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IN JEDES HAUS GEHÖRT DIESES WERK das ist das überzeugende Urteil von Presse und Rundfunk über die g r o ß e , spannend geschriebene Weltgeschichte „ B i l d der Jahrh u n d e r t e " des Münchner Historikers O t t o Zierer. Von ungeheurer Dramatik sind die Bände dieses n e u a r t i g e n , erregenden Geschichtswerkes erfüllt. Hier sind nicht, w i e in Lehrbüchern alter A r t , d i e historischen Ereignisse mit trockener Sachlichkeit a n e i n a n d e r g e r e i h t : d i e Vergangenheil w i r d vor dem A u g e des Lesers in kulturgeschichtlichen Bildern zu neuem Leben erweckt. Menschen w i e Du und ich schreiten über d i e wechselnde Bühne der Geschichte und lassen den A b l a u f der Jahrhunderte, das Schauspiel vom Schicksal der Menschheit, ergriffen m i t e r l e b e n . Zierers „ B i l d d e r Jahrhunderte" ist ein W e r k für d i e Menschen unserer Zeit, für die Erwachsenen w i e für d i e Jugend.
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HEFTE
Als Du mich neulich mit einer solchen Fülle von Fragen bestürmtest, daß ich kaum wußte, wo ich mit meiner Antwort beginnen sollte, habe ich mich entschlossen, Dir einige Gedanken, die mir zum Verständnis der „modernen Kunst" als wichtig erschienen, im Brief nachzusenden. Ich sage hier mit Absicht „zum Verständnis", denn Du kannst noch soviel über Kunst und Künstler wissen, ohne daß Dir damit ihr Werk auch wirklich zum Erlebnis des Herzens zu werden braucht. Du hast mir damals nicht gesagt, ob Dir „moderne" Bilder etwas bedeuten — ich weiß nicht einmal, wieweit Du Dich überhaupt mit den Kunstströmungen der letzten Jahrzehnte vertraut gemacht .hast. Aber ich habe nach unserem leider zu kurzen Gespräch das Empfinden, daß ich Dir dazu einiges sagen müßte. Ich brauche Dir gegenüber nicht zu betonen, daß jedes ehrliche Bemühen um ein Verständnis der modernen Kunst, soweit sie ernst zu nehmen ist, an allen Auch-Künstlern vorbeigehen muß, deren Bildern man die Unechtheit und Unwahrhaftigkeit sozusagen schon an der Stirn ablesen kann. Bei gar zu vielen ist die moderne Malweise Mode, Nachäfferei, Wahrnehmung „berechtigter Konjunkturinteressen" oder auch die Befürchtung, den Anschluß zu verpassen; sie wissen ihren Pinsel in allen Stilrichtungen zu schwingen und alle fünf Jahre werfen sie Haut ab und kehren eine ganz neue Schale hervor. Wie bei einer Zwiebel wird man auch bei ihnen vergebens zu einem festen Wesenskern vorzudringen versuchen. Wir scheiden also aus alle unechten Macher, alle Halbkönner, die Stümper und Bluffer, die glauben, dort beginnen zu können, wo reife Künstler erst nach einem Lebenswerk angelangt sind —, alle jene also, die unter ihren konstruierten Büdinhalten und breitzügigen Pinselstrichen gar zu oft ihre maltechnischen Unzulänglichkeiten und Unbeholfenheiten verstecken. Ich gebe zu, daß es oft schwer ist, hier nicht der Täuschung zu unterliegen. Aber wir werden finden, daß es doch gewisse Anhaltspunkte für wirklich echtes Künstlertum gibt. Meine Aufgabe soll nun im wesentlichen darin bestehen, Dir zu sagen, wie diese Kunst, die wir „modern" nennen, überhaupt entstehen konnte; ich werde mich dabei fast ganz auf die Malerei beschränken, weil ihre Formensprache Dir die vertrauteste ist und weil von ihr aus sich dem geschärften Blick auch der Zugang in den Bereich der Plastik leichter öffnet.
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Die Malweise der alten Meister Es ist mir wichtig, daß Du zunächst begreifst, wieso die äußere Form überhaupt Ausdruck der seelischen Einstellung des Künstlers sein kann. Du hast gewiß die Gedanken noch gegenwärtig, die wir damals zusammen vor den Bildern Dürers und Rembrandts gewonnen hatten. Albrecht Dürer hat die Welt daraufhin betrachtet, wie sich in ihr Körper gegen Körper, Form gegen Form abhebt. Erinnere Dich seiner Holzschnitte und Kupferstiche, die wir gemeinsam durchblätterten, und sieh Dir an, wie er die einzelnen Gestalten, einen Menschen oder ein Tier, als rundgeformte Körper oft wie Statuen nebeneinander darstellt. Mit spitzem Stift gleitet er gleichsam an der Oberfläche der Körper entlang, sie scharf abgrenzend und ihre Rundungen plastisch hervorkehrend. Anders erfaßt Rembrandt die Welt. Ihm geht es nicht vor allem um die deutliche, greifbare Plastik der Körper, sondern um das Spiel des Lichtes, das über sie hingeht, um die Verteilung von Hell und Dunkel; ja, selbst um die Luft, die Atmosphäre in der weiten Landschaft bemüht er sich. Dieser Sehweise entspricht auch sein Strich; denn er umreißt die Gestalt nicht mit klaren Umrißlinien, wie es Dürer tut, sondern er umspielt gleichsam die Formen, setzt sie in tiefe Schatten oder in blendende Lichtflächen, so daß wir ihre Konturen oft nur ahnen. Dürer und Rembrandt*) erleben und erfassen also die gleiche äußere Welt, die Umwelt, durchaus verschieden. Und wenn wir uns Dürers und Rembrandts Zeitgenossen zuwenden, so wird es uns kaum überraschen, bei vielen eine ähnliche Sehund Malwcise anzutreffen. Wie kommt es nun — Dürer und Rembrandt liegen etwa ein Jahrhundert auseinander —, daß sich die künstlerische Ausdrucksweise so grundlegend ändern konnte? Warum erlebten Dürer und die Maler der Dürerzeit die Natur so körperlich und Rembrandt und so viele Große neben ihm sie so tief verhüllt in Dunkelheit oder verschleiert im Licht? Diese Frage können wir nur beantworten, wenn wir wissen, wie die Dürerzeit und wie die Rembrandtzeit über sich, die Welt, die Natur und Gott dachten. Dürers Zeit ist das Zeitalter der Renaissance, in der der abendländische Mensch kühner sein Haupt erhob und den Wert des einzelnen, der einzelnen Persönlichkeit selbstbewußter hervorkehrte. Es war die Zeit, in der Luther ausrief: „i.'h stehe persönlich vor Gottes Angesicht!" und wenig später der Philosoph Descartes den Satz aufstellte: „Cogito, ergo sum": „Ich denke, darum bin ich." Das besagte: Ich bin ein denkendes Wesen, diese Tatsache begründet überhaupt erst, daß ich bin, und alles andere ist von m e i n e m Dasein aus erst zu begreifen. So legten die Menschen ") Vgl. Lux-Lesebogen 2 „Der junge Dürer", Lux-Lesebogen 10 „Rembrandt'' und Lux-Lesebogen 17 „Mit Pinsel, Feder, Gänsekiel".
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Wert darauf, das Persönliche stark hervorzuheben, das Ich vom Du scharf zu trennen, und eine ähnliche Einstellung führte auch den Künstler, führte Dürer dazu, die Gestalten fester umrissen zu formen, sei es eine Landschaft, die Figuren in einem Gruppenbild oder das Bildnis einer einzelnen Person. Anders ist die Rembrandtzeit. Hier braucht nicht mehr um den Wert der einzelnen Persönlichkeit gerungen zu werden, denn dieser Wert steht unantastbar fest. Vielmehr mühen sich die Menschen, das Reich des Lebendigen, die Natur, den Menschen in einer tieferen Sicht zu begreifen und den ganzen Kosmos mit dein Lichte des Göttlichen zu erfüllen. Während Rembrandt in Amsterdam malte, errichtete unweit von ihm der Philosoph Spinoza sein kühnes Gedankengebäude: „Deus sive natura": „Gott selbst ist die Natur." Du siehst aus diesen Beispielen (die ich hier nur andeuten kann), wie verschieden die Einstellung des Künstlers zu den Dingen der Außenweit sein kann, und Du ahnst sicherlich die engen Zusammenhänge zwischen Weltanschauung und künstlerischer Darstellungsweise (die man gleichfalls als Welt-Anschauung bezeichnen kann). Es ist übrigens interessant, wie die feinfühlige Sprache in diesem Wort Weltanschauung auf die Zusammenhänge von Sehen und Denken hinweist.
Die Natur als Gegenstand der Kunst Wenn wir gegenüber der „modernen" Malerei überhaupt einen Standpunkt gewinnen wollen, dann müssen wir zunächst darüber nachdenken, ob sich auch heute bei den Vertretern der „Moderne" diese Beziehungen zwischen Denken, Fühlen und Sehen nachweisen lassen. Den Malern geht es freilich zunächst nur um Farbe und Form, um Tonwerte und Licht und Schatten; ihre Bilder sind aber immer irgendwie sichtbarer Ausdruck der Gedanken und Gefühle ihrer selbst und ihrer Zeit, in deren Erregungen und Spannungen der Künstler besonders stark mitschwingt. Nur so ist es zu verstehen, daß etwa gleichzeitig und unabhängig voneinander bei Deutschen, Franzosen, Holländern (van Gogh), Norwegern (Munch), Spaniern (Picasso) und im Westen lebenden Russen (Kandinsky, von Jawlensky) die modernen Formen entstanden, die von den Malern im gesamten abendländischen Kulturkreis — zu dem in gewissem Grade auch Amerika und ein Teil Rußlands gehören — übernommen wurden. Wir stellen also fest: Die „moderne" Kunst ist eine Erscheinung, die nicht auf irgendeine Nation oder ein Volk beschränkt ist. Doch lassen sich die Werke der Franzosen durchaus von den deutschen, diese wieder von den russischen unterscheiden, und es entstanden mannigfache Spielarten der neuen Formen, die sich zu einer kaum noch übersehbaren Fülle verwirrt 4
haben. Du hast diese Namen sicher schon gelesen, man spricht vom Expressionismus, vom Fauvismus, von Kubismus, Futurismus und Surrealismus. Das sind noch nicht einmal alle Namen. Es ist nun durchaus nicht meine Absicht, Dich durch dieses Labyrinth hindurchzulotsen, Du würdest Dich in der Fülle der „Ismen" gar nicht mehr zurechtfinden. Ich möchte daher weniger die Unterschiede der einzelnen Kunstrichtungen erklären, als vielmehr das allen Gemeinsame klarlegen, das, wodurch sie alle als „modern" bezeichnet werden. Dieses Neue besteht in einer völlig anderen Einstellung zur Natur. Hatten sich die „alten Meister" das Ziel gesetzt, die Natur wiederzugeben, wie sie ist, hatten Dürer und Rembrandt trotz der Unterschiede, die ich Dir oben klarzumachen versuchte, beide Welt und Natur dargestellt, wie sie sie zu sehen meinten und wie auch die meisten ihrer Zeitgenossen sie sahen, so haben die Modernen nicht mehr das Ziel, ein Abbild der Natur zu geben, so wie sie sich auf der Netzhaut des Auges spiegelt. Sie sind sich dabei durchaus bewußt, daß die Welt und die Dinge nicht „wirklich" so sind, wie sie auf ihren Bildern erscheinen. Diese allmähliche Abwendung von der „wirklichkeitsgetreuen" Wiedergabe der Natur vollzieht sich bezeichnenderweise etwa in der gleichen Zeit, in der sich die Fotografie vervollkommnet. Mit der Erfindung dieser mechanischen Abbildtechnik erfüllte sich ein uralter Traum der Menschheit nach wahrhaftiger Wiedergabe der Außenwelt. Der Maler wetteifert mit dem Fotografen: Die Maltechnik, wie sie sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, erreicht einen solchen Grad von Naturnähe, daß eine Steigerung kaum noch denkbar ist. Die Bildkunst war der Erstarrung nahe, war bis zum fotografischen, fast greifbaren Abklatsch des Gesehenen verdeutlicht. — Da begannen die Künstler sich von der Wirklichkeit der äußeren Dinge abzukehren. Die Gegenstände der Natur blieben zunächst wohl noch Anstoß für den Maler, aber mehr und mehr blickte er nach innen, in sich selber hinein und suchte die seelischen Erlebnisse bildhaft zu erfassen, die in ihm im Betrachten der Außenwelt geweckt wurden. Diese Abkehr von dem, was man gemeinhin als „Wirklichkeit" bezeichnet, von der glatten Darstellung der Natur, vollzog sich — wie eine jede geistige und künstlerische Entwicklung — schrittweise und allmählich. So wurden vor allem drei Maler
die Begründer der neuen Sehweise, die gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts in Frankreich lebten: Paul Cezanne, Vincent van Gogh und Paul Gauguin. Frankreich erlebte damals eine Blüte malerischer Kultur, wie etwa Holland und Spanien im 17., Deutschland im 16. und Italien im 15. Jahrhundert. Eine nicht 5
einmal große Schar von Malern war es, die sich von der erstarrten Maltradition abwandte und neue Wege beschritt. Von ihnen werde ich Dir nachher mehr berichten. Nun hatten auch die Malerprofessoren der alten Schule wohl empfunden, daß die bloße sachgetreue Wiedergabe der Natur in der gewohnten Malweise nicht mehr weiterführen konnte, daß der Fotograf das alles viel bequemer, flinker und getreuer festzuhalten wußte. Aber sie hatten nicht die Sehweise geändert, sondern nur die Motive und Stoffe gewechselt. Sie wandten sich den Sagen und Historien alter Völker und Zeiten zu. In dem milchigen Licht unter den Nordfenstern ihrer Ateliers malten sie Schlachten- und Reiterbilder, bewegte Szenen aus dem Leben von Göttern und Sagenhelden, peinlich darauf bedacht, daß selbst im kleinsten Gewandzipfel die geschichtliche Treue oder die Genauigkeit der Sagenstoffe nicht verletzt wurden. Hier führte der Weg nicht weiter. Es ist nun merkwürdig, daß die „Modernisierung" der Malkunst, die Abwendung von der Natur, zunächst einmal mit einer Rückkehr zur Natur einsetzte. Aber die Künstler sahen sie jetzt auf einmal mit ganz anderen Augen. Das hatte damit begonnen, daß sie mit ihren Staffeleien die Ateliers verließen. Es trieb sie hinaus unter die Menschen. Courbet (1819—1877) hatte den Anfang gemacht, als er sich an der Straßenbaustelle zu den Steinklopfern gesellte, um sie bei der Arbeit zu beobachten. Millet (1814—1875) war den Bauern aufs Feld gefolgt, um sie bei dir Ernte zu malen; Daumier (1818—1879) hatte die Armut der Wäscherinnen ins Bild gebracht. Aber diese Maler gelten uns noch als Realisten, Darsteller der nüchternen Wirklichkeit; was sie heraushebt aus der Zeit, ist die Tatsache, daß sie sich in ihrer Wahrheitsliebe nicht scheuten, die Welt auch in ihrer Häßlichkeit und Armut darzustellen. Das war schon viel. Wir können sie aber nicht als Moderne bezeichnen, obwohl die Wahl der Bildinhalte aus dem sozialen Leben gerade ihrer Zeit als etwas aufregend Neues vorkam. Ihre Farbgebung unterschied sich jedoch kaum von der der Ateliermalerei; sie waren aber insofern Wegbereiter, als sie wenigstens zu menschlich erregenden Bildinhalten fortschritten und endlich die Starre der Überlieferten zu lösen begannen.
Die Impressionisfen Die volle Überwindung der „Atelierkunst" aber gelang den Impressionisten, denen wir uns nun zuwenden wollen. Als Freilichtmaler (Pleinairisten) malten sie ebenfalls die Menschen in der Natur; aber sie malten sie in einem ganz neuen Licht und mit einem ganz anderen Augensinn. Da die Beleuchtung in der freien Landschaft viel heller ist als im abgedämpften Nordlicht der Ateliers, erfüllten sich die Bilder auf einmal 6
mit völlig neuen Farbklängen. Die „braune Ateliersauce" (wie die Maler sagten) lichtete sich auf, die Farben fingen an zu blühen und sich in vielen Zwischenwerten zu verfeinern. Diese Maler erstrebten durchaus Naturwahrheit; Natur war ihnen aber mehr als nur festumrissene, klar und meßbar begrenzte Umwelt. Gehörte nicht auch Luft, Licht, der unsichtbare Wind, ja selbst die Bewegung, Augenblickliches und Flüchtiges zur Natur? Es war das vernehmlichste Bestreben dieser Künstler, gerade das Atmosphärische, die wechselnden Lichter, das Zufällige einer Wolkentönung, die Bewegungseindrücke, die wandelbaren farbigen Erscheinungen mit den Färb- und Formmitteln ihrer Bilder zu erfassen. Den sinnlichen Eindruck, den wir von verschwimmendem Dunst, von bewegtem Wasser, von flimmernder Luft, gleißenden Lichtern, ja von bewegten Lebewesen haben, den wollten sie bannen. Eindruck heißt auf französisch impression, und nach einem Bilde Monets, das „Impression" unterschrieben war, wurde die ganze Richtung als Impressionismus bezeichnet. Wollten aber die Impressionisten vor allem bewegte, lebendige Bilder, Augenblicksstimmungen wiedergeben, so konnten sie sich nicht viel Zeit nehmen; sie konnten nicht wie die alten Meister zuerst eine Studie anfertigen, diese mit Hilfe eines Quadratnetzes ins große Bildformat übertragen und dann das Büd genau nach den Vorzeichnungen ausführen. Sie mußten vielmehr die sich fortwährend verändernde Natur sogleich mit Pinsel und Farbe festhalten. Das hatte eine lockere Malweise zur Folge, bei der Farbtupfen lose nebeneinandergesetzt wurden. Zugleich lehnten sie einen festgefügten Bildaufbau im Sinne der alten Meister ab, denn ihr Ziel war es, einen vergehenden Ausschnitt aus der Natur ins Bildhafte zu bannen; die Bilder sollten wie Fenster in der Wand wirken, durch die man schnell einen Blick in die Landschaft hinauswirft. Sie wollten also durchaus die Natur so wiedergeben, wie sie uns erscheint, ja, sie wollten im Grunde überhaupt nichts anderes wirken lassen als nur die Natur. Durch das Temperament im Anschauen und Erleben der Natur trat aber gleichsam auch die Persönlichkeit des Künstlers mit „ins Bild". Sie äußerte sich besonders durch eine neue Art der Pinselführung, die mehr oder weniger heftig sein konnte. Kunst ist (so sagten sie) die Natur, gesehen durch ein Temperament.
Auf dem W e g zur Ausdruckskunst Die Begründer des Impressionismus und seine größten Meister zugleich waren der schon genannte Edouard Manet (1832—1883), dann Claude Monet (1840—1926), Camille Pissarro (1831—1903), Edgar Degas (1834 bis 1917), Auguste Renoir (1841—1919); in Deutschland sind Max
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Liebermann (1847—1935), Max Slevogt (1868—1932) und Lovis Corinth (1858—1925) zu nennen; unter ihren Händen entstanden prachtvolle, lebensprühende Werke echter Malerei. Doch trat auch eine Besonderheit zutage — sicherlich die bezeichnendste für den Impressionismus überhaupt: der Verlust an klarer Darstellung der Form. Im Flimmern des Lichtes zerflossen die Formen; die Umrisse, der Bildaufbau lösten sich auf. Diese Gefahr erkannte vor allem P a u l C e z a n n e (1839 bis 1906) und suchte ihr zu begegnen. Dabei tat er einen sehr eigenwilligen Schritt weiter. Cezanne hatte das Glück, ein sorgloses Leben führen und still zurückgezogen ganz seiner Kunst leben zu können. Auch für ihn war die farbig getreue Darstellung das wichtigste, er hatte sich das Ziel gesetzt, die feinsten Farbwerte da draußen aufzuspüren und wiederzugeben. Malen hieß für ihn in Farben sehen, nicht in Linien, denn die Linie sei das Element der Zeichnung, nicht der Malerei. So sagte er: „Es gibt keine Linie . . ., es gibt nur Farbkontraste, Zeichnung und Farbe sind nichts Verschiedenes, sondern die Zeichnung vervollkommnet sich in dem Maße, wie die Farbe harmonisch wird." Aus dem Bestreben heraus, die Farben nun auch wirklich zu erkennen, benötigte Cezanne mitunter für ein einziges Porträt über hundert Sitzungen, und die Blumen welkten während der Arbeit dahin, so daß er sie durch Papierblumen ersetzen mußte. Die Farbe war für ihn so wichtig, daß er sie, um sie in einen klaren Bildaufbau hineinzukomponieren, nicht mehr mit der klassischen Linearperspektive in Verbindung bringen konnte, wie sie seit der Renaissance vor allem durch Dürer entwickelt worden war, wie sie auch ein jeder Fotografenapparat als „richtig" und tatsächlich bestehend wiedergibt. Cezanne begann die perspektivische Form nach anderen „Gesichtspunkten" zu betrachten, indem er sie im Gegensatz zum natürlichen Sehen auf gewisse geometrische „Urformen" zurückführen wollte. An den jungen Maler Bernard schrieb er einmal: „Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel, Kegel und bringe das Ganze in die entsprechende Perspektive, so daß jede Seite eines Gegenstandes oder einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt." Cezanne verstand hier unter Perspektive also etwas durchaus anderes als die klassische Linearperspektive: etwas Neues. Um das zu verstehen, vergleiche einmal die perspektivischen Formen im Stilleben Edouard Manets (Frühstück mit Salm und Zitronen, Seite 10) mit denen auf einem Stilleben Cezannes (Stilleben mit Obstaufsatz, Seite 11). Manet verwendet noch die klassische Perspektive, d.h.: Der unbewegte, ruhige Betrachter sieht zugleich den Gegenstand — in unserem Fall das Glas und die schräggestellte Tasse — in Auf- und Vorderansicht, also von vorn oben. Auch der bildgerecht darstellende Fotoapparat würde Glas und Tasse von der gleichen Stelle aus in der gleichen Weise wiedergeben. Einen durchaus anderen Eindruck
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Cezanne
Arbeiter
ruft Cezannes Bild hervor; denn die Öffnungen sind im Verhältnis zur Vorderansidit viel zu groß gegeben, so daß der Eindruck entsteht, als hätte sich der Maler über der Arbeit nach oben gereckt, um den Gegen-
Manet
Frühstück mit Salm und Zitronen
stand mehr von oben zu sehen, sich dann nach unten bewegt, um ihn mehr von vorn anzuschauen und beide Eindrücke zugleich im selben Bild wiedergegeben. Diese Darstellungsweise des Malers entspricht seinem Bemühen, die Gegenstände auf die genannten Grundformen zurückzuführen und sowohl der Aufsicht als auch der Vorderansicht ihren jeweils „zentralen Punkt" zu geben, von dem aus sie zusammen betrachtet werden können. Dieser wechselnde Blickpunkt beim Betrachter, der um die Gegenstände gleichsam herumwandert, sollte für die nachfolgenden jungen Maler bedeutungsvoll werden, so daß Cezanne — freilich ohne es selbst zu wollen — gerade in seinen Abweichungen von der Natur, in seiner eigenwilligen Formgestaltung (nicht aber in seiner ganz der Natur abgelauschten Farbgebung) vielen Späteren zum Vorbild wurde. Das war nur möglich, weil junge Künstler heranwuchsen, die
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Cezanne
Stilleben mit Obstaufsatz
aus Überdruß an der traditioneilen Naturgenauigkeit gerade in derartigen Naturabweichungen, ja man darf sagen bewußten Unnatürlidikeiten ihr höchstes Ziel erblickten. Doch es gab noch andere Vorbilder, die von der Natur abwichen und eigene Wege gingen. — Unweit von Cezanne malte ein anderer ebenso einsam, ebenso verbissen: V i n c e n t v a n G o g h (1853—1890). Er war aus Holland nach verworren-unglücklichen Jugendjahren nach Frankreich übergesiedelt und durch seinen Bruder Theo, einen Pariser Kunsthändler, in den Kreis der Impressionisten eingeführt worden, dem er sich schnell anschloß. Doch zog er sich bald aus Paris zurück und ging seine eigenen Wege. Auch für ihn war die Farbe das wichtigste, aber nicht die Abstufung in feinste Farbtöne, sondern die Verwendung der reinen nebeneinandergesetzten Urfarben, wie sie uns im Spektrum, 11
in den wesentlichen Regenbogenfarben entgegentreten. So entfernte er sich von den Impressionisten vor allem dadurch, daß er die Natur farblich nicht so wiedergeben wollte, wie sie wirklich ist, sondern daß er darin absichtlich von der Natur abwich. So schreibt er in seinen Briefen: „. . . es wäre mein sehnlichster Wunsch, zu erlernen, wie man solche Abweichungen von der Wirklichkeit, solche Ungenauigkeiten und Umarbeitungen, die zufällig entstanden sind, macht . . . Mit einem Wort k e i n e fotografische Nachahmung, das ist die Hauptsache!" Diese Ab- , weichungen läßt er nur für die Farbe gelten und sagt: „Statt genau das wiederzugeben, was ich sehe, gehe ich eigenmächtig mit der Farbe um. Ich will eben vor allem einen starken Ausdruck erzielen . . . " In der Form wagt er jedoch nicht den gleichen Schritt wie bei der Farbe. „Ich kann nicht ohne Modell arbeiten. Ich drehe der Natur kühn wohl einmal den Rücken, aber ich habe eine furchtbare Angst davor, die Richtigkeit der Form zu verlieren." So sind seine Bilder in der Form durchaus norh natürlich, während ihre Farben lediglich der Palette der Komplementärfarben entnommen sind, ohne Rücksicht auf die natürlichen Farben der abgebildeten Dinge, der Häuser, Blumen, Menschen. Unter Komplementärfarben versteht man die Rot-Grün-, Blau-Orange-, Gelb-Violett-Gegensätze, die für das Auge am weitesten auseinander liegen. Diese Wahl starker Farben wird noch durch „Vincents" Pinselführung verstärkt — van Gogh signierte seine Bilder mit seinem Vornamen Vincent —, die leidenschaftlich bewegt ist. Oft legt der Maler seinen Briefen an den Bruder Theo Skizzen bei, mit denen er die Farben seiner neuen Bilder
Van Gogh
Skizze zu einem Stilleben
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andeuten möchte. Abbildung Seite 12 zeigt eine solche Skizze, mit der er ein Stilleben „angelegt" hat. Du kannst deutlich erkennen, wie van Gogh in der Form der Linearperspektive treu bleibt, er verläßt nicht die „Richtigkeit" der Form, nur seine Farbnotizen zeigen, wie er von der Natur abweicht, er stellt dem „citron vert päle" (dem hellen Gelbgrün) das „bleu" (das Blau) gegenüber. Seine eigene unrastige Seele will sich in diesen heftigen Farbspannungen ausdrücken, die Farbe soll leuchtkräftig durch das offene Tor des betrachtenden Auges einströmen; die nacherlebende Seele aber soll in der seelischen Erregtheit mitschwingen, die den Künstler über der Arbeit erfaßt hat. Da malt er einen Menschen, den er liebt, der ist blond. „Zuerst male ich ihn also so, wie er ist"—schreibt er —, „so getreu wie möglich ... . nun fange ich an, willkürlich zu kolorieren (Farbe zu geben). Ich übertreibe das Blond der Haare, ich nehme Orange, Chrom, mattes Zitronengelb. Statt der banalen Zimmerwand male ich die Unendlichkeit . . . einen einfachen Hintergrund aus dem reichsten Blau . . . so wirkt auch diese einfache Zusammenstellung, der blonde beleuchtete Kopf auf dem blauen reichen Hintergrund wie ein Strom im dunklen Äther." Indem so van Gogh — noch kühner als Cezanne — das Geschaute bei der Übertragung ins Bild nicht nur nach der Wirklichkeit ausrichtete, sondern das Bild auch zum Spiegel, zum Ausdruck eines persönlichsten Gefühlszustandes werden ließ, war er einer der ersten modernen „Ausdruckskünstler" geworden und hatte sich weit von der impressionistischen Malweise entfernt. Und schon hatte sich ihm und Cezanne ein dritter Maler zugesellt, der gleich ihnen die Natur nicht so wiedergab wie sie ist, oder genauer gesagt, wie sie hier bei uns in Europa ist. Das war van Goghs Freund P a u l G a u g u i n (1848—1903). Gauguin hatte einen Franzosen zum Vater und entstammte mütterlicherseits halb aragonischem, also spanischem, halb indianischem Adel. Die früheste Kindheit hatte er in Peru verlebt, war dann nach Frankreich gekommen, als Halbwüchsiger Matrose geworden und um die Erde gesegelt, dann hatte er als Bankbeamter einen bürgerlichen Beruf ergriffen. Als Liebhaber griff er zum Pinsel; aber dann packte ihn die Malleidenschaft. Pissarro beschwor ihn, sich ganz der Malkunst zuzuwenden. Und von nun an trieb ihn sein Dämon zur Kunst und mit dieser von Kontinent zu Kontinent. Die Unrast seines Blickes, seine frühen Kindheitseindrücke und die damals allgemein verbreitete Ansicht von der Kulturmüdigkeit Europas wiesen ihn gleich vielen seiner Zeitgenossen sehnsuchtsvoll auf die Suche nach jungen, primitiven Völkern und Kulturen. Gauguin wurde einer der ersten, die mit der „Flucht aus Europa" ins „Paradies der Eingeborenen" Ernst machten, und sein Leben verzehrte sich in diesem Zwiespalt Pariser Kultur und primitiver 14
Zurückgezogenheit. Dort, in den Tropen, herrschten andere Farben als in Paris, sattere Töne als sie die Impressionisten malten, dort brauchte er die Farben nicht zu übertreiben, wie es van Gogh tat, dort brauchte er nur die bunten, leuchtend vollen Farbtöne der Natur wiederklingen zu lassen. Bilder entstanden, die für den Europäer etwas unerhört Neues an sich hatten, und es war begreiflich, daß sie zunächst auf volles Mißverständnis stießen. Was die Natur ihm bot, das wurde noch verstärkt durch das Erlebnis der primitiven Kunst der Inselstämme. Gauguin lernte bei den Südseeinsulanern, deren Leben er in seinem Buch „Noa Noa" beschreibt, nicht nur eine ganz andere Farbenwelt, sondern auch eine ganz andere Formensprache der Kunst kennen, die voll stärkster Gegensätze war, die das leuchtend Bunte liebte, wie es die natürliche Atmosphäre der Landschaft ausstrahlt und sich in den Formen nicht im Kleinen verlor. Aus alledem, aus der Natur und dem Einblick in das fremdartige Kunstschaffen, schöpfte der Künstler. Hier berührte sich Eigenes mit Fremdem. So begann Gauguin breitflächig zu malen wie die Primitiven, er verzichtete wie die Eingeborenen auf Schatten und Glanzlichter. Sicherlich war das nicht mehr impressionistische Wirklichkeitswiedergabe, sondern Ausdruck seiner neuen europafernen Lebensempfindung. Trotz der breit und sehr gegensätzlich nebeneinander komponierten Farbflächen blieben seine Gestalten anatomisch einwandfrei und „richtig", also natürlich gesehen, und alle Verzerrungen und Übertreibungen der Form — wie sie die Kunst der Primitiven kennt — lehnte er ab. Seine Gestalten waren durchaus „schön"; an Motiven fehlte es ihm nicht in diesen Eilanden der „schönsten Menschen". Hier im Süden allein glaubte Gauguin die Einfachheit und Kraft wiederzufinden, die Europa verloren zu haben schien, und stolz, seiner Sendung bewußt, schrieb er aus Tahiti: „Ich habe 66 Bilder gemalt . . . bei denen noch Generationen in die Lehre werden gehen können. Wenn sie meine Lektion verstehen würden, dann würden sie ihre brüchige Zivilisation aus den alten Quellen neu beleben, bevor ihnen das Dach über dem Kopfe zusammenkracht. Aber sie wachen erst beim zehnten krachenden Balken überhaupt auf." Bei diesem Wort Gauguins, dem ähnliche Friedrich Nietzsches an die Seite gestellt werden könnten, müßte ich eigentlich länger verweilen. Hat er nicht recht behalten? Ist Europa tatsächlich nicht erst „beim zehnten krachenden Balken" aufgewacht; oder besser gesagt: scheint es nicht so, als ob sich das Abendland erst in jenem Augenblick des Niederbruchs auf sich selber besonnen hätte, nachdem die Hälfte seiner Städte zertrümmert und ganze Provinzen zur Steppe geworden waren? Ist denn wahr, was jene, als sie wie Gauguin in die Fremde gingen, fürchteten, daß unser Kontinent mit seiner alten Kultur am Ende sei, 15
eine Furcht, die auch heute wieder viele hinaustreibt? — Wir glauben es nicht; zu viele Quellen strömen noch, aus denen uns die Gesundung zufließen kann. Aber die Jugend jener Zeit war von dem Untergang des Bestehenden überzeugt. Sie wuchs in dieser Vorstellung auf. Es war
die Generation der 70er und 80er Jahre. Es ist kein Zufall, daß aus ihren Reihen nun die Hauptverfechter der neuen Kunstrichtung herauswuchsen, die sich in Cezanne, van Gogh, Gauguin und anderen angekündigt hatte, die revolutionären Kräfte der „modernen" Kunst, die Expressionisten, Kubisten, Futuristen und die anderen. Diese Generation, die sich durchaus als Gemeinschaft empfand, begann kurz nach der Jahrhundertwende, als die meisten in dem Alter von der Mitte der Zwanziger bis zur Mitte der Dreißiger standen, ihre Werke in Bild und Wort ins Licht der Öffentlichkeit zu stellen. Sie hatten von den Älteren jene Überzeugung übernommen, daß das Abendland am Ende seiner alten Kräfte sei, eine Überzeugung, die wenig später zur Zeit des ersten Weltkrieges der Kulturphilosoph Oswald Spengler (geb. 1880) in seinem Werk „Untergang des Abendlandes1' fast zu einer Wissenschaft erheben sollte. Aber diese Jungen waren zugleich auch wie Gauguin gewillt, Europa zu verjüngen. Wie er wollten sie zur primitiven Kultur eingeborener farbiger Stämme zurückkehren, wobei ihnen allerdings die bizarre Kunst Afrikas mehr als die harmonischere der Südsee zugänglich war. Es war im Jahre 1905, als in Dresden der junge Maler E r n s t L u d w i g K i r c h n e r (1880—1938) seine Freunde in die Museen führte, um ihnen voller Begeisterung die Plastiken und Schnitzereien der Neger zu zeigen, die von Forschern und Völkerkundlern (deren bekanntester Leo Frobenius wurde) dorthin zusammengetragen worden waren. Kirchner hatte im Jahre 1903 in Dresden mit seinen Freunden eine Künstlergemeinschaft gegründet, die sie die „ B r ü c k e" nannten. Zu ihr gehörten die Maler E r i c h H e c k e l (1883), K a r l S c h m i d t - R o t t l u f f (1884), M a x P e c h s t e i n (1881) und O t t o M ü l l e r (1874—1930). Diese jungen Maler wollten ihre eigenen Wege gehen; die Malweise der Impressionisten lehnten sie schroff und hohnvoll ab und bekannten sich zu der Einfachheit primitiver Kunst, die sie nacherleben und nachzuschaffen suchten. Hatte Gauguin die farbige Fremde immer noch mit dem Auge des Europäers gesehen, so gingen diese Maler einen Schritt weiter: sie entlehnten der Kunst der Eingeborenen — Gauguin hatte das immer von sich gewiesen — auch die formale Gestaltung, d. h. sie arbeiteten selbst primitiv. Und da in der bildenden Kunst der Stilwille stets in das am ehesten entsprechende 16
Material drängt, so wendeten sich auch diese Künstler der Technik zu, die ihren Wünschen am meisten entgegenkam: Dem Holzschnitt*). Im Holzstock konnte man am besten schwarze gegen weiße Flächen setzen, in ihn ließen sich jene einfachen Rautenmuster leicht hineingraben, wie sie auch auf den geschnitzten Kunstwerken der Primitiven zu finden waren. Auf anatomische Richtigkeit, naturgenaue Durchgestaltung kam es ihnen nicht an. Absichtlich sind die Köpfe zu groß und in, die Länge gezeichnet, um das Drängen und Treiben, das Triebhafte und Unausgeglichene ihrer jugendlichen Empfindungen ausdrücken zu können. Ihre Welt wollte nicht schön, sondern heftig, nicht ausgeglichen, sondern explosiv, nicht beruhigt, sondern ungeheuerlich sein. Wie man einem Sterbenskranken fremdes gesundes Blut einflößt, um ihn zu retten, so wollten diese Künstler der „sterbenden europäischen Kultur" die Kunst der Primitiven als Vorbild hinstellen.
Negerplastik
Wären ihre Werke nur eine Nachahmung geblieben, dann hätten sie niemals die Bedeutung erlangen können, die sie für die Weiterentwicklung der „modernen" Kunst gehabt haben. Gewiß übertrieb und übersteigerte man in jugendlicher Kraftmeierei, aber es wäre verkehrt, nur ihre ausgefallensten Arbeiten hervorzuheben. Vielmehr gelang es ö
)'Vgl. hierzu Lux-Lesebogen 17 „Mit Pinsel, Feder, Gänsekiel"
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den Brückemalern, einen eigenen Stil zu finden, der sie deutlich kennzeichnet und der doch viel Freiheit für den einzelnen ließ. Ihre Arbeiten wirken oft wie ein reiches Ornament, das völlig flächig ausgearbeitet und doch mit Inhalt erfüllt zu sein scheint. Auch den Holzschnitt Kirchners kann man hier einordnen: Der Mann selbst erscheint wie ein Berg oder wie ein durchfurchtes Feld, wie ein Stück Natur, aus dem ruhige, lebenreTfahrene Augen schauen (Seite 19), der Hintergrund selbst geht in der menschlichen Gestalt auf, die ein Teil in ihm ist. Beseelung der Natur, Einbettung des Menschen in die Landschaft war das Ziel dieser Künstler; sie wollten dem entseelten Großstadtmenschen, dem müden Europäer, in der Einheit von Mensch und Natur eine neue Quelle der Kraft erschließen. Dieses — ihr leidenschaftliches Streben — suchte sich in kräftigster Gebärde, Farbe und Form einen Ausdruck, und so nannten sie sich Ausdrucksmaler, „Expressionisten", die ganz aus dem inneren Bild heraus schufen, das sie von der Welt hatten, im Gegensatz zu den „Impressionisten", die dem Außenbild der Welt verhaftet waren. Gleichzeitig und völlig unabhängig davon geschah in Paris etwas Ähnliches. Auch hier waren junge Künstler der überfeinerten Kultur überdrüssig. Im Jahre 1905, im gleichen Jahre wie die Maler der „Brücke", wurden die Franzosen H e n r i M a t i s s e (1869) und der eben erst 24jährige G e o r g e s B r a q u e sowie dessen gleichaltriger spanischer Freund P a b l o P i c a s s o von den Negerplastiken einer Ausstellung tief beeindruckt. Auch ihnen erschienen diese afrikanischen Schnitzereien wie eine Offenbarung. Sie hatten bereits die Bilder Cezannes gesehen und seine Lehren von den Urformen vernommen und diese Theorien selbst weitergebaut. Sie gingen aber — wie es Jünger oft zu tun pflegen — über den Meister weit hinaus, indem sie radikal mit den letzten Resten der Perspektive brachen und statt runder Grundformen (wie sie Cezanne gefordert hatte) vor allem rechtwinklige gelten ließen. Die menschliche Gestalt erschien wie zerstückt und in ihre einzelnen Gliederteile aufgelöst als Teil eines merkwürdigen zerrütteten Gebildes, das ins Formlose zersplittert. Eines dieser in Kanten und Ecken gestalteten Bilder aus dem Atelier Braques bezeichnete im Jahre 1908 Matisse ironisch als „kubistisch", wodurch er der ganzen Richtung den Namen gegeben hatte, die man seitdem als „Kubismus" bezeichnet. Die Künstler wiesen es weit von sich, daß man mit den gewohnten Maßstäben an ihre Werke herantrat. Ihre stärkste Erscheinung war der Spanier Pablo Picasso, dessen mittlere Schaffenszeit der Jahre 1907 bis 1917 und viele Werke auch der späteren Zeit vom Kubismus und seinen Ausstrahlungen her bestimmt sind. Um ein Bild wie den „Lautenspieler" (Seite 21) richtig in die Entwicklung der modernen Malkunst einzuordnen, erinnern wir uns noch 18
E. L. Kirchner
Holzschnitt
einmal des Weges und Wandels, den die Kunst seit dem Ausgang des 39. Jahrhunderts genommen bzw. erfahren hatte. Ich sprach schon davon, daß das 19. Jahrhundert in der Darstellung der Natur nach der maltechnischen Seite hin in eine Sackgasse geraten war, und daß in den alten Formen keine weitere Entwicklung mehr zu erwarten war. Die aufkommende Fotografie erledigte diese Abbildungsarbeit nun mindestens ebenso prompt und wirklichkeitsgenau; der Fotograf hatte also dem Künstler die haargenaue Schilderung der Natur abgenommen. Der Impressionismus, der die Ausweglosigkeit der Malkunst erkannte, führte dann zum ersten Bruch mit dem Althergebrachten, indem er nicht mehr das rein Gegenständliche gestaltete, sondern auch das weniger Greifbare (Luft, Licht, Bewegung). Darüber löste sich die Festigkeit des Gesehenen auf, aber insgesamt gaben die impressionistischen Maler doch die Wirklichkeit so wieder, wie sie sich, wenn auch oft nur dem flüchtig Zusehenden, darbot. Cezanne und die übrigen seines Kreises, die ich Dir nannte, sahen dann in die Natur Formen und Farben hinein, die in ihr in Wirklichkeit so nicht vorhanden waren (die „Urformen" Cezannes, die Elementarfarben van Goghs, die flächigen, schattenlosen Farbgebilde Gauguins). Die Gegenstände blieben auch bei Cezanne noch in einer gewissen Natürlichkeit erhalten, ja sie wurden gegenüber der verwischenden Umrißtechnik der Impressionisten sogar neu gefestigt. Nun betrachte Dir daraufhin den „Lautenspieler" Picassos, der in der Farbentwicklung des Kubismus entstanden ist. Was ist daran, was noch an die Wirklichkeit erinnert? Hie und da die Andeutung einer Körperform, eines Gewandstückes, eines Möbelteiles, eines Hintergrundes. Deutlicher umrissen ist nur die Laute. Mensch und Natur sind aus dem Bild fast ganz getilgt; der Bruch mit dem Impressionismus ist nahezu radikal vollzogen. Der Phantasie sollte alle Freiheit gegeben sein — und auch dem Urteil über diese so chaotischen Gebilde. Die Beziehung des Dargestellten zur tatsächlichen Außenwelt besteht nicht mehr, es gibt keine Vergleichsmöglichkeit mehr mit der Wirklichkeit, bleibt uns also nur, den Linien, Farbflächen und Farbklängen eine Eigensprache zuzuerkennen oder sie für reines Spiel zu halten, in das die Farbenstimmungen (die das Schwarz-Weiß eines Fotos nicht nahebringen kann) einen gewissen Reiz bringen, oder als Ausdruck für hintergründige Ideen, Visionen oder für Gefühlszustände im Malenden selbst oder als reine Willkür abzulehnen. Es ist müßig, darüber nachzudenken. Gegenüber diesem Experiment gibt es der Deutungen zu viele. Picasso selber ist in der Folge über diese Stufe seiner Entwicklung im wesentlichen hinweggekommen. Uns interessiert sie, weil wir hier die ganze Formlosigkeit der Zeit und die Unordnung im Geistigen zu er20
Picasso
Lautenspieler
kennen glauben; uns interessiert sie auch aus kunstgeschichtlichem Grunde: In der Entwicklung des Expressionismus ist ein Bild wie „Der Lautenspieler" die bisher radikalste Abkehr vom Gegenständlichen. War diese Entwicklung überhaupt noch einer Steigerung fähig? Eine Gruppe junger Italiener versuchte es. Auch sie waren überschäumende Revolutionäre, die der erstarrten alten Kultur, dem „alten Europa" den Kampf ansagten. Während aber die Expressionisten oft noch an Vergangenes anknüpften und sich nach Vorläufern in der Vergangenheit umsahen („Es gab Expressionisten zu jeder Zeit", schrieb einer von ihnen), wollten diese Eiferer von der jahrtausendealten Tradition nichts mehr wissen und verschrieben sich einzig der Zukunft. Sie gaben sich selber den Namen „Futuristen", die Kommenden: Carlo Carra (1881), Gino Severini (1883) und der 1916 gefallene Umberto Boccioni waren die namhaftesten Vertreter, die gleichfalls der Generation der achtziger Jahre angehörten. Sie knüpften im Gegensatz zu den Kubisten nicht bei Cezanne, sondern bei der impressionistischen Tradition selbst an. In Frankreich waren den Impressionisten, von denen ich Dir erzählte, die Neoimpressionisten, Neuimpressionisten, gefolgt Seurat (1860—1891) und Signac (geb. 1863), als die wichtigsten Vertreter dieser Stilrichtung, hatten das Bild ganz folgerichtig nach der impressionistischen Lehre in rein farbige Tupfen aufgelöst, so daß es fast einem aus bunten Steinchen zusammengesetzten Mosaik glich: erst aus größerer Entfernung schlössen sich die Farben zur Bildeinheit zusammen. Hier knüpften nun die Futuristen an, sie vergrößerten die bunten Farbflecke, malten einzelne Teilchen des Bildes aus, schnitten aber beispielsweise eine Hand, einen Kopf mitten durch und malten die andere Hälfte ein gut Stück davon, nach einer andersfarbigen Unterbrechung, zu Ende. So wurde der Eindruck eines bunten Geflimmer? hervorgerufen, das Leben schien in Konfettistimmung aufgelöst. Freilich blieben die künstlerischen Leistungen dieser Maler weit hinter ihrem Programm zurück, das sie laut in die Welt posaunten: „Steckt doch die Bibliotheken in Brand! Leitet die Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen. Ha! Laßt sie dahintreiben, die glorreichen Bilder! Untergrabt die Mauern der hochehrwürdigen Städte! Die Ältesten von uns sind 30 Jahre alt, und doch haben wir schon Schätze vergeudet. . . Auf dem Gipfel der Welt stehend, schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu." Das war zunächst einmal Kraftprotzentum mit Worten, das kaum ernst genommen zu werden brauchte, solange es sich in Bildern austobte. Aber aus den Bilderstürmern wurden gar zu bald Kriegsbesessene, die laut priesen, „daß freie Männer zerstören dürfen, was ihnen mißfällt". So begrüßten sie auch die Verwüstungen des ersten Weltkrieges als die ersehnte Vernichtung einer überalterten, 1\L
morschen Kultur, die sie haßten. Von diesen Gedanken und von dieser Kunst sind wir Heutigen wohl am weitesten entfernt; denn die Furchtbarkeit dieser dröhnenden Schlagworte vom Absturz des abendländischen Geistes war nahe daran, Wirklichkeit zu werden. Aber da waren andere, Altersgefährten jener geistigen und politischen Revolutionäre, die nicht minder als sie unter der Vorstellung litten, daß das Ende des Bestehenden unausweichlich sei. Sie suchten zunächst auf ihrem ureigensten Gebiet, im künstlerischen Bereich, nach dem Ausweg. So hatten sich in München junge Maler zum „Blauen Reiter" zusammengefunden, dessen Wortführer der Deutsche Franz Marc (1880—1916) und der Russe Wassily Kandinsky (1866—1945) waren. Ihnen schlössen sich der Schweizer Paul Klee (1879—1945), der Russe Alexey von Jawlensky (1864—1941), die Deutschen Heinrich Campendonc (1889) und August Macke (1887—1914) an. War die Dresdener Schule der „Brücke" herber, mitunter fast brutal, so waren die Süddeutschen geistiger. Die Süddeutschen strebten eine harmonischere Kunst an, die die gebändigte klassische Tradition des Südens nicht verleugnen konnte. Franz Marc hat aus dem Felde aufschlußreiche Briefe nach Haus geschrieben, die nur aus der Furchtbarkeit und Trostlosigkeit der lebenvernichtenden Katastrophe zu begreifen sind. Der Mensch erschreckt vor sich selbst, ja vor allem, was Natur ist; diese Gedanken waren auch Marcs Freunden nicht fremd: „Vielleicht hat unser europäisches Auge die Welt vergiftet und entstellt, deswegen träume ich ja von einem neuen Europa . . . Der unfromme Mensch, der mich umgab, erregte meine wahren Gefühle nicht, während das unberührte Lebensgefühl des Tieres alles Gute in mir erklingen ließ. Und vom Tier weg leitete mich der Instinkt zum Abstrakten . . . Ich empfand schon sehr früh den Menschen als .häßlich', das Tier schien mir schöner, reiner, aber auch an ihm entdeckte ich so viel Gefühlswidriges und Häßliches, so daß meine Darstellungen instinktiv . . . immer schematischer, abstrakter wurden. Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir in jedem Jahr mehr häßliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst jetzt plötzlich die Häßlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewußtsein kam." So schuf Marc sich Geschöpfe, wie er sie sich erträumte, unwirklich und doch auf eine durchgeistigte Weise lebend und den Beschauer erregend. Sein „Turm der Blauen Pferde" wurde von einer ganzen Generation als die Erfüllung ihrer Sehnsucht empfunden. Auch die „Roten Pferde", die wir auf Seite 25 im Bild wiedergeben, mit brandroten Leibern, atmen dieses unwirkliche Leben. Der harmonische Grundakkord in seinem Werk beruht in der Umsetzung natürlicher Formen in edel geschwungene Linien und reine Farben, die wie bei van Gogh vor allem Komplementärfarben sind. Das
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Tier wird in Bogenzüge hineingebettet, sein Körper selbst in solche aufgelöst, so daß ein Gebilde entsteht, das seine Wirkung und den Eindruck der Schönheit nicht mehr aus der Natur, sondern allein aus der Harmonie der Linien und dem Klang der Farben bezieht. — Im Skizzenbuch des 1916 vor Verdun Gefallenen fanden sich aber auch Zeichnungen, in denen das Gegenständliche ganz aufgegeben war, Entwürfe für größere Bilder, von denen einer „Arsenal für eine Schöpfung" heißt. Dieser Titel gewinnt fast einen symbolischen Wert; denn eine neue Schöpfung aus den Urelementen der Kunst, aus der reinen Linie und der Urfarbe aufzubauen, das war das eigentliche Anliegen Franz Marcs und seiner Freunde. Weil ihnen die Gegenwart, die sie umgebende Welt, der Mensch vergiftet erschienen, deshalb sehnten sie sich nach einem Neuen, nach einer neuen Welt, und da sie ganz bei den Lirelementen beginnen wollten, wendeten sie sich immer mehr von den Gegenständen der Natur ab und gegenstandslosen (abstrakten) Gebilden zu. Schon im Jahre 1911 hatte Kandinsky, einer aus dem Kreise der „Blauen Reiter", sein erstes abstraktes Bild gemalt und damit eine Kunstrichtung begründet, die gerade in der Gegenwart wieder heftig diskutiert wird. Es ist allerdings zu bezweifeln, daß die heutigen Jünger dieser Kunst noch um die eigentlichen Quellen wissen, die den Strom zum Fließen brachten: die völlige Abwendung von der Natur aus dem Gefühl ihrer Unreinheit heraus. Die abstrakte Kunst, wie sie von Kandinsky ausging, verzichtete im Gegensatz zu Picasso darauf, in ihren Bildern die Wirklichkeit der äußeren Dinge überhaupt noch anklingen zu lassen, also z. B. Teile eines Gesichtes oder eines Instrumentes wiederzugeben. Angesichts abstrakter Bilder nach der Natur zu fragen, ist sinnlos. Abstrakt, das heißt ja gerade wegnehmen, abziehen — nämlich die Natur. Innere Erschütterungen, Träume, innere Stimmen und Stimmungen, leidenschaftliche Empfindungen — das sind ihre Gegenstände. Und da man nach der Lehre der Abstrakten die Innenwelt nicht in den Formen der Außenwelt zum Ausdruck bringen kann, werden geometrische oder rein erfundene Zeichen: Kreise, Dreiecke, Bogen, Winkel usw. zu Hilfe genommen. Auch die Farben werden nach ihren Stimmungsgehalten gewählt und zusammengebracht. Kandinsky selbst (s. das Bild S. 32) hat versucht, für die Malerei gültige Formen- und Farbenregeln zu ermitteln und so gleichsam eine Grammatik des abstrakten Stils zu schaffen. Diese Männer bemühen sich, die mathematischen Grundformen, wie sie die Geometrie beschreibt, lebendig werden zu lassen. Theodor Werner (1886), Vordemberge-Gildewart, Willi Baumeister (1889), Ida Kerkovius (1879) und viele andere gehen diese Wege, die sich oft in der Vereinzelung verlieren, so daß die Nachfolge der Kunstliebhaber und des Publikums selten wird. Aber nach der Meinung der Abstrakten
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besagt eine Vereinsamung nichts gegen ihre Kunst: .,Wenn das geschaffene Bild", so schreibt einer von ihnen, „auch nur zu einem einzigen Menschen als echt und wahr zu sprechen vermag, kann niemand versuchen, ihm das Existenzrecht abzusprechen." •
Einzelgänger Hatten sich so in Dresden, Paris und München Gleichgesinnte zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden und stützten sie sich gegenseitig in ihrer Kunst, so lebten viele als Einzelgänger, die der großen Entwicklung gleichfalls ihr Wesen mit aufprägten. Da war der Senior der deutschen Expressionisten, Christian R o h l f s (1849—1938), der sich erst als reifer Mann den Jungen anschloß und später zum Leiter der Folkwang-Schule in Hagen (Westf.) berufen wurde, die der modernen Kunst ihre Pflege angedeihen ließ. Da war der alte Emil Hansen, der sich nach dem Geburtsort N o l d e nennt (1867), ein Friese mit der Sehnsucht der Nordländer nach Sage und weiten Fernen im Blut. Seine Werke sind vielleicht am wenigsten durch eine Theorie beeinflußt; eigenwillige, wandelbare Formen verbinden sich mit Farben, die bald dumpf erdhaft, bald verführerisch blühend sind. Nolde wurde einer der Anreger des modernen Holzschnittes und hat wohl in dieser Technik mit sein Bestes geleistet. Da ist die lodernde Leidenschaft eines Oskar K o k o s c h k a (1886), in dessen Werk das österreichische Barock moderne Formen gewonnen hat. Seine Stadtansichten von Amsterdam und anderen europäischen Städten, seine Porträts hängen in vielen Museen. Da ist der herb-verschlossene M a x B e c k m a n n (188 5), eine der eindrucksvollsten Persönlichkeiten, die die moderne Kunst hervorgebracht hat. Seine Bilder machen zuweilen einen unheimlichen, ja brutalen Eindruck, doch ist diese Brutalität wohl nichts anderes als das Bestreben, der seelischen Gefährdung Herr zu werden. Hier wirkt ein im tiefsten Grunde empfindsamer Mensch, der die Flucht ins Südseeparadies, in die Abstraktion, also ins Nichtverpflichtende, ablehnt, der weiß, wie es um den modernen Menschen steht, der sich aber trotzdem zu dieser Modernität bekennt. Einsam wie Beckmann geht auch C a r l H o f e r (1878) seinen Weg. Seine Menschen sind wie Statuen, die im grünlich-violetten Zwielicht in ihrem Tiefsten noch die Seele ahnen lassen sollen, die sie an ihrer erstarrten Oberfläche zu verleugnen scheinen. Diesem harmonischen Menschen ist die Kunst stets eine Auseinandersetzung des klassischen und des modernen Geistes gewesen, wobei seine klassischen Werke ungleich stärker als seine Dämonengestalten sind. Da zeichnet nun schon seit Jahrzehnten A l f r e d K u b i n (1877) seine Traum26
Visionen mit allen Federn, deren er habhaft werden kann. Spukgestalten bevölkern seine Welt, die zuweilen grausig, mitunter mehr gutmütiggrotesk wirkt. Seine Illustrationen zu den verschiedensten Werken der Weltliteratur sind schon heute in die Geschichte der Kunst eingegangen. Unter den Bildhauern ragt vielleicht am sichtbarsten der schmählich verfolgte E r n s t B a r l a c h (1870—1938) hervor, dessen Gestalten eine ganze Bildhauergeneration beispielhaft beeinflußt haben. Das Erlebnis der russischen Erde und des russischen Menschen, der wandelnden, lebendigen Plastiken gleicht, hat ihn sich selbst finden lassen und zu „holzgewordenen seelischen Erlebnissen" geführt, in denen das Mitleid mit der Menschenkreatur und die ewige Sehnsucht des Menschen nach Gott schwingt. Auch als Graphiker, Holzschneider und Dramatiker hat Barlach Bedeutung erlangt. Ihm im Wesen, wenn auch weniger im Werk verwandt ist der Bildhauer W i l h e l m L e h m b r u c k (1881—1919), dessen hochaufgeschossene, überlange Gestalten die Linienführung gotischer Plastiken im Gewände unserer Zeit noch einmal lebendig werden lassen. Sicherlich muß in diese Gruppe auch die große Graphikerin K ä t h e K o l l w i t z (1867—1945) gezählt werden, deren eigene düstere Seele im sozialen Milieu der Enterbten und Armen ihren künstlerischen Ausdruck fand, auch in ihr wird der Geist des Ostens lebendig, allerdings auf andere Weise als bei Barlach, dessen Totenbett sie erschütternd im Bild festgehalten hat. Nach dem ersten Weltkrieg begann die ein wenig jüngere
Generation der neunziger Jahre mit ihrem Werk die Nachhut im Kampf um die Malerei zu übernehmen. Diese Jungen hatten den Weltkrieg zum Teil erlebt, sahen nun mit wachen Augen die Wirren der Revolutionsjahre und der Nachkriegszeit. Sie waren der heftigen Gefühlsausbrüche der expressionistischen Kunst müde und strebten wieder der Wirklichkeit zu. Diese neue Wirklichkeitsliebe wurde von einem Gefühl der Anklage gegen die Schuldigen getragen. Sie prangerten die sozialen Mißstände, die Verkommenheit der großen Städte und eine bis ins Mark verdorbene Gesellschaftsschicht an. G e o r g e G r o ß (1893) verstand es, Inhalt und Form so ineinander zu verschmelzen, daß der bloße Anblick seiner satirischen Zeichnungen genügte, um den beabsichtigten widerlich-abstoßenden Eindruck hervorzurufen. Das Können dieses Zeichners ist groß, aber seinem Werk fehlt jeder Funke von Liebe. O t t o D i x (1891) ist nicht von dieser eindringlichen, einheitlichen Formensprache. Er ist im Grunde seines Herzens Romantiker. Das Erlebnis der Materialschlachten hatte in ihm den Kämpfer für die Menschlichkeit wachgerufen. Nach
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eingehendem Studium des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald, dessen großartige Technik ihn beeindruckte, malte er sein erschütternd anklagendes Tryptichon (ein dreigeteiltes Werk nach der Art mittelalterlicher Flügelaltäre) vom „Krieg". Selten ist das Grausen der modernen Schlacht, aber auch echte Kameradschaft so eindringlich dargestellt worden. Immer wieder werden Menschen vor diesen Bildern stehen und erkennen: Das ist der Krieg! — Dix malt heute idyllische Träume, er kämpft nicht mehr. Nur zuweilen brechen die Dämonen noch in sein Reich ein, wenn er etwa die „Sieben Todsünden" darstellt, wie es einst die christlichen Maler des Mittelalters, voran etwa Hieronimus Bosch, taten. In der Holzschneidekunst kehrte der Flame F r a n z M a s e r e e l (1889) zu einer gemäßigten, durchaus gegenständlichen Ausdruckskunst zurück, die in Bilderromanen, d. h. Holzschnittbänden, ihre Krönung fand. Was von den frühen Arbeiten von Dix gesagt wurde, gilt auch für die Bilder von. G e o r g S c h r i m p f (1889—1938), während F r a n z R a d z i w i l l (1895) moderne Sachlichkeit mit Motiven altdeutscher Meister verbindet. — Manche dieser Maler gleiten unmerklich ins Reich der Phantastik hinüber, das die S u r r e a 1 i s t e n für sich beanspruchen. Der französische Dichter Guillaume Apollinaire hatte das Wort Surrealismus für eines seiner Theaterstücke erstmals gebraucht, und es wurde seitdem zum Sammelnamen für alles Unklare, Unlogische, Phantastische. Die Surrealisten sehen in ihren Bildern ein Mittel zur Berauschung und Benebelung, wie der Giftsüchtige zur Opiumpfeife greift, um sich in eine märchenhafte Welt hinüberzuträumen. Wie dem Schläfer im Traum mit überscharfer Deutlichkeit die unsinnigsten Erlebnisse widerfahren, weil das Unterbewußtsein aus seinen Tiefen die verschiedensten Bildvorstellungen als Symbole unserer Triebe und Begierden, schillernden Blasen gleich, auftauchen und sich zu einem wirren Durcheinander verbinden läßt, so wirken die surrealistischen Bilder wie der Schausaal des Irrsinns. Der Deutsche M a x E r n s t (1891), die Spanier S a l v a d o r D a l i (1904) und J o a n M i r o (1893) sind wohl die bekanntesten Vertreter dieser Gruppe, die gegen das klare, logische Denken und damit gegen eine gesunde seelische Welt Sturm läuft. Gewiß war die Kraft der Vernunft im 18. und 19. Jahrhundert lange überschätzt worden, und die vernünftelnden Aufklärer hatten nur die eine Seite des Menschen erfaßt, gewiß hatte der Arzt S i g m u n d F r e u d (1856—1940), der Begründer einer vertieften Seelenlehre, der Psychoanalyse, mit Recht auf die machtvollen Unterströme in der menschlichen Seele hingewiesen. Was hier aber in der Kunst geschah, das war zweifellos der Ansturm gegen die Vernunft schlechthin und damit gegen das Menschliche überhaupt. „Gedanken, 28
Logik, Ordnung, Wahrheit, Vernunft führen uns alle in das Dunkel des Todes. Sie wissen nicht, wohin uns der Haß gegen die Logik treiben kann!" So sprechen es die Surrealisten selbst aus. Eine Abart dieser Richtung ist die „Montage", die, mit Geist und Witz ausgestattet, eine spielerische und nicht unnütze Betätigung, aber nicht mehr, ist.
Das„Bauhaus" Die Hauptentwicklung der Malerei wurde von anderen Männern vorangetragen, die z. T. die Tradition des Münchener „Blauen Reiters" fortführen. W a l t e r G r - o p i u s gründete im Jahre 1919 in Weimar das „B a u h a u s" und gewann bald namhafte moderne Maler zu Mitarbeitern: den 1871 als Sohn deutscher'Eltern in New York geborenen L y o n e l F e i n i n g e r , den Schweizer P a u l K l e e (1879—1941), den Russen W a s s i l y K a n d i n s k y (s. o.), den Deutschen O s k a r S c h l e m m e r (1888—1943), den Ungarn L a s z ' l o M o h o l y - N a g y . Jeder dieser Lehrer war bereits eine fest geprägte künstlerische Persönlichkeit; das Ziel ihrer Zusammenarbeit bestand darin, die Einheit aller Arten der bildenden Kunst wieder herzustellen, wie sie im Mittelalter bestanden hatte. Die Architektur als Mutter der Künste sollte der Plastik und Malerei, dem Kunsthandwerk, der Töpferei und Weberei, den Schreinern und Dekorateuren wieder Halt geben. Diese Gedanken waren an sich nicht neu, denn schon die Künstler des „Deutschen Werkbundes" und des „Jugendstils" hatten etwa zwanzig Jahre vorher etwas Ähnliches versucht, auch sie wollten die einzelnen Kunstarten aus ihrer Isolierung wieder stilvoll vereinen. Was die Bauhauskünstler aber von ähnlichen Versuchen unterschied, war die Art, wie sie diese Einheit erreichen wollten: Sie verzichteten auf jedes aufgeklebte Ornament, das den Jugendstil so überladen hatte, sie wollten zur reinen, klaren Forin des Bauganzen, der Innenräume und ihrer Ausstattung zurückkehren. So entstand die bekannte Glas-Beton-Architektur, der stählerne Stuhl usw. Deutlich sind hier noch Cezannes Gedanken von der Urform zu erkennen, die freilich zu Experimenten im luftleeren Raum überzüchtet wurden und immer stärkeren Widerspruch hervorriefen. Zu Weihnachten 1924 mußte sich das Bauhaus in Weimar auflösen und öffnete ein Vierteljahr später in Dessau seine Pforten, hier wurde der große Bau errichtet, der noch heute, nachdem er 1933 seine Tore schließen mußte, etwas verlassen am Rande der Stadt sich erhebt. 1930 waren von 170 Studenten 140 Deutsche, 8 Schweizer, 4 Polen, 3 Tschechen, 3 Russen, 2 Amerikaner, 2 Letten, 2 Ungarn, 1 Österreicher, 1 Holländerin, 1 Türke, 1 Perserin, 1 Palästinenser, 1 Staatenloser als Studenten eingeschrieben. 29
Im gleichen Jahr ging der Direktor Hannes Meyer mit einer Schar seiner Schüler nach Moskau, von dort später nach Mexiko. Walter Gropius lehrt heute in den USA, Mies van der Rohe, einer der Lehrer, in Chicago, Moholy-Nagy gründete 1937 in Chicago das „Neue Bauhaus", andere Lehrer sind gleichfalls durch die ganze Welt gezogen. So zeigt sich im Bauhaus noch einmal die große Einheit der modernen Kunst als Ausdruck des modernen europäischen Menschen und seines Geistes. Heute stehen wir den Gedanken des Bauhauses doch mit Abstand gegenüber, denn die Bauhauskunst hatte eines zur Voraussetzung, was uns Heutigen fehlt: Eine finanzielle Großzügigkeit, eine solide wirtschaftliche Lage, einen gewissen Luxus. Trotz ihrer betonten Einfachheit i*t sie an die oberen Gesellschaftsschichten gebunden geblieben. Beispielhaft wird jedoch immer ihr Bestreben bleiben, die bildenden Künste wieder zu vereinen. Der Wohnstil unserer Zeit hat von ihnen viele Anregungen übernommen. Alle Künstler, vor allem die Jüngeren, die die „Moderne Kunst" nicht selbst mit begründet haben, zu erwähnen, das ist nicht meine Aufgabe. Es wären noch viele zu nennen. Hinzu müßten die Namen der französischen, italienischen, spanischen, eben aller Künstler kommen, deren Bilder „modern" sind; aber die magst Du Dir selbst einmal vertraut machen. Da ist vor allem immer wieder der Name des einen, der wie ein Markstein im Felde liegt: Pablo Picasso. Er ist zum Beispiel des modernen Malers schlechthin geworden, der stolz von sich sagt: „Die Natur besteht, aber meine Werke bestehen auch!" Picasso strebt heute den Gefilden einer abgewogenen, gegenständlichen Malweise zu. Aber der Zweifel an der Richtigkeit dieses Weges, dieser Wegstrecke, scheint immer wieder in ihm wachzuwerden: denn von Zeit zu Zeit entstanden noch neben diesen eingängigen Arbeiten Bilder der chaotischen Verstümmelung. So spricht aus seinen Bildern besonders deutlich.die Zwiegesichtigkeit des modernen Menschen.
Picasso und die anderen Altmeister der modernen Kunst stehen heute an der Schwelle des Greisenalters. Schon mancher ist abberufen worden. Viele der noch Lebenden sind längst mit professoraler Würde bekleidet, ihre einst so revolutionäre Kunst ist, wie man so sagt, „akademisch" geworden. Dürfen wir trotzdem noch von „moderner" Kunst sprechen, da doch dem Worte „modern" stets der Atem jüngsten Geschehens anhaftet? Die Jugend — und damit meine ich Dich und die 20- bis 30jährigen — scheint diese Kunst der Älteren nicht mehr recht nacherleben zu können, das läßt sich aus den Gesprächen immer wieder entnehmen. 30
Viele bedrückt die Entzweiung von Kunst und Welt, sie suchen nach einer „schönen" Kunst, die zugleich wahr und tief sein müßte. Noch warten die Fragen nach dem Verhältnis von Künstler und Außenwelt einer überzeugenden Beantwortung; auf der einen Seite vollzieht sich die Wiedergewinnung der Natur, aber mit neuen Mitteln, auf der anderen Seite vertreten die „Gegenstandslosen" nach wie vor mit Nachdruck die Berechtigung einer abstrakten Ideen- und Gleichniskunst, wenn auch manche unter ihnen sie nur für eine von vielen Möglichkeiten der künstlerischen Arbeit halten. Vielleicht wird die neue Generation hier weiterkommen. Bis dahin bleiben die Werke der Älteren „modern". Dann aber werden sie ein Kapitel abendländischer Kunst ausmachen, das von Verfolgung und Erfolgen, von vielen Irrtümern, aber auch von manchem begnadeten Werk berichtet. Damit, mein lieber Freund, glaube ich, Dir das Wichtigste angedeutet zu haben.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Lux-Lesebogen
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(Kunst)
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ORION
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berichtet in einer Sprache, die jeder versteht: Von den Geheimnissen des Weltalls, seiner Sterne und Atome. Von den Grundlagen und den neuesten Leistungen der Technik • Von den Gesetzen der Physik und Chemie • Von der Harmonie im Bau der Kristalle. Vom Werden der Erde und ihrer Landschaften • Vom Zauber unserer Heimatnatur und ihrer Geschöpfe. Vom Lebenswunder in Pflanze und Tier • Vom gesunden und kranken Menschen • Von der Schönheit fremder Länder und den Kulturen fremder Völker. Prächtige Ausstattung • Vielfarbige Illustrationen Durch alle Buchhandlungen zu beziehen. Jeder ORION-Abonnent ist ohne Mehrkosten Mitglied der ORION-VEREINIGUNG und genießt deren vielseitige Vergünstigungen. Probeheft kostenlos vom VERLAG SEBASTIAN LUX MURN AU-MÜNCHEN-INNSBRUCK- ÖLTEN