etwas davon träumen lassen, daß zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff „Schuld“ seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff „Schulden“ genommen hat? Oder daß die Strafe als eine Vergeltung sich vollkommen abseits von jeder Voraussetzung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwickelt hat? – und dies bis zu dem Grade, daß es vielmehr immer erst einer hohen Stufe der Vermenschlichung bedarf, damit das Tier „Mensch“ anfängt, jene viel primitiveren Unterscheidungen „absichtlich“, „fahrlässig“, „zufällig“, „zurechnungsfähig“ und deren Gegensätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in Anschlag zu bringen? Jener jetzt so wohlfeile und scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke, der wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtigkeitsgefühl auf Erden zustande gekommen ist, hat herhalten müssen „der Verbrecher verdient Strafe weil er hätte anders handeln können“, ist tatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffinierte Form des menschlichen Urteilens und Schließens; wer sie in die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben Fingern an der Psychologie der älteren Menschheit. Es ist die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durchaus nicht gestraft worden, weil man den Übelanstifter für seine Taten verantwortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, daß nur der Schuldige zu strafen sei: – vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder strafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden, der sich am Schädiger ausläßt, – dieser Zorn aber in Schranken gehalten und modifiziert durch die Idee, daß jeder Schaden irgend worin sein Äquivalent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen Schmerz des Schädigers. – Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Scha- [293] den und Schmerz? Ich habe es bereits verraten: in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist, als es überhaupt „Rechtssubjekte“ gibt, und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist. 5. Die Vergegenwärtigung dieser Vertragsverhältnisse weckt allerdings, wie es nach dem Voraus-Bemerkten von vornherein zu erwarten steht, gegen die ältere Menschheit, die sie schuf oder gestattete, mancherlei Verdacht und Widerstand. Hier gerade wird versprochen; hier gerade handelt es sich darum, dem, der verspricht, ein Gedächtnis zu machen; hier gerade, so darf man argwöhnen, wird eine Fundstätte für Hartes, Grausames, Peinliches sein. Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzuflößen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet kraft eines Vertrages dem Gläubiger für den Fall, daß er nicht zahlt, etwas, das er sonst noch „besitzt“, über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib, sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben (oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Seligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar
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den Frieden im Grabe: so in Ägypten, wo der Leichnam des Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine Ruhe fand, – es hatte allerdings gerade bei den Ägyptern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe). Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuldners alle Arten Schmach und Folter antun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden, als der Größe der Schuld angemessen schien: – und es gab frühzeitig und überall von diesem Gesichtspunkte aus genaue, zum Teil entsetz- [294] lich ins Kleine und Kleinste gehende Abschätzungen der einzelnen Glieder und Körperstellen. [...] Machen wir uns die Logik dieser ganzen Ausgleichungsform klar: sie ist fremdartig genug. Die Äquivalenz ist damit gegeben, daß an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vorteils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, die Wollust „de faire le mal pour le plaisir de le faire“, der Genuß in der Vergewaltigung: als welcher Genuß um so höher eingeschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht, und leicht ihm als köstlicher Bissen, ja als Vorgeschmack eines höheren Rangs erscheinen kann. Vermittels der „Strafe“ am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem HerrenRechte teil: endlich kommt auch er einmal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein „Unter-sich“ behandeln und mißachten zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die „Obrigkeit“ übergegangen ist, es verachtet und mißhandelt zu sehen. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit. – 6. In dieser Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische Begriffswelt „Schuld“, „Gewissen“, „Pflicht“, „Heiligkeit der Pflicht“ ihren Entstehungsherd – ihr An- [295] fang ist, wie der Anfang alles Großen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. [...] Hier ebenfalls ist jene unheimliche und vielleicht unlösbar gewordene Ideen-Verhäkelung „Schuld und Leid“ zuerst eingehäkelt worden. Nochmals gefragt: inwiefern kann Leiden eine Ausgleichung von „Schulden“ sein? Insofern Leiden-machen im höchsten Grade wohltat, insofern der Geschädigte für den Nachteil, hinzugerechnet die Unlust über den Nachteil, einen außerordentlichen Gegen-Genuß eintauschte: das Leiden-machen, – ein eigentliches Fest, etwas, das wie gesagt um so höher im Preise stand, je mehr es dem Range und der gesellschaftlichen Stellung des Gläubigers widersprach. Dies vermutungsweise gesprochen: denn solchen unterirdischen Dingen ist schwer auf den Grund zu sehen, abgesehn davon, daß es peinlich ist; und wer hier den Begriff der „Rache“ plump dazwischen wirft, hat sich den Einblick eher noch verdeckt und verdunkelt als leichter gemacht (– Rache selbst führt ja eben auf das gleiche Problem zurück: „wie kann Leiden-machen eine Genugtuung sein?“). Es widersteht, wie mir scheint, der Delikatesse, noch mehr der Tartüfferie zahmer Haustiere (will sagen moderner Menschen, will sagen uns), es sich in aller Kraft vorstellig zu machen, bis zu welchem Grade die Grausamkeit die große Festfreude der älteren Menschheit ausmacht, ja als Ingredienz fast jeder ihrer Freuden zugemischt ist; wie naiv andrerseits, wie unschuldig ihr Bedürfnis nach Grausamkeit auftritt, wie grundsätzlich gerade die „uninteressierte Bosheit“ [...] von ihr als normale
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Eigenschaft des Menschen angesetzt wird –: so- [296] mit als etwas, zu dem das Gewissen herzhaft ja sagt! [...] In [...] der „Morgenröte“ [...] habe ich mit vorsichtigem Finger auf die immer wachsende Vergeistigung und „Vergöttlichung“ der Grausamkeit hingezeigt, welche sich durch die ganze Geschichte der höheren Kultur hindurchzieht (und, in einem bedeutenden Sinne genommen, sie sogar ausmacht). Jedenfalls ist es noch nicht zu lange her, daß man sich fürstliche Hochzeiten und Volksfeste größten Stils ohne Hinrichtungen, Folterungen oder etwa ein Autodafé nicht zu denken wußte, ingleichen keinen vornehmen Haushalt ohne Wesen, an denen man unbedenklich seine Bosheit und grausame Neckerei auslassen konnte. [...] Leiden-sehen tut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter, mächtiger, menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden. [...] Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Festliches. – [300] [...] 8. Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, [...] hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis, das es gibt, gehabt, in dem Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier maß sich zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niederen Grad von Zivilisation aufgefunden, in dem nicht schon etwas von diesem Verhältnis bemerkbar würde. Preise machen, Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maße das allererste Denken des Menschen präokkupiert, daß es in einem gewissen Sinne das Den- [301] ken ist: hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls in Hinsicht auf anderes Getier zu vermuten sein. [...] Kauf und Verkauf, samt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgendwelcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Komplexe (in deren Verhältnis zu ähnlichen Komplexen) übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war nun einmal für diese Perspektive eingestellt: und mit jener plumpen Konsequenz, die dem schwerbeweglichen, aber dann unerbittlich in gleicher Richtung weitergehenden Denken der älteren Menschheit eigentümlich ist, langte man alsbald bei der großen Verallgemeinerung an „jedes Ding hat seinen Preis; alles kann abbezahlt werden“ – dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der Gerechtigkeit, dem Anfange aller „Gutmütigkeit“, aller „Billigkeit“, alles „guten Willens“, aller „Objektivität“ auf Erden. Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich miteinander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu „verständigen“ – und, in bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen. – [302]
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9. Immer mit dem Maße der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist): so steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern. [...] Die Gemeinschaft, der getäuschte Gläubiger, wird sich bezahlt machen, so gut er kann, darauf darf man rechnen. Es handelt sich hier am wenigsten um den unmittelbaren Schaden, den der Schädiger angestiftet hat: von ihm noch abgesehen, ist der Verbrecher vor allem ein „Brecher“, ein Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze, in bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Anteil gehabt hat. Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vorteile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift; daher geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser Güter und Vorteile verlustig – er wird vielmehr jetzt daran erinnert, was es mit diesen Gütern auf sich hat. Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens, gibt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück, vor dem er bisher behütet war: es stößt ihn von sich – und nun darf sich jede Feindselig- [303] keit an ihm auslassen. Die „Strafe“ ist auf dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild, der Mimus des normalen Verhaltens gegen den gehaßten, wehrlos gemachten, niedergeworfenen Feind, der nicht nur jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder Gnade verlustig gegangen ist; also das Kriegsrecht und Siegesrecht des Vae victis! in aller Schonungslosigkeit und Grausamkeit; – woraus es sich erklärt, daß der Krieg selbst (eingerechnet der kriegerische Opferkult) alle die Formen hergegeben hat, unter denen die Strafe in der Geschichte auftritt. 10. Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr im gleichen Maße wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen: der Übeltäter wird nicht mehr „friedlos gelegt“ und ausgestoßen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher zügellos an ihm auslassen – vielmehr wird von nun an der Übeltäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von seiten des Ganzen verteidigt und in Schutz genommen. Der Kompromiß mit dem Zorn der zunächst durch die Übeltat Betroffenen; ein Bemühen darum, den Fall zu lokalisieren und einer weiteren oder gar allgemeinen Beteiligung und Beunruhigung vorzubeugen; Versuche, Äquivalente zu finden und den ganzen Handel beizulegen (die compositio); vor allem der immer bestimmter auftretende Wille, jedes Vergehn als in irgendeinem Sinne abzahlbar zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Maße, den Verbrecher und seine Tat voneinander zu isolieren – das sind die Züge, die der ferneren Entwicklung des Strafrechts immer deutlicher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das Selbstbewußtsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer [304] auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder ans Licht. Der „Gläubiger“ ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist; zuletzt ist es selber das Maß seines Reichtums, wieviel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. Es wäre ein Machtbewußtsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vor-
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nehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie gibt, – ihren Schädiger straflos zu lassen. „Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!!“ [...] Die Gerechtigkeit, welche damit anhob, „alles ist abzahlbar, alles muß bezahlt werden“, endet damit, durch die Finger zu sehen und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen – sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. – Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiß, mit welch schönem Namen sie sich nennt – Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch sein Jenseits des Rechts. 12. Hier noch ein Wort über Ursprung und Zweck der Strafe – zwei Probleme, die auseinanderfallen oder fallen sollten: leider wirft man sie gewöhnlich in eins. Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen in diesem Falle? Naiv, wie sie es immer getrieben haben –: sie machen irgendeinen „Zweck“ in der Strafe ausfindig; zum Beispiel Rache oder Abschreckung, setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi der Strafe, und – sind fertig. Der „Zweck im Rechte“ ist aber zu allerletzt für die Enstehungsgeschichte [309] des Rechts zu verwenden: vielmehr gibt es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch wirklich errungen sein sollte, – daß nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und dessen schließliche Nützlichkeit, dessen tatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen; daß etwas Vorhandenes, irgendwie Zustande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Absichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; daß alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herrwerden und daß wiederum alles Überwältigen und Herr-werden ein NeuInterpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige „Sinn“ oder „Zweck“ notwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muß. Wenn man die Nützlichkeit von irgendwelchem physiologischen Organ (oder auch einer RechtsInstitution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten oder im religiösen Kultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in betreff seiner Entstehung begriffen: so unbequem und unangenehm dies älteren Ohren klingen mag, – denn von alters her hatte man in dem nachweisbaren Zweck, in der Nützlichkeit eines Dings, einer Form, einer Einrichtung auch deren Entstehungsgrund zu begreifen geglaubt, das Auge als gemacht zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen. So hat man sich auch die Strafe vorgestellt als erfunden zum Strafen. Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, daß ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat; und die ganze Geschichte eines „Dings“, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte [310] Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloß zufällig hintereinander folgen und ablösen. „Entwicklung“ eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäß nichts weniger als sein progressus, – sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder voneinander unabhängi-
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gen, an ihm sich abspielenden Überwältigungs-Prozessen, hinzugerechnet die dagegen jedesmal aufgewendeten Widerstände, die versuchten FormVerwandlungen zum Zweck der Verteidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen. Die Form ist flüssig, der „Sinn“ ist es aber noch mehr – – –. Selbst innerhalb jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders: mit jedem wesentlichen Wachstum des ganzen verschiebt sich auch der „Sinn“ der einzelnen Organe, – unter Umständen kann deren teilweises Zugrunde-gehn, deren Zahl-Verminderung (zum Beispiel durch Vernichtung der Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und Vollkommenheit sein. Ich wollte sagen: auch das teilweise Unnützlich-werden, das Verkümmern und Entarten, das Verlustig-gehn von Sinn und Zweckmäßigkeit, kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu größerer Macht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Größe eines „Fortschritts“ bemißt sich sogar nach der Masse dessen, was ihm alles geopfert werden mußte; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert – das wäre ein Fortschritt – – –. Ich hebe diesen Haupt-Gesichtspunkt der historischen [311] Methodik hervor, um so mehr als er im Grunde dem gerade herrschenden Instinkte und Zeitgeschmack entgegengeht, welcher lieber sich noch mit der absoluten Zufälligkeit, ja mechanistischen Unsinnigkeit alles Geschehens vertragen würde, als mit der Theorie eines in allem Geschehen sich abspielenden Machtwillens. [...] 13. – Man hat also, um zur Sache, nämlich zur Strafe zurückzukehren, zweierlei an ihr zu unterscheiden: einmal das relativ Dauerhafte an ihr, den Brauch, den Akt, das „Drama“, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andrerseits das Flüssige an ihr, den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpft. Hierbei wird ohne weiteres vorausgesetzt, per analogiam, gemäß dem eben entwickelten Hauptgesichtspunkte der historischen Methodik, daß die Prozedur selbst etwas Älteres, Früheres als ihre Benützung zur Strafe sein wird, daß letztere erst in die (längst vorhandene, aber in einem Sinne übliche) Prozedur hineingelegt, hineingedeutet worden ist, kurz, daß es nicht so steht, wie unsre naiven Moral- und Rechtsgenealogen bisher annahmen, welche sich allesamt die Prozedur erfunden dachten zum Zweck der Strafe, so wie man sich ehemals die Hand erfunden dachte zum Zweck des Greifens. Was nun jenes andere Element an der Strafe betrifft, das flüssige, ihren „Sinn“, so stellt in einem sehr späten Zustande der Kultur (zum Beispiel im heutigen Europa) der Begriff „Strafe“ in der Tat gar nicht mehr Einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von „Sinnen“: die bisherige Geschichte der Strafe überhaupt, die Geschichte ihrer Ausnützung zu den verschiedensten Zwecken, kristallisiert sich zuletzt in eine Art von Einheit, welche schwer löslich, ganz und gar undefinierbar ist. (Es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, warum eigentlich gestraft wird: alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehn sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.) In einem früheren Stadium erscheint dagegen jene Synthesis von „Sinnen“ [313] noch löslicher, auch noch verschiebbarer; man kann noch wahrnehmen, wie für jeden einzelnen Fall die Elemente der Synthesis ihre Wertigkeit verändern und sich demgemäß umordnen,
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so daß bald dies, bald jenes Element auf Kosten der übrigen hervortritt und dominiert, ja unter Umständen Ein Element (etwa der Zweck der Abschreckung) den ganzen Rest von Elementen aufzuheben scheint. Um wenigstens eine Vorstellung davon zu geben, wie unsicher, wie nachträglich, wie akzidentiell „der Sinn“ der Strafe ist, und wie ein und dieselbe Prozedur auf grundverschiedne Absichten hin benutzt, gedeutet, zurechtgemacht werden kann: so stehe hier das Schema, das sich mir selbst auf Grund eines verhältnismäßig kleinen und zufälligen Materials ergeben hat. Strafe als Unschädlichmachen, als Verhinderung weiteren Schädigens. Strafe als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgendeiner Form (auch in der einer Affekt-Kompensation). Strafe als Isolierung einer Gleichgewichts-Störung, um ein Weitergreifen der Störung zu verhüten. Strafe als Furcht-einflößen vor denen, welche die Strafe bestimmen und exekutieren. Strafe als eine Art Ausgleich für die Vorteile, die der Verbrecher bis dahin genossen hat (zum Beispiel wenn er als Bergwerkssklave nutzbar gemacht wird). Strafe als Ausscheidung eines entarteten Elementes (unter Umständen eines ganzen Zweigs, wie nach chinesischem Recht: somit als Mittel zur Reinerhaltung oder zur Festhaltung eines sozialen Typus). Strafe als Fest, nämlich als Vergewaltigung und Verhöhnung eines endlich niedergeworfenen Feindes. Strafe als ein Gedächtnismachen, sei es für den, der die Strafe erleidet – die sogenannte „Besserung“, sei es für die Zeugen der Exekution. Strafe als Zahlung eines Honorars, ausbedungen seitens der Macht, welche den Übeltäter vor den Ausschweifungen der Rache schützt. Strafe als Kompromiß mit dem Naturzustand [314] der Rache, sofern letzterer durch mächtige Geschlechter noch aufrechterhalten und als Privilegium in Anspruch genommen wird. Strafe als Kriegserklärung und Kriegsmaßregel gegen den Feind des Friedens, des Gesetzes, der Ordnung, der Obrigkeit, den man als gefährlich für das Gemeinwesen, als vertragsbrüchig in Hinsicht auf dessen Vorraussetzungen, als einen Empörer, Verräter und Friedensbrecher bekämpft, mit Mitteln, wie sie eben der Krieg an die Hand gibt. 14. Diese Liste ist gewiß nicht vollständig; ersichtlich ist die Strafe mit Nützlichkeiten aller Art überladen. Um so eher darf man von ihr eine vermeintliche Nützlichkeit in Abzug bringen, die allerdings im populären Bewußtsein als ihre wesentlichste gilt, – der Glaube an die Strafe, der heute aus mehreren Gründen wackelt, findet gerade an ihr immer noch seine kräftigste Stütze. Die Strafe soll den Wert haben, das Gefühl der Schuld im Schuldigen aufzuwecken, man sucht in ihr das eigentliche instrumentum jener seelischen Reaktion, welche „Schlechtes Gewissen“, „Gewissensbiß“ genannt wird. Aber damit vergreift man sich selbst für heute noch an der Wirklichkeit und der Psychologie; und wieviel mehr für die längste Geschichte des Menschen, seine Vorgeschichte! Der echte Gewissensbiß ist gerade unter Verbrechern und Sträflingen etwas äußerst Seltenes, die Gefängnisse, die Zuchthäuser sind nicht die Brutstätten, an denen diese Spezies von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht: – darin kommen alle gewissenhaften Beobachter überein, die in vielen Fällen ein derartiges Urteil ungern genug und wider die eigensten Wünsche abgeben. Ins Große gerechnet, härtet und kältet die Strafe ab; sie konzentriert; sie verschärft das Gefühl der Entfremdung; sie stärkt die Widerstandskraft. Wenn es vorkommt, daß [315] sie die Energie zerbricht und eine erbärmliche Prostration
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und Selbsterniedrigung zuwege bringt, so ist ein solches Ergebnis sicherlich noch weniger erquicklich als die durchschnittliche Wirkung der Strafe: als welche sich durch einen trocknen düsteren Ernst charakterisiert. Denken wir aber gar an jene Jahrtausende vor der Geschichte des Menschen, so darf man unbedenklich urteilen, daß gerade durch die Strafe die Entwicklung des Schuldgefühls am kräftigsten aufgehalten worden ist, – wenigstens in Hinsicht auf die Opfer, an denen sich die strafende Gewalt ausließ. Unterschätzen wir namentlich nicht, inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seine Tat, die Art seiner Handlung an sich, als verwerflich zu empfinden; denn er sieht genau die gleiche Art von Handlung im Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gutgeheißen, mit gutem Gewissen verübt: also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffliche und durchtriebene Polizisten- und Anklägerkunst, sodann das grundsätzliche, selbst nicht durch den Affekt entschuldigte Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangennehmen, Foltern, Morden, wie es in den verschiedenen Arten der Strafe sich ausprägt, – alles somit von seinen Richtern keineswegs an sich verworfene und verurteilte Handlungen, sondern nur einer gewissen Hinsicht und Nutzanwendung. Das „schlechte Gewissen“, diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unserer irdischen Vegetation, ist nicht auf diesem Boden gewachsen, – in der Tat drückte sich im Bewußtsein der Richtenden, der Strafenden selbst die längste Zeit hindurch nichts davon aus, daß man mit einem „Schuldigen“ zu tun habe. Sondern mit einem Schaden-Anstifter, mit einem unverantwortlichen Stück Verhängnis. Und der selber, über den nachher die Strafe, wiederum wie ein Stück Verhängnis, herfiel, hatte dabei [316] keine andere „innere Pein“, als wie beim plötzlichen Eintreten von etwas Unberechnetem, eines schrecklichen Naturereignisses, eines herabstürzenden, zermalmenden Felsblocks, gegen den es keinen Kampf mehr gibt. 15. [...] Die von der Strafe ereilten Übel-Anstifter (haben) jahrtausendelang in betreff ihres „Vergehens“ empfunden: „hier ist etwas unvermutet schief gegangen“, nicht: „das hätte ich nicht tun sollen“ –, sie unterwarfen sich der Strafe, wie man sich einer Krankheit oder einem Unglücke oder dem Tode unterwirft, mit jenem beherzten Fatalismus ohne Revolte, durch den zum Beispiel heute noch die Russen in der Handhabung des Lebens [317] gegen uns Westländer im Vorteil sind. Wenn es damals eine Kritik der Tat gab, so war es die Klugheit, die an der Tat Kritik übte: ohne Frage müssen wir die eigentliche Wirkung der Strafe vor allem in einer Verschärfung der Klugheit suchen, in einer Verlängerung des Gedächtnisses, in einem Willen, fürderhin vorsichtiger, mißtrauischer, heimlicher zu Werke zu gehn, in der Einsicht, daß man für vieles ein für allemal zu schwach sei, in einer Art Verbesserung des Selbstbeurteilung. Das, was durch die Strafe im großen erreicht werden kann, bei Mensch und Tier, ist die Vermehrung der Furcht, die Verschärfung der Klugheit, die Bemeisterung der Begierden: damit zähmt die Strafe den Menschen, aber sie macht ihn nicht „besser“, – man dürfte mit mehr Recht noch das Gegenteil behaupten. („Schaden macht klug“, sagt das Volk: soweit er klug macht, macht er auch schlecht. Glücklicherweise macht er oft genug dumm.)
Adolf Merkel (1836–1896) Vergeltungsidee und Zweckgedanke im Strafrecht (1892) 1. In Vielem gleichen, wie wohl Niemandem entgehen kann, die geistigen Bewegungen am Ausgang unseres Jahrhunderts denjenigen am Ausgang des vorigen. Sie erscheinen in manchem Betracht als eine durch umfassendere Kräfte getragene Wiederaufnahme der Letzteren. Unter anderem gilt dies von Bestrebungen im Bereiche der Strafrechtswissenschaft. [...] Als ein beherrschendes Element des überlieferten Strafrechts betrachtet man die Vergeltungsidee, und auf ihren Einfluß wird der behauptete Mißerfolg im Kampfe von Reformfreunden beider Perioden zurückgeführt. Man stellt ihr den Zweckgedanken als etwas angeblich ihr Fremdes und Gegensätzliches gegenüber und erwartet von dessen Herrschaft die Begründung der neuen Ära. [...] [688] [...] Die Stürmer und Dränger der Aufklärungszeit haben indessen wohl zu einer Milderung der vergeltenden Strafe beigetragen, das Anwendungsgebiet dieser Strafe aber zu beschränken nicht vermocht. Auch hat der Geist der Strafrechtswissenschaft sich trotz oder vielmehr infolge der Mitarbeit unserer großen Denker (Kant, Hegel, Herbart) aufs neue durch jenen vermeintlichen Wahn verfinstern lassen. [...] [689] [...] Die heutigen Bestrebungen schließen entschieden radikalere Tendenzen in sich als jene älteren und zwar in dem Maße, als sie mehr Konsequenz in der Bekämpfung der Vergeltungsstrafe erkennen lassen. Jene Reformfreunde des vorigen Jahrhunderts verlangten vielfach in einem Atem die Beseitigung der Vergeltung und die Anpassung der Strafe an den Geist des Verbrechens. Jetzt finden wohl die Meisten, daß man sich, so lange man das Verbrechen oder auch den Geist desselben zum Maßstab der Strafe nimmt, auf dem Grunde des Vergeltungsgedankens bewege. Sie setzen demgemäß dem Verbrechen den Verbrecher entgegen. [...] Gegenstand und Maß der Wirksamkeit der Strafrechtspflege soll künftig der „verbrecherische Zustand“ des Delinquenten sein. Für diesen aber kommt das einzelne Verbrechen nur als ein Symptom in Betracht. Dieser Auffassung gemäß werden bei den Modernsten unter den Modernen die Worte „Schuld“, „Verschuldung“ in wunderlicher Vergewaltigung des Sprachgebrauchs nicht auf den begangenen Rechtsbruch, sondern auf die Gefährlichkeit des Thäters bezogen. „Der Angeklagte ist schuldig“ würde künftig zu bedeuten haben, er ist eines für die Gesellschaft gefährlichen Zustandes überführt. [...] [691] 2. Der Begriff der Vergeltung umfaßt alle Gegenwirkungen gegen die Urheber von Unlust oder Lust, welche einen der Beschaffenheit der ersten Einwirkung entsprechenden, also im einen Fall feindlichen (lustmindernden), im andern freundlichen Charakter haben. Dieselben gehören zu den elementaren Funktionen beseelter Wesen und ihre Bedeutung ist eine universelle. [...] T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Hier interessiert nur die Gegenwirkung gegen feindliche Einwirkungen. Sie stellen eine Form der Selbstbejahung gegenüber irgend einer Verneinung der Geltung unseres Willens, unserer individuellen oder sozialen Interessen dar. Weit entfernt, bedeutungslos für die Letzteren zu sein, sind sie im Gegenteil innerhalb jeder Gesellschaft für den Bestand von Verhältnissen der Koordination und der Überordnung, für das Übergewicht bestimmter Richtungen des Wollens oder der ihnen entsprechenden Maximen, und in der Volksgemeinschaft für eine deren Interessen entsprechende Erziehung der heranwachsenden Generationen mitbedingend. Innerhalb der Konkurrenz, in welche sich menschliche Willen und Interessen überall gestellt sehen, ist die Behauptung jeder Geltungssphäre von Machtäußerungen hemmenden oder störenden Elementen gegenüber abhängig, und zu diesen Machtäußerungen gehört die Vergeltung. In welcher Weise sie zugunsten jener Selbstbehauptung wirksam zu werden und die in feindlichen Einwirkungen sich begründenden und durch solche erkennbar gemachten Gefahren und Mißverhältnisse in ihrer Bedeutung einzuschränken oder aufzuheben vermöge, ist oftmals dargelegt worden und psychologischer Beobachtung offen liegend. Sie ist im allgemeinen, von Wehrlosmachung oder Vernichtung der feindlichen Elemente abgesehen, gleich jeder Machtbethätigung im Bereich konkurrirender Willen geeignet, sowohl Motive der Furcht wie solche der Achtung zugunsten der angegebenen Zwecke zu erzeugen, das Selbst- und Wertgefühl des Handelnden und sein Ansehen bei Genossen zu bekräftigen u.s.w. Auch hat Vergeltung wohl nirgends in der Gesellschaft eine Rolle gespielt, ohne daß Vorstellungen von diesen Wirkungsweisen, mehr oder weniger entwickelt, sich dabei geltend gemacht hätten. Die vergeltende staatliche Strafe und die Rache im Zeitalter souveräner oder halbsouveräner Blutsverbände sind nur einzelne, aber besonders bedeutsame Formen dieser Vergeltung. Ihnen gemeinsam ist, daß ethische und bzw. religiöse Vorstellungen, ihrer besonderen sozialen Bedeutung gemäß, sich mit ihnen verknüpfen und ihnen eine gewisse Weihe verleihen. Dieselben schließen mehr oder minder entwickelte Zweckvorstellungen nicht aus und bilden nirgends außerhalb des Bereichs scholastischer Lehrmeinungen einen Gegensatz zu diesen. Die Vergeltung ist Gegenstand einer ethischen Sanktion als ein Mittel zu gebilligten Zwecken, und die bezüglichen ethisch-religiösen Vorstellungen entwickeln sich im engen Zusammenhange mit der Gesamterfahrung bezüglich dieser Zwecke. Überall ja umranken sich die Grundlagen der Existenz und des inneren Zusammenhangs oder der Machtstellung und des Wohlseins selbständiger sozialer Gruppen mit ethischen Anschauungen. In ihnen üben umgewandelte und gleichsam verdichtete Zweckvorstellungen von besonderer Richtung, befreit aus der Abhängigkeit von den schwankenden Reflexionen des individuellen Verstandes, einen kontinuirlichen Einfluß auf das Verhalten der Einzelnen und der Gesamtheit aus. In jener vorstaatlichen Zeit war bekanntlich speziell die Blutrache einer ethischen Sanktion teilhaft und der Zusammenhang dieser Letzteren mit den Existenzbedingungen der primitiven Blutsverbände ist unschwer zu erkennen. Deshalb schwindet diese Sanktion mit der Bedeutung und Selbständigkeit der genannten Verbände. Der Staat absorbirt deren Funktionen samt dem auf sie bezüglichen Ethos und läßt an die Stelle der von dem Letzteren beherrschten Rache (von der Übergangs-
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formation der compositio sehe ich hier ab) seine vergeltende Strafe treten. Form und Bedeutung der Vergeltung erfahren damit samt den motivirenden und begleitenden Vorstellungen bedeutsame Änderungen. Sie tritt in Beziehung zu den Bedingungen, [693] Zwecken und Formen eines umfassenderen Gemeinlebens und den es stützenden sittlichen Kräften. Vor allem macht sich hier geltend, daß die Vergeltung fordernde Übelthat eine Richtung hat gegen einen übergeordneten beherrschenden Willen und gegen eine durch jene Kräfte getragene und auch für den Übelthäter als verbindlich betrachtete Ordnung. Sie ist daher nicht mehr bloß ein feindlicher Akt, sondern mißbilligte Auflehnung, Verbrechen, und die Strafe demgemäß nicht mehr bloß ein einer Feindesthat korrespondirender feindlicher Akt, sondern Geltendmachung eines verbindlichen Gesetzes. In dem Maße, als jene Feindesthat in der Schätzung sinkt, erhöht sich die Dignität der Vergeltung. Mit dem herrschenden Willen und den Interessen der staatlichen Gemeinschaft kommt das mit jenen verbündete Ethos dieser Gemeinschaft darin zum Ausdruck, und es entwickelt sich das System von Begriffen (Verantwortlichkeit, Schuld, Zurechnung, Sühne u.s.w.), welche sich im Bewußtsein vorgeschrittener Völker um den Gedanken der staatlichen Vergeltung und ihren Gegenstand gruppiren. Zugleich bilden sich bestimmte Wertmaße für die Beurteilung der verschiedenen Kategorien von Übelthaten und für die Gestaltung der auf sie bezüglichen vergeltenden Gegenwirkung aus. Jenes Volksethos gewinnt damit Elemente, welche diese Gegenwirkung nicht bloß begünstigen, sondern ihr, und bzw. den durch die That erzeugten Affekten in ihrer Richtung gegen die Person des Schuldigen, Schranken ziehen. Es billigt fortan nur die innerhalb dieser sich bewegenden, d.h. die dem Maße der Verschuldung im Sinne der herrschenden Wertanschauungen proportionale Vergeltung. Der Vergeltungstrieb weist von sich aus nicht auf solche Schranken hin. Ihr Hervortreten in den Anschauungen und den Gesetzen hängt mit dem Einfluß vermittelnder, geistiger und sozialer, Faktoren von mannigfacher Art zusammen. Zugleich kommen darin Wertempfindungen in Bezug auf die Genossen (später in Bezug auf die Mitmenschen überhaupt) zum Ausdruck. Was dem Gewicht seiner That entspricht, das und nicht mehr soll der Schuldige leiden. In dem Bereiche kollidirender Interessen, dem die Wirksamkeit der Rechtspflege angehört, geben die Vorstellungen von dem gerechten Maße der Vergeltung im aristotelischen Sinne ein Mittleres, d.h. die Linie an, auf welcher der strafende Staat mit dem Ganzen der legitimen Interessen, der Volkserfahrung und Empfindung gemäß, im Einklang bleibt. [694] Unter ihrem Einfluß erhält die vergeltende Strafe zugleich ihren rechtlichen Charakter. Die Grundgedanken alles Rechts breiten ihre Herrschaft über sie aus. Denn dieses hat es mit der unparteiischen Abwägung kollidirender Interessen und mit entsprechenden Grenzen und Maßbestimmungen zu thun. Die Gesammtentwicklung des geistigen Lebens gemäß entwickeln sich jene Wertanschauungen. Es verfeinert sich gleichsam die Wage, in welcher antisoziale Thaten gemessen werden. [...] [694]
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3. Das Interesse an der adäquaten Vergeltung menschlicher Thaten ist ein Quellpunkt sowohl religiöser wie rechtlicher Vorstellungen und ein Werkmeister beim Aufbau nicht bloß der weltlichen, sondern auch der himmlischen Reiche. [...] [698] [...] Ich sehe von der Religion wegen der größeren Komplizirtheit der sie betreffenden Frage ab und halte mich an die Moral. Hier nun ist gewiß, daß die höhere Wertschätzung menschlichen Verhaltens für eine feinere Empfindung überall gerade davon abhängig ist, daß die Rücksicht auf Lohn und Strafe keinen Einfluß auf dieses Verhalten geübt hat. Darin aber liegt, daß das Wesen der Moral mit der Vergeltungsidee an sich nichts zu schaffen habe und die Beziehung auf die Befehle eines übergeordneten Willens nicht in sich schließt, wie bedeutsam immer die Verknüpfung ethischer Vorstellungen mit jener Idee für die Entwicklung dieser Vorstellungen und für ihren Einfluß im Völkerleben gewesen sein möge. Und es liegt hierin ferner, daß diese Verknüpfung sich lösen könne. Doch ist hier nicht der Ort, in eine nähere Untersuchung hierüber einzutreten. Wohl aber interessirt hier die das Verhältnis des staatlichen Rechts zur staatlichen Vergeltung betreffende analoge Frage, wie sie durch unsere kriminalistischen Reformfreunde auf die Tagesordnung der Gegenwart gestellt worden ist. [699] 4. Ist die Vergeltung dem Wesen des Rechts ebenso fremd wie dem der Moral? Haben daher diejenigen, welche sie im Bereiche der Rechtspflege bekämpfen, Aussicht auf die Erreichung ihres Zieles? Ich meine, aus dem bisher Gesagten müsse bereits erhellen, daß dieser ganze Feldzug gegen die rechtliche Vergeltung sich auf Mißverständnisse stütze, und daß die Bejahung der aufgeworfenen Fragen nur bei völliger Verkennung der Natur des Rechts möglich sei. Das Recht ist im Unterschied von der Moral wesentlich heteronomer Natur und kann die Beziehung auf einen den Einzelnen übergeordneten Willen und dessen Gebote nicht abstreifen. Es ist ein System von Imperativen, in welchen eine Macht, welche herrschen will und Gehorsam fordert, in der Form einer äußeren Gesetzgebung (dieser Ausdruck in seinem umfassenderen, Kantschen Sinne genommen) an den Einzelnen herantritt. Es kann deshalb der äußeren Sanktionen nicht entbehren, und diese können, wo die Natur der Sache den Zwang zu einem entsprechenden Verhalten ausschließt, nur in der Androhung und bezw. Verwirklichung von Gegenwirkungen liegen, welche, was immer sie sonst noch bedeuten mögen, für den Betroffenen die Bedeutung einer Minderung an Freiheit und Lustgefühlen haben. Die Rechtsvorschriften wären keine Gebote, wenn nicht solche Gegenwirkungen, wenigstens konkludenter Weise, in Aussicht gestellt wären, und sie wären nicht der Ausdruck eines beherrschenden Willens, wenn nicht gegebenen Falles Ernst damit gemacht werden würde. Sie gehören zum Rechte wie der Schatten zum Lichte. Wie sich hierbei der Entschädigungszwang zur Strafe verhalte, kann hier unerörtert bleiben. Genug, daß innerhalb weiter Grenzen nur die Letztere in Betracht kommen kann.
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Nur wer die imperative Natur des Rechts leugnet, kann konsequenterweise zu einem anderen Ergebnis kommen. Käme in ihm nicht ein Wille zum Ausdruck, der Beachtung fordert, sondern nur ein Wissen, wäre das Recht nur ein theoretischer Ausdruck für das durchschnittliche Verhalten der Staatsangehörigen, für das, was man im Verkehr als den gewöhnlichen Gang der Dinge zu erwarten pflegt, wie einige Schriftsteller anzunehmen scheinen, so bedürfte es freilich jener vergeltenden Gegenwirkungen nicht. Dann aber würde es unbegreiflich sein, daß dieselben in der Geschichte des Rechtslebens beständig eine so große Rolle gespielt haben! Wäre es [700] ferner bei der Aufstellung von Rechtsnormen nicht auf einen bestimmten Einfluß derselben, sondern lediglich darauf abgesehen, Symptome für den psychologischen Zustand der Staatsangehörigen zu gewinnen, um sie demnächst einer entsprechenden Behandlung zu unterwerfen, so hätte Vergeltung in diesem Bereiche in der That weder Sinn noch Zweck. Aber auch in diesem Falle wäre nicht zu verstehen, daß es jemals eine Vergeltung von Rechtswegen gegeben hat. Die staatliche Vergeltung wird daher dauern, solange das staatliche Recht dauert. Aber [...] sie hat [...] nichts mit den absoluten Theorien zu schaffen. Auch sie ist „Zweckstrafe“ und mißt sich an den Bedingungen ihres Zwecks. Welches immer die Reflexionen gewesen sein mögen, welche die vergeltende Strafe in verschiedenen Zeitaltern im Bewußtsein der Völker ausgelöst hat, das praktische Verhalten der Letzteren entsprach niemals der Lehre, daß das Strafgesetz ein „kategorischer Imperativ“ (Kant) sei. Zu allen Zeiten hat sich das sittliche Gefühl damit zurechtgefunden, wenn unter bestimmten Voraussetzungen an Stelle der proportionalen Vergeltung Nachsicht, Verzeihung, Gnade waltet. In mannigfachen Formen hat das Mitleid auch in dieser Sphäre seine Rolle gespielt und nicht bloß Milderungen der nach dem Gesetze verwirkten und an sich als gerecht betrachteten Strafen, sondern auch gänzlichen Erlaß derselben erzwungen. Das sittliche Volksgefühl ver- [701] trägt sich damit unter analogen Voraussetzungen, wie sie nach religiösen Vorstellungen eine Verzeihung von Sünden zu begründen vermögen, unter Verhältnissen nämlich, wo Reue, freiwillige Genugthuung oder Aussicht auf Besserung im Falle der Gnade sie verträglich machen mit der Geltung der verletzten Gebote und den Zwecken, welchen diese dienen. Und der Erlaß verdienter Strafen fand und findet ferner Beifall mit Rücksicht auf allgemeine Interessen, welche mit den in der verletzten Vorschrift zum Ausdruck gelangten oder mit der unbedingten Geltendmachung der Sanktionen dieser Letzteren unter gegebenen Verhältnissen kollidiren. Jedes Gesetz ist samt seinen Sanktionen ein Ausdruck menschlicher Interessen von relativem Werte, welchem andere Interessen von ähnlichem Werte entgegentreten können, und die Konsequenz in der Anwendung des Gesetzes und seiner Sanktionen, für die Regel durch ihren Zweck gefordert, kann ausnahmsweise zur Untugend und zur Thorheit werden. Dementsprechend hat das Volksgewissen sich wohl nirgends dagegen aufgelehnt, wenn zum Zwecke der Versöhnung von Parteien, zur Befestigung des öffentlichen Friedens oder einer bestimmten Verfassung das Recht der Strafe durch das der Gnade, speziell in Gestalt einer viele Verschuldungen zugleich umfassenden Amnestie verdrängt wurde. Die Bemühungen aber, diese Thatsachen und das Recht der Gnade überhaupt mit jenem kategorischen Imperativ in Einklang zu bringen, lau-
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fen (auch bei Kant) auf wunderliche und leicht zu durchschauende Sophismen hinaus. Wie erklärt sich nun aber diesem Sachverhalte gegenüber das Hervortreten und das zähe, in wechselnden Gestalten sich erhaltende Leben jener absoluten Vergeltungstheorien? Meines Erachtens haben sie eine zwiefache psychologische Wurzel. Die eine liegt in dem früher besprochenen Interesse an einer unseren Wertanschauungen entsprechenden Gegenwirkung gegen gute und böse Thaten, die andere in den ethischen und religiösen Empfindungen und Vorstellungen, welche sich mit der Ausbildung einer obrigkeitlichen Gewalt entwicklungsgeschichtlich verbunden haben. Jenes Interesse wird um seiner ethischen Färbung willen als ein unbedingtes gedeutet und verwandelt sich im Bereiche dogmatischer Philosophie in ein absolutes Vernunftgebot. Nun ergeben sich hier aber Schwierigkeiten, bei deren vermeintlicher Überwindung jene zweite Vorstellungsreihe Dienste leistet. Es ergibt sich nämlich, daß jenes [702] Interesse keineswegs in allen seinen Bethätigungs- und Befriedigungsformen auf Gutheißung innerhalb einer civilisirten Gesellschaft rechnen kann. In gewissen Formen führt es vielmehr zu Kollisionen mit anderen ebenfalls als legitim geltenden Interessen und nach Umständen mit Moralvorschriften und mit dem Strafgesetze. Die christliche Religion verwirft die private Geltendmachung desselben bekanntlich ganz und gar. Hieraus aber folgt, daß diesem Interesse an sich nur ein relativer Wert beigemessen werden kann, und es ist nicht abzusehen, wie dieser Wert durch andere Formen der Bethätigung der Interessen zu einem absoluten werden könne. Wird daher für diese anderen Formen seiner Bethätigung ein unbedingter Wert und eine unbedingte ethische Notwendigkeit behauptet, so kann die Begründung dafür nicht in der Beschaffenheit des Interesses selbst, sondern nur in dem geistigen Zusammenhange gesucht werden, welchem diese besonderen Formen, d.h. die Formen der staatlichen Strafen angehören. Hier nun besteht nur diese Alternative: das Rächeramt der staatlichen Obrigkeit auf einen göttlichen Auftrag zurückzuführen, dem als einem unbedingt verpflichtenden weder das Mitleid, noch irgend welche reale Interessen sich entgegensetzen dürften, oder den Rechtsvorschriften selbst, um deren willen gestraft wird, einen absoluten Wert zuzuerkennen, der sich dann auf die Sanktionen, ohne welche sie nicht zu denken sind, mit erstrecken würde. Beide Annahmen aber gehören dem Bereiche eines wissenschaftlich nicht legitimirbaren Glaubens an. Die erste steht überdies im Widerspruch mit den christlichen Vorstellungen von himmlischer Gerechtigkeit und Gnade [...], die zweite mit unserem Wissen von den Bedingungen, unter welchem Rechtsvorschriften entstehen, ihren Inhalt verändern und untergehen. Im Bereiche der Doktrin aber hat sich die Vergeltungsidee mit den absoluten Strafrechtstheorien in einer Weise associirt, daß die Gegner der Letzteren regelmäßig zugleich jene Idee bekämpfen und mit den Argumenten, welche sie gegen diese Theorien vorbringen, zugleich diese Idee überwunden zu haben meinen, und bezw. daß, was sie gegen die Vergeltung schlechtweg vorbringen, nur einen Sinn hat im Hinblick auf jene Theorien. Als wenn Vergeltung keine Vergeltung wäre, wenn sie nicht auf Grund eines kategorischen Imperativs erfolgt!
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[703] Im vorigen Jahrhundert galt dieser Kampf vor allem der theologisch begründeten absoluten Theorie, oder vielmehr (wenn wir auf die praktische Triebfeder sehen) der Stütze, welche eine den humanen Tendenzen des Zeitalters nicht entsprechende, vielfach barbarische Strafgesetzgebung an ihr fand. Die Theologie ist in dieser Sphäre wie in einigen anderen durch die spekulative Philosophie abgelöst worden, und seitdem schweben bei der Bekämpfung der Vergeltungsidee in der Regel diejenigen Formen derselben vor, in welchen sie bei dieser Philosophie Vertretung gefunden hat. [...] 5. Wir haben gesehen, daß der Vergeltungsgedanke Zweckbeziehungen nicht aus-, sondern einschließt. Die Geschichte des Strafbegriffs ist eine Entfaltung dieses Gedankens, und die Fülle gleichzeitig und nacheinander hervortretender Zweckvorstellungen, die in ihr eine Rolle gespielt haben, sind aus ihm wie eine tausendblätterige Pflanze aus ihrem Keime hervorgewachsen. Die allgemeine Gegenüberstellung von Vergeltungs- und Zweckgedanke hat daher keinen Sinn. Die Vorstellungen, die bei dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegen, enthalten nur eine Verneinung gewisser Elemente des ersteren Gedankens (deren Zweckbeziehungen man nicht wahrzunehmen vermochte) und eine einseitige Betonung des Rests. Verneint wird dabei [...] die Beziehung der Strafe auf die selbständige Bedeutung der verbrecherischen Handlung als einer Verletzung der Rechtsordnung und der von ihr repräsentirten Interessen und Willen, im Unterschiede von derjenigen Bedeutung, welche ihr als einem Anzeichen irgendwie gefährlicher Eigenschaften oder Zustände des Handelnden zukommt. Im [704] bisherigen Rechte aber war die erstere Rücksicht in erster Linie entscheidend: 1. in Bezug auf die Ausdehnung des strafrechtlichen Gebietes, 2. in Bezug auf die Unterscheidung der Deliktsbegriffe und die Abstufungen des Strafmaßes, 3. in Bezug auf die Schranken, welche der obrigkeitlichen Strafgewalt den Einzelnen gegenüber gezogen sind. Ein Richtmaß gaben hierbei überall die im Vorigen erwähnten Wertanschauungen an die Hand, welche vor allem der hier hervorgehobenen Bedeutung rechtswidriger Handlungen entsprechen. Jene zweite Rücksicht (auf die symptomatische Bedeutung der Verbrechen) machte sich dagegen vornehmlich bei der Ausgestaltung der Strafen innerhalb der durch die erstere Rücksicht bestimmten Grenzen geltend, ohne daß die Gesetzgebung jedoch überall die beiden Gesichtspunkte, was die Natur der Sache auch nicht zuläßt, scharf auseinandergehalten hätte. Unter anderem aber findet dieser Sachverhalt einen Ausdruck in der Art, wie die Wirkungssphären der Gerichte und der Verwaltung im Bereiche der Strafrechtspflege gegeneinander abgegrenzt sind, und in der Beschränkung des Einflusses der Strafvollzugsbehörden auf die Dauer, im Gegensatze zu ihrem Einflusse auf eine individualisirende Ausgestaltung der Freiheitsstrafen.
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Suchen wir nun genauer, in Ergänzung des unter 1. Beigebrachten, die Konsequenzen festzustellen, welche sich aus der völligen Verneinung des ersterwähnten Gesichtspunktes in den drei angegebenen Beziehungen ergeben würden. Wenn nämlich damit Ernst gemacht werden sollte! Ich bin mir bewußt, daß zahlreiche Bekenner des neuen Glaubens diese Konsequenzen zu gutem Teile im Ernste nicht ziehen würden. Allein es ist klar, daß dies vielleicht zu ihren Gunsten, aber nicht zugunsten ihres Standpunktes sprechen und für die Würdigung desselben, die uns hier obliegt, nicht entscheidend sein könne. 1. Es bedarf geringen Nachdenkens, um zu erkennen, daß die Abgrenzung der Handlungen, welche mit Strafen verbunden werden sollen, sehr verschieden ausfallen muß, je nachdem wir den ersten oder den zweiten der aufgestellten Gesichtspunkte zum Ausgang nehmen. Machen wir den zweiten, wie die Gegner wollen, zum allbeherrschenden, so ergibt sich im Verhältnis zum geltenden Strafrecht (als in welchem der erste prävalirt) in bestimmten Richtungen eine engere Begrenzung, in anderen eine weitere Ausdehnung des strafrechtlichen Gebietes. [705] a) Eine engere Begrenzung. Eine überaus große Zahl von Übertretungen und Vergehen würde straflos zu lassen sein, weil sie entweder ihrer Art nach oder unter den gegebenen Verhältnissen keinen Beweisgrund dafür enthalten, daß der Handelnde als ein von Staatswegen zu besserndes oder unschädlich zu machendes Individuum anzusehen sei. [...] Sollen diejenigen rechtlichen Gebote, deren Verletzung für eine soziale Gefährlichkeit des Handelnden nicht beweisend ist, ihrer Sanktion beraubt oder, was dasselbe, beseitigt werden? Sollen überhaupt die Strafsanktionen des Rechts, da sie mit dem in Frage stehenden Gesichtspunkte an sich nichts zu thun haben (siehe oben unter 4), als solche entfallen? b) Eine weitere Ausdehnung. Die Gefährlichkeit eines Menschen für die gesellschaftliche Ordnung kann durch mancherlei Umstände beglaubigt werden, welche keinen unserer Deliktsbegriffe als anwendbar erscheinen lassen würden. Möglicherweise eine viel größere Gefährlichkeit, als sie durch Dutzende von Übertretungen bekundet werden würde. [...] Das überlieferte Strafrecht aber setzt, dem Vergeltungsgedanken gemäß, bei seinen Strafdrohungen eine Verschuldung voraus und findet diese weder in bloßen Symptomen einer gefährlichen Gesinnung, noch in dieser Gesinnung selbst begründet. Für das Strafrecht der neuen Schule würde dagegen kein Grund vorliegen, sich in dieser Weise zu beschränken. Es würde vielmehr sich selbst widersprechen, wenn es die gefährlichsten Feinde der bestehenden Ordnung in solange straflos ließe, als die Beweisgründe für ihre Gefährlichkeit nicht die Form eines der bisherigen Deliktsthatbestände annehmen würden, da diese Thatbestände ja vom Standpunkt der Vergeltungsstrafe gebildet sind und mit dem Strafrecht der neuen Horizonte in keinem logischen Zusammenhange stehen. Da es ferner nach diesem überall nicht auf eine Verschuldung ankommen würde, sofern man nicht Gefährlichkeit und Verschuldung als identisch betrachten will [...], so würden die Grundsätze über die Zurechnungsfähigkeit ihre Bedeutung einbüßen und die durch sie bestimmten Grenzen des Strafrechts sich verwischen. Denn die zu Gewaltthaten disponirten Irrsinnigen gehören unzweifelhaft zu den gefährlichsten Individuen. Daher findet sich denn auch bei den konsequenteren
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Vertretern dieses Standpunktes eine „Lossage von der hergebrachten Unterscheidung von Zurechnungsfähigen und Unzurech- [707] nungsfähigen“ (Züricher), und bezw. eine Einreihung der irrsinnigen Übelthäter unter die Verbrecher (Ferri). Auf Willensfreiheit, Verantwortlichkeit, Schuld u.dergl. wird es also in diesem Strafrecht der Zukunft nicht ankommen, der ganze ethische Unterbau, den das heutige besitzt, wird abgetragen werden. Daß dabei Konflikte mit dem moralischen Volksgefühl sich ergeben müßten, kann wohl nicht verkannt werden. Es scheint aber, daß in der Überwindung derartiger Faktoren gerade die eigentümliche Kraft und Größe des modernen Zweckgedankens sich offenbaren soll. 2. Nach dem symptomatischen Gesichtspunkte müßten die Deliktsarten mit Rücksicht auf die verschiedene Art und das verschiedene Maß der Gefährlichkeit des Handelnden und bezw. mit Rücksicht auf die verschiedenen Korrekturmethoden, welche bei ihnen angewendet werden sollen, unterschieden werden. Es ist aber leicht zu erkennen, daß die Abgrenzungen und Unterscheidungen der Deliktsarten in unseren Gesetzen in der Hauptsache nicht nach diesem Gesichtspunkte gemacht sind, und an diesem gemessen nur einen geringen Wert in Anspruch nehmen können. So hat es z.B. diesem gegenüber wenig oder gar keine Bedeutung, ob die Handlung eines Delinquenten die Merkmale eines Diebstahls, oder diejenigen einer Unterschlagung, einer Hehlerei, einer Untreue oder diejenigen einer Erpressung an sich trägt, und die Arbeit unserer Gerichte, welche sich auf Feststellung der Anwendbarkeit des einen oder des anderen dieser Begriffe richtet, würde im ganzen als eine unnütze zu betrachten sein. Vor allem aber würden die gesetzlichen Strafmaße anzufechten sein. Denn diese sind ein Ausdruck für Schuldgrößen im Sinne der bisherigen Rechtsanschauungen [...] und lassen zumeist nur einen geringen oder auch gar keinen Zusammenhang mit der Frage erkennen, durch welche Mittel aus einem sozial gefährlichen Menschen ein ungefährlicher gemacht werden könne. Wenn etwa die vorsätzliche Sachbeschädigung mit Gefängnis bis zu zwei Jahren, der grobe Unfug mit Geldstrafe bis zu 150 Mark u.s.w. bedroht wird, so hat dies wenig mit der Frage zu thun, binnen welcher Zeit Sachbeschädiger oder durch welches Maß erziehlicher Einwirkung Ruhestörer sozial ungefährlich gemacht werden können. Ebenso verhält es sich mit der richterlichen Straffeststellung, die ja nur eine Ergänzung der gesetzgeberischen Arbeit in deren Geist dem einzelnen Falle gegenüber sein soll. [708] Der symptomatische Wert bestimmter Deliktsarten läßt sich in der Weise unserer gesetzlichen Maßbestimmungen überhaupt nicht zum Ausdruck bringen. [...] Und auch die konkrete That, welche dem Richter vorliegt, läßt nur ein sehr unsicheres Urteil über das Maß der Gefährlichkeit des Handelnden und der bei ihm anzuwendenden Korrektionsmittel zu. Also fort mit dem gesetzlichen, fort mit dem richterlichen Strafmaß! So muß hier die Devise lauten. Das ist denn auch von Kräpelin („die Abschaffung des Strafmaßes“) und Anderen anerkannt und mit Entschiedenheit geltend gemacht worden. 3. Die Begrenzung der Strafe nach dem Werte, welchen die Volksanschauungen den verschiedenen verbrecherischen Thaten bezüglich ihrer Bedeutung für die Rechtsordnung beimessen, gehört zu denjenigen Elementen unseres öffentlichen Rechts, welche für den Bestand bürgerlicher Freiheit entscheidend sind. In den
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bezüglichen Maßbestimmungen liegt ein Kompromiß zwischen dem Sicherheitsinteresse der Gesellschaft und dem Freiheitsinteresse ihrer Glieder. [...] Setzen wir dort an die Stelle der Thaten schlechtweg die Personen, von welchen sie ausgehen, mit ihren Eigenschaften und Zuständen, so entfallen die Schranken, welche jene Maßbestimmungen zugunsten des Freiheitsinteresses aufrichten. Es findet nicht etwa eine bloße Verrückung derselben statt. Vielmehr würde es überhaupt unmöglich sein, derartige Schranken von gleicher Erkennbarkeit und Bedeutsamkeit zu schaffen und mit gleichwiegenden Rechtsgarantien zu umgeben. Wohl will H. Seuffert „dem Walten der Strafrechtspflege nach wie vor eine Schranke durch das Gesetz gezogen wissen“, aber er belehrt uns nicht darüber, wie dieselbe im Einklang mit seinem Standpunkte in wirksamer Weise hergestellt werden könne. Die moderne Ausprägung des Zweckgedankens, auf welche er verweist, eröffnet uns hier keinen Weg; und zwar um so weniger, als eine besondere Wertschätzung der Persönlichkeit auch im Verbrecher keineswegs charakteristisch für die neue Bewegung ist. Mag man im übrigen das Interesse der Einzelnen, nicht ohne Not, nicht länger und nicht intensiver als nötig als sozial gefährlich behandelt zu werden, noch so sehr betonen, das- [709] selbe würde bei dem Mangel zuverlässiger objektiver Kriterien für Existenz, Maß und Dauer solcher Gefährlichkeit niemals in dem Maße richterlichem Schutze zugänglich sein, wie dasjenige Interesse, das bisher hier im Vordergrunde stand, das Interesse nämlich, nur im Falle einer Verschuldung, nur in einer dieser Verschuldung (im Sinne der im Gesetze verkörperten Werturteile) entsprechenden Weise und nur auf Grund einer Anwendung gesetzlicher Begriffe auf prozessualisch festgestellte Thatbestände bestraft zu werden. Das spezifisch richterliche Geschäft würde seine Bedeutung einbüßen, der Richter hinter der Verwaltung verschwinden. [...] Dieser Sachverhalt macht sich denn auch in Schriften, welche der charakterisirten Richtung angehören, in verschiedener Weise bemerklich. Hierher gehört eine gewisse Abneigung gegen die Rechtsgarantien, welche das heutige Prozeßrecht den Angeklagten in der oben bezeichneten Richtung darbietet. Sie tritt in Schriften der neuen italienischen Schule deutlich hervor. So bekämpft Ferri die Verzögerung rechtskräftiger Verurteilung durch das Kassationsverfahren, die allgemeine Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, die häufige Befreiung der Angeklagten von der Untersuchungshaft u.s.w. Nach allem ist klar, daß die Bewegung, falls sie durchdringen sollte, eine tiefgehende Veränderung unseres Rechtszustandes begründen und denselben zugleich solcher Bestandteile berauben würde, welche bisher als besonders wertvoll und als eng verknüpft mit den Bedingungen unseres Kulturlebens angesehen wurden. Wie erklärt sie sich aber? Woher dieses Ankämpfen gegen die nach der That bemessene Strafe, dieses Eliminiren des Schuldbegriffs, diese Gleichgiltigkeit gegen die Rechtsstellung des Einzelnen? Und wie erklärt sich die rasche Ausbreitung von Anschauungen, deren Einseitigkeit und deren Mißverhältnis zu dem überlieferten Ethos aller Kulturvölker so leicht erkennbar ist? Versuchen wir es, den geistigen Zusammenhang zu bestimmen, in welchem diese Erscheinungen möglich wurden. [710]
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6. Der Kampf gegen die vergeltende Strafe hängt zusammen mit einer gewissen Verblassung der Vorstellungen, welche sich bisher mit ihr im Bewußtsein der Völker und in den Theorien verbunden und ihr eine höhere Weihe verliehen haben. Vor allem gehören dahin die Vorstellungen von einer ethischen Selbstherrlichkeit des Individuums, von seiner Verantwortlichkeit und deren Voraussetzungen und von Verdienst und Schuld. Alle diejenigen, welche von dieser Verantwortlichkeit nichts wissen wollen und dem Begriffe der Schuld keine Bedeutung bemessen, sind, wie begreiflich, Gegner der Vergeltungsstrafe, und alle, welche sie bekämpfen, bekämpfen in ihr, wie immer sie ihr Verhalten motivieren mögen, eine Form, in welcher die individuelle Verantwortlichkeit einen praktischen und zwar ihren auffälligsten Ausdruck findet. [...] Zweierlei Gedankenbewegungen haben zusammentreffend dieses Ergebnis herbeigeführt, eine antiindividualistische, einseitig soziale und eine materialistische. Zunächst nur ein Wort über die Erstere. Ich denke dabei an alle Theorien und Anschauungsweisen, welche das Individuum lediglich in seiner Abhängigkeit von dem sozialen Medium, in dem es sich entwickelt und lebt, erscheinen lassen. Ihre Ausbreitung ist für unser [711] Jahrhundert charakteristisch. In der Aufklärungszeit steht im allgemeinen die Autonomie des Individuums im Vordergrund der theoretischen Betrachtung. Vernunft und Wille des Einzelnen gelten als die souveränen Bildner von Staat und Gesellschaft. Die Rechtsphilosophie dieses Zeitalters mit ihrer Lehre vom Staatsvertrag, von den Urrechten der Persönlichkeit und von der dem Staate zu stellenden Aufgabe, sich auf die Verwirklichung der gleichen äußeren Freiheit Aller zu beschränken (Kant, der junge Fichte, Wilhelm v. Humboldt) enthält dafür den sprechendsten Ausdruck. Mit ihr harmonirten die Nationalökonomie Adam Smiths, die Ethik Kants und die Ideale unserer klassischen Dichtung. Seit der Restaurationszeit gewinnen, während gleichzeitig die Rechtsphilosophie der Aufklärungszeit in der Ausbildung des liberalen Rechtsstaats Triumphe feiert, allmählich Tendenzen in weiteren Kreisen, zunächst der gelehrten Welt, das Übergewicht, welche das Verhältnis umkehren, und nach welchen das Individuum als ein bloßer Schößling der Gesellschaft anzusehen wäre, oder welche irgendwie auf eine Nullifizirung desselben im Bereiche der ethischen, der sozialen oder der Rechtswelt gerichtet sind. In solchen Tendenzen trafen und treffen Vertreter verschiedenster Wissenschaften und verschiedener Heerlager innerhalb einer jeden derselben zusammen. Sie machen sich u.a. in der Hegelschen Rechtsphilosophie ebenso wie bei der historischen Rechtsschule, der „organischen Staatslehre“, bei denjenigen unserer Ethiker, welche Zwecke der Gesellschaft als die alleinigen Erzeuger des gesamten Ethos betrachten, und bei der Mehrzahl unserer Nationalökonomen und Soziologen und selbstverständlich bei unseren Sozialisten geltend. Nach dem Gesamteindruck, welchen die bezüglichen Theorien hervorbringen, haben wir in der Einzelpersönlichkeit ein Wesen zu sehen, in welchem seine Nation, Rasse und Gesellschaftsklasse denkt und empfindet, und zwar unter dem Einfluß der Existenzbedingungen dieser Einheiten. Mit dieser Grundauffassung
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würde eine Betrachtung der Verbrechen unter dem ausschließlichen Gesichtspunkte eines sozialen Defizits, eines Defizits in den Lebensfunktionen des sozialen Körpers harmoniren. Mit der Verantwortlichkeit des Einzelnen kommen wir dabei naturgemäß ins Gedränge. Ist die Seele des Individuums ein Stoff, den die Gesellschaft zu ihren Zwecken formt, so kann sie dort, wo ihre gestaltende Kraft das Ziel verfehlt, ein mißratenes Gebilde als [712] unbrauchbar verwerfen, aber verantwortlich für seine Mängel kann sie dasselbe ebenso wenig machen, wie der Künstler die Kunstwerke, die seinen Absichten nicht entsprechen. Ist die Moral lediglich ein Produkt sozialer Kräfte, eine Triebkraft, welche die Gesellschaft dem Einzelnen einpflanzt und durch welche er mit seinem Thun und Treiben in Wege und Richtungen gezwungen werden soll, die ihren Interessen entsprechen, so ist das Verdammungsurteil, das sie über den Verbrecher fällt, im Grunde nur ein Urteil über ihre eigenen Leistungen, demjenigen des Mechanikers vergleichbar, der eine Maschine zerstört, weil es ihm nicht gelungen ist, ihr das richtige Räderwerk einzufügen. Mit diesen Folgerungen aber befinden wir uns in dem Mittelpunkt der „neuen Horizonte“ unserer jüngsten Kriminalistenschulen. Denn die Strafe soll ja nach diesen nichts anderes sein, als ein Versuch der Korrektur eines den sozialen Zwecken nicht entsprechend geratenen Individuums und bezw. eine Ausstoßung des diesen Zwecken nicht mehr anzupassenden. In eigentümlicher Form und mit besonderer Schärfe kommt die erwähnte Ansicht vom Verbrechen bei unseren Sozialisten zum Ausdruck. Die Verbrechen sind nach ihnen lediglich eine Konsequenz der bestehenden gesellschaftlichen Organisation, ein Ausdruck ihrer Mängel, ihrer Ungerechtigkeit. Wie andere Ungleichheiten zwischen den Menschen, so sind die zwischen Verbrechern und ehrlichen Leuten lediglich durch diese Organisation hervorgebracht und werden mit ihr schwinden. [...] Individuelle Verschuldung schwindet bei dieser Betrachtung ebenso wie individuelles Verdienst, und nicht die Gesellschaft ist berufen, Anklage zu erheben gegen den Verbrecher, sondern dieser gegen die Gesellschaft. Nicht jener soll ans Kreuz geschlagen werden, sondern diese, die ihn zum Verbrecher gemacht hat. Die Gesamtheit dieser Theorien und der unter ihrer Einwirkung entstandenen Forschungen hat einen wohltätigen Einfluß bisher insofern ausgeübt, als sie das Verantwortlichkeitsgefühl der Gesellschaft [713] dem Verbrechertum gegenüber, ein Verantwortlichkeitsgefühl, das ja zweifellos tief begründet ist, belebt hat. In diesem Punkte berührt sich ihr Einfluß mit demjenigen der Demokratisirung unserer Einrichtungen. Der Umstand, daß das Verbrechen in den Zuständen der unteren Klassen einen günstigeren Nährboden findet, hat dereinst nur dazu beigetragen, das Gefühl von einer auch dem Verbrecher gegenüber bestehenden Verantwortlichkeit zu mindern, da man in ihm den Repräsentanten einer fremden Klasse sah, mit der man sich durch Bande der Solidarität nur in geringem Maße verknüpft fühlte. Heute, wo die Massen auf die Bildung des Gemeinwillens und der öffentlichen Meinung in mannigfacher Weise Einfluß gewonnen haben, und die allgemeine Aufmerksamkeit beständig auf ihre Zustände und deren kausale Verhältnisse zu der gegebenen Organisation der Gesellschaft gerichtet ist, erhöht
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umgekehrt der Zusammenhang des Verbrechertums mit diesen Zuständen jenes soziale Verantwortlichkeitsgefühl. Aber jene theoretische Bewegung zielt über diesen an sich zweifellos erfreulichen Erfolg hinaus auf die völlige Verneinung individueller Verantwortlichkeit und damit auf die Zerstörung der Fundamente nicht bloß unseres Strafrechts, sondern jeder möglichen Rechtsordnung überhaupt. Und darin tritt ihre Einseitigkeit zu Tage. Es ist hier nicht der Ort, die einschlagenden Theorien kritisch zu beleuchten. Ich begnüge mich damit, diese Einseitigkeit im allgemeinen zu bezeichnen. Sie liegt in einer Unterschätzung des Selbstständigkeitstriebes und der eigenen Bedeutung der Einzelpersönlichkeit. Alles Leben und aller Fortschritt der Völker beruht ja im letzten Grunde auf dem Gegeneinanderwirken von Einzelpersönlichkeit und Gesellschaft; darauf, daß das individuelle Bewußtsein nicht lediglich die umgehende soziale Welt, wie der Bach den Wald, der ihn durchfließt, spiegelt, sondern einen eigenen Bildungstrieb, einen selbständigen Quellpunkt geistigen Lebens in sich schließt, in welchem die Gestalten, die uns als Sitte und Recht gegenübertreten, letztlich ihren Ursprung haben. Es sind uns dem Wesen nach keine fremden Gewalten. Die sozialen Imperative würden nie eine Herrschaft über die Einzelpersönlichkeit gewonnen und sich nicht in Imperative ihres eigenen Gewissens verwandelt haben, ohne die Veranlagung zu einem entgegenkommenden Wollen. In dem „ich soll“, wo es als bindend empfunden wird, steckt ein „ich will“, das als eine zarte Pflanze unter der schützenden [714] Hülle jener Imperative zu selbständiger Kraft gedeiht. Daher ist es Geist von unserem Geiste, der uns in den Gesetzen anspricht, uns im richterlichen Urtheil jetzt über einen Gegner siegen und jetzt unterliegen läßt und gegen rechtswidrige Handlung Vergeltung übt. [...] 7. In der Gegenwart berührt sich die einseitig soziale Gedankenrichtung vielfach mit dem Einfluß, welchen die Naturwissenschaften auf das Denken der modernen Gesellschaft ausüben, und mit dem Bestreben, die Ergebnisse anthropologischer Forschung und zugleich eine unter jenem Einfluß sich ausbreitende materialistische Weltansicht für die Geisteswissenschaften und speziell für Ethik und Strafrecht fruchtbar zu machen. So in den Arbeiten der schon erwähnten anthropologischen Kriminalistenschule Italiens, der Schule Lombrosos, und in Arbeiten ihr mehr oder weniger nahe stehender deutscher, französicher und russischer Gelehrten. Erscheint den Sozialisten das Verbrechen als ein soziales Erzeugnis, so diesen Anthropologen als ein Naturprodukt, als eine physiologische begründete Funktion. Nach Lombroso sollten die Verbrecher bekanntlich eine besondere anthropologische Spezies bilden, welche, durch körperliche und geistige, morphologische und funktionelle Eigentümlichkeiten charakterisirt, inmitten der zivilisirten Gesellschaft auf Grund einer Rückschlagsbildung zur Erscheinung gelangt. Diese Ansicht wird zur Zeit freilich nur in Bezug auf einen Theil der Verbrecher, die sogenannten geborenen Verbrecher, aufrecht erhalten, in Bezug auf alle aber werden die Konsequenzen einer materialistisch-deterministischen Auffassung gezogen, in Bezug auf alle wird demgemäß die Ansicht geltend gemacht, daß [715] hinsichtlich ihrer Thaten von Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit im Sinne des gel-
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tenden Strafrechts nicht die Rede sein könne. Die vergeltende Strafe aber wird jener atavistischen Menschenspezies als ein Überbleibsel von ihrer Kultur an die Seite gestellt. Eine Sturzwelle solcher Anschauungen ist von naturwissenschaftlicher Seite her in unser Gebiet hereingefallen, der ohne Zweifel noch andere folgen werden, und hat bereits in beträchtlichem Umfange intellektuelle Verwüstungen angerichtet. Bei nicht Wenigen hat sie das Gerüst umgerissen, an dem das System ihrer ethischen Anschauungen bisher seinen Halt besessen hatte, und sie sind unvermögend, an Stelle desselben, eines Werkes erziehender Kräfte, aus Eigenem ein haltbareres Gerüste inmitten der Flut materialistischer Meinungen aufzurichten. Die Begriffe von Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit, Verdienst und Schuld hatten sich in ihrem Bewußtsein unter dem Einfluß jener Kräfte mit indeterministischen Vorstellungen verknüpft und sind nun mit diesen beim Eindringen der charakterisirten Elemente in ihren Horizont der Auflösung verfallen. Man hatte sie gelehrt, nicht bloß, daß der Mensch die Gebote der Moral und des Rechts, wenn er nur redlich wolle, jederzeit erfüllen könne, sondern auch, daß er diesen redlichen Willen in jedem Momente ebenso gut haben könne wie den entgegengesetzten, und daß die Handlungen daher nach freier Wahl aus der Seele hervorgingen, ohne eine Erklärung nach dem Satze vom zureichenden Grunde alles Geschehenes zuzulassen. Und daß wir eben deshalb für sie verantwortlich seien. Diese Verantwortlichkeit war daher für sie die Folgerung aus einer indeterministischen Prämisse. Obgleich nun diese intellektuell vollkommen wertlos ist, weil unser Intellekt gar nicht imstande ist, sie in Gedanken zu realisiren, und ihre Annahme gleichbedeutend ist mit einem Verzichte auf die Anwendung unserer Denkgesetze dem Bereiche menschlichen Handelns gegenüber, so bildete sie doch den Anker, an dem das Schifflein ihrer ethischen Überzeugungen hing, und jene Welle hat Anker und Schifflein weggerissen. Diese materialistische Gedankenrichtung führt ebenso wie die sozialistische zu einer Verwischung der Wertunterschiede zwischen den Menschen und zwischen ihren Thaten und zu einer Nullifizirung der Einzelpersönlichkeit. [...] [716] [...] Eine humanere Behandlung der Verbrecher wird indessen von Vertretern dieser Richtung in der Regel nicht gefordert, meist vielmehr das Gegenteil. [...] Die Lage des Kriminalisten ist eine schwierige geworden. Er bewegt sich zwischen Scylla und Charybdis, der Vergeltungsstrafe der absoluten Theorien und der indeterministischen Ethik einerseits, der Zweckstrafe der neuen Horizonte und der materialistischen Verneinung menschlicher Verantwortlichkeit andererseits, und der Kompaß, der mitten hindurch zu steuern gestattet, hat sich bisher nur für wenige als praktikabel erwiesen. Derselbe liegt in der Einsicht, daß Determinismus und Verantwortlichkeit sich, richtig verstanden, einander genau so wenig ausschließen, wie Vergeltung und „Zweckstrafe“. [...] Ich habe jene Verträglichkeit von Determinismus und Ver- [717] antwortlichkeit anderwärts nachzuweisen versucht und beabsichtige nicht, an dieser Stelle ausführlicher darauf zurückzukommen. Doch gestatte ich mir einige Bemerkungen über die Lage des Streits. Es ist der Nachweis versucht worden, daß die Voraussetzungen des Indeterminismus sich mit dem Verantwortlichkeitsprinzip nicht
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vertragen (Lehrbuch § 28). Es ist, so viel ich weiß, nirgends versucht worden, das darüber Gesagte zu entkräften. Man ist daran vorbeigegangen. So lange man aber jenes nicht vermag, hat man kein Recht, den Determinismus im Namen dieses Prinzips zu bekämpfen. Die Rollen sind vertauscht, der Erstere befindet sich auf der Anklagebank. Ich habe als die Quelle des Verantwortlichkeitsgefühls zu erweisen versucht einerseits das Bewußtsein eigener Kausalität und andererseits die Werturteile in Bezug auf unsere Handlungen, welche die Gesellschaft ausprägt und in ihren Gegenwirkungen zum Ausdruck bringt und welche die Empfindung des Einzelnen ratihabirt, sowie daß dasselbe seinem Wesen nach auf keine andere Quelle hinweist und von nichts anderem als abhängig erscheint. In die damit eröffnete psychologische Untersuchung ist, soviel ich sehe, keiner der Gegner eingetreten. Man müßte denn die Behauptung dahin rechnen, daß unter den Voraussetzungen des Determinismus von einer Kausalität des menschlichen Willens, ja von einem Willen überhaupt nicht die Rede sein könne! Wenn ein Wille seiner Eigentümlichkeit gemäß wirksam wird und den Verlauf der Dinge in irgend welchem Umfange dieser seiner Eigentümlichkeit gemäß beeinflußt, so daß Elemente dieses Verlaufs ihre Erklärung nur in ihm finden, so ist die Frage, ob er hierbei als eine wirksame Potenz zu betrachten sei, logischerweise nicht danach [718] zu entscheiden, ob er zur selben Zeit auch eine Wirksamkeit entgegengesetzter Art hätte von sich ausgehen lassen können! Daß sich die Wirksamkeit des Einzelnen dem gesetzmäßig verlaufenden Prozeß des Weltlebens einfügt, schließt nicht aus, daß er als einer der Faktoren dieses Prozesses zugleich etwas für sich bedeutet. Es gilt hier analog was bezüglich der Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft. So wenig seine Abhängigkeit von dieser ausschließt, daß er sich zugleich als ein bestimmendes Element ihr gegenüber verhält und in ihren Gesetzen sich selbst wieder zu finden vermag, so wenig schließt seine Abhängigkeit von dem Weltganzen aus, daß er diesem als ein aktives Element angehört und sich in dessen Ordnung, die ja in gewissem Sinne das Werk seines Intellekts ist, wie in einer wahlverwandten Umgebung heimisch und als etwas Selbständiges fühlen könne. Nichts reicht ja tiefer als die Wurzeln seiner psychischen Kraft, und die erscheinende Welt schließt keinen selbständigeren Quellpunkt eigenen Lebens in sich, als seine Seele. Wenn daher das Wesen der Ersteren irgendwo zu intimer Entfaltung gelangt, so ist es in ihr, wo es sich zugleich bespiegelt und kontrolliert. Bei der Frage, ob menschliche Handlungen unter dem sogenannten Kausalgesetz stehen und welche Bedeutung ihrer Bejahung für menschliche Verantwortlichkeit zukomme, spielen immerfort Mißverständnisse dieses Gesetzes und seines Verhältnisses zur Freiheit eine Rolle. Und zwar bei sämtlichen Vertretern beider Heerlager, welche die Unverträglichkeit der Herrschaft dieses Gesetzes mit unserer Verantwortlichkeit annehmen. Es üben hier nämlich beständig die Vorstellungen, die sich auf menschliche und göttliche Gesetze beziehen, einen verwirrenden Einfluß aus. Mit dem Begriff dieser Gesetze ist derjenige des (direkten oder indirekten, absoluten oder relativen) Zwangs verbunden (s. 5). Und diese Verknüpfung überträgt sich auf das Kausalgesetz. Alle Gegner nehmen an, daß die „Herrschaft“ dieses „Gesetzes“ (unglückliche, aber eingebürgerte Bezeichnungsweisen) eine Nötigung des menschlichen Willens involvire und folglich mit dessen Frei-
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heit nicht zusammenbestehen könne. In Wahrheit hat dieses Gesetz begrifflich mit irgend welchen Formen des Zwangs schlechthin nichts zu schaffen. Wir haben es in ihm lediglich mit einer Form des Identitätsurteils zu thun und seine „Herrschaft“ bedeutet nichts, als daß dies eine der Grundformen intellektueller Thätigkeit ist. Der Satz, daß A nicht zugleich sein Gegenteil sein könne, hat zum Korrelate den Satz, daß [719] A unter beliebigen Bedingungen nicht zugleich als A und als sein Gegenteil erscheinen und wirksam werden könne. Oder vielmehr, da wir es in dieser Welt der Erscheinungen nicht mit den Dingen an sich, sondern mit ihrem Erscheinen und Wirken zu thun haben, so bedeuten beide Sätze für unseren Intellekt das Nämliche. So wenig nun die Freiheit einer Persönlichkeit durch die Annahme verneint wird, daß sie nicht zugleich A und das Gegenteil davon sein könne, ebenso wenig durch die Annahme, daß sie sich bestimmten Anreizen zum Handeln gegenüber nicht zugleich als diese Persönlichkeit A und als ihr Gegenteil bethätigen könne. [...] 8. Im Bisherigen sind die negativen Elemente der neuen Bewegungen auf strafrechtlichem Gebiete betrachtet worden, die Mißverständnisse, welche einen beträchtlichen Bestandteil des theoretischen Apparates bilden, der ihnen zur Stütze dient, und das Unreife, das daran hervortritt. Aber es wäre verkehrt, zu meinen, daß mit alledem ihre Bedeutung erschöpfend bestimmt wäre, und zu bestreiten, daß sie mit wirklichen Bedürfnissen des Rechtslebens zusammenhängen und für sie etwas zu leisten versprechen. Bereits haben sie mancherlei Arbeiten zu Tage gefördert, welche diesen Bedürfnissen gegenüber einen Wert in Anspruch nehmen und eine Fülle von Kräften in deren Dienst gezogen. Nur wird sich, wenn diese Kräfte sich in Reformen umgesetzt haben werden, herausstellen, daß das Gute davon auf dem alten Wege [721] einer fortschreitenden Entwicklung liegt, mit den hier bekämpften Meinungen schlechthin nichts zu schaffen hat und sich dem auf jenem Wege Errungenen als ein homogenes Element anschließt. An der Aufgabe, welche der Staatsgewalt in Bezug auf die Strafen gestellt ist, lassen sich dem früher Ausgeführten gemäß zwei Seiten unterscheiden, welche das gleiche Verhältnis zu dem Endzweck aller Rechtspflege: Schutz der Rechtsordnung und der mit ihr verknüpften gesellschaftlichen Interessen haben. Die eine betrifft das gerechte Maß, das in dem Strafrecht der neuen Horizonte keine Rolle mehr spielen soll, seine Bedeutung aber gleichwohl nicht verlieren wird, sowie die gerechte Begrenzung der Straffälle. Es handelt sich darum, den Einklang der Strafmaße und der Grenzen des Strafrechts mit den geltenden ethischen Wertanschauungen, das ist eben ihre Gerechtigkeit, zu wahren und zu vervollständigen, weil es von diesem Einklange abhängt, daß die Wirksamkeit der Strafrechtspflege jenen Endzweck wirklich erfülle. [...] Die zweite Aufgabe betrifft eine fortschreitende Anpassung der Strafen an die besonderen Bedingungen, unter welchen sie bei den verschiedenen Gruppen von Verbrechern sich mit den geringsten Schädlichkeiten verknüpfen und am meisten für die Rechtsordnung leisten. Auch hier handelt es sich um nichts Neues, sondern um Bestrebungen, welche, innerhalb gewisser Grenzen wohl stets vorhanden, seit
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der Aufklärungszeit eine überaus reiche Geschichte haben. Eifrige Vertreter unter Theoretikern und Praktikern haben ihnen seitdem nie gefehlt. Die allgemeine Aufmerksamkeit aber hat sich denselben in sehr ungleichem Maße zugewendet. Die Gesellschaft ruht gern auf ihren wirklichen oder vermeintlichen Lorbeern aus und giebt sich Illusionen in Bezug auf die Bedeutung und Tragweite des von ihr Geleisteten [722] hin. Aus ihnen pflegt sie periodisch in unliebsamer Weise herausgerissen zu werden. Dies gilt auch bezüglich des Kampfes mit dem Verbrechertum. Man hat sich hier derartigen Illusionen namentlich hinsichtlich der Wirksamkeit unserer anscheinend so rationell gestalteten Freiheitsstrafen hingegeben. Die moderne Statistik und einige Schriften (voran die Mittelstädtische „Wider die Freiheitsstrafen“) haben diese Illusionen zerstört. Sie machten die geringe geistige Einwirkung dieser Strafen auf die Sträflinge, und bezw. den geringen Wert dieser Einwirkung, im Zusammenhange mit einem auffälligen Ansteigen der Rückfallsziffern, sowie ein Wachstum der Kriminalität zwar nicht in allen ihren Formen, aber doch in zahlreichen offenbar. [...] Es bedarf hier keiner Ausführung darüber, daß jenes unerfreuliche Wachstum nur in einem sehr beschränkten Maße der Strafrechtspflege zur Last zu legen ist. Dasselbe hängt mit der Entwicklung unserer modernen sozialen Zustände und der Formen des Kampfes ums Dasein innerhalb derselben zusammen, also mit Verhältnissen, die außerhalb des Machtbereichs nicht bloß unserer bisherigen, sondern auch jeder möglichen künftigen Strafrechtspflege liegen. Daher es keinen Sinn hat, um jener Erscheinungen willen über die Letztere den Stab zu brechen. Isolirt vermag die Strafrechtspflege bezüglich der Verringerung jenes Defizits wenig, und auch in inniger Verbindung mit den anderen Zweigen staatlicher Wirksamkeit und reichlicher als bisher durch die Gesellschaft gefördert, würde sie es nicht zum Schwinden bringen, ja ein Wachstum desselben nicht unter allen Verhältnissen verhindern können. Gleichwohl ist ein beständiges Ankämpfen dagegen für den sozialen Organismus von gleicher Bedeutung wie das Ankämpfen eines Individuums gegen eine Krankheit, welche beim Unterlassen zweckmäßiger Gegenwirkungen seinen Organismus baldiger Auflösung zuführen würde. Und die komplizirten Verhältnisse der heutigen Gesellschaft mit den Gefahren, welche sie einschließen, machen es für [723] unsere staatliche und gesellschaftliche Organisation notwendig, ihre Daseinsberechtigung durch gesteigerte Leistungen, wie überhaupt so auch in der Bekämpfung des Verbrechens und der es begünstigenden Faktoren zu erhärten. Insoweit nun unsere neuen Kriminalistenschulen diesen Sachverhalt zur Geltung zu bringen und die Erfüllung der sich darin begründenden Anforderungen durch positive Arbeit zu ermöglichen bemüht sind, wie es thatsächlich ja in weitem Umfange der Fall ist, verdienen sie den Beifall, der ihnen zuteil geworden ist. Und wie der „moderne Zweckgedanke“, der ihre Devise bildet, ein Teilchen alter wissenschaftlicher Einsicht bildet, losgelöst aber aus diesem Zusammenhange und verabsolutirt einen trivialen Irrtum darstellt, so wird ihre Wirksamkeit, insoweit sie mit der in dem Kerne unserer Institutionen verkörperten Weisheit in Harmonie bleibt und nur auf eine fortschreitende Anpassung ihrer Einzelheiten an die erkennbar gewordenen Bedürfnisse gerichtet ist, Nützliches, abgelöst aber von dieser Weisheit und im Widerspruch mit ihr Verkehrtes zu Tage fördern. [...]
Karl Birkmeyer (1847–1920) Schutzstrafe und Vergeltungsstrafe (1906) I. [401] Wir Anhänger der sogen. klassischen Strafrechtsschule wollen durch die Strafe vergelten, d.h. Gleiches mit Gleichem erwidern. Den Verbrecher soll dafür, daß er die Rechtsordnung des Staates durch einen Angriff auf fremde Rechtsgüter gebrochen hat, die Strafe in seinen eigenen Rechtsgütern treffen. Für das Übel, welches er im Verbrechen getan hat, soll ihm wieder ein Übel durch die Strafe zugefügt werden. Poena est malum passionis propter malum actionis. 1. Diesen Charakter als Vergeltung hat der Strafe nach unserer Ansicht ihr geschichtlicher Ursprung aus der Rache […] unauslöschlich aufgeprägt. Auch die Rache war Vergeltung. Aber sie war rohe und ungezügelte subjektive Vergeltung. Sie hat aufgehört, dies zu sein, sobald die Erkenntnis sich Bahn brach, daß das Verbrechen nicht eine Verletzung des einzelnen und seiner Sippe, sondern eine Verletzung des Gemeinwesens und seiner Rechtsordnung sei, sobald infolgedessen der Staat sich der Ver- [402] geltung des Verbrechens bemächtigte. Mit diesem Moment wurde die Rache zur Strafe. Sie blieb ihrem innersten Wesen nach Vergeltung, aber sie wurde jetzt ergriffen von der Grundidee aller staatlichen Tätigkeit auf dem Gebiete des Rechts: von der Idee der Gerechtigkeit. Die ungerechte Vergeltung, als welche uns die Rache sich darstellt, ist in der Strafe zur gerechten Vergeltung geworden. Sie hat als solche mit der einstigen Rache so viel, aber nicht mehr gemein, als etwa die edle Rose mit dem Rosenwildling, der ihr zur Unterlage dient. Das ungefähr meinen wir, wenn wir die Strafe als veredelte Rache bezeichnen. So ist die Strafe aus der Rache entstanden als Vergeltungsstrafe, und nur als solche. Nichts in der Geschichte der Strafe weist auf eine Entwicklung in der Richtung der Schutzstrafe hin, insbesondere auch nicht die Friedloslegung des Verbrechers, welche Liszt dafür zu verwerten suchte. Auch der Friedlosigkeit lag der Gedanke der Vergeltung zugrunde. [...] Denn sie wurzelt in dem Gedanken: „Wer nicht andern das Recht will gönnen, der soll nicht Rechtes genießen.“ Deswegen traf den Friedensbrecher die Friedlosigkeit. 2. Als gerechte Vergeltung hat sich dann die Strafe bis zum heutigen Tage bei allen Völkern weiter entwickelt, wechselnd wohl ihren Inhalt mit dem Wechsel der Auffassung über das, was gerechte Vergeltung sei: von der rein äußerlichen Wiedervergeltung der Talion bis zur Vergeltung mit einer der Schuld proportionalen Strafe: aber unverändert in ihrem innersten Wesen. Und in dieser Fortentwicklung als gerechte Vergeltung hat die Strafe ihre Aufgabe erfolgreich erfüllt. Wohl hat sie das Verbrechen nicht auszurotten vermocht, wie keine Strafe, auch die Schutzstrafe nicht, es je zu tun vermag. Aber sie hat das Verbrechen als Vergeltungsstrafe durch alle Jahrhunderte hindurch so wirksam bekämpft, daß die Staaten dabei blühen und gedeihen konnten, daß insbesondere das Recht sich stetig und ersprießlich weiter zu entwickeln, daß die Bevölkerung in einem Zustand gesicherten Rechtes zu leben und sich zu betätigen vermochte; sie hat mit einem Worte den Staat und seine Rechtsordnung kräftig geschützt. Trotzdem hat in den T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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letzten Dezennien das Verlangen nach einer Umwertung [403] aller Werte auch die Strafe erfaßt. Man hat die Behauptung aufgestellt, daß unser Strafrecht nicht imstande sei, das Verbrechen wirksam zu bekämpfen; und man hat als die Quelle seiner Schwäche bezeichnet seinen Vergeltungsstandpunkt. Man verlangt daher von der bevorstehenden Reform des deutschen Strafrechts, daß sie die Vergeltungsstrafe ersetze durch die Schutzstrafe. 3. Wir Vertreter der klassischen Schule sind der Meinung, daß kein genügender Anlaß vorliege, die Kontinuität der bisherigen Strafrechtsentwicklung zu durchbrechen, das bewährte Vergeltungsstrafrecht aufzugeben und mit der Adoptierung des noch nicht bewährten Schutzstrafrechtes einen Sprung ins Dunkle zu wagen. Wohl verkennen auch wir nicht, daß unser Strafrecht Mängel aufweist, welche eine Revision desselben erheischen. Aber wir glauben, daß diese Revision nicht führen dürfe zu einer Revolution, wie sie die Ersetzung der Vergeltungsstrafe durch die Schutzstrafe mit sich bringen müßte […], sondern nur bestehen soll in einer Reform auf der bisherigen Grundlage. Wir halten an der Vergeltungsstrafe fest und fordern nur eine noch gerechtere Ausgestaltung derselben. Wir halten an ihr fest, nicht nur, weil sie seit Jahrhunderten sich bewährt hat, sondern auch weil sie dem Rechtsbewußtsein des Volkes am besten entspricht und auch dem Rechtsgefühl des Verbrechers selbst entgegenkommt. Mehr noch als auf anderen Rechtsgebieten muß auf dem Strafrechtsgebiet der Gesetzgeber sich im Einklang halten mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes, wenn seine Gesetze ihren Zweck erfüllen sollen. Nun ist einer der mächtigsten Triebe in der Natur des Menschen der Vergeltungstrieb. [...] Er erklärt es, daß unsere ganze Vorstellungsweise, unser weltliches wie unser religiöses Leben, durchsetzt sind von dem Gedanken der Vergeltung. Wie wir für gute Taten Vergeltung in Gestalt des Lohnes für uns und andere hoffen und beanspruchen, und es als Ungerechtigkeit empfinden, wenn er ausbleibt, so haben wir das Bedürfnis, daß böse Taten durch Strafe vergolten werden. Erst dann erscheint uns das Verbrechen der Rechtsordnung gegenüber als gesühnt. Und dies Gefühl wohnt auch im Verbrecher selbst. Ich erinnere an Dostojewskijs Schuld und Sühne. Auch der Verbrecher selbst fühlt, [404] daß ihm sein Recht geschieht, wenn er gestraft wird, weil er an der Rechtsordnung sich vergriffen hat, wogegen er es wohl als eine unnötige und daher ungerechte Härte empfinden würde, wenn man ihm sagte: du wirst gestraft, nicht weil du ein Verbrechen begangen, sondern damit du und andere kein Verbrechen begehen, und so die Rechtsordnung vor weiteren Verbrechen geschützt werde. Der Vergeltungsstrafe kommt auf seiten des Verbrechers selbst Verständnis und Empfänglichkeit entgegen; was könnte es für den Strafgesetzgeber Willkommeneres geben? und wie könnte er es verantworten, wenn er diese Möglichkeit, seine Strafdrohungen an das Vergeltungsbedürfnis des Volkes und das Gerechtigkeitsgefühl des Verbrechers selbst anzuknüpfen, aus der Hand gäbe? 4. Wollen wir aber mit der Strafe vergelten, so müssen wir das Strafrecht auf die Annahme der Willensfreiheit gründen. Es kann keine gerechte Vergeltung geben ohne Schuld und es gibt keine Schuld ohne Willensfreiheit. Wenn der Mensch das Böse, was er will, wollen muß, wenn er nicht anders kann als verbrecherisch wollen und handeln, dann kann von Schuld und damit auch von Vergeltung keine Rede sein. Die Vergeltung durch Strafe setzt voraus die Fähigkeit des zu Bestra-
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fenden, gegenüber den zum Verbrechen verlockenden und den vom Verbrechen abhaltenden Motiven sich frei zu entscheiden, und so zwischen Gut und Böse frei zu wählen. Das ist die Willensfreiheit, wie wir sie verstehen, und ohne sie können wir uns das Vergeltungsstrafrecht wenigstens nicht denken. Es gereicht mir zu nicht geringer Freude, daß ich mich in diesem Punkte mit v. Liszt vollständig einerlei Meinung weiß. Bei Bekämpfung des verstorbenen Adolf Merkel in Straßburg, welcher glaubte, trotz seines Determinismus doch noch Schuld und Vergeltung annehmen zu dürfen, tut Liszt [ZStW 1893, 346] die folgende Äußerung: „Ohne Wahlfreiheit weder Schuld noch Vergeltung. Das unverschuldete Unglück vergelten wollen, ist nicht nur rohe Grausamkeit, sondern es ist abgeschmackt. Die Vergeltung auf deterministischer Grundlage ist nicht nur eine Versündigung des Herzens, sondern auch eine Verirrung des Verstandes.“ [405] Ich könnte meine eigene Ansicht nicht in treffendere Worte kleiden. [...] Das Vergeltungsstrafrecht kann die Annahme der Willensfreiheit nicht entbehren. Der Streit, wie die Freiheit des menschlichen Willens zu denken und wie sie zu begründen sei, kann dabei ganz auf sich beruhen bleiben. Auch wer an die Willensfreiheit nicht glaubt, muß sie doch als Grundlage des Strafrechts, und jedenfalls des Vergeltungsstrafrechts, gelten lassen. [...] Die verzweifelten Versuche unserer Gegner, in erster Linie v. Liszt, den ihnen so unbequemen § 51 des Strafgesetzbuches umzudeuten, müssen an dem klaren Wortlaut des Gesetzes nicht nur, sondern auch an der Unentbehrlichkeit der Willensfreiheit für das Vergeltungsstrafrecht unseres Reichsstrafgesetzbuches scheitern. [...] 5. [...] Die drei Hauptsätze, in welche ich glaube den praktischen Inhalt des Vergeltungsstrafrechtes zusammendrängen zu können, möchte ich Ihnen [...] nennen und kurz beleuchten. Sie lauten: einmal: Keine Strafe ohne Schuld; [406] sodann: Wo genügende Schuld vorliegt, da muß auch gestraft werden; und endlich: Die Strafe muß der Schuld proportional sein. a) Keine Strafe ohne Schuld. Es ist nicht richtig, daß wir Vertreter der klassischen Schule für die Strafe nur die Tat und ihren Erfolg wollen maßgebend sein lassen, wie Liszt uns imputiert. Die Vergeltungsstrafe richtet sich gegen den bösen Willen des Verbrechers, wie er sich in der Tat verkörpert hat. Wir wollen den Verbrecher strafen nicht wie v. Liszt für das, was er ist; wir wollen ihn aber auch nicht strafen für das, was er getan hat; sondern wir wollen ihn strafen für das, was er getan und gewollt hat. Und wo unser geltendes Strafrecht in Abweichung von dieser unserer Forderung auch den nicht gewollten Erfolg der Tat für das Maß der Strafe entscheidend ins Gewicht fallen läßt, da bekämpfen auch wir Anhänger der klassischen Schule dies als „ungerechte Vergeltung“; da verlangen wir eine Verbesserung unseres geltenden Strafrechts auf Grund unseres Satzes: Keine Strafe ohne Schuld. [...] b) Aber wir verlangen auch umgekehrt: wo die vom Gesetz verlangte Schuld, sei das nun Vorsatz oder Fahrlässigkeit, gegeben ist, da muß auch gestraft werden. Daher verlangen wir Bestrafung auch bei solchen Angriffen auf die Rechtsordnung, bei denen von antisozialer Gesinnung keine Rede sein kann, und vor denen
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die Schutzstrafe daher ratlos Halt machen muß. Daher erklären wir uns energisch gegen Liszts Vorschlag, den alten Satz minima non curat praetor in unser Strafrecht oder Strafprozeßrecht wieder aufzunehmen. Daher protestieren wir gegen die sogen. unbestimmte Verurteilung. [...] c) Die Strafe muß der im Verbrechen verkörperten [407] Schuld proportional sein. Damit stellen wir an den Strafgesetzgeber wie an den Strafrichter die Forderung, daß er durch seine Strafdrohung und seinen Strafausspruch das, was der Verbrecher getan und gewollt hat, auch richtig bewerte im Einklang mit den im Volke herrschenden Werturteilen. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe der Festsetzung des Strafmaßes ist groß. [...] Aber es wäre eine verhängnisvolle Selbsttäuschung der Vertreter der Schutzstrafe, wenn sie glaubten, ihrerseits dieser Schwierigkeit entgehen zu können. [...] Auch sie müssen die Brücke schlagen zwischen den beiden heterogenen Begriffen Verbrechen und Strafe. Auch ihr Gesetzgeber, auch ihr Strafrichter muß die Gleichung finden zwischen dem Verbrechen und so und so viel Jahren Zuchthaus, zwischen dem Vergehen und so und so viel Monaten Gefängnis, zwischen der Übertretung und so und so viel Mark Geldstrafe. Und der Maßstab, welchen sie ihm an die Hand geben: die Gesinnung, der Charakter des Verbrechers in ihrer Totalität, wird, verglichen mit unserem Maßstab: der Schuld des Täters bezüglich der einzelnen Tat, die Lösung der Aufgabe nicht erleichtern, sondern nur erschweren, wenn nicht unmöglich machen. [...] 6. Und nun habe ich noch eine Bemerkung zu machen, ehe ich zur Schutzstrafe mich wende. Wir wollen in erster Linie durch die Strafe vergelten. Aber wir sind überzeugt und können diese Überzeugung auf die Erfahrung von Jahrhunderten stützen (vgl. oben unter 2), daß wir durch die Vergeltungsstrafe zugleich die Rechtsordnung und die Gesellschaft am besten schützen. Auch uns also ist – und hier ist Liszt unserem Standpunkt nicht gerecht geworden – die Strafe Schutzstrafe. Sie ist es uns hingesehen auf die Wirkung, die wir uns von ihr versprechen. Wir sind der Meinung, daß nichts besser, als eine nach dem Gedanken der gerechten Vergeltung bemessene Strafe, geeignet ist, den Verbrecher zu bessern, ihn und Dritte von der Begehung weiterer Verbrechen abzuschrecken, die Gesellschaft und ihre Rechtsordnung zu sichern. Wir vertreten m.a.W., im Einklang mit unserem Reichsstrafgesetzbuch, eine sogen. Vereinigungstheorie. [...] [Diese] [408] gibt vom Vergeltungsstandpunkt keine Handbreit auf. Sie hält daran fest, daß die Strafe gerechte Vergeltung sein muß: Sie ist aber der Ansicht, daß von diesem Standpunkt aus auch die gegnerischen Gedanken, soweit sie berechtigt sind, implicite Berücksichtigung erfahren. II. Und nun zur Schutzstrafe, wie sie Liszt vertritt. [...] 1. Der letzte Zweck der Strafe, so sagt v. Liszt, ist der Schutz, die Sicherung der Gesellschaft und ihrer Rechtsordnung durch Bekämpfung des Verbrechens. Wenn wir aber das Verbrechen wirksam bekämpfen wollen, so müssen wir es in seinen Wurzeln und Ursachen bekämpfen. Nun ist das Verbrechen das Produkt aus der Eigenart des Täters im Augenblick der Tat auf der einen Seite und aus den in diesem Augenblick ihn umgebenden äußeren Verhältnissen auf der anderen Seite.
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Die äußeren Verhältnisse zu bekämpfen, welche zum Verbrechen mitwirken, ist, soweit es überhaupt möglich ist, Sache der Sozialpolitik. Die individuellen Faktoren aber des Verbrechens zu bekämpfen, ist die Aufgabe der Kriminalpolitik und der Strafe. „Als Aufgabe der Strafe erscheint daher Schutz der Rechtsordnung durch Bekämpfung des Verbrechens in der Person des Verbrechers.“ Nicht [409] gegen das einzelne Verbrechen hat sich die Strafe zu wenden, sondern gegen den Verbrecher, gegen seine antisoziale Gesinnung, gegen seinen gesellschaftsfeindlichen Charakter, gegen seine verbrecherische Eigenart. Je nach deren Intensität muß die Strafe ihrer Art und ihrem Maß nach bestimmt werden. [...] „Als den tiefsten Gegensatz,“ so sagt er wörtlich [...], „zwischen der alten und der neuen Auffassung kann man es bezeichnen, daß jene den äußeren Erfolg der Tat, diese die innere Gesinnung des Täters als das in erster Linie ausschlaggebende Moment betrachtet.“ Nach ihrer Gesinnung aber gegen die Rechtsordnung betrachtet – so setzt v. Liszt weiter auseinander –, zerfallen die Verbrecher zunächst in zwei großen Klassen, welche er früher [...] als „Gelegenheits-“ und „Gewohnheitsverbrecher“ bezeichnete, während er später die Ausdrücke „Augenblicks-“ und „Zustandsverbrecher“ vorzog [vgl. ZStW 1896, 496]. [...] Die Zustandsverbrecher teilt dann Liszt wieder ein in die besserungsfähigen und in die unverbesserlichen. Bei den ersteren ist noch eine erziehende Umgestaltung des Charakters durch körperliche und geistige Ausbildung, wie durch Gewöhnung an regelmäßige Lebensweise, insbesondere an regelmäßige Arbeit möglich. Bei den Unverbesserlichen dagegen ist der Hang zum Verbrechen nicht nur ein dauernder, sondern zugleich ein unausrottbarer geworden, so daß sie einem erziehenden Einfluß auf ihren Charakter unzugänglich sind. An dieser Dreiteilung der Verbrecher habe die Strafgesetzgebung [410] unmittelbar anzuknüpfen; nicht nach der Einteilung der Verbrechen, sondern nach dieser Einteilung der Verbrecher müsse die Strafe sich richten. Und zwar so, daß der Augenblicksverbrecher durch die Strafe abgeschreckt, der besserungsfähige Zustandsverbrecher durch die Strafe gebessert, der unverbesserliche Zustandsverbrecher durch die Strafe unschädlich gemacht werden soll. So entsprechen der dreifachen Verschiedenheit der Verbrecher nach Liszt drei verschiedene unmittelbare Strafzwecke; und diese Übereinstimmung der beiden Einteilungen, so sagt er [...], galt ihm von jeher als die sicherste Gewähr für die Richtigkeit seiner kriminalpolitischen Grundanschauung. [...] 2. Nach meiner festen Überzeugung ist das undurchführbar und würde, soweit es durchführbar ist, zu schweren Gefahren für die Gerechtigkeit unserer Strafrechtspflege und in letzter Linie zu einer Auflösung des ganzen Strafrechts führen. Dieses Urteil suche ich im folgenden zu begründen: a) Vor allem ist Liszts Schutzstrafsystem ein Torso und wird ein solcher bleiben müssen. Wenn nämlich die Strafe künftig in Art und Maß sich richten soll nach der Intensität der verbrecherischen Gesinnung des Täters, dann genügt es nicht, die Verbrecher je nach ihrer Eigenart in jene drei Klassen einzuteilen, welche v. Liszt auseinanderhält. Dann bedarf es vielmehr einer großen Zahl von Untereinteilungen dieser drei Klassen, um „die sämtlichen Abstufungen der psychischen
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Eigenart des Verbrechers“ [Liszt, ZStW 1896, 997] zu unterscheiden, und damit die Bestimmung des Strafmaßes für das einzelne Verbrechen dem Gesetzgeber und dem Richter zu ermöglichen. v.Liszt erkennt diese Notwendigkeit auch selbst an und hat bereits im Jahre 1896 in seinem Aufsatz über „Die psychologischen Grundlagen der Kriminalpolitik“ [ZStW 1896, 477 ff.] einen interessanten Versuch gemacht, die „unübersehbare Fülle von verschieden gestalteten Eigenarten“ der Verbrecher – wie er sich an anderer Stelle ausdrückt [ZStW 1900, 168] – in bestimmte übersehbare Klassen einzuteilen. Zu diesem Zweck verfuhr er so, daß er zunächst die Verbrechen nach den verschiedenen [411] Triebfedern, aus welchen sie erfahrungsgemäß begangen zu werden pflegen, zu gruppieren suchte in Verbrechen begangen aus Selbstsucht, aus Gewinnsucht, aus Sinnlichkeit, aus Ruhmsucht u.s.w., und von dieser psychologischen Einteilung der Verbrechen aus dann hinüberkommen wollte zu einer psychologischen Einteilung der Verbrecher. Das letztere ist ihm nicht gelungen und konnte nicht gelingen. Es mußte scheitern an der Erkenntnis, daß die nämlichen Triebfedern aus denen die Verbrechen begangen zu werden pflegen, auch zu rechtlich völlig erlaubten, ja zu sozial dankenswerten Handlungen führen können, so daß sie als Kriterien für eine verbrecherische Eigenart nicht verwertet werden können. Liszts eigenem Scharfsinn ist dies nicht entgangen, und so gesteht er in jenem Aufsatz selber zu [..]: „Die kriminalpolitisch verwertbare Einteilung der Verbrecher, zu der wir gelangen wollen und gelangen müssen, deckt sich nicht mit der gewonnenen psychologischen Einteilung der Verbrechen.“ Seitdem ist der Versuch, die erforderliche psychologische Einteilung der Verbrecher zu gewinnen, weder von Liszt erneuert, noch von anderen mit Erfolg unternommen worden. So lange aber die Intensitätsgrade der verbrecherischen Gesinnung nicht gemessen werden können (und das wird nie der Fall sein), kann auch das Maß der Strafe nicht nach der Intensität der verbrecherischen Gesinnung bestimmt werden, und ist daher die Durchführung des Schutzstrafrechts unmöglich. b) Aber auch die Lisztsche Obereinteilung selbst in Augenblicks-, besserungsfähige und unverbesserliche Zustandsverbrecher ist nicht haltbar. Es gibt vor allem keine Augenblicksverbrecher, es gibt keine Verbrecher, deren Eigenart darin bestände, daß sie sich im gegebenen Augenblick zu Verbrechen hinreißen lassen. In den Fällen, wo v. Liszt von solchen gesprochen wissen will, liegt ein in augenblicklicher Erregung oder in Notlage u.s.w. begangenes Verbrechen vor, eine Erscheinung, der ja auch unser geltendes Recht Rechnung trägt durch seine Bestimmungen z.B. über den Provokationstotschlag, über den Mundraub, über den [412] Notstand. Aber nicht liegt vor eine besondere Gattung, eine besondere Eigenart von Verbrechern im Gegensatz zu den Zustandsverbrechern. Das zeigt sich schon darin, daß auch jeder Zustandsverbrecher in jedem gegebenen Moment ein Gelegenheitsverbrechen begehen kann, wie man denn umgekehrt wird annehmen müssen, daß die öftere Begehung von Augenblicksverbrechen einen Zustandverbrecher ausmachen kann. Es gibt aber weiter keine unverbesserlichen Verbrecher. Für uns Indeterministen von vornherein nicht. Wir bekennen uns zu dem humanen Grundsatz: It is never too late to mend. Aber auch unsere Gegner haben sich bis jetzt vergeblich bemüht, den Begriff der Unverbesserlichen einwandsfrei zu bestimmen und dem Gesetz-
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geber die Kriterien anzugeben, an welchen solche zu erkennen seien. Und Liszt selber [ZStW 1883, 39 ff.] wagt es nicht, jemanden als definitiv unverbesserlich zu behandeln. [...] Zwar soll im Urteil Einsperrung auf Lebenszeit ausgesprochen, aber dies Urteil soll alle fünf Jahre nachgeprüft werden, „da mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, daß die Feststellung der Unverbesserlichkeit sich hinterher als irrtümlich herausstellt“. Damit ist in Wahrheit auch der unverbesserliche Verbrecher aufgegeben. Und so bleibt von der Dreiteilung nur die Tatsache übrig, daß viele Verbrecher Verbrechen im Rückfall oder gewerbsmäßig, gewohnheitsmäßig, geschäftsmäßig begehen. Auch dieser Tatsache wird unser geltendes Recht gerecht und wird das künftige deutsche Strafrecht in noch weitergehendem Maße gerecht werden müssen. Aber für eine Einteilung der Verbrecher nach ihrer Eigenart bietet diese Tatsache keine Grundlage. c) In der Tat ist jede Einteilung der Verbrecher nach ihrer Eigenart schon deswegen unmöglich, weil es eine verbrecherische Eigenart überhaupt nicht gibt. Ja, wenn Lombroso recht hätte, wenn es einen geborenen Verbrecher gäbe, den wir an seinen Henkelohren, an seinen Schielaugen, an seiner gewaltigen Kinnlade u.s.w. schon äußerlich als solchen zu erkennen vermöchten, dann könnte von einer verbrecherischen Eigenart gesprochen werden. Aber es gibt keinen anthropologischen Verbrechertypus. [...] Ebensowenig jedoch gibt es einen psychologischen Verbrechertypus. [...] [413] Der Verbrecher ist, wenn er anders geistig gesund ist, ein Mensch wie alle andern Menschen, von derselben physischen und psychischen Beschaffenheit, ausgestattet mit denselben guten und bösen Eigenschaften, handelnd aus denselben Motiven, zu den nämlichen Zwecken. Und wie wir daher annehmen müssen, daß jeder, der ein Verbrechen begangen hat, auch den Weg des Verbrechens wieder verlassen und auf die Bahn des Rechtes zurückkehren kann, so müssen wir auch die Möglichkeit anerkennen, daß jeder Mensch, auch der an sich tugendhafteste, unter gegebenen Umständen eine rechtswidrige Handlung begehen kann. [...] Gibt es aber keine verbrecherische Eigenart, so ist jeder Versuch, die Verbrecher nach ihrer Eigenart einzuteilen, von vornherein verfehlt. d) Gäbe es aber auch eine solche, so würde doch dem Gesetzgeber entschieden widerraten werden müssen, nach ihr Art und Maße der Strafe zu bestimmen. Wenn wir unseren Richtern einigermaßen sichere und vermutlich gerechte Strafurteile ermöglichen wollen, so müssen wir die einzelne Verbrechenstat (und die in ihr verkörperte Schuld) zur Grundlage ihres Urteils machen; denn sie allein ist mit den Sinnen wahrnehmbar, sie allein also können wir durch unsere Beweismittel dem Verbrecher auch beweisen. Erst auf dieser sicheren Grundlage werden wir dann in zweiter Linie auch die ganze Subjektivität des Täters, soweit wir in sie einzudringen vermögen, mitsprechen lassen dürfen. Vom Richter verlangen, daß er über die einzelne Verbrechenstat hinaussehend in erster Linie die ganze Gesinnung, den Gesamtcharakter des Täters seinem Urteil über Art und Maß der Strafe zu Grunde lege, das heißt von ihm in vielen Fällen ganz Unmögliches verlangen. Denn den Verbrecher in solcher Weise auf Herz und Nieren zu prüfen, bei jedem Verbrechen vor allem die Triebfedern bloß zu legen, welche den Verbrecher nicht etwa nur zu diesem Verbrechen geführt haben, sondern seine psychologische
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Eigenart überhaupt enthüllen, dazu versagen die Erkenntnismittel und die Zeit, die unsern Richtern zu Gebote stehen. [...] [414] [...] e) Nur kurz kann ich endlich hinweisen auf die unerträglichen praktischen Konsequenzen und undurchführbaren Forderungen, zu welchen die Gesinnungsstrafe weiter drängt: auf die Forderung einer, ihren neuen Aufgaben entsprechenden, Ausbildung der Kriminalisten, welche v. Liszt in die Worte zusammengefaßt hat [...], sie müßten in den Wissenschaften der Kriminalbiologie und der Kriminalsoziologie geradezu fachmännische Kenntnisse besitzen und mit den Ergebnissen dieser Wissenschaften ebenso vertraut sein, wie mit den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und den Entscheidungen des Reichsgerichts; auf die Notwendigkeit der sogen. unbestimmten Strafurteile, eine Einrichtung, welche v. Liszt für untrennbar erklärt von seiner Gesinnungsstrafe, und von der er doch selbst zugeben muß [vgl. ZStW 1889, 491], daß sie Anspruch auf ernste Erwägung erst von dem Augenblick an habe, in dem es gelingt, die rechte Form zu finden, welche bei der späteren Umwandlung des unbestimmten Strafurteils in ein bestimmtes die bürgerliche Freiheit gegen die Willkür der Verwaltung sichert, – was bis jetzt noch nicht gelungen ist, und wohl auch nie gelingen wird; auf die Forderung, daß Unverbesserliche Zeit ihres Lebens eingesperrt werden, auch wenn sie die leichtesten Delikte begangen haben; auf die Unmöglichkeit, gemeingefährliche Geisteskranke und gemeingefährliche Verbrecher, die Bewahrung der ersteren und die Unschädlichmachung der letzteren begrifflich zu trennen; [...] auf das Ineinanderfließen von Repression und Prävention [...], von Strafrecht und Polizei, da die Strafe selbst nichts weiter als eine Präventiv- und damit eine Polizeimaßregel sein soll; womit wir bereits vor der Auflösung des Strafrechts stehen; und endlich auf die letzte und äußerste Konsequenz der Gesinnungsstrafe, die Ersetzung des ganzen Strafrechts durch den einen Satz: „Der antisozial gesinnte und daher gemeingefährliche Mensch muß unschädlich gemacht werden“, auch dann nämlich, wenn er kein Verbrechen begangen, aber seine antisoziale Gesinnung anderweit betätigt hat. Denn die Gesinnung des Täters soll ja das allein Ausschlaggebende sein, und das Schutzstrafrecht darf daher nicht abwarten, bis die verbrecherische Tat begangen ist, sondern muß einschreiten, sobald die antisoziale Gesinnung irgendwie dokumentiert ist; – ein Ergebnis, welches v. Liszt ausdrücklich als Konsequenz seiner Anschauung zugibt, und dessen Durchführung er lediglich aus Gründen ablehnt, die seiner kriminalpolitischen Grundanschauung fremd sind [vgl. ZStW 1893, 355]. III. [...] [416] [...] Der Unterschied zwischen Schutz- und Vergeltungsstrafe [ist] ein qualitativer von größter Schärfe und Tragweite. Es ist eben etwas total anderes und führt zu total anderen Konsequenzen, die Gesinnung des Täters nur berücksichtigen oder auf ihr das ganze Strafrecht aufbauen wollen.
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Darum halte ich auch das Kompromiß für unmöglich, welches v. Liszt uns Vertretern des Vergeltungsstrafrechtes immer wieder anbietet, und welches noch nicht angenommen zu haben er mir neulich wieder zum bitteren Vorwurf gemacht hat. Dieser Kompromißvorschlag besteht kurz gesagt darin [..], daß v. Liszt die Augenblicksverbrecher dem Vergeltungsstrafrecht überlassen will, wogegen wir für die Zustandsverbrecher das Schutzstrafrecht adoptieren sollen. [...] Die Wissenschaft allerdings kenne keine Kompromisse; aber auf dem Gebiet der Gesetzgebung seien Kompromisse nicht nur möglich, sondern notwendig; denn ohne Kompromisse gebe es überhaupt keinen Fortschritt in der Gesetzgebung. [...] Ich muß Liszts Kompromißvorschlag trotzdem ablehnen. Denn ich frage ihn zunächst: welche Rolle soll unsere wissenschaftliche Überzeugung dabei spielen? Will etwa Liszt den Augenblicksverbrechern gegenüber mit der Vergeltungsstrafe auch deren nach ihm selbst [...] notwendige Voraussetzung, die Willensfreiheit, verteidigen? Kann er die ganz andere wissenschaftliche Auffassung von Verbrechen und Strafe, welche das Bekenntnis zur Schutzstrafe [...] mit sich bringt, den Augenblicksverbrechern gegenüber verleugnen? Kann er die Fehler und Schwächen, welche er der Vergeltungsstrafe vorwirft, den Augenblicksverbrechern gegenüber vergessen? Und umgekehrt: soll etwa ich, der überzeugte Indeterminist, den Zustandsverbrechern [417] gegenüber zum Determinismus mich bekennen? [...] Soll ich die Gesinnungsstrafe, die ich nach meiner besten wissenschaftlichen Einsicht für unmöglich halte, für möglich erklären einem Teil der Verbrecher gegenüber? Dies alles können wir doch beide nicht! Und wenn wir es über uns vermöchten: welche Rolle sollen wir dann dem Gesetzgeber gegenüber spielen? [...] Ich glaube auch wirklich nicht, daß der Gesetzgeber ein Kompromiß zwischen Liszt und mir nötig hat, um zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch zu gelangen. [...] Muß der Gesetzgeber [..] etwa darauf warten, ob ein Kompromiß zwischen den Streitenden zu stande kommt, ehe er den Streit entscheiden kann? Drei Vierteile der Bevölkerung Norwegens haben sich für die Monarchie erklärt, die Monarchie ist gesetzlich sanktioniert worden, und die Republikaner mußten sich fügen. So, denke ich, und nicht anders, wird es auch mit dem Streit der Strafrechtsschulen gehen. In der Zwischenzeit aber, bis die Entscheidung, ob Schutzoder Vergeltungsstrafe, fällt, können wir Vertreter der streitenden Schulen meiner festen Überzeugung nach nichts Besseres tun, als jeder den Standpunkt seiner Schule und die Schwächen und Gefahren des gegnerischen Standpunktes in aller Schärfe und mit allen seinen Konsequenzen dem Gesetzgeber und der Öffentlichkeit gegenüber darzulegen. [...] [418] [...] Auf diesem Wege aber werden wir selbst auch am richtigsten erkennen, nicht nur was uns trennt, sondern auch was uns einigt. Und so möchte auch ich doch zum Schlusse noch die Möglichkeit einer Verständigung ins Auge fassen und dabei zugleich meinem Gegner die Anerkennung zollen, die ihm gebührt. v. Liszt hat sich durch seine Forderung einer schärferen Hervorkehrung der Subjektivität des Verbrechers große Verdienste um das Strafrecht erworben. [...] Auch wir Vertreter des Vergeltungsstrafrechtes können und müssen insoweit von Liszt lernen, als auch wir die Notwendigkeit eines weiteren Ausbaues unseres deutschen Strafrechtes in der Richtung auf eine schärfere Betonung der Subjektivität des Verbrechers als richtig anerkennen. Aber auf der Grundlage des Vergeltungsstrafrechtes.
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Liszts eigentliche und Hauptziele [...] sind auch mit dem Vergeltungsstandpunkt, wenigstens bis zu gewissem Grade, wohl vereinbar: denn die Vergeltung durch die Strafe wird an Gerechtigkeit nur gewinnen, wenn sie auch die Individualität des Verbrechers mehr berücksichtigt, als dies bis jetzt geschehen. So komme denn v. Liszt auf unseren Vergeltungsstandpunkt herüber [...]!, um von ihm aus das, worauf es ihm doch allein ankommt, weiter zu verfolgen. Er befindet sich ja [419] ohnedies schon auf halbem Weg zu uns. Wenn die Strafe unter allen Umständen Vergeltung bedeutet, wie v. Liszt meint, wie kann er durch die Strafe überhaupt etwas anderes anstreben wollen, als Vergeltung? und wer Vergeltung durch die Strafe anstreben will auf einem Teil des Strafrechtsgebietes, wie v. Liszt [..], dem muß es auch möglich sein, sie auf dem übrigen Teil anzustreben. So stelle sich denn Liszt voll und ganz auf den Boden des Vergeltungsstrafrechtes. Dann können wir Vertreter der klassischen Schule wirklich mit ihm Hand in Hand gehen […] in der Verwirklichung seiner Lieblingsideen. Dann können wir auf gemeinsamem Boden gemeinsam arbeiten, wie er es anstrebt. Und ihm bleibt auch dann noch des Ruhmes und des Verdienstes genug!
Gustav Radbruch (1878–1949) Rechtsphilosophie (1932) [262] Soll er strafen, soll er schonen, Muß er Menschen menschlich seh‘n Goethe § 22 Das Strafrecht Die Theorie des Strafrechts unterscheidet herkömmlich Lehren vom Grunde und Lehren vom Zwecke der Strafe. Die Frage nach dem Grunde der Strafe entsprang der ganz bestimmten geschichtlichen Situation einer Zeit, in der dem Einzelnen ein noch nicht auf den Volkswillen gegründeter Staat, an dem er keinerlei tätigen Anteil hatte, fremd gegenüberstand. In dieser Lage bedarf auch die durch den Staatszweck gebotene Strafe noch besonderer Rechtfertigung gegenüber dem Einzelnen; denn, sagt Kant, „der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Andern gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt“ – der Staat ist gegenüber dem Einzelnen schlechtweg „ein Anderer“! Nur auf zweierlei Weise kann bei solcher Auffassung des Staates die staatliche Strafe gerechtfertigt werden: mit dem Nachweis entweder, daß sie vom Verbrecher selbst gewollt oder daß sie von ihm verdient sei. Die erste, die Einwilligungs-Theorie, hat im Sinne der Annahme tatsächlicher Einwilligung des wirklichen Verbrechers in seine Bestrafung Feuerbach in seinen Anfängen vertreten: wer mit Kenntnis des Strafgesetzes – und sie fordert Feuerbach als Voraussetzung der Bestrafung – das Verbrechen dennoch begangen hat, willigt mit dem Bedingten in die Bedingung ein, und es kann ihm die Strafe mit demselben Recht auferlegt werden, mit dem man die Erfüllung eines eingegangenen Vertrages zu fordern berechtigt ist. Diese empiristische Lehre erhält ihre vergeistigtere Gestalt in der Form eines dem Gesellschaftsvertrage ähnlichen, ihm etwa auch als Klausel möglicherweise eingefügten Vertrages, durch den sich der Einzelne für den Fall der Begehung eines Verbrechens im voraus der Strafe unterworfen hat – freilich nicht der wirkliche, sondern der als Vernunftwesen gedachte Einzelne, dem die folge- [263] richtige Hinnahme der Konsequenzen seines Handelns als gewollt angesonnen wird. [...] Der Dieb will durch Verletzung fremden Eigentumes eigenes Eigentum begründen, bejaht also grundsätzlich die Schutzwürdigkeit des Rechtsguts, das er verletzt, und muß folgerichtigerweise auch die zum Schutze dieses Rechtsguts unentbehrliche Bestrafung seines Störers, also seine eigene Bestrafung billigen. Der Urkundenfälscher nimmt für die gefälschte Urkunde den öffentlichen Glauben in Anspruch, den er durch die Fälschung selbst verletzt, bejaht also wiederum mit der Schutzwürdigkeit des Rechtsgutes und den zu seinem Schutz notwendigen rechtlichen Vorschriften auch das Strafgesetz, dem er selbst verfällt. Indem so als vom Täter durch seine Tat gewollt angesehen wird, was er folgerichtigerweise wollen müßte, wird, um mit Hegel zu sprechen, der Verbrecher als ein Vernünftiger geehrt, die Strafe als sein eigenes Recht in seiner Handlung enthalten angesehen. T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Stellt die Einwilligungs-Theorie die individualistische Rechtfertigung der Strafe dar, so beruht die Vergeltungs-Theorie, die Begründung der Strafe darauf, daß sie verdient sei, auf autoritären Gedankengängen – obgleich gerade ihr Hauptvertreter der große Begründer der Autonomie ist: Kant. Kant hat die von individueller Zustimmung und individuellem Interesse unabhängige Rechtfertigung der Strafe durch die Vergeltungstheorie in jenem berühmten Gleichnis zum Ausdruck gebracht: „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z.B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind und die Blutschuld nicht auf dem Volk hafte.“ Ganz unerwartet erscheint hier „das Volk“ nicht als eine Summe der Einzelnen, sondern als Träger eines überindividualistischen Eigenwerts, der die individuellen Interessen der Einzelnen übedauert. Die staatsfremde Rechtfertigung der Strafe gehört in ihren beiden Gestalten der Vergangenheit an. Der auf dem Volkswillen, sei es auf die arithmetische Mehrheit, sei es auf eine andere Art der „Integration“[264] gegründete Staat ist dem Einzelnen gegenüber nicht mehr „ein Anderer“, ist vielmehr „wir alle“. Die Rechtfertigung des so verstandenen Volksstaates schließt die Berechtigung der zu seiner Erhaltung notwendigen Strafe in sich ein. Die Lehre vom Grunde der Strafe geht also auf in der Lehre von der Rechtfertigung des Staats, und übrig bleibt nur die Lehre vom Zweck der Strafe, d.h. von der Notwendigkeit der Strafe für den Staat, oder, genauer gesprochen, für den Staat, die Gesellschaft oder die Rechtsordnung. Diese verschiedenen Möglichkeiten einer Zweckbestimmung der Strafe werden sich von selbst entfalten, wenn wir uns nunmehr anschicken, die Idee der Strafe aus der Rechtsidee und ihrer dreifachen Verzweigung in Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit zu entwickeln. 1. Die Gerechtigkeit bietet zunächst die Gestalt der ausgleichenden Gerechtigkeit dar, um die Strafe auf sie zu gründen. Wie der Ware der Preis, der Arbeit der Lohn, dem Schaden der Ersatz, so würde danach dem Verbrechen die Strafe entsprechen – als Vergeltung. Freilich haben wir die ausgleichende Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit zwischen Gleichgeordneten, in früheren Betrachtungen als die Gerechtigkeit des Privatrechts erkannt. In der Tat führt die Unterstellung der Strafe unter den Maßstab der ausgleichenden Gerechtigkeit auf eine Zeit zurück, in der Strafrecht noch Privatrecht war, in der der Staat an Stelle der dem Verletzten entzogenen Rache die Strafe vornehmlich handhabte, um dem Verletzten Genugtuung zu verschaffen. Aber auch nachdem das Strafrecht als ein vom Staate im eigenen Interesse gehandhabtes öffentliches erkannt ist, ist es nicht sinnlos geworden, sie an der ausgleichenden Gerechtigkeit zu messen; denn es ist das Wesen des Rechtsstaates, daß der übergeordnete Staat sich in mancherlei Beziehungen auf die Ebene der Gleichordnung mit seinen Bürgern begibt: als Fiskus, im Strafprozeß, vor dem Verwaltungsgericht. So ließe sich also die Vergeltungslehre als eine rechtstaatlich-liberale Auffassung des Strafrechts deuten. Mit dieser Auffassung mischte sich freilich – ganz entsprechend der „nationalliberalen“ Konzeption des Bismarckschen Reiches – un- [265] trennbar eine autoritär-überindividualistische
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Auffassung der Vergeltungslehre, etwa in Bindings ganz an dem Gedanken der Autorität orientierter Strafrechtstheorie. Der Gerechtigkeitstheorie treten die Zwecktheorien des Strafrechts gegenüber. Aber auch sie nehmen die Gerechtigkeit für sich in Anspruch – nur nicht die ausgleichende, vielmehr die austeilende Gerechtigkeit. Gerechte Strafe bedeutet für sie nicht dem Verbrechen entsprechende Strafe, sondern Bestrafung des einen im Verhältnis zum andern Verbrecher nach dem Verhältnisse ihrer beiderseitigen Schuld. Während freilich die Vergeltungslehre aus dem Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit restlos entwickelt werden kann, ist der Gedanke der austeilenden Gerechtigkeit nicht hinreichend, um die Zwecktheorien daraus abzuleiten; denn austeilende Gerechtigkeit der Strafe bedeutet zwar, daß gleich Belastete gleich, verschieden Belastete im Verhältnis ihrer Belastung zu bestrafen sind, sie läßt uns aber einesteils im Unklaren darüber, an welchem Maßstabe wir die Gleichheit oder Verschiedenheit ihrer Belastung zu messen haben, ob an der Schuld, an der Gefährlichkeit oder woran sonst, und sie sagt andrerseits nur über das Verhältnis der Strafen zueinander, nicht aber über ihre absolute Höhe und Art, nur über den Platz der Strafen in einem gegebenen Strafensystem, nicht aber über dieses Strafensystem selbst etwas aus, nicht darüber, ob dieses Strafensystem unten mit Kerker und körperlicher Züchtigung beginnen und oben mit grausam verschärften Todesstrafen enden oder unten mit Geldstrafe beginnen und oben mit lebenslänglichem Zuchthaus enden soll. Die Antwort auf diese von der Gerechtigkeitstheorie unbeantwortet gelassenen Fragen kann nur aus dem zweiten Element der Rechtsidee abgeleitet werden, aus der Zweckmäßigkeit. Mit diesem Rückgriff auf Zweck und Zweckmäßigkeit tritt aber die Strafe zugleich aus dem Rahmen der spezifischen Rechtsidee, der Gerechtigkeit, heraus, um Staats- und Gesellschaftszwecken dienstbar zu werden. 2. Noch einmal begegnet uns in diesem Zusammenhange eine rechtsstaatlichliberale Auffassung der Strafe, dieses Mal aber nicht, wie die Vergeltungstheorie, auf die Idee der Gerechtigkeit und des Rechts, sondern auf die Idee der Zweckmäßigkeit und des Staates bezogen: die Abschreckungstheorie in der Gestalt, die Feuerbach ihr gegeben hat. Denn wie in der Strafrechtstheorie der Aufklärungszeit, so wird auch in Feuerbachs Strafrechtsdenken paradoxerweise gerade die Abschreckungs- [266] theorie zu einem Mittel, das Strafrecht an das Gesetz und an den Tatbestand zu binden und die Proportionalität zwischen Verbrechen und Strafe zu gewährleisten, darin den Vergeltungstheorien nahe verwandt. Das bedeutete aber, daß die Abschreckungs- wie die Vergeltungstheorie die Tat vom Täter oder den Täter vom Menschen loslöst. Der dabei zugrunde gelegte strafrechtliche Täterbegriff entspricht dem Personenbegriff des Privatrechts. Wie im überkommenen Privatrecht etwa der Arbeiter der individualitätslose Besitzer seiner Arbeitskraft, der Verkäufer der „Ware Arbeit“ ist, so ist im Vergeltungs- und Abschreckungsstrafrecht der Rechtsbrecher der individualitätslose Täter seiner Tat. Das Strafrechtsverhältnis wird dabei zu einem partiellen Verhältnis, in das nicht der ganze Mensch, sondern nur der Täter dieser Tat eintritt. Wie man nach individualistischer Auffassung des Arbeitsverhältnisses die Ware Arbeitskraft verkauft, so gilt man nach der entsprechenden Strafrechtsauffassung das Verbrechen ab. Gerade in der nur partiellen Natur des Strafrechtsverhältnisses kommt der
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liberale Charakter der Vergeltungs- und Abschreckungstheorie besonders deutlich zum Ausdruck, hat doch der Liberalismus überall die personenrechtlichen Bindungen von Mensch zu Mensch in ihrer Totalität gelockert und durch scharfumrissene Teilbeziehungen ersetzt – im Strafrechtsverhältnis nicht anders als im Arbeitsverhältnis. Der rechtsstaatlich-liberalen Vergeltungs- und Abschreckungstheorie steht die Sicherungs- und Besserungslehre als Theorie des sozialen Strafrechts gegenüber. Dem sozialen Recht ist es ja, wie früher gezeigt wurde, im Gegensatz zum individualistischen Recht eigentümlich, nicht auf das abstrakte und isolierte Individuum, die Person, den Täter zugeschnitten zu sein, sondern auf die konkrete und vergesellschaftete Individualität. Wie das Arbeitsrecht erkannt hat, daß die Arbeitskraft nicht etwas vom Menschen Loslösbares ist, sondern der ganze Mensch, unter einem bestimmten Gesichtspunkte gesehen, so erkennt das soziale Strafrecht, daß das Verbrechen nicht etwas vom Verbrecher Loslösbares ist, sondern wiederum der ganze Mensch unter einem bestimmten Gesichtspunkte. [267] Man hat das neue Strafrecht unter das Schlagwort gebracht: „Nicht die Tat, sondern der Täter“, man sollte sagen: nicht der Täter, sondern der Mensch. Der konkrete Mensch mit seiner psychologischen und seiner soziologischen Eigenart tritt in den Gesichtskreis des Rechts. Der Begriff des Täters löst sich unter dem Gesichtspunkte der Besserungs- und Sicherungstheorie in mannigfache charakterologische und soziologische Typen auf: den Gewohnheitsverbrecher und den Gelegenheitsverbrecher, den Besserungsfähigen und den Unverbesserlichen, den Erwachsenen und den Jugendlichen, den voll und den vermindert Zurechnungsfähigen. So darf sich die neue Strafrechtsschule mit Recht die „soziologische Schule“ nennen, denn sie hat Tatsachen, die bisher nur der Soziologie gehörten, in den juristischen Gesichtskreis gerückt. Freilich hat gleichzeitig die Abschreckungstheorie eine Wiedergeburt erlebt, nicht zwar in ihrer soeben geschilderten rechtsstaatlich-liberalen Gestalt, sondern in überindividualistischer Umbildung: in dem terroristischen Strafrecht des Faschismus. Die dem 1930 erlassenen italienischen Strafgesetzbuch beigegebene Denkschrift ging ganz ausdrücklich aus von der faschistischen Auffassung des Staates als eines Organismus. „Der Staat stellt sich nicht mehr als die arithmetische Summe der Einzelnen dar, welche ihn zusammensetzen, sondern als Ergebnis, Synthese und Zusammenfassung der Individuen, Gruppen und Klassen, welche ihn darstellen, mit eigenem Leben, eigenen Zwecken, eigenen Bedürfnissen und Interessen, die nach Ausdehnung und Dauer das Leben der Individuen, Gruppen und Klassen überschreiten und sich auf alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen ausdehnen.“ Das Strafrecht dieses Staates hatte nicht den Charakter der Verteidigung der Gesellschaft (difesa sociale im Sinne Ferri‘s), sondern der Verteidigung des Staates selbst (difesa propria dello Stato) und sah das Mittel dieser Verteidigung in der Abschreckung und Unschädlichmachung, die sich in überaus zahlreichen Androhungen der Todesstrafe auswirkten. „Der Mensch, mit dem dieser den Übermenschen als Führer voraussetzende Staat rechnet, ist nicht der Schwache, Hilflose, Unterstützungsbedürftige, sondern ebenfalls wieder der Starke; der Verbrecher gilt daher in erster Linie als der aufbegehrende Feind des staatlichen Regimes, demgegenüber Abschreckung und Unschädlich-
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machung die wichtigste Funktion staatlicher Strafgewalt sein müssen“1. [268] Eine Regeneration des terroristischen Strafrechts stellt aber auch das Sowjetstrafrecht dar. Das Sowjet-Strafgesetzbuch von 1926 ist das Strafrecht eines Übergangsstaates, ein seltsames Gemisch aus autoritärem Strafrecht, das der Diktatur der Proletariats entspricht, und aus sozialem Strafrecht, in dem die klassenlose Gesellschaft der Zukunft vorgeahnt und vorweggenommen wird. Der sozialen Strafrechtsauffassung entspricht es, daß sich das Sowjetrecht nach seiner ausdrücklichen Erklärung „Vergeltung und Strafe nicht zur Aufgabe“ macht, der autoritären Auffassung aber, daß neben der Sicherung und Besserung vor allem im Hinblick auf politische Verbrechen die Abschreckung als Strafzweck aufrechterhalten und besonders in der „höchsten Maßnahme des sozialen Schutzes“ verkörpert wird, in der ausgiebig verwandten Todesstrafe. Kennzeichnender noch als die Einmischung autoritärer Strafrechtselemente ist aber im Sowjet-Strafgesetzbuch der vollkommene Verzicht auf rechtsstaatliche Garantien. Vom Gesetze mit Strafe bedrohte Handlungen sind nicht Verbrechen, wenn sie im Einzelfall des gemeingefährlichen Charakters entbehren, nicht mit Strafe bedrohte Handlungen Verbrechen, wenn sie sich als gemeingefährlich darstellen: der Satz „nullum crimen sine lege“ gilt in Sowjetrußland nicht. Sogar dem Grundsatz „cogitationis poenam nemo patitur“ wird Abbruch getan, indem nicht nur Vorbereitungshandlungen allgemein unter Strafe gestellt werden, sondern sogar Personen, die „durch ihre Verbindung mit dem Verbrechermilieu oder durch ihre frühere Tätigkeit eine Gefahr bedeuten“, den Maßnahmen des sozialen Schutzes unterworfen werden. 3. Die folgerichtig durchgeführte Besserungs- und Sicherungstheorie würde in der Tat zu diesen Folgerungen führen, wenn sie nicht durch den dritten Teilgedanken der Rechtsidee abgeschnitten würden, durch den Gedanken der Rechtssicherheit. Es bedeutet eine unleugbare Komplikation der Spezialpräventionstheorie, daß sie nicht in der Lage ist, allein die Gestaltung des Strafrechts zu bestimmen, daß diese vielmehr nur aus dem Zusammenwirken des spezialpräventiven Zweckgedankens mit der Gerechtigkeits- und der Rechtssicherheitsidee gewonnen werden kann. Dieses Zusammenwirken stellt sich zudem mehr als ein Gegeneinanderwirken dar. Das Spannungsverhältnis innerhalb der Rechtsidee wiederholt sich in der Einzelfrage des Strafrechts in besonderer Anschaulichkeit. Bewahrt die Rechtssicherheitsidee den Spezialpräventionsgedanken vor seiner letzten Konsequenz, die Strafe auch auf Vor- [269] bereitungen, Gesinnungen und Gedanken zu erstrecken, so tritt der Gerechtigkeitsgedanke, der in irgendeinem Maße die Gleichbehandlung auch ungleicher Personen und Verhältnisse fordert, der bis ins Letzte durchgeführten Individualisierung entgegen, wie sie sich aus dem spezialpräventiven Zweckgedanken ergeben würde. Gegenüber dieser antinomischen Gestaltung eines auf die Besserungs- und Sicherungsstrafe gegründeten Strafrechts bewährt der Vergeltungsgedanke eine größere methodische Leistungskraft: er dient gleich-
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Eberhard Schmidt, Strafrechtsreform und Kulturkrise (Staat und Recht, Heft 79) 1931, S. 18.
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zeitig der Rechtfertigung der Strafe und ihrer Zweckbestimmung, erfüllt in sich zugleich den Gedanken der Gerechtigkeit und den der Rechtssicherheit. Schließlich stellt sich die im Sinne der Vergeltungsidee gestaltete Rechtseinrichtung auch zweifellos als „Strafe“ dar, während ein folgerichtig im Sinne der Besserungs- und Sicherungstheorie gestaltetes Strafrecht letzten Endes aufhört, „Strafrecht“ zu sein. Hat doch, wie schon der Entwurf Ferri, so das Strafgesetzbuch der Sowjetunion in konsequenter Durchführung der Spezialpräventionslehre den Namen „Strafe“ bereits durch andere Bezeichnungen: „Sanktionen“, „Maßnahmen des sozialen Schutzes“ ersetzt. Es braucht aber kaum betont zu werden, daß der Begriff der Strafe ebensowenig eine für die künftige Gestaltung des bisherigen „Straf“rechts maßgebende Norm und Grenze wie die methodische Bequemlichkeit der Vergeltungstheorie als einer einheitlichen Lösungsmöglichkeit für alle Fragen der Strafrechtstheorie ein Wahrheitskriterium darstellt. Es möchte vielmehr gerade umgekehrt so liegen, daß die Entwicklung des Strafrechts über das Strafrecht einstmals hinwegschreiten und die Verbesserung des Strafrechts nicht in ein besseres Strafrecht ausmünden wird, sondern in ein Besserungs- und Bewahrungsrecht, das besser als Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht wäre. [270] Wer hat dir, Henker, diese Macht über mich gegeben? Gretchen im Kerker § 23 Die Todesstrafe Nur eine überindividualistische Rechtsauffassung kann die Todesstrafe rechtfertigen, nur sie dem Staate überhaupt ein Recht über Leben und Tod zuerkennen. So sagte Bismarck in seiner Rede vom 1. März 1870: „Eine menschliche Kraft, die keine Rechtfertigung von oben in sich spürt, ist zur Führung des Richtschwerts nicht stark genug.“ Daß die Abwendung von einer individualistischen Staatsauffassung den Hintergrund zur Wiedereinführung der Todesstrafe bilde, hat aber insbesondere die Denkschrift zum faschistischen italienischen Strafgesetzbuch von 1930 in Worten zum Ausdruck gebracht, welche die erneuerte Todesstrafe geradezu als einen Triumph dieser Staatsauffassung feiern: „Eine solche Reform stellt ein weiteres glückliches Zeichen des veränderten Geistes der italienischen Nation, der wiedererworbenen Männlichkeit und Tatkraft unseres Volkes, der gänzlichen Befreiung unserer juristischen und politischen Kultur vom Einflusse fremder Ideologien dar, mit denen die Abschaffung der Todesstrafe unmittelbar verbunden ist.“ Als diese Ideologien werden ausdrücklich die „individualistischen Ideen, welche jenseits der Alpen triumphierten“, verstanden, „der Irrtum der Kantischen Behauptung, daß das Individuum als ein Selbstzweck nicht auf die Stufe des Mittels herabgewürdigt werden könne“. „Im Gegenteil ist wahr, daß die Gesellschaft, angesehen als ein Organismus, der die ungezählten Reihen der Generationen in sich faßt, und der Staat, der ihre juristische Organisation ist, eigene Zwecke haben und um dieser willen leben, während das Individuum nichts als ein unendlich kleines und vorübergehendes Element des sozialen Organismus ist, dessen Zwecken es seine Handlungen und sein eigenes Dasein unterordnen muß.“
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Auf der Grundlage der vom faschistischen Italien verdammten individualistischen Ideen war ein Italiener, bisher als ein Ruhm Italiens [271] betrachtet, der erste Gegner der Todesstrafe gewesen: Cesare Beccaria (Dei delitti e delle pene, § 16). Er führte den Beweis für die Unvereinbarkeit der Todesstrafe mit einer individualistischen Staatsauffassung in den Formen der Lehre vom Gesellschaftsvertrage. Die Todesstrafe stehe mit dem Gesellschaftsvertrag in Widerspruch, weil das Leben ein unverzichtbares Rechtsgut, der Selbstmord verwerflich und die selbstmörderische Einwilligung in die Todesstrafe im Gesellschaftsvertrag also wider die guten Sitten und folglich nichtig sei. Diese Argumentation wäre freilich nur dann durchschlagend, wenn die Vertragstheorie die Berechtigung der Todesstrafe davon abhängig machen wollte, daß sie von dem Straffälligen wirklich gewollt wäre, nicht aber, wenn sie in ihrer richtigen rationalen Fassung die Todesstrafe schon dann für berechtigt erklärt, wenn sie sich vom Straffälligen gewollt denken läßt, d.h. wenn er sie vernünftigerweise nicht nicht wollen kann, wenn sie durch sein eigenes wahres Interesse geboten ist. Sobald die Disposition über das eigene Leben nur als ein Bild für das Interesse am eigenen Tode erkannt ist, kann ihre Unzulässigkeit kein Argument mehr bilden, kann die Frage nach der Berechtigung der Todesstrafe nicht mehr lauten: durfte sondern nur: konnte der Straffällige in die Todesstrafe einwilligen? Aber Beccarias Gegner Rousseau begeht genau denselben Denkfehler. Rousseau hält die Einwilligung in die Todesstrafe im Staatsvertrag deshalb für rechtsgültig, weil sie nur eventuell geschieht, nur für den ganz unerwartbaren Fall, daß man einen Mord begehen werde, weil also nicht in den Tod, sondern in die ganz entfernte Gefahr des Todes eingewilligt wird und weil es nicht gegen die guten Sitten sei, sich der Gefahr des Todes zu unterwerfen, um sein Leben zu erhalten; „um nicht das Opfer eines Mörders zu werden, willigt man ein zu sterben, wenn man selbst ein solcher werden sollte. Weit entfernt, über sein eigenes Leben zu verfügen, ist man in diesem Vertrage nur darauf bedacht, es zu beschützen, und es ist nicht zu vermuten, daß irgendeiner der Kontrahenten dabei von vornherein daran denkt, sich hängen zu lassen“ (Contrat Social II, 5). Rousseau gewinnt also die Möglichkeit, eine einwandfreie [272] Einwilligung des Mörders in seinen Tod zu konstruieren, indem er diese eventuelle Einwilligung in einen Zeitpunkt zurückverlegt, in welchem er noch gar nicht damit rechnet, zum Mörder zu werden. Wer sähe nicht, daß Rousseau mit diesem „einmal eingewilligt Haben“ den Staatsvertrag zu einer zeitlich fixierten Tatsache, zu einem geschichtlichen Faktum macht und also in die durch die Eingangsworte des „Contrat Social“ so entschieden abgelehnte historische Fassung der Vertragstheorie unversehens zurückgleitet? Wenn man im Staatsvertrag ein bloß fiktives Bild sieht, muß man ihn sich zeitlos, nicht einmal abgeschlossen, sondern in jedem Augenblicke erneuerbar denken. Ein rechter Staat muß in jedem Augenblick für jeden seiner Vorgänge die Bejahung der Frage gestatten, ob er sich als durch den Vertrag seiner sämtlichen Glieder entstanden denken lasse, also auch in dem Augenblicke, in dem der Mörder den Kopf auf den Block legt. Nur dann wäre also die Todesstrafe der Vertragstheorie gegenüber gerechtfertigt, wenn dargetan werden könnte, daß sogar in diesem Augenblicke die Einwilligung des Straffälligen in seinen Tod fingierbar sei.
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Diesen verzweifelten Nachweis unternimmt in der Tat Kant gegen Beccarias „Sophisterei und Rechtsverdrehung“, indem er mit einem für seine Denkweise charakteristischen Kunstgriffe, was bei Rousseau als ein zeitliches Verhältnis erscheint, als ein transzendentales Verhältnis erfaßt. An die Stelle der angeblich erteilten Einwilligung des Straffälligen in die Todesstrafe tritt das zeitlose Urteil seiner Vernunft über ihre Notwendigkeit. Als Kontrahent des Staatsvertrags ist ja nicht das empirische Individuum mit seinem wirklichen Willen zu denken, – immer wieder wurde ja betont, daß die Vertragstheorie als gewollt nur fingiert, was vernünftigerweise nicht nicht gewollt werden kann – sondern eben die dem empirischen Individuum anzusinnende Vernunft. „Wenn ich also ein Strafgesetz gegen mich als einen Verbrecher abfasse, so ist es in mir die reine rechtlichgesetzgebende Vernunft (homo noumenon), die mich als einen des Verbrechens Fähigen, folglich als eine andere Person (homo phaenomenon), samt allen Übrigen in einem Bürgerverein dem Strafgesetze unterwirft.“ Zwar nicht der empirische Wille, wohl aber „das eigene Urteil des Verbrechers, das man seiner Vernunft notwendig zutrauen muß“, stimmt nun, so meint Kant, der Todesstrafe auch noch im Augenblicke ihres Vollzuges notwendig zu. [273] Aber das Individuum kann auch dann, wenn man es nicht in seiner empirischen Tatsächlichkeit, sondern als Konkretion der Vernunft ins Auge faßt, als der Todesstrafe zustimmend nicht gedacht werden. Für jede Strafe, die dem Bestraften nur das Leben, sei es auch in noch so elender Gestalt, beläßt, könnte der Nachweis der Zustimmung der eigenen Vernunft, des Interesses auch des Straffälligen selbst an seiner Bestrafung grundsätzlich geführt werden: auch die lebenslängliche Zuchthausstrafe läßt dem Bestraften noch immer eine Reihe von Rechtsgütern, die durch seine eigene Bestrafung, durch die damit bewirkte Abschreckung Anderer geschützt werden. Die Todesstrafe aber kann als auch den eigenen Interessen des Verbrechers dienlich in keiner Weise erwiesen werden, da sie ja das Subjekt dieser Interessen vernichtet. Man wird also vom Standpunkt der Vertragstheorie mit Beccaria die Todesstrafe verwerfen müssen, aber nicht, weil der Verbrecher in sie nicht einwilligen darf, sondern weil er in sie mangels jeglichen Eigeninteresses an ihr vernünftigerweise nicht einwilligen kann. Die Todesstrafe ist unvereinbar mit einem Grundgedanken jeglicher individualistischer Staatsauffassung, den Stammler (R.R.208) so formuliert: „Jede rechtliche Anforderung darf nur in dem Sinne bestehen, daß der Verpflichtete sich noch der Nächste sein kann.“ Aber beweist die Vertragstheorie nicht zu viel, spricht sie nicht mit ihrer Argumentation dem Staate jedes Recht ab, von seinen Mitgliedern die Einsetzung ihres Lebens, etwa im Kriege, zu verlangen? Keineswegs! Die Einsetzung, d.h. die Gefährdung des eigenen Lebens kann immer noch als auch im eigenen Interesse des zwar Gefährdeten, aber ja vielleicht Überlebenden gelegen erwiesen werden. Die Aufopferung des Lebens, den sicheren Tod pflegt aber der Staat auch im Kriege grundsätzlich nicht zu verlangen: Freiwillige vor! heißt es in solchen [274] Fällen. Denn die freiwillige Aufopferung des Lebens für eine Idee steht auch mit dem Individualismus nicht in Widerspruch, sie bedeutet Erfüllung des Lebenswertes in der Hingabe des Lebens. Diese Lebenserfüllung durch Lebenshingabe kann sich zwar auch in der Todesstrafe vollziehen, wenn nämlich der Schuldige die Strafe als Sühne in seinen Willen aufgenommen hat. Auch dann aber bleibt der
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begriffliche Unterschied zwischen der auferlegten Todesstrafe und der freiwillig übernommenen Sühne bestehen. Schwerer wiegt ein anderer Einwand gegen die individualistische Argumentation wider die Todesstrafe, den auch Bismarck in jener Rede erhob: die Zulässigkeit der Tötung in der Notwehr. Der Obrigkeit wie dem Einzelnen steht zwecks Prävention gegen einen nicht einmal notwendig mordwilligen Angreifer möglicherweise die Tötung zu – wie sollte sie ihm zur Repression gegen den überführten Mörder versagt sein? Schon Beccaria hat sich diesen Einwand gemacht. Er anerkennt die Zulässigkeit der Tötung Anderer, wenn sie „wirklich das einzige Mittel wäre, um die Anderen von der Begehung von Verbrechen abzuhalten“, und denkt dabei daran, „daß im Falle offenen Aufruhrs, Tumults oder einer Zusammenrottung diese augenblicklich auch durch die Tötung der Aufrührer, die Widerstand leisteten, niedergeworfen werden können“. Er sieht aber in solcher Tötung „die Folge einer wirklichen Kriegserklärung“, die nicht auf das Recht und den Gesellschaftsvertrag begründet werden könne, sondern nur auf die Macht, freilich die gerechte und notwendige Macht. Denken wir seinen Gedankengang in den Formen der Vertragstheorie zu Ende! In der Notwehrlage ist der Gesellschaftsvertrag unfähig, die Rechtsgüter zu schützen, zu deren Schutze er eingegangen ist, weil die durch ihn eingesetzten Organe nicht augenblicklich erreichbar sind. Es tritt deshalb der Naturzustand und mit ihm das Recht der Selbsthilfe wieder in seine Rechte, jedoch im Rahmen des Rechtszustandes und unter Anerkennung seitens der Rechtsordnung. Das Notwehrrecht ist also ein dem Angegriffenen belassenes ursprüngliches Menschenrecht, während das Recht zur Todes- [275] strafe nur als ein erst auf Grund des Staatsvertrages geschaffenes Recht zu denken oder vielmehr auf individualistischer Grundlage nicht zu denken ist. Vor allem anderen aber ist gegen die Argumentation für die Todesstrafe aus dem Notwehrrecht noch ein anderes anzuführen: daß das Notwehrrecht auf die Zurückweisung des Angriffs gerichtet ist, gegebenenfalls auf die Vernichtung der Angriffsfähigkeit, die möglicherweise den Tod des Angreifers zu ihrer tatsächlichen Wirkung hat, aber nicht auf diese Tötung selbst, so daß auch dieses Recht nicht auf Vernichtung, sondern nur auf Gefährdung des Lebens gerichtet ist. Auf seiten des durch Notwehr und des durch Todesstrafe Getöteten drückt sich dieser begriffliche Unterschied in der sehr realen psychischen Tatsache aus, daß jener bis zum letzten Augenblick an die Möglichkeit des Entrinnens geglaubt hat, dieser aber das furchtbare Gefühl der Unentrinnbarkeit eines zeitlich genau bestimmten Todes durchleiden mußte. Diese Ausführungen waren weniger der Frage der Todesstrafe selbst als der Aufgabe gewidmet, zugleich Schwierigkeit und Fruchtbarkeit der Denkform des Gesellschaftsvertrages für eine individualistische Rechtslehre aufzuweisen. Die entscheidenden Argumente gegen die Todesstrafe sind auf höherer und auf tieferer Ebene als in der Rechtsphilosophie zu suchen, einerseits in ethischen und religiösen Argumenten gegen ihre Zulässigkeit, andrerseits in statistischen und psychologischen Erfahrungsbeweisen gegen ihre Notwendigkeit.
Friedrich Schaffstein (1905–2001) Das Verbrechen eine Rechtsgutsverletzung? (1935) Die Abwendung von den abstrakten Allgemeinbegriffen, welche mit Recht als ein wesentliches Kennzeichen der jungen Rechtswissenschaft und zugleich als notwendige Voraussetzung einer nationalsozialistischen Rechtserneuerung angesehen wird, bringt auch den Allgemeinen Teil des Strafrechts und seine Begriffswelt ins Wanken. Dieser Allgemeine Teil verdankt seine Entstehung vornehmlich der deduktiv-rationalistischen Denkweise des Naturrechts und der Aufklärung und wird eben dadurch bereits hinreichend in seinem weltanschaulichen Gehalt charakterisiert. Natürlich gibt es auch in ihm Begriffe, welche ihrem Inhalt nach echte konkrete Situationen erfassen wie etwa Notwehr oder Zurechnungsfähigkeit, und gegen die anzukämpfen kaum Anlaß besteht. Daneben aber stehen die blutleeren Erzeugnisse der Abstraktion, welche wie die Allgemeinbegriffe anderer Rechtsgebiete sich bei näherem Zusehen als Deckmantel für politische Inhalte erweisen, indem sie diesen durch ihre scheinbare Allgemeingültigkeit ewigen Bestand zu verleihen suchen. Zu den Allgemeinbegriffen dieser zweiten Art, deren aufklärerisch-individualistischen Gehalt es zu entlarven gilt, gehört neben dem [...] Begriff „Strafanspruch“ [...] und manchen anderen namentlich auch derjenige Begriff, der seit mehr als einem Jahrhundert den Angelpunkt der gesamten Strafrechtsdogmatik gebildet hat, der Begriff „Rechtsgut“. In allen neueren Strafrechtsdarstellungen steht als unumstößliche Wahrheit zu lesen, der Zweck des Strafrechts sei Rechtsgüterschutz. Unter Rechtsgütern aber seien die rechtlich geschützten Lebensinteressen oder -werte zu verstehen. [...] Zum konstruktiven Gerüst der gesamten Strafrechtsdogmatik wird diese Rechtsgüterschutzthese dann dadurch, daß man aus ihr die materielle Begriffsbestimmung des Verbrechens als Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung abzuleiten pflegt. Die Verschiedenheit der einzelnen Delikte und Deliktsgruppen ergibt sich so vornehmlich aus der Besonderheit des jeweils verletzten Rechtsgutes. Auf diese Weise wurde zunächst der Rechtsgutsbegriff seit mehr als einem Jahrhundert fast ausnahmslos [98] zur Grundlage der gesetzlichen und wissenschaftlichen Systematik des Besonderen Teils des Strafrechts erhoben. Zugleich aber bestimmt er dessen Auslegung. Denn nach der heute herrschenden Auslegungstheorie ist „innerhalb des möglichen Sprachgebrauchs diejenige Auslegung die richtige, welche der spezifischen Rechtsgüterschutzfunktion des jeweiligen Tatbestandes am besten gerecht wird“ (Schwinge). Auf dem Wege über die materielle Rechtswidrigkeitslehre hat ferner der Rechtsgutsbegriff gerade erst im letzten Jahrzehnt auf dem Gebiet der Rechtfertigungsgründe den größten Einfluß ausgeübt. Mezgers Gruppierung aller Rechtfertigungsgründe nach den Prinzipien des mangelnden Interesses und des überwiegenden Interesses, sowie namentlich die Begründung der Unrechtsausschließung durch die „Güterabwägungstheorie“ in den berühmten Reichsgerichtsentscheidungen zum übergesetzlichen Notstand (vgl. besonders RGSt 61, 242ff.) sind Beispiele für diese Entwicklung. Besonders nachdem neuerdings in der Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld die alten formalen Unterscheidungskriterien von „objektiv“ und „subjektiv“ durch materielle T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kriterien, welche hinsichtlich der Rechtswidrigkeit auf der Rechtsgutslehre aufbauen, ersetzt worden sind, wird nunmehr durch den Rechtsgutsbegriff auch die Systematik des Allgemeinen Teils des Strafrechts bestimmt. In dieser beherrschenden Stellung ist die Rechtsgütertheorie heute unangefochten. Auch in den folgenden Ausführungen soll natürlich nicht in Zweifel gezogen werden, daß es eine wesentliche Aufgabe des Strafrechts ist, gewisse für die Gemeinschaft besonders bedeutsame Werte zu schützen. Wohl aber bestreiten wir, daß sich allein durch den Hinweis auf diese Aufgabe Sinn und Wesen des Strafrechts und der einzelnen von ihm geprägten Verbrechenstatbestände ausreichend erfassen lassen. Schon vor mehreren Jahren hat Dahm (MschrKrim 1931, 766) in einer methodologischen Auseinandersetzung mit Schwinge darauf hingewiesen, daß der Rechtsgüterschutz keineswegs das einzige Leitmotiv des Strafgesetzgebers bei der Tatbestandsbildung sei, und er hat als Beispiel den Betrug angeführt, dessen Wesen in der Tat niemals allein durch die Rechtsgutverletzung, die Vermögensbeschädigung, sondern erst durch die sie herbeiführenden Mittel und die dabei vom Täter bewiesene Gesinnung bestimmt wird. Ähnliches gilt für zahlreiche andere Tatbestände. Von einer anderen Seite gesehen, führen offenbar auch die neuerdings so sehr im Vordergrund stehenden Gedanken der Auslese, der „Typensonderung“ und der „Integrationswirkung“ der Strafe das Strafrecht über die bloße Güterschutzfunktion hinaus. Eben deshalb aber legen solche Überlegungen schon prima facie den Verdacht nahe, daß gerade vom Standpunkt des nationalsozialistischen Rechtsdenkens aus jede Verabsolutierung der Rechtsgüterschutzfunktion des Strafrechts in der Systematik und Dogmatik notwendig zu schiefen Ergebnissen führen muß. Um diesem Verdacht nachzugehen und um zugleich die weltanschaulichen Hintergründe der Rechtsgüterlehre freizulegen, ist ein kurzer dogmengeschichtlicher Rückblick notwendig. Dieser zeigt zunächst, daß die Auffassung des Verbrechens als Rechtsgutsverletzung ihrem inneren Gehalt nach nichts [99] weiter darstellt als eine Abwandlung der naturrechtlich-aufklärerischen Auffassung des Verbrechens als Verletzung irgendeines subjektiven Rechtes. Als bekanntestes und charakteristisches Beispiel für diesen ursprünglichen Ausgangspunkt sei nur auf die Lehre Feuerbachs verwiesen. [...] Verbrechen ist danach „eine durch ein Strafgesetz bedrohte, dem Recht eines anderen widersprechende Handlung“. Dieser Lehre Feuerbachs und seiner naturrechtlichen Vorgänger gegenüber wendete der Erfinder des eigentlichen Rechtsgutsbegriffs, Birnbaum, ein, der Verbrecher könne begrifflich gar nicht Rechte, sondern nur die Güter, auf die jene sich beziehen, verletzen. Deshalb sei das Verbrechen nicht als Rechtsverletzung, sondern als Rechtsgutverletzung anzusehen. Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß es sich hier ebenso wie bei dem weiteren Argument, daß der Kreis der strafrechtlichen Rechtsgüter ein weiterer sei als der der privatrechtlich oder öffentlichrechtlich anerkannten subjektiven Rechte, um eine rein begriffslogisch begründete Modifikation handelt, die an dem weltanschaulichen Gehalt der Feuerbachschen Lehre nicht das geringste ändert. Im Gegenteil geht Birnbaum, der selbst auf den Zusammenhang seiner Rechtsgütertheorie mit der Staatsideologie der Aufklärung
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und des Liberalismus das größte Gewicht legt, ausdrücklich davon aus, „daß es zum Wesen der Staatsgewalt gehöre, allen im Staate lebenden Menschen auf gleichmäßige Weise den Genuß gewisser Güter zu gewährleisten, welche den Menschen von der Natur gegeben oder aber das Resultat ihrer gesellschaftlichen Entwicklung und des bürgerlichen Vereines sind“. Es muß mit Nachdruck hervorgehoben werden, daß es sich bei der gesamten nunmehr einsetzenden 100jährigen Auseinandersetzung um den Rechtsguts-, Schutzobjekts- und Interessenbegriff [...] auch weiterhin ausschließlich um die methodische Schwierigkeit gehandelt hat, wie man die ihrer begrifflichen Struktur nach offenbar unterschiedlichen Schutzobjekte der verschiedenen Verbrechenstatbestände auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann. Die hinter der Rechtsgutstheorie stehende Denkweise und deren weltanschauliche Voraussetzungen blieben von diesem – rechtspolitisch stets an der Oberfläche bleibenden – Streit unberührt. Allerdings lehnten einige Hegelianer, so namentlich Köstlin, die Feuerbach-Birnbaumsche Läsionslehre mit triftigen Gründen überhaupt ab, weil sie den Zusammenhang mit der aufklärerischen und relativen Staats- und Strafrechtslehre wohl erkannten. Aber sie blieben ungehört. Vor allem hat auch der Gegensatz von klassischer und „moderner“ Schule, die sich auch hier wieder in weltanschaulicher Hinsicht als zwei verschiedene Schößlinge derselben Wurzel erweisen, die Rechtsgutslehre als solche nicht erschüttert, da die Klassiker die Vergeltung der geschehenen Rechtsgutsverletzung, die „Modernen“ [100] die Verhütung künftiger Rechtsgutsverletzungen auf ihre Fahnen schreiben konnten. Bei Binding liegen in eigenartiger Weise die materiellen Auffassungen des Verbrechens als Normverletzung und damit als Ungehorsam gegen den Staat einerseits und als Rechtsgutsverletzung andererseits wie zwei nur lose miteinander verbundene Schichten übereinander, von denen die eine die konservative, die andere die aufklärerisch-liberale Komponente der klassischen Schule zum Ausdruck bringt. Liszt tadelte zwar treffend „die tumultuarische Aufzählung des Güterkapitals der Rechtsordnung“ durch Binding, welche das Menschenleben, die Ehre, die Übereinstimmung der faktischen Vermögensverhältnisse mit den Vermögensrechten, die kriegerische Stärke Deutschlands, die ungehemmte Entwicklung der strafrechtlichen Strafrechtspflege [sic!], die Echtheit der telegraphischen Depesche usw. mit demselben juristischen Begriff erfaßte und wahllos aneinanderreihte. Aber es ist bekannt, daß gerade Liszt durch die Einführung des Zweckgedankens in das Strafrecht der materiellen Auffassung des Verbrechens als Rechtsgutsverletzung ihre durchschlagende Begründung und zugleich auch diejenige dogmatische Bedeutung auch für den Allgemeinen Teil des Strafrechts gegeben hat, die sie noch heute hat. Bei Liszt, für den Teleologik und Rationalismus ein und dasselbe sind, stellt deshalb über das Methodische hinaus auch in weltanschaulicher Hinsicht die Rechtsgutsverletzungslehre die notwendige Ergänzung zu seiner relativen Straftheorie dar. So nimmt es nicht wunder, daß gerade bei ihm der individualistische und aufklärerische Gehalt des Rechtsgutsbegriffs besonders deutlich hervortritt. So etwa, wenn er ausführt (ZStW 1888, 138, 141, 148): „Er (der Begriff des Rechtsguts) sagt uns: Alles Recht ist der Menschen wegen da. – – – Alles Recht schützt menschliche Lebensinteressen. Das menschliche Dasein also ist das
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Rechtsgut, aus den verschiedenen Gestaltungen dieses Daseins ergibt sich die Entwicklung der Rechtsgüter.“ Das letzte Stadium der Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs [...] wird unter dem Einfluß der neueren teleologisch-wertbeziehenden Methodenlehre durch eine zunehmende Verflüchtigung und Vergeistigung dieses Begriffs gekennzeichnet. Bei Birnbaum und seinen ersten Nachfolgern hatte die Auffassung des Verbrechens als Rechtsgutsverletzung noch einen zwar primitiven, aber jedenfalls handfesten Materialismus widergespiegelt, wie denn auch die bloße Wortzusammensetzung ähnlich wie Liszts Wendung vom „Güterkapital der Rechtsordnung“ andeuten, daß ihren Schöpfern die Vermögensverletzung als Prototyp des Verbrechens überhaupt vorgeschwebt hatte. Jetzt jedoch führt das Bestreben, die methodischen Schwierigkeiten, die jener Auffassung gerade bei den meisten anderen Verbrechen immer wieder entgegentraten, zu überwinden und eben dadurch der Rechtsgutslehre die von ihr beanspruchte Allgemeingültigkeit zu verschaffen, zu einem Höchstmaß von Abstraktion. [...] [101] [...] Aber [...] der weltanschauliche Gehalt der ursprünglichen Rechtsgütertheorie [wird] als selbstverständlich vorausgesetzt. [...] Gerade deshalb [...] erscheint uns die [...] Vergeistigung des Rechtsgutsbegriffs – ein Schulbeispiel für viele ähnliche Fälle – als besonders gefährlich. Denn sie ermöglicht dem Gift der Aufklärungsideologie ein Eindringen in viele Ritzen und Spalten des Strafrechts, die es in einer kompakteren Form nicht hätte erreichen können. Wie zu ihrer Zeit die Rechtsgutslehre selbst die ältere mittelalterliche und gemeinrechtliche Auffassung des Verbrechens als Sünde und Auflehnung gegen die göttlichen Gebote abgelöst und mittels dieser Säkularisierung des Strafrechts auch seine Wendung zum Rationalismus und Individualismus zum Ausdruck gebracht hatte, so ist auch ihr wiederum durch die geistige Revolution unserer Zeit der Boden entzogen. Deshalb kann im nationalsozialistischen Strafrecht die Rechtsgüterschutztheorie die systematischen und methodischen Funktionen nicht mehr erfüllen, welche ihr Aufklärung und Liberalismus in ihrem Strafrecht zuerkannt hatten. Diese Behauptung wird erwiesen durch eine Übersicht über die Konsequenzen der Rechtsgutslehre, welche uns heute als eine fast lückenlose Aufzählung derjenigen Schäden und Mängel erscheinen muß, welche die junge Rechtswissenschaft der wissenschaftlichen Denkweise der vergangenen Epoche vorzuwerfen pflegt. Als besonders charakteristisch für den wissenschaftlichen Individualismus erscheint uns zunächst das „Trennungsdenken“ (E.R. Huber, ZStaW 1934, 8ff.), durch welches Aufklärung und Liberalismus die Einheit des politischen Seins mit ihren echten Gemeinschaften und den ihnen gemäßen konkreten Ordnungen allmählich zerstört haben (E.R. Huber). Im Bereich der Strafrechtswissenschaft aber erweist sich die Rechtsgutslehre als die eigentliche Quelle aller jener Trennungen und Zerreißungen. Ihre rationalistische und utilitaristische Deutung des Verbrechens und der Strafrechtsfunktion geht aus von der obersten Trennung von Recht und Sittlichkeit, von strafrechtlicher und ethischer Wertung. Die Rechtsgutsverletzung (oder -gefährdung) aber ist regelmäßig objektiver Natur, wie es denn auch nach aufklärerischer Auffassung gerade das Wesen des Rechts und sein eigentliches Unterscheidungsmerkmal von der Sittlichkeit ausmacht, daß es nur das äuße-
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re Zusammenleben der Menschen regeln will und deshalb primär an objektive Gegebenheiten anknüpft. Daraus wiederum ergeben sich als Ausfluß jener obersten Trennung die weiteren Trennungen von objektiven und subjektiven Verbrechens- [102] voraussetzungen, von Rechtswidrigkeit und Schuld, von Rechtsnormen und Pflichtnormen, von Bewertungsfunktion und Bestimmungsfunktion des Rechts, Trennungen, welche in der strafrechtsdogmatischen Auseinandersetzung der letzten Jahrzehnte eine so außerordentliche Bedeutung erlangt haben. Demgegenüber ist es von entscheidender Bedeutung, daß das nationalsozialistische Willensstrafrecht die Trennung von strafrechtlicher und sittlicher Bewertung und damit auch alle jene anderen sich daraus ergebenden Bewertungen in Wegfall bringt, indem es „den Willen als den in der Volksmoral wurzelnden tiefsten Grund alles Strafens“ auffaßt. [...] Schon deshalb aber muß sich auch die Rechtsgüterschutztheorie mit allen ihren Anwendungsfällen für die Systematik und Auslegung des nationalsozialistischen Strafrechts als unzulänglich und unbrauchbar erweisen. Um nur zwei Beispiele zu erwähnen: Die Bestrafung auch des ungefährlichen und untauglichen Versuchs (im Sinne des Gegensatzes von subjektiver Theorie [...] und Gefährlichkeitstheorie [...]) als Ausdruck bösen Willens läßt sich materiell weder als eine Rechtsgutsverletzung noch als eine Rechtsgutsgefährdung erklären. Ebenso ließen sich schon bisher die erst in den letzten Jahrzehnten „entdeckten“ subjektiven Unrechtselemente nur zu einem Teil mit der Rechtsgutsverletzungstheorie erfassen, während die Einordnung der übrigen in das bisherige von jenem Trennungsdenken beherrschte System der allgemeinen Verbrechenslehren schlechthin unmöglich war. Ähnliche liberale Zerreißungen finden sich im Gefolge der Rechtsgutstheorie im Besonderen Teil des Strafrechts. Bekanntlich ist auch dessen Systematik auf dem Rechtsgutsbegriff aufgebaut und seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Zweiteilung in Verbrechen gegen Rechtsgüter des einzelnen und in Verbrechen gegen Rechtsgüter der Gesamtheit (des Staates, der Gesellschaft) charakterisiert. [...] [103] [...] Die Aufklärungsideologie mit ihrem Trennungsdenken [ist noch] von einer [anderen] Seite her [...] Ausgangspunkt der Rechtsgutstheorie und der durch sie bedingten Systematik des Besonderen Teils. Sie gründe[t] bewußt auf der Vorstellung einer natürlichen und ursprünglichen Individualsphäre, in der das „Individuum“ von allen gemeinschaftsmäßigen Bindungen frei ist. Erst diese Vorstellung ermöglicht jene Zweiteilung der Rechtsgüterverletzungen mit ihrer für die vergangene Epoche typischen Entgegensetzung von Individuum und Gemeinschaft. Daß dann wieder diese Gemeinschaft unter der individualistisch-kollektivistischen Bezeichnung „Gesellschaft“ oder „Gesamtheit“ erscheint oder gar ihrerseits in Gesamtheit und Staat aufgeteilt wird, rundet das Bild weiter ab. Darüber hinaus zeigt uns aber jene Gruppe der „Verbrechen gegen Rechtsgüter des Staates“ die Verknüpfung der Rechtsgutstheorie mit weiteren Konstruktionen aus dem Begriffsarsenal der liberalen Staats- und Rechtsideologie. Bekanntlich hat diese nicht nur zu der schroffen Entgegensetzung vom öffentlichen Recht und Privatrecht geführt, sondern auch dazu, daß die zunächst am Privatrecht ausgebildeten Rechtsformen und Begriffe allmählich auch in die Sphäre des öffentlichen Rechts und damit auch in die des Strafrechts eindrangen und sie überwucherten.
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Eine Parallele zu diesem an sich paradoxen Vorgang haben wir hier vor uns: Das Rechtsdenken der Aufklärung hat im Besonderen Teil des Strafrechts einerseits zur Zweiteilung in die Verbrechen gegen die Gesamtheit und die Verbrechen gegen den Einzelnen geführt. Andererseits aber hat es wiederum den Rechtsgutsbegriff und die auf ihm aufbauende These, jedes Verbrechen sei seinem materiellen Gehalt nach Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung, im Wege der Abstraktion nur aus jener zweiten Gruppe der Verbrechen gegen das Individuum, insbesondere aus den Vermögensdelikten, gewinnen können. Um dann den so erhaltenen abstrakten Begriff und die Folgerungen, die sich aus ihm ergeben, auch auf die zweite Gruppe, die „Verbrechen gegen die Gesamtheit“, anwenden zu können, mußte man diese mit Hilfe weiterer aufklärerischer Konstruktionsbehelfe dem Verbrechen gegen das Individuum gleichordnen. So steckt hinter der Vorstellung, daß auch der Staat ebenso wie der Einzelne einen Kreis strafrechtlich geschützter Rechtsgüter besitze, die Lehre von der juristischen Staatsperson, deren Unvereinbarkeit mit einer gemeinschaftsmäßigen Denkweise namentlich R. Höhn (Wandlungen des staatsrechtlichen Denkens, 1934) aufgezeigt hat. Ferner stellt der Begriff der Rechtsgüter des Staates einen etwas abgewandelten weiteren strafrechtlichen Anwendungsfall der Lehre von den „subjektiven öffentlichen Rechten des Staates“ dar. Auf die Herkunft dieser Lehre aus der Rechtsstaatsideologie des 19. Jahrhunderts und ihrem liberalistischen Gehalt habe ich bereits bei meiner Kritik des Strafanspruchsbegriffs (DJZ 1934, 1174) hingewiesen. Unter diesen Umständen nimmt es nicht wunder, daß gerade jene „Rechtsgüter des Staates“ und „der Gesamtheit“ weit mehr als die Rechtsgüter des Einzelnen als Ergebnis wirklichkeitsferner Abstraktion und Konstruktion erscheinen. Ein [104] Vergleich der Rechtsgüter Leben, Gesundheit, Ehre, Eigentum, Vermögen einerseits mit den Gütern Verfassung, äußere Sicherheit des Staates, innerer Frieden des Staates, Sicherheit der staatlichen Rechtspflege, Sicherheit des Rechtsverkehrs mit Urkunden usw. andererseits läßt diesen Gradunterschied schon auf den ersten Blick deutlich hervortreten. Indessen darf daraus nicht der Schluß gezogen werden, daß sich die materielle Begriffsbestimmung des Verbrechens als Rechtsgutsverletzung nur bei den Angriffen gegen Staat und Gesellschaft als unbrauchbar erweise. Vielmehr seien in Kürze zwei aktuelle Beispiele dafür angeführt, daß sie auch im Bereich der sogen. Verbrechen gegen Rechtsgüter des Einzelnen als steter Anlaß zu wirklichkeitsentfernenden Verzerrungen und als eigentliches Bollwerk individualistischen Strafrechtsdenkens erscheint. Das eine Beispiel bietet das Verrats- und Treubruchsmoment, dessen strafrechtliche Bedeutung weit über die Fälle von Hochverrat und Landesverrat hinaus wir erst jetzt allmählich zu würdigen beginnen. [...] Bei der Untreue (§ 266 StGB) [hat] die Rechtsgutsverletzungstheorie dazu geführt, dieses Delikt als Verletzung irgendeines obligatorischen Rechtes des Geschäftsherrn auf treue Geschäftsbesorgung zu begreifen und es in die im übrigen recht dürftige Gruppe der Verletzung von Forderungsrechten einzugliedern. Dabei hätte die einfachste Überlegung zu der Einsicht führen müssen, daß doch fast alle anderen wirtschaftlich oft viel bedeutsameren Forderungsrechte als solche keinen strafrechtlichen Schutz genießen und schon deshalb der materielle Gehalt der Untreue niemals durch die völlig
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nebensächliche und gleichgültige Verletzung eines Forderungsrechtes, sondern nur durch den Treubruch selbst bestimmt sein kann. Als zweites Beispiel sei auf die Konsequenzen hingewiesen, die sich aus der weltanschaulichen Wandlung des Eigentumsbegriffs für die sog. Eigentumsdelikte ergeben müssen. Kürzlich hat Wieacker (DJZ 1934, 1446) [...] ausgeführt, wie der individualistische Eigentumsbegriff des § 903 BGB ersetzt worden ist durch die „Vorstellung einer verantwortlichen und sozialrechtlich beschränkten eigenen Sachzuständigkeit des Gemeinschaftsgliedes“, welche wiederum je nach der Eigenart der einzelnen Sachtypen des Lebens teils freier, teils gebundener sei. Die sogen. öffentlich-rechtlichen Beschränkungen des Eigentums sind danach nicht Grenzen, sondern Inhalt des Eigentums. Die Anwendung dieser Veränderung des Begriffsinhalts auf die strafrechtlichen Eigentumsverletzungen läßt diese als unerlaubte Eingriffe in eine von der Gemeinschaft gewährte Zuständigkeit erscheinen, eine Wendung, welche Diebstahl und Unterschlagung bei starker sozialrechtlicher Bindung der gestohlenen Sache in die Nachbarschaft der Amtsanmaßung rückt. Jedenfalls aber zeigt gerade dieses Beispiel, wie die Entgegensetzung von Verbrechen gegen die Gesamtheit und Verbrechen gegen den Einzelnen sinnlos wird, sobald aus dem isolierten Einzelnen das Gemeinschaftsglied, aus dem Individuum der Volksgenosse wird, und seine Rechte und „Rechtsgüter“ einem entsprechenden Bedeutungswandel unterliegen. Darüber hinaus jedoch erhebt sich die Frage, ob der Mißbrauch jener Sachzuständigkeit und die Verletzung der aus ihr erwachsenden Pflichten durch den [105] Eigentümer nicht mit besserem Recht durch den Begriff des Eigentumsdelikts bezeichnet wird als diejenigen Tatbestände, welche man bisher diesem Begriff unterzuordnen pflegt. Hier zeigen sich die Ansatzpunkte, an denen der Aufbau einer vom Gemeinschaftsgedanken ausgehenden, in echtem Sinne sozialistischen Strafrechtsdogmatik und -systematik zu beginnen hat. Sucht man nach einer Gegenüberstellung, welche zugleich jene oben geschilderte, durch die Einheit von rechtlicher und sittlicher Wertung und das „Willensstrafrecht“ bedingte Verlagerung des „Unrechtssubstrats“ in die subjektive Sphäre mit umfaßt, so kann man sagen: Die dogmatische Grundlegung des Strafrechts beruht seit Naturrecht und Aufklärung auf der Auffassung, das Verbrechen sei die Verletzung eines subjektiven Rechts, eine Inhaltsbestimmung, von welcher der Begriff der Rechtsgutverletzung nur eine terminologisch-methodische Abwandlung darstellt. Der Neubau des nationalsozialistischen Strafrechtssystems dagegen hat zum Grundstein die Auffassung des Verbrechens als Pflichtverletzung.
Hans Welzel (1904–1977) Über den substantiellen Begriff des Strafrechts (1944) [226] [...] Bekanntlich ist es die geschichtliche Leistung Kants, daß er gegenüber der herrschenden (vor allem englischen) Moralphilosophie der Aufklärung die sittliche Qualität einer Handlung nicht im Erfolg, nicht in einem irgendwie gearteten Glückszustand als Wirkung der Handlung, sondern in der Willenseinstellung, die in der Handlung zum Ausdruck kommt, erkannt hat. Mag auch in manchen seiner Formulierungen, daß „allein“ der Wille gut sein könne, eine gewisse Einseitigkeit1 stecken, so bleibt es doch unverlier- [227] bar wahr, daß die sittlichen Qualitäten Werte des Willensaktes, nicht Werte des erreichten oder nicht erreichten Erfolges sind, daß die sittlichen Werte Aktwerte, nicht bloße Sachverhaltswerte sind. Die Treue, die jemandem erwiesen wird, die Tapferkeit, mit der sich die Person für ein Ziel einsetzt, bleiben in ihrem Werte ungeschmälert, auch wenn der Einsatz ergebnislos bleibt oder bleiben mußte. Dagegen beurteilt die Erfolgsethik den ethischen Wert der Handlung allein vom Erfolg, vom Glück oder Nutzen aus, den die Handlung hervorbringt oder hervorzubringen in der Lage ist. Nicht der Aktwert, sondern der erreichte Sachverhaltswert entscheidet über die „Güte“ einer Handlung, mag auch nicht jeder Anhänger dieser Lehren so skurril gewesen sein, mit Bentham zu meinen, die Güte einer Handlung nach bestimmten Glücksqualitäten ihres Erfolgssachverhalts mathematisch eindeutig berechnen zu können2. Die Kritik der Erfolgsethik ist im wesentlichen schon von Kant geleistet worden und braucht hier nicht wiederholt zu werden [...] Nicht im erreichten Erfolg, sondern in der Art des Aktes liegt die Güte der Handlung. In den Akten der Opferbereitschaft, Hingabe, Treue, Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit usf. liegt der ethische Wert, gleichgültig, wie hoch der intendierte Sachverhaltswert ist, und gleichgültig, ob er erreicht wird oder erreicht werden konnte. Und doch liegen die Sachverhaltswerte keineswegs ganz außerhalb der ethischen Sphäre. Sie sind vielmehr notwendige Voraussetzung für die Existenz der ethischen Werte. Welchen Sinn hätte die Ehrlichkeit, wenn es den Sachverhaltswert des Eigentums nicht gäbe? Opferbereitschaft, Treue, Hingabe, Tapferkeit usf. setzen voraus, daß das Ziel, für das der Einsatz geleistet wird, für die Gemeinschaft oder den Einzelnen von Wert ist. Aber nicht an diesen Zielen (Gütern oder Sachverhaltswerten) selbst haftet der ethische Wert, sondern an den Akten, in denen der Einsatz für jene geleistet wird. Diese Akte haben ihren sittlichen Wert nicht als bloße Mittel für die Sachverhaltswerte, sondern sie haben in der sie tragenden Gesinnung ihre eigene sittliche Substanz: Trotz Erreichung des Sachverhaltswertes kann die Handlung sittlich wertlos sein, wenn die sie tragende Gesinnung verwerflich war, und umgekehrt kann die Handlung einen hohen sittlichen
1
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Sie hängt mit dem Mangel einer materialen Pflichtenlehre (und der Vernachlässigung der Güterseite) zusammen (s. darüber nächsten Absatz). S. dazu Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, S. 15.
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Einsatz enthalten, auch wenn ihr die Erreichung des Sachverhaltswertes versagt blieb. Wer die Handlung allein vom Sachverhaltswert aus sieht, denkt nur in der Relation Mittel – Zweck; die Handlung kann er nur als taugliches oder als untaugliches Mittel für einen Zweck werten. Zweckgerechtigkeit, Tauglichkeit der Mittel für Zwecke sind die Kategorien dieser Betrachtung. Wer in ethischen Kategorien denkt, findet in der Handlung trotz ihrer [228] wesensmäßigen Bezogenheit auf Sachverhaltswerte unreduzierbare eigenständige Werte jenseits der utilitaristischen Mittel-Zweck-Kategorie. Diese ethische Grundunterscheidung von Sachverhaltswert und Aktwert und die ihnen zugehörigen Denkkategorien haben auch für das Strafrecht grundlegende Bedeutung, mögen sie auch gegenüber der reinen Ethik infolge der Eigenart des Rechts manche Sonderzüge aufweisen. Beide Gesichtspunkte: der des zweckhaften Sachverhaltswertes und der des ethischen Aktwertes sind für die Gestaltung der Gemeinschaft unentbehrlich. Hat die Gemeinschaft ihren Bestand zu sichern und ihre geschichtlich-kulturelle Mission zu erfüllen, so hat sie zunächst die hierfür notwendigen Mittel in der Arbeitskraft ihrer Angehörigen einzusetzen. Insofern sind die Handlungen der Einzelnen für die Gemeinschaftsziele nur Mittel. Und doch sind sie in ihrem eigenständigen sittlichen Aktwert auch für die Gemeinschaft mehr als bloße Mittel. Denn nicht nur besteht die sittliche Höhe der Gemeinschaft (also ein wesentlicher Teil ihrer kulturellen Mission) in nichts anderem als in den aktuellen sittlichen Leistungen ihrer Glieder, sondern auch ihre Kraft und ihr Bestand ruhen letztlich auf der sittlichen Hingabe ihrer Angehörigen. Auch das Strafrecht in dem weitesten Sinne des Rechts der Verbrechensbekämpfung bedarf beider Gestaltungsformen: der vom Sachverhaltswert aus blickenden Zweckmaßnahme und des auf den Aktwert bezogenen Strafrechtssatzes. Der Typ der Zweckmaßnahme tritt am reinsten in den kriminalpolitischen Sicherungsmaßregeln in Erscheinung. Ihr Grund ist nicht die sittliche Verwerflichkeit von Handlungen, sondern die Gefährlichkeit bestimmter Täter im Hinblick auf Rechtsgüter (Sachverhaltswerte). Einen selbständigen Aktunwert setzen sie nicht voraus, und er bleibt, wenn in gewissem Umfange vorhanden, für ihre Verhängung gleichgültig. Sie blicken also ausschließlich von dem zu schützenden Sachverhaltswert aus und sehen in den zu verhindernden Handlungen nur die gefährlichen Mittel, die sich gegen die Sachverhaltswerte richten. Den Typ des Strafrechtssatzes im substantiellen Sinne vertreten die Grundnormen unseres Strafrechts. Ihr zentraler Orientierungspunkt ist der Aktwert, nicht der Sachverhaltswert. Die Rechtsgüterverletzung (der Sachverhaltsunwert) ist nur ein unselbständiges, bedingendes Teilmoment innerhalb des umfassenderen Aktunwertes der Handlung. [...] Materialer Gehalt der Strafrechtssätze ist nicht der bloße Rechtsgüterschutz, sondern die Erhaltung der Aktwerte rechtlicher Gesinnung: der Treue gegenüber dem Reiche, der Wahrhaftigkeit der eidlichen Aussage, der [229] Achtung fremder Persönlichkeit, der Ehrlichkeit, der Redlichkeit usf. Diese Aktwerte sind zwar auf Sachverhaltswerte bezogen und schützen sie daher (sogar stärker als der Güterschutz als solcher es vermöchte), aber die Sicherung ihrer
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Geltung in der Gemeinschaft hat eine eigenständige Bedeutung ganz unabhängig vom Schutz der einzelnen Rechtsgüter. Wir sind uns bewußt, daß wir uns mit dieser Auffassung in Widerspruch zu den überkommenen, scheinbar festgefügten strafrechtlichen Anschauungen setzen. Was scheint sicherer und handgreiflicher zu sein, als daß der materiale Gehalt der Strafrechtsnormen im Güterschutz besteht? So ist es verständlich, daß sich die gedankliche Erfassung des Strafrechts unter der Herrschaft des RStGB. in zunehmendem Maße immer einseitiger auf den Sachverhaltswert (den Rechtsgüterschutz) verlagerte. Seit v.Ihering den Zweck als den Schöpfer des ganzen Rechts gerühmt und seit v.Liszt festgestellt hatte, daß mit dem Rechtsgut der Zweckgedanke seinen Einzug in die Rechtslehre halte, wurde im Rechtsgüterschutz immer stärker der materielle „Zweck“ der Norm, in der Rechtsgüterverletzung der materielle Gehalt des Verbrechens gesehen. Im Sachverhaltsunwert, in der Rechtsgüterverletzung mit der Formel „mehr Schaden als Nutzen“ erfaßte man den materiellen Gehalt der Rechtswidrigkeit. Wäre das richtig, so wäre allerdings auch der Strafrechtssatz eine rein zweckbedingte Norm und ein substantieller Unterschied zur kriminalpolitischen Maßnahme nicht ersichtlich. Und doch ist diese ganze Lehre nur eine voreilige Verallgemeinerung und Absolutierung eines Teilmomentes der Strafnorm. Jener auf den Sachverhaltswert, den Rechtsgüterschutz abstellenden Lehre der materiellen Rechtswidrigkeit setzen wir eine andere Gestalt eben dieser Lehre entgegen: Materieller Gehalt der Strafrechtssätze ist nicht der bloße Rechtsgüterschutz, sondern die Erhaltung der rechtlichen Gesinnungswerte; in ihnen ist der Güterschutz als bedingendes Teilmoment wesensmäßig mitenthalten. Die praktische Bedeutung dieser Lehre sei an folgenden Beispielen aufgezeigt: [...] [230] [...] [Meineid:] Auch wenn die Sache, in der die Beweisaussage abgegeben wurde, geringfügig, ja sogar wenn die Aussage unwichtig ist, muß das Bewußtsein der Beweisperson von ihrer Pflicht, vor Gericht unbedingt die Wahrheit zu sagen, außer jeden Zweifel gestellt werden. Ganz eindeutig zeigt sich hier die eigenständige Bedeutung des Aktwertes rechtlicher Gesinnung gegenüber dem Sachverhaltswert (dem Wert des Aussageinhaltes für das Gericht). [...] [Tötung:] Was kann hinter dem Tötungsverbot anderes stehen als allein der Gedanke des Lebensschutzes? [...] [231] Und doch trifft auch hier das Denken vom bloßen Sachverhaltswert her, der reine Güterschutzgedanke nicht den Kern der Sache. Das zeigt sich klar dann, wenn der Täter einen sozial wertlosen Lebensträger, wie etwa einen zum Tode verurteilten Verbrecher, eigenmächtig tötet. Nur dem Staat kann hier das Recht der Lebensvernichtung zustehen; der Gedanke der erlaubten Lynchjustiz oder gar der der Privatrache bliebe uns ebenso unerträglich wie im höchsten Maße gefährlich. [...] Doch warum liegt trotz der sozialen Wertlosigkeit des Tatobjekts Mord oder Totschlag vor?: Weil hinter dem Tötungsverbot nicht der nackte Güterschutzgedanke, der reine Zweck, sondern die Aufrechterhaltung eines Aktwertes, nämlich der Achtung vor fremdem Leben steht. Auch dieser Aktwert ist wesensmäßig bezogen auf Sachverhaltswerte (eben das Leben anderer), aber ihnen gegenüber doch von eigenem Gewicht. Nur dadurch, daß man
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seine eigenständige Bedeutung einsetzt, gewährleistet man den Rechtsgüterschutz tiefer und stärker, als es der Güterschutzgedanke allein vermag. [...] Hinter den Normen des Strafrechts stehen als ihr materialer Gehalt die Aktwerte rechtlicher Gesinnung: die Treue gegenüber Volk, Reich, Führung, der Gehorsam gegenüber der Staatsgewalt, die Wehrbereitschaft, die Wahrhaftigkeit der eidlichen Aussage, die geschlechtliche Zucht, die Achtung vor dem Leben, der Gesundheit, der Freiheit und der Ehre anderer, die Ehrlichkeit gegenüber fremdem Eigentum, die Redlichkeit im Vermögensverkehr usf. Zwar kann das Strafrecht sie selbst unmittelbar nicht durch seinen Zwang verwirklichen, wohl aber sichert es ihre reale Geltung in der Gemeinschaft mittelbar dadurch, daß es den Abfall von ihnen in den wirklichen treubrüchigen, meineidigen, zuchtlosen, unehrlichen Handlungen bestraft. Indem es den Meineid und die uneidliche falsche Aussage ohne Rücksicht auf die Bedeutung des Aussageinhalts bestraft, hält es die uneingeschränkte Geltung des Aktwertes der Wahrhaftigkeit der Beweisaussage vor Gericht aufrecht. Der Abstand zur reinen Ethik bleibt darum nach zwei Richtungen unangetastet: es bleibt erstens dabei, daß das Strafrecht nur gegen die wirkliche treubrüchige, meineidige, zuchtlose, unehrliche Tat einschreiten kann, aber indem es das tut, sichert es die Geltung der Aktwerte rechtlicher Gesinnung, die durch die Tat verletzt sind. Und diese Gesinnungswerte sind zweitens Werte rechtlicher, die Legalität mitumspannender Art. Die Moralität im engsten Sinne, das Handeln [232] rein um der Pflicht willen, muß notwendig der Ethik allein überlassen werden. Leider hat die an Kant orientierte neuere ethische und rechtsphilosophische Literatur den Gesinnungsbegriff einseitig moralisiert (als rein „moralische“ Gesinnung) und die selbständige Bedeutung der rechtlichen Gesinnung verkannt. [...] Die wirkliche Gesinnung umfaßt immer mehr als „rein“ moralische Beweggründe. Gesinnung ist Dauerhaltung, eine bleibende Art des Wertverhaltens und Wollens, und es verschlägt ihr nichts, wenn ihre Einzelmotive nicht nur das Wert- und Pflichtbewußtsein schlechthin, sondern auch Antriebe des persönlichen Interesses und der Furcht vor Nachteilen sind. Das Recht muß auf alle diese Motive einwirken: durch seinen inneren Wert (d.i. seine Richtigkeit) auf das Pflichtbewußtsein, durch den Rechtszwang auf die Antriebe der persönlichen Vorteile oder der Vermeidung persönlicher Nachteile. Diese so umschriebenen Aktwerte rechtlicher Gesinnung bilden den positiven sozialethischen Hintergrund der Normen, aus welchen diese ihren materiellen Sinngehalt empfangen. Die Aktwerte sind wesensmäßig auf Sachverhaltswerte (Rechtsgüter) als ihrer bedingenden Voraussetzung bezogen. Mit dem Schutz der Aktwerte werden darum auch die Sachverhaltswerte geschützt: Das ist der unverlierbare Sinn der Güterschutzlehre. Aber trotz aller Bezogenheit auf die Sachverhaltswerte haben die Aktwerte und deren Schutz eine unverkennbare eigenständige Bedeutung. Der Schutz der Aktwerte zielt auf die beständige rechtliche Gesinnung, der Rechtsgüterschutz auf die aktuelle Erhaltung der einzelnen Rechtsgüter. Wo das Gut unwichtig oder bedeutungslos wird, da muß der Rechtsgüterschutz sinnlos erscheinen. Dagegen bleibt der Schutz der Aktwerte auf die Erhaltung der beständigen rechtlichen Gesinnung unabhängig von der Bedeutung des einzelnen Gutes gerichtet. Aller reine Rechtsgüterschutz ist notwendig augen-
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blicksverhaftet und lagegebunden: Er ist auf den effektiven Erfolg abgestellt, und alles menschliche, auf einen konkreten Erfolg abzielende Planen ist notwendig begrenzt. Was sich heute als Vorteil empfiehlt, kann sich morgen als dauernder Schaden enthüllen. Die Aufrechterhaltung der rechtlichen Gesinnungswerte, der Treue, des Gehorsams, der Persönlichkeitsachtung, der Ehrlichkeit usw. zielt dagegen über den bloßen aktuellen Nutzen oder Schaden hinaus auf die beständige rechtliche Gesinnung, die für die Gemeinschaft ein dauerhafter Gewinn bleibt, auch wenn der augenblickliche Vorteil oder Schaden längst vergessen sind. Aber selbst den Schutz der Rechtsgüter vermag der Schutz der Aktwerte besser zu gewährleisten als es der reine Güterschutzgedanke selbst vermag. Unsere Beispiele zeigten, daß da, wo der Eid nur in wichtigen Sachen oder nur bei bedeutungsvollen Aussagen geleistet zu werden braucht und nur dort die falsche Aussage strafbar werden kann, die Eideswahrheit überhaupt schwer gefährdet ist und daß die Sicherheit aller nur dann gewährleistet wird, wenn unabhängig vom Werte des Einzellebens der Gesinnungswert der unbedingten Achtung fremden Lebens aufrechterhalten wird. Es ist eine ebenso überraschende wie bedeutungsvolle Tatsache, daß der reine Güterschutzgedanke allein am wenigsten die Rechtsgüter dauerhaft und allseitig zu schützen vermag. Damit treffen wir auf eine weitere Grenze des den Güterschutz beherrschenden Mittel-Zweck-Denkens. Wo der Wert von Handlungen, Maßnahmen und Veranstaltungen nur nach ihrem Zweck, dem effektiven Erfolg (Güterschutz) beurteilt wird, dort sind die Maßstäbe nicht nur augenblicksgebunden, sondern auch notwendig utilitaristisch. Nun haben alle ethischen Werte auch ihre utilitaristische Seite. Die Treue ist vorteilhaft für den, dem sie geleistet wird, und der Eigentümer zieht seinen Nutzen aus der Ehrlichkeit der anderen usf. Nur besteht der sittliche Wert der Treue oder Ehrlichkeit nicht in dieser Mittel-Zweck-Beziehung, sondern hat einen eigenen Gehalt. [...] Ähnliches gilt für die rechtlichen Gesinnungswerte: Der Güterschutz, den sie gewähren, ist von höchstem Nutzen für die Gemeinschaft. Aber so wertvoll dieser auch ist, in ihm allein erschöpft sich der Gehalt der rechtlichen Gesinnungswerte nicht, und vor allem auf ihn, den Nutzen allein, kann der Staat die verpflichtende Geltungskraft seiner Normen nicht gründen und durch Zwang sichern. Über den realen Nutzen für die Gemeinschaft hinaus muß der Staat die Bewährung rechtlicher Gesinnung als eigenständigen Wert anerkennen. [...] [234] [...] Das Strafgesetz im substantiellen Sinne und die kriminalpolitische Zweckmaßnahme haben so eine fundamentale verschiedenartige Wertstruktur. Jenes baut auf Aktwerten auf und schließt die Sachverhaltswerte (die Rechtsgüter) als unselbständige Teilmomente in sich; in diesen wird der Aktwert bedeutungslos oder gleichgültig und entscheidend nur die Erreichung des Sachverhaltswertes. Die kriminalpolitische Zweckmaßnahme ist deshalb die spezifische Normart für solche Menschen, die der Verwirklichung von Aktwerten nicht fähig sind oder von denen eine solche praktisch nicht erwartet werden kann; das sind die (sittlich) Unfreien im weiteren Sinne. Zu ihnen gehören nicht nur die gefährlichen Geisteskranken, sondern auch jene Asoziale, bei denen die Freiheit zur sittlichen Selbstbeherrschung stärkstens eingeschränkt ist, weil schwere charakterliche Belastungen sie auf den verbrecherischen Lebensweg treiben (vor allem die schweren [kriminel-
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len] Psychopathen). [...] Wie der Täter selbst nur Mittel der ihn beherrschenden Triebe ist, so setzt die Zweckmaßnahme Mittel in Bewegung, um die Gefährlichkeit des Täters aufzuheben. Trotz manchen Überschneidungen in den Grenzfällen [...] sind es daher zwei verschiedene Menschengruppen, auf die sich der Strafrechtssatz auf der einen Seite und die kriminalpolitische Zweckmaßnahme auf der anderen erstreckt. Das Strafgesetz im substantiellen Sinne mit den Aktwerten rechtlicher Gesinnung richtet sich an die sittlicher Selbstbeherrschung mächtige Person; es wendet sich gegen die stets vorhandene Möglichkeit eines negativen Gebrauchs der [235] Freiheit im wirklichen Abfall von den rechtlichen Gesinnungswerten. Indem es durch Strafandrohung und Bestrafung die unverbrüchliche Geltung der Aktwerte rechtlicher Gesinnung vor aller Augen stellt, formt und festigt es das sittliche Urteil und die rechtliche Gesinnung der Volksglieder und hemmt rechtsfeindliche Antriebe. Es ist damit von allerstärkster sittenbildender, sozialethischer Kraft. Denn die wichtigste Funktion vollzieht das Strafrecht – was der Jurist allzuleicht vergißt – nicht in jenen Konfliktfällen, in denen der Strafrichter in Aktion tritt und Strafe verhängen muß, sondern in den unvergleichlich zahlreicheren Fällen, in denen seine Normen von selbst, gleichsam lautlos befolgt werden, weil es durch seine Existenz die Geltung der rechtlichen Gesinnungswerte als der selbstverständlichen Richtschnuren des Handelns in Kraft hält. Gegenüber dieser umfassenden sozialethischen Funktion des Strafgesetzes tritt die Aufgabe der kriminalpolitischen Zweckmaßnahme weitgehend zurück. Sie trifft nur jene kleine Gruppe von Menschen, deren Persönlichkeitsstruktur abgetragen oder stark herabgemindert ist: im wesentlichen die kriminellen Geisteskranken und schweren Psychopathen. Der Zweckmaßnahme fehlt daher die sittenbildende Funktion, maßgebend ist allein der Schutzzweck. Die Unterschiede zwischen Strafgesetz und kriminalpolitischer Zweckmaßnahme setzen sich in einer Verschiedenheit ihrer Normstruktur fort. Bei der kriminalpolitischen Zweckmaßnahme tritt an die Stelle von konkreten Aktwerten die notwendig unbestimmte, allgemeine Gefährlichkeit des Täters für Rechtsgüter (und auch die Auswahl der zweckmäßigsten Sicherungsmaßregel muß dem Einzelfall überlassen bleiben). Alle reinen Zweckmaßnahmen sind notwendigerweise tatbestandslos: ihre Normvoraussetzung ist die akute Gefährlichkeit des Täters für Rechtsgüter, die durch beliebige Arten von Handlungsvollzügen verwirklicht werden kann (darum ist deren besondere Art unwichtig und gleichgültig gegenüber der allein entscheidenden Tatsache der allgemeinen Gefährlichkeit des Täters für Rechtsgüter). Echte Tatbestände kennt nur das Strafgesetz im substantiellen Sinne. Unabhängig von allen zeitbedingten dogmatischen Ausformungen enthält die Idee der Tatbestandes die schlichte Wahrheit, daß die substantiellen Strafrechtsnormen auf konkreten Aktwerten (mitsamt der von ihnen umschlossenen Sachverhaltswerte) aufgebaut ist. Alle Aktwerte sind Werte bestimmter Handlungsvollzüge (nicht bloßer Rechtsgüterverletzungen). Will das Strafrecht seine sittenbildende Funktion – die darin besteht, daß es die unverbrüchliche Geltung der Aktwerte als der Richtschnuren rechtlichen Handelns sicherstellt –, richtig erfüllen, so müssen seine Normen die verletzten Aktwerte rechtlichen Handelns konkret umschreiben,
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d.h. sie müssen tatbestandlich sein. Aktwert und Tatbestandlichkeit sind Korrelatbegriffe. Tatbestand (in diesem undogmatisch-letzten Sinne) ist einfach die besondere Art von Aktwertverletzung. Nur soweit, als, aber [236] auch überall da, wo die Norm vom Aktwert bestimmt wird, hat die Tatbestandlichkeit einen Sinn. (Und ebenso büßt die Tatbestandlichkeit ihre Bedeutung in dem Maße ein, wie innerhalb der Norm der Akzent vom Aktwert weg auf den Sachverhaltswert gelegt wird). Endlich ist die Stellung des Normanwendungsorgans in beiden Normarten grundlegend verschieden. Zielt die Aufrechterhaltung der Aktwerte nicht auf einen augenblicklichen Nutzen, sondern auf die beständige rechtliche Gesinnung als einen der Grundwerte menschlichen Lebens überhaupt, so ist sie Aufgabe des richterlichen Amtes im eigentlichen Sinne: In der Anwendung auf den einzelnen Fall sichert der Richter unmittelbar zugleich das Allgemeine, die bleibende Wertordnung rechtlichen Handelns. Diese richterliche Tätigkeit ist echte RechtsAnwendung, weil das Einzelne im Allgemeinen, den verschiedenen Aktwerten konkret enthalten ist, und sie ist Rechts-Anwendung, weil sie nicht lediglich einen aktuellen Zweck verfolgt, sondern die Folgerungen aus der Verletzung der bleibenden Wertordnung rechtlichen Handelns für den Einzelfall zieht. Hierin wurzelt daher die Idee der richterlichen Unabhängigkeit: der Bindung an die allgemeine, bleibende Wertordnung rechtlichen Handelns – jenseits bloß aktueller Zweckmäßigkeitsgründe -entspricht wesensmäßig die Freiheit von Einzelanweisungen. [...] Die Anwendung der kriminalpolitischen Zweckmaßnahme dagegen erschöpft sich im aktuellen Zweck, dem Schutz der vorhandenen Rechtsgüter gegenüber dem akut gefährlichen Menschen, und dieser Schutz ist zugleich abhängig von der im Einzelfall zweckmäßigsten Auswahl der Maßregel. Nicht eine allgemeine, plastisch umschriebene Wertordnung soll vollzogen, sondern ein aktueller, realer Zweck soll erreicht werden. Die Rechtsfunktion tritt hier weit zurück hinter einer Tätigkeit vorbeugender Fürsorge für die Rechtsgüter, einer Art sozialer Schadensverhütung. Zwischen Wertordnung, Normstruktur und Normanwendung bestehen daher wesensmäßige Zusammenhänge. Je nachdem, ob man vom Aktwert oder vom Sachverhaltswert ausgeht, erhält man zwei grundverschiedene Reihen von Wertordnungen, Normsystemen und Formen der Normanwendung. Die einzelnen Glieder der beiden Reihen lassen sich dabei nicht beliebig miteinander austauschen. Vielmehr hat jedes Glied die Tendenz, die übrigen Glieder seiner Wesensstruktur anzugleichen. Wo etwa die Stellung des Normanwendungsorgans verwaltungsmäßig orientiert ist, da werden sich auch Wertung und Normstruktur nach dem Sachverhaltswert hin bewegen; oder wo die Normstruktur vom Sachverthaltswert bestimmt wird, da wird sich auch die Stellung des Richters dem angleichen. So zeigt die Strafrechtsgeschichte vielfach ein Verdrängen oder Überfremden der Wesensart der einen Reihe durch die der anderen. [...] [237] [...] Unter dem Einfluß der idealistischen Philosophie Kants und Hegels hatte der Aktwert die beherrschende Rolle im Strafrecht errungen und bestimmte (zugleich mit anderen davon unabhängigen Gründen) die Normstruktur und die Stellung des Strafrichters. Aber mit idealistischer Einseitigkeit sprachen die Normen dieses Strafrechts allein den sittlich freien Menschen an und schoben die naturgebundene Unfreiheit
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(und damit die kriminalpolitischen Zweckmaßnahmen) als etwas seiner Hoheit Unangemessenes und Bedeutungsloses beiseite. Im Gegenschlage dazu führte das v.Liszt'sche Reformprogramm gemeinsam mit einer bestimmten voreiligen Verallgemeinerung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu einer Überfremdung des Strafrechts durch die Kategorie der Zweckmaßnahme. In zunehmendem Maße wurde schon im geltenden Strafrecht die Rechtswidrigkeit vom Handlungsunwert weg auf den Sachverhaltsunwert (die Sozialschädlichkeit oder Rechtsgüterverletzung) verlegt. „Mehr Schaden als Nutzen“ wurde die Formel für die im buchstäblichen Sinne „materielle“ Rechtswidrigkeit. In der Schuld entdeckte man die „Gefährlichkeit als Schuldmoment“ und ebnete damit die wichtigste, ja entscheidende Schranke zwischen Strafgesetz und kriminalpolitischer Maßnahme ein. Schließlich wies man ganz folgerichtig in einem so ausgestalteten Strafrecht dem Richter die Stellung eines in weitgefaßten Rechtsschranken verwaltungsmäßig arbeitenden Sozialbeamten, eines sozialen Diagnostikers und Therapeuten mit der Aufgabe mehr der Fürsorge und Sicherung als der Rechtsanwendung zu. [...] Eines hängt eben am anderen. Nur die Wahl des Ausgangspunktes steht uns (in gewissem Umfange) frei; alles übrige folgt zwangsläufig, auch dann, wenn man sich vor manchen Konsequenzen sträubt. Die Dinge haben ihre eigene Schwere. [...] [239] [...] Wo daher geschichtlich ein Überdecken der einen Wert- und Normart durch die andere stattgefunden hat, stand im Hintergrund zugleich eine Verschiebung des herrschenden Menschenbildes, sei es, daß die Persönlichkeitsidee die naturhafte Unfreiheit verdrängte oder daß umgekehrt diese jene überschattete3. Und doch gibt es Lagen des Gemeinschaftslebens, in denen allgemein eine Verschiebung der Normstruktur nach der Richtung der Zweckmaßnahmen notwendig ist. Wenn der Staat unmittelbar in Gefahr gerät, vor allem im Kriege, müssen auch die Strafrechtssätze zweckbestimmt mit zur Beseitigung der Gefahr eingesetzt werden. In der Ausnahmelage ist alles Recht mehr oder minder stark vom aktuellen Zweck her bestimmt. Der Aktwert tritt zurück: Bei der unübersehbaren Vielgestaltigkeit der Lebenslagen in der Ausnahmesituation und dem Reichtum der Möglichkeiten, sie kriminell auszubeuten, ist eine Tatbestandlichkeit der Normen kaum mehr möglich. Die eigentlichen kriegsstrafrechtlichen Normen sind daher im wesentlichen tatbestandslos. Der Sachverhaltswert tritt in den Vordergrund: Vorhandene kriegswichtige Volksgüter müssen besonders geschützt werden. Die Strafe wird daher über das Maß der schuldhaften Aktwertverletzung hinaus nach der kriegswichtigen Bedeutung des gefährdeten Rechtsgutes verschärft. Auch die Strafschärfung zur Sicherung der seelischen Haltung des Volkes dient den augenblicklichen Kriegsbedürfnissen: der Erhaltung der effektiven Widerstandskraft des Volkes. So sind die eigentlichen kriegsstrafrechtlichen Normen Zwischenformen zwischen Strafrechtssätzen und Zweckmaßnahmen: strafrechtliche Zweckmaßnahmen. [...] Aber [...] das Vordringen der Sachverhaltswerte und des Maßnahmerechts im Kriege hat seine durch die Ausnahmesituation klar umschriebenen Voraussetzungen und Grenzen. Wo dagegen unabhängig von der Ausnahmelage die Gestaltung des Rechtes allein vom Sachverhaltswert, vom konkreten Zweck her bestimmt 3
Die letztere Gefahr liegt heute im Zwielicht der Tätertypenlehre wieder nahe.
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wird, müssen die bleibenden Akt- und Gesinnungswerte rechtlichen Handelns verkümmern, die letzten Endes doch [240] die tragenden Pfeiler des Staates sind – auch im Kriege! Denn gerade die Gesinnungswerte sind es, durch die die Ausnahmelage letztlich bestanden werden kann. Auch hier lebt der Krieg aus dem Kapital, das ihm der Friede vorher geschaffen haben muß (auch wenn er es dann nach seinem Maß und nach seinen Notwendigkeiten einsetzen muß). So sind die rechtlichen Gestaltungsmittel der Ausnahmesituation unverwechselbar verschieden von denen der Normallage. Und diese sind durch den substantiellen Unterschied von Strafgesetz und Zweckmaßnahme und deren verschiedenartigen Wertprinzipien, Normstrukturen und Normanwendungsformen bestimmt.
Ulrich Klug (1913–1993) Abschied von Kant und Hegel (1968) [36] Die Strafgerichte der Bundesrepublik Deutschland, vom Amtsgericht bis zum Bundesgerichtshof, haben nahezu täglich Gelegenheit, sich über ihre Auffassung vom Sinn der Strafe zu äußern. Sie tun dies, wenn sie die Strafzumessung begründen, oft und gern. Fast in jedem Urteil, das einen Schuldspruch enthält, wird davon gesprochen, daß die verhängte Strafe eine „angemessene Sühne“ sei. Gleichzeitig wird fast immer, sei es unmittelbar oder sei es mittelbar, zum Ausdruck gebracht, daß der Sinn der Strafe in der Vergeltung des durch die Straftat angerichteten Schadens zu sehen sei. Der Schutz der Friedensordnung der Gesellschaft und die diesem Schutz dienende Wiedereingliederung des Täters, seine Resozialisierung, werden nur als ein Nebensinn der Strafe angesehen, der erfreulich sein mag, von dem man aber nicht sagen dürfe, daß er im Mittelpunkt der Sinngebung der staatlichen Strafe stehe. Die Autoren des Alternativ-Entwurfs sind anderer Meinung. Sie halten es nicht für sinnvoll, den Sinn der Strafe in Sühne und Vergeltung sehen zu wollen. Allerdings sind sie sich darüber im klaren, daß es nicht leicht sein wird, sich mit dieser Auffassung beim Strafgesetzgeber und in der Strafjustiz durchzusetzen. Das hängt – wie könnte es unter deutschen Juristen anders sein? – mit metaphysischen Positionen zusammen. Leidenschaftlich pflegen die Verteidiger des Vergeltungsgedankens, für den die Sühneidee nur ein anderer, romantisierender Ausdruck ist, zur Begründung ihrer Ansicht auf die philosophischen Thesen von Kant (1724–1804) und Hegel (1770– 1831) hinzuweisen. Fast scheint es, als rühre man an ein Tabu, wenn man die Argumente dieser beiden angesehenen Denker für unzureichend und verfehlt erklärt. Und doch gilt es – wie eine genauere Analyse zeigt –, im Bereich der Straftheorien von Kant und Hegel Abschied zu nehmen. Das bedeutet keine Trennung vom übrigen Werk der beiden. Indessen, so wesentlich und sogar gegenwartsnah manche ihrer anderen Leistungen sein mögen – man denke nur an Kants philosophischen Entwurf „Zum ewigen Frieden“ –, zur Philosophie der Strafe haben Kant und Hegel einer Zeit, die exakter und nüchterner zu reflektieren und zu handeln wünscht, nichts oder doch fast nichts mehr zu sagen. Kants heller Geist scheint in seiner Straftheorie durch depressive Visionen verdunkelt. Schon die ersten Sätze seiner Gedanken zum Sinn der Strafe, die sich in der 1797 erschienenen „Metaphysik der Sitten“ finden, sind ein zeitgebundener, hoffnungslos resignieren- [37] der Auftakt: „Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen. Der Oberste im Staate kann also nicht bestraft werden, sondern man kann sich nur seiner Herrschaft entziehen“. Strafe darf nach Kant niemals „bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern“, sei es für den Verbrecher selbst, sei es für die Gesellschaft, eingesetzt werden. Vielmehr darf sie in jedem Falle „nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat“. Denn der Mensch darf niemals als Mittel zu den Absichten eines andern gehandhabt werden. Bei der Bestrafung darf nicht daran gedacht werden, ob aus der Strafe einiger Nutzen für den Verurteilten oder seine Mitbürger gezogen werden kann. „Das T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem, welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas auszufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe oder auch nur einem Grade derselben entbinde.“ Wird dies nicht beachtet, dann wird die Gerechtigkeit verletzt, und „wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben“. Auf die sich selbst gestellte Frage, welche Art und welcher Grad der Bestrafung es sei, den sich die öffentliche Gerechtigkeit zum Prinzip und Richtmaß machen solle, antwortet Kant, nur das Widervergeltungsrecht (ius talionis) könne die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben. Alle anderen Maßstäbe seien „hin und her schwankend“. Schwierigkeiten bereiten die Standesunterschiede der damaligen Zeit. Wie ist es, wenn ein Vornehmer einen unter ihm stehenden beleidigt? Nach dem Talionsrecht steht die Geldstrafe in keinem Verhältnis zur Beleidigung, zumal, wenn der Beleidiger reich ist. Dagegen ist es erforderlich, dem Hochmut des Täters weh zu tun. Deshalb soll der Beleidiger durch Urteil und Recht genötigt werden, nicht nur öffentlich abzubitten, sondern außerdem dem Beleidigten, „ob er zwar niedriger ist, etwa zugleich die Hand zu küssen“. Das Prinzip der Widervergeltung fordert nach Kant für den Mord die Todesstrafe, denn „es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode“. In diesem Zusammenhang folgt dann jenes im strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum immer wieder neu erzählte Beispiel: „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z.B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind und die Blutschuld nicht auf dem Volk hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat, weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann“. Fast zwei Jahrhunderte schon wirken diese Gedanken von Kant [38] auf die deutsche Strafrechtstheorie und Strafrechtspraxis. Ähnlich wirkungsvoll war Hegels Argumentation. Wie man weiß, vertritt Hegel eine Auffassung über den Sinn der Strafe, die zwar grundsätzlich mit derjenigen von Kant übereinstimmt. Im einzelnen sind aber einige Abweichungen festzustellen. Dargestellt hat Hegel die Theorie von der Strafe in seiner in Berlin 1821, also erst zehn Jahre vor seinem Tode, erschienenen Schrift „Grundlinien der Philosophie des Rechts“. Die Strafe ist nach Hegel Widervergeltung. Das ist der Ausgangspunkt. Die Frage, was denn Widervergeltung sei, beantwortet Hegel, indem er sagt, Widervergeltung sei „Verletzung der Verletzung“. Diese eigentümliche Formulierung ist folgendermaßen zu erklären: Das Verbrechen ist nach Hegel eine Verletzung von Rechten, und diese Verletzung wird durch die in der Bestrafung ihrerseits wieder liegende Verletzung der Rechte des Verbrechers – insbesondere seiner Freiheitsrechte – aufgehoben. Denn Hegel geht von der Ansicht aus, „daß Zwang durch Zwang aufgehoben wird“. Für diese Straftheorie hat Hegel eine berühmte Formulierung gefunden. Er bezeichnet die Strafe als „Negation der Negation“. Diese oft zitierte Formel kann man allerdings nicht in dem bereits erwähnten Werk „Grundlinien der Philosophie
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des Rechts“ antreffen. Sie ist durch die von dem Hegel-Schüler Gans zusammengestellten „Zusätze aus Hegels Vorlesungen“ überliefert. Aus dem so charakterisierten Widervergeltungsgedanken folgert Hegel indessen nicht, daß die Strafe sich nach dem Talionsprinzip „Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn“ bestimme. Das wäre, wie Hegel ausdrücklich hervorhebt, absurd, wie sich leicht erkennen lasse, wenn man sich „den Täter als einäugig oder zahnlos“ vorstelle. Die aus dem Widervergeltungsprinzip sich ergebende Forderung nach Gleichheit von Tat und Strafe sei nicht in diesem Sinne zu verstehen. Es sei nur erforderlich, daß Tat und Strafe ihrem Wert nach gleich seien. Hegel erläutert das an dem Verhältnis zwischen Diebstahl und Gefängnisstrafe. Diese seien nach „ihrem Wert, ihrer allgemeinen Eigenschaft, Verletzungen zu sein“, vergleichbar. Da das Verbrechen einen bestimmten qualitativen und quantitativen Umfang habe, müsse die Strafe als die Negation des Verbrechens einen „ebensolchen“ Umfang haben. Diese „auf dem Begriffe beruhende Identität“ ist die Gleichheit „nach dem Werte derselben“, das heißt nach dem Wert des Verbrechens als einer Negation des Rechts und dem Wert der Strafe in ihrer Aufgabe als Negation dieser Negation. Der Verbrecher hat nach Hegel ein Recht auf Strafe. „Darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt“. Jedoch würde ihm diese Ehre, wie Hegel betont, nicht zuteil, wenn der Maßstab seiner Strafe nicht aus seiner Tat genommen worden wäre, sondern etwa zum Zwecke der Abschreckung oder Besserung gestraft würde. [39] Kritik an den Gedanken von Kant und Hegel ist unter den verschiedensten Gesichtspunkten möglich. Hier seien nur einige herausgegriffen: Zunächst kann man fragen, ob sich die in Rede stehenden Ansichten der beiden Philosophen erkenntnistheoretisch halten lassen. Das ist, wenn man sich nicht in den Bereich des Irrationalen begeben will, sicher nicht der Fall. Daß der Sinn der Strafe die Widervergeltung sei, wird nicht bewiesen, sondern schlicht verkündet. Es wird keine Erkenntnis vorgetragen, sondern ein Bekenntnis bekannt gegeben. Niemand ist verpflichtet, sich das gleiche Bekenntnis zueigen zu machen. Hinzukommt, daß es keineswegs zwingend ist, wenn Kant meint, die Gerechtigkeit werde verletzt, falls man nicht allein um der Vergeltung willen strafe. Warum sollte eine resozialisierende Strafe, die auf Vergeltung keine Rücksicht nimmt, ungerecht sein? Wer weiß präzis, was eine gerechte Strafe ist? Daß außerdem Tat und Strafe, wie immer man sich dreht und wendet, keine vergleichbaren Größen sind, ist ein alter Einwand gegen die Vergeltungs- und Sühnetheorie, der durch sein Alter nichts an seiner durchschlagenden Frische verloren hat. Das gilt sowohl für das Talionsprinzip bei Kant als auch für den Wertgesichtspunkt bei Hegel. Was aber soll man davon halten, daß es zwischen dem Tod und einem „noch so kummervollen Leben“ keine Gleichartigkeit gäbe? Das ist, wenn der Begriff der Gleichartigkeit im strengen Sinne verstanden wird, trivial. Aber dann gibt es zwischen einem Mord und dem Vollzug der Todesstrafe ebenfalls keine Gleichartigkeit, und Kants Argumentation verliert ihre Basis. Im übrigen kann die Gleichartigkeit in jenem strengen Sinne auch in der Weise fehlen, daß es Lebensformen von so unmenschlicher Art gibt, daß der Tod als das geringere Übel erscheint. Mit
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dieser Kritik am Gleichartigkeitsbegriff ist der Bereich der Kritik unter dem Aspekt der Logik erreicht. Die Schlüssigkeit nach den Gesetzen der Logik fehlt an mehreren Stellen der Gedankenführung bei Kant und Hegel. Zunächst ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß der kategorische Imperativ eine Leerformel ist, aus der sich keine inhaltlichen Schlüsse ziehen lassen. An der von Kant stammenden Kurzformel des kategorischen Imperativs: „Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!“ ... läßt sich die Inhaltlosigkeit leicht erkennen, denn die Frage, welcher Art das allgemeine Gesetz sein soll, bleibt offen. Der kategorische Imperativ könnte in einem Gangster-Kollektiv ebenfalls gelten. Aus einem leeren Prinzip, aus dem nichts inhaltlich gefolgert werden kann, läßt sich nicht der Vergeltungsgrundsatz ableiten. Erstaunlich ist die Widersprüchlichkeit des berühmten Insel-Beispiels von Kant. Noch befremdlicher aber ist es, daß dies so selten [40] erkannt worden ist. Indessen braucht man nur zu fragen, auf wem eigentlich jene mystische „Blutschuld“ haften solle, wenn es doch gerade die Voraussetzung der Test-Überlegung von Kant war, daß kein Volk mehr existiere. Nicht besser bestellt ist es mit der Pseudo-Logik der Anwendung eines Begriffs auf sich selbst, die sich mehrfach bei Hegel befindet. Daß „Zwang durch Zwang aufgehoben wird“, ist in keiner Weise zwingend. Man könnte auch die Thesen vertreten: Zwang wird durch Zwang gesteigert. Zwang wird durch Nicht-Zwang aufgehoben. Was jedoch soll eine „Verletzung der Verletzung“ sein? Die Heilung einer Verletzung wäre ein sinnvolles Phänomen. Und die „Negation der Negation“ ist nichts als ein Bild und noch dazu ein verwirrendes. Die formallogische Parallele ist unstimmig. Die Beseitigung des durch das Verbrechen hervorgerufenen Schadens für die Friedensordnung der Gesellschaft setzt eine heilende, positive Aktion voraus. Die Negation der Negation ist eine sprachliche Struktur und keine gegenständlich-sachliche. Ein einfacher Denkfehler ist die bis auf den heutigen Tag oft wiederholte Argumentation gegen die Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeitsbegründung. Wer gegenüber einer Auffassung über den Sinn der Strafe – etwa als einer Schutzmaßnahme der Gesellschaft – geltend macht, die Rechtfertigung staatlichen Strafens werde durch die betreffende Sinngebung zu einem bloßen Zweckmäßigkeitsproblem erniedrigt, sollte erkennen, daß er damit eine simple Leeraussage macht. Ihren Inhalt würde die Aussage erst durch Koppelung mit einem Zweck erhalten. Erst dann ließe sich eine Wertung rechtfertigen. Beispielsweise sind der Schutz der Friedensordnung und die Resozialisierung zweifellos hohe moralische Werte. Der hier zutage tretende logische Fehler unterlief auch Kant, wenn er von den „Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre“ schrieb. Es wäre denkpsychologisch interessant, einmal zu untersuchen, warum – damals wie heute – immer dann, wenn vom Nutzen, vom Zweck oder vom Glück der Menschen die Rede ist, materialistischer Nutzen, niedriger Zweck und billiges Glück assoziiert werden. Das ist ebenso falsch, als wollte man unter den geometrischen Figuren das Achteck a priori für böse erklären, während es sich doch nur um einen Formalbegriff handelt.
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Schließlich mag noch auf Möglichkeiten einer moralischen Kritik hingewiesen werden. Die zwecklose Widervergeltung, mit der nicht Gutes – weder für den Täter selbst, noch für die Gesellschaft – angestrebt werden darf, verletzt die Menschenwürde, und zwar nicht nur im Sinne anerkannter Moralnormen, sondern – übertragen auf die Gegenwart – zugleich im Sinne der Verfassung. Daß der Täter niemals bloß als Mittel für einen außer ihm liegenden Zweck benutzt werden darf, wie Kant betont, ist im Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit. Für die Resozialisierung ist der Täter im Zentrum der Bemühungen. Er ist es, der möglichst [41] gebessert werden soll. Und nur, wenn keine soziale Therapie verfängt, entsteht das Notrecht der Gesellschaft mit der Folge der Freiheitsentziehung oder sonstiger Sanktionen. Das ist ebensowenig unmoralisch wie die Einschließung des ansteckenden oder in anderer Weise gemeingefährlichen Kranken. Hegel aber ist entgegenzuhalten, daß es ein metaphysischer Traum ist, in der nur vergeltenden Bestrafung des Verbrechers eine Ehrung zu sehen. Gerade die Achtung vor der Menschenwürde gebietet es der Gesellschaft, nicht einfach zwecklos vergeltend zurückzuschlagen, sondern die Resozialisierung zu versuchen. Erst dann wird der Täter „als Vernünftiges geehrt“. Es ist hohe Zeit, die Straftheorien von Kant und Hegel mit ihren irrationalen gedankenlyrischen Exzessen in all ihrer erkenntnistheoretischen, logischen und moralischen Fragwürdigkeit endgültig zu verabschieden.
Claus Roxin (*1931) Kriminalpolitik und Strafrechtssystem (1973) I. [1] „Das Strafrecht ist die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“ – dieser berühmte Satz Franz v. Liszts bezeichnet ein Spannungsverhältnis, das in unserer Wissenschaft noch heute lebendig ist. Er stellt die auf empirischen Grundlagen ruhenden Prinzipien zweckmäßiger Behandlung des sozial abweichenden Verhaltens gegen die im engeren Sinne juristischen Methoden systematisch-begrifflicher Ausarbeitung und Ordnung der Verbrechensvoraussetzungen. Oder, auf die kürzeste Formel gebracht: Der Satz kennzeichnet das Strafrecht einerseits als Sozialwissenschaft, andererseits als Rechtswissenschaft. In diesem Doppelcharakter der von ihm recht eigentlich begründeten „gesamten Strafrechtswissenschaft“ verkörperten sich für Liszt gegenläufige Tendenzen. Der Kriminalpolitik ordnete er die im gesamtgesellschaftlichen Sinne zweckmäßigen Methoden der Verbrechensbekämpfung, also die nach seinem Sprachgebrauch soziale Aufgabe des Strafrechts, zu, während dem Strafrecht im juristischen Sinn des Wortes die rechtsstaatlichliberale Funktion [2] zufallen sollte, die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung und die individuelle Freiheit vor dem Zugriff des „Leviathans“ Staat zu sichern. Um es noch einmal mit zwei anderen Lisztschen Wendungen zu sagen, die heute zu den klassischen Zitaten des Strafrechtlers gehören: Der „Zweckgedanke im Strafrecht“, unter den Liszt sein epochemachendes Marburger Programm gestellt hatte, ist der Leitstern der Kriminalpolitik, während das Strafgesetzbuch als „magna charta des Verbrechers“ nach Liszts ausdrücklichem Bekenntnis „nicht die Gesamtheit, sondern den gegen diese sich auflehnenden einzelnen“ schützt und ihm das Recht verbrieft, „nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen und nur innerhalb der gesetzlichen Grenzen bestraft zu werden“. Liszt wollte also nicht, wie es in der Konsequenz seines Zweckgedankens gelegen hätte, daß „ohne all den Formel-Krimskrams der ,klassischen Kriminalisten‘ [...] im Einzelfalle die Entscheidung gefällt werden“ könne, „die der Gesamtheit frommt“, sondern er meinte: „Solange wir bestrebt sind, die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers vor der schrankenlosen Willkür der Staatsgewalt zu schützen, solange wir an dem Satz nullum crimen, nulla poena sine lege festhalten, ebenso lange wird auch die strenge Kunst einer nach wissenschaftlichen Grundsätzen operierenden Gesetzesauslegung ihre hochpolitische Bedeutung behalten.“ Von dieser Grundlage aus muß die Aufgabe strafrechtssystematischer Arbeit allen kriminalpolitischen Zielsetzungen fremd, ja geradezu entgegengesetzt sein. So bezeichnet denn auch Liszt, auf den der uns heute noch geläufige Aufbau der Verbrechenslehre in seinen Grundzügen zurückgeht, es noch in [3] der letzten Auflage seines Lehrbuches „als die nächste Aufgabe der Strafrechtswissenschaft: in rein juristisch-technischer Betrachtung Verbrechen und Strafe als begriffliche
Vorschriften, die kursiv hervorgehoben sind, entsprechen ihrer – nunmehr veralteten – Fassung aus dem Jahre 1973.
T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Verallgemeinerung ins Auge zu fassen; die einzelnen Vorschriften des Gesetzes, bis zu den letzten Grundbegriffen und Grundsätzen aufsteigend, zum geschlossenen System zu entwickeln.“ Die Rechtswissenschaft muß nach seiner Meinung „die eigentlich systematische Wissenschaft sein und bleiben; denn nur die Ordnung der Kenntnisse im System verbürgt jene sichere, immer bereite Herrschaft über alle Einzelheiten, ohne welche die Rechtsanwendung stets Dilettantismus bleibt, jedem Zufall, jeder Willkür preisgegeben.“ Mit diesen Hinweisen sind die Stichworte gegeben, die noch heute in unseren Lehrbüchern wiederkehren, wenn die Bedeutung der Strafrechtssystematik erklärt werden soll. So heißt es z.B. bei Welzel über die Strafrechtswissenschaft: „Als systematische Wissenschaft legt sie den Grund zu einer gleichmäßigen und gerechten Rechtspflege, da nur die Einsicht in die inneren Zusammenhänge des Rechts die Rechtsanwendung über Zufall und Willkür hinaushebt.“ Und Jescheck schreibt in seinem jüngst erschienenen großen Lehrbuch, daß ohne die systematische Gliederung des Verbrechensbegriffes die Lösung eines Rechtsfalles „unsicher und von Gefühlserwägungen abhängig“ bleibe. „Die allgemeinen Merkmale des Verbrechensbegriffs, die in der Lehre vom Verbrechen zusammengefaßt werden, ermöglichen dagegen eine rationale und gleichmäßige Rechtsprechung, sie tragen dadurch wesentlich zur Gewährleistung der Rechtssicherheit bei.“ Das alles gilt unabhängig vom Wandel der Systeme und ihren Abweichungen, die bekanntlich auch heute den Gegenstand lebhafter Kontroversen bilden. Daß die systematische Verarbeitung des Rechtsstoffes die geschilderten Vorteile wirklich bietet, wird sich ernstlich nicht bestreiten lassen. Aber es bleibt doch ein Unbehagen, das sich zu der immer wieder gestellten Frage verdichtet, ob nicht die systematische Filigranarbeit unserer mit subtilsten begrifflichen Ver- [4] feinerungen arbeitenden Dogmatik durch ein Mißverhältnis zwischen dem gelehrten Aufwand und seinem praktischen Ertrag gekennzeichnet ist. Wenn es nur um Ordnung, Gleichmaß und Stoffbeherrschung geht, müßte der Streit um das „richtige“ System wenig ertragreich scheinen. So sagt denn auch Hellmuth Mayer: „Wie die Dogmengeschichte zeigt, läßt sich der Stoff in den verschiedensten Bezugssystemen erfassen. Alle diese Systeme sind brauchbar, wenn sie nur folgerichtig angewendet werden.“ Die Forderung nach einer Verlagerung der Schwerpunkte von Forschung und Lehre auf kriminologische und kriminalpolitische Fragestellungen hat hier eine ihrer Quellen. Ein zweiter Einwand richtet sich gegen die Art der aus der Lisztschen Trennung sich ergebenden Dogmatik: Wenn die kriminalpolitischen Fragestellungen in sie nicht eindringen können und dürfen, kann die richtige Herleitung aus dem System zwar eindeutige und gleichmäßige, nicht aber sachgerechte Ergebnisse verbürgen. Was hilft aber die Lösung eines Rechtsproblems, die mit schöner Eindeutigkeit und Gleichmäßigkeit kriminalpolitisch verfehlt ist? Sollte sie wirklich einer befriedigenden, wenn auch systematisch nicht integrierbaren Einzelfallentscheidung vorzuziehen sein? Es liegt nahe, diese Frage zu verneinen und kriminalpolitisch motivierte Durchbrechungen der starren Regel zuzulassen. Doch wird dadurch natürlich die Bedeutung systematischer Allgemeinbegriffe und dogmatischer Abstraktionen noch weiter relativiert. So sagt z.B. Jescheck im Anschluß an die von mir oben zitierte Rechtfertigung systemgebundenen Denkens: „Man darf jedoch
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auch die Gefahr einer auf abstrakte Formeln gebrachten Strafrechtsdogmatik nicht verkennen: sie besteht darin, daß der Richter sich auf die Automatik theoretischer Begriffe verläßt und dadurch die Besonderheiten des Einzelfalles übersieht. Entscheidend hat immer die Lösung der Sachfrage zu sein, während Erfordernisse der Systematik als zweit- [5] rangig zurücktreten müssen“. Schaffstein, mein verehrter Göttinger Kollege, hat in einer Abhandlung zur strafrechtlichen Irrtumsproblematik die von ihm aufgeworfene „Frage nach dem Rangverhältnis beider Betrachtungsweisen“ offengelassen. Aber auch er meint, daß das an der „kriminalpolitischen Zweckmäßigkeit“ orientierte „Wertungsproblem zunächst unabhängig von allen begrifflichen Konstruktionen in Angriff zu nehmen“, selbständig zu lösen und „zur ergänzenden Kontrolle“ der aus der „logisch-dogmatischen Deduktion“ folgenden Ergebnisse zu verwenden sei. Immerhin setzt dieses Verfahren ähnlich wie bei Jescheck die Möglichkeit einer Korrektur dogmatisch-begrifflicher Lösungen durch abweichende kriminalpolitische Wertung voraus. Hält man dieses Verfahren für erlaubt, dann ist es aber um die Funktion systematischer Begriffsbildung schlecht bestellt. Denn entweder führt eine zulässige Durchbrechung dogmatischer Grundsätze durch kriminalpolitische Wertung zur Erschütterung gleichmäßiger, willkürfreier Rechtsanwendung – dann werden die der Systematik zugeschriebenen Vorzüge von vornherein zunichte gemacht. Oder es zeigt sich, daß die von allen Systemzwängen befreite, unmittelbar wertende Lösung der „Sachfrage“ der Rechtssicherheit und Beherrschbarkeit des Rechtsstoffes nicht im Wege steht – dann stellt sich die Frage, wozu es des Systemdenkens überhaupt noch bedarf. II. In diesen ernüchternden Schwierigkeiten spiegelt sich eine Krise, in die das Systemdenken im allgemeinen und die strafrechtlichen Verbrechenslehren im besonderen in den letzten Jahren hineingeraten sind. Symptomatisch dafür ist, daß der Streit um die finale Handlungslehre und ihre Auswirkungen, der in den Fünfzigerjahren zu den heftigsten Auseinandersetzungen geführt hat, heute nur noch wenig Interesse findet. Man glaubt nicht mehr recht an Ergebnisse, die aus systematischen Oberbegriffen deduziert sind, und denkt dementsprechend gering über die praktische Leistungsfähigkeit solcher [6] Kategorien. Andererseits braucht man sich nur ein Strafrecht ohne Allgemeinen Teil vorzustellen, um zu erkennen, daß der Verzicht auf eine ebensowohl generalisierende wie differenzierende Verbrechenslehre zugunsten einer jeweils individuellen „Wertung“ unsere Wissenschaft um mehrere hundert Jahre zurückwerfen müßte, und zwar auf jenen Zustand von „Zufall“ und „Willkür“, der seit Liszts Zeiten von allen Apologeten des Systems zu Recht beschworen wird. Da somit die Möglichkeit einer Abkehr vom System nicht ernstlich diskutabel ist, die vorher geltend gemachten Einwände aber unberührt bestehen bleiben, liegt es nahe, sie nicht auf den Systemgedanken als solchen, [7] sondern auf Fehlansätze seiner dogmatischen Entwicklung zurückzuführen. Tatsächlich meine ich, daß wir noch heute in unserer Verbrechenslehre das Erbe des Positivismus mit uns herumschleppen, so wie es sich im Denken Liszts beispielhaft ausprägte; und ich will versuchen darzulegen, daß die geschilderten Aporien hier ihre Ursache haben.
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Der Positivismus als Rechtstheorie zeichnet sich dadurch aus, daß er die Dimensionen des Sozialen und Politischen aus der Sphäre des Juristischen verbannt. Eben dieses von Liszt als selbstverständlich übernommene Axiom liegt der Entgegensetzung von Strafrecht und Kriminalpolitik zugrunde: Rechtswissenschaft im eigentlichen Sinne ist das Strafrecht nur, soweit es sich mit der begrifflichen Analyse positiv-rechtlicher Regelungen und ihrer Zusammenfassung im System beschäftigt. Die Kriminalpolitik, die sich mit den sozialen Inhalten und Zwecken des Strafrechts befaßt, steht außerhalb des Juristischen. Ihren Verfechtern bleibt der Appell an den Gesetzgeber und der quasi rechtsfreie Raum des Strafvollzuges, in den Liszt denn auch mit seiner bekannten Lehre von den Tätertypen sozialgestaltend hineinwirken wollte. Das Gesetz als solches aber – und also auch das Strafgesetzbuch – ist „nicht Instrument der Sozialgestaltung, sondern nur Mittel zur Herstellung und Ordnung koexistierender Freiheiten“; so wenigstens wurde es von den Theoretikern des liberalen Rechtsstaates und mit ihnen von Liszt verstanden. III. In dieser rechtsstaatlichen Funktion erschöpft sich aber für uns heute die Aufgabe des Gesetzes nicht mehr. Es ist jedem Juristen geläufig, wie sich z.B. im Verwaltungsrecht neben der aus dem vergangenen Jahrhundert überlieferten Eingriffsverwaltung die Rechtsformen der Leistungsverwaltung zu ihrer heute beherrschenden Stellung entwickelt haben; die verwal- [8] tungsrechtliche Theorie hat diesen Vorgang inzwischen aufgearbeitet. In entsprechender Weise gilt es auch im Strafrecht zu erkennen, daß – unbeschadet der uneingeschränkt aufrechtzuerhaltenden rechtsstaatlichen Erfordernisse – kriminalpolitische Probleme den eigentlichen Inhalt auch der allgemeinen Verbrechenslehre ausmachen. Schon der nullum-crimen-Satz hat ja neben seiner liberalen Schutzfunktion den Zweck, Verhaltensrichtlinien zu geben; er wird dadurch zu einem höchst bedeutsamen Instrument der Sozialgestaltung. Das setzt sich in allen Bereichen der Verbrechenslehre fort: Wenn z.B. unsere Gerichte sich immer wieder mit der Frage zu beschäftigen haben, ob ein rechtswidrig Angegriffener sich mit der Waffe wehren darf oder ob ihm ein Ausweichen zuzumuten ist, dann geht es dabei nur noch scheinbar um eine Abgrenzung der Freiheits- und Handlungssphären – insoweit böte die rigoristische These, daß das Recht dem Unrecht niemals zu weichen habe, sicher die klarste Lösung –; in Wirklichkeit werden für Konfliktsituationen die sozial richtigsten und flexibelsten Lösungen gesucht. Und wenn zur Erörterung steht, wie jemand zu behandeln ist, der sich bei seinem verbotenen Tun in irgendeiner Weise geirrt oder einen Deliktsversuch aufgegeben hat, dann sind das Probleme rein kriminalpolitischer Natur, die durch die „Automatik theoretischer Begriffe“ – um mit Jescheck zu sprechen – von vornherein nicht angemessen gelöst werden können. IV. Natürlich ist das keine neue Erkenntnis; der Befund drängt sich ja bei einer unvoreingenommenen Betrachtung der Lebenssachverhalte geradezu auf. Aber man kann nicht sagen, daß solche Einsichten methodologisch und systematisch bisher in befriedigender Weise verarbeitet worden sind. Für eine Verbrechenslehre, die in
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der geschilderten positivistischen Manier unter Ausscheidung aller kriminalpolitischen Gesichtspunkte im Wege formaler Klassifikation konzipiert worden ist, bleibt als Ausweg nur die schon erwähnte „Wertungskorrektur“. So kann man etwa – wenn ich im Bereiche der schon verwendeten [9] Beispiele bleiben darf – zum Notwehrrecht gegenüber Kinderangriffen sagen, an sich sei, da auch Kinder rechtswidrig handeln könnten, im Rahmen des Erforderlichen jede Abwehr erlaubt; da jedoch schwere Schädigungen von Kindern, sofern sie nicht zum Zwecke des Selbstschutzes zwingend geboten seien, unserer heutigen Auffassung als unerträglich erschienen, müsse man in einem solchen Falle ein Ausweichen verlangen. Oder man kann, wie es dem E 1962 vorschwebte, beim Irrtum über Rechtfertigungsvoraussetzungen aus dogmatisch-systematischen Gründen eine Vorsatztat annehmen, aus kriminalpolitischen Erwägungen dafür dann aber doch nur die Fahrlässigkeitsstrafe verhängen. Ein solches Verfahren überwindet die Lisztsche Trennung von Strafrecht und Kriminalpolitik insofern, als es kriminalpolitischen Wertungen in den Allgemeinen Teil des Strafrechts Eingang verschafft; es hält die Trennung aber auch aufrecht insofern, als die beiden Sphären dort unverbunden nebeneinander stehen. Auf diese Weise ergibt sich ein doppelter Beurteilungsmaßstab derart, daß dogmatisch richtig sein kann, was kriminalpolitisch falsch ist, und umgekehrt. Ich habe schon anfangs gezeigt, daß dadurch die Bedeutung des Systems entwertet wird. Aber auch den kriminalpolitischen Belangen ist mit einem solchen Verfahren wenig geholfen. Denn die Grundlagen der Wertung bleiben verschwommen, beliebig und ohne wissenschaftliche Überzeugungskraft, wenn sie aus dem Rechtsgefühl oder aus punktuellen Zielsetzungen geschöpft werden, ohne in einem aufweisbaren Wertungszusammenhang des Gesetzes ihren Rückhalt zu finden. Besonders kraß zeigt sich das etwa in der strafrechtlichen Teilnahmelehre, wo die Entwicklung der Rechtsprechung dahin geführt hat, daß die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme ohne jede Orientierung an systematischen Kategorien nach freiem richterlichen Ermessen durchgeführt [10] wird. Das wurde möglich, weil der als scheinbares Unterscheidungskriterium benutzte Begriff des „Täterwillens“, der in der Wirklichkeit als psychische Realität nicht existiert, in der Praxis so verwandt wird, daß man auf Grund unmittelbarer Wertung bestimmt, wer die Täter- und wer die geringere Gehilfenstrafe verdient; je nach dem Ergebnis dieser Dezision wird dann der Täterwille bejaht oder verneint. Die Folgen dieser Praxis sind bekannt: Die Urteile widersprechen einander gröblich, und der 60 Jahre alte Satz von der Teilnahmelehre als dem „dunkelsten und verworrensten Kapitel der Strafrechtswissenschaft“ ist inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden. V. Aus alledem wird klar, daß der richtige Weg nur darin bestehen kann, die kriminalpolitischen Wertentscheidungen in das System des Strafrechts so eingehen zu lassen, daß ihre gesetzliche Fundierung, ihre Klarheit und Berechenbarkeit, ihr widerspruchsfreies Zusammenspiel und ihre Auswirkungen im Detail hinter den Leistungen des formal-positivistischen Systems Lisztscher Provenienz nicht zurückstehen. Rechtliche Gebundenheit und kriminalpolitische Zweckmäßigkeit dürfen einander nicht widersprechen, sondern müssen zu einer Synthese gebracht werden, so wie ja auch Rechts- und Sozialstaat in Wahrheit nicht unversöhnliche
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Gegensätze, sondern eine dialektische Einheit bilden: Eine Staatsordnung ohne soziale Gerechtigkeit ist kein materieller Rechtsstaat, ebensowenig wie ein Planungs- und Versorgungsstaat ohne die freiheitswahrenden Errungenschaften des Rechtsstaates das Prädikat sozialstaatlicher Verfaßtheit in Anspruch nehmen darf. Sehr deutlich zeigt sich das jetzt bei der Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems und des Strafvollzuges: Resozialisierung bedeutet nicht die Einführung unbestimmter Strafurteile oder die beliebige Verfügbarkeit des [11] Verurteilten für staatliche Zwangsbehandlungen. Vielmehr wird die Reform dem Verfassungsauftrag nur gerecht, wenn sie gleichzeitig mit der Einführung moderner sozialtherapeutischer Methoden die Rechtsstellung des Strafgefangenen verstärkt und das bisher juristischer Durchleuchtung wenig zugängliche besondere Gewaltverhältnis rechtlich durchstrukturiert. Die Sache selbst erfordert das; denn eine Erziehung zum legalen Leben in der Freiheit des Rechtsstaates kann schwerlich durch die Vorenthaltung aller Freiheiten bewirkt werden. Auch das erst in der Nachkriegszeit in den Rang einer eigenständigen Disziplin aufgestiegene Strafzumessungsrecht entwickelt sich nicht etwa auf ein durch individuelle richterliche Wertung auszufüllendes richterliches Ermessen, sondern geht gerade umgekehrt auf die systematische Ordnung und rationale Kontrollierbarkeit der kriminalpolitisch motivierten Zumessungskriterien hin. Die systematische Einheit zwischen Kriminalpolitik und Strafrecht, die nach meiner Intention auch im Aufbau der Verbrechenslehre verwirklicht werden muß, ist also nur eine Erfüllung der Aufgabe, die unserer Rechtsordnung heute in allen Bereichen gestellt ist. Ein umfassender Versuch dieser Art ist aber in der Dogmatik des Allgemeinen Teils bisher nicht unternommen worden. Vielmehr ist das Verbrechensgebäude, das wir heute mit mannigfachen Abwandlungen bei den einzelnen Autoren im ganzen als das Standardmodell von Praxis und Lehre vor uns sehen, ein wunderliches Konglomerat verschiedener Stilepochen. 1. Von seinen positivistischen Ausgangspunkten her ist uns ein klassifikatorisches System in Form einer Begriffspyramide überkommen, wie es etwa dem Linnéschen Pflanzensystem entspricht: Der Bau erhebt sich von der Masse der Verbrechensmerkmale durch eine von Stufe zu Stufe weitergetrie- [12] bene Abstraktion bis zum allumfassenden Oberbegriff der Handlung. Warum ein auf diese Weise entstehendes geschlossenes System den Weg zur Lösung unseres Problems verbaut, habe ich schon darzulegen versucht: Es sperrt die Dogmatik von den kriminalpolitischen Wertentscheidungen einerseits und der sozialen Realität andererseits ab, anstatt den Zugang zu ihnen zu öffnen. 2. Die wertbeziehende Methodologie des Neukantianismus, die in den Zwanzigerjahren zur Vorherrschaft kam, hätte von der normativen Seite her zu einem ganz neuen „Bild des Strafrechtssystems“ führen können, wenn man als Kriterium, auf das alle dogmatischen Erscheinungen zu beziehen gewesen wären, kriminalpolitische Leitentscheidungen gewählt hätte. Aber ein System, das sich gegen den formallogisch konzipierten Aufbau der älteren Verbrechenslehre durchgesetzt hätte, hat sich auf dieser Grundlage nie herausgebildet. Die Entwicklung hat nur – wenn auch immerhin – dazu geführt, daß in der Tatbestandslehre die Auslegung nach dem geschützten Rechtsgut in den Vordergrund getreten und daß den Rechtfertigungsgründen durch die Lehre von der sog. materiellen Rechtswidrigkeit und der
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Schuld durch ihre Rückführung auf das Merkmal der „Vorwerfbarkeit“ ein normativer Boden unterlegt worden ist, [13] auf dem der Rechtfertigungsgrund des übergesetzlichen Notstandes und der Zumutbarkeitsgedanke in der Schuldlehre erwachsen sind. Dieser Einbau kriminalpolitisch-wertender Elemente in die positivistisch-begrifflich angelegte Verbrechenshierarchie hat systematisch jene Doppelbödigkeit erzeugt, die sich in der Zweiheit von formeller und materieller Betrachtungsweise widerspiegelt. Wenn die wertfreie, quasi subsumtions-automatische Tatbestandsauslegung, die dem positivistisch-liberalen Ideal am nächsten kommt, keine eindeutigen oder erträglichen Ergebnisse liefert, wird die Lösung teleologisch vom geschützten Rechtsgut her gefunden. Wenn bei Prüfung der formellen Rechtswidrigkeit die Suche nach einem geschriebenen Rechtfertigungsgrund fruchtlos verläuft, ein Unrechtsurteil aber wegen fehlender Sozialschädlichkeit als kriminalpolitisch verfehlt erscheint, kann man durch eine Güter- und Interessenabwägung zu einer Verneinung der materiellen Rechtswidrigkeit kommen, während in der Schuldlehre die Härten der positiv-gesetzlichen Regelung sich im Einzelfall durch Zumutbarkeitserwägungen mildern lassen. In alledem stecken wertvolle Ansätze zur Einbringung kriminalpolitischer Zielsetzungen in die dogmatische Arbeit, aber auch zu jener individuell-wertenden Systemaufweichung, deren Fragwürdigkeit schon geschildert worden ist und die es verhindert hat, daß etwa die Zwecktheorie als Formulierung des übergesetzlichen Notstandes oder die Unzumutbarkeit als Schuldausschließungsgrund je allgemein anerkannt worden wären. 3. Die finale Handlungslehre schließlich hat mit ihrer Wendung zu den ontischen Strukturen und zur sozialen Realität den Wirklichkeitsbezug der Strafrechtsdogmatik nicht ohne Erfolg wiederherzustellen versucht und dadurch vor allem der Hand-lungs- und Tatbestandslehre die Plastizität echter Geschehensbeschreibung zurückgegeben. Der Finalismus hat jedoch auch durch seine axiomatischdeduktive Methode der Ableitung [14] juristischer Lösungen aus Seinsgegebenheiten – vornehmlich aus dem als vorrechtlich verstandenen Handlungsbegriff – ein System geschaffen, das sich zwar einerseits von dem der positivistischkausalen, klassischen Dreigliederung wesentlich unterscheidet, andererseits aber den kriminalpolitischen Zwecksetzungen in der Dogmatik keinen selbständigen Raum gibt. Mit Recht bemerkt Schaffstein, der sich selbst der finalen Handlungslehre verbunden fühlt, daß bei ihr „der Akzent durchaus auf der logischbegrifflichen Konstruktion“ liege. Das Spannungsverhältnis von Systemableitung und unmittelbarer Wertung, von dem wir ausgingen, wird jedenfalls auch und gerade durch den Finalismus nicht aufgehoben. VI. Dieser Eilmarsch durch die Geschichte unserer strafrechtlichen Denkmethoden hat gezeigt, daß die drei Grundforderungen, die wir an ein fruchtbares System zu stellen haben – begriffliche Ordnung und Klarheit, Wirklichkeitsbezug und Orientierung an kriminalpolitischen Zwecksetzungen – in den Ausformungen und Überlagerungen der methodologischen Prämissen, die uns heute als vielfach variierte „herrschende Lehre“ entgegentreten, immer nur ansatzweise und unter Vernachlässigung anderer Aspekte einseitig verwirklicht worden sind. Es scheint mir des-
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halb notwendig, daß unser Thema mehr als bisher zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion gemacht und bei der Systembildung berücksichtigt werde. Wenn Sie mir Goethe als Eideshelfer gestatten, so möchte ich es mit seinen Worten sagen: „Altes Fundament ehrt man, darf aber das Recht nicht aufgeben, irgendwo wieder einmal von vorn zu gründen“. [15] Ein solcher Versuch, den ich hier in einigen Grundlinien vortragen will, müßte davon ausgehen, daß die einzelnen Deliktskategorien – Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld – von vornherein unter dem Blickwinkel ihrer kriminalpolitischen Funktion zu sehen, zu entfalten und zu systematisieren sind. Diese Funktionen sind unterschiedlicher Art: Der Tatbestand steht unter dem Leitmotiv der Gesetzesbestimmtheit, auf das die Legitimation der Dogmatik oft allein reduziert worden ist; die Tatbestände dienen wirklich der Erfüllung des nullumcrimen-Satzes, und von ihm her muß die dogmatische Aufgliederung erfolgen. Die Rechtswidrigkeit dagegen ist der Bereich sozialer Konfliktlösungen, das Feld, auf dem widerstreitende Individualinteressen oder gesamtgesellschaftliche Belange mit den Bedürfnissen des einzelnen zusammenstoßen. Ob hier polizeiliche Eingriffsnotwendigkeiten mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Handlungsfreiheit des Staatsbürgers zum Ausgleich zu bringen sind oder ob aktuelle und unvorhersehbare Notsituationen eine Entscheidung verlangen: Es geht immer um die sozial richtige Regulierung von Interesse und Gegeninteresse. Das ist gewiß keine neue Einsicht. Welche im Vergleich mit der Tatbestandsinterpretation ganz andersartigen dogmatischen und systematischen Konsequenzen aber aus ihr zu ziehen sind, ist noch keineswegs hinreichend klargeworden. Die Verbrechenskategorie schließlich, die wir herkömmlicherweise „Schuld“ nennen, hat es in Wahrheit weniger mit der empirisch schwer verifizierbaren Ermittlung des Andershandelnkönnens als mit der normativen Frage zu tun, ob und inwieweit ein grundsätzlich mit Strafe bedrohtes Verhalten bei irregulären Persönlichkeits- oder situationsbedingten Umständen noch der Strafsanktion bedarf. Zu ihrer Beantwortung sind die strafbegrenzende Funktion des Schuldprinzips ebenso wie spezialund generalpräventive Erwägungen in die dogmatische Arbeit [16] einzubeziehen. Wenn etwa der Angehörige eines zur Gefahrenabwehr bestimmten Berufes (also der Polizist oder Feuerwehrmann) sich mit dem Hinweis auf eine Notstandssituation weniger leicht entschuldigen kann als ein anderer, so ist es ersichtlich der Schutz der Rechtsgüter, also ein Interesse der Allgemeinheit, das hier eine Sanktionierung erfordert, während ein in vergleichbarer Lage ohne spezifische soziale Rollenpflicht Handelnder straflos bleiben kann, weil er der Resozialisierung nicht bedarf und wegen der Außergewöhnlichkeit der Situation kein schlechtes Beispiel geben kann. Sieht man die Dinge so, dann sind es das Postulat des nullum-crimen-Satzes, die sozialregulierende Interessenabwägung in Konfliktsituationen und die Forderungen der Strafzwecklehre, die den uns geläufigen Deliktskategorien kriminalpolitisch zugrunde liegen. Zwei von ihnen, nämlich die Tatbestands- und Schuldlehre, sind von spezifisch strafrechtlichen Maximen her zu interpretieren, während der Bereich der Rechtswidrigkeit Aufgaben der Gesamtrechtsordnung wahrnimmt. Dem entspricht es, daß die Rechtfertigungsgründe allen Rechtsbereichen ent-
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stammen und so das Strafrecht mit den übrigen Rechtsgebieten zur Einheit der Rechtsordnung verklammern. VII. Unser zweiter Arbeitsgang muß der Frage gewidmet sein, wie sich von diesen Ausgangspunkten her das System entwickeln läßt. Wir beginnen dabei mit der Tatbestandslehre. Bekanntlich kann man hier zwischen den verschiedensten Elementen und Deliktsarten unterscheiden, die denn auch alle in dieser Rubrik in etwas wahllosem Nebeneinander aufgeführt zu werden pflegen. Von unserem Standpunkt aus muß das systematisch leitende Differenzierungskriterium aber dies sein, in welcher Weise die Forderungen des nullum-crimen-Grundsatzes gesetzgeberisch verwirklicht worden sind. Läßt man atypische Tatbestandsbildungen beiseite, so zeigt sich, daß es dafür zwei grundlegend verschiedene Methoden gibt, die der Gesetzgeber auch wechselweise verwendet hat. Die erste besteht in der möglichst präzisen Beschreibung von Handlungen: „Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche [17] Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen“ – das ist eine Deskription äußerer und innerer Fakten, die uns zusammen einen Räuber in Aktion zeigen. Man kann hier von einem Handlungsdelikt sprechen. Der zweiten Methode bedient sich der Gesetzgeber vorzugsweise dort, wo es ihm auf die äußere Beschaffenheit des Täterverhaltens nicht ankommt, weil der Grund der Sanktion darin liegt, daß jemand gegen die Leistungsanforderungen einer von ihm übernommenen sozialen Rolle verstößt. Wenn § 266 StGB etwa den mit Strafe bedroht, der „eine ihm obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt“, dann ist es ersichtlich gleichgültig, wie der Täter das macht, wenn er nur überhaupt in vermögensschädigender Weise seine Pflicht verletzt. Der nullapoena-Satz wird hier dadurch gewahrt, daß der Gesetzgeber sich auf Pflichten bezieht, die im außerstrafrechtlichen Bereich zwischen den Beteiligten festgelegt sind. Die rechtsstaatliche Problematik des § 266 liegt infolgedessen auch nicht im Mangel einer Handlungsbeschreibung, sondern in der Undeutlichkeit der hier in Bezug genommenen Pflichten. Wo diese Pflichten hingegen klar fixiert sind, ist durch einen die Handlungsbeschreibung ersetzenden Verweis auf sie den Anforderungen des nullum-crimen-Satzes vollauf Genüge getan. Denkt man etwa an die Tatbestände der Gefangenenbefreiung oder des Parteiverrats, so ist das äußere Verhalten des Täters durchaus beliebig; da jedoch die Pflichtanforderungen der sozialen Rolle des Gefängnisaufsehers und des Rechtsanwaltes dienst- und standesrechtlich hinreichend exakt festliegen, sind solche Tatbestände, die ich Pflichtdelikte nenne, den Handlungsdelikten unter Bestimmtheitsgesichtspunkten durchaus äquivalent. So weit, so gut. Der praktische Ertrag einer solchen systematischen Zweiteilung der Tatbestandslehre scheint mir in folgendem zu liegen: Zunächst einmal bringt der normative Ausgangspunkt die soziale Realität, die alle dogmatischen Differenzierungen untergründet, mit überraschender Klarheit in den Blick. Bei den Pflichtdelikten sind es rechtlich schon durchgeformte Lebensbereiche (die Beziehungen zwischen Vermögens- [18] fürsorger und Auftraggeber, Aufseher und
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Gefangenen, Rechtsanwalt und Mandanten), deren Funktionsfähigkeit durch die Tatbestände geschützt werden soll; bei den Handlungsdelikten bricht der Täter in friedensstörender Weise von außen (z.B. durch Totschlag, Raub, Öffnung fremder Briefe, heimliche Tonbandaufnahmen usw.) in Bezirke ein, die er von Rechts wegen unangetastet zu lassen hätte. Dieser in der Sache liegende Unterschied nun hat wiederum dogmatische Auswirkungen, die bisher noch keineswegs hinreichend deutlich erkannt worden sind. Ich kann in diesem Rahmen natürlich keinen kompletten Allgemeinen Teil vortragen, aber schon wenige Hinweise können verständlich machen, wie ich das meine. 1. Die bekannte und in den letzten Jahren in einer Vielzahl von Monographien erörterte Gleichstellungsproblematik bei Unterlassungstaten beispielsweise stellt sich bei Pflichtdelikten von vornherein anders als bei Handlungsdelikten. Wenn es nämlich der Verstoß gegen die aus einer übernommenen sozialen Rolle erwachsende Pflichtenstellung ist, die bestimmte Tatbestände konstituiert, dann ist es unter dem Gesichtspunkt der nullum-crimen-Problematik offenbar gleichgültig, ob dieser Verstoß durch Tun oder Unterlassen erfolgt. Ob der Aufseher, der einem Gefangenen zur Freiheit verhelfen will, pflichtwidrigerweise durch positives Tun die Tür der Haftanstalt öffnet oder ob er sie entgegen der Vorschrift zu schließen unterläßt, macht für den Tatbestand des § 346 StGB keinerlei Unterschied, ebensowenig wie es eine Rolle spielt, ob der Anwalt den Parteiverrat durch aktive Machenschaften oder durch Unterlassung notwendiger Maßnahmen begeht. Wo hingegen das nullum-crimen-Prinzip durch Handlungsbeschreibungen erfüllt wird, dort allerdings – und allein dort – ergibt sich die kaum lösbare paradoxe Frage, wie jemand durch Nichthandeln im Sinne einer präzisen Tatbeschreibung gehandelt haben soll. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Rechtsprechung sich insoweit in freier Rechtsfindung über das Fehlen einer tatbestandlichen Grundlage hinweggesetzt hat. Richtigerweise hätte bei Handlungsdelikten eine Gleichstellung des Unterlassens mit dem positiven Tun nur dort erfolgen dürfen, wo Pflichtdelikte in den Tatbestand eines Handlungsdeliktes eingelagert sind, wie z.B. in dem Fall, daß eine Mutter ihr Kind verhungern oder [19] daß ein Arzt den ihm anvertrauten Patienten durch pflichtwidrige Nichtverabfolgung der lebensrettenden Medikamente sterben läßt. Hier handelt es sich um eklatante Pflichtverstöße im Rahmen eines vorher bestehenden sozialen Beziehungsverhältnisses, die nur deshalb nicht zu Sonderdelikten ausgeformt werden mußten, weil der Handlungstatbestand auch des Totschlages sie überdeckt. Bei solchen verkappten Pflichtdelikten oder „unechten Handlungsdelikten“, wie man sie auch nennen könnte, ist es für die Tatbestandserfüllung freilich gleichgültig, ob der Arzt durch eine überdosierte Einspritzung oder durch deren völlige Unterlassung tötet, ob der Bahnbeamte den Zusammenstoß durch falsches Stellen oder durch Nicht-Stellen der Weiche herbeiführt. Denn bei der Ausübung strafrechtsunabhängiger sozialer Rollen, beim Kinderfüttern, Türenverschließen, Weichenstellen, Rechtsmitteleinlegen wird die Bedeutung von Tun und Lassen allein durch ihren Stellenwert im sozialen Beziehungsverhältnis bestimmt und enthält von daher ihre tatbestandliche Relevanz. Wenn dagegen außerhalb des sozialen Regelablaufes ein Unfall geschieht, ein Meineid geschworen wird oder ein Wirtshausgast sich betrinkt, dann sind Rettungs- und Hinderungspflichten von Unfallverursachern, Prozeßparteien, Serviermädchen usw. mit den tatbestandlich umschriebenen Handlungen so wenig iden-
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tisch, daß eine Subsumtion des Untätigbleibens unter diese Beschreibungen dem nullum-crimen-Satz nicht mehr gerecht wird. Die Ersetzung der fehlenden Handlung durch Erfolgsabwendungspflichten ist dort, wo der Gesetzgeber Handlungen tatbestandskonstituierend wirken läßt, in Wahrheit eine freie richterliche Rechtsschöpfung gewesen. § 330c StGB mit einigen Qualifikationen (etwa für die Ingerenzfälle, Angehörige usw.) und die Schaffung weniger echter Unterlassungsdelikte für sehr konkret angebbare Fallgruppen hätten hier das nullum-crimen-Postulat erfüllen und unsere Gleichstellungslehre vor dem verwirrenden Durcheinander bewahren können, das immer dann entstehen muß, wenn jeder Autor und auch die Gerichte den Umfang der Unterlassungshaftung in quasi gesetzesschöpferischer Weise nach ihren eige- [20] nen Vorstellungen bestimmen. Hier sollte – zumindest de lege ferenda – eine Umorientierung erfolgen; und sie hätte (bei gründlicher Ausarbeitung mit reichem dogmatischen Ertrage!) längst erfolgen können, wenn das kriminalpolitische Leitprinzip der Tatbestandslehre dogmatisch fruchtbar gemacht worden wäre. 2. Ein zweites Gebiet, auf dem die geschilderte Systematisierung ganz neue Einsichten erschließt, ist die Teilnahmelehre. Dogmatisch geht es hier um ein Tatbestandsproblem, nämlich um die Frage, inwieweit ein Verhalten noch unter die Deliktsbeschreibungen gebracht werden kann und damit täterschaftsbegründend wirkt. Nur soweit das nicht der Fall ist, kommen die Strafbarkeitsausdehnungsgründe der Anstiftung und Beihilfe in Betracht. Die Rechtsprechung hat leider die Hinordnung der Teilnahmelehre auf den Tatbestand von Anfang an verkannt und so schon den Ansatzpunkt für ihre gesetzlich gebotene Orientierung am nullumcrimen-Prinzip verfehlt. So konnte es geschehen, daß schon die loseste Beteiligung an Vorbereitungshandlungen – und wenn es nur ein Ratschlag oder ein zustimmendes Kopfnicken ist – jemanden vor unseren Gerichten zum Täter machen kann, während der zweifelsfrei tatbestandserfüllende Gefälligkeitstäter die Chance hat, mit der Gehilfenstrafe davonzukommen. Diese Entwicklung, die das Gesetz auf den Kopf gestellt und unsere Teilnahmelehre ins Chaos gestürzt hat, bezeichnet einen Irrweg, den auch die Rechtsprechung wohl oder übel wird verlassen müssen, weil der Wortlaut des 2. StrRG sich mit der sog. „subjektiven“ Theorie nicht mehr vereinbaren läßt. Es gilt zu erkennen, daß [21] auch hier zwischen Handlungs- und Pflichtdelikten ein grundlegender Unterschied besteht, weil ihre differenzierende Tatbestandsstruktur naturgemäß der Teilnahmelehre jeweils abweichende Linien vorzeichnen muß. Bei den Handlungsdelikten ist Täter, wer die jeweilige Tatbestandshandlung beherrscht; hier entscheidet also die Tatherrschaft. Bei den Pflichtdelikten hingegen handelt tatbestandsmäßig nur – aber auch stets – der, der die außerstrafrechtliche Pflicht verletzt, ohne daß es auf die Herrschaft über das äußere Geschehen im geringsten ankäme. Der Vermögensverwalter, der sich bei der Beiseiteschaffung des ihm anvertrauten Vermögens auch nur im geringsten beteiligt, ist allemal Täter der Untreue, während der Extraneus, der das äußere Geschehen womöglich allein in der Hand hat, trotz seiner Tatherrschaft nur Gehilfe sein kann. Von dieser Grundlage aus läßt sich ein nach Herrschaftsund Pflichtdelikten trennendes System der Täterlehre bis in die Einzelheiten mit erheblicher Exaktheit entwickeln. Ich habe das an anderer Stelle in aller Gründlichkeit durchzuführen versucht und verzichte deshalb jetzt auf weitere Explikati-
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onen. Daß eine systematische Betrachtungsweise der hier empfohlenen Art fruchtbar ist, scheint mir jedenfalls hinreichend dargetan zu sein. Ihr Ertrag für die Tatbestandslehre ist damit keineswegs erschöpft. So ergibt sich z.B. die Einordnung des Vorsatzes in den Tatbestand schon aus dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitserfordernis: Handlungen und Pflichtverletzungen lassen sich nicht als reine Kausalvorgänge beschreiben. Erst der Vorsatz [22] verleiht einem Geschehen begrenzende Konturen. Sieht man von ihm ab, wie es das sog. „klassische“ System unter dem fortwirkenden Einfluß des Naturalismus getan hat, so führt das zwangsläufig zu rechtsstaatlich bedenklichen Strafbarkeitsüberdehnungen. So ist es in der Teilnahmelehre geschehen, wo man jede wie immer geartete „Kausalität“ als objektiv für die Täterschaft ausreichend angesehen hat mit der Wirkung, daß entfernteste Vorbereitungshandlungen bei hinreichend bösem Willen die Tatbestandsstrafe auslösen können; die Tendenz zum Gesinnungsstrafrecht ist hier ganz unverkennbar, wie jede Analyse der Rechtsprechung belegt. In der Fahrlässigkeitsdog-matik andererseits lehrt die hier umrissene Systemkonzeption, daß wir in diesem Bereich nicht Handlungs-, sondern Pflichtdelikte vor uns haben. Infolgedessen kann eine dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechende Tatbestandsstrukturierung nur durch eine Typologie und Systematisierung der Verkehrspflichten erreicht werden, die zur Ausfüllung der – wie oft bei den Pflichtdelikten – blanketthaft formulierten Norm dienen. Die dogmatische Arbeit steht damit noch ganz am Anfang. Denn die überlieferte Reduzierung des Tatbestandes auf eine im Sinne der Äquivalenztheorie verstandene Kausalität hat einen von vornherein uferlos weiten Haftungsrahmen geschaffen, der auch durch die Merkmale der Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit nicht auf ein rechtsstaatlich vertretbares Maß eingegrenzt werden kann. Abstrakt vorhersehbar und vermeidbar ist nämlich fast alles. Der Umfang dessen, was man bei Strafe vorherzusehen und zu vermeiden verpflichtet ist, ist in Wahrheit viel geringer und muß durch fixierbare Verhaltenspflichten bestimmt werden. Rechtsinstitute wie das erlaubte Risiko oder [23] der Vertrauensgrundsatz, die sich außerhalb der systematischen Kategorien entwickelt haben, weisen den notwendigen Weg der Pflichtentypisierung, dessen systematische Ausarbeitung allein den Fahrlässigkeitstatbeständen die feste Struktur geben kann, die uns bei den Vorsatzdelikten selbstverständlich ist. Soviel zu den dogmatischen Auswirkungen einer vom nullum-crimen-Prinzip her geleiteten Tatbestandssystematisierung. Einige Andeutungen zur Methodologie, die ja durch das rechtspolitische Leitprinzip mitbestimmt wird, seien hinzugefügt. Die Tatbestandsmerkmale im engeren Sinne – also Begriffe wie „Gebäude“, „fremd“, „Sache“ usw. – sind die Domäne der Definition und des exakten Subsumtionsschlusses, die vielfach als die im Strafrecht allein anzuwendenden Rechtsfindungsmethoden angesehen werden. Wie wenig das der Fall ist, wird noch zu zeigen sein: Bei der Auslegung fixierbarer Tatbestandsmerkmale aber hat diese Verfahrensweise ihren Platz, weil die logische Abfolge von Prämisse, Subsumtion und conclusio dem Prinzip der Gesetzesbestimmtheit im höchsterreichbaren Grade gerecht wird. Die weitere Frage, wie der Inhalt des Tatbestandsbegriffes selbst festzulegen sei, wird meist sehr pauschal dahin beantwortet, daß die einzelnen Tatbestandsmerkmale vom geschützten Rechtsgut her teleologisch ausgelegt werden müßten. Dieser recht banale Grundsatz hat nicht unbedenkliche Auswir-
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kungen gehabt. Eine umfassende Analyse der Rechtsprechungsentwicklung könnte zeigen, daß unsere Gerichte, um einen von diesem Prinzip geleiteten, möglichst umfassenden und lückenlosen Schutz zu gewährleisten, eine extensive Tatbestandsinterpretation betrieben haben, die zum Ansteigen der Kriminalität bei manchen Delikten nicht unwesentlich beigetragen hat. Unter dem Blickwinkel des nullum-crimen-Satzes ist das Gegenteil richtig: nämlich eine restriktive, die magna-charta-Funktion des Strafrechts und seine „fragmentarische Natur“ aktualisierende Auslegung, die nur den zum Schutze des Rechtsguts unverzichtbaren Strafbarkeitsbereich begrifflich einfängt. Dazu bedarf es regulativer Prinzipien wie etwa der von Welzel eingeführten Sozialadäquanz, die kein Tatbestandsmerkmal, wohl aber ein Interpretationsbehelf bei der Restriktion von [24] Wortfassungen ist, die auch sozial erträgliche Verhaltensweisen decken. Hierher gehört ferner das sog. Geringfügigkeitsprinzip, das es bei den meisten Tatbeständen gestattet, bagatellarische Beeinträchtigungen von vornherein auszuscheiden: Eine Mißhandlung ist nicht jede, sondern nur die erhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens; entsprechend ist unzüchtig im Sinne des Strafgesetzbuches nur eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit, in krimineller Weise beleidigend nur eine schwerwiegende Beeinträchtigung des sozialen Achtungsanspruches. Als „Gewalt“ sollte nicht jede geringfügige, sondern nur eine nachhaltige Behinderung gelten, so wie auch eine Drohung „empfindlich“ sein muß, um die Schwelle der Kriminalität zu überschreiten. Wenn von diesen Ansätzen her das Instrumentarium unserer Tatbestandsinterpretation konsequent neugeordnet würde, wäre das über den Auslegungsgewinn hinaus ein bedeutender Beitrag zum Abbau der Kriminalität in unserem Lande. VIII. Wenden wir uns von hier aus den Rechtfertigungsgründen zu, deren kriminalpolitische Funktion wir vorhin als die der sozialen Konfliktlösung bezeichnet hatten, so gilt es zunächst zu erkennen, daß die empirische Realität, die dieser Deliktskategorie zugrunde liegt, sich vom Wirklichkeitsausschnitt der Tatbestände wesentlich unterscheidet. Mit den Rechtfertigungsgründen nämlich dringt die Dynamik sozialer Veränderungen in die Verbrechenslehre ein. Was eine Freiheitsberaubung, ein Hausfriedensbruch oder eine Beeinträchtigung der Körperintegrität ist, bleibt – abgesehen von Randverschiebungen im sozialadäquaten oder bagatellarischen Bereich – immer gleich. [25] Die Tatbestände sind also, soweit sie nicht durch Generalklauseln ihrer Aufgabe entfremdet werden, in die Grenzen sprachlich fixierter Begriffe gespannt. Die Gründe aber, aus denen es gestattet ist, Menschen festzunehmen, in Häuser einzudringen oder körperliche Eingriffe durchzuführen, wechseln ständig. Jede Änderung der Straf- oder Zivilrechtsordnung, jede Revision der Polizeigesetze, die sich wandelnden Anschauungen über Züchtigungsrechte, Impfzwang, Privatsphäre oder Demonstrationsrechte schaffen oder vernichten Rechtfertigungsgründe. Dieser Prozeß vollzieht sich nicht allein im Wege positivgesetzlicher Veränderung, sondern auch durch gewohnheitsrechtliche und richterliche Rechtsschöpfungen, wie sie im Züchtigungsrecht des Lehrers und im übergesetzlichen Notstand ihren bekanntesten Ausdruck gefunden haben. An der Ausformung dieser Eingriffsrechte, die soziale Notwendigkeit und individuelle Freiheit zum Ausgleich bringen, wirkt die gesamte Rechtsordnung mit.
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[26] Von dieser kriminalpolitischen Funktion her muß die Systematisierung der Rechtswidrigkeit in Angriff genommen werden. Es ist bekannt, daß die meisten bisherigen Versuche über sehr formale Abstraktionen oder lockere Aneinanderreihungen nicht hinausgekommen sind. Analysiert man die Mittel, mit denen der Gesetzgeber das Problem sozialer Konfliktlösung bewältigt, so zeigt sich jedoch, daß es sich um eine begrenzte Zahl materieller Ordnungsprinzipien handelt, die in verschiedenartiger Abwandlung den Inhalt der Rechtfertigungsgründe bestimmen und deren Zusammenspiel im konkreten Fall das Urteil über die soziale Nützlichkeit oder Schädlichkeit eines Verhaltens, über Rechtfertigung oder Unrecht, festlegt. Bei der Notwehr etwa sind es die Prinzipien des Selbstschutzes und der Rechtsbewährung, die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegen. Das heißt: Jeder hat das Recht, sich gegen verbotene Angriffe derart zur Wehr zu setzen, daß er keinen Schaden leidet. Er darf aber auch dort, wo er sich dem Angriff entziehen könnte, immer noch Notwehr üben. Das Prinzip der Rechtsbewährung (der Gedanke also, daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen brauche) greift hier über die Selbstschutzbelange hinaus und verdrängt auch das Güterabwägungsprinzip, das sonst bei den Rechtfertigungsgründen oft entscheidende Bedeutung gewinnt. Selbstschutz und Rechtsbewährung finden ihre gemeinsame Grenze nur an dem die gesamte Rechtsordnung durchwaltenden Prinzip der Verhältnismäßigkeit, das bei völliger Disproportionalität der im Widerstreit stehenden Rechtsgüter (also in den bekannten Fällen, daß zur Abwehr von bagatellarischen Schäden schwere Körperverletzungen zugefügt werden usw.) zur Versagung der Not- [27] wehr führt. Es sind demnach drei sozialregulierende Prinzipien, deren Verschränkung der Dogmatik des Notwehrrechtes den Weg weist; es wird noch zu zeigen sein, wie sich das auf die Interpretation auswirkt. Aus ähnlichen Prinzipienkombinationen bestehen auch die übrigen Rechtfertigungsgründe: Beim defensiven Notstand (§ 228 BGB) etwa verbinden sich Selbstschutz- und Güterabwägungsprinzip; denn das Rechtsbewährungsprinzip hat beim Fehlen eines persönlichen Angreifers keinen Sinn. Der sog. übergesetzliche Notstand enthält das Güterabwägungs- und das Autonomieprinzip. Das heißt: Grundsätzlich rechtfertigt die Wahrung des in der konkreten Situation wertvolleren oder stärker gefährdeten Rechtsgutes. Mit diesem Grundsatz kreuzt sich aber die Garantie der Persönlichkeitsautonomie, die es beispielsweise verbietet, daß jemand zum Wohle der Allgemeinheit zwangskastriert oder daß ihm zu Transplantationszwecken eine Niere wider seinen Willen herausoperiert werde. Es ist hier nicht der Ort, die Verknüpfung solcher Regelungsgesichtspunkte bei allen Rechtfertigungsgründen durchzuproben. An dieser Stelle kommt es nur darauf an, die Aufgabe der Systematik im Bereiche der Rechtswidrigkeit deutlich zu machen: Sie besteht darin, aus der Masse der Rechtfertigungsgründe den Katalog der sehr viel weniger zahlreichen sozialgestaltenden Prinzipien möglichst komplett herauszuarbeiten und deren Verhältnis zueinander – das Prinzipiengeflecht gewissermaßen – deutlich zu machen. Der innere Zusammenhang der auf diese Weise ans Licht zu hebenden Leitgesichtspunkte würde manche Fragen klären, die bisher in Ermangelung übergreifender Gesichtspunkte bei den verschiedenen Rechtfertigungsgründen widersprüchlich behandelt werden.
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So läßt sich z.B. aus § 81a StPO und aus den Impfgesetzen die allgemeine Erkenntnis gewinnen, daß das Autonomieprinzip ungefährlichen und keine Dauerwirkungen hinterlassenden körperlichen Eingriffen zur Wahrung überragender Rechtsgüter nicht im Wege steht; dann kann es aber nicht richtig sein, daß beim übergesetzlichen Notstand die zwangsweise Blutentnahme zur Rettung eines unmittelbar bedrohten Menschenlebens schlechthin unzulässig sein soll, wie es die herrschende Meinung [28] annimmt. Oder wenn etwa das Prinzip des Vorranges staatlicher Zwangsmittel, das sich als tragender Grundsatz sozialer Konfliktslösung aus § 229 BGB und zahlreichen anderen Vorschriften entnehmen läßt, den Weg zum Gericht der gewaltsamen privaten Selbsthilfe vorordnet, dann kann eine Lahmlegung des Verkehrs selbst bei ungerechtfertigt hohen Tarifen niemals durch übergesetzlichen Notstand gerechtfertigt sein. Die mir vorschwebende Systematisierung der Rechtfertigungsprinzipien würde aber auch unabhängig von den übergreifenden Einsichten, die sie vermittelt, bei der Durchstrukturierung der einzelnen Unrechtsausschließungsgründe Wesentliches leisten. Die Entwicklung der Notwehrdogmatik z.B., die in den letzten Jahrzehnten immer mehr dahin gegangen ist, bei Angriffen von Kindern und Geisteskranken oder bei der Abwehr selbstverschuldeter Angriffe eine Ausweichpflicht zu bejahen, läßt sich durch das hier vorgeschlagene Verfahren als in der Sache richtig erweisen. Denn wenn der notwendige Selbstschutz eine Verletzung des Angreifers nicht fordert, könnte sie nur durch das Rechtsbewährungsprinzip gestattet sein. Dieses Prinzip kann aber von seinen kriminalpolitischen Prämissen her nicht für Kinder und Geisteskranke gelten, weil die Rechtsordnung sich nicht an Menschen zu „bewähren“ braucht, die durch die von ihnen übertretenen Normen nicht motiviert werden konnten und gerade deshalb straflos bleiben. Und es gilt, wie ich schon [29] früher in einer hier nicht näher auszuführenden Analyse nachzuweisen versucht habe, auch nicht für selbst verschuldete Angriffe, weil der Angegriffene in einem solchen Falle zwar Schaden von sich abwenden, aber wegen seiner Mitverantwortung für das Geschehen nicht zugleich die Belange der Gesamtrechtsordnung wahrnehmen darf. Diese Andeutungen sollen zugleich zeigen, daß die Dogmatik der Rechtfertigungsgründe wegen ihrer kriminalpolitisch abweichenden Zielsetzung auch methodologisch ganz anders zu verfahren hat als die Tatbestandsdogmatik. Die Rechtfertigungsgründe dienen nicht der Beschreibung von Handlungen (oder gar Pflichtverletzungen): Sie können das schon deshalb nicht tun, weil sie in aller Regel für viele Tatbestände gemeinsam gelten und die Art des erlaubten Eingriffs durch die Einzelheiten der oft unwiederholbaren Not- und Zwangssituation bestimmt wird. Es läßt sich hier also nicht mit der Subsumtion unter begrifflich fixierte Deskriptionen arbeiten. Vielmehr kann das geschriebene Recht nur verhaltensleitende Maßstäbe (nämlich die von mir geschilderten Prinzipien) aufstellen, die [30] an Hand des Rechtsstoffes zu konkretisieren sind. Diese Aufgabe der Entfaltung rechtlicher Ordnungsmaßstäbe vollzieht sich anders als die Tatbestandsinterpretation: Es ist für die einzelnen Rechtfertigungsgründe eine Phänomenologie der typischen Sachverhaltskonstellationen zu entwerfen (die bei der Notwehr also etwa nach den Angriffen von Kindern, Jugendlichen, Unzurechnungsfähigen, vermindert Zurechnungsfähigen, absichtlich, vorsätzlich oder fahr-
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lässig Provozierten, nach dem Gesichtspunkt innerfamiliärer oder externer Auseinandersetzung, nach Angriffen auf die Ehre oder auf die Körperintegrität usw. zu differenzieren wäre). Auf diese Weise entsteht ein gegliedertes Bild der Lebenserscheinungen, eine Landkarte der Notwehr gewissermaßen. Der nächste Arbeitsgang besteht dann darin, – wenn ich weiter bei dem einmal gewählten Rechtfertigungsgrund bleiben darf –, die Prinzipien des Selbstschutzes, der Rechtsbewährung und der Verhältnismäßigkeit in die verschiedenen Ausschnitte der Notwehrbeschreibung als normative Leitlinien – als Wegweiser, wenn wir im Bilde bleiben wollen – einzuzeichnen. Aus dem Aufeinanderwirken von Rechtsstoff und Verhaltensmaßstab ergeben sich dann nach Fallgruppen abgewandelte Lösungen, die ein hohes Maß an Bestimmtheit mit kriminalpolitischer Richtigkeit verbinden. Daß darin gegenüber unserer bisherigen Praxis ein Fortschritt liegt, läßt sich leicht erkennen. Die zahlreichen Urteile, die zur Notwehrproblematik in den letzten 20 Jahren Stellung nehmen mußten, berücksichtigen mit Recht die hier skizzierten Gesichtspunkte, müssen sich aber mangels dogmatischer Wegleitung mit allgemeinen Billigkeitserwägungen, mit der inhaltsleeren Zumutbarkeitsformel oder den kaum auslegungsfähigen Begriffen der Erforderlichkeit und Gebotenheit mühsam zu befriedigenden Ergebnissen hindurchtasten, deren Unsicherheit zu widersprechenden Entscheidungen führt. Dadurch entsteht der Eindruck einer Aufweichung des Notwehrrechtes, während das hier empfohlene Verfahren, das in entsprechender Weise überall anzuwenden wäre, dem umfangreichen Feld der Rechtfertigungsgründe feste Konturen geben würde. [31] Die eigenständige kriminalpolitische, dogmatische und methodologische Beschaffenheit des Rechtfertigungsbereichs läßt auch Rückschlüsse auf die Bedeutung des nullum-crimen-Satzes für die Eingriffsrechte zu. Da ihr Vorliegen oder Fehlen den deliktischen Charakter eines Verhaltens mitbestimmt, gilt Art. 103 Abs. 2 GG selbstverständlich auch hier. Doch wirkt sich das Postulat der Gesetzesbestimmtheit nach dem Gesagten nicht als Strukturprinzip dieser Deliktskategorie, sondern nur als Grenze für die Wandelbarkeit der sozialregulierenden Prinzipien aus. Das heißt: Da die Eingriffsrechte dem gesamten Rechtsbereich entstammen und, wie das Beispiel des übergesetzlichen Notstandes zeigt, auch ohne strafgesetzliche Fixierung aus allgemeinen Grundsätzen des positiven Rechts hergeleitet werden können, beeinflußt die vom nullum-crimen-Denken unabhängige Entwicklung anderer Rechtsgebiete über die Rechtfertigungsgründe unmittelbar den Umfang der Strafbarkeit, ohne daß das Strafgesetzbuch sich dabei ändern müßte. Die „lex“ des Art. 103 Abs. 2 GG ist also nicht wie beim Tatbestand das Strafgesetz, sondern die Gesamtrechtsordnung. Insofern bringt die Dynamik der Rechtfertigungsgründe der Natur der Sache nach eine Auflockerung des nullum-crimen-Prinzips mit sich. Die Wandelbarkeit der rechtlichen Ordnungsmaßstäbe findet aber insoweit ihre Grenze am Bestimmtheitsgebot, als es unzulässig ist, durch kriminalpolitisch motivierte Erwägungen ein gesetzliches Regelungsprinzip hinwegzuinterpretieren oder ohne gesetzliche Grundlage einzuschränken. So ist es z.B. nach geltendem Recht nicht zulässig, die Strafbarkeit im Notwehrbereich dadurch zu erweitern, daß man das Güterabwägungsprinzip generell auf diesen Rechtfertigungsgrund überträgt oder [32] daß man das Rechtsbewährungsprinzip ablehnt und überall eine Ausweichpflicht annimmt, wo man sich einem Angriff entziehen kann. Beides mag kriminalpolitisch diskutabel oder sogar ver-
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nünftig sein. Aber die Entfaltung kriminalpolitischer Prinzipien darf sich von den Maßstäben des Gesetzgebers nicht lösen. Wo sie es tut, dient sie der lex ferenda und verläßt den Boden der Gesetzesauslegung. In diesem Punkt hat der nullumcrimen-Satz bei den Rechtfertigungsgründen durchaus seine Funktion. Andererseits wiederum spielt die Auslegungsgrenze der möglichen Wortbedeutung, die bei den Tatbeständen entscheidend ist, bei den Rechtfertigungsgründen keine maßgebliche Rolle: Man muß, um ein früheres Beispiel aufzugreifen, dem Angriff von Kindern ausweichen, obwohl sich das nicht der sprachlichen Bedeutung der in § 53 StGB verwendeten Worte, sondern allein dem Gehalt der aus ihnen zu gewinnenden Rechtfertigungsprinzipien entnehmen läßt. Das alles läßt sich hier nur skizzenhaft und in vorläufiger Form umreißen: Es mag aber doch einen Eindruck davon erwecken, welches Arbeitsfeld die Rechtfertigungsdogmatik noch vor sich hat. IX. [33] Die dritte unserer systematischen Grundkategorien – die Schuld – wird kriminalpolitisch von der Strafzwecklehre her geprägt. Steht nämlich einmal fest, daß das Handeln des Täters vom Standpunkt sozialer Konfliktsregelung aus falsch war, dann bleibt für die dogmatische Arbeit nur noch die weitere Frage zu beantworten, ob ein solches Verhalten Strafe verdient. Mit dieser Frage hat alles zu tun, was unter dem Gesichtspunkt der Schuld abgehandelt zu werden pflegt. Um mit dem einfachsten zu beginnen: Wenn jemand – aus welchem Grunde auch immer – das von ihm verwirklichte tatbestandliche Unrecht nicht vermeiden konnte, ist eine Bestrafung vom Standpunkt jeder nur denkbaren Straftheorie aus schlechthin zwecklos: Man kann eine fehlende Schuld nicht vergelten wollen; die Allgemeinheit von der Herbeiführung unvermeidbarer Folgen abschrecken zu wollen, hat keinen Sinn; und eine spezialpräventive Einwirkung auf einen Menschen, dem man sein Verhalten nicht vorwerfen kann, ist entweder unnötig oder, wie bei Geisteskranken, durch das Mittel der Strafe nicht zu erreichen. Das sind selbstverständliche Einsichten, auch wenn sie erst im Laufe einer langen Rechtsentwicklung haben durchgesetzt werden müssen. Aber die Dogmatik der Schuldlehre erschöpft sich in ihnen nicht. Denn in diesen Bereich gehören auch Konstellationen, bei denen der Erfolg sich möglicherweise hätte verhindern lassen, und gerade hier werden die Antinomien der Strafzwecklehre dogmatisch fruchtbar. Ich nenne nur drei Beispiele: 1. Es ist bekannt, daß bei den Zwangssituationen, die vom Gesetz als Schuldausschließungsgründe ausgestaltet sind (also vornehmlich den §§ 52, 54, 53 III StGB), die Mög- [34] lichkeit des Andershandelns nicht schlechterdings fehlt. Jeder Krieg hat gezeigt, daß der Mensch notfalls auch Lebensgefahren bestehen kann. Wenn der Gesetzgeber trotzdem schon bei Handlungen, die unter dem Druck einer ernsten Leibesgefahr erfolgt sind, auf eine Sanktion verzichtet, dann geschieht das deswegen, weil die irreguläre Unwiederholbarkeit solcher Situationen general- und spezialpräventive Einwirkungen unnötig macht, die – geringe – Schuld als solche aber eine staatliche Strafe nicht rechtfertigen kann. Von der Sache her wäre es also vielleicht richtiger, von Verantwortlichkeit anstatt von Schuld zu sprechen. Denn die Schuld ist nur einer der Faktoren, die über die straf-
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rechtliche Verantwortlichkeit entscheiden. Gerade der Umstand, daß bei den anfangs erwähnten gefahrenträchtigen Berufen andere Entschuldigungsmaßstäbe gelten, beweist, wie bei gleicher Schuldhöhe präventive Gesichtspunkte über die Sanktionsbedürftigkeit entscheiden können. 2. Der dogmatische Ertrag einer solchen Betrachtungsweise zeigt sich besonders dort, wo der Gesetzgeber eine Rechtsfolge offengelassen hat. Das bedeutendste Beispiel dafür ist die Irrtumslehre. Die Frage etwa, die in den Fünfzigerjahren die heftigsten wissenschaftlichen Diskussionen ausgelöst hat, wie die irrige Annahme von Rechtfertigungsvoraussetzungen zu beurteilen sei, kann weder aus der Handlungslehre noch aus einer vermeintlich vorgegebenen Struktur des Vorsatzes oder sonstigen begriffslogischen Ableitungen beantwortet werden. Vielmehr sollte die Verhängung der Vorsatzstrafe richtigerweise allein davon abhängig gemacht werden, ob jemand, dessen Handlungsziele mit den rechtlichen Vorstellungen des Gesetzgebers völlig übereinstimmen, der aber aus Unachtsamkeit die äußere Situation verkennt, von den Aufgaben des Strafrechts her als vorsätzlicher Delinquent behandelt werden muß. Daß eine solche Annahme – auch bei einem Irrtum über die Voraussetzungen des übergesetzlichen Notstandes – völlig verfehlt wäre und in aller Regel selbst eine Fahrlässigkeitsbestrafung bei solchen Taten unnötig und [35] unangemessen ist, habe ich an anderer Stelle ausführlich nachzuweisen versucht. In diesem Zusammenhang wichtig ist mir nur der Hinweis, daß die sog. Irrtumstheorien allein von der Strafzwecklehre her begründet werden sollten. Ein Auseinanderklaffen von systemgebundener dogmatischer Konstruktion und kriminalpolitischer Wertung wäre dann von vornherein unmöglich. 3. Entsprechendes gilt für den Rücktritt vom Versuch, der herkömmlicherweise unter die persönlichen Strafaufhebungsgründe eingeordnet wird. Aber zu Unrecht: Gegenstand strafrechtlicher Beurteilung sind nicht Teilmomente, sondern alle relevanten Umstände des Gesamtgeschehens, d.h. also die Versuchshandlung unter Einschluß des Rücktritts. [36] Auch für den Richter geht es nicht um eine Strafaufhebung; er hat darüber zu entscheiden, ob in Rücktrittsfällen eine Strafe überhaupt erst verhängt werden soll. Ob aber das Verhalten des zurückgetretenen Täters der Sanktionierung bedarf, ist eine genuin strafrechtliche Frage, die deshalb richtigerweise im Bereich der Schuld behandelt werden muß. Kategorien wie die der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, der persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe erhalten demgegenüber ihren Inhalt nicht aus kriminalpolitischen, sondern aus davon unabhängigen allgemein rechtspolitischen Überlegungen. Wenn etwa die Indemnität der Abgeordneten oder die mangelnde Verbürgung der Gegenseitigkeit bei strafbaren Handlungen gegen ausländische Staaten einer Bestrafung im Wege stehen, dann ergibt sich das nicht aus den Aufgaben des Strafrechts, sondern aus dem Interesse an der Funktionsfähigkeit unserer Parlamente und aus politischen Belangen im zwischenstaatlichen Verkehr. Ebenso ist die Straflosigkeit des Ehegattendiebstahls nur insoweit ein persönlicher Strafausschließungsgrund, als man die ratio dieser Vorschrift im Schutz des Familienfriedens erblickt. Hält man dagegen wegen der Besonderheit der Ehegattenbeziehung schon eine Strafwürdigkeit für nicht gegeben, handelt es sich um ein Schuldproblem mit der Folge, daß beispielsweise die Irrtumsfragen völlig anderer Beurteilung unterliegen.
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Von hier aus gesehen kann nicht zweifelhaft sein, daß der Rücktritt vom Versuch kein allgemein rechtspolitisches, sondern ein spezifisch kriminalpolitisches Problem ist. Der Begriff der Freiwilligkeit, an den die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts geknüpft ist, ist also normativ, und zwar von der Strafzwecklehre her auszulegen. Wenn jemand den zum tödlichen Schlage schon erhobenen Arm wieder sinken läßt, weil er es im letzten Augenblick doch nicht übers Herz bringt, sein Opfer zu töten, dann kann es für die Bejahung der Freiwilligkeit des Rücktritts nicht auf die empirisch ohnehin meist unlösbare Frage ankommen, ob dem Zurücktretenden ein Weiterhandeln psychisch noch möglich gewesen wäre. Entscheidend ist viel- [37] mehr, daß der Rücktritt sich von den Maßstäben des Verbrecherhandwerks her als unvernünftig und damit vom Standpunkt des Gesetzes aus als Rückkehr zur Legalität darstellt. Ist das, wie in meinem Beispiel, der Fall, so ist die Freiwilligkeit allemal zu bejahen. Denn was der Täter selbst noch vor dem Erfolgseintritt wieder gutgemacht hat, braucht ihm nicht vergolten zu werden. Eine Allgemeinabschreckung ist überflüssig, und auch der Sicherungs- und Besserungszweck der Strafe entfällt. Maßgebend ist also nicht die Stärke des psychischen Motivationsdruckes, die den Täter zum Rücktritt bewegt, sondern der Umstand, daß er bei einer Gesamtbeurteilung seines Tatverhaltens letzten Endes in den Bahnen des Rechtes geblieben ist. Das psychologische Paradox, mit dem die Rechtsprechung sich sehr hat abmühen müssen, daß nämlich die Begründung der Freiwilligkeit eines Rücktritts um so schwieriger wird, je stärker die Gewissensbedenken sind, die den Täter von der Vollendung abgehalten haben, löst sich bei einer solchen Betrachtungsweise in nichts auf. Entsprechendes gilt im umgekehrten Fall: Wenn der Täter nur deshalb zurücktritt, weil er beobachtet worden ist und eine Anzeige befürchtet, so mag ihm, wie es bei den kaltblütigsten Delinquenten am ehesten geschieht, die Deliktsvollendung sehr leicht noch möglich sein. Aber darauf kommt es nicht an. Denn das Absehen von der Tatausführung zeigt hier nur, daß wir keinen tölpelhaften, sondern einen vom Standpunkt der Verbrechervernunft aus klugen Delinquenten vor uns haben. Die Notwendigkeit spezialpräventiver Einwirkung wird dadurch nicht vermindert; und das schlechte Beispiel, das der Täter gesetzt hat, läßt auch aus generalpräventiven Gründen eine Strafsanktion als erforderlich erscheinen. Ein solcher Rücktritt ist also unfreiwillig. Die wenig geglückte Wortfassung des § 46 StGB und irreführende Faustregeln wie die Franksche Formel („Ich will nicht, obwohl ich kann; ich kann nicht, obwohl ich will“) haben lange Zeit bewirkt, daß der normative Gehalt des Rücktrittsprivilegs durch verquälte psychologische Konstruktionen fast verschüttet [38] wurde. Darin zeigen sich die Schwächen einer Dogmatik, die viel zu wenig darum bemüht gewesen ist, die leitenden Wertungsgesichtspunkte der gesetzlichen Straffreistellungen herauszuarbeiten und zur Grundlage ihres Systems zu machen. Die rein begrifflich-konstruktive Zweiteilung zwischen strafbegründendem Versuch und strafaufhebendem Rücktritt und die daraus abgeleitete Zuweisung zu einer besonderen „Verbrechensstufe“ ist nämlich dogmatisch durchaus unfruchtbar und hat die Rücktrittslehre in eine Vielzahl von Einzelergebnissen zerfallen lassen, deren Wertungszusammenhang kaum noch erkennbar ist. So läßt beispielsweise allein die oben entwickelte kriminalpolitische Deutung des Freiwilligkeitskriteri-
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ums die These der Rechtsprechung plausibel werden, daß der Täter seinen Plan endgültig aufgegeben haben muß, wenn er die Straffreiheit erlangen will. Vom hier vertretenen Standpunkt aus ist diese Forderung deshalb ohne weiteres einleuchtend, weil das Verschieben der Ausführung auf die nächste, günstigere Gelegenheit natürlich keine Rückkehr in die Legalität bedeutet. Die von den psychologisierenden Lehren her zu stellende Frage nach der Stärke des Motivationsdrucks gibt demgegenüber für die Lösung eines solchen Problems überhaupt nichts her, so daß die von der Rechtsprechung verfochtene Annahme bei aller Richtigkeit dogmatisch in der Luft hängt. [39] Damit will ich die Reihe der Beispiele verlassen. Sie mögen – fragmentarisch, wie sie notgedrungen sind – doch einen Eindruck davon vermittelt haben, daß eine Systematisierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von der Strafzwecklehre her manche alten Streitfragen in ein anderes und helleres Licht rücken könnte. Diese Aussage soll hier nur als Programm verstanden werden: Seine Ausarbeitung setzt von den straftheoretischen Grundfragen bis hinab zu den Details der Fahrlässig-keitsdogmatik mehr voraus, als auf kurzem Raum gegeben werden kann. Stattdessen noch ein Wort zum nulla-poena-Satz: Er darf, da auch die Schuldmerkmale dazu dienen, das Maß des Strafbaren zu bestimmen, in diesem Bereich nicht etwa außer Kraft gesetzt werden. Aber er entfaltet hier – ähnlich wie auf dem Felde der Rechtswidrigkeit – keine systembildende Kraft und hindert den Gesetzgeber auch nicht, ungeklärte Fragen des Schuldausschlusses offenzulassen. Das zeigt die Behandlung zahlreicher Irrtumsfragen im geltenden und im künftigen Recht ebenso wie die Rolle der Unzumutbarkeit bei Unterlassungs- und bei Fahrlässigkeitsdelikten, wo die auf vorsätzliche Begehungsdelikte zugeschnittenen Entschuldigungsgründe den Anforderungen des Schuldprinzips nicht überall genügen können. Es ist eine vordringliche Aufgabe, solche weißen Flächen auf der dogmatischen Landkarte mit Hilfe der geschilderten kriminologischen Maßstäbe in systematisierender Arbeit zu erschließen. Das nullum-crimen-Postulat steht dem nicht entgegen, da es ja nicht einmal die Ausbildung neuer Rechtfertigungsgründe hindert. Wenn andererseits der Gesetzgeber gesprochen hat, darf seine Regelung auch dort nicht durch Analogien zuungunsten des Täters überspielt werden, wo sie von den normativen Leitgedanken der Schuldlehre her als wenig sachgerecht angesehen werden muß. Das gilt z.B. für die objektive Fassung des § 46 Nr. 2 StGB, die in manchen Fällen trotz fehlender Freiwilligkeit Straffreiheit gewährt. Hier ist es die Aufgabe der Dogmatik, solche Unstimmigkeiten herauszuarbeiten und den Gesetzgeber zu ihrer Beseitigung anzu- [40] halten. Daß dagegen zugunsten des Täters die bessere Sacheinsicht schon nach geltendem Recht durchgesetzt werden darf, versteht sich am Rande. X. Einige resümierende und systematisch über das Bisherige hinausgreifende Bemerkungen sollen diesen Abriß beschließen. Strafrecht und Kriminalpolitik: Das sind, wenn man meinen Darlegungen folgt, nicht die Gegensätze, als die sie sich in der Überlieferung unserer Wissenschaft darstellen. Das Strafrecht ist vielmehr die Form, in der kriminalpolitische Zielsetzungen in den Modus des rechtlichen Geltens überführt werden. Wenn die Verbrechenslehre in diesem Sinne teleologisch
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aufgebaut wird, fallen die Einwände, die sich gegen die aus positivistischen Zeiten überkommene abstrakt-begriffliche Dogmatik erheben lassen, allesamt dahin. Ein Auseinanderklaffen von dogmatischer Konstruktion und kriminalpolitischer Richtigkeit ist von vornherein nicht möglich, und auch das beliebte Verfahren, die kriminologische und die strafrechtsdogmatische Arbeit gegeneinander auszuspielen, verliert seinen Sinn: Denn kriminologische Einsichten in kriminalpolitische Forderungen und diese in rechtliche Regeln der lex lata oder ferenda zu verwandeln – das ist ein Prozeß, dessen einzelne Stadien für die Herstellung des sozial Richtigen gleichermaßen notwendig und wichtig sind. Ein solches Eindringen der Kriminalpolitik in die juristischen Bereiche der Strafrechtswissenschaft führt auch nicht zur Aufgabe oder zur Relativierung des Systemgedankens, dessen Erträge an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit unverzichtbar sind; im Gegenteil läßt ein teleologisches System der vorgeschlagenen Art die inneren Zusammenhänge eines Rechtsgebietes, die ja nur im Normativen liegen können, deutlicher hervortreten als ein aus Abstraktionen oder Axiomen deduzierendes System. Schließlich ist trotz der normativen Grundlage der Wirklichkeitsbezug einer solchen Dogmatik wesentlich enger als er es im Reiche systematischer Begriffspyramiden sein kann. Denn während immer weiter aufsteigende Abstraktionen sich von der [41] Realität in zunehmendem Maße entfernen, nötigt die Entfaltung der jeweils leitenden kriminalpolitischen Gesichtspunkte zum Abschreiten des gesamten Regelungsstoffes; nur die Breite der Lebensrealität mit allen ihren Abwandlungen ermöglicht jene Konkretisierung der Maßstäbe, die im Einzelfall ein richtiges – d.h. der Besonderheit des Falles angepaßtes – Ergebnis hervortreten läßt. Das vielberufene Denken aus der Natur der Sache bedeutet nichts anderes, als daß ein leitender Wertungsgesichtspunkt je nach der Art des Regelungssubstrates zu wesentlich abweichenden Ergebnissen führen kann. Eben daher rührt die sich anbahnende relative Verselbständigung der Unterlassungs- und Fahrlässigkeitsdogmatik oder die Neigung zu einer den gesamten Rechtsstoff ausbreitenden Fallgruppensystematik, wie ich sie am Beispiel der Notwehr dargestellt habe. Natürlich besteht hier auch ein enger Zusammenhang mit den Tendenzen zur Konkretisierung oder Individualisierung des Strafrechts, wie sie in neueren methodologischen Monographien eindrucksvoll beschrieben worden ist. Die Schwäche der abstrahierenden Systeme liegt ja nicht nur in ihrer Abwehrstellung gegen die Kriminalpolitik, sondern noch allgemeiner in einer Vernachlässigung der Besonderheiten des Einzelfalles, darin also, daß die Rechtssicherheit in vielen Fällen mit einer Einbuße an Gerechtigkeit erkauft wird. Diese Stich- [42] wörter sollen nur zeigen, wie zahlreiche, an den verschiedensten Punkten einsetzende methodologische Bemühungen in die Ausarbeitung eines solchen Systementwurfs eingebracht werden müßten. Das kann jetzt nicht geschehen. Nur auf eine wichtige systematische Konsequenz will ich zuletzt noch hinweisen. Fast alle bisherigen Verbrechenslehren sind Elementensysteme, d.h. sie zerlegen das deliktische Verhalten in eine Vielzahl von Einzelmerkmalen (objektive, subjektive, normative, deskriptive usw.), die auf verschiedenen Stufen des Verbrechensaufbaus eingeordnet sind und dadurch wie in einem Mosaik zum gesetzlichen Bilde der Straftat zusammengesetzt werden.
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Dieser Ansatz führt dazu, großen Scharfsinn auf die Frage zu verwenden, welchen Standort im Verbrechenssystem dieses oder jenes Merkmal einnimmt; man kann so die Geschichte der Verbrechenslehre in den letzten Jahrzehnten als eine Wanderung von Deliktselementen durch die verschiedenen Stockwerke des Systems beschreiben. Folgt man dagegen der hier entwickelten Konzeption, so sieht die Fragestellung von vornherein anders aus: Es ist dann immer das gesamte Geschehen unter dem Blickwinkel der jeweiligen Verbrechenskategorie zu betrachten. Dann ergibt sich, daß zwar nicht alle Momente der Handlungssituation für Tatbestand, Unrecht und Schuld gleichermaßen bedeutend sind; beispielsweise ist es überflüssig, ein gerechtfertigtes Tun noch unter dem Gesichtspunkt der persönlichen Verantwortlichkeit ins Auge zu fassen. Es ist aber – und darin liegt der wesentliche Unterschied – verfehlt anzunehmen, daß irgendein Umstand, weil er für den Tatbestand wichtig ist, deshalb für die Schuld keine Bedeutung mehr haben dürfte. Die berühmte Streitfrage, ob der Vorsatz zum Tatbestand oder zur Schuld „gehört“, ist deshalb ein Scheinproblem. Der Vorsatz ist für den Tatbestand wesentlich, weil ohne ihn die ge- [43] setzliche Deliktsbeschreibung nicht in der rechtsstaatlich erforderlichen Weise zu profilieren ist; er ist aber ebenso unter dem Aspekt der Schuld relevant, weil er die schwerere Schuldform von der leichteren (der Fahrlässigkeit) abgrenzen soll und insofern nach den Wertungsprinzipien dieser Deliktskategorie inhaltlich ausgeformt werden muß. Solche doppelrelevanten Merkmale gibt es auch sonst: So tragen viele Gesinnungsmerkmale zur Tatbeschreibung bei und sind insofern tatbestandsrelevant, während sie andererseits zur Spezifizierung der Verantwortlichkeit dienen und so auch unter Schuldgesichtspunkten eine Rolle spielen. Der entschuldigende Notstand ist gleichzeitig als Unrechtsminderungsgrund von Bedeutung, weil er neben der rechts-gutsbeeinträchtigenden auch, wenngleich nicht überwiegend, rechtsgutserhaltende Wirkung hat. Das alles kann wieder für Teilnahme- und Irrtumsfragen wesentlich werden und so die dogmatische Arbeit nicht nur von überflüssigen Einordnungsproblemen entlasten, sondern auch zur Erreichung sachgerechter Ergebnisse beitragen. Damit bin ich am Ende. Wenn ich mir gestattet habe, Ihre Aufmerksamkeit für systematische Grundfragen der allgemeinen Verbrechenslehre in Anspruch zu nehmen, so bin ich mir bewußt, daß es hier um Aufgaben geht, die sich in Form eines Vortrages kaum lösen lassen. Doch ging es mir darum, wenigstens ansatzweise zu zeigen, daß auch die Strafrechtssystematik, die manche in ihren Möglichkeiten für erschöpft halten, von ihren Grundlagen her immer wieder von neuem durchdacht werden muß. Die Wandlungen der Kriminalpolitik und unseres Methodenbewußtseins, die sich in den letzten Jahren vollzogen haben, müssen das System unseres Allgemeinen Teils, wenn es seine Leistungsfähigkeit bewahren soll, mit sich wandeln, so daß wir auch auf diesem Felde immer wieder am Anfang stehen. [44]
Nachwort [45] Die kleine Schrift, die hier in zweiter Auflage vorgelegt wird, hat zu meiner Freude im In- und Ausland erhebliches Interesse gefunden. Ich will deshalb – soweit der beschränkte Raum eines Nachwortes das zuläßt – das Gespräch fortset-
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zen und zu einigen Einwänden Stellung nehmen, die mir besonders wichtig erscheinen. 1. Bedenken gegen meine „Grundthese“ meldet Stratenwerth an. Er ist mit mir zwar darin einig, daß es in der Strafrechtsdogmatik um „Wertentscheidungen“ nach bestimmten Ordnungsprinzipien geht. Aber er meint, es handele sich dabei nicht um spezifisch kriminalpolitische Entscheidungen. „Kriminalpolitik hat es mit nichts anderem als den zur Verbrechensbekämpfung notwendigen oder zweckmäßigen strafrechtlichen Reaktionen zu tun. Der nullum-crimen-Satz erfüllt daher keine spezifisch kriminalpolitische Funktion, sondern kann etwa bei der Verfolgung paralegaler, erfahrungsgemäß in echte Kriminalität umschlagender Verhaltensweisen nur hinderlich sein.“ Was Stratenwerth hier vorträgt, ist die dualistische Vorstellung Liszts, über die ich gerade hinaus möchte. Daß es nach heutiger Auffassung kriminalpolitisch sinnvoll sei, ohne Bindung an Tatbestände und das Schuldprinzip alle möglichen „paralegalen“ Verhaltensweisen gewissermaßen vorbeugend mit Strafe zu belegen, wird sich doch schwerlich behaupten lassen. Vielmehr ist die Spannung zwischen Verfolgungs- und Freiheitsinteresse schon dem Begriff der Kriminalpolitik eigen; es handelt sich bei ihrem Ausgleich [46] um eben jene dialektische Synthese, über die ich oben (S. 10 f.) Grundsätzliches gesagt habe und die, wie aller vernünftigen Politik, gerade auch der Kriminalpolitik abzufordern ist. Außerdem ist es doch so, daß die durch den nullumcrimen-Satz verwirklichte Androhungsprävention seit Feuerbachs Zeiten ein kriminalpolitisches Fundamentalprinzip ist; die Motivations- und die Garantiefunktion des Tatbestandes sind zwei Seiten ein und derselben kriminalpolitischen Zielvorstellung. 2. Über die Kategorie der Rechtswidrigkeit meint Stratenwerth: „Daß auf der Stufe der Rechtswidrigkeit Wertungskonflikte zu entscheiden sind, ist vollkommen richtig; aber diese Konflikte sind nicht kriminalpolitischer Natur.“ Nun habe ich selbst betont, daß die sozialregulierenden Prinzipien der Rechtfertigungslehre, für deren Systematisierung ich die mir wesentlich erscheinenden Gesichtspunkte herausgearbeitet habe, „dem gesamten Rechtsbereich“ (S. 31) entstammen und „Aufgaben der Gesamtrechtsordnung“ (S. 16) wahrnehmen. Daß aber, soweit es um die Grenzen des strafrechtlichen Unrechts geht, bei ihrer Auslegung im Rahmen der gesetzgeberischen Wertentscheidungen kriminalpolitische Maßstäbe heranzuziehen sind, ist mir nicht zweifelhaft. So ist z.B. die Frage nach der Legitimation und dem Anwendungsbereich des Rechtsbewährungsprinzips (vgl. oben S. 32), die sich immer mehr in den Vordergrund der modernen Notwehrdiskussion schiebt, eine Frage nach der Reichweite des Schutzes von Leben und Gesundheit. Es geht darum, wo man die Notwehr enden läßt und den Beginn der (meist sogar schweren) Kriminalität ansetzt. Das ist, wie ich unlängst gesagt habe, „weniger eine Frage begrifflich-dogmatischer Ableitung und ‚Konstruktion‘ als vielmehr ein erstrangiges sozialpolitisches Problem“. Es ist gleichzeitig eine kriminal- [47] politische Frage, sobald man einräumt, daß nicht nur die Ausgestaltung der Rechtsfolgen, sondern auch die Entscheidung über das Ob der Strafe zu den Themen der Kriminalpolitik gehört, die ja nur ein Teilbereich der allgemeinen Sozialpolitik ist und im Kontext des gesamten Instrumentariums sozialpolitischer Regelungsmechanismen interpretiert werden muß. Entsprechendes ließe sich auch an
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den übrigen Rechtfertigungsgründen – besonders gut etwa beim übergesetzlichen Notstand – in sehr fruchtbarer Weise demonstrieren. 3. Zur „Schuld“ schließlich bemerkt Stratenwerth, daß die Fragen aus dem Bereich dieser Systemkategorie „schwerlich in direktem Rückgriff auf Erwägungen der Prävention“ beantwortet werden könnten, weil sie dafür „zumeist viel zu komplex“ seien. Ich meine aber: Hinter der Lehre von den Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit (also der Schuldlehre im Sinne des überlieferten Sprachgebrauches) ist als die für die Auslegung leitende kriminalpolitische Motivation des Gesetzgebers die Strafzwecklehre sichtbar zu machen, deren Anforderungen gewiß „komplex“ sind, die aber jedenfalls hinter den strafbegrenzenden Problemen der reinen „Schuld“feststellung auch spezial- und generalpräventive legislatorische Erwägungen hervortreten lassen. Ob daneben noch andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen, wie Stratenwerth zu meinen scheint, wäre im einzelnen zu untersuchen. Ich glaube es aber nicht; wenn man sich entschließt, strafbefreiende Umstände, die außerhalb der Strafzwecklehre liegen, anderen Kategorien wie den persönlichen Strafausschließungsgründen, objektiven Bedingungen der [48] Strafbarkeit usw. zuzuweisen, besteht kein Bedürfnis, die Schuldlehre durch ein Konglomerat heterogener Topoi zu einer des einheitlichen Systemgedankens entbehrenden Auffangrubrik zu machen. 4. Mein Vorschlag, die Kategorie der Verantwortlichkeit von der Strafzwecklehre her durchzustrukturieren, bedeutet auch nicht, wie Dreher es versteht, den „Rückzug auf eine Generalklausel, die noch vager als die Freudenthalsche Zumutbarkeitsklausel ist und mit der man alles oder nichts anfangen kann“. Selbstverständlich kann ein Schuldausschluß nicht deshalb bejaht werden, weil ein Richter im konkreten Fall die Strafwürdigkeit verneinen möchte. Vielmehr geht es mir darum, die gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen Regeln des Schuldausschlusses von der ihnen zugrundeliegenden ratio her auszulegen. Danach kann z.B. die Unzumutbarkeit als allgemeiner Schuldausschließungsgrund bei vorsätzlichen Delikten nicht in Betracht kommen, weil der Gesetzgeber in diesem Bereich die Situationen ausgeschlossener Verantwortung einzeln normiert und (von seinem Verständnis der Strafzwecke her) eine Entscheidung gefällt hat, die der Richter nicht korrigieren darf. Die Aufgabe des Interpreten geht nur dahin, bei der konkretisierenden Anwendung der Gesetzesnormen und bei der behutsamen Fortentwicklung der Schulddogmatik in den vom geschriebenen Recht offengelassenen Räumen (etwa in der Fahrlässigkeits- und Unterlassungslehre oder in den Situationen des sog. schuldausschließenden übergesetzlichen Notstands) die gesetzgeberischen Strafzweckabwägungen zur Richtschnur der Rechtsfindung zu machen. Ich habe oben (S. 34 ff.) an einigen Beispielen gezeigt, wie ich mir das vorstelle, und ich glaube nicht, daß es meinen Lösungsvorschlägen an Klarheit und Bestimmtheit fehlt. 5. Manche Fragen hat schließlich noch das Verhältnis der von mir vorgeschlagenen kriminalpolitisch fundierten Systemkonzeption zu der uns vom Neukantianismus überlieferten teleo- [49] logischen Begriffslehre im Strafrecht aufgeworfen. Es ist mir durchaus nicht entgangen, daß diese methodische Richtung „wertvolle Ansätze zur Einbringung kriminalpolitischer Zielsetzungen in die dogmatische Arbeit“ (oben S. 13) entwickelt hat. Mir geht es aber darum, die
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zerstreuten Wertungsgesichtspunkte auf ihre kriminalpolitische Legitimität hin zu überprüfen – also beispielsweise gerade nicht die Garantiefunktion des nullumcrimen-Satzes durch eine rechtsgutsbezogene, extensiv-teleologische Tatbestandsinterpretation zu überspielen (vgl. S. 23/24) –, ihre Differenziertheit sowohl wie ihren Zusammenhang systematisch auszuarbeiten und das Vorwalten unterschiedlicher Zielsetzungen auf den verschiedenen Stufen des Verbrechensaufbaus darzutun. Die Androhungsprävention der Tatbestände, die weit in die allgemeine Sozialpolitik hinausgreifenden Ordnungsprinzipien der Rechtswidrigkeitskategorie und die täterbezogene Strafzweckkonkretisierung der Schulddogmatik haben jeweils so spezifische Funktionen, daß mein Konzept über den schlichten Appell an die Wünschbarkeit teleologischen Denkens in der Strafrechtsdogmatik vielleicht doch ein wenig hinausreicht. Freilich läuft die Akzentuierung der Komplexität kriminalpolitischer Strebungen und die Zuweisung bestimmter Aufgaben an einzelne Systemkategorien Gefahr, eine zu große Starrheit der jeweils einzusetzenden Wertungsgesichtspunkte herbeizuführen. Das wäre nicht im Sinne meiner Intentionen. So bestreite ich keineswegs, daß im Tatbestand (in den Grenzen eines ernst genommenen nullum-crimen-Prinzips) eine Auslegung vom geschützten Rechtsgut her sinnvoll ist und daß Interessenkonflikte, die in der Regel dem Rechtswidrigkeitsbereich angehören, schon im Tatbestand auftreten können. Die von [50] mir behaupteten kriminalpolitischen Systematisierungs- und Interpretationsrichtlinien sollen nur „Leitmotive“ (S. 15) sein, ordnende und in der Hierarchie der abzuwägenden Topoi vorrangige Prinzipien, nicht aber mit dem Anspruch der Ausschließlichkeit auftretende Fixpunkte; das würde unter kriminalpolitischen Vorzeichen zu jenem Schematismus zurückführen, den man den begriffslogischen Systemen mit Recht vorhalten kann. Wenn das in meinem Abriß hier und da nicht deutlich genug hervortreten mag, so ist das ein Mangel, der bei dem skizzenhaften Charakter der kleinen Schrift schwer vermeidbar ist: Die vielfältigen Nuancen eines ausgeführten Gemäldes lassen sich durch eine auf die großen Linien beschränkte Abbreviatur nicht angemessen wiedergeben. Aus dem Entwurf ein in allen Teilen standfestes Gebäude aufzuführen – das ist eine Aufgabe, die noch zu lösen bleibt. München, im April 1973
Günther Jakobs (*1937) Strafrecht Allgemeiner Teil (2. Auflage) (1991) 1. Buch Die Grundlagen 1. Kapitel Das staatliche Strafen 1. Abschnitt: Der Inhalt und die Aufgabe des staatlichen Strafens […] I. Der Begriff der Strafe [5] A 1. Welchen Inhalt und welche Aufgabe Strafe hat, läßt sich – auch beschränkt auf staatliche Strafe – nicht unabhängig vom Bestand der Ordnung ausmachen, in der gestraft wird, und auch nicht unabhängig von der Verständigung über den Sinn dieser Ordnung. So wird, was den Bestand der Ordnung angeht, ein Staat, der seine Kräfte auf die Sicherung seiner Existenz konzentrieren muß (etwa im Krieg), Strafe so einsetzen, daß sie zumindest kurzfristig Effektivität garantiert (etwa Abschreckung durch harte Strafen), während ein Staat ohne akute Existenzprobleme kurzfristige Ineffektivität in Kauf nehmen kann, um auf lange Sicht inneren Frieden zu erzielen (etwa Vermeidung harter Strafen, um die Empfindlichkeit gegenüber Gewalt nicht abzustumpfen). Was die Verständigung über den Sinn der Ordnung betrifft, so hängt von ihr ab, ob Strafe etwa konflikttheoretisch als Kampfmittel der herrschenden Klasse oder sonst herrschender gesellschaftlicher Gruppen verstanden wird oder als Mittel, unberechtigte (oder unzeitgemäße) Herrschaftsansprüche abzuwehren, ob das von der „Obrigkeit“ nach religiösen Vorstellungen zu führende „Schwert“ trifft oder der Täter nach seinem eigenen Willen bestraft wird, weil auch er ein Vertragspartner im Sozialvertrag ist, etc. 2. Die trotz aller Unterschiede bestehenden Gemeinsamkeiten, die es erlauben, quer durch die Ordnungen und deren Verständnis einheitlich von Strafe zu reden, sind folgende: Stets geht es bei der Strafe um eine Reaktion auf einen Normbruch. Stets wird durch die Reaktion demonstriert, daß an der gebrochenen Norm festgehalten werden soll. Und stets erfolgt die demonstrierende Reaktion auf Kosten des für den Normbruch Zuständigen (Kosten sind in diesem Zusammenhang Einbußen an irgendwelchen Gütern). Es geht um eine normative Problematik: um die Zuordnung eines störenden Ereignisses zum Träger derjenigen Kosten, die zur Beseitigung der Störung notwendig sind. Die zur Bezeichnung der Strafe verwendeten Begriffe sind kontextabhängig, insbesondere sind es die Begriffe „Normbruch“ und „Zuständigkeit“. Beispiele: Wie
Vorschriften, die kursiv hervorgehoben sind, entsprechen ihrer – nunmehr veralteten – Fassung aus dem Jahre 1991.
T. Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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weit ein Normbruch objektiv an der äußeren Gestalt (am Erfolg) eines Verhaltens festgemacht wird und wie weit die subjektive Konstitution des Täters zu berücksichtigen ist, hängt von dem Maß ab, in dem für den Bestand der Gesellschaft wenige, vorprägbare Sozialkontakte hinreichen oder in dem zur Ermöglichung differenter Kontakte die Gestaltung dem einzelnen Mitglied überlassen bleiben muß. Für eine Gesellschaft, die sich im [6] Tausch von Standardartikeln und in ritualisierter Religionsausübung erschöpft, gelten andere Regeln als für eine Gesellschaft mit hoch komplexer Verknüpfung des Verhaltens ihrer Mitglieder. – Wenn es heute als selbstverständlich angesehen wird, daß für einen Normbruch immer nur zuständig sein kann, wer selbst daran handelnd oder nicht-hindernd beteiligt ist, so setzt diese Sicht – neben zahlreichen weiteren Bedingungen – voraus, daß die Mitglieder der Gesellschaft unvermittelt angehören (und nicht etwa vermittelt als Glieder einer Sippe). B. Dieser Umriß, der nachfolgend für das geltende Recht – das Strafgesetzbuch (StGB) – ausgefüllt werden muß, unterscheidet sich von einem geläufig gezeichneten Bild der Strafe: Das Unrecht ist ein Übel und die Kostentragungspflicht für den Täter ist auch ein Übel, aber trotzdem läßt sich Strafe nicht als Übelszufügung wegen eines begangenen Übels bestimmen: Es wäre unvernünftig, „ein Übel bloß deswegen zu wollen, weil schon ein anderes Übel vorhanden ist“, und diese Sequenz der Übel bezeichnet die Strafe auch nur nach ihrem „oberflächliche(n) Charakter“. Strafe muß positiv definiert werden: Sie ist Demonstration von Normgeltung auf Kosten eines Zuständigen. Dabei springt ein Übel heraus, aber die Strafe hat nicht schon bei diesem Effekt ihre Aufgabe erfüllt, sondern erst mit der Stabilisierung der verletzten Norm.
II. Die Theorie der positiven Generalprävention A. Die Notwendigkeit sicherer Normgeltung 1. Wie sich die Menschen beim Umgang mit der Natur nur zurechtfinden, soweit sie Regelmäßigkeiten erkennen können, so ist auch bei – hier allein interessierenden – sozialen Kontakten Orientierung nur möglich, wenn nicht jederzeit mit jedem beliebigen Verhalten der anderen Menschen gerechnet werden muß. Ansonsten würde jeder Kontakt zu einem unkalkulierbaren Risiko. Wenn ein sozialer Kontakt überhaupt eingegangen wird, ist dies schon ein Zeichen dafür, daß kein völlig unbestimmter Ausgang erwartet wird. Wird die Erwartung enttäuscht, so entsteht für den Enttäuschten ein Konflikt, in dem er reagieren muß; denn durch die Enttäuschung steht [7] fest, daß die Bilanz zwischen den Verläufen, auf deren Eintritt er baut, und den Verläufen, die realisiert werden, nicht mehr stimmt: Die Orientierungsmuster des Enttäuschten müssen überprüft werden. 2 a) Nun können bei sozialen Kontakten auch Enttäuschungen der Art entstehen, wie sie beim Umgang mit der Natur vorkommen. Jeder Mensch weiß, daß sein Gegenüber auch „aus Fleisch und Blut“ und deshalb natürlichen Gesetzen unterworfen ist, also etwa in tiefem Wasser ertrinkt, wenn er nicht schwimmen kann, umfällt, wenn er heftig gestoßen wird, oder in Krämpfe verfällt, wenn er einen epileptischen Anfall erleidet. Insoweit wird vom Partner des sozialen Kontakts nur
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erwartet, daß sein Befinden den Regeln alles Natürlichen folgt, nicht aber, daß er Rechtsnormen beachtet. Diese Erwartungen sind kognitiver Art, d.h. im Enttäuschungsfall hat man sich verkalkuliert und muß umlernen, also pro futuro – durch Erfahrung klug geworden – besser kalkulieren, wenn man die Enttäuschung nicht als quantité négligeable abtun kann. Damit soll nicht behauptet werden, das Recht könne oder dürfe niemals Nichtschwimmern Rettungsmaßnahmen in tiefem Wasser gebieten oder gewaltsam zum Torkeln gebrachten Personen verbieten, gegen Glasvitrinen zu fallen, oder von einem Krampfanfall Heimgesuchten, um sich zu schlagen, etc.; behauptet wird nur, daß in der Gesellschaft gegenwärtiger Gestalt diese Befindlichkeiten als natürlich behandelt werden (wobei nicht ausgeschlossen ist, daß man gegebenenfalls mit rechtlichem Nachdruck Vorsorge treffen muß, nicht in solche natürlichen Befindlichkeiten hineinzugeraten). Die Behandlung dieser Befindlichkeiten als natürlich erfolgt, weil die Zurechnung der Befindlichkeiten potentiell jedermann ohne Möglichkeit einer Vorsorge zum Straftäter machen und deshalb ebensoviel Erwartenssicherheit aufheben würde, wie sie garantieren könnte. [...] b) Eine Enttäuschung speziell im Bereich sozialer Kontakte betrifft diejenigen Erwartungen, die sich aus dem Anspruch an den Partner ergeben, dieser werde die geltenden Normen respektieren. Der Anspruch kann dabei der kognitiven Lagebeurteilung widerstreiten. Beispiel: Auch wer sieht, wie der Steuermann Alkohol trinkt, gibt den Anspruch auf eine sichere Fahrt nicht auf. Eine normative Erwartung muß auch im Enttäuschungsfall nicht preisgegeben, sondern kann (kontrafaktisch) durchgehalten werden, indem nicht die Erwartung des Enttäuschten, sondern der Normbruch des Enttäuschenden als der maßgebliche Fehler definiert wird. Beispiel: Man sperrt den Übeltäter zur Demonstration der Fehlerhaftigkeit seines Verhaltens ein. c) Weil Menschen die Welt gestalten (organisieren) können, aber auch immer in einer schon gestalteten Welt (einer Welt mit Institutionen) leben, können sich die für die Ermöglichung sozialer Kontakte unumgänglichen, stabilen normativen Erwartungen – abgesehen von den unterschiedlichen Inhalten der Normen – auf zwei verschiedene Gegenstandsbereiche beziehen. Zum einen ist eine Erwartung notwendig, daß alle Menschen ihren Organisationskreis in Ordnung halten und somit Außenwirkungen ausbleiben, durch die andere geschädigt werden könnten. Die Stabilität dieser Erwartung ist nicht nur unumgänglich, weil niemand alle Organisationskreise zusammen beherrschen kann, sondern auch weil wegen des Rechts auf je eigene Organisation niemand solchermaßen umfassend herrschen darf. Diese Erwartung hat einen nur-negativen Inhalt: Die Organisationskreise sollen getrennt bleiben. Die Enttäuschung der Erwartung führt zu Delikten, die Herrschaftsdelikte heißen oder Delikte kraft Organisationszuständigkeit [...]. Zum anderen ist eine Erwartung des ordnungsgemäßen Funktionierens der elementaren Institutionen not- [8] wendig. Diese Erwartung hat einen positiven Inhalt, scil. daß die Institutionen auf den Organisationskreis einzelner Personen abgestimmt werden. Die Enttäuschung dieser Erwartung führt zu Delikten, die Pflichtdelikte heißen oder Delikte kraft institutioneller Zuständigkeit [...]. 3. Allein die Erwartung, wer am sozialen Kontakt teilnimmt, werde die geltenden Normen respektieren wollen, macht solche Kontakte nicht planbar; denn der Part-
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ner muß nicht nur guten Willens sein, sich an die Ordnung zu halten, sondern er muß auch wissen, wann das normativ geregelte Verhalten der Fall ist. Beispiel: Wer andere Menschen nicht gefährden will, kann sich nur dann ungefährlich verhalten, wenn er zudem weiß, welche Verhaltensweisen gefährlich sind. Normbefolgung ist ohne Wissen davon, wie die Welt gestaltet ist und nach welchen Regeln Veränderungen miteinander verknüpft sind, nicht möglich. Trotzdem wird nur der Normbefolgungswille rechtlich garantiert, nicht auch das zur Normanwendung gehörende Wissen. Diese Beschränkung hat folgenden Grund: Ohne das zur Orientierung der Welt gehörende Wissen kann niemand planvoll leben; hinreichendes Bemühen um dieses Wissen wird also schon dadurch garantiert, daß ansonsten ein Scheitern des Lebens als poena naturalis droht. Der Normbefolgungsbereitschaft fehlt eine solche „natürliche“ Garantie; das ist der Grund für die Notwendigkeit einer Sanktion. Beispielhaft gesprochen: Wer die elementaren Regeln der Mathematik nicht beachtet, wird als Dummkopf angesehen, aber nicht, wer die elementaren Regeln des Zusammenlebens vernachlässigt; letzterer wird erst durch die Strafe für unmaßgeblich erklärt [...]. B. Die Öffentlichkeit des Konflikts Freilich sind die nur-individuellen Enttäuschungen der Partner sozialer Kontakte keine öffentliche Angelegenheit und deshalb kein Anlaß für staatliche Reaktionen. Selbst wenn der Staat stellvertretend für den individuell Enttäuschten, etwa zur Vermeidung von Lynchjustiz, die Verfolgung des Normbrechers übernehmen könnte, ergäbe das ein allenfalls mittelbares öffentliches Interesse an der Enttäuschung. Dieser Vermittlung bedarf es aber nicht; denn durch den Bruch strafrechtlich garantierter Normen entsteht auch ein öffentlicher Konflikt, wenn es sich überhaupt um legitime Strafrechtsnormen handelt. Strafrechtlich werden nur solche Normen garantiert, auf deren generelle Beachtung zur Erhaltung der wesentlichen gesellschaftlichen Gestalt nicht verzichtet werden kann. Die Enttäuschung, der Konflikt und das Erfordernis einer Reaktion beim Normbruch dürfen deshalb nicht als Erlebnisse des individuellen Systems „Einzelmensch“ gedeutet werden, sondern sind als Ereignisse im gesellschaftlichen Bezugssystem zu verstehen. Beispiel: Eigentum hat für viele Menschen einen Wert, wie ihn existentielle Güter haben, hingegen achten es manche Menschen, freilich weniger zahlreich, gering; der strafrechtliche Schutz des Eigentums erfolgt aber ohne Blick auf den Inhaber gleich, und zwar nicht allein wegen der praktisch unumgänglichen Notwendigkeit, beim Zuschnitt der rechtlichen Norm zu generalisieren, sondern auch und vorweg wegen der Ausrichtung des Schutzes auf die gesamtgesellschaftliche [9] Bedeutung des Eigentums. Diese öffentliche Perspektive schließt es nicht aus, bei einem Eigentumsdelikt die individuelle Betroffenheit des Opfers zu berücksichtigen, aber diese Betroffenheit muß wiederum als öffentliche Angelegenheit demonstrierbar sein (als der Nötigungseffekt des Diebstahls), wenn sie zumindest das Strafmaß beeinflussen soll. C. Die Bedeutung der Strafe 1. Ein Normbruch ist nicht seiner äußerlichen Folgen wegen ein strafrechtlich relevanter Konflikt; denn das Strafrecht kann die äußerlichen Folgen nicht heilen.
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Strafe bewirkt keinen Schadensersatz; zudem sind zahlreiche Normbrüche komplett, bevor ein äußerlicher Schaden eingetreten ist, scil. stets bei Delikten mit materiellem Versuchscharakter und ansonsten stets im Fall von Versuch und Vorbereitung [...]. Ein menschliches Verhalten ist aber nicht nur ein äußerlich wirkender Vorgang, sondern in dem Umfang, in dem der Mensch die Wirkungen seines Verhaltens überblickt oder überblicken kann, bedeutet sein Verhalten auch etwas, wie ein ausgesprochener Satz etwas bedeutet [...]. Einem Täter, der sich in bestimmter Weise verhält und der die Merkmale seines Verhaltens kennt oder zumindest erkennen kann, wird zugerechnet, er halte das Verhalten für die maßgebliche Weltgestaltung. Diese Zurechnung erfolgt wegen der Zuständigkeit für die eigene Motivation: Wäre der Täter zur Vermeidung eines Verhaltens mit den relevanten Merkmalen dominant motiviert gewesen, so hätte er sich anders verhalten; also zeigt das vollzogene Verhalten, daß dem Täter an der Vermeidung aktuell nicht dominant gelegen war. Beispiel: Wer wissentlich betrunken ein Fahrzeug im Verkehr führt und die auch ihm erkennbaren, nachteiligen Folgen, etwa für das Leben anderer Verkehrsteilnehmer, nicht berücksichtigt, macht durch sein Verhalten expressiv, daß er in der Situation, in der er sich befindet, anderes für wichtiger hält, als das Leben der Verkehrsteilnehmer dominant in Acht zu nehmen. Diese Aussage, die dem Täter als seine Ansicht zugerechnet wird, ist das Gegenteil der Aussagen, die in den Normen der §§ 316 und 222 StGB getroffen werden. Dieser Widerspruch gegen die Norm durch ein Verhalten ist der Normbruch. Ein Normbruch ist also eine Desavouierung der Norm. Diese Desavouierung bewirkt in dem Maß einen sozialen Konflikt, indem die Norm als Orientierungsmuster in Frage gestellt wird. – Die genaue Bestimmung, wann ein Normwiderspruch vorliegt, ist das Problem der Zurechnungslehre, insbesondere der Zurechnung als tatbestandliches und rechtswidriges Verhalten. 2 a) Damit zeichnet sich auch schon ab, wie die Strafe als Reaktion in dem Konflikt zu verstehen ist: Sie darf – wie der Normbruch – nicht als ein nur-äußerliches Ereignis beurteilt werden (dann kommt nur die unvernünftige Sequenz zweier Übel heraus), sondern auch die Strafe bedeutet etwas, scil. daß die Bedeutung des normbrechenden Verhaltens unmaßgeblich und die Norm nach wie vor maßgeblich ist. Es wird demonstriert, daß der Täter nicht richtig organisiert hat: Man nimmt ihm Organisationsmittel weg. Dieser auf Kosten des Täters vollzogene Widerspruch gegen den Normbruch ist die Strafe. b) Entsprechend der Lokalisierung von Normbruch und Strafe auf der Ebene der Bedeutung, nicht der äußeren Verhaltensfolgen, darf als Aufgabe der Strafe nicht die Vermeidung von Güterverletzungen angesehen werden. Aufgabe ist vielmehr die Bestä- [10] tigung der Normgeltung, wobei Geltung mit Anerkennung gleichzusetzen ist. Die Anerkennung kann auch in dem Bewußtsein erfolgen, daß die Norm gebrochen werden wird; die Erwartung (auch diejenige des zukünftigen Täters) geht in diesem Fall darauf, daß auch dann als Grund des Konflikts wiederum der Normbruch des Täters, nicht aber das Normvertrauen des Opfers bestätigt werden wird. Jedenfalls bewirkt die Strafe, daß die Norm faktisch taugliches Orientierungsmuster bleibt. Zusammenfassend: Aufgabe der Strafe ist die Erhaltung der Norm als Orientierungsmuster für sozialen Kontakt. Inhalt der Strafe ist ein
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auf Kosten des Normbrechers erfolgender Widerspruch gegen die Desavouierung der Norm. D. Die Konflikterledigung ohne Strafe 1. Nicht auf jeden (bekanntgewordenen) Normbruch folgt Strafe. So kann auf Strafe verzichtet werden, wenn die Kompetenz des Täters bestritten werden kann, die Norm zu desavouieren (der Täter ist ein Kind oder er ist geisteskrank, jedenfalls unmaßgeblich), oder wenn die Lage, in der er handelt, als eine Sondersituation definiert werden kann (er handelte in Todesnot, ohne dies verantworten zu müssen). Die Systematisierung solcher Möglichkeiten, den Täter von seinem Normbruch zu distanzieren, erfolgt in der Schuldlehre [...]. 2 a) Daneben gibt es weitere Reaktionsmöglichkeiten: Strafe kann durch funktionale Äquivalente ersetzt werden; mehr noch, der Konfliktfall muß nicht unbedingt [11] abgewartet werden: Auch Konfliktvermeidung macht Strafe überflüssig. Aber vor dem Eintritt – jedenfalls zur Zeit noch – utopischer Ordnungen entstehen auch für die funktionalen Äquivalente der Strafe sowie für Konfliktvermeidungen Kosten (im Sinne irgendwelcher Einbußen), die verteilt werden müssen [...]. Jede zwangsweise erfolgende, nachteilige Reaktion hat informelle Konsequenzen: Wer sich solche Kosten auflädt, demonstriert seine Unfähigkeit zur Selbstverwaltung, beweist also mangelnde Kompetenz. Alle erzwungenen Erledigungsvarianten gefährden also den Status des Täters. Beispielhafte Erledigungsmöglichkeiten sind: b aa) Der Konflikt läßt sich dem Opfer zuschieben, etwa wenn das Opfer darauf verwiesen werden kann, daß es selbst an der aggressiven Gestaltung der Situation mitgewirkt hat (bei der Notwehrüberschreitung nach § 33 StGB; bei der Notwehrprovokation; bei der Strafmilderung nach dem benannten Teil von § 213 StGB; bei der Retorsion nach den §§ 199, 233 StGB). bb) Man kann die enttäuschte Erwartung preisgeben, und zwar nicht aus Einsicht in ihren Mangel an Berechtigung, sondern wegen der faktischen Unmöglichkeit, sie zu stabilisieren. Beispiele bilden die Zurücknahme des sogenannten Demonstrationsstrafrechts durch das dritte Strafrechtsreformgesetz, zahlreiche Fälle von vorgeblich nach § 218 a Absatz 2 Nr. 3 StGB indizierten Schwangerschaftsabbrüchen sowie Bereiche faktischer Nicht-Verfolgung bei Eigentumsdelikten (etwa Fahrraddiebstahl). Soweit nicht – wie im letzteren Fall – kognitive (Delinquenz praktisch erschwerende) Sicherungen möglich sind (Selbstschutz), bedroht die Preisgabe, da sie wiederholbar ist, die Verläßlichkeit der Orientierung. cc) Man kann von dem Konflikt erfahren, sich aber so verhalten, als hätte man ihn nicht zur Kenntnis genommen. Auch diese Verweigerung ist eine Reaktion. Wiederum erfolgt die Erledigung unter Bedrohung der allgemeinen Orientierung, da die Welt nur noch selektiv verarbeitet wird. Im Bereich informeller Normen ist das großzügige Übersehen eines Fehlers geläufig. Bei den strafrechtlichen Normen liegen die Beispiele meist im Bereich bagatellhafter Verstöße. Gewichtiger war die Delinquenz in den Universitäten zur Zeit der Studentenunruhen ab 1968: Massenhafte Nötigungen und Beleidigungen, aber auch Freiheitsberaubungen und
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Körperverletzungen sind nicht registriert worden, weil befürchtet wurde, schon die Registrierung werde wie eine Provokation zu weiteren Taten wirken. dd) Optimaler privater kognitiver Schutz gegen Delinquenz ist kostenintensiv: Entweder muß das geschützte Gut aus dem Verkehr gezogen werden, womit es in der Regel seine Funktion verliert (vergrabenes Geld bringt keine Zinsen), oder es bedarf kontrollierender Zuwendung (wer kann sich schon einen Revisor oder einen Leibwächter leisten?). Der erklärungsmächtigste Topos der Staatstheorie hat zum Inhalt, diese Schwäche des privaten Schutzes beruhe darauf, daß die Schutzaufgabe dem Staat [12] übertragen worden sei (Hobbes); nimmt der Staat freilich seine Aufgabe optimal wahr, zerstört er diejenigen Systeme (die Einzelnen), die er vor Zerstörung schützen soll (er wird zum totalen Staat). – Diese Einwendungen gegen den optimalen privaten wie öffentlichen Schutz sind kein Grund, sub-optimalen Schutz zur Konfliktvermeidung nicht erst zu versuchen. Deshalb sind nicht nur Leichtsinn des Opfers oder Fehlen angebrachter polizeilicher Kontrolle Gründe zur Milderung der Strafe, sondern insbesondere sind Maßregeln der Besserung und Sicherung legitim, solange sie verhältnismäßig limitiert werden. Aller kognitiver Schutz wird, wenn er nicht eine vorübergehende Angelegenheit bleibt, normativ flankiert (er wird zur Pflicht): Dieses Abfärben der geschichtsmächtigen Ist-Gestalt der Gesellschaft auf ihre Soll-Gestalt heißt die normative Kraft des Faktischen. ee) Zahlreiche weitere nicht-strafende Reaktionen schillern wie einige vorgehend genannten zwischen kognitiven und normativen Erwartenssicherungen. Į) Das gilt für die sichernde oder erziehende Beeinflussung von Delinquenz durch Maßregeln [...]. Maßregeln folgen auf die Feststellung eines Verhaltensfehlers beim Täter; sie enthalten die Ankündigung einer schärferen Mißbilligung in dem Sinn, daß Personen ohne Zurechnungsdefizit ein solches fehlerhaftes Verhalten als schuldhaft zugerechnet werden wird. ȕ) Bei der öffentlichen Mißbilligung unter Androhung der Intensivierung dieser Mißbilligung auf Kosten des Täters (Strafaussetzung, § 56 StGB; Verwarnung mit Strafvorbehalt, § 59 StGB) handelt es sich um eine partiell kognitive Erledigung (zukünftiges Wohlverhalten soll durch die konkretisierte Strafdrohung erzwungen werden) neben einer partiellen normativen (immerhin erfolgt eine öffentliche Verurteilung). Noch stärker strafähnlich ist die Einstellung nach § 153a StPO ausgestaltet. Ȗ) Zivilrechtliche Reaktionen nach einem strafrechtlichen Schuldspruch wiederholen die Mißbilligung; sie können auch anstelle eines Schuldspruchs erfolgen. Insbesondere eine Schadensersatzleistung als Beseitigung von Deliktsfolgen (und stärker noch ein Schmerzensgeld) bestätigt die Geltung der übertretenen Norm. Zudem dürften die Kosten in der Regel auf den Pflichtigen abschreckend wirken. Die dem Schadensersatz auch zugeschriebene Eigenschaft, eine Anerkennung des Opfers zu bewirken, mag sich im Einzelfall verwirklichen; dieser Erfolg ist aber jedenfalls nicht erzwingbar. – Die Bedeutung des Normübertritts hängt von der zu ersetzenden Schadenshöhe nicht ab (die Höhe ist beim folgenlosen Mordversuch
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gleich Null und kann bei nicht einmal strafrechtlich sanktionierten Normen – etwa bei dem Verbot fahrlässiger Sachbeschädigung – existenzvernichtende Höhen erreichen). Trotzdem mag im Einzelfall die Ersatzpflicht als Deliktsfolge hinreichen; zudem mag bei manchen Delikten ein Vorrang der Ersatzpflicht vor der Strafe dem Opfer gegenüber angebracht sein. Für weitere kommt ein – den zivilrechtlichen Rahmen übersteigender – umfassender Täter-Opfer-Ausgleich in Betracht. į) Das Jugendstrafrecht kennt zwei ahndende Reaktionen: die Jugendstrafe und die Gruppe der Zuchtmittel. Daneben stehen die nicht ahndenden (und auch nicht „wegen“ [13] sondern nur „aus Anlaß“ der Tat verhängten) Reaktionen der Gruppe der Erziehungsmaßregeln (§ 5 Abs. 1 und 2 JGG). Solange es eine besondere Behandlung der Nicht-Erwachsenen gibt, in neuerer Zeit freilich verstärkt und offen, gibt es Versuche, zur Entwicklung „alternativer, nämlich informeller Verfahrensformen und Reaktionsweisen, die in Abkehr von dem in StPO und JGG vorgesehenen ,normalen’ Strafverfahren eine schnellere Reaktion auf kleinere und mittlere Straftaten und Jugendverfehlungen ohne stigmatisierende Wirkung gestatten“ (Umleitung vor der strafrechtlichen Erledigung: Diversion). Das Spektrum reicht von der Untätigkeit der Polizei in Bagatellfällen (diversion to nothing) bis zu intensiv erziehenden Programmen. İ) Selbst die poena naturalis, „dadurch das Laster sich selbst bestraft“, hat den Effekt einer Mißbilligung: Es geht nicht um die Konsequenz irgendeinen Verhaltens (das wäre schlicht Unglück), sondern eines speziell falschen Verhaltens. Wer einen Schaden als poena naturalis definiert, mißbilligt den Schadensgrund. [...] ȗ) Das Gegenteil der poena naturalis ist der Verbrechensgewinn. Seine „Abschöpfung“ ist deshalb eine strafende Reaktion. E. Ergebnis 1. In den Kategorien der üblicherweise als Straftheorien bezeichneten Problembereiche heißt das: Der Widerspruch gegen den Normbruch durch Strafe erfolgt nicht um seiner selbst willen, sondern weil auf garantierte Orientierungen im sozialen Leben nicht verzichtet werden kann. Die Strafe hat also eine Aufgabe, die sich letztlich auf genau dem Niveau auswirken soll, auf dem gesellschaftliche Interaktion stattfindet, und sich nicht darin erschöpft, etwas zu bedeuten: Strafe soll die Bedingungen solcher Interaktion schützen und hat deshalb eine präventive Aufgabe. 2. Der Schutz erfolgt durch Bestätigung der auf Normen Vertrauenden in ihrem Vertrauen. Die Bestätigung hat nicht zum Inhalt, nachfolgend werde niemand mehr Normen brechen, da die Strafe potentielle Delinquenten abschrecken werde, noch weniger geht es um irgendwelche Prognosen speziell zum künftigen Verhalten des Täters. Adressaten der Strafe sind primär überhaupt nicht einige Menschen als potentielle Täter, sondern alle Menschen, da alle ohne soziale Interaktionen nicht auskommen können und da deshalb alle Menschen wissen müssen, was sie dabei erwarten können. Insoweit erfolgt Strafe zur Einübung in Normvertrauen. Zudem belastet die Strafe das normbrechende Verhalten mit Kostenfolgen und erhöht deshalb die Chance, daß dieses Verhalten allgemein als nicht diskutable
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Verhaltensalternative gelernt wird. Insoweit erfolgt Strafe zur Einübung in Rechtstreue. Zumindest aber wird durch die Strafe der Konnex von Verhalten und Kostentragungspflicht gelernt, mag auch die Norm trotz des Gelernten übertreten werden; insoweit geht es um Einübung in die [14] Akzeptation der Konsequenzen. – Die drei genannten Effekte lassen sich als Einübung in Normanerkennung zusammenfassen. Da diese Einübung bei jedermann erfolgen soll, handelt es sich bei dem beschriebenen Modell der Aufgabe staatlichen Strafens um Generalprävention durch Einübung in Normanerkennung (sogenannte positive oder allgemeine – d.h. nicht nur abschreckende – Generalprävention). 3. Sekundär mag die Strafe den Bestraften oder dritte Personen so beeindrucken, daß diese von künftigen Taten ablassen. Solche nicht über Normanerkennung, sondern über Furcht vermittelten Effekte sind Beigaben der Strafe, die erwünscht sein mögen; es ist aber nicht die Aufgabe der Strafe, diese Effekte hervorzurufen. Es wird freilich noch darzulegen sein, daß ein Mindestmaß an kognitiver Untermauerung der Normen zur Stabilisierung ihrer Geltung unabdingbar ist [...].
III. Die absoluten Theorien A. Die Vergeltungstheorien [15] 1. Die Inhalte der Straftheorien werden verbreitet auf zwei Formeln reduziert: Punitur, quia peccatum est (absolute Theorie) und punitur, ne peccetur (relative Theorie). Mit diesem Inhalt lassen sich freilich die Theorien der neueren Zeit überwiegend nicht mehr gegenüberstellen. Für die Gegenwart kann sogar als ausgemacht gelten, daß nur zur Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung gestraft wird, so daß sich alle Theorien im „ne peccetur“ treffen, genauer: im Interesse an Normstabilisierung. Der Streit geht nur noch darum, ob und in welchem Maß die Strafe nach dieser Aufgabe zu bestimmen ist oder aber einen von der Aufgabe unabhängigen Inhalt hat. Demgemäß wird hier wie folgt differenziert: Als absolut werden an einer Straftheorie alle Elemente bezeichnet, deren Inhalt sich ohne Blick auf den Beitrag der Strafe zum Erhalt der sozialen Ordnung allein aus dem Umstand ergibt, daß eine Norm gebrochen wurde; das können neben dem Ob der Strafe auch deren Maß oder Höchstmaß sein. Relativ sind demgemäß diejenigen Elemente von Straftheorien, deren Inhalt durch die Aufgabe der Strafe für die soziale Ordnung vermittelt wird. 2. Nach dem zuvor dargestellten Modell positiver Generalprävention soll die Strafe Erwartenssicherheit bei sozialen Kontakten garantieren und damit Gesellschaft ermöglichen. Eine Rechtfertigung, so zu verfahren, gibt das Modell nicht; es setzt vielmehr voraus, daß die gesellschaftliche Ordnung die Kosten wert ist, die dem Normbrecher auferlegt werden. Dagegen werden zwei Einwände erhoben: Zum einen soll das, was zu garantieren ist, nicht der reale gesellschaftliche Bestand sein, sondern die Gerechtigkeit; zum anderen soll die Garantie nicht so erfolgen dürfen, daß der Täter als Mittel zur Beförderung des Wohls der anderen Menschen benutzt wird. Das Gewicht beider Einwände ist schwer zu beurteilen, weil die Beförderung von Gerechtigkeit als Selbstzweck im strafrechtlichen Schrifttum heute nicht mehr vertreten wird und auch historisch nur vereinzelt vertreten wor-
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den ist. Wenn aber in der Hauptsache außer Streit steht, daß Strafrecht der Erhaltung erhaltenswerter (!) gesellschaftlicher Ordnung dienen soll, geht es nicht mehr um eine absolute Legitimation von Strafe, sondern nur noch um die absolute Begrenzung relativ legitimierter Strafe oder um die relative Untermauerung einer als unzureichend empfundenen absoluten Legitimation. So ist selbst das bekannteste Prinzip vergeltenden Strafens, das Talionsprinzip – d.h. das Prinzip der Vergeltung einer (Übel-)Tat mit Gleichem –, zumindest auch eine Strafbe- [16] grenzung: Das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß“ etc. limitiert die Rache auf das Maß des Güterverlustes, den die Tat bewirkt hat. 3 a) Historisch wirkungsmächtig war die Gestalt, die Kant und Hegel der vergeltenden Strafe gegeben haben. Nach Kant ist der Inhalt der Strafe Talion („Hat er aber gemordet, so muß er sterben“). Die Aufgabe der Strafe besteht in der Durchsetzung von Gerechtigkeit. Letzteres begründet Kant wie folgt: Zum einen darf Strafe immer nur gegen den Täter verhängt werden, „weil er verbrochen hat“; denn ansonsten, bei Verfolgung von General- oder Spezialprävention, wird „der Mensch ... bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt“. Zum anderen muß auch Gerechtigkeit verwirklicht werden. „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ“; denn geht „die Gerechtigkeit unter ..., so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben“. Zur Verdeutlichung des Kategorischen bringt Kant das Beispiel einer einverständlichen Gesellschaftsauflösung: Auch dann müsse „der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden“; ansonsten sei das Volk „Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit“ . b) Was die Vermengung des Täters unter die Gegenstände des Sachenrechts angeht, so kann und soll diese bei der hier vertretenen Präventionstheorie nicht kaschiert werden, wenn auch, wie bei der Darstellung der Schuld noch zu zeigen sein wird, Strafe nach dieser Theorie die Anerkennung des Täters als gleichartig voraussetzt [...]. Strafe kann überhaupt nur durch den Wert der Ordnung legitimiert werden, für deren Erhalt gestraft wird. Die absolute Theorie erspart dieses Legitimationspro- [17] blem nicht; denn auch die Strafe am Täter, „weil er verbrochen hat“, ist nur gerecht, wenn das Verbrechen legitim definiert ist. Zu dieser Definition aber leistet die absolute Theorie nichts. Die Richtigkeit der Definition setzt Kant bei der Darlegung, das Strafgesetz sei „ein kategorischer Imperativ“, vielmehr voraus. Gelänge die Lösung des Legitimationsproblems absolut, d.h. für Normen, die nicht durch eine konkrete gesellschaftliche Situation vermittelt werden, so verlören diese Normen bei der von Kant beispielhaft angeführten Auflösung der Gesellschaft schon per Definition nichts von ihrer Legitimation, so daß das extrem Kategorische der absoluten Theorie auch für jede relative Theorie unumgänglich wäre: Die nach der Gesellschaftsauflösung wie zuvor notwendige Norm müßte auch nach wie vor stabilisiert werden. 4. Bei Hegel erhält die absolute Theorie eine Gestalt, deren Differenz zur hier vertretenen positiven Generalprävention gering ist. Hegels Bezugssystem bei der Begründung von Strafe ist der Begriff des Rechts, das hiesige Bezugssystem bilden die Bestandsbedingungen der Gesellschaft. Ansonsten besteht folgende Übereinstimmung: Hegel deutet die Straftat als „etwas Negatives“, scil. als Verletzung des Rechts im Sinn einer Negierung des Rechts. Diese Verletzung erhebt einen
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Anspruch auf Geltung, aber dem Anspruch begegnet die Strafe als „Verletzung der Verletzung“ und somit „Wiederherstellung des Rechts“. Diese Verbindung ist absolut, da Recht notwendig immer auch wirklich durchgesetztes Recht sein muß; nicht die Nützlichkeit der Strafe ergibt [18] hier ein Argument, sondern einzig die Begriff gewordene Idee des Rechts. Da Hegel Tat und Strafe nicht als äußere Fakten aufeinander bezieht, sondern als bedeutungshaltige Vorgänge, kommt es – anders als bei Kant – nicht mehr auf die Artgleichheit an, sondern auf Gleichheit „nach dem Wert derselben“. Dabei erkennt Hegel, daß die erforderliche Strafe der „ihrer selbst sicher gewordene(n) Macht der Gesellschaft“ korreliert, d.h. das Strafmaß kann in konsolidierten Gesellschaften sinken, da dort „die Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft“ geringer ist. „Ein Strafkodex gehört darum vornehmlich seiner Zeit und dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft in ihr an“. Bei Hegel ist also die Strafe zwar dem Begriff nach absolut, aber in ihrer konkreten Ausgestaltung relativ zum jeweiligen Stand der Gesellschaft. 5 a) Bei den neueren absoluten Theorien einschließlich der Vereinigungstheorien steht die Strafe überhaupt unter dem Vorbehalt der gesellschaftlichen Notwendigkeit. Das entspricht auch der hier vertretenen Position; wenn es für Hegels „Verletzung der Verletzung“ funktionale Äquivalente gibt, ist Strafe nicht erforderlich. Dieser Weg führt zu präventiven Modellen. Aber nach den neueren absoluten Theorien und den Vereinigungstheorien soll eine von den gesellschaftlichen Erfordernissen unabhängige, also absolute Bestimmung der Strafe insoweit zu retten sein, als die aus gesellschaftlicher Notwendigkeit verhängte Strafe durch das Maß der schuldangemessenen Strafe limitiert werden soll. Die schuldangemessene Strafe wird also als eine absolut meßbare Strafe gedacht, die zwar nicht absolut verhängt werden muß, aber absolut nicht überschritten werden darf. b) Dieses Konzept ist aus mehreren Gründen undurchführbar. Zum einen wäre eine präventive Strafe, limitiert durch eine schuldangemessene Strafe, allenfalls noch zufällig präventiv tauglich, wenn Prävention und Schuld voneinander unabhängige Größen wären; denn gibt man der Prävention nicht, was sie braucht, bleibt sie aus. Beispiel: Mit den Präventionszielen „Erziehung“ oder „Abschreckung“ kann die Verhängung einer Strafe, die zur Erziehung oder zur Abschreckung zu kurz ist (dafür aber schuldangemessen), nicht begründet werden. Weiterhin kann seit dem endgültigen Abschied von der Talion beim Übergang von Kant zu Hegel nicht mehr behauptet werden, das Gewicht einer Strafe lasse sich ohne Blick auf die konkrete gesellschaftliche Werterfahrung bestimmen, sei also vom Entwicklungsstand der Gesellschaft unabhängig. Woher die Werterfahrung kommen soll, wenn nicht aus Annahmen über „die Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft“ (Hegel), ist unerfindlich; mehr noch, jede andere Orientierung führt zu Wertungen, die im Rahmen staatlichen Stra- [19] fens keinen legitimen Platz haben. Drittens wird eine nachprüfbare Strafzumessung unmöglich. Für die Obergrenzen der Strafrahmen läßt sich bei dem skizzierten Verständnis nicht mehr ausmachen, ob sie so hoch sind, weil mehr nicht schuldangemessen oder aber weil mehr präventiv überflüssig wäre. Dementsprechend bleibt für jeden einzelnen Zumessensakt ungewiß, welcher Rang der Schuld zukommt und welcher der Prävention.
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c) Bei dieser Lage drängt sich die Frage auf, weshalb an einem angeblich zweckfrei gebildeten Schuldbegriff als Maßprinzip hartnäckig festgehalten wird. Es geht um ein Legitmationsproblem (wie bei Kant im Verbrechensbegriff ein Legitimationsproblem verborgen ist – was wird legitim als Verbrechen definiert? – und bei Hegel im Begriff des Rechts – welches positive Recht genügt dem Begriff?). Gäbe es eine zweckfrei bestimmter Schuld entsprechende Strafe, so wäre die Legitimation von Strafe in doppelter Hinsicht gefördert. Zum einen kann man allenfalls präventiv nutzlos, nicht aber an sich unrichtig strafen, wenn schon vor aller Prävention an sich Strafe verwirkt ist, eben die schuldangemessene Strafe. Zum anderen muß eine Prävention, die durch ein Schuldprinzip um ihre Extremfälle beschnitten ist, auch nicht als eine potentiell extreme, sondern nur als eine gemäßigte Prävention legitimiert werden; die Begrenzung durch Schuld erspart also entweder die Legitimation für das unverstümmelte präventive Konzept oder erspart eine offen erfolgende Begrenzung der Prävention durch den Vorrang anderer Ziele (Verbrechensprophylaxe ist nicht das höchste Ziel). [...] B. Die Sühnetheorie Sühne als Einsicht des Täters in sein Unrecht und in die Notwendigkeit von Strafe mit der Folge einer Versöhnung mit der Gesellschaft wird als Hauptaufgabe der Strafe heute nicht mehr ausgegeben. Teils wird freilich behauptet, es sei legitim, Sühne durch Strafe zu ermöglichen, jedoch ohne daß ein Zwang zur Sühne intendiert wäre. Soweit damit gemeint ist, der Bestrafungsvorgang einschließlich des Strafvollzugs solle so ausgestaltet werden, daß die Sühnebereitschaft des Täters gefördert wird, geht es nicht um Probleme einer Straftheorie. Soweit freilich der Gedanke mitspielt, Sühne könne als Nebeneffekt (wie etwa die Sicherung vor einem Täter während eines Freiheitsentzugs ein Nebeneffekt ist) die Legitimation der Strafe mittragen, ist zu widersprechen: Die Strafe gleicht den Normbruch aus. Jede Erwartung an den Täter über die Duldung der Strafe hinaus zielt auf mehr als einfachen Ausgleich. Sühne als betätigte Normanerkennung ist deshalb ein Grund, Strafe zu mildern (siehe § 46 Abs. 2 StGB letzte Fallgruppe) oder nicht zu strafen (siehe § 24 StGB), aber das Fehlen von Sühne gehört zwingend zum Zustand des nicht bereinigten Normbruchs und ist deshalb kein Strafgrund neben dem Normbruch. – Zudem rechnet das Versprechen an den Täter, [20] er könne sich mit der Gesellschaft durch Akzeptation der Strafe versöhnen, nicht ein, daß die informellen Sanktionen von den formellen unabhängig sein können.
IV. Die relativen Theorien (die Präventionstheorien) A. Die Generalpräventionstheorien 1 a) Eingangs wurde bereits das Modell einer positiven Generalprävention entwickelt, d.h. das Modell einer Strafe, deren Aufgabe Einübung in Normanerkennung ist. Zur Generalprävention findet sich aber auch die Ansicht, Aufgabe der Strafe sei die Abschreckung potentieller Täter. Es geht bei dieser Variante der Generalprävention nicht um die expressive Bedeutung der Strafe als Widerspruch gegen
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den Normbruch, sondern um die Drastik des Strafschmerzes als abschreckende Konsequenz normbrechenden Verhaltens: negative Generalprävention. Die bekannteste Ausprägung hat Feuerbach der negativ-generalpräventiven Theorie gegeben, freilich nicht als Straftheorie, sondern als Theorie der Strafandrohung durch Strafgesetze (Theorie des „psychologischen Zwangs“). Alle Gesetzesübertretungen resultieren nach Feuerbach aus der „Sinnlichkeit“, d.h. „das Begehrungsvermögen des Menschen (wird) durch die Lust an oder aus der Handlung zur Begehung ... angetrieben“. Die Täter durch physischen Zwang an der Tatausführung zu hindern, ist praktisch ausgeschlossen. Sollen Rechtsbrüche vermieden werden, so „bleibt daher dem Staate kein anderes Mittel übrig, als durch die Sinnlichkeit selbst auf die Sinnlichkeit zu wirken, und die ... sinnliche Triebfeder durch eine andere sinnliche Triebfeder aufzuheben“. Die Antriebe zur Handlung werden aufgehoben, „wenn jeder Bürger gewiß weiß, daß auf die Übertretungen ein größeres Übel folgen werde, als dasjenige ist, welches aus der Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach einer Handlung ... entspringt“. Dieses Wissen wird dem Bürger gegeben, indem ein Gesetz das „größere Übel“, eben die Strafe, vor der Tat und unter genauer Beschreibung von Tat und Strafe androht und indem der Ernst der Drohung durch Vollstreckung in jedem Fall der Übertretung verdeutlicht wird (zu ergänzen ist: sofern der Täter greifbar ist). „Die zusammenstimmende Wirksamkeit der vollstreckenden und gesetzgebenden Macht zu dem Zwecke der Abschreckung bildet den psychologischen Zwang“. Die „vollstreckende Macht“ darf freilich nicht zum Zweck der „zusammenstimmenden Wirksamkeit“ tätig werden, weil ansonsten der bestrafte Mensch als bloßes Mittel für die Vorteile anderer Menschen mißbraucht würde, was Feuerbach – insoweit Kantianer – verwirft. Die Wirksamkeit ist deshalb nur ein – willkommener – Nebeneffekt der absolut zu begründenden Strafe: Strafe ist „rechtlich-notwendige Folge“ des Verbrechens. Es soll aber zulässig sein, mit dem absolut Notwendigen das Nützliche zu verbinden und die Realisierung der Strafdrohung eindrucksvoll zu gestalten. b) An Feuerbachs Theorie ist die Doppelstellung der Bestrafung durchaus unklar: Als Verdeutlichung des Ernstes der Strafdrohung soll die Bestrafung zweckhaft wir- [21] ken, als Strafe am Täter hingegen soll sie zweckfrei sein. Ansonsten bietet das Modell zwar eine Harmonie der wichtigsten Strafrechtsgrundsätze: kein Umgang mit dem Täter wie mit einem „Gegenstand des Sachenrechts“ (absolute Strafbegründung), Verhütung von Normbrüchen („psychologischer Zwang“ der Strafdrohung), Vermeidung unnötiger Strafen (die Realisierung der Strafe ist zur Stützung der Strafandrohung erforderlich) und strenge Gesetzesbindung der Strafe (genaue Androhung auf genau beschriebenes Verhalten vor der Tat). Aber das Modell hat Mängel, die es unbrauchbar machen: Weder beruhen alle Taten auf einem rationalen Kalkül der Tatfolgen, noch stellt ein rationales Kalkül auf die rechtlich notwendige Sequenz von Tat und Strafe ab, vielmehr berücksichtigt es die tatsächliche Chance bestraft zu werden oder der Strafe zu entgehen, was eine gewaltige Differenz ergeben mag. 2 a) Der hauptsächliche Mangel dieser negativen Generalprävention und ihrer neueren Varianten, die in diverser Weise eine Abschreckungswirkung der Strafe zum Zweck erheben, ist freilich nicht ihre Falsifizierung. Gegen die Falsifizierung könnte man einwenden, sie betreffe überhaupt nicht diejenigen Deliktsgruppen,
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bei denen die Täter in der Regel zweckrational vorgehen, etwa die Delikte im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Mehr noch, das Modell könnte dahin „verbessert“ werden, daß die Verfolgungsintensität bis zu einer Dichte gesteigert wird, bei der die Abschreckung auf alle Personen wirkt, die nicht gerade Herostraten sind. Die Theorie der negativen Generalprävention setzt aber genuin falsch an: Sie mißt den potentiellen Vorteil des Delinquenten und gleicht diesen Vorteil durch ein Übel aus, vernachlässigt aber den Schaden der Tat für die gesellschaftliche Ordnung. Wenn anderen Tätern der Anreiz zur Tat genommen werden soll, muß das Übel gewichtiger sein als der Tatvorteil; dieser aber ist von dem sozialen Schaden unabhängig, den die Tat bewirkt. b) An dem dadurch entstehenden, potentiell krassen Mißverhältnis zwischen sozialem Schaden und Strafquantum scheitert jede auch nur annähernd konsequente Anwendung des Modells Feuerbachs und seiner Nachfolger. Beispielhaft gesprochen: Bei einem Mord um einiger hundert Mark Beute willen mag eine einigermaßen sicherer folgende Geldstrafe von einigen tausend Mark hinreichend prävenieren, während bei einer üblen Nachrede, die der Täter zur Erhaltung einer persönlichen Beziehung oder zur Steigerung seiner Karriere begeht, erst die Aussicht auf jahrelange Freiheitsstrafe ein hinreichendes Übel sein mag. Im Ergebnis müßten also alle Deliktsgruppen des BT, [22] die an dem angegriffenen Gut ausgerichtet sind, preisgegeben und neue Gruppen nach dem potentiellen Nutzenquantum gebildet werden. In der am schärfsten zu bestrafenden Gruppe fänden sich dann Delikte mit hohem Nutzenquantum, gleich ob sie durch Tötung eines Menschen, durch Urkundenfälschung oder durch beiläufigen Hausfriedensbruch begangen werden. Landesverrat hätte bei Ideologietätern im Bereich der Schwerkriminalität zu rangieren, bei Tätern des Lohns wegen im Bereich entsprechender Vermögensstraftaten etc. c) Dieses potentiell krasse Mißverhältnis zwischen dem Nutzenquantum der Tat und ihrem Quantum an Sozialschädlichkeit resultiert daraus, daß im Abschreckungsmodell die Destinatäre des Strafbetriebs nicht vorkommen: die Mitglieder der Gesellschaft, die vor Normbrüchen bewahrt werden sollen. Die Mitglieder sehen das Delikt nicht vorrangig als ein Ereignis an, das dem Täter potentiell vorteilhaft, sondern das ihnen selbst potentiell nachteilig ist. d) Verbreitet wird versucht, den Befund durch eine ergänzende Limitierung der Höchststrafen zu kaschieren: Auch die abschreckende Strafe soll das Schuldangemessene oder Verhältnismäßige nicht übersteigen dürfen, da sie ansonsten als willkürlich empfunden werde und ihre Abschreckungswirkung verliere. Aber so läßt sich allenfalls die Unzulässigkeit hoher Strafen in den Fällen hohen Täternutzens aber geringen Sozialschadens erklären. Jedoch wird auch die extrem niedrige Strafe bei geringem Täternutzen aber hohem Sozialschaden als willkürlich empfunden, so daß die Abschreckungsstrafe insoweit gleichfalls modifiziert werden muß. Im Ergebnis ist deshalb das Abschreckungsmodell als Straftheorie überhaupt untauglich. e) Dadurch wird es nicht ausgeschlossen, daß in einzelnen Fällen Strafe mit der Intention der Abschreckung verhängt wird. In Krisenzeiten bricht der Notstand die Limitierungen, die in ruhigen Zeiten selbstverständlich sind.
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3. Modelle, die dem eingangs geschilderten Modell positiver Generalprävention hauptsächlich entsprechen, werden in der neueren Literatur zunehmend häufig vertreten. Sie flankieren auch zahlreiche Varianten der Vergeltungstheorien. Differenzen bestehen freilich in zwei Punkten: Überwiegend wird das Schuldprinzip als Begrenzung der positiven Generalprävention verstanden, während es nach hiesiger Ansicht ein Derivat dieser Prävention ist [...]. Ferner wird der expressive Gehalt von Normbruch und Strafe nur selten thematisiert. B. Die Spezialpräventionstheorien 1. Die generelle Problematik a) Wird die Aufgabe der Strafe darin gesehen, den Täter von künftigen Taten abzuhalten, spricht man von Spezialprävention. Daß der Inhalt des geltenden deutschen Strafrechts einigermaßen bruchlos oder auch nur in den hauptsächlichen Stücken auf Spezialprävention zugeschnitten sei, wird nicht behauptet; wohl aber wird postuliert, de lege ferenda das Strafrecht so auszugestalten, daß es für Spezialprävention tauglich ist, oder es durch taugliche Maßregeln zu ersetzen. Die Mindestanforderung geht dahin, jedenfalls auf diejenigen Strafen zu verzichten, durch deren Vollstreckung sich die Wahrscheinlichkeit, daß der Täter weitere Verbrechen begeht, sogar erhöht. b) Die Einwirkung auf den Täter kann dergestalt erfolgen, daß er mit physischer Gewalt von weiteren Taten abgehalten oder aber dazu gebracht wird, von sich aus [23] keine Straftaten mehr zu begehen. Letzteres geschieht im Weg der Besserung des Täters, sei dieser Weg Erziehung oder Dressur oder ein körperlicher Eingriff (z.B. Kastration), oder aber im Weg der Abschreckung durch eine warnend gemeinte Strafe. Die Aufgabe der Strafe und der sie flankierenden oder ersetzenden Maßregeln kann deshalb mit v. Liszt wie folgt bezeichnet werden: ,,1. Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; 2. Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher; 3. Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher“. c aa Į) Die Antwort auf die Frage, ob und weshalb ein Modell dieser Art überhaupt funktioniert, ist nicht selbstverständlich. Zweifel am Funktionieren sind freilich nicht angebracht, solange bei der Behandlung, die man dem Täter bessernd, abschreckend oder sichernd angedeihen läßt, immer noch so viel an Übel herausspringt, daß dadurch der Täter als Träger der Kosten des geschehenen Normbruchs markiert wird; denn solange mit einer Übelsfolge zugerechnet wird, bleiben die Wirkungen positiver Generalprävention möglich. Selbst der Umstand, daß überhaupt dem Täter zugerechnet und gegen ihn reagiert wird, kennzeichnet ihn als Konfliktsursache und bestätigt damit die Norm. Diese Wirkungen beruhen freilich auf dem Eindruck, den das zurechnende Strafurteil und die präventive Behandlung in der Allgemeinheit hervorrufen und haben deshalb mit Besonderheiten der Spezialprävention nichts zu tun; sie sind vielmehr generalpräventive Nebenwirkungen. ȕ) Spezifisch spezialpräventiv ist es, nicht die aktuelle Verletzung der Normgeltung durch den Normbruch als Konflikt zu definieren, sondern den Normbruch als
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bloßes Symptom für kommende Taten desselben Täters zu nehmen; die Gefahr dieser Taten ist in spezialpräventiver Sicht der Konflikt. Auf die Erledigung der Enttäuschung einer normativen Erwartung muß also zugunsten der Enttäuschungsfestigkeit künftiger kognitiver Erwartungen verzichtet werden. Dieser Verzicht dürfte gelingen, wenn die kognitive Erledigung Erfolg verspricht und wenn zudem die Enttäuschten den Täter als ungleich, unmaßgeblich, hilfsbedürftig o.ä. definieren können, jedenfalls als eine Person, die – was Normbefolgung angeht – eine Sonderstellung hat. In solchen Fällen wird die für jedermann bestehende Verbindlichkeit der Norm nicht tangiert, weil der Täter dem Jedermann in einem relevanten Punkt nicht gleicht. Der Hauptanwendungsfall solcher kognitiver Enttäuschungserledigung ist die präventive Behandlung derjenigen Personen, bei denen sowohl Erziehbarkeit als auch ein Erziehungsdefizit plausibel sind, konkret: die Behandlung der Jugendlichen und Heranwachsenden. Deshalb ist das Jugendstrafrecht eine Domäne der Spezialprävention, und seine Ersetzung durch nichtstrafende und im Idealfall nicht einmal als Übel zu empfindende Maßnahmen ist eine spezialpräventiv gebotene Konsequenz, freilich nur, soweit ein Erziehungsdefizit plausibel dargestellt und praktisch behoben werden kann; denn ansonsten fügt sich auch das Jugendstrafrecht dem Muster positiver Generalprävention. Ȗ) Läßt sich aber beim Täter keine Besonderheit ausmachen, so bringt die spezialpräventive Umdeutung des Konflikts in die kognitive Ebene als zwingende Folge, daß für die Enttäuschten auch ihr eigenes Verhalten zu einer rein kognitiven Angelegenheit wird. Ist das abweichende Verhalten, das ein Jedermann vollzieht, eine Enttäuschung kognitiver Erwartungen, wie es eine Krankheit ist, so wandelt sich die Frage, wie man [24] sich verhalten soll, für alle Menschen in die Frage, wie man sich verhalten wird. Gesellschaftliches Leben (wie auch individuelles menschliches Leben) dürfte bei dieser Normabstinenz nicht mehr organisierbar sein, jedenfalls nicht beim Ausgang von einer Gesellschaft der gegenwärtigen Gestalt. bb) Es besteht also zumindest der Verdacht, daß Spezialprävention nur funktioniert, solange sie von generalpräventiven Nebeneffekten flankiert wird. Selbst v. Liszt läßt bei Personen, die keine Besonderheiten gegenüber jedermann aufweisen, unbenannte, aber eindeutig generalpräventive Erwägungen durchschlagen: Es soll beim erwachsenen Rückfälligen weniger um Besserung (die dem Täter jedenfalls nicht nur ein Übel bringt) als um Sicherung gehen, und zwar nicht in einem goldenen Käfig, sondern in „Strafknechtschaft“. Auch v. Liszts Festhalten am Tatprinzip dürfte nicht nur auf den von ihm herausgestrichenen rechtsstaatlichen Gründen beruhen, sondern auch auf der generalpräventiven Eindruckskraft dieses Prinzips. 2. Die Verletzung des Tatprinzips a) Es gibt auch handfestere Einwendungen gegen Spezialprävention. Die wichtigste Einwendung ist die Verletzung des Tatprinzips. Bei der Generalprävention läßt sich – zumindest nominell – die Haftung auf das Maß beschränken, in dem der Täter durch seine Tat die Normgeltung (positive Generalprävention) oder die faktische Erwartung der Normbefolgung (negative Generalprävention) verschlechtert hat. Bei der Spezialprävention hingegen ist es – Gelegenheitstäter ausgenom-
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men – von vornherein unmöglich, den Täter von der Bestrafung allein solcher Taten abzubringen, wie er sie vollzogen hat, ihn aber ansonsten unbehandelt zu lassen. Es gibt keine Konzepte, wie man einen Täter einzig von etwa mittelschweren Diebstählen oder Betrügereien o.ä. abbringen könnte, scil. allein von den Taten nach Art der begangenen Tat. Auch wenn man kein Alles-oder-nichts-Prinzip verfolgt, vielmehr akzeptiert, daß ein Mensch sozial mehr oder weniger angepaßt sein kann, ist doch die Vorstellung, einen nichtangepaßten Menschen einzig nach Art und Maß der von ihm begangenen Taten anpassen zu können, zumindest in der Mehrzahl aller Fälle lebensfremd. Die Theorie der Spezialprävention muß deshalb das Tatprinzip verabschieden: Die Tat ist nur noch Anlaß der Behandlung. b aa) Die Tat ist freilich ein schlechter Anlaß der Spezialprävention, weil sie – wiederum Gelegenheitstäter ausgenommen – häufig zu einem Zeitpunkt begangen oder entdeckt wird, in dem die Entgleisung nicht mehr reversibel ist. Taugliche Verfahren zur Spezialprävention sind nicht Strafen oder andere Behandlungen nach Begehung der Delikte des StGB, sondern wären etwa Hilfen bei Arbeitslosigkeit, Arbeitsunlust, Überschuldung, familiären Schwierigkeiten, Süchten etc. bb) Die Disharmonie zwischen der Bindung des Strafrechts an eine sozialschädliche Tat (und nicht schon an eine Situation zunehmender Tatgeneigtheit) hat v. Liszt erkannt. Nach seiner Lösung soll „das Strafrecht ... die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“ sein, was heißen soll, daß für das Ob der Strafe das „Strafrecht“ mit seinem Tatprinzip, aber für Art und Maß der Strafe die „Kriminalpolitik“ zuständig sein sollen. Damit wird beiden Seiten zugleich gedient und geschadet: Das Tatprinzip verdankt seine Herkunft denjenigen Straftheorien, die Strafe nach der Größe des angerichteten Schadens zumessen wollen, und ist in einem spezialpräventiv orientierten [25] Modell funktionslos. Es hindert dort die Effektivität, wie es seinerseits die Hälfte seiner Aufgabe verliert, nämlich das Maß des Defizits an Normgeltung und dadurch das Maß an ausgleichender Strafe zu indizieren. cc) Die Abspaltung von der Tat geht so weit, daß es in zahlreichen Fällen sogar unmöglich ist, zur Urteilszeit eine bestimmte Dauer der Rechtsfolge anzugeben, was bei Rechtsfolgen, die hauptsächlich aus Hilfen bestehen, rechtsstaatlich schadlos ist, nicht aber bei Übelszufügungen als Rechtsfolgen. Der Grund für die Unbestimmbarkeit liegt darin, daß die (vergangene) Tat nur Anlaß für eine (zukünftige) soziale Anpassung des Täters ist; der allein nach vorn gewendete Blick kann als Zielpunkt nur den Effekt der sozialen Anpassung ausmachen, und wann dieser Punkt erreicht ist, läßt sich häufig nicht einmal näherungsweise und niemals genau voraussagen. Die Zulässigkeit einer Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauer ist daher das hauptsächliche Erkennungszeichen eines primär spezialpräventiv ausgerichteten Strafrechts (siehe § 19 JGG). c) Weiterhin ist gegen das Modell einzuwenden, daß bei ihm – wie bei der negativen Generalprävention – das Quantum des sozialen Schadens und das Quantum der Reaktion nicht verbunden sind, so daß es zu krassen Mißverhältnissen kommen kann. Nach den Prinzipien der Spezialprävention müßte der immer wieder rückfällige Täter geringfügiger Delikte trotz des nur mäßigen Schadens seiner Taten „gesichert“ werden (d.h. es wäre jahrelange Sicherungsverwahrung anzuordnen). Man mag solche Ergebnisse mit Hilfe des Grundsatzes der Verhältnis-
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mäßigkeit korrigieren, steht dann aber vor der Schwierigkeit, von einer spezialpräventiven Reaktion mangels Verhältnismäßigkeit absehen zu müssen und von einer generalpräventiven Reaktion, weil sich Generalprävention als bloßer Lückenfüller nicht legitimieren läßt. Ganz entsprechende Schwierigkeiten ergeben sich bei Tätern schwerer Taten, die keiner oder nur geringfügiger sozialer Anpassung bedürfen. Beispiele dafür bilden nicht nur zahlreiche Mörder aus der nationalsozialistischen Zeit, die nachfolgend eine jahrzehntelange Legalbewährung bestanden haben, sondern ebenso Täter in solchen Konfliktsituationen, deren Wiederkehr unwahrscheinlich ist; bei Ausländern ohne Asylanspruch würde in der Regel nicht mehr als die Ausweisung erforderlich sein. Aber bei einem Verzicht auf eine Reaktion, die den Geltungsschaden ausgleicht, verstärkt sich die schon oben [...] zur Spezialprävention allgemein beschriebene Gefahr, daß die Möglichkeit von Normorientierung überhaupt verlorengeht. 3. Neuere Konzepte a) Gewiß ist Spezialprävention nicht in der Gestalt festgeschrieben, in der v. Liszt sie entworfen hat. Die Bedeutung der genannten Einwendungen ist auch nicht allgemein anerkannt. Radikale Postulate, die das „Strafrecht“ als „Schranke der Kriminalpolitik“ nicht mehr anerkennen, stellt insbesondere ein Flügel der Société Internationale de [26] Défense Sociale; Gramatica: Von den „im System des Gesellschaftsschutzes anzuwendenden Maßnahmen“ soll zu verlangen sein, daß sie ,,1. vollständig die Strafen ersetzen müssen; 2. einen einheitlichen Charakter haben müssen; 3. auch vorbeugende Maßnahmen umfassen müssen; 4. einen unbestimmten Charakter besitzen müssen, damit sie während des Vollzugs, entsprechend der ständigen Überwachung der Persönlichkeit, dauernd abgeändert, ersetzt oder ganz beseitigt werden können; 5. im Prinzip keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Minderjährigen machen dürfen ... ; 6. der Person angepaßt sein müssen und nicht auf die objektiv betrachtete Tat bezogen sein dürfen“. b aa) Die hier gegebene Kritik der Spezialprävention hat nicht den Zweck, den Vorgang der sozialen Anpassung zu perhorreszieren, sondern die Verabsolutierung dieser Anpassung. Beim Ausgang von einem Modell, in dem das Maß des eingetretenen sozialen Schadens und das Maß der Strafe verbunden sind, ist Spezialprävention unter den oben schon genannten Bedingungen eine alternative Strategie zur Erledigung des Konflikts und zudem der überhaupt einzige Gesichtspunkt, nach dem die Kostentragungspflicht des Täters auch für diesen selbst sinnvoll gestaltet werden kann. bb) Der dafür zur Verfügung stehende Rahmen ist freilich eng, und zwar nicht nur wegen der Beschränkung der Strafzeit durch die positive Generalprävention und wegen der faktischen Beschränkung der Mittel, sondern auch wegen der rechtlichen Beschränkungen der Spezialprävention. Es gibt keine Legitimation des Staats, die sittliche Haltung der Bürger zu optimieren, sondern der Staat hat sich mit der äußeren Befolgung des Rechts zu begnügen (Relegalisierung). Insbesondere ist es nicht Ziel der Spezialprävention, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu schaffen, sondern dem Täter legales Verhalten zu erleichtern. Hauptsächlich wird sich Spezialprävention deshalb auf „Befreiung von äußeren und inneren Zwängen“ zu beschränken haben, d.h. auf Befreiung von besonderen Belastungen
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der Person, wobei diese Befreiung ohne Mitwirkung des Täters nur selten zu bewerkstelligen sein dürfte. Bei der Beseitigung der Belastungen wird auch das Gerüst der eine Person erst konstituierenden Haltungen zu informellen Normen verändert; das aber darf nur mit Mitteln erfolgen, die auch gegenüber jedem anderen, nicht straffälligen Bürger legitim sind. cc) Da der Täter nur in normativer Sicht die maßgebliche Ursache des Konflikts ist – etwa in pädagogischer oder in psychologischer Sicht mögen sich andere Ursachen [27] als maßgeblich aufdrängen –, mag es erfolgversprechender sein, zur Deliktsverhütung anderswo als gerade beim Täter mit einer Umorganisation zu beginnen. Gesellschaftstypische Konflikte lassen sich per Spezialprävention nicht effektiv beseitigen. V. Die Vereinigungstheorien 1. Es ist schon früh darauf hingewiesen worden, daß sich einzelne Aspekte der Straftheorien kombinieren lassen. Das kann verschiedenes bedeuten: a) Mit einer Kombination ist nicht gemeint, daß ein Defizit einer Theorie, das deren Praktizierbarkeit hindert, durch eine andere Theorie ausgefüllt werden dürfe; in solchen Fällen ist die defizitäre Theorie überhaupt untauglich. Beispiel: Vergeltungstheorien, die um präventive Überlegungen zur Notwendigkeit von Vergeltung ergänzt werden müssen, sind als Vergeltungstheorien zur Begründung der Notwendigkeit der Strafe untauglich; es handelt sich nach der Kombination um verkappte präventive Theorien. Mit einer Kombination ist ferner nicht gemeint, daß mehrere Theorien kumuliert werden dürften; denn Kumulierung führt im Bereich divergenter Ziele der kombinierten Modelle zur Unbestimmbarkeit der Strafe; das zeigt sich etwa beim E 1962, der bei der Schuldstrafe ansetzt, aber zudem noch die Verhütung von Straftaten durch generelle und spezielle Abschreckung sowie durch Resozialisierung und [28] Sicherung des Täters erreichen will, ohne daß ersichtlich wäre, wie diese Desiderate auf einen Nenner gebracht werden könnten. b) Durch Kombination läßt sich nicht die Aufgabe umgehen, eine Theorie für eine praktizierbare Strafe zu entwickeln. Als eine solche Theorie ist hier eingangs die positive Generalprävention genannt worden, die nachfolgend, insbesondere zur Schuld, noch zu detaillieren sein wird. Aber diese Theorie (wie jede andere) erstreckt sich nicht auf jeden Abschnitt des gesamten Bestrafungsvorgangs, sondern beläßt ungestaltete Nischen, die nachrangig durch andere Theorien ausgefüllt werden können, wobei als nachrangige Theorie nur die Spezialprävention in Betracht kommt, da die Vergeltungstheorie, die Sühnetheorie und die Theorie der negativen Generalprävention überhaupt zu verwerfen sind [...]. Als hauptsächliche Folge ist der gesamte Strafvollzug, für den die Theorie der positiven Generalprävention nichts ergibt, möglichst spezialpräventiv effektiv auszugestalten (§§ 2 f. StVollzG). Aber auch auf die vom Gesetzgeber zu wählenden Strafrahmen sowie auf die Strafzumessung wirkt die Spezialprävention ein; denn mit der Theorie der positiven Generalprävention lassen sich keine eindeutig bestimmten Strafquanten berechnen (ebensowenig mit einer anderen Theorie), sondern sie gibt einen Rahmen, der von der schon ernst zu nehmenden Reaktion und der noch nicht übertrie-
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ben scharfen Reaktion gebildet wird. Dieser Rahmen kann spezialpräventiv ausgefüllt werden, wenn insoweit effektive Maßnahmen möglich sind; ansonsten muß es beim Mindestmaß der schon ernst zu nehmenden Reaktion verbleiben. Einzelheiten sind Gegenstand der Strafzumessungslehre. 2 a) Abgesehen von dieser Vereinigung der positiven Generalprävention mit nachrangiger Spezialprävention besteht stets eine Konkurrenz beider Präventionen als mögliche Äquivalente (neben weiteren) zur Erledigung von Konflikten, wobei die Äquivalenz nach der Erledigungswirkung zu bestimmen ist und keine Ähnlichkeit der Erledigungsweise voraussetzt (nicht notwendig Strafe). Die Antwort auf die Frage, welche Erledigungsart zu wählen ist, muß nicht stets allein zugunsten einer einzigen Erledigungsart ausfallen (z.B. allein für Generalprävention: § 56 Abs. 3 StGB), sondern kann jeder Erledigungsart einen Teil zuweisen und die Arten in diesem Sinn vereinigen; Beispiele dafür sind die Strafaussetzung zur Bewährung und verwandte Rechtsinstitute (§§ 56, 57, 59 StGB): Neben den spezialpräventiven Zwang zum legalen Verhalten durch den konkretisierten Strafdruck, möglicherweise verbunden mit Weisungen und Bewährungshilfe (§§ 56c, d StGB), tritt die generalpräventive öffentliche Mißbilligung, möglicherweise verbunden mit Auflagen (§ 56 b StGB). b) Hauptbeispiel für diese zuletzt genannte Art der Vereinigung bildet die Zweispurigkeit der Rechtsfolgen nach geltendem Recht: Im Rahmen des Verhältnismäßigen (§ 62 StGB) und Erforderlichen treten spezialpräventive Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 StGB) neben die Strafe für schuldhaftes Verhalten. Das Nebeneinander wird freilich in doppelter Hinsicht zugunsten der Prävention durchbrochen (vikariierendes System): Die Zeit des Vollzugs der Maßregel wird bei Zweckerreichung der Maßregel kann die Strafe, falls mindestens die Hälfte erledigt ist, zur Bewährung ausgesetzt werden, ohne daß die Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 StGB erfüllt sein müssten (§ 67 Abs. 5 StGB).
Erläuterungen und weiterführende Hinweise a) Allgemeine Literatur; Abkürzungen1 Achenbach
Achenbach, Hans: Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre. (Münchner Universitätsschriften. Jur.Fak. 12). Berlin 1974.
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Archiv des Criminalrechts (1798–1807)
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Deutsche Juristenzeitung (1896–1931)
1
Hier werden nur diejenigen Literaturtitel aufgeführt, auf die in den Einzelnachweisen mehrfach (und dann in der hier angegebenen Kurzfassung) verwiesen wird.
T. Vormbaum (Hrsg.), Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Goltdammers Archiv für Strafrecht (1853–1870: Archiv für preußisches Strafrecht; 1871–1879: Archiv für gemeines deutsches und preußisches Strafrecht; 1880–1899: Archiv für Strafrecht; 1899–1933: Archiv für Strafrecht und Strafprozeß; 1934–1945: Deutsches Strafrecht. Neue Folge; ab 1953: Goltdammers Archiv für Strafrecht).
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Gmür, Rudolf: Grundriß der deutschen Rechtsgeschichte. (JA-Sonderheft. 2) 5. Auflage. Neuwied 1992.
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JA
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JZ
Juristenzeitung
KJ
Kritische Justiz
Kl.Phil.
Klassiker der Philosophie. Hrsg. von Otfried Höffe. Erster Bd.: Von den Vorsokratikern bis David Hume. 2. Aufl. München 1985, Zweiter Bd.: Von Immanuel Kant bis Jean-Paul Sartre. 2. Aufl. München 1985.
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Klassiker des politischen Denkens. Hrsg. von Hans Maier, Heinz Rausch, Horst Denzer. Erster Bd.: Von Plato bis Hobbes. 6. Aufl. München 1986. Zweiter Bd.: Von Locke bis Max Weber. 5. Aufl. München 1987.
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Kleinheyer, Gerd, und Jan Schröder: Deutsche Juristen und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. 5. Auflage. Heidelberg 2008.
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Marxen, Klaus: Der Kampf gegen das liberale Strafrecht. Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre. (Schriften zum Strafrecht. 22). Berlin 1975.
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NArchCrR
Neues Archiv des Criminalrechts (1816–1833).
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Rechtsphilosophische Grundbegriffe. Begründet von Wolfang Naucke, fortgeführt von Regine Harzer. (Juristische Lernbücher. 19). 5. Auflage. München 2005.
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Oehler, Dietrich: Wurzel, Wandel und Wert der strafrechtlichen Legalordnung. (Münsterische Beiträge zur Rechts- und Staatswissenschaft. 1). Berlin 1959.
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Overbeck, Alfred Freiherr von: Das Strafrecht der französischen Encyclopädie. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert. (Freiburger Abhandlungen aus dem Gebiete des öffentlichen Rechts. 1). Karlsruhe 1902.
RJ
Rechtshistorisches Journal
Rotteck / Welcker
Das Staatslexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, herausgegeben von Karl von Rotteck und Karl Welcker in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands. Altona 1843. 15 Bde. (weitere Auflagen).
Rüping / Jerouscheck
Rüping, Hinrich: Grundriß der Strafrechtsgeschichte (JuS-Schriftenreihe. 73). 5. Auflage. München 2007.
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Schaffstein, Friedrich: Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts (zuerst Berlin 1930) / Beiträge zur Strafrechtsentwicklung von der Carolina bis Carpzov (zuerst in GS 101 <1932>, 14–53). 2. Neudr. m. Vorwort d. Verf. Aalen 1986.
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Schleswig-Holsteinische Anzeigen
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Stintzing, Roderich: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. München und Leipzig. Bd. 1: 1880; Bd. 2: 1884; Bd. 3 von Ernst Landsberg: Halbbd. 1 (Text und Noten) 1898; Halbbd. 2 (Text) 1910; Halbbd. 2 (Noten) 1910.
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (online-Zeitschrift)
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Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte
ZSRG.GA
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung (seit 1884).
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (seit 1881)
356
Anhang
b) Hinweise zu den einzelnen Texten Wilhelm von Humboldt Quelle: Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen; in: Ders., Werke in fünf Bänden. Herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel. Erster Band: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. 2. Auflage. Darmstadt 1969. S. 56–233. (Der Text gibt den XIII. Abschnitt sowie einige hervorgehobene Passagen aus dem VIII., X. und XII. Abschnitt wieder. Die in Kleindruck wiedergegebenen Inhaltsangaben sind dem Inhaltsverzeichnis entnommen, welches Humboldt selber der Abhandlung als Anhang beigegeben hat.) Zum Text: Der Text ist auch als Reclam-Band (RUB. 1991) erhältlich. – Vermutlich wegen Schwierigkeiten mit der Zensur wurde die Schrift nicht, wie vorgesehen, gleich nach der Vollendung veröffentlicht. Zu Humboldts Lebzeiten wurden nur Bruchstücke publiziert. Die erste vollständige Veröffentlichung erfolgte erst 1851, also 16 Jahre nach Humboldts Tod. (Einzelheiten in den Texthinweisen der Reclam-Ausgabe, a.a.O., S. 211 f.). Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: ADB Bd. 13 (1881), S. 338–358 (Alfred Dove); DGD Bd. 2 (1956), S. 443–452 (H. Nette) NDB Bd. 10 (1974), S. 43–51 (Gerhard Masur, Hans Arens); Peter Berglar: Wilhelm von Humboldt. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (rm. 161). Reinbek b.Hamburg 1970 u.ö.; Tilman Borsche, Wilhelm von Humboldt. (Beck'sche Reihe. 519; Große Denker). München 1990; Willy Real, W.v.H., in: StL Bd. 3 (1987), Sp. 15–16; Friedrich Schaffstein, Wilhelm von Humboldt. Frankfurt a.M. 1952. Strafrechtslehre: Felix Herzog, Über die Grenzen der Wirksamkeit des Strafrechts. Eine Hommage an Wilhelm von Humboldt, in: KritV 1993, 247–254; Konstantinos A. Papageorgiou, Sicherheit und Autonomie. Zur Strafrechtsphilosophie Wilhelm von Humboldts und John Stuart Mills, in: ARSP 1990, 324–247; Friedrich Schaffstein, Das Strafrecht in Wilhelm von Humboldts Schrift über die Grenzen der Staatswirksamkeit (zuerst in Fschr. f. E.R. Huber. 1973. S. 117–138), in: Ders., Abhandlungen zur Strafrechtsgeschichte und zur Wissenschaftsgeschichte. Aalen 1986. S. 247–267; Vormbaum, S. 49 f. Immanuel Kant Quelle: Text und Seitenangaben nach folgender Ausgabe: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten; in: Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. VIII (Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. 2). (SuhrkampTaschenbücher Wissenschaft) Frankfurt 1968. S. 303 ff. (Bde. VII u. VIII durchpaginiert). – Für die sog. Akademie-Ausgabe gilt folgende Fundstelle: Die Meta-
Hinweise zu den einzelnen Texten
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physik der Sitten. Abgefaßt von Immanuel Kant. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre; in: Kant's gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abtheilung: Werke. Bd. 6. Berlin 1907. S. 201–372. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: ADB Bd. 15 (1882), S. 81–97 (Prantl); DGD Bd. 2 (1956), S. 265–282 (Roßmann); HRG Bd. 3 (1984), Sp. 593–603 (G. Küchenhoff); NDB Bd. 11 (1977), S. 110–125 (N. Hinske); Arno Baruzzi, I.K., in: Kl.pol.D., Bd. 2, S. 136–158; Arsenij Gulyga, Immanuel Kant (russ. 1977). (suhrkamp taschenb. 1093). Frankfurt 1985; Regina Harzer, I.K., in: Stolleis, Juristen, S. 335 ff.; Wolfgang Kersting, Kant über Recht. Paderborn 2004; Diethelm Kleczewski / Steffi Müller / Frank Neuhaus (Hrsg.), Kants Lehre vom richtigen Recht. Aufklärung der Menschheitsfragen der gegenwärtigen Jurisprudenz? Paderborn 2005; Naucke / Harzer, S. 69 ff.; Otfried Höffe, Immanuel Kant. (Beck'sche Reihe. 506. Große Denker). 2. Auflage. München 1988; Ders., I.K., in: Kl.Phil., Bd. 2, S. 7–29; Ders. (Hrsg.), Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Berlin 1999; Uwe Schultz, Immanuel Kant. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (rm. 101). Reinbek b. Hamburg 1965 u.ö. – Die neuere Literatur zur Rechtsphilosophie Kants wird vorgestellt und erörtert in Literaturberichten von Wolfgang Naucke, ZStW 97 (1985), 542–548, und Uwe Justus Welzel, ARSP 1990, 227– 243. – siehe ferner Winfried Brugger, Grundlinien der Kantischen Rechtsphilosophie, in: JZ 1991, 893–900; Joachim Hruschka, Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ, in: JZ 1987, 941–952; Ders.: Die Person als ein Zweck an sich selbst. Zur Grundlegung von Recht und Ethik bei August Friedrich Müller (1733) und Immanuel Kant (1785); in: JZ 1990, 1–15; Gerd-Walter Küsters, Kants Rechtsphilosophie. Darmstadt 1988; Bernd Ludwig, Kants Rechtslehre. (Kant-Forschungen. 2). Hamburg 1988; Christian Ritter, I.K., in: Stolleis, S. 272–293; Wieacker, S. 351 ff. u.ö.; Rainer Zaczyk, Freiheit und Recht – Immanuel Kant zum 200. Todestag, in: JuS 2004, 96–100. Einführungen für Studierende: Ralf Ludwig, Kant für Anfänger. Die Kritik der reinen Vernunft. Eine Lese-Einführung (dtv. 4662). 3. Auflage München 1996; Ders., Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ. Eine Leseeinführung (dtv. 4663). 3. Auflage. München 1996; Günter Schulte, Immanuel Kant (Reihe Campus Einführungen. 1044). 2. Auflage Frankfurt, New York 1994; Paul Strathern, Kant in 90 Minuten. Frankfurt a.M. 1994. Strafrechtslehre: Amelung, S. 30 ff.; v. Bar, S. 242 f.; Heiner Bielefeldt, Strafrechtliche Gerechtigkeit als Anspruch an den endlichen Menschen. Zu Kants kritischer Begründung des Strafrechts, in: GA 1990, 108–120; Sharon Byrd / Joachim Hruschka, Kant zu Strafrecht und Strafe im Rechtsstaat, in: JZ 2007, 957 ff.; Mario A. Cattaneo: Beccaria und Kant. Der Wert des Menschen im Strafrecht; in: Ders., Aufklärung, S. 7–48; A. Dyrhoff, Zu Kants Strafrechtstheorie, in: ARSP 17 (1924), 351–373; Hans-Jürgen Eberle, Kants Straftheorie in ihrer Bedeutung für die Entwicklung
358
Anhang
einer Theorie der Straffälligenpädagogik, in: Kant-Studien 76 (1985), S. 90–106; Wolfgang Enderlein, Die Begründung der Strafe bei Kant, in: Kant-Studien 76 (1985), S. 303–327; Karin Fleisch, Die Straftheorie des Immanuel Kant unter besonderer Berücksichtigung der Auseinandersetzung mit Cesare Beccaria, Wien 1988 (Diss.); Samuel Fleischhacker, Kant's Theory of Punishment, in: KantStudien 79 (1988), S. 434–449; Otfried Höffe, Recht und Moral: ein kantischer Problemaufriß, in: Neue Hefte für Philosophie 17 (Recht und Moral). Göttingen 1979. S. 1–36; Ders., Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe, in: R. Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin u.a. 1982, S. 335–375; Ders., Vom Straf- und Begnadigungsrecht, in: Ders. (Hrsg.), Immanuel Kant – Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin 1999, S. 213–233; Holzhauer, S. 33 ff.; Ulrich Klug, Abschied von Kant und Hegel (in diesem Band); Ders., Phänomenologische Aspekte der Strafrechtsphilosophie von Kant und Hegel (1969), in: Ders., Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht Bd. 1. Berlin, Heidelberg, New York 1981. S. 215–236; Kristian Kühl, Die Bedeutung der kantischen Unterscheidung von Legalität und Moralität sowie von Rechtspflichten und Tugendpflichten für das Strafrecht – ein Problemaufriß, in: H. Jung, H. Müller-Dietz, U. Neumann (Hrsg.), Recht und Moral (1991), S. 139 ff.; Ders., Naturrechtliche Grenzen strafwürdigen Verhaltens, in: Festschr. f. Günter Spendel (1992), S. 75–98; Nagler, S. 400 ff.; Hellmuth Mayer, Kant, Hegel und das Strafrecht; in: Fschr. für Karl Engisch zum 70. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1969. S. 54–79 (vor allem Entgegnung auf den Aufsatz von Klug); Wolfgang Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs. (Kieler rechtswissenschaftliche Abhandlungen. 3). Hamburg 1962. (Standardwerk zur Kantschen Straftheorie; enthält auf S. 12–38 eine ausführliche Darstellung und Analyse dieser Straftheorie); Ders., Die Reichweite des Vergeltungsgedankens bei Kant, in: SchlHA 1964, 203–211; Ders., Über den Einfluß Kants auf Theorie und Praxis des Strafrechts im 19. Jahrhundert, in: Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert. Hrsg. von J. Blühdorn und J. Ritter. Frankfurt a.M. 1969. S. 27–48; Igor Primoratz, Kant und Beccaria, in: KantStudien 69 (1978), S. 403–421; M. Salomon, Kants Strafrecht in Beziehung zu seinem Staatsrecht, ZStW 33 (1912), S. 1–34; Ders., Kant und die Strafrechtslehre, in: MschrKrim 15 (1924), 171–180; Wilhelm Sauer, Kants Einfluß auf das Straf- und Prozeßrecht, in: ZStW 45 (1924), 1–5; Wolfgang Schild, Ende und Zukunft des Strafrechts, in: ARSP 70 (1984), 71–112; Ders., Anmerkungen zur Straf- und Verbrechensphilosophie Immanuel Kants, in: Festschr. f. Wolfgang Gitter. Wiesbaden 1995 S. 831–846; Eb. Schmidt, §§ 220–222; Steven S. Schwarzschildt, Kantianism on the Death Penalty (and Related Social Problems), in: ARSP 1985, S. 343–372; Seelmann, S. 457 ff.; Sellert / Rüping, S. 360 ff.; Daniela Tafani, Kant und das Strafrecht, in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 6 (2004/2005), S. 261 ff., erneut abgedruckt in; Journal der juristischen Zeitgeschichte 1 (2007), 26 ff. (dazu Stellungnahmen von Pawlik, JoJZG 2007, 26; Rother, JoJZG 2007, 27 f., Cattaneo, JoJZG 2007, 59 f.; Vormbaum, S. 38 ff.
Hinweise zu den einzelnen Texten
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Johann Gottlieb Fichte Quelle: ERSTER TEIL: Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), in: J.G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob. Band I, 3 (Werke 1794–1796). Stuttgart – Bad Cannstatt 1966. S. 291–460. (Die kleingeschrieben Passagen sind dem Inhaltsverzeichnis der Textvorlage entnommen). – ZWEITER TEIL: Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Zweyter Theil oder Angewandtes Naturrecht (1797), in: ebd. Band I, 4 (Werke 1797–1798). Stuttgart – Bad Cannstatt 1970. S. 1–166. Zum Text: Eine weitere geschlossen Darstellung seiner strafrechtstheoretischen Auffassungen hat Fichte 1812 gegeben in dem Werk „Das System der Rechtslehre“; in: Ders., Ausgewählte Politische Schriften. Herausgegeben von Zwi Batscha und Richard Saage. (Eingeleitet von Zwi Batscha. Mit einem Nachwort von Richard Saage). Sie gehört dem Spätwerk an. Historisch wirksamer wurde die im „Naturrecht“ ausgebreitete Strafrechtstheorie. Nur auf sie bezieht sich die einschlägige Monographie von Zaczyk (s.u.) Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: ADB Bd. 6 (1877), S. 761–771 (K. Fischer); DGD Bd. 5 (1957), S. 178–190 (H. Heimsoeth); NDB Bd. 5 (1961), S. 121–125 (Hermann Zeltner); Wilhelm G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (rm. 336). Reinbek b.Hamburg 1984; Ders., J.G.F., in: StL Bd. 2 (1986), Sp. 567–570; Walter Roemer, Naturrecht vor 150 Jahren und heute, in: Festschrift f. Wilhelm Kiesselbach. Hamburg 1947, S. 157–176, insb. S. 162 ff.; Peter Rohs, Johann Gottlieb Fichte. (Beck'sche Reihe. 521; Große Denker); Ludwig Sieb, J.G.F., in: Kl.Phil. Bd. 2 S. 40–61; Wieacker, S. 360 f. u.ö. Strafrechtslehre: v. Bar, S. 244 ff.; Fischl, S. 143 ff.; Vittorio Hösle, Was kann und was darf der Staat bestrafen? Überlegungen im Anschluß an Fichtes und Hegels Straftheorien, in: Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus. (Schriften zur Transzendentalphilosophie. 9). Hamburg 1989. S. 1–55; Seelmann, S. 456 f.; Daniela Tafani, Recht, Zwang und Strafe bei Fichte, in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 9 (2007/2008), S. 267 ff.; Vormbaum, S. 63 ff.; Rainer Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J.G. Fichtes. (Schriften zur Rechtstheorie. 96). Berlin 1981. Ernst Ferdinand Klein Quelle: Ernst Ferdinand Klein, Über die Natur und den Zweck der Strafe, in: ArchCrR 2 (1800), Erstes Stück (1799), S. 60–93.
360
Anhang
Zum Text: Für die Straftheorie E.F. Kleins ist vor allem sein strafrechtliches Hauptwerk heranzuziehen: Ernst Ferdinand Klein: Grundsätze des gemeinen deutschen und preußischen peinlichen Rechts. Halle 1796 (2. Aufl. Halle 1799). – Zur Auseinandersetzung Kleins mit Grolman und Feuerbach s. auch Ernst Ferdinand Klein, Herr Professor Carl Grollmann, in: ArchCrR 1 (1799), 4. Stück (1799), S. 128–151. – Der im Text erwähnte eigene Aufsatz, in welchem Klein sich – übereinstimmend mit Feuerbach – zur Theorie der Strafe als Sanktion der Strafandrohung äußert, lautet: Ernst Ferdinand Klein, Verträgt sich der Unterschied zwischen Freiheitsverlust zur Strafe und zur künftigen Sicherheit des Staats, mit der Meinung, daß der Zweck der Strafe die Verhütung künftiger Verbrechen sey?, in: ArchCrR 1 (1799), 2. Stück (1798), S. 41–43. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: ADB Bd. 16 (1882), S. 88–90 (Teichmann); HRG Bd. 2 (1979), Sp. 866–869 (H. Holzhauer); NDB Bd. 11 (1977), S. 734–735; (G. Kleinheyer); Döhring, S. 411; Kleinheyer / Schröder, S. 511; Stintzing / Landsberg, Bd. III 1 S. 470 f., 515 ff. Strafrechtslehre: Horst Brünker, Der Kriminalist Ernst Ferdinand Klein (1744–1810). Praktiker und Philosoph des aufgeklärten Absolutismus. Bonn (jur. Diss.) 1973; Fischl, S. 129 ff.; Günther, Bd. 2, S. 229; Hepp, S. 62 ff.; Holzhauer, S. 93 f.; Helmut Mumme, Ernst Ferdinand Kleins Auffassung von der Strafe und den sichernden Maßnahmen. (Hamburger Strafrechtsstudien. 28). Hamburg 1936; Ulrich Hoffmann, Ernst Ferdinand Kleins Lehre vom Verhältnis von Strafen und sichernden Maßnahmen. Breslau (jur. Diss.) 1938; Nagler, S. 359 f.; Eb. Schmidt, § 241 u.ö. Karl Grolman Quellen: Erster Text: Karl Grolman, Über die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung, nebst einer Entwicklung der Lehre von dem Maasstabe der Strafen und der juridischen Imputation. Den Freunden der Philosophie und der Rechtswissenschaft insbesondere gewidmet. Gießen (G.F. Heyer) 1799. – Zweiter Text: Karl Grolman, Sollte es denn wirklich kein Zwangsrecht zur Prävention geben? in: Magazin für die Philosophie und Geschichte des Rechts und der Gesetzgebung 1 (1800), 241–265. Zu den Texten: Beide Texte markieren für unterschiedliche Zeitpunkte den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen Grolman und seinem Freund und Kontrahenten Paul Johann Anselm Feuerbach. Der zweite Text reagiert auf S. [62] ff. sowie in einem Anhang (S. 229 ff., hier nicht abgedruckt) auf Feuerbachs Gegenposition, welche dieser im „Anti-Hobbes“ (1797) sowie in einem Beitrag zu Grolmans „Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft“ (1798) (Nachweise zu beiden Titeln bei den Hinweisen zu Feuerbach) dargelegt hatte.
Hinweise zu den einzelnen Texten
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Der zweite Text enthält Präzisierungen zu Grolmans Werk „Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft nebst einer systematischen Darstellung des Geistes der deutschen Criminalgesetze“. (Gießen 1798); er reagiert (wie die Einleitung darlegt) auf Feuerbachs Kritik in der „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts“ (1799) und in der Schrift „Über die Strafe als Sicherungsmittel“ (in diesem Band b. Feuerbach) – Über die Kontroverse Grolman / Feuerbach s. z.B. Grünhut, Feuerbach (in den. Hinw. zu Feuerbach), S. 45 ff.; Radbruch, Feuerbach (s. Hinw. zu Feuerbach), S. 44 ff. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: ADB Bd. 9 (1879), S. 713–714 (Teichmann); NDB Bd. 7 (1966), S. 122–123 (F. Knöpp); HRG Bd. 1 (1971), Sp. 1808–1811 (K. Lüderssen); Kleinheyer / Schröder, S. 179–183; Stintzing / Landsberg, Bd. III 2, S. 142–144 u.ö. (Notenbd. S. 68–72 u.ö.) – Karl Esselborn, K.L.W. von Grolman. Ein Lebensbild. Darmstadt 1907; Ders.: K.L.G. in Gießen, in: Beiträge zur Geschichte der Universitäten Mainz und Gießen. Darmstadt 1907. S. 406–461; Gustav Radbruch, Feuerbach, S. 44 ff. Das Buch von Wolfgang Paul, Die Grolmans (München 1989) befaßt sich nur mit dem preußischen Zweig der Familie Grolman; der hessische Zweig, dem Karl Grolman entstammt, findet nur im abschließenden (28.) Kapitel kurze Erwähnung. Strafrechtslehre: v. Bar, S. 246 ff.; Mario A. Cattaneo, Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus („L'umanesimo giuridico penale di Karl Grolman. Pisa 1996; dt. Übers. von Thomas Vormbaum) (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 3, Bd. 1). Baden-Baden 1998; Fischl, S. 150 ff.; Grünhut, Feuerbach (s. zu Text Nr. 22), S. 31 ff.; Ludwig Harscher v. Almendingen, Rezension von Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, in: Bibl. f.d.peinl. Rechtswiss. und Ges.kunde 1 (1799), 3. Stück S. 290–346; 2 (1800), 1. Stück, S. 349–429.; Ders.: Versuch über das Princip des Strafrechts; in: Bibl. f.d.peinl. Rechtswiss. und Ges.kunde 1 (1799), 3. Stück, S. 3–70; Hepp, S. 66 ff.; Karl Molitor, Die Straftheorie der Spezialprävention bei Karl von Grolman. Mainz (jur. Diss.) 1950; Eb. Schmidt, § 219; Seelmann, S. 454 f.; Vormbaum, S. 46 f. Paul Johann Anselm Feuerbach Quelle: Erster Text: Paul Johann Anselm Feuerbach, Ueber die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen Beleidigungen des Verbrechers. Nebst einer näheren Prüfung der Kleinischen Strafrechtstheorie. Als Anhang zu der Revision des peinlichen Rechts. Chemnitz (G.F. Tasché) 1800. Reprogr. Neudruck Darmstadt 1970. – Zweiter Text: Anselm Ritter v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts. Mit vielen Anmerkungen und Zusatzparagraphen und mit einer vergleichenden Darstellung der Fortbildung des Strafrechts durch die neuen gesetzgebungen herausgegeben von C.J.A. Mittermaier. Vierzehnte sehr vermehrte und völlig umgearbeitete Originalausgabe. Giessen 1847. Neudruck Aalen 1973. (Die erste Auflage erschien 1801).
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Anhang
Zum Text: Die in den beiden Texten entwickelte sog. Psychologische Zwangstheorie hat Feuerbach mehrfach in unterschiedlicher Breite dargestellt, so auch noch in „AntiHobbes oder Über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn“ (Gießen 1797); „Ist Sicherung vor dem Verbrecher Zweck der Strafe, und ist Strafrecht Präventionsrecht?“ (in: Bibl. f.d. peinl. Rechtswiss. und Ges.kde 1 <1798>, 2. Stück, S. 3–43); vor allem aber in seiner „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven Peinlichen Rechts“ (2 Bde., Erfurt 1799). Zur Kontroverse Grolman / Feuerbach s. bereits die Hinweise zu Grolman. Zur Kontroverse zwischen Feuerbach und Ernst Ferdinand Klein s. noch: Ernst Ferdinand Klein, Nachricht von den neusten Schriften, welche Hr. Prof. Grollmann [sic!] und Hr. D. Feuerbach über die ersten Grundsätze und Grundbegriffe der Strafgesetzgebung und des peinlichen Rechts herausgegeben haben; in: ArchCrR 2 (1800), 1. Stück, S. 94–112; Ders.: Für Herrn D. Feuerbach; in: ArchCrR 2 (1800), 3. Stück, S. 104–116. – Zu Feuerbachs Kritik am Strafgesetzentwurf von G.A. Kleinschrod s. bereits zu Kleinschrodt. Zum zweiten Text s. auch die Hinweise zu Mittermaier. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: ADB Bd. 6 (1877), S. 731–750 (Marquardsen); HRG Bd. 1 (1971), Sp. 118–1124 (K. Lüderssen); NDB Bd. 5 (1961), S. 110–111 (F. Merzbacher); Kleinheyer / Schröder, S. 131–139; Stintzing / Landsberg, Bd. III 2, S. 112–139 u.ö. (Notenbd. S. 60–68 u.ö.); Paul Johann Anselm Feuerbach, Biographischer Nachlaß. Veröffentlicht von seinem Sohn Ludwig Feuerbach. (2 Bde.). 2. Ausgabe Leipzig 1853 (Ndr. Aalen 1973); Conrad, S. 451 ff.; Rolf Gröschner / Gerhard Haney (Hrsg.), Die Bedeutung P.J.A. Feuerbachs für die Gegenwart (Tagungsband). Wiesbanden 2003; Arthur Kaufmann, P.J.A. F., in: StL Bd. 2 (1986), Sp. 565–567; Eberhard Kipper, P.J.A. F. Sein Leben als Denker, Gesetzgeber und Richter. Köln, Berlin, Bonn, München 1969. Wilfried Küper, P.J.A. Feuerbach als Zeitgenosse. Die früheste Biographie Feuerbachs. Zugleich ein Beitrag zur Feuerbach-Bibliographie, in: 140 Jahre Goltdammers Archiv für Strafrecht. Heidelberg 1993, S. 131–147; Wolfgang Naucke, P.J.A. v. F. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 14. November 1975, in: ZStW 87 (1975), 861–887; Gustav Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach. Ein Juristenleben. 3. Auflage. Hrsg. von Erik Wolf. Göttingen 1969; Wolf, S. 543–590 (mit Bibliographie auf S. 588–590). Strafrechtslehre: Die Literatur über die Strafrechtslehre Feuerbachs ist kaum überschaubar. Standardwerke sind: Mario A. Cattaneo, Anselm Feuerbach, filosofo e giurista liberale. Milano 1970; Oskar Döring, Feuerbachs Straftheorie und ihr Verhältnis zur Kantischen Philosophie. Würzburg 1907; Max Grünhut, Paul Johann Anselm Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung. (Hamburg. Schriften z. gesamten Strafrechtswiss. 3). Hamburg 1922; Wolfgang Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs. (Kieler rechtswissensch. Abh. 3). Hamburg 1962. – s. ferner Amelung, S. 33 ff., 39 ff.; v. Bar, S. 248 ff.; Fischl, S. 146 ff.; Hepp, S. 80 ff.; Holzhauer, S. 47 ff.; Helga Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert von P.J.A. Feuerbach bis Franz v. Liszt.
Hinweise zu den einzelnen Texten
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(Frankf. kriminalwiss. Studien. 9). Frankfurt a.M., Bern, New York 1984; Nagler, S. 380 ff.; Eb. Schmidt, §§ 223–235 u.ö.; Gernot Schubert, Feuerbachs Entwurf zu einem Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern aus dem Jahre 1824. (Schriften zur Rechtsgeschichte. 16). Berlin 1978; Seelmann, S. 455 f.; Sellert / Rüping, S. 363 ff. u.ö.; Heinz Mohnhaupt, P.J.A. v. F., in: Stolleis, Juristen, S. 201–204. – Aus der Aufsatzliteratur: Edwin Baumgarten, Das bayerische Strafgesetzbuch von 1813 und Anselm von Feuerbach, in: GS 81 (1913), 98–150; Heinrich Gauf, P.J.A. F. (1775–1833). Seine Theorie des psychologischen Zwangs, seine Betrachtungen zum Geschworenengericht und sein Besuch beim Apellationgericht in Zweibrücken; in: 175 Jahre pfälzisches Oberlandesgericht. Neustadt a.d.W. 1990. S. 331–351; Joachim Hruschka, Strafe und Strafrecht bei Achenwall. Zu einer Wurzel von Feuerbachs psychologischer Zwangstheorie; in: JZ 1987, 161–169; Richard Hartmann, Zum Gedenken an P.J.A. F., in: Staat und Recht 2 (1953), 368–381; Klaus Lüderssen, Bürgerfreiheit und Vernunft im strafenden Staat. Betrachtungen zur 150. Wiederkehr des Todesjahres von P.J.A. F., in: JuS 1983, 910–913; Wolfgang Naucke, Feuerbach – ein liberaler Strafrechtslehrer?, in: Forschung Frankfurt (Wissenschaftsmagazin der J.W. Goethe Universität Frankfurt), Heft 1 (September 1983), S. 22–25; Ders., Die zweckmäßige und die kritische Strafgesetzlichkeit, dargestellt an den Lehren J.P.A Feuerbachs (1885–1832), in: Quaderni Fiorentini 36 (2007), 321–345; Eberhard Schmidt, Anselm von Feuerbach und Franz von Liszt, in: MschrKrim. 33 (1942), 205–223; Gerhard Schmidt, P.J.A. F., in: DRiZ 1983, 185–188; Günther Spendel, P.J.A. F., in: NJW 1958, 815–817; Vormbaum, S. 43 ff. (m. weiteren Hinweisen). Carl Joseph Anton Mittermaier Quelle: Carl Joseph Anton Mittermaier, Über die Grundfehler der Behandlung des Kriminalrechts in Lehr- und Strafgesetzbüchern (1819); in: Klaus Lüderssen (Hrsg.): Paul Johann Anselm Feuerbach und Carl Joseph Anton Mittermaier. Theorie der Erfahrung in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Zwei methodische Schriften. Einleitung von Klaus Lüderssen. Frankfurt a.M. 1968. (Enthält außer der Schrift von Mittermaier die Antrittsrede von Feuerbach: Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft aus dem Jahre 1804). Zum Text (und zum zweiten Feuerbach-Text): Über die problematische, weil von einer ganz anderen Grundauffassung der Strafrechtswissenschaft ausgehende Kommentierung des Feuerbach'schen Lehrbuchs durch Mittermaier s. Vormbaum, S. 60; Siegfried W. Neh, Die posthumen Auflagen von Feuerbachs Lehrbuch. Zu der Konzeption C.J.A. Mittermaiers und seinem Wissenschaftsverständnis. (Schriften zur Rechtsgeschichte. 50). Berlin 1991; Gustav Radbruch, Drei Strafrechtslehrbücher des 19. Jahrhunderts, in: Fschr.f. E.A. Rosenfeld (Berlin 1949). S. 7–28, insb. S. 9 ff. – Über unterschiedliche Einstellungen Mittermaiers und Feuerbachs zur Empirie s. Klaus Lüderssen, Einleitung a.a.O. (s. Textquelle), S. 7–57; Ders., Carl Joseph Anton Mittermaier und der Empirismus in der Strafrechtswissenschaft, in: JuS 1967, 444–448.
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Anhang
Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: ADB Bd. 22 (1885), S. 25–33 (Marquardsen); Kleinheyer / Schröder, S. 284–289; Stintzing / Landsberg, Bd. III 2, S. 413–437 u.ö. (Notenbd. S. 196–201 u.ö.). – Über neuere Ergebnisse und Richtungen der Mittermaier-Forschung unterrichtet: Wilfried Küper (Hrsg.), Carl Joseph Anton Mittermaier. Symposium 1987 in Heidelberg. Vorträge und Materialien. (Heidelberger Forum. 58). Heidelberg 1988 (Rezension in ZNR 1990, 224–228 [Vormbaum]), darin vor allem die Aufsätze von Frommel und Naucke (s.u. zur Strafrechtslehre) und von Reinhard Mußgnug, Carl Mittermaier als Politiker (S. 51–72) – s. ferner Ina Ebert und Andreas Fijal, Zu Leben und Werk K.J.A. M.s, in: Jura 1987, 419–422; Goldschmidt, Zum Andenken an K.J.A. M., in: Arch. f.d. civ. Praxis 50 (1867), 417–442; Götz Landwehr, K.J.A. M. (1787–1867). Ein Professorenleben in Heidelberg, (zuerst in Heidelberger Jahrbücher Bd. 12 <1968>, S. 29–55) in: Wilfried Küper (Hrsg.), Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert. Heidelberg 1986. S. 69–100; Karl Lilienthal und Wolfgang Mittermaier, K.J.A. M. als Gelehrter und Persönlichkeit. Zwei Vorträge (zuerst in ZStW 43 [1922], 157–181), ebd. S. 43– 68; Heinz Müller-Dietz, K.J.A. M. Ein führender Kriminalpolitiker und Pönologe des 19. Jahrhunderts, in: Kriminalistik 1974, 157–161. Strafrechtslehre: Amelung, S. 39 ff.; Martin Fleckenstein, Die Todesstrafe im Werk C.J.A. Mittermaiers. Frankfurt a.M. u.s.w. 1992; Frommel, S. 13 f., 153 ff. u.ö.; Dies., Mittermaiers Konzept einer praktischen Strafrechtswissenschaft, in: Küper (Hrsg.), Mittermaier (s.o.), S. 73–90; Nagler, S. 431; Wolfgang Naucke, Von Feuerbach zu Mittermaier: ein Fortschritt in der Strafrechtswissenschaft?, in: Küper (Hrsg.), Mittermaier (s.o.), S. 91–108; Eb. Schmidt, § 265; Ludwig Stegemeier, Die Bedeutung K.J.A. Mittermaiers für die Entwicklung des reformierten Strafprozesses. Masch.schr. Diss. Göttingen 1948; Vormbaum, S. 58 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel Quelle: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. (= Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ediert von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 7). Frankfurt a.M. 1970. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: ADB Bd. 11 (1880), S. 254–274 (Erdmann); DGD Bd. 3 (1956), S. 9–25 (E. Metzke); HRG Bd. 2 (1978), Sp. 30–35 (G. Küchenhoff); NDB Bd. 8 (1969), S. 207–222 (I. Fetscher); Horst Althaus, Hegel und die heroischen Jahre der Philosophie. Eine Biographie. München, Wien 1990; Thomas Mertens, Recht und Unrecht des Gewissens in Hegels Rechtsphilosophie. Über Moralität und Sittlichkeit, in: ARSP 75 (1988), 477–490; Gabriele Müller, Staat und Geschichte im System der Rechtsphilosophie Hegels, in: Staat 1981, 325–348; Naucke / Harzer, S. 79 ff.; Ludwig Siep, G.W.F. H., in: StL Bd. 2 (1986), Sp. 1217–1223; Ders., Vernunft-
Hinweise zu den einzelnen Texten
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recht und Rechtsgeschichte. Kontext und Konzept der „Grundlinien“ im Blick auf die „Vorrede“; in: Ders. (Hrsg.), G.W.F. Hegel – Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1997, S. 5–29; Adriaan Peperzak, Hegels Pflichten- und Tugendlehre. Eine Analyse und Interpretation der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (§§ 142–157), in: Ludwig Siep (Hrsg.), G.W.F. Hegel – Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1997, S. 167–191; Welzel, S. 173 ff.; Franz Wiedmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumeten. (rm. 110). Reinbek b.Hamburg 1965 u.ö. – Literatur zur Hegelschen Rechtsphilosophie wird vorgestellt und erörtert im Literaturbericht von Wolfgang Naucke, ZStW 97 (1985), 548 ff. Strafrechtslehre: v. Bar, S. 276 ff.; Paul Bockelmann, Hegels Notstandslehre. Berlin 1935; Peter Böning, Die Lehre vom Unrechtsbewußtsein in der Rechtsphilosophie Hegels. (Frankfurter kriminalwiss. Studien. 1); Ossip Kurt Flechtheim, Hegels Straftheorie. Brünn 1936. 2. Aufl., um ein Nachwort vermehrt (Schriften z.Rechtstheorie. 42). Berlin 1975; Ders.: Zur Kritik der Hegelschen Strafrechtsphilosophie, ARSP 54 (1968), 539–548; Felix Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts. Bausteine zur Überwindung des heteronom-präventiven Denkens in der Strafrechtstheorie der Moderne (Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien. 19). Frankfurt, Berlin, New York 1987 (v.a. S. 57 ff.); Holzhauer, S. 71 ff.; Diethelm Kleczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Eine systematische Amalyse des Verbrechens- und des Strafbegriffs in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. (Hamburger Rechtsstudien. 81). Berlin 1991; Ulrich Klug, Abschied von Kant und Hegel (in diesem Band); Ders.: Phänomenologische Aspekte der Strafrechtsphilosophie von Kant und Hegel, in: Fschr. für G. Husserl (1969), S. 212–233; Michael Köhler, Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis, in: Fschr. für Karl Lackner (1987), S. 11–28; Karl Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung. Ein Beitrag zur Rechtsphilosophie des kritischen Idealismus und zur Lehre von der „juristischen Kausalität“. Leipzig 1927; Felix Maultzsch, Hegels Rechtsphilosophie als Grundlage systemtheoretischer Strafbegründung; in: Jura 2001, S. 85–92; Jean-Christoph Merle, Was ist Hegels Straftheorie? in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 11, Berlin 2003; Georg Mohr, Unrecht und Strafe (§§ 82–104); in: Ludwig Siep (Hrsg.), G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. (Klassiker auslegen. 9). Berlin 1997. S. 95–124; Nagler, S. 433 ff.; Francesca Menegoni, Elemente zu einer Handlungstheorie in der „Moralität“ (§§ 104–128), in: Ludwig Siep (Hrsg.), G.W.F. Hegel – Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1997, S. 125–146; Wolfgang Schild, Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffs, in: E. Heintel (Hrsg.), Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens. München 1979. S. 199–233; Ders., Der strafrechtsdogmatische Begriff der Zurechnung in der Rechtsphilosophie Hegels, in: Zschr.f. philos. Forschung 1981, 445–476; Ders., Das Gericht in Hegels Rechtsphilosophie, in: Überlieferung und Aufgabe. Fschr. für E. Heintel Bd. 2 (1982), S. 267–294; Ders., Ende und Zukunft des Strafrechts, ARSP 70 (1984), 72–112; Reinhard Schmitt, Die „Rückkehr zu Hegel“ und die strafrechtliche Verbrechenslehre. Stuttgart 1913; Kurt Seelmann, Hegels Straftheorie in seinen „Grundlinien
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der Philosophie des Rechts“, in: JuS 1979, 687–891; Ders., Wechselseitige Anerkennung und Unrecht, in: ARSP 1993, 228–236; Ders., Zurechnung als Deutung und Zuschreibung – Hegels „Recht der Objektivität“, in: Vittorio Hösle (Hrsg.), Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus. Hamburg 1989. S. 101–116; E. Sulz, Hegels philosophische Begründung des Strafrechts und deren Ausbau in der deutschen Strafrechtswissenschaft. Berlin 1910; Vormbaum, S. 65 ff. Arthur Schopenhauer Quelle: Erster Text: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. in: Ders., Werke in zehn Bänden (Zürcher Ausgabe). Bd. I und II (durchpaginiert). Zürich 1977, S. 416 ff. – Zweiter Text: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band. in: ebd. Bd. III und IV (durchpaginiert). Zürich 1977, S. 690 ff. – Dritter Text: Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens. Gekrönt von der Königlich Norwegischen Societät der Wissenschaften, zu Drontheim, am 26. Januar 1839. in: ebd. Bd. VI (Kleinere Schriften II). Zürich 1977, S. 1 ff. (Die in eckige Klammern eingeschlossenen Übersetzungen griechischer und lateinischer Ausdrücke stammen vom Herausgeber der Textvorlage. Sie sind nur zum Teil in den vorliegenden Text übernommen worden). Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: ADB Bd. 32 (1891) S. 333–346 (H. Liepmann); DGD Bd. 3 (1956), S. 134–151 (H. Zimmer / K. Roßmann); Thomas Mann, Schopenhauer, in: Ders., Essays. Bd. 3 (Schriften über Musik und Philosophie). (Fischer-TB. 1908). Frankfurt a.M. 1978 u.ö. S. 193–234, insb. S. 208 ff.; Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie. (TB-Ausgabe rororo. 12530). Reinbek b. Hamburg 1990 u.ö.; Joachim Würkner: Arthur Schopenhauer als Staatsdenker. Reflexionen zur wohlfeilen Aktualitätsdiskussion und ihrem bisweilen hohen Preis; in: JA 1989, 226–232. Strafrechtslehre: M.A. Cattaneo, Das Problem des Strafrechts im Denken Schopenhauers, in: Schopenhauer-Jahrbuch 67 (1985), S. 95–112; Norbert Hoerster, Zur Verteidigung von Schopenhauers Straftheorie der Generalprävention; in: Schopenhauer-Jahrbuch 53 (1972), S. 101–113; Ders.: Aktuelles in Arthur Schopenhauers Philosophie der Strafe; in: ARSP 1972, 555–564.; Holzhauer, S. 59 ff.; Georg Küpper, Schopenhauers Straftheorie und die aktuelle Strafzweckdiskussion, in: SchopenhauerJahrbuch 71 (1990), S. 207–216; Vormbaum, S. 123 f. Johann Michael Franz Birnbaum Quelle: J(ohann) M(ichael) F(ranz) Birnbaum, Ueber das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens, mit besonderer Rücksicht auf den Begriff der Ehrenkränkung; in: Archiv des Criminalrechts. Neue Folge. Jahrgang 1834. S. 149–194.
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Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre (einschl. Strafrechtslehre): Karl von Gareis, J.M.F. Birnbaum. Ein Cultur- und Lebensbild. Gießen 1878; Ders., J.M.F. B., in: Hessische Biographien. Bd. 2 (Darmstadt 1927), S. 39–40; Stintzing / Landsberg, Bd. III 2 (Notenbd.), S. 157 f. – Amelung, S. 39 ff., 43; Ders., Rechtsgutverletzung und Sozialschädlichkeit, in: Jung, Müller-Dietz, Neumann (Hrsg.), Recht und Moral (1991), S. 269–279, insb. S. 270–273; Ders., J.M.F. Birnbaums Lehre vom strafrechtlichen „Güter“-Schutz als Übergang vom naturrechtlichen zum positivistischen Rechtsdenken, in: Naturrecht und Rechtsphilosophie in der Neuzeit. Studien und Materialien. Hrsg. von Diethelm Klippel. Bd. 1: Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung. Goldbach 1997. S. 359–368; Frommel, S. 154 ff.; Winfried Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens. Frankfurt 1973. S. 17 f., 36 f.; Frank Neubacher, Materieller Verbrechensbegriff und Rechtsgutverletzung – Die Rechtsgüterlehre J.M.F. Birnbaums (1797–1877) und die moderne Strafrechtsschule, in: Jura 2000, 514–518; D. Pinski, Johann Michael Franz Birnbaum (1797–1877) als Strafrechtslehrer. Freiburg Br. (jur. Diss.) 1964; Sina, S. 19 ff.; Vormbaum, S. 55 f. Karl Marx Quelle: Karl Marx, Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags. Von einem Rheinländer. Dritter Artikel: Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 1. Berlin 1970. S. 109–147. Zum Text: Sozial- und kriminalgeschichtliche Hintergründe der im Text angesprochenen Holzdiebstahls-Gesetzgebung liefert: Dirk Blasius, Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität. Zur Sozialgeschichte Preußens im Vormärz. (Krit. Studien z. Geschichtswiss. 22). Göttingen 1976; Ders., Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert. Göttingen 1978. Jörg Arnold, Karl Marx und das Holzdiebstahlsgesetz, in: Jörg Arnold u.a. (Hrsg), Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag. München (C.H. Beck Verlag), 2005. S. 25–48. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre (einschl. Strafrechtslehre): ADB Bd. 20 (1884), 541–549 (G. Groß); DGD Bd. 3 (1956), S. 267–283 (M. Freund); NDB Bd. 16 (1990), S. 328–344 (I. Fetscher); Werner Blumenberg, Karl Marx. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. (rm. 76). Reinbek b.Hamburg 1962 u.ö.; Johannes Driendl, Karl Marx und die Kriminologie, in: JuS 1987, 600–606 Walter Euchner, Karl Marx. (Beck'sche Reihe. 506; Große Denker). München 1983; Ernst Nolte, K.M., in: StL Bd. 3 (1987), Sp. 1026–1030; Peter von Oertzen, Karl Marx. Recht und duie freie Assoziation der Individuen, in: StrJ, S. 59–68; Wolfgang Paul, K.M., in: Stolleis, Juristen, S. 412–414; Thomas Vormbaum, Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Sozialdemokratie und Zivilrechtskodifikation. Berichterstattung der sozialdemokratischen Partei und Presse während
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der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Berlin New York 1977, S. XXIII– CIII, insb. S. LX ff. (Sozialdemokratie, Staat und Recht); Welzel, S. 191 ff. Christian Reinhold Köstlin Quelle: C(hristian) Reinhold Köstlin, System des deutschen Strafrechts. Allgemeiner Theil. Tübingen 1855. Zum Text: Eingehend und ausführlicher als in seinem Strafrechtslehrbuch hat Köstlin seine hegelianische Strafrechtstheorie in seiner (den Titel von Feuerbachs Hauptwerk aufgreifenden) „Neuen Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts“ (Tübingen 1845) entwickelt. Die Hinweise „N.Rev.“ im Text stammen von K. selber und nehmen Bezug auf dieses Werk. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre (einschl. Strafrechtslehre): ADB Bd. 16 (1882), S. 759–761 (Klüpfel); NDB Bd. 12 (1980), S. 408–409 (W. Naucke); Kleinheyer / Schröder, S. 511; Stintzing / Landsberg, Bd. III 2, S. 672–680 u.ö. (Notenbd. S. 290–293 u.ö.); v. Bar, S. 190 f.; Holzhauer, S. 81 ff.; Nagler, S. 446 ff.; Eb. Schmidt, § 268; Sina, S. 31 f. Karl Binding Quelle: Karl Binding, Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft, in: Ders., Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. Erster Band: Strafrecht. München und Leipzig 1915. S. 61–94. – Fußnotenhinweis zu Beginn des Originalabdrucks: „In Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart Band IV S. 417 ff. erschien 1877 meine Antrittsrede, gehalten in der Aula zu Leipzig. Sie bildet die Grundlage der folgenden Darstellung, die den Redecharakter festhält, aber gegenüber jener Publikation von 1877 nicht unbedeutende Änderungen und Erweiterungen erfahren hat.“ Zum Text: Zur Straftheorie Bindings, insb. zur sog. Normentheorie, ist vor allem sein Werk „Die Normen und ihre Übertretung“ heranzuziehen. Bd 1: Leipzig 1872 (4. Auflage 1922), Bd. 2.1: 1877 (2. Auflage 1914), Bd. 2.2 1877 (2. Auflage 1916), Bd. 3: 1918, Bd. 4: 1919; ferner sein „Grundriß zur Vorlesung über Gemeines Deutsches Strafrecht. Allgemeiner Teil“ (Leipzig 1881, 8. Auflage 1913) und sein „Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil“. Bd 1: Leipzig 1896 (2. Auflage 1902), Bd. 2.1: 1901 (2. Auflage 1904), Bd. 2.2: 1905. – Binding gilt als Haupt der „klassischen“ Schule im sog. Schulenstreit; zum letzteren s. die Hinweise b. Franz von Liszt (in diesem Band, erster Liszt-Text). – Eine fatale Rolle spielte die von Binding in seinem letzten Lebensjahr zusammen mit A. Hoche herausgegebene Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und Ihre Form“. (Leipzig 1920. 2. Aufl. 1922). Sie gab später der sog. Euthanasie-Aktion der Nationalsozialisten das Stichwort. Die Stadt Leipzig
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hat im Jahre 2010 unter Hinweis auf dieses Werk Binding posthum die Ehrenbürgerwürde entzogen. Der Text ist als Neudruck erschienen: Berlin 2006 mit einer Einführung von Wolfgang Naucke, Rechtstheorie und Staatsverbrechen. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: NDB Bd. 2 (1955), S. 244–245 (Heinr. Triepel); Kleinheyer / Schröder, S. 62–66; Arthur Baumgarten, Karl Binding, in: SchwZStrR 33 (1920), 187–191; Johannes Nagler, Karl Binding zum Gedächtnis, in: GS 91 (1925), 1–66; Daniela Westphalen, Karl Binding (1841–1920). Materialien zur Biographie eines Strafrechtsgelehrten. (Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien. 26). Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1977. (mit chronologischem und systematischem Werkverzeichnis auf S. XXXIII–XLVII); Dies., K.B., in: Stolleis, Juristen, S. 86 f. Strafrechtslehre: Achenbach, S. 27 ff.; Amelung, S. 52 ff., 73 ff.; Frommel, S. 69 ff., 116 ff., 158 ff. u.ö.; Holzhauer, S. 96–99 u.ö.; Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie. Normlogik und moderne Strafrechtsdogmatik. Göttingen 1954; Eb. Schmidt, § 273; Sina, S. 41 ff.; Vormbaum, S. 138–140. Rudolf von Jhering Quelle: Rudolf v. Jhering, Der Zweck im Recht. Erster Band. 2. Auflage. Leipzig 1884. (Die 1. Auflage des Ersten Bandes erschien 1877. Der zweite Band erschien zuerst 1883, seine 2. Auflage 1886). Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre (einschl. Strafrechtslehre): ADB Bd. 50 (Nachtr. Bd. bis 1899) (1905), S. 652–664 (L. Mitteis); DGD Bd. 5 (1957), S. 331–340 (F. Wieacker); NDB Bd. 10 (1974), S. 123–124 (Alexander Hollerbach); Stintzing / Landsberg, Bd. III 2, S. 778–825 u.ö. (Notenbd. S. 334–346 u.ö.); Achenbach, S. 24; Amelung, S. 62 ff., 82 ff. u.ö.; Helmut Coing, Rudolf von Ihering und Bentham, in: G. Weick (Hrsg.), 375 Jahre Rechtswissenschaft in Gießen (1982), S. 1–14; Ulrich Falk, R.v.J., in: Stolleis, Juristen, S. 324–326; Frommel, S. 54 ff. u.ö.; Kleinheyer / Schröder, S. 230–236; Wolfgang Pleister, Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Jherings. (Münchner Universitätsschriften. Juristische Fakultät. 51). Ebelsbach 1982; Jan Schröder, R.v.J., in: StL Bd. 3 (1987), Sp. 32–34; Wieacker, S. 450 ff.; Wolf, S. 622–668 (mit Bibliographie auf S. 666–668). Franz von Liszt Quelle: Erster Text: Franz v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW Bd. 3 (1883), 1–47. (Franz v.Liszt's „Marburger Programm“, seine 1882 gehaltene Rektoratsrede). Weitere ungekürzte Abdrucke: Franz v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. 2 Bde. 1905. (Neudruck 1970). Bd. 1 S. 126–179; Von der Rache zur Zweckstrafe. 100 Jahre Marburger Programm von Franz von Liszt. Neu herausgegeben und erläutert von Heribert Ostendorf. Frankfurt am Main 1982. (Fak-
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simile-Neudruck der ursprünglichen Veröffentlichung im Marburger Universitätsprogramm); Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1883). Mit einer Einleitung von Wolfgang Köhler. Berlin 2002; – Zweiter Text: Franz v. Liszt, Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe; in: ZStW 13 (1893), S. 325–370. Zum Text: Das neben dem Marbuger Programm bedeutendste Werk von v. Liszt ist sein „Lehrbuch des Deutschen Strafrechts“: 1. Auflage Berlin, Leipzig 1881, 21./22. Auflage (letzte von v. Liszt selber bearbeitete Auflage) 1919, 26. Auflage (letzte Auflage), bearbeitet von Eberhard Schmidt, 1932. Darüber Gustav Radbruch, Drei Strafrechtslehrbücher des 19. Jahrhunderts, in: Festschr. f. E.H. Rosenfeld (1949). S. 7–28, insb. S. 18 ff. – Die Beiträge von Merkel und Mittelstädt, welche Liszt im zweiten Text auf- und angreift, sind die folgenden: Adolf Merkel, Vergeltungsidee und Zweckgedanke im Strafrecht (in diesem Band); Otto Mittelstädt, Schuld und Strafe. Zur Kritik der heutigen Reformbestrebungen, in: GS 46 (1892), 237–260, 387–416; 47 (1892), 1–31. – Zu der im Text angesprochenen „kriminalanthropologischen Schule Lombrosos“ und zu den „Neuen Horizonten“ s. Cesare Lombroso, L'uomo delinquente. Milano 1876 (5. Auflage in 3 Bden. Torino 1896/97); dt.: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. 3 Bde. Hamburg 1887, 1890, 1896. Kurzdarstellung und (modifizierte) Verteidigung der Lehren der kriminalanthropologischen Schule durch Lombroso selber: Cesare Lombroso, Über den Ursprung, das Wesen und die Bestrebungen der neuen anthropologisch-kriminalistischen Schule in Italien, in: ZStW 1 (1881), 108–129; Ders., Pro schola mea, in: ZStW 3 (1883), 457–470; s. ferner Ulrich Eisenberg: Kriminologie. 2. Auflage. Köln, Berlin, Bonn, München 1985. S. 807 f.; Hans Joachim Schneider, Kriminologie. Berlin, New York 1987. S. 104 ff. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: DGD Bd. 5 (1957), S. 407–414 (Eb.Schmidt); HRG Bd. 3 (1984), Sp. 11–13 (W. Naucke); NDB Bd. 14 (1985), S. 704–705 (M. Frommel); Regina Harzer, F.v.L., in: Stolleis, Juristen, S. 381 f.; Kleinheyer / Schröder, S. 258–264; Arthur Kaufmann, F.v.L., in: StL Bd. 3 (1987), Sp. 927–929; Viktor Liebscher: Franz von Liszt – familiengeschichtlich gesehen, in: ZStW 94 (1982), 619–631. Strafrechtslehre: Achenbach, S. 37 ff.; Amelung, S. 71 ff. u.ö.; Frommel, S. 17 ff., 65 ff., 115 ff.; Holzhauer, S. 178 ff.; Rüping, S. 88; Eb. Schmidt, §§ 307–322 u.ö.; Karl Birkmeyer: Was läßt von Liszt vom Strafrecht übrig? Eine Warnung vor der modernen Richtung im Strafrecht. München 1907; Wolfgang Naucke, Die Kriminalpolitik des Marburger Programms; in: ZStW 94 (1982), 525–564; Gustav Radbruch, Franz von Liszt. Anlage und Umwelt, in: Ders., Elegantiae juris criminalis. 14 Studien zur Geschichte des Strafrechts. 2. Auflage Basel 1950. S. 208–232; Sina, S. 47 ff.; Eb. Schmidt, Anselm von Feuerbach und Franz von Liszt, in: MschrKrim. 33 (1942), 205–223; Gerhard Schmidt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: JA 1982, 406–407; Agnes Schwarzschild, Franz von Liszt als Strafrechtsdogmatiker. Frankfurt a.M. (jur. Diss.) 1933; Vormbaum, S. 125 ff.; Hasso von
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Wedel, Franz v. Liszts geschichtliche Bedeutung als Überwinder des strafrechtlichen Positivismus, in: SchwZStrR 47 (1933), 324–342. – Über den Schulenstreit informieren eingehend die Binding-Biographie von Westphalen (s. Angaben zum Binding-Text) (insb. auf S. 221–319), sowie Frommel, S. 42. Beide Autorinnen gehen auch auf die Frage ein, ob und inwieweit in diesem Streit tatsächlich kontroverse Positionen vertreten worden sind; s. ferner Wolfgang Naucke, „Schulenstreit“?, in: Festschrift für Winfried Hassemer. Heidelberg 2010; Arndt Koch, Binding vs. v. Liszt – Klassische und moderne Strafrechtsschule, in: Hilgendorf / Weitzel (Hrsg.), Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung. Berlin 2007. Friedrich Nietzsche Quelle: Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Dem letztveröffentlichten „Jenseits von Gut und Böse“ zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke in Einzelbänden. 11 Bde. (= Kröners Taschenausgabe Bde. 70–78, 82, 83). Bd. 76 (Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral). Stuttgart 1959 u.ö., S. 237 ff. Weitere Ausgaben: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (dtv / de Gruyter). Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. 2. Auflage. München sowie Berlin, New York 1988; Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta. 7. Auflage. München 1973. (Bd. 2, S. 761–901: Zur Genealogie der Moral); Einzelausgabe der „Genealogie der Moral“ auch als Insel-Taschenbuch Nr. 1308. Zum Text: Der Text gibt die längste zusammenhängende Passage mit Äußerungen Nietzsches zur Straftheorie wieder; weitere einschlägige Fundstellen können erschlossen werden über Karl Schlechta: Nietzsche-Index zu den Werken in 3 Bden. 2. Auflage. München 1967. S. 354–355. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: DGD Bd. 3 (1956), S. 582–598 (K. Löwith); K. Bauer, Der „Übermensch“ Friedrich Nietzsches im Verhältnis zu den biologischen Lehren, zum Staat und zu Verbrechen und Strafe. Greifswald (jur. Diss.) 1925; A. Düringer, Nietzsches Philosophie vom Standpunkte des modernen Rechts. 2. Auflage, Leipzig 1906, dort v.a. S. 105–136; Cyrill Freytag, Je mächtiger, desto menschlicher. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche, in: ZIS 2010, 418–427; Ivo Frenzel, Friedrich Nietzsche. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (rm. 115). Reinbek b.Hamburg 1966 u.ö.; Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche (Becksche Reihe Große Denker. 522); Ronald Hayman, Friedrich Nietzsche. Der mißbrauchte Philosoph. (1980, dt. 1985) (Heyne-Biographien. 12). München 1985; Curt Paul Jantz, Friedrich Nietzsche. Biographie. 3 Bde. (dtv. 4383). München 1981; Henry Kerger, Autorität und Recht im Denken Nietzsches. (Schriften zur Rechtstheorie.127). Berlin 1988; Josef Kohler, Nietzsche und die Rechtsphilosophie, in: ARSP 1 (1907/08), S. 355–360; Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der
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Moral“ (Reihe „Werkinterpretationen“). Darmstadt 1994; Anacleto Verecchia: Zarathustras Ende. Die Katastrophe Nietzsches in Turin. Wien, Köln, Graz 1986. Strafrechtslehre: H.F. Abraham, Friedrich Nietzsches Bedeutung für die Rechtsentwicklung. Schuld und Strafe, in: JR 1928, 57–61; Jochen Bung, Nietzsche über Strafrecht, in: ZStW 2007, 120–136; Knut Engelhardt, Die Transformation des Willens zur Macht. Bemerkungen zum Verhältnis von Moral, Strafe und Verbrechen in Nietzsches Philosophie, in: ARSP 71 (1985), 499–523; Lukas Gschwend, Nietzsche und die Kriminalwissenschaften, Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 36, Zürich 1999; Jean-Christoph Merle, Nietzsches Straftheorie, in: Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral, Höffe, Otfried (Hrsg.), Berlin 2004; A. Rosenthal, Nietzsche und die Reform des Strafrechts, in: DJZ 1906, 1069–1072; Wolfgang Schild, Der Strafbegriff Friedrich Nietzsches. Eine philosophische Annäherung; in: Fschr. für Günter Bemmann. Baden-Baden 1997, S. 101–124; H. Specht, Friedrich Nietzsches Anthropologie und das Strafrecht, in: MschrKrim 30 (1939), 353–372; E. Stettenheimer, Friedrich Nietzsche als Kriminalist. Versuch einer individualistischen Kriminaltheorie, in: ZStW 20 (1900), 385–400; Vormbaum, S. 126 f., K. Wolff, Friedrich Nietzsches Lehre vom Verbrechen und seiner rechtlichen Behandlung. Greifswald (jur. Diss.) 1924. Adolf Merkel Quelle: Adolf Merkel, Vergeltungsidee und Zweckgedanke im Strafrecht. Zur Beleuchtung der „Neuen Horizonte“ in der Strafrechtswissenschaft. (Aus der Festgabe der rechts- und staatswissenschaftlichen zu Straßburg zum Doktor-Jubiläum von Rudolf v. Jhering 1892.); in: Ders., Hinterlasene Fragmente und Gesammelte Abhandlungen. Bd. 2: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts. Zweite Hälfte. Straßburg 1899. S. 687–723. Zum Text: Auf den Text, der sich kritisch mit der Strafrechtslehre Franz v. Liszts auseinandersetzt, hat Liszt im darauffolgenden Jahr (s. zweiter Nietzsche-Text in diesem Band) geantwortet. Zu dieser Kontroverse s. Frommel, S. 52 ff. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre (einschl. Strafrechtslehre): ADB Bd. 52 (1906), S. 327–329 (F. van Calker); Kleinheyer / Schröder, S. 519 f.; Stintzing / Landsberg, Bd. III 2, S. 709–714, Notenbd. S. 308–309; Monika Frommel: A.M., in: W. Brauneder (Hrsg.), Juristen in Österreich 1200–1980. Wien 1987. S. 193–199. – Adolf Merkel, Über das „gemeine deutsche Strafrecht“ von Hälschner und den Idealismus in der Strafrechtswissenschaft; (zuerst in ZStW 1<1881>, 553–596) in: Ges. Abh. II 2, S. 429–472; Ders.: Lehrbuch des deutschen Strafrechts. Stuttgart 1889; Ders., Über Akkreszenz und Dekreszenz des Strafrechts und deren Bedingungen, in: Ges.Abh. II 2, S. 269–290. – Achenbach, S. 24, 44 ff.; v. Bar, S. 290 f.; Karl Barth, Die Rechtslehre Adolf Merkels. Tübingen (jur. Diss.) 1956; Gerhard Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik
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Adolf Merkels. Ein Beitrag zum Realismus in der Jurisprudenz. (Schriften zur Rechtstheorie. 80). Berlin 1973; Frommel, S. 43 ff.; Holzhauer, S. 169 ff.; M. Liepmann, Die Bedeutung Adolf Merkels für Strafrecht und Rechtsphilosophie, in: ZStW 17 (1897), 638–711; Reinhard Moos, Der Verbrechensbegriff in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert. Sinn- und Strukturwandel. (Rechtsvergl. Untersuchungen z. gesamten Strafrechtswiss. NF. 39). Bonn 1968. S. 417 f.; Eb. Schmidt, § 274; Vormbaum, S. 140. Karl Birkmeyer Quelle: Karl Birkmeyer, Schutzstrafe und Vergeltungsstrafe; (Vortrag, gehalten im Münchner akademisch-juristischen Verein am 23. Januar 1906, als Erwiderung auf einen von Franz v. Liszt am 16. Dezember 1905 ebenda gehaltenen Vortrag über „Vergeltungsstrafe und Schutzstrafe“); in: GS LXVII (1906), S. 400–423. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre (einschl. Strafrechtslehre): NDB Bd. 2 (1955), S. 258 (D. Lang-Hinrichsen); Kleinheyer / Schröder, S. 486; Johannes Nagler: Birkmeyers Bedeutung für die Strafrechtswissenschaft, in: Dt. Strafr.-Ztg 7 (1920), Sp. 119–121. – Karl Birkmeyer, Was läßt von Liszt vom Strafrecht übrig? Eine Warnung vor der modernen Richtung im Strafrecht. München 1907; Ders.: Studien zu dem Hauptgrundsatz der modernen Richtung im Strafrecht „Nicht die Tat, sondern der Täter ist zu bestrafen“. (Kritische Beiträge zur Strafrechtsreform. 7). Leipzig 1909. – Frommel, S. 98 ff., 103 ff. u.ö.; Holzhauer, S. 124 f. Gustav Radbruch Quelle: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Siebte Auflage. Nach dem Tode des Verfassers besorgt und biographisch eingeleitet von Erik Wolf. Stuttgart 1970. (Der Text ist inhaltlich identisch, nicht aber seitenidentisch mit demjenigen der 3. Auflage von 1932). Zum Text: Für Vorlesungszwecke hat Radbruch 1947 eine Kurzfassung seiner Rechtsphilosophie verfaßt, allerdings unter Weglassung des besonderen, die einzelnen Rechtsgebiete behandelnden Teiles: Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie. 1. Aufl. 1948. 3., verbesserte, durch einen Literaturanhang ergänzte Auflage nach dem Todes des Verfassers besorgt von Arthur Kaufmann. Göttingen 1965. – Das neben der Rechtsphilosophie verbreitetste (sich mit ihr überschneidende) Werk Radbruchs ist: Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft. 10. Auflage. Nach dem Tode des Verfassers besorgt von Konrad Zweigert. Stuttgart 1961 (S. 133 ff. zum Strafrecht). Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: HRG Bd. 4 (1989), Sp. 131–133 (S. Saar); Kleinheyer / Schröder, S. 354–360; Paul Bonsmann, Die Rechts- und Staatsphilosophie Gustav Radbruchs. (Schriften
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zur Rechtslehre und Politik. 48). 2. Auflage. Bonn 1970; Karl Engisch, Radbruch als Rechtsphilosoph, in: ARSP 38 (1949/50), 305–316; M. Gottschalk, Gustav Radbruchs Heidelberger Jahre 1926–1949. Kiel (jur. Diss.) 1982; Arthur Kaufmann, Gustav Radbruch. Rechtsdenker, Philosoph, Sozialdemokrat. (Serie Piper. 5247). München 1987; Ders., G.R., in: StL Bd. 4 (1988), Sp. 619–621; Marijon Kayßer, G.R., in: Stolleis, Juristen, S. 510 f.; Adolf Laufs, Veritas, humanitas, iustitia: Gustav Radbruch, in: JuS 1978, 657–662; Holger Otte, Gustav Radbruchs Kieler Jahre 1919–1926. (Rechtshistorische Reihe. 17). Frankfurt a.M., Bern 1982; Stanley L. Paulson, Ein ewiger Mythos: Gustav Radbruch als Rechtspositivist – Teil I, in: JZ 2008, 105–115; Gustav Radbruch, Der innere Weg. Aufriß meines Lebens. 2. Auflage. Göttingen 1961; Hans-Peter Schneider, Gustav Radbruch. Rechtsphilosoph zwischen Wissenschaft und Politik, in: KJ (Hrsg.), Streitbare Juristen. Baden-Baden 1988, S. 295–306; Martin Schulte, Der Rechtsstaatsgedanke bei Gustav Radbruch, in: Jus 1988, 177–181; Günter Spendel, Jurist in einer Zeitenwende. Gustav Radbruch zum 100.Geburtstag. (Heidelberger Forum. 5). Heidelberg, Karlsruhe 1979; Hans de With (Hrsg.), Gustav Radbruch. Reichsminister der Justiz. Gedanken und Dokumente zur Rechtspolitik Gustav Radbruchs aus Anlaß der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages. Köln 1978; Wolf, S. 712–765 (m. Bibliographie auf S. 763–765). Strafrechtslehre: Gustav Radbruch, Autoritäres oder soziales Strafrecht? (1933); in: Ders., Der Mensch im Recht. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze über Grundfragen des Rechts. 2. Auflage. Göttingen 1961. S. 63–79; Ders., Der Erziehungsgedanke im Strafwesen. (1932), ebd. S. 50–62. – Amelung, S. 125 u.ö.; Frommel, S. 122 ff. u.ö.; Hermann Krämer, Strafe und Strafrecht im Denken des Kriminalpolitikers Gustav Radbruch. o.O. 1956; Eb. Schmidt, Gustav Radbruch als Kriminalist, in: Wilfried Küper (Hrsg.), Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert. Heidelberg 1986. S. 195–212; Michael Walter, Gustav Radbruch und die Kriminologie, in: JZ 2009, 429–438. Friedrich Schaffstein Quelle: Friedrich Schaffstein, Das Verbrechen eine Rechtsgutverletzung?, in: GA (seit 1934: Deutsches Strafrecht; nach 1945: Goltdammers Archiv für Strafrecht) Jg. 1935, S. 97–105. Der Wiederabdruck erfolgt mit Zustimmung des Autors. Dieser legt Wert auf die Feststellung, dass seine Zustimmung zum Wiederabdruck kein Bekenntnis zu den damals vertretenen Auffasungen bedeute. Vielmehr betrachte er diese Auffassungen als irrig und bedaure sie tief. Er wolle aber der Erforschung der Rechtsgeschichte jener Zeit nicht durch Verweigerung seiner Zustimmung im Wege stehen. Zur Strafgesetzgebung und Strafrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus: Georg Dahm, Der Methodenstreit in der heutigen Strafrechtswissenschaft; in: ZStW 57 (1938), 225–294; Ders. / Friedrich Schaffstein, Liberales oder autoritä-
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res Strafrecht? Hamburg 1933; Friedrich Schaffstein, Politische Strafrechtswissenschaft. (Der deutsche Staat der Gegenwart. Heft 4). Hamburg 1934. – Achenbach, S. 199 ff.; Amelung, S. 216 ff.; Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. 28). München 1988; Marxen, insb. S. 167 ff.; Ders.: Die rechtsphilosophische Begründung der Straftatlehre im Nationalsozialismus. Zur Frage der Kontinuität strafrechtswissenschaftlichen Denkens, in: H. Rottleuthner (Hrsg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus. (ARSP-Beiheft 18). Wiebaden 1983, S. 55–64; Ders., Zum Verhältnis von Strafrechtsdogmatik und Strafrechtspraxis im Nationalsozialismus, in: U. Reifner und B.R. Sonnen (Hrsg.), Strafjustiz und Polizei im Dritten Reich. Frankfurt a.M., New York 1984. S. 77–85; Sellert / Rüping II, S. 231 ff. m.w.Nachw. auf S. 243 ff.; Sina, S. 70 ff.; Vormbaum, S. 184 ff.; Ders., Aktuelle Bezüge nationalsozialistischer Strafgesetzgebung; in: Strafverfolgung und Strafverzicht. Festschr. zum 125jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein, Köln usw. 1992, S. 71–91; Ders., Strafjustiz im Nationalsozialismus. Ein kritischer Literaturbericht, in: GA 1998, 1–31; Gerhard Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich. Berlin, New York 1989 (dazu Rez.: RJ 1990, 72–81 [Vormbaum]); Stefan Werner, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsstrafrecht. (Frankfurter kriminalwiss. Studien. 30). Frankfurt a.M. usw. 1991. Hans Welzel Quelle: Hans Welzel, Über den substantiellen Begriff des Strafrechts. (Zuerst in: Probleme der Strafrechtserneuerung. Eduard Kohlrausch zum 70. Geburtstag. 1944), in: Ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie. Berlin, New York 1975. S. 224–240. Leben, Gesamtwerk, Rechtslehre: Von Welzels rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Werken sind neben dem Buch über die Geschichte des Naturrechts (dazu die allg. Literaturangaben) vor allem die in der Sammlung „Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie“ zusammengefaßten Aufsätze zu erwähnen; darunter: Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (S. 29–119); Das Gesinnungsmoment im Recht. (S. 258–264). – s. ferner Fritz Loos, Hans Welzel (1904–1877). Die Suche nach dem Überpositiven im Recht, in: Ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren. Göttingen 1987. S. 486–509; Jan-Hendrik Röver, Das Problem der Rechtsgeltung bei Hans Welzel – „Macht zwingt, Recht verpflichtet“; in: JuS 1988, 761–767; Wolfgang Schöne, H.W., in: Stolleis, Juristen, S. 649 f. Strafrechtslehre: Amelung, S. 165 ff., 273 ff.; Frommel, S. 178 f.; Eb. Schmidt, § 347; Hans Welzel, Studien zum System des Strafrechts, in: ZStW 58 (1939), 491–566. – Als Strafrechtsdogmatiker ist Welzel vor allem durch die Begründung der sog. Final(istisch)en Handlungslehre bekannt geworden. Hierzu sein Lehrbuch „Das
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Deutsche Strafrecht“ (Berlin 1947, 11. [letzte] Aufl. 1969); ferner Ders., Um die finale Handlungslehre. Eine Auseinandersetzung mit ihren Kritikern. (Recht u. Staat. 146). Tübingen 1949; Ders.: Das neue Bild des Strafrechtsystems (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien. 1). Göttingen 1951, 4. erw. Aufl. 1961; Ders., Die deutsche strafrechtliche Dogmatik der letzten 100 Jahre und die finale Handlungslehre; in: JuS 1966, 421–425; Monika Frommel, Welzels finale Handlungslehre. Eine konservative Antwort auf das nationalsozialistische Willensstrafrecht – oder die Legende von der „Überwindung des Wertneutralismus“ im Strafrecht; in: U. Reifner / B.R. Sonnen (Hrsg.), Strafjustiz und Polizei im Dritten Reich. Frankfurt, New York 1984, S. 86–96; Hans Joachim Hirsch, Der Streit um Handlungsund Unrechtslehre, insbesondere im Spiegel der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, in: ZStW 93 (1981), 831–863; 93 (1982), 239–278. Ulrich Klug Quelle: Ulrich Klug, Abschied von Kant und Hegel, in: Programm für ein neues Strafgesetzbuch. Der Alternativ-Entwurf der Strafrechtslehrer. Hrsg. von Jürgen Baumann. (Fischer-Taschenbuch 952). Frankfurt 1968. S. 36–41. Erneuter Abdruck in: Ders., Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht. (Aufsatzsammlung). 2 Bde. Berlin, Heidelberg New York 1981. Bd. 2, S. 149–154. Zum Text: Der Text kann als der repräsentative strafrechtstheoretische Ausdruck der spezialpräventiven Grundauffassung des 1966 vorgelegten „Alternativ-Entwurfes zum Strafgesetzbuch“ und der herrschenden Anschauung der Sechziger- und Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts angesehen werden; diese haben auch in die am 1. Januar 1975 in Kraft getretene Neufassung des Strafgesetzbuches und in das am 1. Januar 1977 in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz Eingang gefunden. – Gegenstand der Kritik der sog. Alternativ-Professoren war der regierungsamtliche Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1962 und die ihm zugrundeliegende Strafrechtsauffassung. Direkte Erwiderung auf den Text: Hellmuth Mayer, Kant, Hegel und das Strafrecht (s.o. Angaben zu Kant). Quellen und Literatur: Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB). E 1962. Mit Begründung. Bundestagsvorlage. (BT-Drucksache IV/650 vom 4. Oktober 1962). Separatdruck Bonn 1962. – Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Vorgelegt von Jürgen Baumann u.a., Allgemeiner Teil Tübingen 1966 (2. Aufl. 1969); Besonderer Teil. Politisches Strafrecht. 1968; Besonderer Teil. Sexualdelikte, Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand, Straftaten gegen den religiösen Frieden und die Totenruhe. 1968; Besonderer Teil. Straftaten gegen die Person. 1. Halbbd 1970, 2. Halbbd 1971; Besonderer Teil. Straftaten gegen die Wirtschaft. 1977; Jürgen Baumann, Kleine Streitschriften zur Strafrechtsreform. 10 Beiträge. Bielefeld 1965; Ders., Weitere Streitschriften zur Strafrechtsreform. 10 Beiträge. Bielefeld 1969. – Über die Grunderfahrungen der Strafrechtstheorie und -dogmatik nach 1945 s. (mit zahl. Nachw.) Heinz Müller-Dietz, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft nach 1945, in: GA 1992, 99–133.
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Claus Roxin Quelle: Claus Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft, Berlin 1973. Zu Person und Werk: Claus Roxin, Mein Leben und Streben, in: Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen. Berlin 2010, S. 447–477. Schriftenverzeichnis in: Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, S. 1553–1576. Günther Jakobs Quelle: Günther Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, Berlin 1991, S. 1–28. Zur Person und Werk: Mathias Schmoeckel / David von Mayenburg, Ein Gespräch mit Herrn Professor Dr. Günther Jakobs, in: forum historiae iuris (Artikel vom 24. Oktober 2008): http://www.forhistiur.de/zitat/0810schmoeckel_mayenburg_jakobs.htm Schriftenverzeichnis in: Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag. Köln, Berlin, München 2007, S. 801–819. Neben seinem strafrechtsdogmatischen und rechtsphilosophischen Werk hat Jakobs vor allem durch die Prägung des Begriffs und Ausformulierung der Theorie eines „Feindstrafrechts“ Aufsehen erregt. S. dazu die Dokumentation Thomas Vormbaum / Martin Asholt (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts. Münster, Berlin 2009, mit Nachweisen zu den einschlägigen Veröffentlichungen.
Nachweise Humboldt, Wilhelm von: Wiederabdruck mit Genehmigung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt. Fichte, Johann Gottlieb: Wiederabdruck mit Genehmigung des Verlages Friedrich Frommann (Günther Holzboog), StuttgartBad Cannstadt. Kant, Immanuel: Wiederabdruck mit Genehmigung des Suhrkamp-Verlages Frankfurt a.M. Schopenhauer, Arthur (1.–3.): Wiederabdruck mit Genehmigung der Diogenes Verlags AG Zürich. Mittermaier, Carl Josef Anton: Wiederabdruck mit Genehmigung des Herausgebers der Textvorlage (K. Lüderssen) und des Suhrkamp-Verlages Frankfurt a.M. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wiederabdruck mit Genehmigung des Suhrkamp-Verlages Frankfurt a.M. Marx, Karl: Wiederabdruck mit Genehmigung der Dietz-Verlag GmbH Berlin. Liszt, Franz von (1.–2.): Wiederabdruck mit Genehmigung des Verlages Walther de Gruyter & Co Berlin, New York. Nietzsche, Friedrich: Wiederabdruck mit Genehmigung des Alfred Kröner Verlages Stuttgart. Birkmeyer, Karl: Wiederabdruck mit Genehmigung des Keip-Verlages Frankfurt a.M. Radbruch, Gustav: Wiederabdruck mit Genehmigung des Verlages K.F. Koehler Stuttgart. Schaffstein, Friedrich: Wiederabdruck mit Genehmigung des Verlages Walther de Gruyter & Co Berlin, New York. Klug, Ulrich: Wiederabdruck mit Genehmigung des Autors und Verlages Springer Heidelberg. Roxin, Claus: Wiederabdruck mit Genehmigung des Autors und des Verlages Walther de Gruyter & Co Berlin, New York. Jakobs, Günther: Wiederabdruck mit Genehmigung des Autors und des Verlages Walther de Gruyter & Co Berlin, New York.
T. Vormbaum (Hrsg.), Moderne deutsche Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-17200-7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011