Gertrud Brücher Pazifismus als Diskurs
Gertrud Brücher
Pazifismus als Diskurs
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Gertrud Brücher Pazifismus als Diskurs
Gertrud Brücher
Pazifismus als Diskurs
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15953-9
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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Der Pazifismus als historisches Phänomen
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Typologien des Pazifismus
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Kriegsphilosophischer Pazifismus 3.1 Pazifismus und politischer Realismus 3.1.1 Der Friede als Mittel und als Zweck 3.2 Pazifismus und bellum-iustum-Lehre 3.2.1 „Humanitäre Interventionen“ oder „gerechte Kriege“. 3.2.2 Die Diskreditierung der bellum-iustum-Lehre durch ihre Schwachpunkte 3.2.3 Die Vermeidung eines ethikfreien Raums durch die bellum-iustum-Lehre 3.2.4 Kriegsbegrenzung durch die bellum-iustum-Lehre 3.2.5 Zum Anachronismus der bellum-iustum-Lehre 3.3 Tötungstabu oder Tötungsverbot 3.4 Zur Leistungsfähigkeit von Kriegsphilosophien
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Friedensphilosophischer Pazifismus 4.1 Rechtspazifismus 4.1.1 Metamorphosen des Rechtspazifismus: das Weltbürgerrechtsmodell 4.1.2 Die zeitliche Entparadoxierung der Zweck/MittelSymmetrie 4.1.3 Zweck/Mittel-Symmetrie als Ergebnis von Lernprozessen 4.1.4 Zum Verlust der moralischen Funktion des Lernbegriffs durch den Begriff negativen Lernens 4.2 Atompazifismus 4.2.1 Metamorphosen des Atompazifismus: Weltgewaltmonopol 4.2.2 Die soziale Entparadoxierung der Zweck/Mittel-Symmetrie 4.2.3 Zur Pathologisierung der Militanz durch den Pazifismus 4.2.4 Mentalitätstheoretische Argumente für den Pazifismus 4.2.5 Von „privatisierter Gewalt“ zum globalen Konfliktsystem 4.2.6 Atompazifistisches Mittel: das kollektive Attentat
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Inhaltsverzeichnis Postmoderner Pazifismus 5.1 Historisch-gesellschaftliche Kontextverschiebungen des pazifistischen Diskurses 5.2 Postmoderne Tendenzen der Zwischenkriegszeit 5.3 „Politischer Pazifismus“ 5.3.1 Gesellschaftsstrukturelle Rahmenbedingungen 5.3.2 Marginalisierung des kriegsphilosophischen Pazifismus durch die „Neuen Kriege“ 5.4 Entdifferenzierung und Kampf gegen privatisierte Gewalt Paradoxer Pazifismus 6.1 Moralphilosophische Axiome des Pazifismus 6.1.1 Ersetzen der ethischen durch psychologische Grundlagen des Pazifismus? 6.1.2 Zur Dialektik von Sicherheit und Legitimität 6.1.3 Pazifisten und Terroristen 6.2 Probleme politisierter Religion 6.2.1 Die Instrumentalisierung der Liebe 6.2.2 „Civil disobedience“ und die „Privatisierung der Moral“ 6.3 Säkularer und religiöser Pazifismus im Vergleich 6.3.1 Die Konzeption der „sozialen Verteidigung“
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Schlussbetrachtung
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Literaturnachweis
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Einleitung
Der Pazifismus ist als Lehre und als Bewegung ein Phänomen der abendländischen Moderne. Mit Hilfe massenwirksamer Aktionen werden Chancen genutzt und Probleme wahrgenommen. Beide Komponenten, der Lehr- und der Bewegungscharakter, stellen nicht nur für Geschichtswissenschaft, Soziologie und Politologie ein interessantes Aufgabenfeld der Analyse dar. In besonderer Weise bedarf es philosophischer Bemühungen um eine Klärung von Begriffs- und Methodenverständnis, die Licht in die Heterogenität des Phänomens bringen könnte: Denn nach wie vor gelten höchst widersprüchliche Positionen als „Pazifismus“. Der Streit um die Frage, wer sich zu Recht oder zu Unrecht Pazifist nennt, gehört zum Phänomen untrennbar dazu. Wo einander die Zugehörigkeit nicht streitig gemacht wird, dort sucht man der Heterogenität mit einer Subdifferenzierung in positiv und negativ, radikal und gemäßigt, aktiv und organisatorisch usw. Herr zu werden. Obgleich auf diese Weise an der gemeinsamen Dachbezeichnung „Pazifismus“ festgehalten werden kann, führt eine solche Art der Kategorisierung unweigerlich zu Widersprüchen, die dem Anliegen der Bewegung, den Frieden mit dem urdemokratischen Instrument der „levée en masse“ zu fördern, zu sichern oder zu erzwingen, abträglich ist. Die vorliegende Studie macht es sich zur Aufgabe, die realen Chancen politischer Wirksamkeit aus dem komplizierten Ineinander von theorie- und methodengeleitetem Selbstverständnis und einer Plausibilität herauszuarbeiten, die sich dem außenstehenden Beobachter darstellen. Um dies möglich zu machen, bedarf es eines Verfahrens, das erlaubt, die Heterogenität und Komplexität des Pazifismus nicht als einen Defekt zu betrachten, der auf die „Blauäugigkeit“ und „Naivität“, oder auf mangelnde friedenswissenschaftliche Informiertheit der „Aktivisten“ zurückzuführen ist. Die Uneinheitlichkeit spiegelt vielmehr die besonderen Bedingungen, unter denen in der Moderne Politik gemacht werden kann. Im Zentrum dieser Bedingungen, die dem Pazifismus als Lehre und als Bewegung gesamtgesellschaftliche Relevanz verschaffen, steht die theoretisch-praktische Schwierigkeit moderner Gesellschaften, das Tötungsverbot in Zeiten hinüberzuretten, die absolute Verbote nur noch als positivrechtliche, änderbare Normen anzuerkennen bereit ist. Dieses grundsätzliche, dieses wahrhafte Strukturproblem, lässt sich durch ein zweigleisiges Verfahren angehen, mit dem Was-Fragen von Wie-Fragen unterschieden werden. Bei der Was-Frage geht es um die Beschreibung der strittigen politischen Probleme, der konkreten Positionen, die angesichts von kriegerischen Konflikten – heute Golf-, Kosovo-, Afghanistan-, Irakkrieg – eingenommen werden. Hier lässt sich beobachten, wie ein und dieselben Personen im Angesicht konkreter Konflikte unterschiedliche, sogar diametrale pazifistische bis nicht-pazifistische Positionen beziehen. Um verstehen zu können, dass solche Positionswechsel nicht möglicherweise unbe-
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Einleitung
wussten bellizistischen Neigungen, sondern der dilemmatischen, paradoxen Natur der Friedensproblematik selbst entspringen, muss eine zweite Ebene der Beobachtung berücksichtigt werden. Diese konzentriert sich auf eine Beobachtung zweiter Ordnung, was bedeutet, die Schemata, die Unterscheidungen zu beobachten, mit deren Hilfe Aktivisten des Pazifismus ihre Sichtweise über mögliche Chancen und Probleme entfalten. An erster Stelle ist die Unterscheidung von (Friedens-)Zweck und (Friedens)Mittel zu nennen. Heinz von Foerster (1985) hat die Frage der Erkenntnis in die Kybernetik eingeführt, was für friedens- und konfliktbezogenen Forschungen berücksichtigt werden muss, weil diese in ihren grundlagenwissenschaftlichen Studien an älterer Rückkoppelungs-Kybernetik und an strukturfunktionaler Systemtheorie orientiert sind. Die neuere „Kybernetik zweiter Ordnung“ stellt anders als die ältere Kybernetik nicht die Mechanik eines Vorgangs, sondern vielmehr die Beobachtung von Beobachtungsweisen ins Zentrum. Mit dieser veränderten Perspektive ist sie für das spezifische Erkenntnisanliegen des Pazifismus deshalb angemessen, weil von der Methodik her der Andere und Andersdenkende anerkannt sind, bevor sich ein Beobachter dazu entschließt. Das kommt nicht nur dem Diskurs zwischen Pazifisten und Nicht-Pazifisten zugute, sondern auch dem innerpazifistischen Diskurs. Im empirisch-analytischen ebenso wie im älteren kybernetischen und systemtheoretischen Verfahren, deren sich zweckrational argumentierende Pazifismen bedienen, ist der Andere ein (Erkenntnis)Objekt, das über die Begründung von besonderen (Menschen)-Rechten in den Rang eines Subjekts gehoben werden soll. Die Frage, inwieweit die Lebensrechte des Anderen schon auf methodologischer Ebene einbezogen sind, ist deshalb von erstrangiger Bedeutung, weil der Pazifismus als Lehre und als Bewegung in einer besonderen Weise von der Sorge um die Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Mittel bestimmt ist. Diese Sorge entledigt sich die Politik allzu leicht unter Berufung auf den Unterschied zwischen einer „bloß“ „gesinnungsethischen“ und einer zu bevorzugenden „verantwortungsethischen“ Herangehensweise an Konflikte und Krisen. Wir werden diese „Sorge um die Verhältnismäßigkeit“ in den Mittelpunkt stellen, um an ihr Typen des Pazifismus herauszuarbeiten.
Struktur des Lehrbuches Im Anschluss an die historische und typologische Einordnung des Pazifismus werden vier Varianten unterschieden: eine kriegsphilosophische, eine friedensphilosophische und eine postmoderne Variante, wobei die beiden letzten eng miteinander verbunden sind. Im Zusammenhang mit den Problemen der globalisierten Welt wird schließlich einer paradoxen Spielart des Pazifismus besondere Bedeutung zukommen. 1. Wenn der erste zu behandelnde Idealtypus als „kriegsphilosophischer“ bezeichnet wird, so ist damit nicht eine halbherzige Position gemeint, die mit Hilfe pazifistischer Slogans für kriegerische Projekte wirbt. Die Typisierung verdankt sich vielmehr einer Analyse von pazifistischen Haltungen, bei denen das Problem der
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verhältnismäßigen Wahl von Mitteln im Vordergrund steht und nicht von der Überzeugung marginalisiert wird, es ließen sich gesellschaftliche Verhältnisse schaffen – Recht, Demokratie, gerechte Verteilung – die Einzelne und Staaten erst gar nicht zu diesem letzten und brutalsten Mittel militärischer Gewalt greifen lassen. Wird konzediert, dass trotz aller Bemühungen Ultima-ratio-Situationen immer wieder auftreten werden und der damit verbundene Griff zur Waffe unvermeidlich ist, so müssen Kriege als Teil der Wirklichkeit einbezogen werden. Diese „kriegsphilosophische“ Sicht lässt sich ihre Skrupel in Bezug auf die verwendeten Mittel auch dann nicht ausreden, wenn das Negative, gegen das der Pazifismus seine Aktionen mobilisiert, nicht „Krieg“, sondern „humanitäre Intervention“ oder „Antiterrorkampf“ oder „Peace Building“ oder „Increase Democracy“ heißt. 2. In geringerem Maße treibt diese Sorge einen hier als „friedensphilosophisch“ bezeichneten Pazifismus um. Das Problem der Verhältnismäßigkeit für den Frieden eingesetzter Mittel tritt in diesem weniger scharf zu Tage und zwar aus dem Grund, weil die Bedeutung des Verhältnisses von (Friedens-)Mittel und (Friedens-)Zweck durch die übergeordnete Bedeutung der Unterscheidung von Theorie und Praxis in den Hintergrund rückt. Diese Position orientiert sich an friedenstheoretischen Entwürfen, die die Konturen einer „besseren“ Gesellschaft beschreiben, in der der Griff zur Waffe unwahrscheinlich bis unmöglich wird. Sucht man diese beiden Idealtypen ideengeschichtlich einzuordnen, so erkennt man unschwer, dass der erste Typus an das Problembewusstsein der Vormoderne anknüpft und der zweite an das der Aufklärung. Die Studie soll zeigen, dass die Aktualisierung eines Problembewusstseins nicht schließen lässt, dass im einen Fall ein vormodernes und im anderen ein modernes Verständnis von Pazifismus vorliegt, denn die Probleme bleiben und nur das Bewusstsein derselben verändert sich im Spiegel zeitgemäßer Semantiken. 3. Anhand pazifistischer Diskurse kann gezeigt werden, dass nach dem Ende des Ost/West-Konflikts überkommene Etikettierungen obsolet sind. In Reaktion auf die weltpolitischen Veränderungen zeichnet sich ein eigentümliches Verschwimmen jener Unterschiede ab, die für die ersten beiden Idealtypen bestimmend gewesen waren. Dieses im Entstehen begriffene Neue soll im Folgenden als „postmoderner Pazifismus“ beschreiben werden. In diesem verschmelzen pazifistische und bellizistische Positionen mitunter zu einer Einheit. 4. Als Ausweg und Ausblick erscheint ein „paradoxer Pazifismus“ als letzter Idealtypus, der von vornherein so beschaffen ist, dass er gegen die in den übrigen pazifistischen Positionen angelegten Enttäuschungsgefahren immun ist. Die Reflexionsebene verstehend zugänglich zu machen, auf der eine solche Immunität bewirkt und gegen alle Widerstände durchgehalten werden kann, ist ein zentrales Ziel der Studie.
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Einleitung
Lehr- und Lernziele Die Studie sucht ein Verfahren der Beobachtung von Diskursen am Gegenstand „Pazifismus“ exemplarisch zu machen. Dazu gehört die Sensibilisierung für Verschiebungen im gemeinten Sinn von überkommenen Begriffen, die Friedensdiskurse zum kriegstreibenden Geschehen werden lassen. Die begriffskritische sozialphilosophische Herangehensweise soll eine distanzierte Sicht auf Zeitströmungen möglich machen und zwar durch vergleichende Analysen, die ein waches Bewusstsein für historische Parallelen bestimmter Diskurse fördern, ohne sich aus diesen Einsichten vorschnell zu politischen Handlungsempfehlungen verleiten zu lassen. Dabei wird eine differenztheoretische Methode bevorzugt, die sich von der dialektischen darin unterscheidet, dass das verbindende Dritte von Wert und Antiwert nicht als Synthese idealisiert, sondern als Beobachterposition relativiert wird. Diese „nachideologische“ Variante der Dialektik speist sich aus einer Vielzahl von Theorierichtungen, der Systemtheorie, dem Konstruktivismus, der Second Order Cybernetik, dem Poststrukturalismus und der mathematischen Logik der Form. Ein Lernziel besteht darin, pazifistische und pazifismuskritische Texte auf eine Weise zu lesen, die es erlaubt, die beiden Analyseebenen der Was- und der WieFragen zugleich als getrennte und als miteinander verwobene im Auge zu behalten. Bei konkreten Texten gilt es demnach eine Verbindung herzustellen zwischen dem Selbstverständnis erklärter Pazifisten/innen, der Beschreibung von Zielen, Aktionsformen und ethischen Prinzipien und der pazifismuskritischen Außensicht, der Fremdbeschreibung. Diese Verbindung soll in der vorliegenden Studie als philosophisch interessant nicht dort entfaltet werden, wo es um bloßes Missverstehen, um Freund/Feind-Denken oder um eine gezielte Diffamierung Andersdenkender geht. Das Lernziel soll hingegen darin bestehen, Momente der Fremdbeschreibung herauszuarbeiten, die auf einer Handhabung bestimmter Unterscheidungen und Kategorien beruhen. In besonderer Weise lässt sich dies am Zweck/Mittel-Denken aufzeigen und zwar in Form einer „Immer wenn …, dann …“-Konklusion: Wenn pazifistische Ziele mit zweckrationalen Argumenten gestützt werden, dann gerät der nichtgewaltsame Konfliktaustrag in eine Abhängigkeit von politischer Situationsdefinition und politischen Kalkülen. Die vergleichende Analyse soll abgerundet werden, indem diesem „okzidentalen“ Pazifismusdiskurs ein „orientalischer“ gegenübergestellt wird, der sich anhand der Gandhi-Bewegung beschreiben lässt.
Wichtige Literatur zum Pazifismus Bleisch, Barbara/Strub Jean Daniel (2006), Pazifismus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis, Bern – Stuttgart – Wien. Holl, Karl (1988), Pazifismus in Deutschland. Neue Historische Bibliothek, Frankfurt am Main.
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Rajewsky, Christiane/Riesenberger, Dieter (1987), Wider den Krieg. Große Pazifisten von Kant bis Böll. Beck’sche Reihe, München. Röttgers, Kurt (1989), Art. „Pazifismus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 7, Basel, S. 217-229 Saner, Hans (1982), Formen des Pazifismus, aus: Hans Saner, Hoffnung und Gewalt. Zur Ferne des Friedens, Basel, S. 113-132. Steinweg, Reiner (1977) (Hg.), Friedensanalysen. Für Theorie und Praxis 4. Schwerpunkt: Friedensbewegung. Vierteljahresschrift für Erziehung, Politik und Wissenschaft, Frankfurt am Main. Steinweg, Reiner (Hg.) (1982), Die neue Friedensbewegung. Analysen aus der Friedensforschung, Frankfurt am Main.
Literatur zur Methodik Luhmann, Niklas (2006), Einführung in die Systemtheorie, hrsg. Von Dirk Baecker, Heidelberg. Röttgers, Kurt (2002), Kategorien der Sozialphilosophie, SOPHIST (Sozialphilosophische Studien), Berlin.
1 Der Pazifismus als historisches Phänomen
Die Anfänge der pazifistischen Idee und Praxis werden häufig mit dem christlichen Liebesgebot in Verbindung gebracht. Dieses erstreckt sich auf die Beziehung zum Feind und scheint infolgedessen mit einem Kriegsdienst nicht vereinbar.1 Sie werden aber auch sehr viel früher zurück datiert und im asiatischen Kulturraum verortet, wo der indische König Aschoka (272-231 v. Chr.) sich nach großen Eroberungsfeldzügen zum Buddhismus bekannt und ganz dem Prinzip der Gewaltlosigkeit verschrieben hatte. Wenn sich die vorliegende von einer solchen allgemeinen Studie über die Entwicklung der Friedensidee und -praxis unterscheiden soll, dann muss sie in dieser breiten Materie die Linien herausarbeiten, die den Pazifismus als Gegenentwurf und Gegenbewegung zum Bellizismus haben entstehen lassen. So tritt erst ein Friedensengagement als „pazifistisch“ in Erscheinung, als tradierte heroische Tugenden, die am Feind erprobt werden sollen, durch die Politisierung, Demokratisierung und Technisierung des Krieges zum gesamtgesellschaftlichen Problem geworden waren. Mit der französischen Revolution und der aus ihr erwachsenen modernen Demokratie, geht jene fundamentale Transformation auch des Kriegswesens einher, die Umstellung von Kabinettskriegen zur nationalen Mobilisierung ganzer Völker, aktenkundig in dem 1793 erlassenen Gesetz der Levée en masse. Dazu bedurfte es einer kriegerischen Mentalität als motivationaler Ressource, die prinzipiell nur auf dem Wege der Verteufelung des Gegners am Leben erhalten werden kann. Bereits im Frankreich der Revolutionszeit bringt dieses neue plebiszitäre Politikverständnis jedoch nicht nur eine bellizistische Gesinnung hervor. Neben der militaristisch-erobernd-diktatorischen sucht sich eine liberal-pazifistisch-brüderliche Variante des politischen Paradigmas zu behaupten.2 Die Differenz deckt sich mit einem internationalistischen Revolutionsprogramm und einer die nationale Idee vorantreibenden Interpretation durch das Besitzbürgertum. Nach dem ersten Weltkrieg wird dieser Konflikt zwischen dem pazifistischen Internationalismus des Jakobinertums und dem militaristischen Nationalismus Napoleons von der russischen Revolution als Bürgerkrieg zwischen Bolschewisten und Menschewiken weitergeführt. Damit sind bereits die entscheidenden politikrelevanten Schemata genannt, die bis 1989 Orientierungsfunktion gehabt haben mochten und seitdem deutlich im Rückgang begriffen sind, um einem nur in Umrissen erkennbaren Neuen zu weichen. 1
Zum Kriegsdienst der Christen in der Kirche des Altertums siehe Camphausen (1953: 255ff.). Zum Konflikt zwischen pazifistischer Bergpartei und militaristischer Gironde siehe Hintze (1928: 269f.). 2
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Neunzehntes und zwanzigstes Jahrhundert sind von dieser Grunddifferenz durchzogen. Infolge der Befreiungskriege und deren mythologischen Überhöhung entwickelt sich in Europa eine Kultur militärischer und kriegerischer Werte. Nicht länger als Ultima-ratio-regis, als letztes Mittel in einem Rechtskonflikt, sondern auch als vorletztes Mittel in einem Machtkonflikt, als „eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel“, gilt der Krieg nach der berühmten Definition des preußischen Generals Carl von Clausewitz (1780-1831). „Expansion und Unterwerfung bilden also die entscheidenden Kriegsmotive. In ihnen zeigt sich die veränderte Funktion des kriegführenden Staates. Die europäischen Gesellschaften befinden sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf dem Weg zu industriellen Wirtschaftsgesellschaften. Dem Staat kommt nicht nur die Aufgabe zu, durch die Garantie des Eigentums und eine begleitende Sozialpolitik im Innern die Produktionsformen und Produktionsbedingungen zu sichern, sondern auch nach außen den Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten zu erschließen. Expansion und Streben nach Überlegenheit ordnen sich als politische Ziele in diese Entwicklung zur industriellen Wirtschaftsgesellschaft.“ (Huber/Reuter 1990: 97). Die Kriegsbegeisterung bleibt allerdings nicht unwidersprochen. Seit 1915 formiert sich eine regelrechte Friedensbewegung, die durch Goya, Daumier und schließlich Tolstojs „Krieg und Frieden“ inspiriert wird.3 Die Einstellung zur Gewalt ist bei den verschiedenen pazifistischen Richtungen jedoch von Beginn an ambivalent. Bereits bei den französischen Jakobinern und später insbesondere bei den russischen Bolschewiken beschränkt sich die Ablehnung der Gewalt nur auf das ius ad bellum, das mit dem Herrschaftsanspruch von Aristokratie und Bürgertum verbunden ist. Das Dilemma widerstreitender Rechtsansprüche dem das mittelalterliche Europa mit der Lehre vom gerechten Krieg begegnet, wird in der Moderne als Widerspruch zwischen „Altem und Neuem“ (Les anciens et les modernes), zwischen „Fortschrittlichem und Rückschrittlichem“, zwischen „Progressiven“ und „Konservativen“, zwischen „nationalistischer und internationalistischer Ideologie“ zu einer Frage der Macht. Nicht nur die ideologische Entzweiung, auch die ambivalente Haltung, die innerhalb des Pazifismus zur Gewalt eingenommen wird,4 spiegelt die grundlegende Verunsicherung des modernen Menschen in Bezug auf die Quelle, aus der moralische Maximen geschöpft werden könnten. Noch in der Aufklärung wird diese Quelle im Naturrecht gesucht, das in dem Maße, in dem dieses zunehmend als Vernunftrecht interpretiert wird, sich vom kosmologischen Denken der scholastischen Tradition löst. Daneben gewinnen geschichtsphilosophische Interpretationen an Gewicht, die das eschatologische Denken, die Heilslehre der christlichen Tradition, in eine säkulare Sprache 3 Siehe dazu Krippendorff (1985: 310). Zum anarchistischen Pazifismus Tolstojs siehe Kessler (1987: 96ff.). 4 Die Tatsache, dass ausgerechnet die Jakobiner, die mit Robbespierre in der Revolution die größten Gräueltaten begangen haben, für die pazifistische Richtung stehen, mag zu denken geben.
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übersetzen und im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts mit wissenschaftlichen Modellen, mit historischer Dialektik und Evolutionstheorie zu untermauern suchen. Beide Richtungen separieren und verabsolutieren Teile, die in der Zeit vor der Aufklärung zusammengedacht waren.5 Das in Vernunftrecht verwandelte Naturrecht sucht das Gute auf dem Wege der Anthropologisierung ursprünglich religiös verstandener Moral abzuleiten. Die Quelle, aus der Vorstellungen über das Gute geschöpft werden können, ist nicht mehr ein Unbekanntes (Gott), sondern ein schon Bekanntes oder wenigstens durch Erkenntnisfortschritte der Wissenschaften zunehmend bekannter Werdendes (Mensch). Der andere der verabsolutierten Teile ist die Säkularisierung der Eschatologie auf dem Wege der Historisierung der Moral. Das Ferment des Guten wird hier in Entwicklungsgesetze projiziert, die den Fortschritt des Menschengeschlechts sichern. Aus der anthropologisierten Moral erwächst die Vorstellung der Menschenrechte – ein unverbrüchliches Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Menschenrechte entsprechen einer säkularisierten Fassung der Gottebenbildlichkeit. Aus der historisierten Moral erwächst die Vorstellung, dass es „objektive“, überpersönliche Gesetze der Geschichte und der Natur sind, die zu befolgen für den Menschen aufs Ganze gesehen gut ist, auch wenn dieses Gute dem in kurzfristigen Interessen befangenen und „noch“ unzureichend gebildeten Menschen nicht unmittelbar einleuchten mag. Mit diesen Argumenten hat der pazifistische Internationalismus des achtzehnten Jahrhunderts im neunzehnten und zwanzigsten Menschenleben für das sozialistische Endziel gefordert. Der bellizistische Nationalsozialismus hat gegenüber den Zielen der Rasseveredelung, die aus den sozialdarwinistischen Gesetzen folgten, den Wert des menschlichen Lebens herabgesetzt. Und nach 1989 entfaltet der Liberalismus die in ihm angelegte Logik, wenn er Menschenleben für sog. „humanitäre Interventionen“ und Antiterrorkriege fordert, um die Menschheit dem Endziel von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten näher zu bringen. Auch wenn aus dem Vernunftrecht die Idee der Menschenrechte und aus dem Historismus die Idee des Kampfes für den Endsieg entsprungen sein mögen, so kann man doch nicht in der anthropologisierten Moral die Quelle der Gewaltlosigkeit und damit des Pazifismus und in der historisierten Moral die Quelle des Bellizismus sehen. Die durchaus ambivalente Einstellung von Immanuel Kant, der als der Vater des vernunftrechtlichen Friedensmodells gilt, zu Gewalt und Krieg,6 setzt sich heute 5
Siehe zur christlichen Philosophie und Theologie Leinsle (1995). Hier ist vor allem der 7. Satz in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) zu nennen: „Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe, wieder zu einem Mittel gebracht, um in dem unvermeidlichen Antagonism derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden; d.i. sie treibt, durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nach lassende Zurüstung zu denselben, durch die Not, die dadurch endlich ein jeder Staat … innerlich fühlen muß, … nämlich: aus dem gesetzlosen Zustand der Wilden hinaus zu gehen, und in einen Völkerbund zu treten …“ (Kant 1967: 47). Siehe zur Ambivalenz jetzt auch Hirsch (2004: 133ff.). 6
1 Der Pazifismus als historisches Phänomen
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in der Unsicherheit bezüglich der legitimen und effizienten Mittel fort, deren sich die „zivilisierten“ Staaten zur universalen Verwirklichung der Weltbürgerrechtsgesellschaft bedienen sollen und dürfen. Was uns hier interessiert, ist die bellizistisch-pazifistische Reaktion auf ein Verständnis, das nicht mehr in den Horizont der Unterscheidung von Immanenz (irdischen Frieden) und Transzendenz (himmlischen Frieden) gestellt ist, sondern ganz in die Immanenz geholt worden ist. Da Kant die entscheidenden Stichpunkte für das moderne Friedensdenken in zeitlicher („ewiger Friede“), in sachlicher (Selbstgesetzgebung) und in sozialer (Republik) Hinsicht gegeben hat, wird sich auch die Pazifismus/Bellizismus-Kontroverse in der Folgezeit mit diesem Ansatz auseinandersetzen. Es ist die Diskussion über den „Ewigen Frieden“, der zunächst in Deutschland und später ganz Europa die Idee erproben und an den politischen Ereignissen testen wird.7 Die Kritik an Kant kommt zunächst von theologischer Seite, die in der Verabsolutierung des irdischen Friedens und die in diesen gesetzten Hoffnungen „Gottvergessenheit“ und „Abgötterei“ erblickt.8 Zukunftsweisender aber wird jene Kritik sein, die ohne die theoretisch-säkularen Koordinaten des Kantischen Projekts abzulehnen, die inneren Widersprüche einer Konstruktion aufzeigt, die das Ideal immanent aus den Notwendigkeiten der Vernunft begründen soll. Friedrich Gentz (1764-1831)9 bezweifelt, dass sich ein verabsolutierter irdischer Friede im Sinne des ewigen Friedens in der Wirklichkeit bewähren kann, da drei Bedingungen, die gegeben sein müssten, kaum realisierbar scheinen: der Weltstaat, die absolute Trennung zwischen den Völkern und eine die ganze Erde umspannende Föderation. Das Scheitern der Pax Romana lässt nach Gentz den Gedanken an einen globalen Hegemonialfrieden nicht nur als unattraktiv, sondern auch als undurchführbar abweisen. Die von Kant als Friedensbedingung genannte Autarkie hemme auch den kulturellen Austausch und der Gedanke einer freien Föderation der Staaten kranke an dem Umstand, dass ein Gewaltmonopol fehlt.10 Diese mangelnden Verwirklichungschancen werden nun aber nicht zur Bestätigung der paradoxen Natur des Friedens und dessen Verankerung in der Differenz von Vollkommen und Unvollkommen angeführt, sondern dienen dem Nachweis, dass der Krieg zur Natur gehöre. Eine bellizistische Wendung kommt in diese Feststellung nun jedoch dadurch, dass im Sinne eines konsequenten Immanentismus mit diesem Natürlichen ein ontologisch-logisch-moralisches Faktum gemeint ist: Der Krieg ist darin 7
Diese Diskussion ist festgehalten in Dietze (1989). So Johann Valentin Emser: Die Abgötterey unseres philosophischen Jahrhunderts. Erster Abgott: Ewiger Friede, Mannheim 1779; J.V. Emser: Widerlegung des Ewigen Friedens-Projekts, Mannheim1797, nach Huber/Reuter (1980: 98). 9 Zu nennen ist besonders seine Schrift: „Über den ewigen Frieden“ von 1800, abgedruckt in: A./W. Dietze (1989: 377-391). Dessen Bedeutung zieht sich durch die gesamte Geschichte des Pazifismus; siehe dazu Holl (1988). 10 Siehe dazu Huber/Reuter (1980: 98f.). 8
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natürlich, dass er gegen seine Abschaffung resistent und insofern wirklich ist, als er zu etwas gut ist: Er bändigt die menschlichen Neigungen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) betrachtet den Krieg nicht nur um der sittlichen Gesundheit der Völker willen für notwendig, der „glückliche Krieg“ verhindere innere Unruhen und befestige die innere Staatsmacht. Der Friede habe hingegen ein Versumpfen der Menschen zur Folge.11 In dieser für die Entwicklung einer pazifistischen Idee und Praxis wesentlichen Umstellung von einer religiösen zu einer weltanschaulich-wissenschaftlich begründeten Moral tritt neben die erwähnte anthropologisierte und historisierte noch eine weitere, nämlich eine naturalisierte Moral. Diese ist in erster Linie auf den großen Einfluss zurückzuführen, den der Sozialdarwinismus seit dem neunzehnten Jahrhundert über Deutschland hinaus in Europa und den USA gewinnt. Der seit 1901 von Anhängern der Friedensbewegung übernommene Begriff „pacifism“ und „pacifistes“, mit dem die älteren Bezeichnungen „Friedensfreund“, „friend of peace“, „ami de la paix“ als Selbstbezeichnung in den Hintergrund treten, spiegelt den Versuch, das theoretische Anspruchsniveau der Friedensbewegung zu heben. Das Kunstwort „Pazifismus“ signalisiert eine wissenschaftlich-theoretische Fundierung des Friedensgedankens im Horizont der beiden diskursprägenden Richtungen der Zeit, dem Sozialismus und dem Sozialdarwinismus. Da die Lehre Charles Darwins von der Entstehung der Arten durch Auslese den Krieg als Instrument menschlicher Evolution positiv deuten ließ, schien diese Richtung Imperialismus, Militarismus und Chauvinismus zu rechtfertigen. Auch die Friedensbewegung sah sich genötigt, diese „wissenschaftlich erwiesenen“ Erkenntnisse in ihr Weltbild zu integrieren. Wie Karl Holl (1989: 138ff.) hervorhebt, erfasste dieses Denken beträchtliche Teile der Arbeiterbewegung,12 des humanitären Internationalismus und der internationalen Friedensbewegung. Das führte zur partiellen Legitimierung einer imperialistischen Politik, die mit dem Sieg kulturell überlegener Staaten die Voraussetzung für einen Frieden zwischen republikanisch verfassten Gemeinwesen im Sinne Kants versprach – so rechtfertigt Alfred H. Fried die Niederschlagung des Boxeraufstands in China im Jahre 1900. Daneben werden jedoch immer auch Zweifel in den Fortschrittscharakter von Kampf und Auslese laut. Um nicht der Unwissenschaftlichkeit bezichtigt zu werden, 11 Hier fällt dem Staat als „sittlichem Wesen“ die Aufgabe zu, der Natur diese Gewalt des Werdens und Vergehens abzunehmen und es wird „die Notwendigkeit zum Werke der Freiheit, einem Sittlichen erhoben; – jene Vergänglichkeit wird ein gewolltes Vorübergehen und die zum Grunde liegende Negativität zur substantiellen eigenen Individualität des sittlichen Wesens.“ (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts 1881, hg. und eingeleitet von Helmut Reichelt, Frankfurt-BerlinWien 1972, § 324, S. 285f.) 12 Sozialismus und Sozialdarwinismus sind nicht nur Theoriekonkurrenten, sondern treffen sich im übereinstimmenden Gedanken von Auslese und Ausscheidung, der beim Sozialismus an den Klassen exemplifiziert wird. Zu nennen ist besonders Friedrich Engels paradarwinistische Schrift über den „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ in: Marx/Engels (1968: 446ff.).
1 Der Pazifismus als historisches Phänomen
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durfte das evolutionistische Basisaxiom nicht in Frage gestellt, sondern nur statistisch unterlegte Vergleichsrechnungen aufgemacht werden, die andere als die von bellizistischen Sozialdarwinisten hochgehaltene Ergebnisse nahe legten. So meint der pazifistische Autor Iwan Bloch13 beweisen zu können, dass die militärstrategischen Erwartungen in schnelle Siege der hochgerüsteten Staaten enttäuscht werden müssten und statt ihrer lange und verlustreiche Abnutzungskriege wahrscheinlicher seien. Eine andere Wendung nimmt die Rezeption des Sozialdarwinismus bei Bertha von Suttner, deren Buch „Die Waffen nieder“ einen massenhaften Zulauf zur Friedensbewegung verzeichnen ließ. Als Aktivistin und Autorin sucht Bertha von Suttner den Fortschrittsoptimismus aus Darwins Dezendenzlehre (Abstammungslehre) in der von Ernst Haeckel popularisierten Version für den Pazifismus fruchtbar zu machen. Pazifistisch gewendet führt die Höherentwicklung im Rahmen eines gesetzmäßigen Prozesses zu einem „Edelmenschentum“. Diesem gelingt es eine Gesellschaft zu vollenden, in der privates Glück, soziale und politische Gerechtigkeit im Frieden kulminieren. Gegenüber dieser „säkularen Humanitätsreligion“ (Holl 1989: 140) baut die wissenschaftliche Richtung des „organisierten“ oder „revolutionären Pazifismus“ von Alfred H. Fried weniger auf das Argument moralischen Fortschreitens, vielmehr rückt das agonale Prinzip des sozio-ökonomischen Fortschritts in den Vordergrund. Entscheidend ist für unsere Rekonstruktion des pazifistischen Diskurses unter einem begriffskritischen philosophischen Aspekt, dass die genannten theoretischen Grundorientierungen von aufgeklärtem Humanismus, von Sozialismus und Sozialdarwinismus die Orientierungsmarken nicht nur des in besonderer Weise gegen den Zeitgeist ankämpfenden Pazifismus der Weimarer Zeit prägen wird, sondern auch noch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
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Siehe das Werk „Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung“ von 1898 (deutsche Ausgabe 1899).
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Wird der Pazifismus aus seinem Gegensatz zum Bellizismus heraus verstanden, so erscheint die Motivation zum Frieden als etwas, das nicht in der Natur der Dinge selbst seinen Grund hat. Sie ist weder als Teil einer göttlichen Weltordnung gedacht, wie es bei Aurelius Augustinus (354-430) darin zum Ausdruck kommt, dass der Friede als tranquilitas ordinis die innere Struktur einer Weltordnung wiedergibt, in der jedem Ding ein eigener und darin richtiger Platz zukommt. Sie ist aber auch nicht Teil einer natürlichen Ordnung im Sinne des Hobbesschen Selbsterhaltungstriebes, der dafür sorgt, dass der Mensch den Frieden und nicht den Krieg wollen kann. Der moderne Bellizismus gründet deshalb in einer zweifachen Desillusionierung, dem verlorenen Glauben an eine göttliche und eine natürliche Ordnung, die auf den Frieden hin gerichtet waren. Ein nachaufklärerischer naturalistischer Naturbegriff beginnt unter dem Einfluss von Geschichts- und Evolutionstheorie im neunzehnten Jahrhundert Tod, Zerstörung und Vergänglichkeit als positive Faktoren des Wandels und des Fortschritts zu entdecken. Damit geht ein verändertes Verständnis auch der Natur des Politischen einher, dessen Sinn und Zweck nicht mehr der Friede, sondern die Macht wird. In der veränderten Zielrichtung selbst liegt nichts Willkürliches; es handelt sich nicht schlicht um ein anderes Ideal, das ebensosehr beim alten hätte bleiben können. Das Pendeln vom einen – pazifistischen – ins andere – bellizistische – Extrem ist sehr viel mehr die Folge einer ideengeschichtlichen Entwicklung, die in der Begründung dessen, was vorzuziehen und was abzulehnen ist, nicht mehr auf eine transzendente Dimension, sondern ausschließlich auf Vernunftgründe verweisen möchte. Damit ist jede Vorabwertung im Prinzip unmöglich gemacht. Und wenn auch zunächst noch mehr und bessere Gründe für den Frieden sprechen mögen, so ist es von der theoretischen Ausgangslage der säkularen immanenten Begründung doch nicht mehr möglich, Meinungen zu unterbinden, die auf entscheidende Vernunftgründe für den Krieg hinweisen. Denn mit dem Verlust der teleologisch auf den Frieden ausgerichteten OrdoKonzeption wird Ordnung schlechthin zu einer organisatorischen Leistung des Menschen, der in den einzelnen Situationen entscheiden muss, was Ordnung zu schaffen in der Lage ist. Der Kampf gegen Feinde, gegen überkommene, überlebte, instabile Strukturen und überhaupt gegen alles, was der Ordnung stiftenden politischen Kraft im Wege steht, wird zu einer regelrechten Produktivkraft des Fortschritts. Die Macht selbst ist als erstrangiger politischer Zweck zunächst nur ein anderer Ausdruck für Selbsterhaltung und Selbstentfaltung der Gemeinschaft. Sie mag insofern als Voraussetzung aller weiteren Zielsetzungen innerhalb eines Menschen- und Weltbildes nur konsequent sein, das nicht mehr für alles Existierende einen eigenen angestammten gottgegebenen Platz annimmt, sondern davon ausgeht, dass dieser Platz
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gegen Widerstände erkämpft werden muss. Die metaphysische Bedeutung des Kampfes/Konflikts ist in die moderne politische Theorie eingebaut und alle Fragen richten sich auf die Art und Weise, in der dieser existenzielle Kampf ausgefochten wird. An dieser Stelle fügt die Friedens- und Konfliktforschung die Kategorie des nichtgewaltsamen Konfliktaustrags ein,14 um den ideellen Gehalt des himmlischen Friedens in säkulare Argumentationsstrukturen hinüberretten zu können. Sie geht davon aus, dass Konflikte zur modernen gesellschaftlichen Situation gehören, die nicht mehr durch eine einheitliche Glaubensrichtung harmonisiert, sondern durch eine Vielzahl unterschiedlicher und einander widersprechender ideeller und materieller Interessen durchzogen ist. In die These von der unüberwindbaren Konfliktträchtigkeit des Zusammenlebens gehen mithin alle Bestimmungsmerkmale des irdischen Friedens ein. Die Kategorie des Konfliktaustrags aber hat jene Vorentscheidung für den Frieden aufbewahrt, die unter den theoretischen Prämissen einer nicht mehr gottgegebenen, sondern von Menschen gemachten Ordnung keinen Sinn mehr macht. Wenn alles kontingent ist, dann ist es auch der Konfliktaustrag. Dieser kann nicht als Ort konzipiert werden, in dem die alten teleologisch auf den Frieden gerichteten Maximen unwidersprochen bleiben. So wiederholte sich innerhalb der mit dem Frieden befassten Disziplinen jene Entwicklung, die die moderne politische Theorie seit Kant durchlaufen hat: Mochten auch zunächst (unter dem Eindruck der Schrecken des 2. Weltkrieges) noch mehr und bessere Gründe für den nichtgewaltsamen Konfliktaustrag sprechen, so war es doch von der theoretischen Ausgangslage der säkularen immanenten Begründung nicht mehr möglich, Meinungen zu unterbinden, die gewaltsam/ kriegerische Mittel (unter den Bedingungen von Menschenrechtsverletzung und internationalem Terrorismus) als opportun und vernünftig erscheinen ließen. Es wäre falsch zu sagen, der Pazifismus sei nichts anderes als eine Reaktion auf dieses Novum wählbarer Präferenzen (Frieden oder Krieg), denn der Bellizismus oder Militarismus entspringt demselben Kontingenzbewusstsein. Richtiger ist es zu sagen: Die Pazifismus/Bellizismus-Differenz übernimmt die Führung in einem Weltbild, das all seine Bestimmungen aus dem differenzlos gebrauchten Begriff der Immanenz, des nicht mehr einem Jenseits gegenübergestellten Innerweltlichen, herzuleiten sucht. Da es keine theoretische Funktionsstelle für die Transzendenz und damit für das Vollkommene, Unversehrte, Heile, Ganze mehr gibt, mussten alle Nachfolgekonstrukte scheitern, die für dieses Vollkommene stehen. Sobald deutlich zu sein schien, dass Vernunft, Rationalität, Frieden (friedlicher Konfliktaustrag), Selbstverwirklichung, der Gottesmetapher nachgebaut sind, und mit ihrer Hilfe die alte Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz nur in einer neuen Verpackung angeboten worden war, ertönte der Ruf nach Aufklärung und Ideologiekritik. In der Meta14
Dem Konfliktbegriff von Lewis Coser (Theorie sozialer Konflikte. Neuwied und Berlin 1972), der das Innovationspotential von Konflikten (echte Konflikte) gegenüber destruktiven Austragsformen (unechte Konflikte) positiv wertet, ist die gesamte Friedens- und Konfliktforschung verpflichtet. Zur Einführung in die Konflikttheorien siehe Bonacker (1996, 2002).
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kritik der Aufklärung wird der Verdacht artikuliert, dass es auch in den neuen Terminologien nur wieder darum geht, den wenigen „vernünftigen“, „rationalen“, „friedlichen/zivilisierten“ und „selbstverwirklichten“ Leadertypen oder Leadernationen die Autorität zuzuspielen, die man im religiösen Originalentwurf Gott – und der Priesterschaft als Mittler – zugedacht hatte.15 Modernes Kontingenzbewusstsein gibt Vorzuziehendes und Abzulehnendes in ontologischer (Sein/Nicht-Sein), in logischer (wahr/unwahr) und in moralischer (gut/schlecht) Hinsicht als menschliche Entscheidung zu erkennen. Die jeweilige Präferenz für den Pazifismus oder für den Bellizismus ist zumeist eine Reaktion auf historische Ereignisse, Erfahrungen und Traumata. Wir werden an der aktuellen Kontroverse, die einen als neu auftretenden „politischen Pazifismus“ gegen alle „alten überkommenen Spielarten“ antreten lässt, die innere Logik dieser theoretischen Ausgangslage studieren können. Offensichtlich hat das Konstrukt einer Wählbarkeit des Vorzugswertes, im Gegensatz zum Konstrukt einer in der Natur der Dinge verankerten Präferenz, zur Folge, dass pazifistische Lehre und Bewegung nur der extreme Ausschlag einer Pendelbewegung sind, die am anderen Ende angekommen, als Bellizismus erscheint. Vor diesem Hintergrund werden wir uns in den nachstehenden Kapiteln an einer sehr groben Unterscheidung von friedensphilosophischem und kriegsphilosophischem Pazifismus orientieren. Die soeben gewonnene Einsicht, dass das Vorzuziehende nicht a priori, nicht vorgegeben, sondern ein Wahlresultat ist, verwehrt eine friedensethische Zuordnung, die sich an der Begriffswahl orientiert und im friedensphilosophischen Pazifismus den eigentlichen und guten, im kriegsphilosophischen Pazifismus hingegen den uneigentlichen, verblendeten Pazifismus zu sehen nahe legt. Solche Zuordnungen sind selbst schon das Ergebnis einer Politisierung der Ethik, deren extremste Gestalt die Pazifismus/Bellizismus-Differenz ist. Gegen diese Zuordnung spricht allein die Tatsache, dass gegenwärtig innerhalb des friedens- und des kriegsphilosophischen Zweiges Stimmen laut werden, die dem Krieg das Wort reden. Innerhalb dieser Grobeinteilung werden die geläufigen Typologien eingearbeitet. Diese sehr schlichte Unterteilung verdankt sich der Einsicht, dass jede Auseinandersetzung mit dem Gewaltproblem, die sich pazifistisch nennt, bzw. die von anderen so bezeichnet wird, entweder den Weg über die Ablehnung des Ablehnenswerten (Gewalt, Krieg) geht und erst in einem zweiten Schritt das eigene pazifistische Handeln als Kraft friedenspolitischer Gestaltung begreift. Oder die Auseinandersetzung mit dem Gewaltproblem nimmt den Weg über die Konstruktion eines politisch-gesellschaftlichen Zustandes, der all das möglich macht, was dem Pazifismus vorschwebt. Negation und Konstruktion ist die Differenz, die uns als gröbstes Raster dienen wird. Beide, kriegsphilosophische und friedensphilosophische Arten des Pazifismus be15 Zur Geschichte des französischen Strukturalismus, der diese Zusammenhänge sichtbar macht, siehe Descombes (1981).
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kennen sich zum nichtgewaltsamen Konfliktaustrag, aber beide sind formlogisch so verschieden konstruiert, dass die Einstellung zur Gewalt eine andere wird. Diese für die Typologie zentrale Unterscheidung von Negation und Konstruktion würde nahelegen, sich Thomas Kater (2006: 94) anzuschließen, der zwischen einem MittelPazifismus „der die Frage der Gewalt als (illegitimes) Mittel zur Erreichung eines friedvollen Miteinander ins Zentrum stellt“ und einem Ziel-Pazifismus differenziert, „für den im Mittelpunkt die Frage nach Gestalt und Form des friedvollen Miteinander steht“. Die herausragende Bedeutung der Unterscheidung von Mittel und Zweck wird jedoch bei dem von Kater als Ziel-Pazifismus bezeichneten organisatorischen, institutionalistischen, rechtspazifistischen oder konfigurativen Pazifismus gerade bestritten. An die Stelle der Zweck/ Mittel-Differenz tritt in diesem die Unterscheidung von Theorie und Praxis. Es wird davon ausgegangen, dass die modernen Theorien des Rechtsstaates und des Gewaltmonopols, der Verteilungsgerechtigkeit und der Erziehung zur Mündigkeit das Problem der Vereinbarkeit und des Passungsverhältnisses von Mittel und Zweck gelöst haben: Die praktische Umsetzung dieser organisatorischen, institutionellen Vorschläge ist Friedenszweck und Friedensmittel in einem. Erst der Nachweis, dass die Theorie/Praxis- die Zweck/Mittel-Differenz nicht ablöst, dass vielmehr die Probleme unverändert weiter bestehen, lässt jenen um die Mittel so besorgten Pazifismus nicht als eine radikale und womöglich fundamentalistische Variante verstehen. Aus diesem Grund soll in der vorliegenden Abhandlung diese weiter gefasste Unterscheidung von kriegs- und friedensphilosophischem Pazifismus verwendet werden. Die strikte Ablehnung von kriegerischen und generell von gewaltsamen Konfliktlösungsformen erscheint häufig genug als eine zweideutige pazifistische Grundhaltung,16 die nicht nur in der unmittelbaren Konfrontation mit der politischen Wirklichkeit, sondern bereits in der antizipierten Konfrontation zu Abstrichen und Kompromissen führt. Diese Ambivalenz wird jedoch zu Unrecht einer halbherzigen Einstellung und/oder intellektueller Unredlichkeit der Protagonisten zugeschrieben. In Wirklichkeit ist der Pazifismus die Spiegelfläche einer friedenstheoretischen und praktischen Paradoxie, die in einer Bewegung ihr demokratisch-partizipatorisches Ausdrucksmedium gefunden hat. Die Paradoxie verbirgt sich in der Gewaltverstrickung jedes Handelns angesichts der Tatsache, dass auch der Verzicht zur Gegengewalt, zur Notwehr oder Nothilfe von Anderen wieder als Gewalt verbucht werden kann. 16 Das ist besonders der Fall in einem Pazifismus, der sich als Antimilitarismus profiliert. Dieser zeigt sich entweder als dezidiert gewaltfrei, so in der anarchistischen Spielart des Holländers Bart de Ligt („Ons pacifisme“, in: Vrede. Officieel orgaan van het vredesstudie-bureau en de vredesgroepen in Nederland, Groningen, 11. Jg. (1938), No. 6, S. 89/90). Als eine Erscheinung der Arbeiterbewegung ist der Antimilitarismus bei Syndikalisten, Anarchisten und radikalen Sozialisten i.d.R. gewaltbereit. Siehe zum Verhältnis von Pazifismus und Militarismus Gernot Jochheim, „Zur Geschichte und Theorie des europäischen Antimilitarismus 1900-1940“, in: Steinweg (1977, S.27-49, bes. 28ff.).
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Aufgrund seiner spezifischen Funktion, in modernen dem Wertrelativismus verpflichteten Gesellschaften die Lebensrechte des Einzelnen gegenüber politischen Kosten/Nutzen-Kalkulationen einzuklagen und zu verteidigen, kann die Existenzberechtigung des Pazifismus kaum in Frage gestellt werden. Die diametralen und vielfach einander widersprechenden Einstellungen zu Gewalt und Gewaltlosigkeit sind keine missliche und korrigierbare Schwäche, sondern sie gehören zum Anliegen des Pazifismus, in gewaltverstricktem Handeln Gewaltreduzierung zu betreiben. Die Inkonsequenzen und Widersprüche sind dem Pazifismus mithin eingeschrieben und dies seit den Anfängen der Bewegung. Aufschlussreich ist ein Kommentar zu einem der ersten deutschen Grundlagenwerke, dem “Handbuch des Aktiven Pazifismus“ von 1928. Dazu schreibt der damals in Hannover lehrende Philosoph Theodor Lessing zwei Jahre später: „Fünfzig verschiedene Autoren reden da alle über Gewalt und Liebe. Jeder meint es herzensgut. Jeder glaubt die Wahrheit zu haben. Jeder redet an jedem vorbei, und der Leser bekommt, wie in jedem solcher Sammelwerke, von jedem Autor immer das Gegenteil zu hören von dem, was der vorhergehende verkündet hat oder der folgende verkünden wird. Das beweist, daß wir Ich gegen Ich nicht weiterkommen. Liebe würde uns verschmelzen. Aber dann brauchen wir nicht mehr zu denken und zu reden. So lange wir aber im Bewußtsein wandeln, werden wir nur weiter kommen, indem wir eine Gewalt über alle Gewalten anerkennen: Die reine Logik. Den gültigen Geist. Das heißt: Wir müssen die Begriffe und Worte zur klaren Evidenz bringen. Geschieht das nicht, so gibt es nur Kampf. Kein „Verständnis“.“17
Ganz in diesem Sinne soll die vorliegende Studie die unterschiedlichen Konsequenzen begrifflicher Festlegungen aufzeigen. Das gilt in erster Linie für das Zweck/MittelSchema. Die Art und Weise, in der Gewaltfreiheit18 mehr im Zweck oder mehr im Mittel verortet wird, ist von großer Bedeutung für die Praxis. Im kriegsphilosophischen Pazifismus ist Gewaltfreiheit hauptsächlich dem Mittel zugeordnet. Im Prinzip oder wenn irgend möglich, gilt es Mittel zu wählen, die das Friedensziel nicht mit Gewalt zu erreichen suchen. In dem auf Organisationen und Institutionen fixierten friedensphilosophischen Pazifismus wird hingegen die Gewaltfreiheit wesentlich im Zielbereich verortet. Die Mittel sind demzufolge den Umständen anzupassen. Diese in vollem Umfang zu berücksichtigen, muss im Interesse des Pazifismus liegen, will sich dieser nicht von kriegslüsternen Mächten verdrängen lassen. Die unterschiedliche Fixierung betrifft vordergründig gesehen nur die Priorität, denn beide Richtungen erstreben die Zweck/Mittel-Symmetrie: Gewaltlosigkeit soll nicht nur angestrebt, sondern schließlich die Wahl der Mittel ganz bestimmen können. Dennoch wirkt sich die Priorität unvermeidlich auf die Perspektive aus, unter der das Friedenskalkül zustande 17 Siehe Theodor Lessing, „Gewalt und Liebe“. Eine philosophische Abhandlung, in: Diettrich (1930: 188f.). 18 Der Begriff ‚gewaltfrei“ wurde von Theodor Ebert (1968) eingeführt.
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kommt. Da im friedens- oder organisationstheoretischen Pazifismus das Entwerfen und Durchsetzen einer politischen Struktur im Vordergrund steht, die den Menschen friedliches Handeln abnötigt, muss es zunächst um die Freiräume und Gestaltungschancen desjenigen Akteurs gehen, der Frieden macht. Das menschliche Umfeld gerät unwillkürlich in jene untergeordnete Stellung eines Objekts, das sich gegenüber der Friedensstiftung willfährig oder widerspenstig zeigt. Im Anhang zu seiner Schrift „Zum Ewigen Frieden“ heißt es bei Immanuel Kant: „So ist in der Ausführung jener Idee“, nämlich in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprinzipien zu leben, „(in der Praxis) auf keinen anderen Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen, als den durch Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird.“19
Bei den im Anschluss an das friedensphilosophische Denken der Neuzeit entwickelten säkularen Ideologien richtet sich die Einstellung zur Gewalt im wesentlichen danach, ob das Friedensideal im Bereich der Zwecksetzung oder der Mittelwahl verortet wird. Sie unterscheiden sich darin nicht von den großen christlichen Kirchen. Werden kriegerisch-gewaltsame Formen des Konfliktaustrags nur prinzipiell abgelehnt, so akzeptiert man sie selektiv, für die Verteidigung, die Gerechtigkeit oder die eigene Sache. Nach Ernst-Otto Czempiel (1972: 14) offenbart dieses Friedensverständnis zwei Schwächen: „Zunächst heben sie über die selektive Zulassung des Krieges, also über das Mittel, das erstrebte Ziel wieder auf. Wer vom Krieg betroffen wird, erfährt weder Gerechtigkeit noch Verteidigung. Wenn der Krieg für die eigene Sache eingesetzt wird, sei es die Verbreitung des Glaubens, der Demokratie oder der Weltrevolution, ist der Selbstwiderspruch zu dem erklärten Ziel des Friedens mit Händen zu greifen. Er ist aber auch bei sublimeren Begründungen: bei den Zielen der Gerechtigkeit und der Verteidigung nachweisbar. Hier liegt die zweite Schwäche des Friedensbegriffs: die Möglichkeit seines Mißbrauchs. Indoktrinations- und Propagandatechnik zusammen mit Kommunikationsabschirmung verstellen dem einzelnen oder der Öffentlichkeit so gut wie jede Chance zu kritischer Durchsicht. Das Orwellsche Konzept einer Gesellschaft, die es gelernt hat, Krieg für Frieden zu halten, ist nicht das Resultat einer Vision, sondern einer Extrapolation nachweisbarer Trends.“
Czempiel will das Problem des Missbrauchs als ein paradigmatisches verstanden wissen, das in einen Friedensbegriff eingebaut ist, der die Ablehnung des Krieges im Zielbereich verortet. Er fragt, ob die Ziele der Gerechtigkeit und der Verteidigung überhaupt adäquat, also nicht missbräuchlich verfolgt werden könnten und verneint 19
Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden – Ein philosophischer Entwurf, Königsberg 1795. In: Zwi Batscha, Richard Saage (Hg.): Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres, Frf./M. (1979, 38-82, 61).
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diese Frage im gleichen Zug mit dem Argument, dass es diese eine Gesellschaft nicht gebe, die einheitliche Gerechtigkeitskriterien verbindlich machen könnte. Auch die Verteidigung wird als Argument hinfällig, wenn bedacht wird, dass der zugrundeliegende Wertkonflikt „Lieber Tod als Sklav“ nicht einheitlich aufzulösen ist. So dominieren die Interessen der Betroffenen, die allerdings sehr weit auseinander liegen. Wir finden diesen Gegensatz in nuce seit den Anfängen eines reflektierten Pazifismus, für den das „Handbuch des aktiven Pazifismus“ von 1928 als besonderes Dokument gelten kann. Die wichtigsten Linien dieser Gegenüberstellung stehen hier allerdings in einer Anordnung, wie wir sie heute womöglich nicht vornehmen würden. Jene von uns als kriegsphilosophisch eingeordnete Form, die nicht nur die Verweigerung des Kriegsdienstes, sondern generell Gewalt als Instrument der Konfliktlösung ablehnt, wird hier als moderne zeitgemäße Form des Pazifismus verstanden. Und sie wird jener Form konfrontiert, die primär auf die Herstellung einer zwischenstaatlichen Friedensordnung ausgerichtet ist. In dieser Gegenüberstellung lassen sich unschwer der heutige „radikale“ Pazifismus und der als gemäßigt geltende Rechtspazifismus wiedererkennen. Ersterer gilt unter den Bedingungen der Globalisierung als Extremismus, sofern er sich den Notwendigkeiten und Sachzwängen der „Neuen Weltordnung“ auf gefährliche Weise widersetzt.20 Der zweite gilt als realistisch und aufgeschlossen für die großen Weltordnungspläne des Westens, die mit Weltinnenpolitik oder mit Weltbürgerrechtsgesellschaft betitelt, als Einlösung der Kantischen Idee des Weltfriedens verstanden wird. Bei den beiden Arten von Pazifismus geht es uns um die jeweils eigene Art des unterscheidenden Bezeichnens und nicht um die Ermittlung eines vermeintlich ursprünglichen und davon abweichenden nur halbherzigen Pazifismus. Derlei Etikette des echten und unechten, des eigentlichen und uneigentlichen, des wahren und verfälschten Pazifismus scheinen modeabhängig zu sein. Ob der eine oder der andere der beiden formlogischen Typen dominiert, steht offensichtlich auch mit der kollektiven Befindlichkeit in Zusammenhang, die sich danach richtet, ob die Gegenwart als Normal- oder als Ausnahmezustand wahrgenommen wird. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkrieges sahen sich die Menschen einer wieder gewonnenen Normalität gegenüber, die alle 20
Das Ausmaß dieses Sich-Widersetzens wurde bereits im Imperialismus zu Beginn des 20. Jh. bei Gandhi augenfällig: „Unsere Schwäche hält uns heute vor der Gewalt zurück. Wünschenswert aber ist der freiwillige Verzicht auf Gewalt, der Verzicht aus Stärke. Um dazu fähig zu sein, muß man Phantasie aufbringen und außerdem muß man die Strömungen des Weltgeschehens tief erforschen. Der oberflächliche Glanz des Westens besticht uns heute, und den taumelnden Tanz, der uns unablässig mitreißt, halten wir für Fortschritt. Wir wollen nicht sehen, daß er uns gewiß in den Tod treibt. Vor allem sollten wir erkennen, daß es Selbstmord wäre, mit den Zielsetzungen der westlichen Staaten zu wetteifern. Doch wenn wir erkennen, daß trotz der scheinbaren Überlegenheit der Gewalt nicht sie, sondern die moralische Stärke das Universum regiert, dann sollten wir uns in Gewaltlosigkeit einüben und unser ganzes Vertrauen auf ihre unbegrenzten Möglichkeiten setzen.“ (Gandhi, Young India, 22.7.1929).
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Schrecken des kriegerischen Ausnahmezustandes zu Vergangenem machte. Diese Stimmung war geprägt von einer kollektiven Ablehnung des Krieges und geradezu der Überzeugung eines historisch überwundenen Relikts dunkler Zeiten. So dominiert das „Nie wieder Krieg“ als der typische Slogan einer leidgeprüften und geschundenen Bevölkerung auch damals. Im Handbuch des aktiven Pazifismus von 1928 heißt es: „’Es soll keinen Krieg mehr geben!’ – in diesem ekstatischen Ruf vereinigten sich die Stimmen von Millionen. Ein Geschlecht schien aufzuerstehen, das den Mut besass, diese Forderung als höchsten kategorischen Imperativ aufzustellen. Nicht das Ende des Weltkrieges, nicht das Ende eines bestimmten historischen Krieges, sondern das Ende, die Götterdämmerung des Krieges überhaupt, schien angebrochen zu sein mit diesem Tage.“ (Kobler 1928: 9).
Was diese Stimmung hervorbringt, entspricht dem, was in der Zwischenkriegszeit als herrschender Pazifismus beschrieben wird, der Rechtspazifismus: Dieser „ist auf die Herbeiführung eines dauerhaften Friedens durch das Mittel zwischenstaatlicher Organisation gerichtet.“ (Kobler 1928: 10). In der kritischen Perspektive des „aktiven Pazifismus“ bleiben in dieser Version der Krieg und die militärische Organisation der Staaten weiterhin eine historische Voraussetzung für die Erreichung des pazifistischen Zieles. Als solcher ist er aus einer theoretischen Lehre zu einem Bestandteil der offiziellen Politik geworden, die in Thomas Woodrow Wilson und dem Völkerbund am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Im Jahr der Niederschrift des Handbuches werden die Schwächen dieses situativen Pazifismus sichtbar. Dieser blendet das wahre Problem der Gewalt dadurch aus, dass die Frage der Mittelwahl nur auf die Herstellung jener – institutionellen, organisatorischen – Bedingungen gerichtet ist, unter denen der zwischenstaatliche Friede gesichert sein kann. Da dieser der Vernunft entspringende Friede nach Kant (1979: 56) auch ein „Volk von Teufeln“ zu disziplinieren imstande ist, kann von dieser ideellen Plattform aus das reale Teuflische, die faktische Gewalt, marginalisiert werden. Dieses unverbrüchliche Vertrauen in die Kraft des Organisatorischen und die Fixierung der Mittelwahl auf die Friedensbedingungen und nicht auf den Frieden, rächt sich in der Unsicherheit, mit der auf den erneuten Einbruch der Gewalt reagiert wird. Die Kehrseite der hochfahrenden Friedenspläne ist die Enttäuschung angesichts von Terroranschlägen und immer wieder neuen Kriegen, dem Bürgerkrieg in Deutschland, dem russischen Bürgerkrieg zwischen den Weißen und den Roten, der polnisch-russische, der griechisch-türkische Krieg, den Kriegen gegen die Kabylen und Drusen, dem chinesischen Bürgerkrieg und nicht zuletzt den politischen Morden in Deutschland, Ungarn und Italien bis zu den mexikanischen Metzeleien und der blutigen Wiener Revolte. (Kobler 1928: 9f.). Als Antwort auf diese Gewaltsamkeiten hatte sich sehr bald eine neue Kriegsbegeisterung entwickelt und ein neues Wettrüsten, diesmal unter Einschluss der neuen Giftgastechnik.
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Kobler grenzt den im Handbuch propagierten „aktiven Pazifismus“ von diesem organisatorischen, extrem enttäuschungsanfälligen Pazifismus ab und richtet das Augenmerk ganz auf ein enttäuschungsfestes Prinzip der Gewaltfreiheit, das der Internationale der Kriegsdienstgegner als Orientierung dienen soll. Was sich hier im Angesicht faktischer Gewalt und nicht bloß im Bewusstsein historisch überwundener Gewalt festigt, ist ein Friedenswille, der sich davon unbeeindruckt zeigt, ob die Zeit für eine solche Kriegsdienstverweigerung günstig oder ungünstig ist. Und es mag symptomatisch sein, dass zwei Jahre nach dem Erscheinen des Handbuches eine Schrift zum ersten Mal in umfassender Weise das „Problem Gandhi“ als Bedrohung des englischen Imperialismus behandelt.21 Dieser sog. „aktive“ Pazifismus ist bereits die Antwort auf eine doppelte Reaktion, nämlich auf die ins bellizistische Gegenteil umschlagende Reaktion auf die Enttäuschungen über Gewalttaten und gewaltsame Ausschreitungen, die der Völkerbund nicht verhindern kann. Verglichen mit der damaligen Situation wird deutlich, dass wir uns gegenwärtig in einem Stadium der Reaktion auf Enttäuschungen im Zusammenhang mit dem ausgebliebenen Weltfrieden nach dem Ende des Ost/WestKonflikts befinden. Darauf weist Wolfgang Lienemann (1997: 48) in „Notwendigkeit und Chancen der Gewaltfreiheit“ hin: „Im November 1990 wurde auf dem KSZE-Gipfel die Charta von Paris für ein neues Europa verabschiedet. Dort heißt es im einleitenden Abschnitt unter anderem: „Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an. Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf den Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für unsere Länder.“ Tempi passati! Angesichts von Bürgerkriegen, Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen, Massenvergewaltigungen und Völkermord ist die Pariser Charta Ausdruck einer längst zerstörten Illusion. Pazifisten, die zum Training in gewaltfreier Aktion auf den Balkan gefahren sind, kommen mit tiefen Zweifeln an Sinn und Chancen ihrer Arbeit zurück. Freundinnen aus der Friedensbewegung fordern mit Nachdruck militärische Interventionen.“
In diesem Stadium wird bei dem erstrebten mit Frieden gleichgesetzten Rechtszustand weniger das Prinzip der Gewaltfreiheit hervorgehoben als das Prinzip der notwendig Gewalt gestützten Sicherung und Verteidigung des Rechts. Im Falle der Menschenrechtsverletzungen in den Bürgerkriegen des nachkommunistischen Jugoslawien 21 „Die Gandhi-Revolution“ (hg. von Diettrich) mit Beiträgen von Paul Birukoff, Robert Braun, Martin Buber, Oskar Ewald, John Haynes Holmes, Franz Kobler, Theodor Lessing, Hans Prager, Leonhard Ragaz, Horst Schieckel, Wilfried Wellock aus dem Jahre 1930 gilt auch als erstes Buch über Gandhi in deutscher Sprache.
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galt es infolgedessen, die Rechtsprinzipien der Notwehr und Nothilfe stark zu machen. Was als Hilfsbereitschaft begonnen hat, führte nach und nach zu einem modifizierten Verhältnis zu militärischen Instrumentarien der Konfliktlösung, die ein neues Bild des Krieges als effizientes Mittel der Verhinderung von Unrecht und Gewalt zeichnete. Friedens- und kriegsphilosophische Spielart stützten sich auf jeweils andere Gewährsmänner in der Rechtfertigung ihrer Position. Die Notwendigkeit der Zwangsgewalt zur Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs lässt sich mit dem Wort des Bischofs Ambrosius von Mailand (339-397) bestärken, wonach derjenige, der nicht, soweit er es vermag, gegen das Unrecht kämpft, das seinem Nächsten droht, ebenso schuldig werde wie derjenige, der es diesem antut. (Lienemann (1997: 49). Zur Bekräftigung des zweiten Verständnisses wird meist die Bergpredigt angeführt. In dieses sehr grobe Raster von friedens- und kriegsphilosophischem Pazifismus lassen sich nahezu alle in den Kontroversen der Gegenwart bedeutsamen Typen des „politischen“, des Rechts-, des Atompazifismus, des personalen, strukturellen und symbolischen Pazifismus, des „radikalen“ und „gemäßigten“, des „organisatorischen“, „sozialrevolutionären“ oder des religiösen Pazifismus einordnen. Denn bezüglich dieser zentralen Unterscheidung gibt es kaum Kompromisse, kaum ein tertium, das gewählt werden könnte: Entweder man denkt vom wertbesetzten Zweck aus und ordnet die Mittelwahl diesem unter (friedensphilosophische Spielart). Oder man misst dem Mittel eine eigene wertethische Bedeutung zu (kriegsphilosophische Spielart). Wird im Rahmen dieser letzteren Version die Wertneutralität des Mittels bestritten und also die Zweck/Mittel-Asymmetrie abgelehnt, dann haben wir es mit einem „radikalen“, „kompromisslosen“ oder „unbedingten“ Pazifismus zu tun. In diesem Fall ist pazifistisches Argumentieren auf eine Ethik angewiesen, die intrinsische Gebote und Verbote begründen lässt. Davon unterscheidet sich ein „bedingter“ Pazifismus, der Verantwortung versteht als „verschiedene Güter gegeneinander abzuwägen und, notfalls schuldig werdend, Kosten in Kauf zu nehmen.“22 Mit einem Legitimitätsdenken im Rahmen der bellum-iustum-Doktrin haben wir es zu tun, wenn die Mittelwahl zwar als eigenständiges ethisches Problem betrachtet wird, dies aber weniger im Sinne von absolutem Tötungsverbot, sondern mehr im Hinblick auf die Notwendigkeit, Kriterien der Mittelwahl zu benennen, die nicht ausschließlich zweckrational sind. Eine Position des (tragischen) Realismus hebt das Mittel ebenfalls als eigenständig zu Bewertendes hervor, dies jedoch weniger unter einem wertethischen und mehr unter einem dialektischen Aspekt. Das Mittel wird jetzt danach beurteilt, inwieweit es das Negative zu negieren vermag. Wo der Pazifismus als Kriegsphilosophie angesprochen wird, finden wir immer einen Dialog zwischen den einzelnen Typen: Der Radikalpazifismus profiliert sich in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von bellum-iustum-Lehre, politischem Realismus und mitunter sogar von der Theologie des heiligen Krieges. Aber selbst die Theologie 22
Siehe dazu Stobbe (1993: 59).
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des heiligen Krieges wird für den Pazifismus relevant, wo es um die Grenzverflüssigung zwischen dem Selbst- und dem Fremdopfer, zwischen Märtyrertum und Selbstmordattentat geht. Quer zu diesen beiden Kardinaltypen profiliert sich gegenwärtig ein Pazifismus, der die formlogischen Unterschiede dieser beiden Typen unterläuft, weil er die entsprechende politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit für überwunden hält. Diese Variante lässt sich sachgemäß nur als postmoderner Pazifismus bezeichnen. Denn was diesen kennzeichnet, ist die Aufkündigung jener Leitunterscheidungen, die den Spielarten der klassischen Moderne, dem friedens- und dem kriegsphilosophischen Pazifismus als Grundlage dienen. Während letztere von der empirisch validierbaren Unterscheidbarkeit von Frieden und Krieg, von Kombattanten und Zivilisten, von Krieg und Verbrechen, von politisch und ökonomisch, von innerer und äußerer Sicherheit ausgehen, ist im postmodernen Pazifismus diese Prämisse in Frage gestellt. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die politische Praxis. Um diesen verhängnisvollen Prozess der Erosion aufzuhalten und wieder stabile verlässliche Verhältnisse möglich zu machen, wird nämlich empfohlen, einen neuen Typus von Soldat und Polizist in einem zu schaffen. Mit dem neuen Instrument gilt es, „von außen erzwungene Weltinnenpolitik“ zu betreiben. Diese „Lösung“ ist ein logischer und begrifflicher Salto mortale, der der Weltgemeinschaft den Vorschlag unterbreitet, der gefährlichen Entdifferenzierung von Krieg und Frieden mit einer anderen Entdifferenzierung, nämlich der von Militär und Polizei, entgegenzutreten. Da auf eben dieser Unterscheidung aber all die anderen beruhen, deren Verlust beklagt wird, handelt es sich um einen Widersinn, der dazu zwingt, im Sinne von Sokrates die Grundfrage der Philosophie aufzuwerfen, was die Begriffe, die plötzlich mit ihrem Gegenteil identisch zu sein scheinen, eigentlich bedeuten, was sie einst bedeutet haben und was sie bedeuten könnten. Als Ausweg bietet sich ein vierter Typus, nämlich ein paradoxer Pazifismus, der weder in zeitlicher noch in sachlicher Hinsicht den anderen Typen nachgeordnet ist. Zwar soll Gandhi als Hauptvertreter dieser Richtung zur Sprache kommen, aber es wäre falsch, diese Variante als eine religiöse in Gegensatz zu säkularen Formen zu bringen. Denn als herausragendes Charakteristikum des paradoxen Pazifismus kann die Einsicht einer unvermeidlichen Gewaltverstrickung aller Friedensbemühungen gelten. Gandhi sucht aus diesem Grund politisch relevante Unterscheidungen mit seiner Begrifflichkeit zu transzendieren und gelangt damit zu einem Praxismodell, das sinnvoll nur als „paradoxe Intervention“ umschrieben werden kann. Die Pendelbewegung zwischen kriegsphilosophischem, friedensphilosophischem, postmodernem und paradoxem Pazifismus, die Gegenstand der vorliegenden Abhandlung sein wird, sucht die Probleme pointiert zu fassen, welche in der einfachen Unterscheidung von positivem und negativem Frieden, von positivem und negativem Pazifismus nicht zum Ausdruck kommen konnten. Dieser für den Nachkriegspazifismus wohl wichtigste Differenzierungstypus hat seine postmodernen und seine paradoxen Seiten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts selbst hervorgekehrt. Aus
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diesem Grund wird das Positiv/Negativ-Schema in seiner Relevanz für den Pazifismus erst im Zusammenhang mit der postmodernen Metamorphose zur Sprache kommen. Die besondere Dynamik unterscheidenden Bezeichnens von positivem und negativem Pazifismus mag das vorbereitet haben, mit dem wir heute konfrontiert sind, nämlich Verflüssigung und Unscharfwerden aller Begriffe, mit der die Friedensproblematik zum gesellschaftlichen Diskurs gemacht werden konnte, sei es als praxeologischer Diskurs des Pazifismus und der Friedensbewegung, sei es als theoretischwissenschaftlicher Diskurs der Friedens- und Konfliktforschung. Die sozialrevolutionäre Gewaltrechtfertigung im Zuge einer breiten Solidarisierung mit den Opfern von neokolonialer Gewalt rechnet in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch mit einem unterscheidbaren Gegner, nämlich jenen Industrieländern, die ihre Interessen mit indirekter (struktureller) und direkter (personeller) Gewalt durchzusetzen suchen. Hans-Eckehard Bahr (1977: 128f.) schildert das Neue der Rechtfertigung einer Gewalt im Dienste von Sachzwängen auf Seiten der offiziellen Politik: Diese gehe davon aus, dass weltweite Verteilungskämpfe um die überlebenswichtigen Ressourcen bevorstünden, die zur Wahrung der Eigeninteressen eine harte Realpolitik notwendig mache. Unter dem Eindruck begrenzter Reichtümer der Erde, gewinne diese Politik der reichen Metropolen den Charakter eines „zivilisatorischen Diktats“, des „ökonomisch wie moralisch Notwendigen“. Dazu gehöre eine notfalls erzwungene Eingliederung der unterentwickelten rohstoffreichen Peripherie in das von den Metropolen bestimmte Weltwirtschaftssystem. Entziehen sich dieselben einer solchen Politik, „setzen sie sich der Gefahr aus, daß die Industrieländer ihre Einflußzonen mehr und mehr mit Wirtschaftssanktionen, ja mit offener Gewalt zu sichern suchen. Die Neigung, den Rohstoffreichen mit Militärinterventionen zu drohen oder Präventivschläge zu führen, weil man sich selbst bedroht glaubt, muß in dem Maße zunehmen, wie man sich in den reichen Gesellschaften abschirmt gegenüber dem Leiden und den Interessen der abhängigen Gesellschaften.“ (Bahr 1977: 129). Diese Analyse der friedensgefährdenden strukturellen Gewalt führte gewissermaßen zu einem Auseinandertriften besonders der gegen den Vietnamkrieg gerichteten Friedensbewegung in zwei Flügel. Der eine suchte die Lage der Dritte WeltLänder durch Förderung einer autozentrierten Entwicklung – durch teilweise Abkoppelung vom metropolitanen Weltmarkt auf gewaltlose Weise – zu verbessern. Der andere war bestrebt diese Strategie durch eine Unterstützung von antiimperialistischen Guerillagruppen zu ergänzen. In der Aufspaltung des Pazifismus in einen positiven und negativen begannen diese beiden, die friedliche und die gewaltsame Strategie jene Ambivalenz in die Lehre und Bewegung wieder einzuführen, die zur Zeit der Anti-Atom-Bewegung in den Hintergrund getreten war. Ein damit einhergehendes Unscharfwerden des Gewaltbegriffs schien im Zuge der Solidarisierung weiter Teile des Pazifismus mit den antikolonialistischen Befreiungsbewegungen ein Bewusstsein für die paradoxe Natur des Friedens wieder wachzurufen. Indem Johann Galtung (1972, 1982), der dieses Bewusstsein zugleich re-
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flektiert und in einer ausgearbeiteten Friedenstheorie auf den Begriff bringt, das pazifistische Engagement für den nichtgewaltsamen Konfliktaustrag als „negativen“ Frieden bezeichnet, der um einen „positiven“ verwirklichter Gerechtigkeit23 ergänzt werden müsse, geriet eine Unklarheit über situationsbezogene Prioritäten in den pazifistischen Diskurs. Die Herstellung gerechter Verhältnisse schien nicht nur auf gewaltlosem Wege möglich. Zugleich ließ sie sich als Friedensbedingung mit struktureller Gewaltfreiheit gleichsetzten. Analog der Galtungschen Nomenklatur unterscheidet Hans Saner (1982: 6) zwischen negativem und positivem Pazifismus. Dabei versteht er „unter einem negativen Pazifismus die Gesamtheit individueller und kollektiver Bestrebungen, den Krieg zu verhindern und abzuschaffen.“ Als positiver Pazifismus gilt „die Gesamtheit individueller und kollektiver Bestrebungen, die auf ein Zusammenleben der Einzelnen und der Völker mit einem Minimum an Gewalt, in gegenseitiger Solidarität und unter Wahrung ihrer Würde, abzielen.“ Diese Unterscheidung deckt sich mit der Grobeinteilung in einen kriegsphilosophischen und einen friedensphilosophischen Pazifismus. Unsere Unterscheidung ist jedoch derjenigen von negativ und positiv aufgrund zu vermeidender moralischer Wertung vorzuziehen. Während der „negative Pazifismus“ in der Ablehnung kriegerischer Gewalt noch einen eindeutigen Problembezug zu haben scheint, fehlt dieser beim „positiven Pazifismus“, der ebenso mehrdeutig und ambivalent ist wie der schillernde Begriff „positiver Frieden“. Was für die historische Phase, in der sich die „Kritische Friedensforschung“ ausbildete, unter den Frieden erzwingenden Bedingungen der atomaren Abschreckung noch unbedenklich erscheinen mochte, zeigt sich seit 1989 und mehr noch seit dem 11. September 2001 in seinen problematischen Konsequenzen. Denn mit der wiedergewonnenen Kriegführungsfähigkeit hat sich die Semantik des Krieges ähnlich verändert wie vor ihr die Semantik des Konflikts und der Gewalt. Sieht man von metaphorischen Verwendungen des Begriffs wie dem Rosenkrieg einmal ab, so mochte der Begriff des Krieges doch bisher auf den zwischenstaatlichen Konfliktaustrag mit militärischen Mitteln sachlich eingrenzbar sein. Die Entschiedenheit, mit der ein sich globalisierender Westen das Ende der Nationalstaatsidee proklamiert, entspricht die Entschiedenheit, mit der Gegner des Westens nicht mehr als Konfliktpartei, sondern als Kriminelle, Terroristen und Schurken eingestuft werden.
23 Ein am positiven Frieden orientierter Pazifismus findet sich schon bei Bart de Ligt (Introduction to the Science of Peace, London 1939), der sich 1938 um die Einführung einer Friedenswissenschaft bemüht. Alle Linien der Kritischen Friedensforschung sind hier vorgezeichnet. Ein positiver Friede kann sich nach ihm nur in einem System allgemeiner Gerechtigkeit verwirklichen, das die Abschaffung jeder Form von Unrecht und Ausbeutung verlangt. Siehe Jochheim (1977: 44f.).
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3.1 Pazifismus und politischer Realismus Im „Handbuch des aktiven Pazifismus“ von 1928 verleiht Norman Thomas seiner Sorge um die Verhältnismäßigkeit der Mittelwahl unter den Bedingungen moderner waffentechnischer Entwicklungen in einer Weise Ausdruck, die bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Im Gegenteil sehen sich pazifistische Haltungen angesichts der technisch weiterentwickelten Zerstörungskraft von ABC-Waffen und einem in Antiterrorplanungen nicht ausgeschlossenen Einsatz von Atomwaffen gegen sog. „Schurkenstaaten“, geradezu in potenziertem Maße bestätigt. Die prinzipiell unkalkulierbare Destruktivität moderner Waffen lässt Norman Thomas bereits vor den ersten atomaren Detonationen in Hiroshima und Nagasaki zu dem Urteil gelangen, dass selbst ein Verteidigungskrieg nicht mehr gerechtfertigt werden könne: „Theoretisch kann die Notwehr zuweilen ihr Ziel erreichen, aber der sogenannte Verteidigungskrieg kann es, besonders unter den modernen Verhältnissen, niemals. Im modernen Krieg wird das Werk der Zerstörung mit allen Mitteln bedenkenlos von beiden Seiten geübt. Es ist kein Grund anzunehmen, dass ein Volk, das sich nur verteidigt, siegen wird, nur weil es im Recht ist. Wenn es gewinnt, wird es nur durch die überlegene Macht seiner Waffen oder seiner Wirtschaft siegen. Es hat an das Schwert, an die Geschütze und Bomben und an das Giftgas appelliert. Von ihnen wird es auch gerichtet. Und die wissen nichts von Recht oder Unrecht. Am Ende eines mit solchen Mitteln geführten Krieges kann das Volk, das schließlich siegt, nur solche Vorteile genießen, wie sie der Verwundete im Reiche der Toten genießt. Die moderne Wissenschaft macht es sogar sehr wahrscheinlich, dass, da es jetzt in Wirklichkeit keine Verteidigung, sondern nur ein Zuvorkommen im Angriff gibt, wir alle umkommen werden.“24
Hier kommt ein Verständnis des Pazifismus zum Tragen, das sich ausgehend vom Tötungsverbot der Negation dessen verschreibt, was die Wahrscheinlichkeit tötender Gewalt erhöht. Karl Holl (1989: 130) hebt in seiner Definition des Pazifismus Tötungsverbot und verhältnismäßige Mittelwahl als zentrale Problemorientierung hervor: „Pazifismus – intendiert die Erweiterung des biblisch-christlichen individuellen Tötungsverbots zum kollektiven, zwischenstaatlichen, transnationalen Tötungsverbot; – ist das Nachdenken darüber, wie einem solchen – den Krieg als Mittel der Konfliktregelung ausschließenden – kollektiven Tötungsverbot in der internationalen Politik Geltung zu ver-
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Vgl. Norman Thomas, Notwehr und Verteidigungskrieg, in: Kobler (1928: 102).
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3 Kriegsphilosophischer Pazifismus schaffen sei; – ist das Ensemble entsprechender politischer Mittel oder auch ein Typus von neuer Politik als Resultat solcher Reflexion.“
Stellt man das Problem verhältnismäßiger Mittelwahl im Horizont des Tötungsverbots in den Vordergrund, so gilt es im Vorfeld zwei Fragen zu beantworten: Welches ist der Antiwert, gegen den es alle Kräfte aufzubieten gilt und welches ist das Gegenmodell, von dem abzugrenzen den Pazifismus in seinen Konturen bestimmt. Hier sind in erster Linie politischer Realismus und bellum-iustum-Lehre zu nennen. Ob Mittel als verhältnismäßig oder als unverhältnismäßig eingestuft werden, hängt entscheidend davon ab, wie der pazifistische Diskurs das zu negierende Negative bestimmt, worin er den zentralen Antiwert zu erkennen meint, im „Krieg“, in der „privatisierten Gewalt“ oder aber im „Terrorismus“. Das Pazifistische erscheint hier als Abgrenzungshandeln, als aktive Negation des Abgelehnten und im Extremfall als Kampf gegen Krieg und Gewalt. Damit ist keineswegs eine bloße Verweigerungshaltung gemeint, wie Gegner dem Pazifismus immer wieder unterstellen. Was hier in seinen idealtypischen Merkmalen herausgearbeitet werden soll, betrifft ein Denken, das die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu Lasten des Kriegerischen auslegt. Verhältnismäßigkeit nicht für jeden einzelnen Konfliktfall empirisch zu überprüfen, sondern Diagnosen und Prognosen auf der Grundlage einer „pazifistischen“ Voreingenommenheit anzufertigen, lautet der Hauptvorwurf von Seiten des politischen Realismus. Dabei wird allerdings die Tatsache übersehen, dass die Operation des Abwägens von Kosten und Nutzen in der Gefahrensituation selbst, die zur Entscheidung unter Zeitdruck zwingt, immer stark von Präferenzen beeinflusst ist. Was dem Handelnden kaum möglich ist, nämlich faktische mit potentiellen Todesfällen zu verrechnen, stellt sich aus der Retrospektive für den Beobachter anders dar, wenn aus der Kategorie der potenziellen Opfer Zahlen geworden sind. Der subjektive Faktor spielt im Urteil des selbsternannten Realisten eine nicht minder große Rolle, aber die Prämisse ist so geartet, dass dem militärischen Instrument ein größeres Vertrauen entgegengebracht wird. Ein vom Antiwert her konzipiertes pazifistisches Selbstverständnis kann sich thematisch verzweigen und neben der Konzentration auf das zu negierende Negative (Krieg, Gewalt, Terror) auch die Konzeptionen und Modelle kritisieren, die den negativen Wert zu fördern scheinen. So fallen in die Kategorie „kriegsphilosophischer Pazifismus“ auch all jene Richtungen, die ihr Engagement nicht nur gegen konkrete Politiken richten, die als kriegstreibend wahrgenommen werden, sondern die sich gegen die Modelle wenden, die solche politischen Entscheidungen hervorbringen. Sobald sich der pazifistische Diskurs von der Auseinandersetzung über tagespolitische Entscheidungen über Krieg und Frieden wegbewegt und die Problemlösekraft politischer Lehren zum Gegenstand macht, drohen die Abgrenzungslinien des Pazifismus zu verschwimmen. Eine Verlagerung von der Diskussion über aktuelle Probleme zu Kontroversen über Grundpositionen ließ sich in Kommentaren zum Kosovo-Krieg 1999 beobachten, wo die Anwendbarkeit von bellum-iustum-Kriterien in den Vordergrund rückte.
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Dabei trat die naheliegende Unterstützung des nicht nur gemäßigten, sondern auch als pazifistisch geltenden, Präsidenten Ibrahim Rugova in dem sich aufschaukelnden Konflikt zwischen kosovo-albanischen Separatisten und serbischen Sicherheitskräften selbst auf pazifistischer Seite vielfach in den Hintergrund. Angesichts der Solidarität mit den Separatisten votierte nunmehr der von der Friedensbewegung der achtziger Jahre geprägte Teil der sozial-ökologischen Koalition in Deutschland im Verein mit den USA und einem Großteil der europäischen Regierungen für eine Unterstützung der terroristische Methoden anwendenden UCK. Den Hintergrund dieser neuen Gewichtung bildete ein Themenwechsel vom Für und Wider der geplanten Militärintervention der NATO zur Diskussion über das Zeitgemäße der Lehre vom gerechten Krieg.25 Der für das Selbstverständnis den Ausschlag gebende Reflexionswert kann mithin einmal das als negativ bewertete Handeln sein, welches immer konkretes Handeln ist und damit situationsbezogen diskutiert werden muss. Er kann aber auch eine abgelehnte Lehre sein, von der angenommen wird, sie lege dem Frieden Hindernisse in den Weg. Im Rahmen der Unterscheidung von Positivem (Designationswert) und Negativem (Reflexionswert) geht es mithin wesentlich um den Einfluss, den der Gegenwert oder negative Wert auf den Pazifismus gewinnt. Bereits die Prämisse eines modernen als Problemlösung konzipierten hobbesianischen Friedensbegriffs macht Kriegsphilosophien zu einem Teil der Friedenssemantik. Denn ist das Problem „Gewalt“, so kann die Lösung nur „Gegengewalt“ heißen, die sich im Extremfall als Krieg manifestiert.26 Der Krieg fungiert im Schema von Designationswert und Reflexionswert immer als das letzte Glied einer Skala schlimmer und tödlicher Mittel, deren sich bedient wird, um die im Vorzugswert zum Ausdruck gebrachten Ideale zu verwirklichen. Die Einflussnahme mit Tötungsfolge mag im Begriff des Krieges deutlicher enthalten sein als im Begriff der Gewalt. Gewalt hat als Regierungsgewalt die Bedeutung von Macht, die im angelsächsischen als power von der per definitionem ungerechtfertigten violence unterschieden wird. Wie sich an der Galtungschen Gewalttypologie aber zeigen sollte, sind die Grenzen von der unblutigen zu den blutigen Mitteln fließend. Galtung (1998) hat dieses nahtlose Übergehen im Modell des Dreiecks darzustellen gesucht: personelle (physische), strukturelle und kulturelle Gewalt bedingen und fördern einander. Daran können semantische Korrekturen, die bestimmte Formen des politischen Kampfes gegen Gewalt nicht mehr als Gewalt gelten lassen wollen und damit den Begriff der Gegengewalt durch den der „Gewaltlosigkeit“ oder der „Gewaltarmut“ ersetzen, nichts ändern. Ähnliches gilt selbst für den Begriff des Krieges, 25 Siehe zu diesem Aspekt aus einer Perspektive protestantischer Theologie Haspel (2002), einer interdisziplinären Bilek/Graf/Kramer (2000), Becker/Brücher (2001), einer völkerrechtlichen Merkel (2000), einer schwerpunktmäßig philosophischen Meggle (2004). 26 Nicht in ihrer Erscheinung, sondern nur im Hinblick auf ihren Rechtfertigungshintergrund, unterscheiden sich nach Röttgers (2002: 352) sog. primäre Gewalt und Gegengewalt.
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insbesondere für den im deutschen Grundgesetz und völkerrechtsverbindlich in der Charta der Vereinten Nationen noch immer verbotenen Angriffskrieg. Dieses Verbotsmoment entschwindet durch eine innersemantische Verschiebung, die im Gewaltbegriff weniger die violencia hervorhebt und mehr die potestas akzentuiert. Während sich die Bezeichnung „Angriffskrieg“ einer Bewertung des Handelns auf der Grundlage der Unterscheidung von Aktion und Reaktion verdankt, tritt dieser Aspekt der Frage, wer agiert und wer bloß reagiert, im Fall der „humanitären Intervention“ in den Hintergrund. Bewertet wird das kriegerische Handeln zunächst nach den deklarierten oder unterstellten Absichten, die dem Eingreifen zugrunde liegen. Die Vermeidung des Begriffs „Krieg“ noch in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist innerhalb gewandelter Sprachspiele einer positiven Konnotation gewichen. Wird der Rahmen, innerhalb dessen Kriege stattfinden, als weltinnenpolitischer verstanden, so richtet sich die Bewertung der militärischen oder nichtmilitärischen Mittel nur noch danach, wer sich solcher Mittel bedient. Dieser neue Sicherheitsdiskurs hat die Relevanz bestimmter völkerrechtlicher Grundsätze bestreiten und das Gewaltverbot des Art 2 (4) aushebeln können. Begriffe wie „humanitäre Intervention“ oder „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ waren in der Lage, mit der Nomenklatur auch den Sachverhalt im allgemeinen Bewusstsein zum Verschwinden zu bringen, auf den die Gewaltverzichtsnorm der Weltgemeinschaft nach dem 2. Weltkrieg bezogen worden war. Vor dem Hintergrund von Sprachspielen, die den Sinn der Begriffe in ihr Gegenteil zu verkehren imstande sind, müssen wir die Typologie des Bochumer Philosophen Kurt Flasch (2003: 92) prüfen, der den „Pazifismus, der generell und für alle Zeiten den Krieg verwirft“ zu jenen Kriegsphilosophien zählt, die als universale, zeitüberlegene Wahrheit vorgetragen werden. Daneben nennt er den „tragischen Realismus, der das Dasein als Kampf sieht, in dem, wer überleben will, mit schicksalhafter Notwendigkeit kämpfen, verdrängen und töten muss“, die „Theologie des Heiligen Krieges, die ihn rechtfertigt, weil Gott ihn befielt und dessen irdische Vertreter ihn verkündet haben“ und die „Lehre vom gerechten Krieg, die allgemeine Bedingungen angibt, unter denen Krieg gerechtfertigt oder verwerflich ist“.
Als Kriterium für die Bewertung des generellen Pazifismus als einer Kriegsphilosophie nennt Kurt Flasch (2003: 92f.) die unterstellte „universale, zeitunabhängige Wahrheit“, das „kontingenzfreie Sprechen über Krieg und Frieden“. Die schillernde Mehrdeutigkeit des Begriffs „Kriegsphilosophie“ weist durchaus auf etwas Wichtiges hin. Es ist in ihm ein bestimmter Sinn enthalten, der den Pazifismus gleich allen anderen genannten „abstrakten Kriegsphilosophien“ in eine Kriegslogik verstrickt, aus der zu entkommen durch die negative Bewertung von Kriegshandlungen nicht ohne weiteres möglich ist. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass die Kriegslogik im pazifistischen Sprechen dazu verführt, gewisse Formen der Druckausübung nicht mehr als Krieg und womöglich sogar nicht mehr als Gewalt gelten zu lassen. Wir werden diese semantische Metamorphose auch bei friedensphilosophischen Varianten, beim
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sozialrevolutionären, aber auch beim Rechts- und Atompazifismus beobachten. Dieser Sog, in den dialektisches Friedensdenken gerät, das die Negation des Negativen intendiert, ist freilich dort am sichtbarsten, wo dieser Logik am wenigsten Zügel angelegt wird, wie in der marxistisch-leninistischen oder maoistischen Strategie des Krieges gegen den Krieg. Im säkularen pazifistischen Denken herrscht ein instrumentelles Handlungsverständnis vor, das dem Clausewitzschen Prinzip der Kraftentfaltung näher ist als korrespondierenden Vorstellungen von kriegerischen Impulsen bei Platon und Hobbes.27 Gerade diese Gegenüberstellung gewinnt für den säkularen Pazifismus insofern eine besondere Bedeutung, als bei letzteren Autoren das Dilemma und die Verstrickung betont werden, die dem Menschen seine begrenzten Potenzen vor Augen führen. Chaos und Zwietracht bezeichnen bei Platon einen Zustand, in dem die Einzelnen nicht mehr als Teile eines Ganzen zusammenwirken. Dieses Verständnis wird mit Augustinus’ Friedensbegriff als Ruhe der Ordnung (tranquilitas ordinis) das mittelalterliche Europa bestimmen. Ist der Friede gestört, so lässt er sich weniger durch punktuelles und gezieltes Handeln und mehr durch eine umfassende Wiedereinordnung in ein sinngebendes Ganzes zurückgewinnen. Einbezogen bleibt ein Moment des Verhängnisses, das Krieg und Frieden auch als schicksalhafte Geschehnisse veranschaulicht. In diesem Punkt ist Hobbes an der Schwelle zur Neuzeit dem griechischen Denken näher als dem modernen. Denn auch bei ihm steht das Dilemmatische einer verfahrenen Situation im Mittelpunkt, aus der sich die Menschen aus eigener Kraft nicht befreien können. Die ständige Furcht vor der Gewalt des Anderen ist nämlich wechselseitig und kann aus diesem Grund gar nicht von einer Seite aus überwunden werden. Die vertragsrechtliche Friedenskonzeption erwächst deshalb nicht aus der Unsicherheit, die immer Unsicherheit und niemals Sicherheit gebiert; sie ist als die Fiktion einer Selbstüberwindung des perpetuierten Kriegszustandes unter den Menschen ein deus ex machina. Nur der paradoxe Pazifismus bleibt sensibel für diese Implikationen der Staats- und Gesellschaftsphilosophien. Immer wenn sich pazifistisches Denken an der Zweckrationalität der Mittelwahl orientiert und dieses Rationale an der größten Kraftentfaltung misst, haben wir es mit einem kriegsphilosophischen Pazifismus zu tun, der sich als Gegenentwurf zum politischen Realismus profiliert. Rechts- und Atompazifismus hingegen, die als friedensphilosophische Varianten des Pazifismus an Hobbes und diesen weiterführende Friedensdenker wie Rousseau und Kant anknüpfen,28 konzentrieren sich ganz auf die Konturen der Friedensstiftung, auf Gewaltmonopol, Bürgerversammlung und Rechtsstaat. Das bei Hobbes und auch noch bei Kant betonte tragische Moment des Verstricktseins in Furcht, Misstrauen und Unsicherheit, wird durch die Figur des potenten Akteurs überlagert, 27 28
Siehe zur Philosophie des Krieges bei Platon, Hobbes und Clausewitz, Kleemeier (2002). Zum unterstellten Recht auf Gewalt bei Hobbes, Rousseau, Kant u.a. siehe Hirsch (2004).
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der nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur des Zwischenmenschlichen zu beherrschen in Aussicht stellt. Angesichts der überwältigenden Vernünftigkeit der angebotenen „Lösungen“ ließ sich unter dem Damoklesschwert des atomaren Holocaust zumindest bis 1989 das Problem von Erwerb und Export dieser Errungenschaften verdrängen. Erst nachdem sich die staatliche Machtpolitik aus der Lähmung des atomaren Patt befreit sah, konnte deutlich werden, wie sehr pazifistisches Denken letztlich an Clausewitz und seinem Begriff des Krieges als einer in der Zeit und im Raum konzentrierten Handlung orientiert war. Der säkulare Pazifismus hatte dessen auf Entschlossenheit und Handlungsbereitschaft gegründetes Modell vielfach von der kriegerischen Strategie und Taktik auf nichtkriegerische gewaltfreie Strategien und Taktiken umformatiert. Das dahinter stehende mechanische Prinzip maximaler Hebelwirkung eines rational durchgeführten Kraftaktes sucht der säkulare Pazifismus von Clausewitz abweichend nicht in der physischen Gewalt, sondern im Konzept der Gewaltlosigkeit. Auf dieser Ebene liegen die Kontroversen mit dem politischen Realismus, der die Kraft weniger in gewaltlosen Strategien vermutet, sondern in der Gegengewalt. Die pazifistische Konzeption, gewaltlose Negation des Negativen betreiben zu können, gerät in Konflikt mit einem Alltagsverständnis, das – wie hier zu zeigen sein wird – mit der Zweck/Mittel-Semantik in Zusammenhang steht. Da Krieg und Gewalt in einem vormoralischen Sinne äußerste Steigerungsformen aktiven Handelns symbolisieren, gerät eine Aktionsform, die sich als Negation derselben profiliert, unweigerlich in den Geruch, schwach und passiv zu sein. Die Negation von Krieg und Gewalt, die nicht kriegerisch und gewalttätig vorgeht, die nicht das Abgelehnte mit gleichen, aber potenzierten Mitteln der absoluten Überlegenheit zu bekämpfen sucht, ist ein paradoxes Unterfangen. Denn es kommt hier ein umgedrehter Sinn üblicher Codierungen zum Vorschein: Die Negierung des „stärksten“ Mittels ist per definitionem Schwäche, sofern diese Negation sich nicht ihrerseits der stärksten zur Verfügung stehenden Mittel bedient. Man verzichtet auf das Starke und handelt sich damit das Schwache ein. Dieser Alltagslogik widersetzt sich der Pazifismus mit der Behauptung, was als stark erscheine, sei eigentlich schwach, weil Gewalt Gegengewalt in Gang setzt und damit das Übel verstärkt. Diese Behauptung ist wider den Sinn des kognitiven Schemas gerichtet, denn der Verteidiger des gewaltsamen Vorgehens wird dem Pazifisten entgegnen, dass diese von ihm beobachtete Schwäche nicht der Gewalt anzulasten ist, sondern dem ungenügenden Mittelaufwand. Was als Kraftakt dahergekommen ist, hat sich als zu schwach gezeigt. Der Logik von kognitiven Schemata wie Zweck und Mittel, Stärke und Schwäche, ist schlechterdings nicht zu entkommen. Denn das stärkste zur Verfügung stehende Mittel ist ein Begriff, der eine Funktion im Schema erfüllt und nichts, was objektive Kraftverhältnisse wiedergibt. Wird behauptet, das stärkste Mittel sei schwach, so lässt sich diese Aussage sofort mit Hilfe eines anderen, nämlich des Schemas von Sein und Schein desavouieren. Der Nicht-Pazifist kontert: „Das gewalt-
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same oder kriegerische Mittel kann dir nur als schwach erscheinen, weil es nicht alle Kräfte mobilisiert hatte, das wird es nun nachholen.“ Das Sein und mithin die realen Möglichkeiten – die wahre Natur des Krieges – ist nicht überbietbare Stärke. Die Kriegsphilosophie von Clausewitz hat diese formale Logik der kognitiven Schemata, die der Beobachtung des Gewaltphänomens zugrunde liegen, in einer bis heute weltweit gültigen und rezipierten Form entfaltet.29 Da wir uns in diesem Kapitel mit dem Pazifismus als Kriegsphilosophie und mithin einem Verfahrensmodus beschäftigen, der Handeln als Negation eines Negativen versteht, wird die Art und Weise, in der Gandhi mit diesem Problem umgeht, nur kurz gestreift. Die europäisch-amerikanische Rezeption der indischen NonViolence verdankt sich in der Regel einer Marginalisierung der Einsicht in die Gewaltverstrickung und damit die Grundparadoxie des Pazifismus. An deren Stelle tritt dialektisches und empirisch-analytisches Denken, die Methoden zur Überwindung jeglicher Gewalt in Aussicht stellen. Diese werden als säkulare Variante des religiösen Ansatzes der Gewaltlosigkeit bei Gandhi verstanden. Als eine verkürzte Sicht erscheinen diese methodischen Umorientierungen aus dem Grund, weil das Spezifische des Gandhi-Projekts im Umgang mit der Paradoxie „das Schwache ist das Starke“, gesehen werden muss, während die verwissenschaftlichte Version die Paradoxie nicht als Problem entfaltet. Sie unterstellt ihrem Konstrukt eine noch unsichtbare, noch nicht verifizierte Logik, die zeigt, dass die eigentliche Stärke bei der Nichtgewalt liegt. Da die Grundkonzeption Gandhis davon grundverschieden ist, muss die Auseinandersetzung mit diesem Denken, obgleich es einen großen Teil des abendländischen Pazifismus geprägt hat, einem eigenen Kapitel über paradoxen Pazifismus vorbehalten bleiben. Dabei muss schon an dieser Stelle erwähnt werden, dass der paradoxe Typus gerade nicht aufgrund der grandiosen Erfolge der Non-Violence an Gandhi exemplifiziert wird, sondern allein deshalb, weil hier ein ungebrochenes Verhältnis zum paradoxen Charakter des Friedensphänomens anzutreffen ist als im nachaufklärerischen christlichen Kulturraum. Das abendländische Denken ist seit der Aufklärung vom Rationalismus geprägt, der in naturalistischen und vitalistischen wissenschaftlich-philosophischen Gegenströmungen nicht angetastet, sondern nur um Kräfte ergänzt worden war, die eine Fixierung auf den rational kalkulierenden Verstand vernachlässigt hatte. Hier kommt Religion im Pragmatismus eines William James und im Vitalismus Friedrich Nietzsches als Quelle der Handlungsmotivation ins Spiel. Für die christlich-abendländisch-aufklärerische Kulturtradition sollte die Identifizierung des „Jesus-Typs“ mit Durchsetzungsschwäche, die Nietzsche im Antichrist aus dem mit Scheitern gleichgesetzten Sterben am Kreuz folgert, bestimmend werden.30 29
Siehe dazu Herberg-Rothe (2001). Siehe dazu Werner Stegmaier (2007: 82), der ein Bewusstsein für die Paradoxie des Friedens in der Philosophie wachrufen möchte.
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3.1.1 Der Friede als Mittel und als Zweck Die kategoriale Bedeutung des Zweck/Mittel-Schemas wird zu Beginn des kriegsphilosophischen Kapitels herausgestellt, obgleich zweckrationales Denken auch für den friedensphilosophisch-organisatorischen Pazifismus bestimmend ist. Diese Stelle der Abhandlung ist für die Auseinandersetzung mit strukturellen Determinanten der Zweck/Mittel-Semantik deshalb gewählt, weil nur der kriegsphilosophische die mit dieser Semantik verbundenen Probleme als Teil des Pazifismus behandelt.31 Nicht die Relevanz rationalistischen Denkens, sondern nur das Problembewusstsein unterscheidet die beiden Varianten des Pazifismus in diesem Punkt. Im dialektischen Denken ist die Paradoxie „das Schwache ist das Starke“ ebenso wie die Paradoxie „das Negative ist das Positive“ prozeduralisiert und in einer Synthese aufgelöst. Das besagt folgendes: Das im Schema als schwach Codierte (Verhandlung, Nicht-Zusammenarbeit) wird durch einen bestimmten Prozess verändert und schließlich in sein Gegenteil verkehrt. Dieser Prozess wird mit einer Operation in Gang gesetzt, die diese „schwachen Mittel“ in einen veränderten taktischen und strategischen Rahmen – z.B. den des Klassenkampfes – stellt. In diesem Rahmen wird der militärischen und ausbeuterischen Gewalt entgegentreten. Damit stärken sich die gewaltlosen Mittel von Streik, Boykott usw. und bereiten den Umschlag der gesellschaftlichen Verhältnisse – Entmilitarisierung, Demokratisierung, Enteignung, gerechte Verteilung – vor. Die Grundlagen der „gewaltfreien Aktion“ dieses Typs wurden in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts gelegt.32 Die Entparadoxierung gelingt nur, wenn der weltanschauliche Hintergrund einer geschichtsphilosophischen Entwicklung hin zum Frieden, zu Demokratie und Verteilungsgerechtigkeit plausibel ist. Weder in der Hegelschen noch in der Marxschen Dialektik werden dem Mittel jedoch Zügel angelegt. Die Negation des Negativen kann nur deshalb so erfolgreich sein, weil sie eben selbige Negation mit allen, auch mit den stärksten zur Verfügung stehenden Mitteln des gewaltsamen Kampfes, betreibt. Analog den Argumenten des Pazifismus insistiert auch der Anarchismus auf Methoden, die den Zweck antizipieren: Die zu schaffende Gesellschaft der Freien, Gleichen und Brüderlichen soll nicht mit Methoden erreicht werden, die auf Ungleichheit beruhen. Weder pazifistische noch anarchistische Zweck/Mittel-Logiken haben sich gegen die nationalistischen und marxistischen durchsetzen können. Der 31 Außer Acht lassen wir hier die Komplikationen, die sich für den Pazifismus im Falle eines Verständnisses von „Krieg“ ergeben, der wie bei dem Militärhistoriker Martin van Creveld (1998) nicht durch die Zweck/Mittel-Relation zu fassen ist, sondern eher einem Spiel vergleichbar ist, das man um seiner selbst willen tätigt. 32 Der anarcho-syndikalistische Pazifismus Bart de Ligts ist hier ebenso zu nennen wie die gewaltlose Variante der holländischen Marxistin Henriette Roland Holst (Die Kampfmittel der sozialen Revolution) und der erste sozialpsychologische Ansatz aus den USA von Clarence Marsh Case „Nonviolent Coercion. A Study in Methods of Social Pressure, siehe Jochheim (1977: 44).
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Grund dürfte im Wesentlichen darin zu finden sein, dass sie den dialektischen und zweckrationalen Ansatz letzterer teilen. Wie wir weiter unten sehen werden, ist es diese unvermeidliche Logik des Zweck/Mittel-Schemas, die Gandhi bewegt, diese von Grund auf zu meiden. Die nicht auszuräumende Gefahr, dass die positive Absicht gegenteilige Wirkungen zur Folge hat, konfrontiert abstrakte „Kriegsphilosophien“ mit der Tatsache, dass man das Schlechte oder Böse zwar meiden, aber nicht abschaffen kann. Steht eine bestimmte Institution, wie der „Krieg“ für das Böse schlechthin, dessen Bekämpfung wertethisch gesehen als gut erscheint, dann verstrickt sich der Kampfgeist in das Übel, das er abzuwehren sucht. Dieses Thema wird gewöhnlich unter dem Stichwort „Krieg dem Kriege“ abgehandelt. Es macht deshalb einen wesentlichen Unterschied, ob der Krieg gegen den Krieg einen Begriff des Mittels zugrunde legt, der als Bewirken einer Wirkung kausal verstanden ist, oder ob der Krieg als Moment eines dialektischen Prozesses zur Negation eines Negativen wird. Im letzteren Fall hebt sich das spezifisch kriegerisch Gewalttätige im Urteil dort auf, wo es gegen die Institution „Krieg“ eingesetzt wird. In beiden Fällen aber ist der zur Strategie gegen den Krieg umfunktionalisierte Krieg wertethisch gesehen mit dem Krieg gar nicht zu vergleichen, der als Chiffre für das Übel schlechthin, für die „Geißel der Menschheit“ steht. Im kausalen Verständnis ist der zum Mittel deklarierte Krieg wertneutral, weil im zweckrationalen Denken nur der Zweck den Wert symbolisiert. Zwecke sind wertgeschätzte Wirkungen des Handelns. Mittel partizipieren am Wert des Zwecks, aber sie sind nicht selbst Träger von Werten.33 Indem der Pazifismus an diesen zweckrationalen Glaubenssatz rührt und die Wertneutralität der Mittel bestreitet, wird eine Umkehrung der Asymmetrie erreicht. Es ereignet sich eine Zweck/Mittel-Verschiebung: Das Mittel verwandelt sich in den Zweck und weist dem Zweck den untergeordneten Rang des Mittels zu. Betrachtet man diese Zweck/Mittel-Verschiebung nicht unter einem strukturellen Aspekt, sondern konzentriert sich auf das Inhaltliche, auf Frieden und Krieg, auf gewaltsamen und nichtgewaltsamen Konfliktaustrag, dann kommt diese Zweck/Mittel-Verschiebung gar nicht als Problem in den Blick: Nun sind es die Mittel zur Herstellung friedlicher Verhältnisse, die den Wert des gewaltfreien Konfliktaustrags symbolisieren. Dass auf diese Weise tatsächlich eine Verschiebung stattfindet und das bedeutet, der Friede zum – wertfreien – Mittel degeneriert, wird allerdings nicht gesehen. Denn vordergründig betrachtet ist eine Strategie inkonsequent, die den Frieden nicht mit friedlichen, sondern mit unfriedlichen Mitteln herzustellen sucht: „si vis pacem para bellum“. Die Mittel müssen so geartet sein, dass sie den Zweck, um dessentwillen sich ihrer bedient wird, nicht zerstören. Dieses wertethische Prinzip der Zweck/Mittel-Symmetrie gilt es nicht nur beim Thema „Krieg“, sondern auch beim Thema 33
Siehe zu dieser Logik des säkularen Zweck/Mittel-Denkens in Abgrenzung vom teleologischen der aristotelisch-thomistischen Tradition Luhmann (1973).
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„Menschenrechtsverletzung“ zur Geltung zu bringen. Dahinter steht die Überzeugung, dass nicht nur die in der Zukunft zu erwartenden Ergebnisse des Handelns moralisch zu bewerten sind, sondern auch das Handeln selbst, das Ziele verwirklicht. Das aber bedeutet, der Pazifismus erhebt die Zweck/Mittel-Symmetrie zum Ideal. Die Normen binden den Handelnden in jedem Moment seines Engagements. Dieser kann sich nicht mehr unter Hinweis auf die Gefährlichkeit der Gegner oder die verhärteten Gewaltstrukturen aus der selbst auferlegten Verpflichtung zum Gewaltverzicht befreien. Da der Pazifismus aber eine politische Lehre und nicht eine Ethik ist, gründet dieses Ideal der Zweck/Mittel-Symmetrie des Friedens mit friedlichen Mitteln auf der Überzeugung, dass „gewaltlose“ Mittel die effektiveren Mittel der Herstellung und Bewahrung des Friedens seien.34 Damit ist nun jedoch folgende Konstruktion eingehandelt: Die Zweck/Mittel-Symmetrie wird zum wertbesetzten Zweck, „si vis pacem para pacem“. Innerhalb des Zweck/Mittel-Denkens muss jedoch eine der beiden Seiten der Unterscheidung die Funktion des Wertes und die andere diejenige des wertentlasteten Teils übernehmen, um am rationalistischen Begriff des Handelns als Bewirken einer beabsichtigten Wirkung festhalten zu können. Mithin kann auf das wertentlasteten Mittel gar nicht verzichtet werden, solange sich das Engagement als politisches und damit als ein Denken präsentiert, das die Effektivität der Einsätze zum Kriterium ihrer Legitimität erhebt. Die „friedlichen Mittel“, die niemandem nützen, die niemanden vor Gewalt schützen und die niemandem gerechte Verhältnisse bescheren, werden gar nicht erst als „friedenspolitisches Handeln“ erkennbar. Wenn dies aber so ist, dann darf der Begriff „friedliches Mittel“ nicht konkretisiert werden. Es muss offen bleiben, was im Einzelfall unter den gegebenen Umständen als „friedlich“ gelten soll, die Sitzblockade, der Boykott, der zivile Ungehorsam, der Streik, der Generalstreik, die „humanitäre Intervention“. Die aufsteigende Linie des Gewaltgebrauchs zeigt die Tücken eines Theorieansatzes, der die schlechte Zweck/Mittel-Asymmetrie eines „Friedens mit gewaltsamen Mitteln“ durch die gute Zweck/Mittel-Symmetrie des „Friedens mit friedlichen Mitteln“ zu ersetzen sucht. Die abschüssige Bahn zunehmender Gewaltverstrickung, auf die sich „friedliche Mittel“ begeben, sobald versucht wird, diese in konkretes Handeln zu übersetzen, zeugt von einer Funktion, die nicht einfach beseitigt werden kann. Die Funktion eines Mittels ist es, einen Zweck der Realisierung näher zu bringen, und diese Funktion lässt sich nicht erfüllen, wenn das Mittel reglementiert wird. Vergegenwärtigt man sich in dieser Weise die zweckrationale Logik, dann scheint offensichtlich, dass geradezu logische Barrieren daran hindern, den Frieden zu einem Zweck und gleichzeitig zu einem Mittel zu erklären. Es ist eine rhetorische Finesse, die an der Handlungsstruktur als solcher nichts ändert. Diese Struktur bleibt 34 Dieses Argument wird in besonderer Weise in den Konzeptionen sozialer Verteidigung ausgearbeitet. Wir kommen darauf in Kapitel 6.3.1 eingehend zu sprechen.
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immer so geartet, nämlich asymmetrisch unterteilt in wertgeschätzte Wirkungen des Handelns und das Handeln selbst, das wertneutral sein muss, um nicht wirkungslos zu bleiben. „Wert“ steht dabei für eine Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten. Der Wert des Friedens liegt darin, dass Menschen sich selbst und anderen versagen, Abneigung, Antipathien, Aggression und Hass auszuleben, sei es direkt am Objekt des Hasses oder an einem stellvertretenden Objekt, einem Sündenbock. Das ist ein Freiheitsentzug, der sich eigens legitimieren muss und zwar durch eine moralphilosophisch oder -theologisch fundierte Kultur, die nur eine gewisse Zeit in ihrer Bindewirkung akzeptiert wird. Die „Postmoderne“ ist ein Schlüsselbegriff für die Emanzipation von und den Verlust von moralischen Selbstverständlichkeiten,35 an die in der Regel Nachkriegsgesellschaften nicht zu rühren wagen, handelt es sich bei diesem unbefragt Geltenden doch um die Ablehnung eines Handelns, das mit der verfemten Vorgängergesellschaft in Verbindung gebracht wird. Gilt die Vergangenheitsbewältigung als abgeschlossen, werden Unstimmigkeiten in den kulturstiftenden Symbolstrukturen verstärkt wahrgenommen. Die Enttabuisierung von Gewalt rührt an die Art und Weise, in der ein traumatisiertes Europa mit dem Tötungsverbot umgegangen war – im Gegensatz etwa zu den USA. Der Freiheitsentzug, den Gesellschaften akzeptieren, solange sie ihren eigenen als einen Friedenszustand wahrnehmen, scheint schlechterdings nicht mehr annehmbar, wenn der Eindruck überhand nimmt, man befinde sich im Ausnahmezustand. Der in den Liberalismus eingebaute Widerspruch, die Freiheit zum Leitwert zu erklären und als Freiheit aller im Gleichheitsprinzip zu verankern, tritt dann zu Tage. Denn die Freiheit aller zeigt sich empirisch als gleiches Recht auf alles und somit auch auf die Verletzung des Anderen, der der eigenen Freiheit im Wege steht, oder der sich unbeliebt gemacht hat. Die Aporien des liberalen Freiheitsverständnisses haben seit der Staatsphilosophie von Thomas Hobbes eine Reihe von Lösungsvorschlägen hervorgebracht. Diese suchen die negativen Auswüchse dieses Leitwertes entweder durch externen oder durch internen, internalisierten Zwang zu beschneiden. Ohne externen oder internen Zwang sind Freiheit und gleiches Recht auf Leben unvereinbar. Das aber bedeutet: „Gleiches Recht auf Leben“, das Galtung (1998) in der Zweck/Mittel-Symmetrie des „Friedens mit friedlichen Mitteln“ zu gewährleisten sucht, markiert nur den „wertvollen“ Zweck. Die Symmetrie ist mithin nichts anderes als eine Präzisierung dessen, was man wünscht, nämlich Selbstverwirklichung für alle – Abwesenheit von personeller und struktureller Gewalt. Man wünscht sich eine 35
Das gilt selbst für die Verwendung des Begriffs im militärstrategischen Rahmen, wo die Revolution der Kriegstechnik („revolution in military affairs“ RMA) im Vordergrund steht. „Postmoderne Streitkräfte“ zeichnen sich durch informationstechnisch ermöglichte Emanzipation von Raum-ZeitBindungen aus: „großräumige Mobilität, operative Flexibilität und ‚Versatilität’“ (Eignung für verschiedene Verwendungen unter unterschiedlichen Einsatzbedingungen), die eine Bindung an ius-inbello-Regeln kaum noch zulassen (Rühe 2000).
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Wirklichkeit, in der niemand dazu gezwungen werden muss, anderen nicht lebensbedrohlichen Schaden (personelle Gewalt) oder auch nur Schaden (strukturelle und symbolische Gewalt) zuzufügen. Die symmetrische Zweckformel „Frieden mit friedlichen Mitteln“ verlangt jedoch nach der asymmetrischen Formel für das Mittel, das nicht auf die Werte des Zwecks verpflichtet werden darf, um zwingen zu können. Diese Logik erstreckt sich keineswegs nur auf den äußeren Zwang, sondern betrifft genauso den inneren Zwang. Denn wie wir von der Psychoanalyse wissen, ist der verinnerlichte Zwang keineswegs für den Anderen ungefährlich. Er neigt dazu, sich Ventile zu suchen, die erlauben, den inneren Druck loszuwerden. Eine Chance dazu bietet sich in jedem Fall, wenn man allgemein geteilte Aversionen pflegt. Wer sich heute gegen die Bevölkerungsgruppe des islamisch-arabischen Kulturraums ereifert, die unter Generalverdacht steht, den Terrorismus zu fördern, der verlegt sich nach allgemeiner Einschätzung nicht auf „unfriedliche Mittel“, sondern schätzt die Gefahr realistisch ein. Mit der Einordnung einer Variante des Pazifismus unter die Kriegsphilosophien ist auf eine entscheidende Paradoxie aufmerksam gemacht, von deren Auflösung letztlich abhängt, ob die apodiktische Art und Weise, in der die pazifistische Lehre und Bewegung den Krieg und generell Gewalt ablehnen, Anerkennung findet. Es geht dabei wohlgemerkt um die programmatische „Ablehnung von“, bei der nicht gewiss sein kann, ob sie gelingt. Der Hauptgrund für die Schwierigkeit, programmatisches und faktisches Ablehnen zur Deckung zu bringen, liegt – um es noch einmal zu betonen – in der Identifizierung von Krieg und Gewalt mit dem Schlechten oder dem Bösen. Als intrinsisch schlecht, lassen sich Krieg und Gewalt aber nicht abschaffen. Das Böse ist als die andere Seite des Guten Bestandteil eines kognitiven Schemas. Es ist insofern unendlich regenerationsfähig. Die Ablehnung von Krieg kann zur Umdefinition desselben in „humanitäre Intervention“ führen, und die Ablehnung von Sklaverei hat den Topos der Billiglohnländer kreieren lassen. Soweit Krieg und Gewalt in den traumatisierten Nachkriegsgesellschaften nicht kultisch überhöht, sondern scharfer Kritik unterzogen werden, dominiert ein pazifistischer Grundtenor. Dieser verflüchtigt sich in nachfolgenden Generationen, die Gewalt und Krieg als Manifestation von Stärke und Durchsetzungskraft, oder als stimulierender Impuls, wieder zu schätzen beginnen. Die „realistische“ Fremddarstellung aber konzentriert sich im Allgemeinen auf ein unterstelltes Defizit, das der Pazifismus gerade zu überwinden sucht. Sie spricht dem pazifistischen Mittelkatalog jede Effizienz ab, die von ihm hochgehaltenen Ziele zu verwirklichen. Die Kriegsverherrlichung und damit die im eigentlichen Sinne militaristische Haltung ist in gewisser Weise nur eine Steigerung der Effizienz, eine Bündelung aller Energien. Dadurch kommt es wie im Pazifismus zu einer Zweck/Mittel-Vertauschung, aber in umgekehrter Richtung: Das stärkste zur Verfügung stehende Mittel wird zum Zweck. Während der Krieg die Werte zu symbolisieren beginnt, um derentwillen gehandelt wird, nämlich Stärke, Selbstbehauptungswille, Selbstverwirklichung, Erlebnis, ändert sich an den Mitteln nichts. Die Mittel bleiben wertneutral, denn andernfalls wären sie als
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Instrumente nicht zu gebrauchen. Diese Logik zeigt sich am „tragischen Realismus“ in seiner Frontstellung zum Pazifismus. (Schmitt 2005). Die Wertneutralität des Mittels verbindet nicht nur den Pazifismus mit jeder anderen Kriegsphilosophie, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen, sondern macht diesen in gewisser Weise erst zu einer solchen. Denn nimmt man dem Pazifismus seine zweckrationale Kontur, dann bleibt eine Ethik zurück, die nach den Kriterien des Unterscheidens von gutem (gewaltfreiem) und schlechtem (gewaltsamem) Handeln fragt. Als Reflexionstheorie der Moral36 sieht sich die Ethik außerstande, das Gute und das Böse an konkreten Erscheinungen des sozialen Lebens (Krieg) und an konkreten Menschen (Träger schlechter Strukturen, Personifikationen des Bösen) dingfest zu machen. Denn in der ethischen Reflexion werden die Kriterien des Unterscheidens von Gut und Schlecht problematisiert, während die moralische Kommunikation dieser Problematisierung gewöhnlich aus dem Weg zu gehen sucht, indem bestimmte Menschen und Menschengruppen aufgrund der Achtung, die ihnen entgegengebracht wird, mit dem Guten oder Schlechten identifiziert werden. Um die kriegsphilosophische Kontur des Pazifismus herauszuarbeiten, müssen wir tiefer in die Logik des Zweck/Mittel-Schemas eindringen. Wenn vom kognitiven Schema die Rede ist und nicht nur von Kategorien37 im Sinne Kants, dann ist eine soziologische Dimension dieser Kategorien immer schon mitgedacht. Es geht um den sozial eingespielten Kategoriengebrauch, das heißt, es geht um Problemlösung. Das Zweck/Mittel-Schema ist eine Problemlösungsstrategie, die in die Kommunikationsstruktur so eingebaut ist, dass die Kommunikationsteilnehmer in einer ganz bestimmten Weise informiert sind, sobald sich einzelne Teilnehmer dieses Schemas bedienen. Der Sinn des Schemas ist um die Wertneutralität des Mittels herum aufgebaut; das Mittel ist reines Instrument, mit dessen Hilfe der Zweck verwirklicht werden soll. Was der Pazifismus versucht, ist eine wider den kommunikativen Sinn gerichtete Verwendung des Zweck/ Mittel-Schemas, wenn sie das Mittel nicht mehr als wertneutral anerkennen möchte, sondern als eigenständigen Wert behandelt. Die innere Logik des Zweck/Mittel-Schemas betrifft jedoch eine Sinnfülle, die sich dem Sinnverstehen des Handelnden entzieht. Darin liegt ein determinierendes Moment, das den Handelnden, sobald er sich in der Rechtfertigung seines Handelns auf dieses Schema stützt, in seiner Freiheit einschränkt. Der im Schema verankerte Sinn stülpt sich sofort über den gemeinten Sinn des Handelns, sodass sich Konsequenzen einstellen, die gar nicht in der Absicht des Handelnden lagen, die aber durch die Sinnstruktur des Schemas vorgegeben sind. 36
Luhmann (1989: 358ff.) teilt der Ethik die Funktion zu, vor Moral zu warnen, indem sie deutlich macht, in welchem Maße die Moral ihre eigene Paradoxie verdeckt. 37 Die Kategorienlehre Kants gründet in der Einsicht, dass alle Begriffe ihre Grundlage in Formen haben. Deren Referenz auf eine Außenwelt sieht Karl Eberhard Schorr („Zu Formanalyse und Formgebrauch in der Logik“, in: Baecker 1993a: 73) durch das logisch-mathematische Kalkül Spencer Browns gesichert.
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Das Alltagsbewusstsein weiß von den Konsequenzen dieser Sinnstruktur sehr wohl und hat dafür einen Gemeinplatz reserviert. Wenn es heißt „der Zweck heiligt die Mittel“, so schwingen darin Konnotationen mit, die keineswegs den Missbrauch eines an sich „unschuldigen“ Schemas beklagen lassen. Dieser Satz kommt eher wie ein Statement daher, das über etwas informiert, das sich regulär so verhält, wie es sich dem Betrachter darstellt. Schlüsselt man die Begriffe handlungstheoretisch auf, so zeigt sich diese Struktur sehr deutlich. Der Zweck erfüllt im Handeln die Funktion, Einheit einer wertgeschätzten Wirkung zu sein (Luhmann 1973: 180): Der Zweck vereinigt im modernen rationalistischen Denken alles, was mit Präferenzen, mit Werten und Normen in Zusammenhang steht. Bringt die Zweckformel (Frieden, Gerechtigkeit) jedoch zum Ausdruck, was Akteure, die sich dieser Formel bedienen, mit ihrem Handeln beabsichtigen, dann impliziert diese Funktion eine weitere, nämlich die Funktion, die Mittel zu heiligen (Luhmann 1973: 46). Luhmann beschreibt diese als Neutralisierungsfunktion. „Neutralisiert“ und mithin in ihrer Bedeutung herabgesetzt wird alles, was der Zweck nicht als Wert eigens zum Ausdruck bringt. Bedeutungslos erscheinen aber auch alle Folgen, die der Zweck nicht intendiert hat, die sich also gewissermaßen gegen den im Zweck artikulierten Willen einstellen. Jedes mit rationalen Argumenten gerechtfertigte Handeln muss den Anschein erwecken, seine eigenen Wirkungen nicht nur vorausberechnen, sondern auch kontrollieren zu können. Das Handeln wird als Bewirken einer Wirkung zu einer Ursache, die sich kalkulieren lässt. Das Zweck/Mittel-Denken bezieht seine Plausibilität aus der Vorannahme, Mittel und Zwecke seien entsprechende Ausdrücke für Ursache und Wirkung, wenn es um menschliches Handeln geht. Dieses Denken sucht durch eine Tautologie zu überzeugen: Ursache und Wirkung verwandeln sich in Mittel und Zwecke, wenn sie in Handlungszusammenhängen stattfinden.38 Dieses „stattfinden“ oder „sich ereignen“ beruht aber auf nichts anderem als dem Willen eines Akteurs, der mit seinem Handeln etwas erzielen möchte. Der Wille ist die nahezu einzige Realitätsgrundlage; alle nachfolgenden durch das Handeln provozierten Ereignisse entziehen sich dem Willen des Akteurs. Wenn dieser Wille nicht strukturblind ist und Möglichkeiten nicht völlig falsch einschätzt, so mag das Beabsichtigte im großen Spektrum der vom Handeln ausgehenden Wirkungen mitenthalten sein. Die Komplexität der Wirkungen aber muss wegrationalisiert werden, will der Handelnde nicht sein Gesicht verlieren und zugeben, dass Handlungen keine kalkulierbaren Ursachen sind, sondern bloße Ereignisse, die nicht nur gewollte, sondern im gleichen Maße auch ungewollte Veränderungen hervorbringen.39 38 Siehe zur Kritik der „tautologischen Transformation des Zweck/Mittel-Schemas in Ursache und Wirkung“ Waas (1985). 39 Zu den Problemen der Intervention in komplexe Systeme siehe Peter Fuchs (1999). Der General Carl von Clausewitz, der mit dem zentralen Ausspruch, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, als Gewährsmann des rationalistischen Handlungssverständnisses gilt, teilt jedoch
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Die Neutralisierungsfunktion des Zwecks liegt mithin darin, die Komplexität der Wirkungen zu reduzieren, indem unterschieden wird in relevante, weil gewollte Wirkungen und zu vernachlässigende, weil ungewollte Neben- und Folgewirkungen. Diese Unterscheidung aber ist von der Sache her gesehen willkürlich und nur von ihrer Funktion her gesehen „rational“. Denn jedes Handeln wirkt innerhalb eines überkomplexen vernetzten Strukturganzen, das den Handelnden entmutigen müsste. So gilt es zunächst, diese Komplexität kontrafaktisch (künstlich) zu reduzieren, bevor Pläne geschmiedet und in die Tat umgesetzt werden können. Die Neutralisierungsfunktion wirkt in erster Linie gegen komplexitätsbedingte Entmutigung, gegen die Enttäuschung, dass jede Bemühung immer auch Wirkungen zeitigt, die ganz und gar nicht gewollt sein können. Ganz im Sinne dieser Funktion unterscheidet die politische Semantik der „humanitären Intervention“ gegenwärtig Schäden (intendierte Wirkungen, wie die Zerstörung von Waffenlager und feindlichen Truppen) und Kollateralschäden (nicht intendierte Wirkungen des Tötens von Unschuldigen, sog. „Nichtkombattanten“). Nur das, was vom Zweck gewollt ist, fällt wertethisch gesehen ins Gewicht. Diese Unterscheidung von Schäden und Kollateralschäden kann die Motivation zur Annahme von politischen Plänen, eine durch Menschenrechtsverletzung oder Staatszerfall gekennzeichnete desolate Situation fremder Länder durch militärische Intervention zu bessern, oder durch Präventivkriege Terrorprophylaxe zu betreiben, nur deshalb so hervorragend steuern, weil die Neutralisierungsfunktion fraglos anerkannt ist. Die Wirkung einer solchen Aktion muss in den Augen der meisten Menschen gegenüber den Absichten zurückstehen, mit denen die Intervention durchgeführt worden war. Selbst in weniger komplexen Interaktionskonstellationen sog. „einfacher Sozialsysteme“40 sind die Annahmemotive nicht selbstverständlich. Im Gegenteil weist der Spruch „Gut gemeint …“ eher auf eine Diskreditierung dieser Legitimitätsfigur der „rechten Absicht“ hin. Hier springt die Neutralisierungsfunktion der Zweckformel ein, indem sie unwägbaren, unkalkulierbaren Unternehmungen Plausibilität verschafft. Über diese Funktion aufzuklären, ist eine bislang vom Pazifismus nicht wahrgenommene Aufgabe. Der tiefere Grund für diesen Mangel liegt jedoch darin, dass alle Varianten des Pazifismus, ausgenommen der paradoxen, das rationalistische Handlungsverständnis ihrer politischen Gegenspieler teilen. Dieses Zurückstehen der moralischen Qualität der Wirkung des Handelns hinter dem im Zweck bekundeten politischen Willen, ist der Nachklang einer veränderten Semantik, die mit der Entwicklung zur modernen funktional differenzierten Gesellschaft Schritt hält. Diese spiegelt ein sich verlagerndes Vertrauen, das immer weniger der Moral und mehr der Wissenschaft entgegen gebracht wird. Das moralisch Gute mit dem grundlagentheoretischen Begriff seiner Kriegsphilosophie, der „Wechselwirkung“, eine kritische Perspektive auf das Zweck/Mittel-Denken. Siehe zu Eskalation und Deeskalation bei Clausewitz Brücher, Eskalation als Konflikt- und Friedensparadigma, i.V. 40 Luhmann (1984: 263) versteht darunter Erwartungszusammenhänge, die sich durch die Interaktion unter Anwesenden bilden.
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wird nicht mehr ohne weiteres als das pragmatisch Gute anerkannt. Mit dem Aufkommen der empirischen Wissenschaften verwandelt sich die Praxis geradezu in ein Experimentierfeld, auf dem immer wieder neues und anderes Handeln in seinen Wirkungen erprobt wird. Die spektakulären Großexperimente des zwanzigsten Jahrhundert haben entweder in die Katastrophe geführt, oder standen zumindest dem Fortschritt im Wege. Dabei erstreckt sich ein diesbezüglicher Konsens im Falle von Nationalsozialismus und Realsozialismus nur auf ganz bestimmte Teile dieses Experiments. Bei ersterem wird ausschließlich der Begriff des Verbrechens ins Zentrum gerückt und damit eine Kategorie, die nur im Rahmen einer bestimmten Rechtsordnung Sinn macht. Bei der historischen Bewertung des Realsozialismus tritt das Scheitern eines gesellschaftsstrukturellen Experiments in den Vordergrund. Die Gegenüberstellung von Demokratie und Totalitarismus hat insofern eine falsche Fährte gelegt, als damit der Anschein erweckt wird, die „freie“ Wahl zwischen Parteien würde menschenverachtende Politiken verhindern. Wahlmöglichkeiten gibt es jedoch nur zwischen Parteien, die nicht an Grundprinzipien der Verfassung rühren. Wer die Aufhebung der Marktwirtschaft zum Ziel hat, gilt als verfassungswidrig; dasselbe galt in den ehemaligen COMECON-Staaten für Aufweichungstendenzen bezüglich planwirtschaftlicher Strukturen. Das unmenschliche Profil führte der Westen auf die planwirtschaftliche Unterdrückung der freien Initiative zurück. Erst im Zuge der Globalisierung des Liberalismus sehen wir heute, dass das verabsolutierte marktwirtschaftliche Paradigma in seiner Menschenverachtung dem bekämpften System nicht nachsteht, da ein am Verkaufswert orientiertes Werteverständnis den Menschen nur noch als Material wahrnehmen lässt.41 Analog wäre ein Nationalsozialismus durchaus denkbar gewesen, der unterschiedliche Parteien zulassen kann, sofern nur das biopolitische Programm der medizinisch-naturwissenschaftlichen Rasseveredelung nicht angetastet wird. Im Realsozialismus war die experimentelle Freiheit der Nomenklatura des politischen Systems sakrosankt, im Nationalsozialismus die experimentelle Freiheit des medizinisch-naturwissenschaftlichen Systems und im Liberalismus ist es die Freiheit des Wirtschaftssystems. Was nun heute ins Auge sticht, ist ein Rationalitätsverständnis, das die moderne Entwicklung von der moralischen zur wissenschaftlichen Beurteilung von Handlungen wieder rückgängig macht. Wir finden diese Auffälligkeit insbesondere in einem Verantwortungsdiskurs, der immer dort, wo Verantwortung angemahnt wird, Interventionsrechte beanspruchen lässt. Dabei geht es bewusst um Intervention in komplexe Systeme, in fremde Länder, die in Bezug auf Mentalität, Sozial- und Kommunikationsstruktur vom Eigenen zu sehr abweichen, um auch nur annähernd in die strategischen Kalkulationen einbezogen zu werden. Die Unmöglichkeit, hochkomplexe Systeme zu steuern42 und das bedeutet, im Sinne der Interventionsmacht zu 41
Siehe zu diesem Aspekt Brücher (2004a). Siehe dazu Willke, Helmut, „Strategien der Intervention in autonome Systeme“, in: Baecker (1987: 333ff.); Willke (1994). 42
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beeinflussen, liefert einem „radikalen“, „konsequenten“ oder „unbedingten“ Pazifismus die Argumente. Die fehlende Kalkulierbarkeit der Folgen, die das Eingreifen in Dynamiken hochkomplexer Systeme zeitigt, führt gegenwärtig zu einer Überlagerung des modernen durch ein vormodernes Verständnis legitimen Handelns. Je weniger vorausberechnet werden kann, desto unwichtiger scheinen die tatsächlichen Folgen der Intervention zu werden. Der Irakkrieg ist geradezu ein Pionierbeispiel dieses neuen Legitimitätsdiskurses, in dem der völlige Fehlschlag – bezogen auf die offiziell intendierten Folgen – nicht zu einem Umdenken geführt hat. Völlig unbeeindruckt von den Konsequenzen der Zerstörung des irakischen Gewaltmonopols43 durch die Militärintervention der USA und ihrer Verbündeten, hat ein Denken in den Kategorien von Präventivkriegen eher Auftrieb erhalten. Obgleich die offensichtliche Folge Terrorismus und Bürgerkrieg sind, finden Aufbau von Interventionsarmeen in allen Staaten des Westens und ein forciertes Wettrüsten statt.
3.2 Pazifismus und bellum-iustum-Lehre Da weite Teile des okzidentalen Pazifismus der Negation des Negativen (Krieg, Gewalt) Frieden stiftende Funktionen zuschreiben, kann der eigentliche Dissens zwischen den verschiedenen Kriegsphilosophien nur in der unterschiedlichen Bewertung der Mittel bestehen, die geeignet sind, den eigenen – friedensbezogenen – Willen durchzusetzen.44 Die Legitimitätsproblematik bleibt abhängig von einer Beantwortung der Frage, welche Mittel effizient sind. Darin unterscheidet sich der Pazifismus als ein weitgehend dem Utilitarismus folgendes Politikmodell von einer deontologischen Ethik, die das Töten aus prinzipiellen Gründen ablehnt. Wäre die Frage legitimer Mittelwahl nicht ganz und gar von Effizienzüberlegungen bestimmt, dann fiele die Kritik von nicht-pazifistischer Seite anders aus. Bezogen auf die ablehnende Haltung zum Golfkrieg von 1991 betont der Sozialwissenschaftler Manfred Spieker, „dass auch der Pazifismus den Frieden nicht sichern kann, dass er eine aggressive politische oder militärische Macht nicht friedlich stimmen, dass er gelegentlich das, was er verhindern will, gerade erst provozieren kann.“45 Auch Spieker moniert die apodiktische und damit unhistorische Haltung des Pazifismus und tritt für eine nicht durch Vorentscheidungen beeinflusste Analyse eines konkreten Konflikts ein. Die Bewertung findet allerdings vor dem Hintergrund der 43 Die britische Menschenrechtsorganisation „Iraq Body Count“ gibt die Zahl der getöteten Irakter im Zeitraum vom Beginn des Krieges Ende März 2003 bis Oktober 2005 mit 30 051 an. Die gefallenen amerikanischen Soldaten liegen bei einer Zahl von 2000. 44 Die besondere Eignung des Pazifismus ist nach Wolfgang Lienemann (1997: 52) „… in der Regel das Ergebnis reflektierter historischer Erfahrungen und politischer Urteilsbildung ….“ 45 Siehe Manfred Spieker, „Die Wahl zwischen einem großen und einem kleineren Übel. Der Golfkrieg aus ethischer Sicht“, in: FAZ vom 8.8.1991, Nr. 182, S. 8.
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Lehre vom gerechten Krieg statt. Was diese mit dem Pazifismus verbindet, ist die über eine Lehre vermittelte Einstellung zu Krieg und Frieden, die sich durch Abgrenzung von der jeweils rivalisierenden Lehre profiliert. Wenn heute die bellum-iustumLehre bemüht wird, so scheint eine Kontinuität des Legitimitätsdenkens beginnend mit Cicero über Augustinus, Thomas von Aquin und Francisco de Vitoria46 bis heute gewahrt. Die überzeitliche Geltung des Kriterienkatalogs der bellum-iustum-Lehre47 motiviert ähnlich wie beim Pazifismus zur Legitimierung bestimmter Kriege durch eine Sprachregelung, die diese als „gerechte“ ausweist. Die über eine Lehre vermittelte Einstellung zu Frieden und Krieg lässt für notwendig erachtete Schritte der Negation des Negativen nicht mehr mit dem zu bekämpfenden Schlechten in Verbindung bringen. Dieses Negative ist im Pazifismus der Krieg und in der bellum-iustum-Lehre das Ungerechte. Mit der schlichten Ablehnung des mit „Krieg“ und „Ungerechtem“ betitelten Negativen ist aber das Negative nicht aus der Welt zu schaffen. Eben aus diesem Grund verführt eine politische Problemwahrnehmung, die den Filter einer mit abstrakten Wahrheitsansprüchen versehenen Lehre passiert, zur Umdefinition ihrer eigenen für notwendig – effizient – erachteten Strategien des Negierens des Negativen in „humanitäre Intervention“ bzw. „gerechte Kriege“. 3.2.1 „Humanitäre Interventionen“ oder „gerechte Kriege“. Dass es sich nur um eine Sprachregelung und nicht um das Resultat einer tiefgreifenden Überprüfung der politisch-militärischen Praxis anhand der Kriterien der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der rechten Absicht und der Schonung Unschuldiger handeln kann, hängt mit der Säkularisierung der Lehre zusammen. Die Lehre selbst ist von den christlichen Verfechtern nämlich als Richtschnur für die Gewissensentscheidung eines Souveräns von Gottes Gnaden gedacht, der sich einem unlösbar scheinenden Konflikt gegenüber weiß. Unlösbar bedeutet: eine Schlichtung durch Gottesurteil fällt als Möglichkeit aus. Damit bleibt die Verteilung von Recht und Unrecht auf die beiden Konfliktparteien im Dunkel. Beiden Seiten werden gerechte Gründe zugebilligt. Denn wäre eine Partei vorweg der Ungerechtigkeit überführt, dann handelte es sich bei dem Krieg um einen „heiligen“, der sich vom „gerechten“ darin unterscheidet, dass die Krieg führende Partei von sich annimmt, im Besitz der vollen Wahrheit zu sein. Da 46 In die Nähe der Conquista rückt Jan-Andreas Schulze (2005) den Krieg gegen den Irak 2003 und vergleicht die Anwendbarkeit der Kriterien des „gerechten Krieges“, legitima auctoritas, iusta causa und intentio recta im spanischen Zeitalter mit derjenigen in der Ära der Vereinten Nationen. Während die Lehre vom gerechten Krieg im scholastischen Denken auf die Begrenzung der Mittel gerichtet sei, rechtfertige diese Lehre im formal-säkularen Rechtsordnungsentwurf universaler Menschenrechte unmoralische Kriegführung. 47 Zur christlichen, islamischen und marxistischen Variante der Lehre vom gerechten Krieg siehe Steinweg (1980).
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absolute Wahrheit allein „in Gott“ ist, schließen sowohl Augustinus als auch Thomas von Aquin die Legitimierbarkeit heiliger Kriege aus. Augustinus antwortet mit seinem Kriterienkatalog auf politische Veränderungen, die mit der Promotion des Christentums zur Staatsreligion unter Kaiser Theodosius Ende des 4. Jahrhunderts unvermeidlich eingeleitet waren. Die Exkommunikation von Männern, die sich im römischen Reich für den Soldatenberuf entschieden, war bereits mit der Anerkennung des Christentums im Edikt von Mailand durch Kaiser Konstantin im Jahre 313 problematisch geworden. Dieses Verfahrens hatten sich die frühen Christen bedient, da ihrer Ansicht nach Krieg mit dem Evangelium als Botschaft der Liebe und Gewaltlosigkeit unvereinbar war. Die kritische Auseinandersetzung mit der bellum-iustum-Lehre in ihrer Frontstellung zum radikalen/kompromisslosen Pazifismus lässt drei Lesarten erkennen. Die erste konzediert die positive Absicht der Kriegsverhinderung, mit der die Lehre konzipiert worden ist, macht jedoch der Lehre selbst anzulastende Schwachpunkte ausfindig, die diese von einer Kriegsverhinderungs- zu einer Institution der Legitimation von Kriegen habe werden lassen. Die zweite Lesart schätzt die Stärken der Lehre gegenüber den Schwachpunkten so hoch ein, dass insgesamt von einer positiven Bilanz gesprochen werden kann. Diese bemisst sich an der Funktion der Lehre, dafür zu sorgen, dass es selbst im Falle kollektiver Gewaltausübung keinen ethikfreien Raum gibt. Die Prämisse dieses Ansatzes ist entweder, dass Kriege nicht abgeschafft werden können, allenfalls die Semantik den Begriff des Krieges umschifft, womit im Ergebnis nichts an der tötenden Wirkung der Handlungen geändert ist. Oder es wird auf einen Regelungsbedarf für die Zeitspanne eines noch nicht etablierten Weltgewaltmonopols hingewiesen. In der dritten Lesart kann die Lehre allein deshalb heute keine Richtlinien politischen Handelns mehr liefern, weil „Krieg“ aus mehreren Gründen ein anachronistisches Mittel der Konfliktlösung ist. Bevor auf die einzelnen Positionen einzugehen ist, muss der zeitdiagnostische Hintergrund vergegenwärtigt werden. Da die atomare Gefahr mit dem Ende des Ost/ West-Konflikts nicht aus der Welt geschafft, sondern im Gegenteil durch Proliferation grosso modo potenziert wurde, kann eine Militärintervention für den Fall, dass sie einen Flächenbrand auslöst, zum atomaren Schlagabtausch führen. Hinzu kommt, dass die komplexen hochinterdependenten Rahmenbedingungen, unter denen in der globalisierten Welt politische Entscheidungen getroffen werden müssen, keines der Kriterien des gerechten Krieges mehr erfüllen lassen. Das gilt zunächst für das ius ad bellum, das Recht zur Kriegführung. Die legitima potestas (legitime Entscheidungsinstanz) ist im Zuge der Globalisierung des politischen Systems durch internationale Verträge, Bündnisverpflichtungen48 und Koalitionen, die den gewählten Regierungen
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Die Berufung auf die legitima potestas im Kosovo-Krieg ist nach Schmidt (2000: 20) schon deshalb im Ansatz verfehlt, weil: „Kein Militärbündnis – und zumal kein Bündnis, das von der territorialen Verteidigung zur generellen Interessenverteidigung übergegangen ist“ einen Anspruch in Sachen
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Entscheidungen aufoktroyieren, ausgehöhlt. Die intentio recta (rechte Absicht) wird als Kategorie problematisch, da Entscheidungen in modernen Demokratien arbeitsteilig zustandekommen und nicht mehr Personen, sondern sozialen Systemen, Erwartungsstrukturen, zugerechnet werden müssen. Auch die causa iusta (gerechter Grund) ist in einem säkularen Legitimitätsdenken prinzipiell nicht feststellbar, sofern sich dieses Denken einem Wertrelativismus und Pluralismus verpflichtet weiß, vor deren Hintergrund gerechte Gründe kulturspezifische Konstruktionen sind. Ähnliche Erwägungen prinzipieller Art lassen Kritik an der Möglichkeit formulieren, das ius in bello, das Recht im Krieg, mit all den historisch entwickelten Kriterien, in die heutige Zeit hinüberzuretten. So wird die Antwort auf die Frage nach der Proportionalität, der verhältnismäßigen Mittelwahl, im Prinzip unterlaufen, wo das Menschenbild in seiner Gesamtheit nicht mehr geteilt wird. Die Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg erhalten nämlich erst von einem bestimmten Menschenbild aus ihren speziellen Sinn. Voraussetzung ist, dass „Menschsein“ allen Menschen unterschiedslos zuerkannt und nicht bestimmten Exemplaren der Gattung abgesprochen wird. Das Christentum verankert mit dem Begriff der „Gottebenbildlichkeit“ das Gleichheitsprinzip im Begriff des Menschen. Und das säkularisierte subjektphilosophische Bild vom Menschen sucht der Idee nach dem Ausschluss bestimmter Menschen aus dem Gattungsbegriff einen Riegel vorzuschieben, indem es von naturgegebenen, vorrechtlichen „Menschenrechten“ spricht. Diese werden nicht von bestimmten Menschen anderen gewährt; es sind keine Zuschreibungen einer Elite oder einer Mehrheit. Unter nationalsozialistischen Vorzeichen zeigte sich die verhältnismäßige Mittelwahl insofern als falsch gestellte Frage, als es nicht um die Abwägung von Menschenleben im Horizont eines christlichen oder säkularen Humanismus ging, vielmehr (arische) „Menschen“ zur Eliminierung von (nicht-arischen) „Untermenschen“ schritten. Wo das Gleichheitsprinzip in seiner religiösen – Gottebenbildlichkeit – oder seiner säkularen – Menschenrechte – Auslegung durch ein Menschbild aus den Angeln gehoben ist, das Menschsein an bestimmte Eigenschaften knüpft und Menschenwürde als positivrechtliche und damit änderbare Norm begreift,49 dort ist die Prämisse beseitigt, unter der die Verhältnismäßigkeit als ethisches Prinzip in Erscheinung treten kann. Nur vor dem Hintergrund dieser schleichenden Erosion des Menschenbildes sind heute die geringen Reaktionen innerhalb des westlichen Kulturraums auf die massenhafte Verwendung völkerrechtswidriger, aber auch ethisch nicht zu rechtfertigender Waffen, (nicht rückrufbare) Missiles, Graphit-, Cluster- und uranhaltige Bomben zu verstehen, deren sich die USA zusammen mit ihren Verbündeten sowohl im zweiten Golfkrieg, im Kosovo-,50 im Afghanistan- und im Irakkrieg bedient haben. Kriegserklärung und -durchführung gleich einem globalen System kollektiver Sicherheit, erheben kann. 49 Die gegenwärtigen Tendenzen werden in Brücher (2004, 2004a) im Einzelnen verfolgt. 50 In welchem Maße die NATO mit den Bombardierungen einen Modus der Kriegführung gewählt
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3.2.2 Die Diskreditierung der bellum-iustum-Lehre durch ihre Schwachpunkte Innerhalb der katholischen Friedensbewegung Pax Christi sieht Karlheinz Koppe, der zum pazifistischen Flügel zählt,51 in der Konzeption der Lehre vom gerechten Krieg schon hinreichend Anhaltspunkte für deren Nichtanwendbarkeit. Zunächst fällt nach ihm ins Gewicht, dass Augustinus mit seiner Lehre die Absicht verfolgt habe, zur Verhinderung von Kriegen zu motivieren. Zu diesem Zweck habe Augustinus die Kriterien so scharf formuliert, dass deren Einlösung kaum möglich erscheinen mochte. Allein die causa iusta versprach angesichts der menschlichen Schwäche und Unzulänglichkeit, das Gerechte vom Ungerechten unterscheiden zu können, eine kaum zu überwindende Hürde für die Rechtfertigung von Waffengängen. Neben dem gerechten Grund, der causa iusta, musste nach Augustinus eine rechte Absicht, eine recta intentio vorliegen, mit der Krieg geführt wird. Diese war nur gegeben, wenn das zu erstrebende Wohl des Staates die Übel des Krieges aufwiegt. Die Prüfung dieser Frage aber war einer von Gott eingesetzten Obrigkeit, einer legitima potestas vorbehalten. „Nicht auf Eroberung, Rache und Bestrafung durfte ein Krieg gerichtet sein, sondern ausschließlich auf die Herstellung von Frieden. Augustinus war es auch, der frühzeitig den inneren Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit erkannte: pax iustitia opera – der Frieden ist das Werk der Gerechtigkeit.“ (Koppe 1994: 17).
Diese enge Verklammerung von Frieden und Gerechtigkeit lässt Augustinus sehr scharf ins Gericht mit Regierungen gehen, die nicht gerecht handeln. Diese werden von ihm als große Räuberbanden bezeichnet. Trotz dieser klaren Aussage sieht Karlheinz Koppe (1994: 17) in der konstruierten Möglichkeit gerechter Kriegsgründe und der daraus abgeleiteten Konstruktion einer Obrigkeit, die nicht einer Räuberbande gleicht und also legitime Macht ist, einen „Keim zur Pervertierung des Denkens“. Denn nun war es dem christlichen Untertan zumutbar, der Obrigkeit auch im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen Gehorsam zu leisten. Bei der Interpretation dieser Gehorsamspflicht gehen allerdings die Meinungen selbst innerhalb der katholischen Friedensbewegung auseinander. An dieser Stelle entscheidet sich, ob die mit Bernard de Clairvaux (1091-1153) anhebende Geschichte der christlichen Kriegsrechtfertigung eher auf das Konto der Lehre geht, oder ob es sich mehr um die Instrumentalisierung eines von seinen Intentionen ganz auf die Vermeidung von Kriegen gerichteten Textes handelt. Diese Frage
hatte, der die Zivilbevölkerung nicht schont, zeigt ein Bericht der Independent International Commission (The Independent International Commission on Kosovo, The Kosovo-Report: Conflict International Response, Lesson Learned, chap 6, 2000). Siehe dazu und zu weiterer Literatur Merkel (2004: 130). 51 Zur pazifistischen Position siehe die Festschrift für Karl-Heinz Koppe, Dominikowski/Mehl (1994).
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kann nur sehr differenziert beantwortet werden. Denn hier stehen legitima potestas und die Autorität der individuellen Gewissensentscheidung einander gegenüber, die in einer Kirche, die auf einen über zweitausendjährigen Bestand zurückblickt und darüber hinaus konfessionell gespalten ist, nicht zu Gunsten des einen und zu Lasten des anderen entschieden werden konnte. Von der Machtkompetenz der legitimen Obrigkeit zieht Koppe eine direkte Linie zu der nicht mehr rechtfertigungsbedürftigen Kriegführung säkularer Nationalstaaten bis hin zum totalen Krieg unter Hitler. In einer noch von souveränen Nationalstaaten dominierten Welt sind in dieser pazifistischen Sicht selbst vom Sicherheitsrat beschlossene Militärinterventionen und sogar Blauhelmeinsätze deshalb parteiische und in ihrer Parteilichkeit wieder illegitime Unternehmungen, weil die Vereinten Nationen nicht über eigene Truppen verfügen und somit bereitwillige Regierungen anheuern müssen. Auch werde durch Maßnahmen der Friedenserzwingung an den wirtschaftlichen, ökologischen und ethno-nationalen Ursachen der gegenwärtigen Konflikte nichts geändert. Das wäre anders, wenn geschaffen werden könnte, was Koppe (1994: 19) als einzige Alternative zum gerechten Krieg gelten lässt, nämlich „die Entwicklung eines glaubhaften und wirksamen gewaltarmen Instrumentariums der Prävention und Beendigung von gewaltsamen Konflikten.“ Dazu gehöre das Einfrieren von Auslandsguthaben der beteiligten Parteien, Embargo auf die Lieferung aller Waffen und strategischen Güter, Einsatz von Blauhelmen, die zwischen die Fronten treten, wirtschaftliche Hilfe, weil die meisten Konflikte auf wirtschaftliche Not zurückzuführen seien. Ob die betroffenen Konfliktparteien allerdings eine anonyme Technokratenelite von globalen Konfliktmanagern in der Rolle des Mediators und in der Rolle in wirtschaftliche, ökologische und ethno-nationale Belange hineinregierender Verwaltungskräfte eher akzeptieren würden als eigene Landsleute und persönlich ausgezeichneter Mediatoren, mag offen bleiben. Auch lässt sich die Frage kaum beantworten, ob die „Weltgemeinschaft“ – in der Realität kann es sich nur um „ausgebildete“ Funktionskräfte handeln – die globalen Verhältnisse so gestalten/verwalten könnte, dass ein „gerechter Friede“ möglich wird, „der allein geeignet ist, Kämpfe wie in Jugoslawien, auf Sri Lanka, in Kolumbien, Nordirland und wo auch immer gar nicht erst ausbrechen zu lassen und, wenn es denn dazu gekommen ist, auch wieder zu beenden.“ (Koppe 1994: 19). Für die betroffenen vom Westen überfremdeten und gegängelten Länder der Dritten und Vierten Welt mag nicht nur der militärische, sondern auch der Interventionismus der übrigen Subsysteme der hoch industrialisierten „kompetenten Akteure“ schlechtweg indiskutabel sein. Es ist der Schlüsselbegriff der Prävention, der das Dilemma aufzulösen verspricht, das alle Friedensbemühungen bis heute kennzeichnet. Denn was eine pazifistische Auseinandersetzung mit der Lehre vom gerechten Krieg zuallererst beantworten muss, ist die Frage, „wie sich Dritte angesichts so grausamer Kriege und Bürgerkriege wie im ehemaligen Jugoslawien, im Kaukasus, in Afghanistan, in Somalia, im Sudan und in etwa zwanzig
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weiteren Weltregionen verhalten sollen. Zuschauen macht sie nicht weniger schuldig als militärisches Eingreifen.“ (Koppe 1994: 19).
Genuin pazifistisch sei hingegen ein Ausweg, der die oben genannten „gewaltarmen“ Strategien der Druckausübung anempfiehlt, um im wahrsten Sinne alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Was vorausgesetzt bleibt, ist der „rationale Akteur“ als Adressat von – pazifistischer – Politikberatung. Es scheint sinnvoll, auf die noch unzureichend erprobten von der Friedens- und Konfliktforschung ausgearbeiteten Methoden alternativer Konfliktbewältigung hinzuweisen.52 Bei diesen politikberatenden Vorschlägen und dem Hinweis auf Versäumnisse handelt es sich jedoch im Prinzip um die Erweiterung jener Kompetenzen, die ins Themenfeld „Ausschöpfen aller Möglichkeiten“ fallen. Es kann durch derlei Bemühungen die Grenze zur Ultima-ratio-Entscheidung hinausgezögert werden. Aber es wird nicht an das grundsätzliche Problem gerührt, dass der Friede, solange er als gewaltgestützter verstanden wird, eine solche Grenze seiner Natur nach aufweist, eine Grenze, hinter der die Ultima-ratio-Lösung der Gegengewalt einsetzt. Diese Logik bleibt unberührt auch für den Fall, dass Gewaltaktionen, die der pazifistische Autor als letztes Mittel anerkennt, nicht mehr als Krieg, sondern als Polizeiaktionen bezeichnet werden. Denn selbige verwandeln sich erst in dem Augenblick in faktische Ordnungsmaßnahmen, in denen die Weltbevölkerung dies so sieht. Indem die Prävention zum Schlüsselbegriff einer langfristigen Umgestaltung politikrelevanter Handlungsfelder wird, die im Begriff des „gerechten Friedens“ die Umwandlung aller friedensgefährdenden in friedensfördernde ökonomische, soziale, ökologische und ethno-nationale Ursachen in Aussicht stellt, ist das eigentliche Problem nicht berührt, das die bellum-iustum-Lehre anzugehen sucht. Es wird nur der analytische Blick von der Dilemmasituation bereits ausgebrochener Konflikte auf die Analyse einer weltgesellschaftlichen Situation verschoben, in denen Konflikte nach dem Vorbild parlamentarisch-rechtsstaatlicher Verfahrung geregelt ausgetragen werden. Diese Hoffnungen, die in Präventivmaßnahmen gesetzt werden, könnten nur dann realistisch sein, wenn die friedliche Streitbeilegung die Errungenschaft eines bestimmten Gesellschaftstypus, nämlich der funktionalen Differenzierung wäre. Damit ist seit Èmile Durkheim jene aus der extremen Arbeitsteilung hervorgegangene Herausbildung von Politik (Demokratie), Wirtschaft (Markt), Recht (Rechtsstaatlichkeit), Wissenschaft (Wissensproduktion), Erziehung (Aufklärung) als autonomen und zugleich miteinander vernetzten Teilsystemen der Gesellschaft gemeint. Historisch betrachtet, ist „nichtgewaltsamer Konfliktaustrag“ das Kennzeichen jeder Ordnung, wobei „nichtgewaltsam“ in der Regel einfach jene Maßnahmen genannt werden, die regelkonform sind. Das schließt Gewalt faktisch nicht aus, richtet diese aber gegen die „Feinde der Ordnung“ und tritt damit nicht als Gewalt, sondern als Ord52 Siehe dazu den für die Lehre ausgearbeiteten Band über Konfliktregelung von Berthold Meyer (1997). Auf die Umsetzung der Konzeptionen ziviler Konfliktbearbeitung hinzuwirken, bezeichnet auch Andreas Buro (1994/95: 73ff.) als zentrale Aufgabe der Friedensbewegung.
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nungsmaßnahme, als Strafverfolgung, als Sicherungshaft, als Abschiebung, als Unterbindungsgewahrsam53, wenn nicht gar als Frieden schaffende Maßnahmen, heute als „humanitäre Interventionen“ und als „Luftschläge“ in Erscheinung. Gerade im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus zeigen sich die problematischen Seiten der Prävention an den Schwierigkeiten, diese auf zivile Formen zu beschränken. Denn Prävention ist ihrer Natur nach mehr an den Möglichkeiten als an den Wirklichkeiten orientiert. Um der Entstehung eines neuen nuklearen Abschreckungssystems vorzubeugen, werden Präventivkriege mitunter als gerechtfertigt empfunden.54 Der Handlungsmodus des Vorausreagierens findet sich nicht nur bei den konservativen US-amerikanischen Neocons, sondern, wie wir sehen werden, auch in atompazifistischen Reaktionen auf die fortgesetzte Proliferation. Und im Zusammenhang mit dem Rechtspazifismus werden wir schließlich die problematischen Seiten des Vorgriffs auf die Weltbürgerrechtsordnung als eines Handlungsmodus herauszuarbeiten haben, der die Rechtswidrigkeit der Durchsetzungsmethoden unter Hinweis auf eine zu schaffende globale Rechtsordnung legitimiert. Das von Koppe konstalierte unvermeidliche Schuldigwerden angesichts eines Dilemmas, welches die Zeitgenossen weder durch Handeln noch durch Nichthandeln aufzulösen vermögen, verleiht der Prävention einen anderen Stellenwert als in den meisten Konfliktmanagementansätzen. Denn zwischen die beiden Optionen, Reaktion und Prävention, tritt der Aktivismus der Bewegung und von dieser motivierter Friedensfachkräfte. Damit entsteht ein Handlungsfeld, in dem schuldentlastet tätig werden kann, wer bereit ist, die Bedingungen herstellt, die den Ernstfall erst gar eintreten lassen. Gegenüber der Prävention bleibt die Reaktion immer Reaktion auf den Ernstfall und macht sich schuldig, wie immer sie ausfallen mag. Der unbedingte Pazifismus tritt mit seinem ganzen Aktionismus also gewissermaßen zwischen die beiden Optionen, aktiv zu werden und Gegengewalt auszuüben, oder passiv zu bleiben und Gewalt einfach zuzulassen. Genau betrachtet, wird jedoch mit der Aussicht, durch Präventivmaßnahmen gewaltsame Ausschreitungen verhindern zu können, das Verhältnis von Schuldverstrickung und Schuldentlastung als ein Verhältnis von Nichtwissen und Wissen trivialisiert. Wer Konfliktprävention betreibt, weiß einfach mehr als derjenige, der bis zu einem Zeitpunkt abwartet, bis Gewalt eskaliert ist. Damit stellt sich jedoch die Frage, wie diese bloßen Idealtypen der Reaktion und Prävention mit der Realität vermittelt werden könnten. Denn der hier vorauszusetzende rationale Akteur (pazifistische Bewegung), der präventiv tätig werden und 53
Hier taucht das im Strafrecht bereits diskutierte Problem auf, dass bei der prophylaktischen Inhaftierung einer Person im Falle des Verdachts auf Terrorismus schon die Gesinnung justiziabel sein kann. „Strafbare Gesinnung“ galt bis zum 11. September 2001 als Kennzeichen totalitärerer Regime. 54 Für den Angriff auf den Irak hatte der Verdacht, Massenvernichtungsmittel zu besitzen, den Ausschlag gegeben. Für die militärische Option plädieren die USA unter George W. Bush im Falle Irans allein aufgrund entstehender technologischer Voraussetzungen, Atomwaffen herzustellen.
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nicht warten will, bis seine hypothetischen Krisenexpertisen Wirklichkeit werden, trifft auf Akteure, die andere Prognosen aufstellen. Er trifft aber auch auf Bevölkerungen, die sich eine Einmischung in ihre Angelegenheiten verbitten. Die Prävention „wider Willen“ aber könnte auf militärische Rückendeckung nicht verzichten. Damit schafft sich die Prävention ihren eigenen Ernstfall mit der Frage, zu welchen Mitteln gegriffen werden soll, wenn fachlichen Krisenpräventionskräften mit dem Argument Zutritt verwehrt wird, es handele sich hier um neokoloniale Ambitionen. Die schuldverstrickende Reaktion ist auf diese Weise aber nur zeitlich vorverlagert worden. Sie tritt ein, wenn die schuldentlastete Prävention erzwungen werden muss, weil andernfalls der Militäreinsatz unvermeidlich wird. Die auf ihre Verweigerung reagierende Prävention verwandelt sich unter der Hand in die militärisch gestützte Reaktion. Auch diese unbedingte Variante des Pazifismus gerät in die bekannten Verlegenheiten, wenn in Aussicht gestellt wird, jeglicher Ernstfall, jeder Gewaltausbruch könne verhindert werden, wenn man nur alle Schlupflöcher für Chaoten und Regelbrecher aufspürt und mit Verfügungen, Rechtsnormen und Verwaltungshandeln Sicherheit schafft. Bis jetzt hat die Auseinandersetzung mit einer pazifistischen Haltung, die sich von der bellum-iustum-Lehre aufgrund konstitutiver Schwachpunkte derselben distanziert, einen spezifischen Aspekt pazifistischen Argumentierens aufgedeckt. Da Kriege immer Unrecht mit sich führen, sofern sie unvermeidlich Unschuldige treffen, scheint der Terminus des „gerechten Krieges“ alle Opfer zu verhöhnen. Mit der Unterscheidung von schuldverstrickter Aktion und schuldentlasteter Prävention gerät der Pazifismus jedoch in argumentative Not, die zur weitergehenden Auseinandersetzung mit der bellum-iustum-Lehre zwingt. Denn offensichtlich ist es schwierig, mit dem Hinweis auf das Unrecht eines jeden Krieges die Lehre pauschal abzulehnen. Infolgedessen finden wir durchaus Einlassungen von Pazifisten auf die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um den Krieg als kleineres Übel überhaupt in Betracht ziehen zu können. Im Bestreben, möglichst hohe oder möglichst niedrige Hürden für kriegerische Optionen zu errichten, verrät sich die Absicht. Karlheinz Koppe sucht die von Augustinus dem Kriegsgeist seiner Tage in den Weg gelegten Hindernisse noch einmal zu überbieten und erinnert an die zehn Kriterien, die der katholische Pazifist Franziscus Maria Stratmann in den problematischen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgestellt hat: 1. 2. 3. 4. 5.
„schweres Unrecht auf Seiten einer und nur einer der beiden streitenden Parteien; schwere moralische Schuld auf einer der beiden Seiten. Bloß materielles Unrecht genügt nicht; zweifelsfreie Nachweisbarkeit dieser Schuld; Unvermeidbarkeit der kriegerischen Auseinandersetzung nach Fehlschlägen aller mit ganzem Ernst und ganzer Kraft unternommenen Verständigungsversuche; Proportion von Schuld und Strafmittel. Ein das Maß der Schuld überschreitendes Strafmaß ist ungerecht und unerlaubt;
56 6. 7. 8. 9. 10
3 Kriegsphilosophischer Pazifismus moralische Gewissheit, dass der Sieg der gerechten Seiten zuteil werden wird; rechte Absicht, durch den Krieg das Gute zu fördern und das Böse zu vermeiden. Das aus dem Krieg zu erwartende Wohl des Staates muss das zu erwartende Übel übersteigen; rechte Art der Kriegführung: Einhaltung der Schranken der Gerechtigkeit und Liebe; ... Vermeidung schwerer Erschütterung anderer nicht unmittelbar in die Kriegshandlung verwickelten Staaten sowie der christlichen Gesamtheit; ... Kriegserklärung durch eine gesetzlich dazu autorisierte Obrigkeit im Namen Gottes zur Vollstreckung seiner Gerichtsbarkeit.“55
3.2.3 „Sittliche Urteilsbildung“ als ethische Selbstbegrenzung Mit der Spezifikation der Bedingungen, unter denen Kriege gerecht genannt werden können, lässt sich im Sinne von Augustinus ein „Instrument ethischer Kriegsbegrenzung“ (Stobbe 1994: 16) funktionstüchtig halten. Wird dieses preisgegeben, so verliert man auch die Kriterien, unter denen Kriege kritisiert werden können. Ein fundamentalkritischer Ansatz, der die Institution des Krieges mit dem Bösen identifiziert, trägt weniger zur Abschaffung von Kriegen bei, als er einem „ethikfreien Raum“ das Wort redet, in dem nur machtpolitische Erwägungen ins Spiel kommen. Dieses Argument baut nicht auf moralische Übereinkünfte, da es selbige nur im engen Kreise bestimmter pazifistischer Gruppierungen gibt. Heinz-Günther Stobbe betont den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, der von universalen moralischen Grundsätzen im Prinzip Abstand gebiete. Die Unsicherheit bezüglich „letzter Fragen“ rührt daher, dass Wahrheit allein „in Gott“ ist und damit menschliches Erkennen des Guten und Richtigen „fehlbar“ bleibt. Es mag im Interesse einer zur Ideologie der Moderne erhobenen Säkularisierung gelegen haben, diese Verunsicherungen – heute als Kontingenzbewusstsein bezeichnet – als einen Bruch mit religiösem Glauben an Letztgewissheiten zu stilisieren. Stobbe insistiert vor diesem Hintergrund darauf, die Lehre vom gerechten Krieg nicht als spezifisch christlich-kirchlichen Standpunkt zu verstehen, sondern als Einsicht in eine „sittlichen Urteilsbildung“.56 Diese gilt es im Einzelnen darzulegen, um die kontroversen Argumente benennen zu können, an denen sich der Pazifismus reibt. Der Schlüssel zum Verständnis dieser stärker an Augustinus orientierten positiven Einschätzung der Lehre vom gerechten Krieg als Instrument der Kriegsbegrenzung, liegt in der nachrangigen Bedeutung, die den moralischen Maßstäben gegenüber der Logik zukommt. Was ist mit dieser Vorordnung der Logik vor der Moral gemeint? Die Unterscheidung von Gut und Böse setzt als eine besondere Unterscheidung die Existenz von Unterschiedenem voraus. Die jüdisch-christliche Tradition lässt aus diesem Grund alle Reflexionen mit der Genesis anheben, die den Akt des Unter55 Franziskus Maria Stratmann O.P., Weltkirche und Weltfriede, Augsburg 1924, S. 103-104, zit. nach Koppe (1994: 19). 56 Zur Kontroverse siehe Stobbe/Koppe (1994).
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scheidens (Himmel/Erde, Land/Meer usw.) einer nicht benennbaren Entität – Gott (wörtlich: Ich bin der ich bin) – zurechnet. Sollte der moralische ein bestimmter Modus des Unterscheidens sein, dann bleibt das, was mit Hilfe dieser Unterscheidung bezeichnet wird (das Gerechte/das Ungerechte …), etwas gegenüber dem Akt unterscheidenden Bezeichnens Nachgeordnetes. Wie lässt sich diese sehr allgemeine Feststellung nun auf den Kriterienkatalog der Lehre vom gerechten Krieg beziehen? Nach all dem liegt auf der Hand, dass Menschen etwas Unterschiedenes immer schon vorfinden, wenn sie etwas zu werten suchen. Daraus geht hervor, dass jedes Bemühen, etwas zu unterscheiden, z.B. gerechtes von ungerechtem Handeln, die Spezifikation einer ersten, unaufhebbaren Unterscheidung ist. Diese allen Bestimmungen immer vorausgehende logische Operation des Unterscheidens ist in der religiösen Semantik die von Gott und Mensch. Hier wird die Seite des Geteilten mit dem Menschen identifiziert, der immer nur in Beziehung zu anderem (Tier, Pflanze, Maschine) erkennbar wird; für die Seite des Ungeteilten steht die Chiffre „Gott“. Versucht man etwas Gutes, Gerechtes, Vernünftiges zu erkennen, so handelt es sich immer um ein irrtumsanfälliges Unterfangen. Die viel geschmähten religiösen „Letztgewissheiten“ beziehen sich genau darauf, nämlich auf die Gewissheit der Relativität und Irrtumsanfälligkeit aller Versuche, das Gute, Vernünftige und Gerechte zu erkennen. Damit haben wir die Grundstruktur jener für unseren Zusammenhang zentralen Aussage skizziert. Was für die Ermittlung der positiven Qualitäten, des Guten, Vernünftigen und Gerechten festgestellt wurde, das gilt in gleicher Weise auch für die Ermittlung des Schlechten, des Bösen, des Unvernünftigen und des Ungerechten. Wenn die Suche nach dem Positiven durch die unhintergehbare Differenz von Mensch (Geteiltes) und Gott (Ungeteiltes) relativiert wird, so bedeutet dies, dass ein durch und durch Positives bzw. “das Gute“ nicht mit bestimmten Menschen gleichgesetzt werden kann. Das Gute findet sich infolgedessen nicht in bestimmten Berufen (Priester) oder Ständen (Gottesgnadentum). Es kann aber auch nicht mit bestimmten Institutionen oder Ordnungen gleichgesetzt werden, z.B. mit der Kirche. Denn ist das Gute etwas Bestimmtes, so kann es nicht mehr Teil einer Unterscheidung sein, die erst in ihrer Gesamtheit Kriterien für das angeben lässt, was als gut bezeichnet werden könnte. In Bezug auf alle Bestimmungen und deshalb auch die Bestimmung des Guten, darf der grundlegende Unterschied zwischen Mensch und Gott nicht nivelliert werden. Auch das Böse lässt sich nicht mit Menschen identifizieren, weder mit „Terroristen“ noch mit Institutionen oder Ordnungen, wie heute den sog. „Schurkenstaaten“. Eine solche Einsicht mag zunächst auf Widerspruch stoßen, weil die Gleichsetzung „des Totalitarismus“ und mehr noch „des Nationalsozialismus“ mit dem Bösen heute primärevident scheint. Für eine Operation, die auf der negativen Seite des Moralschemas anschließt, gilt jedoch grundsätzlich nichts anderes als für das Anschließen auf der positiven Seite. Sobald das Böse als etwas Bestimmtes erkannt wird, verschwindet es als die andere Seite des Guten. Was somit verschwindet, ist
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das moralische Unterscheiden selbst. Denn nur das Differenzschema in seiner Gesamtheit lässt Kriterien des Unterscheidens von Gutem und Bösen erkennen. Wenn die Suche nach solchen Kriterien als permanente Bemühung entbehrlich wird, weil beispielsweise der mit dem Bösen identifizierte Nationalsozialismus in sich selbst die Kriterien seiner Negativität enthält, dann verlieren die Merkmale des Nationalsozialismus unter der Hand ihre Negativität. Die Menschen wissen nur so lange um das Böse, als es ihnen gelingt, strukturelle Analogien zu gegenwärtigen Praktiken zu erkennen und also zu sagen: „Hier haben wir es mit einem „neuen Hitler“ zu tun, der bekämpft werden muss oder mit einem „neuen Holocaust“, der durch frühzeitige Militärintervention unterbunden werden sollte“.57 Die Folgen dieser Identifizierung des Bösen mit einem Regime treten heute in ihren Konsequenzen zu Tage, nachdem die Erinnerung blass wird und immer weniger Menschen über diese Zeit und ihre Schrecken berichten können. Jetzt nämlich macht sich nach und nach eine Unsicherheit breit, was so abgrundtief böse war und nach welchen – relativen – Kriterien eine nachmetaphysische Moderne in der Lage sein könnte, dieses Böse mit einer Sicherheit festzustellen, wie dies für die Menschen, die selbiges erlebt hatten, vollkommen evident sein mochte. In dieser Situation nun, in der sich eine fundamentale Verunsicherung in allen Richtungen breit macht, der Negativität von Krieg, von Folter, von Todesstrafe, von staatlicher Totalüberwachung, von Inhaftierung auf Verdacht, von Internierungslagern, muss ganz neu über die Kriterien nachgedacht werden, die ein gutes von einem bösen Handeln unterscheiden lassen. Dieselben Überlegungen gelten für den Krieg. Es kann nicht gelingen, den Krieg mit dem Bösen gleichzusetzen, weil dies paradoxerweise dem Übel das Kriterium der Bewertung nimmt. Wenn der Krieg die „Geißel der Menschheit“ ist, dann richten sich alle Energien auf die Abschaffung einer Institution, von der gesagt wird, sie sei eine überwindbare Plage, ähnlich wie die Sklaverei, die so erfolgreich hätte bekämpft werden können. Diese Fixierung auf die Institution übersieht, dass die rechtlich-moralische Überwindung nur die institutionalisierten Seiten derselben aus der Welt schafft; sie beseitigt die rechtlich-moralischen Regulierungen waffengestützter Auseinandersetzungen und der Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren. Was sie aber in keiner Weise beseitigt, ist das organisierte Töten und das Ausbeuten der Schwächeren durch die Stärkeren. Die Ausbeutung der Menschen in den Armutsgebieten dieser Welt durch hocheffizient arbeitende Multinationale Konzerne nennt sich nicht Sklaverei, obgleich das äußere Erscheinungsbild wenig abweicht. Auch Sklaven wurde, wollte man ihre Arbeitskraft erhalten, das Existenzminimum gewährt. Die Bemühungen um Verrechtlichung der Sklavenwirtschaft, mit der dem Patron gewisse Sanktionsmaßnahmen verwehrt werden sollte, kam einem Fortschritt 57 Die USA bekämpfen auch nach dem 2. Weltkrieg in der ganzen Welt immer wieder „Hitler“. Das galt bereits für Nasser in der Suezkrise 1956. Saddam Hussein galt Jahrzehnte als einer von vielen Potentaten der Region, die mit dem Westen verbündet sind.
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gleich, der bislang im Verhältnis zwischen Konzernen und Lohnabhängigen noch nicht erreicht ist. Auch der Krieg ist als Regeln unterworfene Institution auf dem Rückzug und als ungeregeltes Lynchsystem ist er auf dem Vormarsch. Dieses Phänomen wird inzwischen im Begriff der „neuen Kriege“ insbesondere von politologischer Seite aus beschrieben.58 3.2.4 Kriegsbegrenzung durch die bellum-iustum-Lehre Vor dem Hintergrund einer wenig optimistischen Einschätzung der Gesamtlage, die darauf hinweist, dass kriegerische Konflikte künftig zu- statt abnehmen, wäre nach Stobbe schon viel gewonnen, wenn es gelänge, den Krieg einzuhegen. Wer dennoch dafür plädiere, die Lehre gänzlich fallenzulassen, laufe Gefahr das „einzig verfügbare und einigermaßen handhabbare Instrument einer ethischen Kriegsbegrenzung preiszugeben und gleichsam einen ethikfreien Raum zu schaffen, den dann beliebige Ideologien ausfüllen können. Es kommt jedoch gerade darauf an, das Gewissen zu schärfen, anstatt es zu beruhigen, einzuschläfern.“ (Stobbe 1994: 18). Sehr viel mehr könne die Kirche ohnehin nicht tun, um Kriege zu verhindern oder deren Verlauf zu beeinflussen. Wenn es nun also nicht um ein Weniger, sondern um ein Mehr der Kriegsbegrenzung geht, dann ist es nach Stobbe auch selbstverständlich, dass die Lehre vom gerechten Krieg nur unterhalb bereits bestehender völkerrechtlicher Regelungen normierend wirken kann. Das in der Charta der Vereinten Nationen ausgesprochene Kriegs- und Gewaltverbot müsse als eine bindende Rechtsnorm beachtet werden, die auch im Namen größerer Gerechtigkeit nicht außer Kraft gesetzt werden dürfe. Eingeschränkt auf den Fall bedingter und befristeter Staatsnotwehr habe deshalb das traditionelle Kriegsführungsrecht bereits jetzt seine bisherige Bedeutung fast verloren. Dennoch spreche gegen den vollständige Verzicht auf den überkommenen Begriff, dass er zum Ausdruck bringe, worum es nur gehen könne, nämlich um die Notwendigkeit, „die sachliche Spannung aufrechtzuerhalten zwischen einer entschiedenen, alle gewaltfreien oder gewaltarmen Mittel nutzenden Politik der Friedensförderung, welcher der Primat gehört, und der Option der ultima ratio militärischer Gegengewalt, um die Menschenrechte und das Völkerrecht nötigenfalls gegen gewaltsamen Widerstand durchsetzen zu können.“ (Stobbe 1994: 18). Bei dieser Spannung handelt es sich um jene unaufhebbare Unterscheidung von schuldverstrickter Aktion und schuldentlasteter Prävention, von der bereits die Rede war. Diese Spannung lässt sich nur um den Preis von Humanitätsverlusten beseitigen. Damit haben wie den Subtext einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Lehre vom gerechten Krieg ausgeführt, der zwischen den Zeilen eines Votums für die „sittliche Urteilsbildung“ (Stobbe 1994: 16) hervortritt. Diese kann nicht erübrigt werden, indem ein Regime oder eine Institution wie der „Krieg“ schon für das Schlechte 58
Siehe Münkler (2002); Daase (1999).
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steht; vielmehr ist diese Urteilsbildung darauf angewiesen, die ganz bestimmten historischen Bedingungen ins Visier zu nehmen. Bezogen auf den Krieg bedeutet dies, anhand von Kriterien, die gutes von bösem Handeln unterscheiden lassen oder auch nur besseres von schlechterem, ganz konkrete kriegerische Konflikte zu beurteilen.59 Wenn aber eine solche Bewertung versucht wird – und dies setzt die Distanzierung des Schemas der Bewertung vom zu Bewertenden voraus – dann erkennt man nach Stobbe sehr rasch, dass gemäß der Kriterien zu urteilen gesucht wird, die sich über die Jahrhunderte an der bellum-iustum-Lehre orientieren. Das gilt sowohl für die Rechtfertigung von Entkolonialisierungskriegen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bis zu den neunziger Jahren, und seitdem von „humanitären Interventionen“ und Antiterrorkriegen. Es gilt aber auch für die Delegitimierung. Kritiker, die die Meinung vertreten, dass der Kosovokrieg keine „humanitäre Intervention“ gewesen sei,60 weil die hohe Zahl der Opfer die Unverhältnismäßigkeit vor Augen geführt habe, bedienen sich des Kriteriums der Proportionalität (Verhältnismäßigkeit), das Bestandteil der Lehre vom gerechten Krieg ist. Und wenn es heißt, Kriege seien im Atomzeitalter schlechterdings nicht legitimierbar, weil die weite Verbreitung dieser Waffe das Eskalationsrisiko niemals vollständig ausschalten ließe, dann ist wieder das Kriterium der Verhältnismäßigkeit bemüht, indem dargelegt wird, dass unter den heutigen technologischen Bedingungen Kriege in jedweder Form ein Risiko darstellen, das den möglichen Schaden immer über den möglichen Nutzen stellt. In gewisser Weise wiederholt sich im Für und Wider, das in der Auseinandersetzung um die Lehre vom gerechten Krieg zwischen radikalem und gemäßigtem bzw. Nicht-Pazifismus ins Feld geführt wird, ein Problem, das innerhalb der Philosophie im Zusammenhang mit der Kontroverse um eine kritische und eine fundamentalkritische Position erörtert wird. Derrida (1972: 61) insistiert auf dem Absoluten der Vernunft und behauptet, dass „man gegen sie sich nur verwahren kann, indem man sie anruft, dass man gegen sie nur in ihr protestieren kann, dass sie uns auf ihrem eigenen Feld nur den Rückgriff auf das Strategem und die Strategie lässt.“ Von der Kritik ausgenommen bleibt die grundsätzliche Differenz zwischen einer Vernunft, die als Maßstab idealer Vernünftigkeit an jeden faktischen Vernunftgebrauch angelegt werden kann und dem, was im allgemeinen Bewusstsein gerade als Vernunft gilt. Vernunft als Maßstab idealer Vernünftigkeit kann nicht kritisiert 59
Aus historischem Abstand kommen elf der zwölf Beiträge des von Georg Meggle herausgegebenen Sammelbandes „Humanitäre Interventionsethik“, Paderborn (2004), bei allen Unterschieden in der prinzipiellen Einstellung zur Legitimität humanitärer Interventionen zu einem vernichtenden Urteil bezüglich des Kosovo-Krieges. 60 Reinhard Merkel (2004: 130) schlägt vor, diese „„neue“, ‚elegante“, „chirurgische“, auf der eigenen Seite „opferlose“ Kriegsart (und was dergleichen deplazierte Kennmarken sonst sind) – nämlich die Bombardierung nicht nur der Militär-, sondern der gesamten Nervenstruktur eines Landes aus großen, für die Luftabwehr unerreichbaren Höhen“ nicht humanitäre Interventionen, sondern „Nötigungskrieg“ zu bezeichnen, so den Kosovo-Krieg.
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werden, weil jede Kritik an der Vernunft eine höhere Vernunft ins Spiel bringen muss, vor der die beobachtete Vernunft kläglich versagt hat. Die im Akt des Unterscheidens von Vernunft und Unvernunft entwickelten Kriterien für das Vernünftige bleiben von dem immer kategorial getrennt, was „Vernunft“ genannt wird. Mit diesen Überlegungen stoßen wir auf eine philosophische Variante jener Problematik, die oben bereits im Zusammenhang mit der theologischen Frage aufgetaucht war, ob es möglich ist, etwas Bestimmtes (Kirche, Demokratie) mit dem Guten und etwas Bestimmtes (Krieg) mit dem Bösen gleichzusetzen. Wir hatten festgestellt, dass dieses mit etwas Konkretem identifizierte Gute oder Böse sich selbst zum Kriterium für die eigene Güte oder Boshaftigkeit wird. Damit geht der genuin moralische Charakter der Bewertung verloren. Aus diesem Grund sieht sich auch die radikalpazifistische Richtung gezwungen, die Manifestation des Bösen (Krieg) und die Bewertungsebene für dieses Böse (Ethik) wieder auseinanderzuziehen und damit ungewollt zu einer Entdämonisierung von Kriegen zu schreiten. Eine solche Denkbewegung findet sich bei Albert Fuchs (2001), der an das Tötungsverbot erinnert, das in der christlichen Tradition tief verankert sei und von dem sich selbst kirchliche Vertreter immer wieder distanziert hätten. Dieser Maßstab des Tötungsverbots wäre das externe Kriterium, das an den Krieg angelegt werden könnte und das diesen unzweideutig verwerfen ließe, da das Töten zum Kriegshandwerk gehört wie das Nähen zur Schneiderei. Immerhin gelten die Zehn Gebote als ein historisches Vermächtnis, auf das sich nicht weniger als die gesamte Kultur der jüdisch-christlichen Tradition gründet. Dennoch findet sich eine gewisse Relativierung durch den katholischen Theologen Heinz-Günther Stobbe der, streng historisch argumentierend, die exaktere Übersetzung mit „du sollst nicht morden“ wiedergibt. Denn die Verwerflichkeit des Mordes bezieht sich nicht in erster Linie auf den Tötungsakt als solchen, sondern nur auf das Widerrechtliche dieses Tötens. Könnte es für das Christentum qua kulturstiftender historischer Gestalt geradezu als charakteristisch gelten, nur ein „du sollst nicht morden“ gelten zu lassen und nicht zum generellen von gruppenbezogenen Normen abstrahierenden „du sollst nicht töten“ fortgeschritten zu sein, dann wäre freilich nicht zu sehen, wie aus dem Christentum ein humanitäres Bewusstsein hätte erwachsen können, das nicht nur Bürgerrechte, sondern Menschenrechte postuliert. Diese Interpretation von Albert Fuchs (2002), die sich in der polemischen Replik mit dem Titel „Passt Töten doch zum Beten?“ zuspitzt, übersieht ein wichtiges Moment. Dieses verbirgt sich im Vorrang der religiösen gegenüber der ethischen Perspektive. Was damit gemeint ist, wird unmittelbar aus unseren Überlegungen zur unaufhebbaren Differenz von unterscheidender Bezeichnung (gut/böse) und Bezeichnetem (Krieg) deutlich. Luhmann (1996: 7) hat diesen Vorrang in der Feststellung zum Ausdruck gebracht, dass „die Religion von Bindungen an Logik und Erkenntnistheorie freigestellt hat, um ihr einen Blick auf das Generieren von Formen schlechthin zu ermöglichen.“ Anders gesagt, Religion hat es mit der allem anderen vorangehenden Frage zu tun, wie das Unterscheiden, wie „Form“ in die Welt kommt.
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Deshalb ist die religiöse nicht identisch mit der moralischen Frage nach dem Vorzuziehenden und dem Abzulehnenden. Letztere ergibt sich erst in einem zweiten Schritt, wenn nämlich das reine Vorkommen von Unterschieden wiederum getrennt wird von der Frage, was vorzuziehen und was abzulehnen ist. Die Systemtheorie spricht von „Präferenzstruktur“: Jedes Unterscheiden besteht aus vier Teilen, einem (positiven) Wert, an den in der Bestimmung angeschlossen wird (Frieden), einem (negativen) Wert), von dem abzugrenzen das Ziel der Bestimmung ist (Krieg), dem Kontext und einem Kriterium, aufgrund dessen die beiden Seiten als Unterschiedene wahrgenommen werden (Gewalt/Tötung). Jedes konkrete Werten setzt die Unterscheidung von Wert und Unwert voraus. Dieses vorausgesetzte, transzendentale, nicht verfügbare Schema nennt Kant eine Kategorie. Das Transzendentale Kants unterscheidet sich darin vom religiösen Begriff der Transzendenz, dass es bei diesem Hinweis des „Vor-jeder Erfahrung“ bleibt und damit auf weitergehende metaphysische „Erkenntnisse“ verzichtet wird. Das Transzendentale ist mithin ebenso wie das Transzendente dem Moralischen vorgeordnet. Stobbe (2001: 52) bezeichnet den Vorrang der religiösen vor der moralischen Fragestellung auch als einen solchen der Ontologie. Zunächst muss das Unterschiedene ja vorhanden sein, bevor eine Wertung möglich ist. Allein dieses Vorhandensein ist etwas, das die Menschen immer schon als gefährdet betrachtet haben. So steht am Beginn aller wertenden Bemühung zunächst die Frage, wie stabil und festgefügt die Unterschiede sind, auf die die Menschen ihre gesamte Orientierung errichten. Auf dieser tiefsten Stufe ist nur der Mord an jenen „unschuldigen“ Menschen verwerflich, die sich im Binnenraum der Ordnung befinden, anders der Feind. Dieser „„verkörpert“ ja keineswegs nur einen politischen Gegner, sondern die ChaosMächte, die als solche die Ordnung der Welt und mit ihr die Grundlagen des Friedens bedrohen. Da er per definitionem nicht zu dieser Ordnung gehört, fällt er auch nicht unter die konstitutive Unterteilung “ (Stobbe 2001: 52).
Das „Legen der Feinde“ habe bereits zu den elementaren Herrschaftspflichten des ägyptischen Pharao gehört, der im Krieg und durch den Krieg nicht allein die politische und soziale, sondern zugleich und mehr noch die kosmische Ordnung zu schützen gehabt habe. Wenn sich die religiöse bzw. die ontologische Frage den Bedingungen möglicher Ordnung in Abgrenzung vom Chaos zuwendet, so verweist die Antwort zunächst auf die Gesellschaft und sie führt im gleichen Zuge von der Gesellschaft wieder weg. Denn das Ordnung stiftende Unterscheiden von Innen und Außen, von Recht und Unrecht, von Eigenem und Fremdem, von Freund und Feind usw. bleibt Sache einer konkreten Gesellschaft, die Kriterien nach ihren besonderen zeitbezogenen Bedürfnissen bestimmt. Andererseits stellt die Gesellschaft Ordnung unter Rückgriff auf existierende Unterscheidungen her und kann infolgedessen ihre eigenen Kriterien nicht als Bedingung einzig möglicher Ordnung stilisieren. Die Rückführung von Kriterien (Mord) auf Unterscheidungen (Recht-Unrecht) setzt wiederum ein Kriterium (legitima potestas) voraus, das befugt sein lässt, der Tat die Bedeutung der Rechts-
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durchsetzung oder des Tyrannenmords zu- oder abzusprechen. Die Religion ebenso wie die Ontologie müssen dafür sorgen, dass diese beiden Ebenen nicht vermischt werden, dass der Vorgang des Unterscheidens (von gut und böse, von recht und unrecht) vom Bezeichneten (Töten, Mord)) getrennt bleibt. Ersteres findet die Gesellschaft vor, letzteres geht auf ihre Definition zurück. Gerade deshalb, weil in der religiös/ontologischen Differenz von unterscheidendem Bezeichnen und Bezeichnetem die Relativität der Kriterien immer mitgedacht ist, sind kulturstiftendes Tötungsverbot und die darauf gegründeten Menschenrechte nicht etwas, das man um eines bloßen „Verbots zu Morden“ willen einfach fallen lassen könnte. Ein ius ad bellum lässt sich mithin gerade nicht religiös begründen. Denn dazu müsste Religion die endlose Reihe der Rückführbarkeit von Kriterien auf andere Kriterien willkürlich beenden und die Repräsentanten einer bestimmten Gesellschaft autorisieren, ein für alle Mal letzte und allgemeingültige Kriterien zu definieren. Die Usurpation dieses Rechts wird als totalitär und heute als fundamentalistisch bezeichnet. Eindeutiger lässt sich das Tötungsverbot im christlich-jüdischen Urtext anthropologisch begründen und zwar mit dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit. Im Noah-Bund (Gen 9, 1-17) wird das ursprüngliche, im Dekalog begonnene, Schöpfungshandeln Gottes fortgesetzt. Nach Stobbe (2005: 52) greift nun der (priesterschriftliche) Autor „auf den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen zurück, den er bereits im ersten Kapitel eingeführt hatte (vgl. Gen. 1, 26. 27): „Denn: Als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht.“ (Gen. 9, 6b). Erst dieser Begründungsschritt verleiht dem Tötungsverbot einen wirklich universellen Charakter.“ Behandelt man den Pazifismus im Sinne von Kurt Flasch als Kriegsphilosophie und setzt ihn einen Vergleich mit den anderen Versionen aus, so ist zu berücksichtigen, was Stobbe für die Lehre vom gerechten Krieg hervorhebt. Diese sei das „Ergebnis einer höchst voraussetzungsreichen Entwicklung, im Verlauf derer religiöse, ethische und politische Reflexionen allmählich auseinandertreten, um sodann gerade in der Form dieser Lehre in eine neue Beziehung zueinander gebracht zu werden.“ (Stobbe 2001: 52). Die kosmische Ordnungsfunktion, die archaische Herrschergestalten im religiösen, ethischen und politischen Sinne zugleich symbolisierten, zeigt sich in einem zur Macht gelangten Christentum als Problem. Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen ontologischer und anthropologischer Aussage. Das in der Gottebenbildlichkeit ausgesprochene generelle Tötungsverbot gerät in Konflikt mit dem Tötungsgebot all derer, die als Verkörperung der Chaosmächte gesichtet werden, in erster Linie die Heiden. Allerdings ist die Verkörperungsfähigkeit des Chaos und umgekehrt die ordnungsstiftende Rolle irdischer „Mächte und Gewalten“ vom Religiös-Ontologischen aus gesehen gerade fraglich, da das Unterscheiden im letzten Glied nicht auf ein Erkennbares, eine menschliche Leistung, sondern auf ein Unerkennbares, Gott, zurückgeht. Dennoch bleibt ein Spannungsverhältnis zwischen ontologischer (Verbot zu Morden) und anthropologischer Aussage (Tötungsverbot), das sich mit der Konstantinischen Wende im vierten Jahrhundert noch einmal immens steigern sollte. Denn
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die von Konstantin dem Großen im Toleranzedikt von Mailand 913 gewähre Religionsfreiheit leitet eine Entwicklung ein, in deren Folge das Christentum zur Staatsreligion werden konnte. Die Kirche wurde nun Stütze der irdischen Ordnungsmacht und büßte ihren Charakter einer auf bloßer Liebe gegründeten Gegengemeinschaft ein. Dieses Spannungsverhältnis wieder aus der Welt zu schaffen, wäre entweder um den Preis der christlichen Humanitätsgewinne möglich gewesen, was bedeutet hätte, das „Liebet eure Feinde“ wieder in die bedenkenlose Vernichtung derselben zu verwandeln. Eine andere Chance hätte die Entmachtung des Christentums geboten, mit der die Aufrechterhaltung der Ordnung wieder zur Sache einer nichtchristlichen und womöglich christenfeindlichen Politik geworden wäre. Erst die Säkularisierung wird mit der Trennung von Staat und Kirche einen Ausweg aus diesem Dilemma weisen. Da beide „Lösungen“ aber das gesamte Mittelalter hindurch undenkbar waren, galt es die in ihrer Widersprüchlichkeit erkannten religiösen, ethischen und politischen Funktionen auf eine Weise zu vereinen, die so viel Schaden wie möglich abwendet. Genau dies versucht Augustinus mit der Lehre vom gerechten Krieg. An keiner einzigen Stelle derselben wird die Illusion befördert, die Harmonisierung dieser Funktionen könnte ohne Opfer gelingen. Es geht vielmehr darum, das kleinere Übel herauszufinden, um das größere zu vermeiden. Historisch betrachtet, hat diese Harmonisierung nach Stobbe keinen Bestand gehabt; sie könne als gescheitert angesehen werden. „Der geistesgeschichtliche Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit markiert neben manch anderen emanzipativen Bewegungen auch und nicht zuletzt die Ablösung der Lehre vom Gerechten Krieg von ihrem traditionellen religiösen oder theologischen Fundament. Mehr noch: Sie verliert gleichzeitig, wie das Verständnis der Politik weithin, auch den Bezug zur Ethik. Am Ende dieses Prozesses steht das Ius ad Bellum als wesentlichster Ausdruck absoluter staatlicher Souveränität und Autorität, die in der Wahrnehmung des Rechts zum Krieg keiner übergeordneten Instanz mehr rechenschaftspflichtig sind und ausschließlich dem Kalkül politischer Rationalität folgen.“ (Stobbe 2001: 52). Es habe der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert bedurft, um davon Abstand zu gewinnen.
Diese zugleich historische und systematische Art der Betrachtung ist als Teil einer Auseinandersetzung mit dem Pazifismus besonders aufschlussreich. Sie macht deutlich, wie sehr die mit einer Kriegsphilosophie verbundene Absicht (Kriegsverhütung vs. Kriegsrechtfertigung) mit zweierlei in Beziehung gesetzt werden muss, einmal mit den besonderen Funktionen, die eine Lehre zu erfüllen hat, und zum anderen mit den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Lehre Bedeutung gewinnt. Die pazifistische Gegenposition von Albert Fuchs (2002) insistiert auf der These, die bellum-iustum-Lehre trage den Keim zur Instrumentalisierung für kriegerische Zwecke in sich.61 Da wir mit Kurt Flasch die grundsätzliche Einstellung zum Krieg beim 61
Eine Replik zur Kontroverse zwischen Stobbe und Fuchs über die bellum-iustum-Lehre findet sich
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Pazifismus als problematisch herausstreichen wollen, sind Überschneidungen und Abgrenzungen zur bellum-iustum-Argumentation in genau diesem Punkt aufschlussreich. Ausgehend von einem Denken, das in der Ablehnung ein weniger aussichtsreiches Instrument der Kriegsvermeidung sieht als in der Reglementierung, sind es wieder Effizienzüberlegungen, die den Ausschlag geben. Nimmt man die Lehren beim Wort und infolgedessen die Kriegsvermeidung als verbindendes Element, dann müsste man in die Geschichte blicken, um die Leistungsfähigkeit des einen und des anderen Modells zu überprüfen. Angesichts von Kreuzzügen und Konfessionskriegen kommt Albert Fuchs zu einem vernichtenden Urteil. Die bellum-iustum-Lehre habe in ihrer Funktion der Friedenssicherung ganz offensichtlich versagt, denn Mittelalter und frühe Neuzeit haben Europa keinen dauerhaften Frieden beschert. Wege aus der Gefahr einer „Wiederholung“ der Geschichte“ weise der Pazifismus, der das Versprechen enthält, man könne mit einer anderen Lehre andere Ereignisse auslösen. 3.2.5 Zum Anachronismus der bellum-iustum-Lehre Die Metamorphose des Pazifismus zur Zeit des Kosovokrieges ist ein Gegenbeispiel. Ohne das Verdikt der Kriegsvermeidung im Kern anzutasten, gelang die „pazifistische“ Rechtfertigung der Bombardierung jugoslawischer Städte, indem der Begriff des Krieges vermieden wurde. Was Pazifisten und Realisten gegeneinander aufbringt, ist der wechselseitige Verdacht, Kriege unmittelbar oder auf lange Sicht zu fördern. Wird von mythischer Kausalität Abstand genommen, lassen sich unvoreingenommener Chancen der Beeinflussung des Handelns am Verhältnis ablesen, in dem sich eine bestimmte Semantik im Sinne eines gesellschaftlich dominierenden Begriffsverständnisses (Lehre, Ideologie) zur Gesellschaftsstruktur befindet. Es ist jetzt nicht mehr die Rede von der „Lehre vom Gerechten Krieg“, die einen bestimmten Kriterienkatalog für die Bewertung der Legitimität von Kriegen mit sich führt. Was nun in den Vordergrund rückt, sind Verschiebungen des gemeinten Sinns der Lehre im Kontext gesellschaftsstruktureller Veränderungen. Die Kriterien des ius ad bellum und des ius in bello scheinen von sich aus nun plötzlich nicht mehr informativ, weil sie sich bis zur Unkenntlichkeit wandeln, je nachdem, ob sie in einer hierarchischen oder in einer funktional differenzierten Gesellschaft bemüht werden. Francisco de Vitoria (ca. 1483-1546) hatte die „Lehre vom Gerechten Krieg“ als Mittel der Kritik an der Conquista erneuert und zu diesem Zweck weitere Ergänzungen vorgenommen. Unter dem Titel „ius in bello“ fügte er den Kriterien des gerechten Kriegsgrundes die Anforderung der Verhältnismäßigkeit der Mittel und die Schonung der Unschuldigen bei. Die Tatsache jedoch, dass seine Argumentationsfiguren sogleich von den Befürwortern der Eroberungen zur Rechtfertigung derselben bei Brücher (2003a).
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benutzt worden sind, zeugt von einem strukturellen Problem, das mit der Erneuerung der Lehre in Zusammenhang steht. Gerade die Gegenüberstellung der Fassungen von Augustinus und Thomas von Aquin mit der Fassung von Vitoria zeigt exemplarisch, wie sich zeitbezogene Rechtfertigungslogiken über eine Lehre stülpen und diese ganz und gar in Dienst nehmen unabhängig davon, welche Absichten der Autor mit der Lehre verbunden haben mag. Die restriktive Auslegung zur Zeit von Augustinus steht vor dem Hintergrund einer der permanenten Kriege müde gewordenen Menschheit, die unter dem Expansionismus des römischen Reiches viele Jahrhunderte hindurch hatte leiden müssen. Die Aufbruchstimmung hingegen, die im Europa der frühen Neuzeit herrscht und die ihre Nahrung nicht zuletzt aus der in der Renaissance wieder gewonnenen Bewunderung auch der machtpolitischen Seiten der griechischen und römischen Antike bezieht, lässt nur den Aufruf zur Tat vernehmen. Dieser aber ist in einer Lehre enthalten, die Kriterien angibt, unter denen Krieg gerechtfertigt werden kann. Harald Wohlrab (2004: 187) lehnt es ab, im Missbrauch der Argumentationsfiguren, mit denen Francisco de Vitoria die Unrechtmäßigkeit der überseeischen Eroberungen und das menschliche Unrecht der Versklavung der einheimischen Bevölkerung hatte brandmarken wollen, eine „List der Vernunft“ zu sehen. Sehr viel eher zeige sich hier „das grundsätzliche Problem aller Argumentation um normative Urteile, die mit „Kriterien“ arbeiten: Diese Kriterien müssen ja immer noch auf Situationen bezogen werden und der Situationsbezug erfordert Urteilskraft, in der sich unversehens das Interesse breit macht.“62. Der Scholastiker Juan Ginés de Sepúlveda bediente sich der Lehre vom gerechten Krieg, um die Absicherung der überseeischen Gebiete als eine „humanitäre Intervention“ rechtfertigen zu können.63 Der Hinweis auf die Menschenopfer der Azteken lieferte in gleicher Weise wie Angriffe der Indios auf die europäischen Kolonialherren die causa iusta. Erst das vom Bürgerkrieg gebeutelte Europa des siebzehnten Jahrhunderts macht sich wieder auf die Suche nach Argumentationsfiguren, die jeder Rechtfertigung von Krieg und Gewalt den Boden entziehen. Es ist diese Leiderfahrung, die gründend auf dem Naturrecht ein Vernunftrecht ableiten lässt, das jedem Menschen ein Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit zugesteht. Nun schienen die höheren Werte des Vernunftrechts das natürliche Recht eines jeden Menschen auf Leben zu schützen. Die Gebildeten des siebzehnten Jahrhundert 62
Auch für Czempiel (1972: 14) trägt die bellum-iustum-Lehre den Keim zur Instrumentalisierung notwendig in sich, da man sich ihrer heute nur in einem modernen politischen Kontext bedienen kann, der weltanschaulich inhomogen ist. Die Zersplitterung der menschlichen Gesellschaft in Nationalstaaten und den dazu gehörigen Loyalitäts- und Legitimitätskonzepten lasse ein einheitlichverbindliches Gerechtigkeitskriterium a priori nicht zu. 63 Siehe dazu dessen „Dialog über die gerechten Kriegsgründe“, in: Ch. Strosetzki (Hg.) Der Griff nach der Neuen Welt. Der Untergang der indianischen Kulturen im Spiegel zeitgenössischer Texte, Frankfurt am Main 1991, S. 210-269, nach Wohlrab (2004: 188).
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nahmen an, dass ein solcher Lebensschutz von der religiösen Moral nicht mehr zu erwarteten sei. Die entkonfessionalisierte, säkularisierte Version des christlichen Naturrechts, wie sie Herbert Grotius, Samuel Pufendorf, Christian Thomasius, Christian Wolff und Immanuel Kant entwickeln, erklärt die wechselseitige Anerkennung der Menschen zur moralischen Natur derselben. Auf diese Weise werden dem Menschen als Menschen zukommende Rechte nicht mehr aus dessen Beziehung zu Gott, sondern aus der Bedeutung abgeleitet, die die Menschen füreinander haben. Die Bedeutungsvielfalt zeigt sich in all den Abhängigkeiten, die die Menschen aufeinander angewiesen sein lassen. Diese Funktion, Gewalt zu delegitimieren, konnte die säkularisierte Moral aber nur erfüllen, weil die Menschen des siebzehnten und zumindest noch der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nur nach einer sprachlichen Figur für eine semantische Funktion – Erhaltung des Lebens – gesucht hatten. Nicht die umgekehrte Schlussfolgerung macht Sinn, nach der die Subjektkonzeption des Menschen im Gegensatz zur Gottebenbildlichkeit keine Argumente für das Töten liefern könnte. Deshalb ist es ratsam, weniger auf die sprachlichen Formeln und mehr auf die sinnkonstituierende Funktion zu achten, die solche Formeln erfüllen sollen. Der einzige Sinn der Säkularisierung, mit der die Beziehung zu Gott als private Angelegenheit in ihrer Bedeutung gemindert wurde zugunsten der nunmehr allein für das gesellschaftliche Zusammenleben wesentlichen zwischenmenschlichen Beziehung, liegt in der konfliktreduzierenden Kraft eines solchen Umdenkens. Wie man damals glaubte und zum großen Teil noch heute glaubt, führt ein asymmetrisch gedachtes Verhältnis zu Ungleichheit, Missachtung, Unterdrückung und Übergehen der Lebensrechte eines Anderen. Ist Symmmetrie hingegen das Charakteristische eines Verhältnisses, so wird Achtung, Gleichheit und Gleichberechtigung erhofft. Da die Beziehung von solch ungleichen Wesen, wie Gott und Mensch, von Grund auf asymmetrisch ist, so wird die Entstehung einer Gewaltneigung bei demjenigen vermutet, der im Namen Gottes zu handeln meint. Geht es bei den tiefsten moralischen Beweggründen aber immer nur um die Beziehung zu den Mitmenschen – so die Annahme – dann verwehrt das von Grund auf symmetrische Verhältnis von Gleichen jedes Recht, dem Mitmenschen ein Unrecht zuzufügen. Dieses aufklärerische Menschenrechtsverständnis erfüllte indes seine Funktion zumindest bis zur Französischen Revolution nicht deshalb, weil die Argumentationsfiguren ein gleiches Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zuverlässiger hätten garantieren können als ein religiöses Konstrukt der Gotteskindschaft. Es ist ein aus purer Friedenssehnsucht betriebenes Konstruieren von Gedankengebäuden, das die Menschen dazu anhalten soll, sich auch dann noch friedlich zu verhalten, wenn die Unterschiedlichkeit von Glaubensvorstellungen und Interessenlagen dies eigentlich nicht zulassen würde. Da der Mensch nicht als der konkrete andere Mensch in all seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten in dieser symmetrischen Beziehungskonstellation gemeint war, sondern nur „der Mensch“ und mithin eine Idee desselben, konnte man sehr gut wieder eine Trennung machen zwischen den Einzelexemplaren,
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die fortan in ihrer Würde und in ihren Rechten nur in dem Maße zu achten waren, in dem sie an die Idee des Subjekts heranreichten. Friedrich Nietzsche wird im neunzehnten Jahrhundert folgerichtig aus dem selbstverschuldet unmündigen Menschen Kants das Allzumenschliche machen, das nun nicht mehr dem aus Unmündigkeit befreiten moralischen Subjekt, sondern dem von Moral entlasteten Übermenschen gegenübergestellt wird.64
3.3 Tötungstabu oder Tötungsverbot Gegen die innerhalb des Pazifismus verbreitete Ansicht eines im Wertekanon verankerten Tötungstabus ist darauf hinzuweisen, dass in archaischen Kulturen Tabuverletzungen gerade mit dem Tod bestraft wurden und es sich deshalb nur um ein Tötungsverbot handeln kann.65 Mit dem Begriff des „Verbots“ aber wird noch mehr als mit demjenigen des Tabus ein Bezug zum sozialen Kontext hergestellt, innerhalb dessen moralische Maximen formuliert sind. Während ein Tabu weder begründet zu werden braucht noch ohne weiteres kritisierbar ist, fordert ein Verbot sowohl Begründung als auch Kritik heraus. Beide Begriffe erfüllen unterschiedliche kommunikative Funktionen. Was in einer Gesellschaft mit einem Tabu belegt ist, steht nicht zur Disposition. Mit der Tabuisierung wird ein Thema gewissermaßen aus der Kommunikation ausgeschlossen und damit der gesellschaftlichen Verfügung entzogen. Denn „Gesellschaft“ konstituiert sich über die Fortsetzung von Kommunikation.66 Mit der Tabuisierung verpflichtet sich die Gesellschaft etwas anzuerkennen, dem sie in ihren Diskursen nicht eigens zugestimmt hat. Dabei wird die Bedeutung dieser so zementierten Unverfügbarkeit so hoch eingeschätzt, dass der Tabubruch viel schwerer wiegt als jede Gesetzesübertretung und aus diesem Grund – worauf Stobbe hinweist – im Extremfall mit dem Tode bestraft wird. Wenn dieselbe Logik auch für die Gewalt gilt, so scheint darin zunächst ein Widerspruch zu liegen, da ein mit dem Tode bestraftes Töten das Tötungsverbot außer Kraft setzt. Dieser Widerspruch wird jedoch in Kauf genommen angesichts der Bedeutung, die der Einhaltung des Tötungsverbots für die Gesellschaft zugesprochen wird. Die Tötung des Tabubrechers erscheint gegenüber der permissiven Haltung dem Töten gegenüber als das kleinere Übel. Mit der Tabuisierung des Tötens sucht das Christentum im Römischen Reich gleichsam ein altes Rechtsdenken wiederzubeleben, das in der Rechtspraxis nicht 64
Es gibt in dieser Zeit allerdings auch moralische Lesarten des Darwinismus. So bei Bertha von Suttner, die in „Das Maschinenzeitalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit“ von 1889 einen „Vollmenschen“ skizziert, der von der Vernunft geleitet, politische und wirtschaftliche Unterdrückung abgeschafft haben wird. 65 Auf diesen Punkt macht Stobbe (2001: 51) aufmerksam. 66 Siehe zu diesem Begriff der „Gesellschaft“ als umfassendes Sozialsystem Luhmann (1997: 78ff.).
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mehr zur Geltung kommen konnte. Dies musste die Moralvorstellungen der Zeit nachhaltig verändern. Nach römischem Rechtsdenken blieb straffrei, wenn der Patron widerspenstige oder unliebsame Mitglieder der Hausgemeinschaft tötete. Dazu gehörten Sklaven, das Gesinde, Frau und Kinder. Das kommunale Recht hatte sich, indem die Polis bei diesen Vergehen nicht einzuschreiten gedachte, vom Sakralrecht entfernt, das derlei Tötungen unter Strafe stellte. Wenn die frühen Christen unter Hinweis auf die Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit der Menschen das Töten selbst von Abhängigen für Sünde erklärten, so begaben sie sich in Widerspruch zur öffentlichen Moral, die in derlei Praktiken nichts Unrechtes erblicken mochte. Der Weg zur Tabuisierung läuft allerdings über das Verbot und so beruft sich das Christentum auf das im Alten Testament Moses von Gott offenbarte Tötungsverbot. Erst dadurch, dass das Verbot Gott zugerechnet wird und nicht den Menschen, gelingt die Tabuisierung. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann eine Verbindlichkeit postuliert werden, die sich weder rechtfertigen muss noch durch „besseres Wissen“ außer Kraft gesetzt werden kann. Diskurstheoretisch ausgedrückt: Ein Tabu muss seine Geltungsgründe nicht offen legen und hinterfragen lassen. Tabus sind mithin in die Latenz oder ins kollektive Unterbewusste abgesunkene Verbote und können demzufolge wieder in Verbote rückverwandelt werden, sobald die Entstehungsbedingungen in Widerspruch zur eigenen Kultur treten und dies bewusst geworden ist. Ein Prozess der Enttabuisierung der Sexualität scheint heute abgeschlossen zu sein; ein Prozess der Enttabuisierung der Gewalt und selbst des Krieges ist in vollem Gange. Enttabuisierung bedeutet: nicht mehr nur derjenige, der Gewalt anwenden will, muss sich rechtfertigen, sondern auch derjenige, der Gewalt kritisiert. Diese allgemeine Rechtfertigungspflicht entsteht, sobald das Tabu als bloßes Verbot bewusst gemacht und damit in seiner Kontingenz – seinem „Auch anders sein können“ – durchschaut wird. Die enttabuisierte Gewalt tritt wieder als das in Erscheinung, was sie war, bevor sie der Disposition der sprechenden und begründenden Menschen entzogen worden war. Das Tabu zeigt sich wieder ganz unverhüllt als Verbot. Damit wird die Verwerfung der Gewalt mit dem in Verbindung gebracht, der ein „du darfst nicht“ ausspricht. Indem sich nun das Augenmerk ganz auf den Akteur richtet, auf den das Verbot zurückgeht, tritt die Frage nach dessen Autorität in den Vordergrund, noch bevor die „guten Gründe“ eines solchen Verbots thematisiert werden konnten. Wird der Akteur, auf den das Verbot zurückgeht, nicht mehr in seiner Autorität fraglos anerkannt, dann setzen Diskussionen ein, wie sie gegenwärtig am Thema „Menschenwürde“ in vollem Gange sind. Hier ist es die Zurückweisung eines überpositiven Rechts auf Leben, mit der Gott, auf den das Gebot des Lebensschutzes zurückgeht, als nicht mehr zeitgemäße „Autorität“ abgelehnt wird. Gemäß der Neuinterpretation des Grundgesetztes durch Matthias Herdegen gelten auch die Grundrechts-
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normen nur noch als änderbares „positives“ Recht.67 Damit geben politisches und Rechtssystem zu erkennen, dass sie sich keine Selbstbeschränkung mehr aufzuerlegen gedenken. Demokratisches und totalitäres Profil fließen ineinander. Ein als Verbot thematisiertes Töten setzt dessen Enttabuisierung voraus. Denn als Tabu ist es niemals Gegenstand von Diskursen. Das Gespräch über Für und Wider, über Bedingungen und situationsbezogene Urteile zementiert nur etwas, das schon stattgefunden hat, nämlich das faktisch untergrabene Verbot zu Töten. Für die Verfechter einer Lockerung des Tötungsverbots ist deshalb bereits die in Gang gebrachte Diskussion ein Sieg,68 da die rationale Begründung dieses Verbots jene Universalisierung in der Ethik voraussetzen würde, die heute nicht mehr gelingt.69 Diese Tatsache ist auch eine Folge der Dialektik von Verbot und Gebot. Wird etwas verboten, so verweist dieser prohibitive kommunikative Akt in seinem Sinnbezug auf die Möglichkeit der Negation und damit auf sein genaues Gegenteil. Was verboten wird, könnte auch erlaubt werden. Modernes Kontingenzbewusstsein, welches moralische Kriterien in den Horizont anderer Möglichkeiten der Definition des Guten und Richtigen stellt, muss die Antwort auf die Frage, was erlaubt und was verboten sein soll, in letzter Konsequenz dem positiven Recht vorbehalten. Gebote und Verbote sind moralisch-rechtliche Regulierungen des Zusammenlebens, die auf sozialverträgliches Verhalten innerhalb der Gruppe und den Zusammenhalt derselben gegen ein feindliches Außen gerichtet sind. In ihrer sozialintegrativen Funktion sind Gebote und Verbote den Bedürfnissen der Gruppe angepasst und sind damit in ihrer universalen Geltung immer Zweifeln ausgesetzt. Die Enttabuisierung des Tötens im Zusammenhang mit einem Gewaltdiskurs, der die Minimierung von Selbstverwirklichungschancen auf eine Ebene mit der Körperverletzung stellt, lässt das Leben nur noch als einen Wert unter anderen Werten gelten. Eine Werthierarchie aber bleibt Sache der Diskursgemeinschaft, die Prioritäten von Fall zu Fall festlegt. Das bedeutet, unter nachmetaphysischen Bedingungen70 sind moralische Maximen, die gut von schlecht/ böse unterscheiden, kontingent. Für das Tötungsverbot bedeutet diese Kontingenz, dass ein Verbot nur zusammen mit einer Tötungser67
In seiner Interpretation der Menschenwürde als bloßes Resultat von diskursiven Verständigungsprozessen über einen zeitabhängigen Sinn beruft sich Herdegen (Maunz/Dürig 2003, Art. 1 Abs. 1 Rdn 29) auf die Habermassche Diskursethik. 68 Das machen die Argumentationen deutlich, mit denen Lothar Fritze (2004) das „Dogma“ auf den Prüfstand erhebt, ob Unschuldige nicht getötet werden dürfen. Die Enttabuisierung des Immunitätsprinzips zeigt sich als der erste Schritt zu dessen Aufhebung. 69 Siehe zur Analyse, Kritik und Rekonstruktion ethischer Rationalitätsansprüche Wimmer (1980). 70 In der Kritik an dem Paradigma von Metaphysikkritik und nachmetaphysischem Denken wird versucht, selbige als bloße Modeerscheinung abzutun, um auf diese Weise die moralischen Prinzipien der „Westlichen Wertegemeinschaft“ wieder in ihr Recht einzusetzen. Diese Restaurationsbemühungen übersehen, dass „postmodernes“ Kontingenzbewusstsein nicht einfach einen anderen „relativen“ Wert symbolisiert, sondern die westlichen Werte „Pluralismus“ und „Wertrelativismus“ in ihren Konsequenzen benennt.
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laubnis – für bestimmte Fälle und Situationen – denkbar ist. Andernfalls müsste man das Verbot als notwendiges nachweisen, was offensichtlich nicht gelingt (Singer 1994, Hoerster 2003). Dieses nachmetaphysische Profil der Wertedebatte schlägt sich bereits innerhalb der Friedensethik nieder. Im Vordergrund steht eine im anglo-amerikanischen Bereich entwickelte sog. „Ethik der internationalen Beziehungen“.71 Diese versteht sich in erster Linie als Antwort auf die neue weltgesellschaftliche Situation, wie sie seit dem Ende des kapitalistisch-sozialistischen Systemantagonismus mit der Globalisierung aller Funktionssysteme entstanden ist. Ihrem Selbstverständnis nach ist es die Aufgabe dieser friedensethischen Richtung, analog den Ethikkommissionen, die biopolitische Forschungen, Entwicklungen und Entscheidungen begleiten, für die Sicherheitspolitik verbindliche Kriterien militärischer Gewalteinsätze aufzustellen. Im Allgemeinen sind die Funktionssysteme in ihrer Programmgestaltung und der Wahl eines dazu benötigten Mittelkatalogs so lange autonom, als sie mit ihren Projekten und Methoden geltendes Recht achten. Ethikkommissionen und „Ethik der internationalen Beziehungen“ werden mithin auf einem Feld tätig, in dem die rechtliche Regelung noch unzureichend oder im Prinzip schwierig ist. Letzteres gilt für Dilemmasituationen, in denen es um die Abwägung von gleichrangigen Rechtsgütern geht, insbesondere die Abwägung eines Menschenlebens gegen ein anderes. Bezogen auf die Biopolitik gilt es für die neuen Möglichkeiten der Stammzellforschung, die embryonales Gewebe verwenden, eine ethisch vertretbare Lösung zu finden. Es gilt, die Interessen jener Kranken zu berücksichtigen, die auf eine Entwicklung neuer Heilmethoden durch Stammzellforschung hoffen, ohne das im Menschenwürdeartikel des Grundgesetzes festgeschriebene gleiche Recht auf Leben und infolgedessen das Tötungsverbot zu unterminieren. Hier schien sich ein Ausweg durch eine Neudefinition des Menschenwürdeartikels als positivrechtliche, änderbare Norm anzubieten. Indem nun die Menschenwürde nicht mehr als natur- und somit als vorrechtliche Grundlage des Rechts verstanden werden sollte, dient sie nicht länger der Tabuisierung des Tötungsverbots. Dieses wird zum Gegenstand konkreter Rechtsdiskurse gemacht. Für die neue Richtung einer „Ethik der internationalen Beziehungen“ lassen sich ähnliche Tendenzen beobachten. Das Anliegen ist, ein in bestimmten sicherheitspolitischen Situationen (Menschenrechtsverletzung, failed states (zusammengebrochene Staaten), Terrorgefahr) entstehende Dilemma aufzulösen, nichtabwägbares Menschenleben abzuwägen zu müssen, um eine Entscheidung für oder gegen militärische Intervention möglich zu machen. Allgemeinverbindliche Kriterien für die Auflösung der Paradoxie der Abwägung von Nichtabwägbarem sind von Kriegsphilosophien nämlich nicht zu erwarten, spiegeln diese Philosophien doch das gesamte 71
Zur Rezeption im deutschsprachigen Diskurs und einer stärkeren Verklammerung mit pazifistischen Fragestellungen siehe Haspel (2006).
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Spektrum ethischer Positionen vom radikalen über einen gemäßigten Pazifismus bis hin zum Bellizismus wider. Angesichts der dilemmatischen Struktur des Problems ist ein „sachgemäßes“ Urteil also kaum zu erwarten. Eine als „Ethik der internationalen Beziehungen“ auftretende wissenschaftliche Teildisziplin kann somit nur die Funktion haben, ein „Expertenteam“ zu rekrudieren, das gleich den Ethikkommissionen72 Autorität in ethischen Fragen beansprucht. Diese analoge Funktion mag erklären, weshalb der Ausweg aus dem Dilemma der Abwägung nichtabwägbaren Lebens für sicherheitspolitische Entscheidungen ähnlich empfohlen wird, wie innerhalb des biopolitischen Diskurses. In der Biopolitik besteht eine Tendenz, das nichtauflösbare Dilemma durch ein gleichrangiges Nebeneinander von Bedürfnissen zu ersetzen, deren Priorität von Fall zu Fall in konkreten Diskursen entschieden wird. Für die Sicherheitspolitik empfiehlt Michael Haspel (2006) ein „Theorie-Design“, in dem der bisher als Dilemma thematisierte Widerspruch zwischen Gewaltverbot/Gewaltvermeidung (negativer Friede) und Freiheit/Gerechtigkeit (positiver Friede) in wechselnde Prioritäten aufgelöst ist. Widersprüchliche aber lassen sich in gleichrangige Aufgabenfelder nur verwandeln, wenn die traditionelle heterogene Ethik durch eine quasipolitische Instanz homogenisiert wird, die von Fall zu Fall festlegt, ob die Vermeidung gewaltsamer Konflikte, oder der Kampf gegen Terror Priorität haben sollen.73 Systematische Integration bedeutet dann: „Man kann in Zukunft die Fragen nach der Legitimität von Gewaltanwendung oder der Notwendigkeit von Gewaltvermeidung nicht mehr losgelöst von den Fragen der Verhinderung des Hungers, der Verwirklichung der Menschenrechte und der gerechten Ausgestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen behandeln.“ (Haspel 2006: 187). Diese innerhalb der Friedensethik angebotene Lösung, durch Politisierung der Ethik einen Ausweg aus dem bloß subjektiven und damit unentscheidbaren Umgang mit Dilemmasituationen aufzuzeigen, führt zu einer wichtigen Einsicht. Sie zeugt von den metaphysischen Grundlagen nicht erst eines radikalen Gewaltverbots, das sich in der Kritik an kriegerischen Praktiken niederschlägt. Bereits die Frage des Primats nichtgewaltsamer gegenüber gewaltsamen Formen der Konfliktlösung wird nach tieferliegenden Vorentscheidungen beantwortet, sobald sie mehr als eine subjektive Prämisse sein soll. Diesen Anspruch muss eine „Ethik der internationalen Beziehungen“ jedoch erheben, die nicht nur Gruppenüberzeugungen homogenisieren, sondern für den Umgang der Weltbevölkerung Verhaltensmaximen verbindlich machen will. Werden ethische in Machtfragen verwandelt und somit entparadoxiert, dann enthält der Verweis auf Ethik einen Geltungsanspruch, der sich aus der vorgeblichen Leistung ableitet, den Kontroversen über Fragen der Legitimität eine ent72 Eine Untersuchung über die gefährlichen, weil Recht und Ethik unterminierenden Entwicklungen der bioethischen Expertokratie, die Petra Gehring (2006) für den biopolitischen Bereich aufzeigt, steht für die „Ethik der internationalen Beziehungen“ noch aus. 73 Zu den Gefahren einer Ablösung der Kategorie des „Unverfügbaren“ durch diejenige der „Leidverminderung“ im bio- und im sicherheitspolitischen Bereich siehe Brücher (2006).
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scheidbare Form zu geben. Da der Pazifismus aber ethische Fragen politikfähig machen und politische als ethische Fragen aufzuwerfen sucht, scheint es nur folgerichtig, wenn Michael Haspel (2006: 189) in der „Ethik der internationalen Beziehungen“ eine transformierte Gestalt des Pazifismus erblickt. Dabei handelt es sich um eine auf die Belange der globalisierten Welt abgestimmte entscheidbare Form des Pazifismus. In eine entscheidbare Form sind Fragen des moralisch Zulässigen jedoch durch positives und durch Völkerrecht gebracht. Diese können gerecht sein, aber sie müssen nicht im Einklang mit bestimmten moralischer Kriterien stehen. Wem aber soll im Konfliktfall Vorrang gebühren? Die Antwort auf diese Frage muss immer dann, wenn eine Position des „Menschenrecht bricht Völkerrecht“ bezogen wird, zugunsten der Moral ausfallen. Peter Mayer (2005: 397), der die „Ethik der internationalen Beziehungen“ als modernisierte Form der bellum-Iustum-Lehre betrachtet, begründet diese Präferenz mit eben jener Tatsache, dass die Gerechtigkeit des Rechts nur fakultativ, aber nicht obligatorisch sei. Auch wenn es eine moralische Verpflichtung zum Rechtsgehorsam gebe, so sei die Lehre vom gerechten Krieg, indem sie die Übereinstimmung des politischen Handelns mit Gerechtigkeitsprinzipien zum Kriterium der Legitimation von Militärinterventionen mache, im Konfliktfall dem Völkerrecht übergeordnet. Ein solcher Fall tritt ein, wenn rasches Gefahren abwehrendes Handeln durch ein Blockieren von Entscheidungen von Seiten einzelner Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen verhindert wird. Nun hat aber das positive Recht genau diese Funktion, ethische Fragen entscheidbar zu machen, die in ihrer genuin ethischen Gestalt als lex naturalis (Naturrecht) und als lex divina (göttliches Recht) aufgrund unterschiedlicher Auslegbarkeit der hier kodifizierten Gerechtigkeitsprinzipien nicht entschieden werden können. Zwar ist jedes Recht, da es auf seine ethischen, vorrechtlichen Grundlagen verweist, selbst auslegungsbedürftig. Da das Recht aber gewissermaßen Ethik in ihrer politisierten, zu Entscheidungen geronnenen Gestalt ist, scheinen die Unterschiede der Rechtsauslegungen gegenüber den Unterschieden in den Gerechtigkeitsvorstellungen zu vernachlässigen. Ein Politikund Rechtsverständnis, das jene durch das Recht nicht zu regelnden Konfliktfälle auf dem Wege eines moralisch legitimierten Rechtsbruchs zu regeln sucht, folgt einer Logik der Problemlösung durch Problemverschärfung. Auch dies kann sinnvoll sein, aber nur im Kontext einer höherstufigen, z.B. geschichtsphilosophischen oder evolutionistischen Gesamtkonzeption, die einen hinter den menschlichen Entscheidungen wirkenden Mechanismus annimmt, der ein solches Handeln verlangt. Im friedensethischen Plädoyer für die Suprematie der Ethik gegenüber dem geltenden Recht findet sich jedoch weder in politologischen noch in theologischen Abhandlungen eine solche Kontextierung. Es wird vielmehr von der Entscheidbarkeit der Gewalt legitimierenden Kriterien des gerechten Krieges ausgegangen, für die mitunter das individuelle Gewissen seismographische Funktionen übernehmen soll. Der Legitimitätsbeschaffer dieser Entscheidungen aber kann unter den modernen Bedingungen
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nicht das Gewissen sein, sondern nur eine mit Autorität ausgestattete sicherheitspolitische Ethikkommission. Wenn Pazifismus und bellum-iustum-Lehre selbst innerhalb der Friedensethik ihren Blick weg von den Dilemmata und Unentscheidbarkeiten auf Maßnahmen richten, die Entscheidungen möglich machen, so fungiert Ethik nicht länger als Versuch, Handlungsnormen rational zu begründen. Denn als solche bleibt sie in den Kontroversen zwischen apriorischer und empirischer Begründung gefangen. Sie steht darin in Gegensatz zum positiven Recht, das unter Hinweis auf den Entscheidungsbedarf der Gesellschaft den Kontroversen ein Ende setzt und bestimmte Präferenzen verbindlich macht. Soll eine „Ethik der internationalen Beziehungen“ der Position „Menschenrecht bricht Völkerrecht“ Geltung verschaffen, so darf Ethik nicht länger als „Reflexionstheorie der Moral“, sondern muss als „Kommunikationsmedium“ verstanden sein. Dieses systemtheoretische Begriffsinstrumentarium74 ist aus dem Grund aussagekräftig, weil hier die gesellschaftsstrukturellen Veränderungen von hierarchischen hin zu funktional differenzierten Gesellschaften in ihren Konsequenzen für ethisch-moralische und politische Semantiken im Vordergrund stehen. Ein Kommunikationsmedium75 hat die Funktion, Annahmemotive für die Akzeptanz von Selektionen unter Bedingungen zu steuern, die eine solche Akzeptanz zunächst unwahrscheinlich machen. Einheitliche Vorstellungen von gutem und gerechtem Handeln sind in weltanschaulich zerklüfteten, in Teilsysteme (Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Erziehung) ausdifferenzierten Gesellschaften nicht zu erwarten. Die Kriterien des Vorzuziehenden, für Machterwerb, für Rentabilität, für Rechtmäßigkeit, für Wahrheit und für Bildung werden zwar systemintern entschieden, erheben jedoch einen Geltungsanspruch für die Gesamtgesellschaft. Ethik ist heute nur eine Reflexionsebene, auf der die Vor-entscheidungen bezüglich der Fragen diskutiert werden, welche Macht als legitim anerkannt, welches Recht als rechtmäßig, welche Form des Wirtschaftens im Interessen der Menschen liegt, nach welchen Kriterien wissenschaftliche Forschungsergebnisse als Erkenntnisse zu werten sind und welches Bildungsideal dem zeitgenössischen Menschenund Weltbild entspricht. Solche Reflexionen bekommen es immer mit Paradoxien zu tun. Denn wird nach den Kriterien des Unterscheidens von gut und schlecht gefragt, so setzt allein ein solches Fragen eine Vorstellung dessen voraus, was gut sein könnte. Die Reflexion von Vor-entscheidungen infiltriert eigene wertethische Entscheidungen, die die Frage nach dem Guten auf deontologische (am Sollen orientierte) oder teleologische (zielorientierte), auf apriorische oder utilitaristische Weise angehen lassen. Wir werden aus diesem Grund auf die moralphilosophischen Axiome des 74
Der beste Einstieg in diese Theorie bietet Luhmann (2006). Luhmann (1984: 206) spricht genauer von „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien“, die als „semantischer Vorgriff auf die Wahl zwischen Annahme und Ablehnung einer Kommunikation“. Machtgetragende Kommunikation motiviert zur Annahme vor jeder Zwangsmaßnahme allein aufgrund der Funktion des Trägers.
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Pazifismus im Kapitel über die paradoxe Variante desselben zu Sprechen kommen. Enthält der Verweis auf Ethik einen moralischen Anspruch, geltendes Recht um einer subjektiven Moralvorstellung willen außer Kraft setzen zu dürfen, so wird das Rad der Geschichte zurückgedreht und auf einem Niveau argumentiert, das die Emanzipation der Funktionssysteme von der Moral ignoriert. Auf eben dieser Emanzipation aber beruht das moderne funktional differenzierte Gesellschaftssystem. Es lässt das Gewaltverbot nicht mehr als ein von Gott verhängtes Tötungsverbot, sondern nur noch als rechtspositive Setzung verbindlich machen. So stößt jedes Nachdenken über die legitimen Grundlagen des Legalen auf die alte christologische Funktion des Doppelhorizonts von vollkommenem (menschenrechtskonformem) und unvollkommenem (bloß formalrechtlichem) Frieden. Jedes Gewaltverbot verweist auf seine eigenen metaphysischen Grundlagen, da es nicht aus jederzeit änderbarem positivem Recht hervorgegangen sein kann. Wo es um diese friedensethische Funktion geht, ist der Pazifismus auch eine Reaktion auf die Emanzipation der Funktionssysteme moderner Gesellschaft von der Moral. Begonnen hat diese Entwicklung im 17. Jahrhundert mit der Befreiung des „neuen Fürsten“ (Machiavelli)76 von den „Zehn Geboten“. Die Unabhängigkeit von moralischen Einschränkungen der Handlungsfreiheit sollte diesen in die Lage versetzen, alle für die Sicherheit notwendigen Mittel ergreifen zu können. Indem sich dieses Denken seit der Renaissance durchsetzt, erübrigt das staatliche ius ad bellum die Lehre vom gerechten Krieg. Die Entmoralisierung der Politik beantwortet die Aufklärung indes mit einer generellen Aufwertung der Moral als nicht länger religiöser Begründung bedürftig, sondern in der Natur des Menschen selbst verankert. Sie betrachtet den Prozess der Säkularisierung des Christentums, die Ablösung der (religiösen) Moralität durch Zweckrationalität somit in keiner Weise als Preisgabe moralischer Maximen. Im Gegenteil geht sie davon aus, dass religiöser Glaube die Vernunft, und mithin die Quelle echter Moralität, nur verunkläre, und deshalb sehr viel besser durch die „neue Wissenschaft“, wie sie durch Francis Bacon vertreten wurde, vollendet werden könne. Bacon hatte sich darum bemüht, die Wissenschaften von philosophisch-theologischen Sinnfragen weg auf die seiner Ansicht nach wirklich wichtigen praktischen Fragen zu lenken, wie das Leben angenehmer und sicherer gestaltet werden könne. Erst heute, nach zweihundertfünfzig jähriger Erfahrung mit diesem Denken, stößt das kollektive Problembewusstsein wieder auf den subtilen Zusammenhang von Religion und Moral,77 nachdem sichtbar geworden ist, dass die „Vernunft“ gleich der „Gottebenbildlichkeit“ ein metaphysischer Topos ist. Nur 76
Niccolò Machiavelli hatte in seinem Hauptwerk ‚ Il Principe“ von 1532 (2001) die Befreiung des Fürsten von moralischen Verpflichtungen deshalb für unbedenklich gehalten, weil sich dieser als einzelner und einziger Souverän einer Bevölkerung gegenüber weiß, die an die geltende Moral weiterhin gebunden ist. Heute gilt diese Entlastung für alle Funktionsträger. 77 Das gilt selbst für zeitgenössische Protagonisten des säkularen Legitimitätsdenkens wie Habermas (2005).
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wenn Vernunft als transzendentale, als „vor jeder Erfahrung“ gedacht ist, findet das religiöse Tötungsverbot in säkularen Legitimitätsstrukturen seine Fortsetzung. Als empirisch Vernünftiges bleibt es den Notwendigkeiten unterworfen, die eine Gruppe dazu veranlasst, dieses Verbot auf die Gruppenmitglieder, die Gleichen, die Freunde zu beschränken, und für die Fremden und Feinde Ausnahmen zuzulassen. Ein weit- oder eng gefasstes Tötungsverbot als Bestandteil aller Weltreligionen und daraus erwachsener Kulturen muss infolgedessen immer unter diesem Doppelaspekt einer gemeinschaftsbezogenen moralischen und einer religiösen Maxime betrachtet werden. Das Verbot wirkt auf dem Hintergrund der Unterscheidung von unversehrtem, gewaltfreiem, vollkommenem auf der einen und versehrtem, gewaltverstricktem, unvollkommenem Frieden auf der anderen Seite. Im christlichen Kulturraum schlägt sich diese Unterscheidung in der Differenz von pax temporalis und pax aeterna nieder; im moslemischen Kulturraum als Differenz von dar al harp und dar al islam. Im „Haus des Islam“, der Gemeinschaft der Gläubigen, ist vollkommener Friede möglich, nicht aber im „Haus des Krieges“, das besser als „Haus der Zwistigkeiten oder Widersprüche“ bezeichnet ist. Nach muslimischer Glaubenslehre sind die beiden Seiten dieser Unterscheidung nicht auf bestimmte Menschen und Menschengruppen verteilt; vielmehr muss jeder Mensch in sich diese widerstreitenden Teile des Vollkommenen und Unvollkommenen integrieren. Die eigenen Aggressionen und Unduldsamkeiten fallen ebenso in die Kategorie des dar al harp, wie die bei anderen Menschen beobachtete Friedlosigkeit.78 Liebesgebot und Gewaltverzicht stellen sich unterschiedlich dar, je nachdem, ob sie die eine oder die andere Seite jener Differenz auszeichnen, die nur gemeinsam den Frieden ausmachen. Auf den irdischen, gewaltverstrickten Frieden bezogen, zeigen sich Liebesgebot und Tötungsverbot als moralische Norm, die eine religiösmoralisch verfasste „christliche“ oder „muslimische“ Gemeinschaft den Einzelnen auferlegt. Auf den himmlischen gewaltfreien Frieden bezogen, sind Gebot und Verbot Imperative, die jeder Einzelne sich selbst auferlegt. Im ersten Fall hat die Gemeinschaft, im zweiten das Gewissen die Kontrollfunktion inne. Da religiöse Menschen- und Weltbilder den unaufhebbaren Gegensatz von Vollkommenem und Unvollkommenem als Ausgangspunkt aller menschlichen Bemühungen ansehen, liegen selbstgerechtes Urteil über das schlechte Verhalten anderer und das selbstkritische Überprüfen der Übereinstimmung des eigenen Handelns mit Liebesgebot und Gewaltverzicht dicht beieinander. Das bedeutet, es wird für jeden Einzelnen und für jede Gemeinschaft zur moralischen Pflicht, die widerstrebenden Anteile des Selbstgerechten und Selbstkritischen auf eine Weise zu integrieren, dass ein friedliches Zusammenleben möglich wird. Wir müssen uns diese Rahmenbedingungen vergegenwärtigen, wenn im Folgenden auch Beiträge zum religiösen Pazifismus zur Sprache kommen sollen. Denn häu78
Zum Verstehen des Islam siehe Gemot Rotter (1993).
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fig haben wir es bei religiösem und säkularem Pazifismus nur mit unterschiedlichen Semantiken zu tun und nicht mit unterschiedlichen Gedanken. So finden wir mitunter in christlicher Terminologie verpflichteten Abhandlungen über den Zusammenhang von Terrorismus und Antiterrorkrieg, nur die Aufforderung, bei der Verfolgung terroristischer Gewaltdelikte formalrechtliche Regeln einzuhalten. Es wird damit etwas eingeklagt, was den Rekurs auf pazifistisches Gedankengut nicht zu bedürfen scheint und erst recht nicht den auf religiöse Moralvorstellungen, weil es zunächst nur um die Forderung geht, dass die westliche Rechts- und Menschenrechtspraxis ihre eigenen mit Universalitätsanspruch formulierten Prinzipien nicht mit Füßen tritt. Denn mit den Menschenrechten verpflichten sich Gemeinschaften darauf, allen Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, ihrer Rasse, ihrer Religion und ihres Geschlechts ein Recht auf Leben und Wohlleben zuzugestehen. Dieses Denken zwingt dazu, Rechtsbrecher nach rechtsstaatlichen Verfahren abzuurteilen und verwehrt die für den Nationalsozialismus kennzeichnende Unterteilung der Menschheit in Exemplare, die innerhalb (Arier) und solche, die außerhalb (Nichtarier) der Rechtsordnung stehen. Mit der Kategorie des „Terroristen“ haben moderne Gesellschaften wieder den Relevanzbereich des Rechts eingeschränkt. Wie Nichtarier, so sind heute Menschen, die mit dem Stigma „Terrorist“ oder „Schläfer“ (Noch-nicht-Terrorist) versehen werden, vogelfrei; sie haben nur begrenzten Anspruch auf Rechtsbeistand und gerichtliches Verfahren und drohen zu Objekten einer unbeschränkten (dem Prinzip der ultima-ratio nicht unterworfene) Tötungslizenz zu werden. Christian Wolff79 bemüht zwei Argumentationslinien zur Beschränkung des Antiterrorkampfs auf strafrechtliche Methoden. Zunächst wird unter Verweis auf die Verbindlichkeit der Zehn Gebote an Tötungsverbot und Feindesliebe erinnert und es wird konform christlicher Moral die Unmöglichkeit betont, das Böse in konkreten Menschen bekämpfen zu wollen. Angesichts der Tatsache, dass das Böse auch der menschlichen Schwäche erwächst, diesem zu widerstehen, Niederlagen, Frustrationen, Misserfolg auszuhalten, richtet sich der moralische Imperativ an beide Seiten, an die Täter, die ihre Vernichtungsfantasien beherrschen müssen und an die anderen, die potenziellen Opfer. „Mit der Sünde, mit der Existenz des Bösen, auch mit den Bösen, die aber nie nur böse sind, zu leben und zwar so, dass Leben für alle möglich ist, ohne dass der Unterschied zwischen Tätern und Opfern verwischt wird“, erscheint so als der Ursprung des „pacem facere“: „Dem Bösen widerstehen, ohne sich selbst unter das Gesetz des Bösen, der Sünde zu stellen.“ (Wolff 2003: 215).
Dieser paradoxe Problembezug, das Böse zu akzeptieren, ohne selbst böse zu werden, findet seine Entsprechung in der Bestimmung dessen, was gut genannt werden kann. Denn der paradoxe Charakter entzieht dem Menschen die Möglichkeit, ein letztes 79
„Dem Bösen widerstehen – die neuen Aufgaben des Pazifismus“, in: Meggle (2003: 211ff.).
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Urteil darüber zu fällen, worin sich Extreme wie das Gute und Böse manifestieren. Die Bemühung um Gewaltreduzierung und nicht der Anspruch, eine gewaltlose Welt durch Kampf gegen das Böse erzwingen zu wollen, macht nach Wolff das pazifistische Engagement in direkter Nachfolge von Jesus von Nazareth aus, dem es um den Weg gehe, „wie in Konfliktsituationen Gewaltpotentiale abgebaut, vermindert und vielleicht sogar überwunden werden können.“ (Wolff 2003: 216). Auf diese Weise wird das Selbstverständnis der Kirche als Gegengemeinschaft mit dem „Pazifismus“ identifiziert. Dabei verbleibt die Differenz von gewaltfreiem und gewaltverstricktem Frieden innerhalb der Immanenz: Die klare Option für Gewaltlosigkeit mache Jesus zur „Wurzel dessen, was wir heute Gewaltenteilung nennen und was zur Trennung von Religion/Kirche und Bürgergesellschaft/Staat geführt hat."(Wolff 2003: 217). Die Schwierigkeit der Identifizierung des religiösen Gewaltverbots mit dem Programm der gewaltlosen Konfliktlösung, wie es die politische Bewegung des Pazifismus vertritt, besteht darin, dass der ursprüngliche Sinn der Gewaltenteilung zwischen spiritueller, nichtpolitischer und damit gewaltloser Macht der Kirche auf der einen Seite und politischer, über Gewaltmittel verfügender weltlicher, Macht auf der anderen Seite aufgegeben ist. Während die kirchliche Macht, der Idee nach, ausschließlich auf moralischer Autorität beruht, womit der Einfluss nur appellativer Art ist, beruht die politisch instrumentalisierte Religion auf dem Anspruch, Politik machen zu können, ohne zu Gegengewalt greifen zu müssen. Wird die Rolle des Pazifismus jedoch nur darin gesehen, die Konfliktlösung ohne Waffengewalt als moralisch Vorzuziehendes in Erinnerung zu rufen, dann wird dieser Appell bei Vertretern des politischen Realismus als moralische Anklage interpretiert. Denn es ist darin der Vorwurf enthalten, Gewalt werde vom politischen Gegner als ratio – als „Glaube an militärische Gewalt“ (A. Fuchs 2001: 14) und nicht nur als ultima ratio gewählt, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind.
3.4 Zur Leistungsfähigkeit von Kriegsphilosophien Für den Pazifismus stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die bellumiustum-Lehre den Gedanken des Friedens oder den Gedanken des Krieges stark macht. Abgrenzungen und Überschneidungen der einzelnen Kriegsphilosophien lassen sich auf dem Wege dieser Frage erkunden. Zu deren Beantwortung müssen wir noch tiefer in die Kontroverse eindringen. Albert Fuchs (2001) skizziert eine pazifistische Position in Abgrenzung von „bellizistischen“, „realistischen“ und „militaristischen“ nicht im Rahmen der klassischen Gegenüberstellung einer Kriege verurteilenden und einer Kriege befürwortenden Richtung. Vielmehr gilt die abgrenzende Kritik einer Position, die wie die pazifistische, „Instrumente der Gewaltverhinderung, -begrenzung und verminderung“ (Fuchs 2001: 12) entwickelt, diese jedoch abweichend vom Pazifismus auch in Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt erblickt. Damit tritt die Leistungskraft der Lehre in den Vordergrund. Deren Schwäche zeige
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sich an der „Diskrepanz zwischen dem heren moralischen Anspruch und den fatalen unmoralischen Auswirkungen der bellum-iustum-Lehre – z.T. in Folge ihrer Verwechselung mit der Leitidee des „heiligen Kriegs“ seitens ihrer Verfechter selbst!“ (Fuchs 2001: 13). Diese Einschätzung werde gewissermaßen durch die Bischofskonferenz gestützt, die konzediere, dass die Lehre nur zu leicht als Instrument benutzt werden könne, um Ideologien und Interessen zu rechtfertigen, die weit von den kirchlichen Auffassungen entfernt waren (Deutsche Bischofskonferenz 1983: 26).80 Wie wir gesehen haben, stehen jedoch Lehre und Handlungen rechtfertigende Bezugnahme auf die Lehre in keinem ursächlichen Verhältnis. Als ein der Auslegung bedürftiger Kriterienkatalog teilt die bellum-iustum-Lehre die Probleme aller Sinnkonstrukte. Wenn „solide historische Belege dafür, dass der Rekurs auf die bellumiustum-Lehre auch nur einen Krieg verhindert, begrenzt oder „vorzeitig“ beendet hätte“ (Fuchs 2001: 13) nicht zu beschaffen sind, so hängt dies zunächst damit zusammen, dass historische Belege nicht den methodologischen Rang einer empirisch überprüfbaren Ursache einnehmen können. Sie sind bloße Zurechnungen und somit von den Vorannahmen des Betrachters abhängig, genauer, von dessen Menschenund Geschichtsbild. Das wird im Falle von sogenannten „Lehren aus der Vergangenheit“, die Gemeinschaften aus kollektiven Traumata ziehen, besonders deutlich. Die „Falken“ rechnen den Zusammenbruch der Sowjetunion den westlichen Rüstungsanstrengungen zu, die „Tauben“ der Entspannungsära, die mit der Feindbildstruktur die diktatorischen Herrschaftsmethoden zu Fall gebracht habe. Beide Parteien sehen im historischen Ereignis von 1989 einen Beweis für die Effizienz ihrer Lehre. Aber nicht nur die Kontingenz der Zurechnung von Wirkungen auf Ursachen hindert daran, eindeutige Belege für eine historische Hypothese zu beschaffen. Diese lassen sich auch deshalb kaum beibringen, weil sie nicht nur ein stattgefundenes Ereignis als Wirkung einer Lehre verifizieren sollen, sondern auch das Nichteintreten eines kriegerischen Ereignisses. Um beweisen zu können, dass die bellum-iustumLehre tatsächlich einen Krieg verhindert hat, müsste der wissenschaftliche Beobachter über ein Wissen verfügen, das sich nicht nur auf die tatsächlich geführten Kriege, sondern auch auf die möglichen Kriege erstreckt, deren Ausbruch durch die Lehre vereitelt wurde. Diese Logik, in der dem Potenziellen mehr Realität zugesprochen wird als dem Aktuellen, beginnt sich gegenwärtig im Bereich des Präventivkriegsdenkens und der Antiterrorkriegführung tatsächlich mehr und mehr durchzusetzen.81 Olav Müller (2006: 252ff.) hat die erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Struktur dieser Logik im Terminus des „kontrafaktischen Konditionals“ herausgearbeitet. Zur Veranschaulichung der Nichtfalsifizierbarkeit sowohl der realistischen als 80 Stobbe (2001: 53) weist in seiner Entgegnung darauf hin, dass die Kirche im besagten Hirtenbrief „Gerechtigkeit schafft Frieden“ von 1983 die BJL in ihrer klassischen Form verabschiedet habe, deren Funktion innerhalb einer umfassenden Friedensethik jedoch zu bewahren suche. 81 Siehe zur Entdifferenzierung von Aktuellem und Potenziellem in Bezug auf den Terrorismus- und den biopolitischen Diskurs Brücher (2004, 2004a).
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auch der pazifistischen Wenn-Dann-Konstruktionen führt er zunächst die von Ludger Volmer für die Entscheidung zum Kosovo-Krieg vorgebrachte Argumentation an: 1.
„Natürlich ist Krieg ein Übel und fordert viele schlimme Opfer bei Zivilisten und Soldaten. Aber unser geplanter Kriegseinsatz wird weit schlimmeres Unheil verhüten. Wenn wir nicht militärisch eingreifen, droht eine humanitäre Katastrophe; deren Opfer haben Anspruch auf unsere Hilfe. Wir müssen schnell eingreifen.“
Nach Müller klingt dies pragmatisch, realistisch und verantwortungsvoll; wer dem widerspreche, gelte als weltfremder Illusionist und verantwortungsloser Prinzipienreiter. Genau betrachtet, überfordere sich der Kriegsbefürworter jedoch epistemologisch, da weder die zuverlässige Aussage über die Zukunft möglich sei noch in der Rückschau objektives Wissen das Plädoyer für den Krieg stützen könne. Denn selbst, wenn sich nach dem Ereignis herausstellen sollte, dass das Kriegsziel erreicht wurde und die humanitäre Katastrophe ein Ende genommen habe, so bleibe Unklarheit über die kausalen Kräfte, die dies bewirkt haben. Die zeitliche Aussage über ein Ende müsste mit der Tätigkeit des Beendens kausal verknüpft werden können, um als realitätsnahe Auskunft gelten zu dürfen. Das Kriegskriterium verlangt mithin die Feststellung einer Tatsache, die den Nachweis weiterer Tatsache notwendig macht: 2. 3. 4.
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„Der befürwortete Krieg muss Ursache für das Ende der humanitären Katastrophe gewesen sein.“ „Der befürwortete Krieg hat die Verkürzung (und Abmilderung) der humanitären Katastrophe bewirkt.“ „Wenn wir den Krieg unterlassen hätten, dann hätte die humanitäre Katastrophe länger gedauert (und wäre schlimmer gewesen), als es infolge unserer militärischen Intervention der Fall war.“ „Keine friedliche Handlung hätte die humanitäre Katastrophe so sehr verkürzen (und abmildern) können, wie es der tatsächlich geführte Kriegseinsatz vermocht hat.“
Gerade in der Zuspitzung wird das ganze Ausmaß des Illusionismus sichtbar, denn das Versteckspiel alternativer, kontrafaktischer Abläufe ist nach Müller radikal. Was anstelle der tatsächlichen Entwicklung geschähe, verberge sich für immer. (O. Müller 2006: 227). Diese Verquickung von Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn lasse den Sätzen der Kriegsgegner den Vorzug geben. Denn sollten die Wahrscheinlichkeitsberechnungen der Kriegsbefürworter keinen größeren Realitätsgehalt beanspruchen können als jene entgegensetzten den Krieg verwerfenden Aussagen, so gebüre der Primat aus völkerrechtlichen und moralischen Gründen der nichtgewaltsamen Lösung. Was für normale kontrafaktische Sätze gilt, das gilt nicht anders für die Instrumentalisierung eines gesamten Gedanken- und Glaubenssystems. Hier wird ein explizit der Lehre verpflichtetes Handeln als Bewirken einer beabsichtigten Wirkung verstanden. Die Handlungsorientierung liefert mithin ein Zweck/Mittel-Kalkül, das den eigentlichen Sinn der Lehre nicht als solchen gelten lässt und verbindlich macht, sondern noch einmal rückbindet an die erwartete Wirkung. Wohlgemerkt kann es da-
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bei nur um die erwartete und nicht die tatsächliche Wirkung gehen. Eine instrumentalisierte Lehre antizipiert ihre eigenen Wirkungen. Allein dies ist nicht möglich, da Handeln in der Gegenwart stattfindet und dessen Wirkungen der Zukunft überlassen bleiben. Die Instrumentalisierung eines Gedanken- und Glaubenssystems unterstellt deren Sinn einer Nützlichkeit, die außerhalb dieser Systeme liegt und vom jeweiligen Zweck bestimmt ist, den ein individueller oder kollektiver Akteur mit seinem Handeln verfolgt. Gemessen an den Werten dieses Zwecks gerät alles, was zu dessen Verwirklichung bemüht wird, in die Rolle eines Mittels. Diesen Mitteln kann kein eigener Wert beigemessen werden, denn andernfalls würde die Asymmetrie von Mitteln und Zwecken aufgehoben und einem Mittel die Attribute des Zwecks verliehen. Der Pazifismus sucht mit genau dieser Aufhebung der Asymmetrie im argumentativen Schlagabtausch der sicherheitspolitischen Pro- und Kontrapositionen gegenüber bestimmten Kriegen Punkte zu sammeln. Der systemexterne Zweck, der sich nicht hermeneutisch erschießt, sondern von außen an die Lehre herangetragen wird, führt nicht nur notwendig zu einer Verzerrung des ureigensten Sinns dieser Lehre, sondern – weitaus gravierender noch – degradiert alles, was diese Zwecke zu verwirklichen verspricht, zur wertfreien Sphäre purer Mittel. Sollten wir es beim Pazifismus mit einer pragmatistisch interpretierten politischen Ethik zu tun haben, dann finden wir hier Anhaltspunkte für das ganze Bündel an Schwierigkeiten, mit denen der Pazifismus zu kämpfen hat, um sich gegen die Anschuldigungen seiner Gegner zur Wehr zu setzen. Denn was dem Pazifismus am meisten zur Last gelegt wird, ist die angebliche Kontraproduktivität seiner Strategien. Es wird gerade bestritten, dass die pauschale Ablehnung der Institution „Krieg“ Gewalt reduziert und selbst Kriege verhindert. „Realisten“ führen mithin dieselben Argumente gegen den Pazifismus ins Feld, mit denen letzterer die bellum-iustum-Lehre attackiert. Es wäre zu prüfen, inwieweit der Versuch, die kritischen Einwände zu entkräften, auch die entscheidende Kritik am Pazifismus aus den Angeln heben kann. Denn die sog. „fatalen historischen Wirkungen der Lehre“ lassen sich nicht nur im Falle der bellum-iustum Lehre, sondern auch im Falle des Pazifismus nur als kontingente Zurechnung auf Ursachen ermitteln. Auch der Vorwurf, der Pazifismus habe als unterschwellige Zeitströmung eine frühzeitige Reaktion auf – angeblich absehbare – Konsequenzen der Politik Hitlers verhindert und sei damit mitschuldig an der Jahrhundertkatastrophe, ist unhaltbar. Denn was sich aus der historischen Rückschau so klar und eindeutig in ein kohärentes Strukturganzes fügt, ist für die zeitgenössischen politischen Akteure ein offener Horizont. Alles, was oben zum Verhältnis von Gedankensystemen und historischen Ereignissen gesagt wurde, betrifft auch eine pazifistische Wirkursächlichkeit, die quer zur kausalen Ursächlichkeit liegt. Mit dem Begriff der Wirkursache begeben wir uns auf teleologisches Terrain, das Hans Jonas und Emmanuel Lévinas für die Moderne zurückerobert haben. Hier wird der Begriff der Verantwortung nicht mehr an eine vermeintliche Verursachung geknüpft und in die Nähe eines juristischen Beg-
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riffs formalrechtlicher Schuldzuweisung und Haftung für Schäden gerückt. Vielmehr umgreift der Verantwortungsbegriff die Sorge um künftige Ereignisse, die durch gewisse Einstellungen wenn auch nicht verursacht, so doch gebahnt werden. „Nicht nur die Zuschreibung negativer Folgen einer Handlung, sondern auch der mit vermutlich positiven Folgen versehene Umgang mit einer Sache ist Verantwortung zu nennen.“ (Hirsch 2005: 29). Der „Umgang mit einer Sache“ ist durch die Intentionalität einer Lehre vorgezeichnet, die mehr ist als der gemeinte Sinn. Bei letzterem steht die vom Text empfohlene Auslegung im Vordergrund, bei ersterem die vom Text empfohlene Handlungsanweisung. Dieses alternative Verständnis von Verantwortung als „Sorge um …“ setzt etwas nicht voraus, das in komplexen, interaktionell und kommunikationstechnisch vernetzten Gesellschaften weniger denn je einzulösen ist, nämlich die Kalkulation der Neben- und Folgewirkungen des eigenen Handelns. Dieses Handeln findet in modernen funktional differenzierten Gesellschaften im organisatorischen Rahmen politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher, wissenschaftlich-technischer, erzieherischer und massenmedialer Bezüge statt. Es muss sich als Beitrag zum Funktionieren dieser Systeme profilieren, um Wirkungen entfalten zu können. Die alten Gegensätze von System und Lebenswelt, von etablierter Politik und „alternativen Bewegungen“, von Parlament und außerparlamentarischer Opposition, von Affirmation und Kritik, haben sich gegenüber der Funktionslogik dieses Gesellschaftstypus als zu schwach erwiesen, um an der aufklärerischen Vorstellung von „Machbarkeit“ und „Steuerbarkeit“ der Verhältnisse festhalten zu können. Es hat sich gezeigt, dass die „alternativen Bewegungen“ die etablierten Funktionssysteme weniger zu destabilisieren vermochten als es die protestierenden Herausforderer der Systeme gewünscht hatten. Gerade im Ost-West-Systemvergleich sollte es sich zeigen, dass die Studentenbewegung das „westliche“ Demokratieverständnis, die Friedensbewegung das „westliche“ politische System, die Ökologiebewegung das „westliche“ Wirtschaftssystem, die Antipsychiatriebewegung das „westliche“ Normalitätsverständnis stützten. Das Gesellschaftssystem wurde nicht verändert, sondern stabilisiert, da der Liberalismus, indem er den Protest zulassen konnte, sich gegenüber dem Sozialismus als flexibel und änderungswillig zeigte. Die alternativen Bewegungen liefern den Funktionssystemen jene Legitimität, die sie aus sich heraus nicht beschaffen können. Denn ein positives Recht produziert nur Legalität und nicht Legitimität. Ein parlamentarisches System spiegelt nur die Meinung der Mehrheit und nicht der „Bevölkerung“, eine Marktwirtschaft produziert nicht Wertvolles (Werte), sondern Absatzträchtiges (Waren), Massenmedien wählen ihre Informationen nicht nach den Maximen des Wissenswerten und Wahren, sondern nach denen des Spektakulären und Anstößigen. Die Grenzen, die alternativen Bewegungen vom gesellschaftsstrukturellen Rahmen her gesetzt sind, fallen mit den Gründen zusammen, die alternativen Bewegungen, und somit auch dem Pazifismus als Lehre und Friedensbewegung, ihre unersetzbare Funktion verschaffen. Denn wie wir gesehen haben, beruht die Ausdifferenzie-
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rung der Funktionssysteme und mithin die moderne Gesellschaft, auf der Emanzipation von moralischen Einschränkungen der Handlungs- und Gestaltungsfreiheit. Dasselbe gilt für das Recht, welches an der Stelle ehemals zuständiger Moral den Schwächeren und Bedürftigen vor den Durchsetzungsstarken Schutz bieten muss. Nicht anders als die Präferenzcodes der übrigen Subsysteme, Macht, Rentabilität, Bildung und Wahrheit, ist auch das Recht nach systemintern generierten Maßstäben definiert und nicht nach gesamtgesellschaftlichen Vorstellungen von Rechtmäßigkeit. Im sicherheitspolitischen Bereich schlägt sich diese moralabstinente Funktionslogik folgendermaßen nieder: Einerseits liefert der rechtliche und der völkerrechtliche Rahmen, etwa das bundesdeutsche Verbot, Angriffskriege zu führen und die Gewaltverzichtsnorm der Charta der Vereinten Nationen, das Maximum dessen, was schwächeren und bedürftigen Gemeinwesen an Sicherheit vor expansionistischen hochgerüsteten Staaten möglich ist. Da Recht und Völkerrecht andererseits aber unter eben diesen modernen Bedingungen sich zunehmend globalisierender Funktionssysteme jederzeit änderbar sind, bleibt die Schutzfunktion wieder eingeschränkt. Die hier gemeinte Schutzfunktion bezieht sich auf die Wahl der Mittel, deren sich politische Systeme bedienen, um ihre Vorstellungen von Demokratie, von Menschenrechten, von good governance weltweit Geltung zu verschaffen, nachdem das Korrektiv der Bipolarität fortgefallen ist. Allein die darwinistische Gleichsetzung des Starken mit dem Guten kann den in allen transnationalen Organisationen dominierenden G8Ländern die Rolle zuteilen, mit Frieden schaffenden und sichernden Militärinterventionen ordnungsstiftend wirken zu können. Der Pazifismus bezieht sich in den bisher herausgearbeiteten kriegsphilosophischen Zügen auf jene potenten Staaten, die aufgefordert werden, bei der Mittelwahl nicht nur Gesichtspunkte maximaler Effizienz, sondern ebenso solche der moralischen Vertretbarkeit zu berücksichtigen. Sie treffen sich hierin mit der bellum-iustum-Lehre, die gleich dem Pazifismus der rationalistischen Logik nicht das Feld überlassen möchte: Ein Zweck, wie erhaben er auch immer sein mag, soll nicht die Mittel heiligen dürften. Mit einer kriegsphilosophischen Variante des Pazifismus haben wir es aber nicht nur zu tun, wenn ein besonders skrupulöses Verhältnis zur eigenen Mittelwahl vorliegt, wobei die strikte Ablehnung des kriegerischen Mittels gewissermaßen den äußersten Pol einer Skala von Konzessionen an militärische Methoden bildet. Als Charakteristikum dieser Variante kommt eine Perspektive hinzu, die immer diejenige der potenten gut gerüsteten Staaten ist. Diese gilt es mit der Frage zu konfrontieren, wie und mit welchen Mitteln materielle und ideelle Interessen durchgesetzt, eingeschlossen die stets interpretationsbedürftige „Nothilfe“ gewährt werden sollen und legitimerweise dürfen. Wo es um Nähe und Abgrenzung zwischen pazifistischen Positionen und der Lehre vom gerechten Krieg geht, stehen immer jene mächtigen Akteure im Vordergrund und niemals die Perspektive jener unterlegenen Staaten, die vor die Frage gestellt sind, mit welchen Mitteln legitime Selbstverteidigung möglich ist. Sobald die Perspektive der Verteidigung vorrangig wird und pazifistische Gewaltkritik sich hier noch Geltung verschafft, bekommen wir es mit einem gänzlich andersartigen
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Phänomen zu tun, das in dem Maße von allen anderen Varianten abweicht, dass wir nicht nur einen eigenen Namen „paradoxer Pazifismus“, sondern auch ein eigenes Kapitel gewählt haben, in dem dieser Typus abgehandelt werden soll. Das Votum gegen den Krieg bleibt ein gemeinsames Kennzeichen jedoch auch in jenen Fällen, in denen Pazifisten meinen militärische Mittel als ultima ratio in Kauf nehmen zu müssen. So lange man den Pazifismus als Kriegsphilosophie betrachtet, steht er für einen ganz bestimmten Sinn, nämlich für ein mäßiges bis fehlendes Vertrauen in die Verhältnismäßigkeit kriegerisch-gewaltsamer Konfliktlösungsformen. Es ist von diesem idealtypischen Selbstverständnis her gesehen geradezu widersinnig, behaupten zu wollen, gewisse Konzessionen an gewaltsame Methoden gingen auf das Konto „des Pazifismus“. Versteht man den Pazifismus als einen handlungsbezogenen Idealtypus und mithin als Chiffre für eine den Krieg im Prinzip ablehnende Form der Argumentation, dann sind alle Zweideutigkeiten nicht der Lehre anzulasten, sondern ausschließlich Personen und Situationen. Wird die Zweideutigkeit auf Personen zugerechnet, dann wird von strengen „rechtgläubigen“ Pazifisten ein Ausschlussverfahren angestrengt, das gewisse Haltungen nicht mehr als pazifistisch gelten lässt. Wird die Zweideutigkeit auf Situationen zugerechnet – das Paradebeispiel ist Hitler-Deutschland –, dann bleibt auch in diesem Fall „der Pazifismus“ unversehrt, sind es doch allein die Verhältnisse, die ein von den pazifistischen Grundsätzen abweichendes Handeln notwendig machen. Letztere Grundhaltung finden wir im gegenwärtigen „politischen Pazifismus“. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an hervorzuheben, dass alle Ambivalenzen bezüglich strikter Gewaltlosigkeit aus der Wechselwirkung „des Pazifismus“ (als einer konsistenten und konsequent der Ablehnung von Kriegen verschriebenen Lehre) mit Personen und Situationen gefolgert werden, in deren Kontext die Lehre wirksam wird. Überall dort, wo der Pazifismus als kriegsphilosophisches Konstrukt zum Thema wird, geht es deshalb um die Frage, ob die Verunklärung und Verfälschung der reinen Lehre auf die Verführbarkeit und Halbherzigkeit, auch die Feigheit von Personen zurückgeht, oder auf die Situation, die immer wieder Konzessionen an gewaltsame Formen der Problemlösung erzwingt. Der positive, der Designationswert, ist immer der Pazifismus; alle anderen Kriegsphilosophien, die Lehre vom gerechten Krieg oder der politische Realismus, symbolisieren den negativen, den Reflexionswert. Sich von diesem abzugrenzen verleiht dem Pazifismus seine unverwechselbare Gestalt. So lange man sich dieses methodischen Verfahrens nur gewissermaßen blind bedient und darauf verzichtet, die Methode zu reflektieren, wird man in den eingefahrenen Gleisen fort und fort argumentieren, ohne je neuen Boden zu gewinnen. Man wird Argumente für und Argumente wider die These finden, dass „bestimmte“ Personen mit ihren Meinungen nicht mehr als Pazifisten bezeichnet werden sollten und dass „bestimmte“ Situationen ein Abrücken von der strikten Gewaltlosigkeit erzwingen, ohne dass ein daraus resultierendes Verhalten dem Pazifismus Schaden zufügen müsste.
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Argumentiert man hingegen nicht nur auf dem Boden der Unterscheidung von Designations- und Reflexionswert, sondern gewinnt Distanz zum eigenen methodischen Zugang, dann kommt ein anderes in den Blick. Die Reflexion auf die Methode macht es nun nämlich notwendig, nicht nur das in die Überlegungen einzubeziehen, was als Charakteristikum des Pazifismus und was als Charakteristikum des NichtPazifismus beschrieben wird. Bewegt man sich nur auf dieser Ebene der deskriptiven und präskriptiven Bestimmungen, dann bleibt die Frage, in welchem Punkt Pazifismus und Nicht-Pazifismus voneinander abgegrenzt sein sollten und müssen und wo sie sich überschneiden dürfen, eine Sache der im Sinne des Pazifismus „richtig“ oder „falsch“ urteilenden Personen und der von Situationen ausgehenden Sachzwänge. „Der Pazifismus“ bleibt dabei unschuldig; ein Idealtypus, dem schwache Personen und mächtige Situationen nichts anhaben können. Mit dem Gesagten nähern wir uns einer zentralen Aussage: Abstrahiert eine Analyse des Pazifismus von der Logik des unterscheidenden Bezeichnens, mit dem das konstruiert wird, was als Pazifismus von sich Reden macht, dann rückt der Pazifismus gewollt oder ungewollt in die Funktionsstelle des moralisch Vorzuziehenden, des Guten. Der Pazifismus ist ganz einfach ein modischer Term für das Gute oder Vorzuziehende. In dieser Rolle ist er auswechselbar, weil von historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig, die bestimmte Semantiken als Abbild und Ausdrucksmedium einer ganz bestimmten kollektiven Stimmung und Geistesverfassung hervorbringen. Der Pazifismus ist nur so lange auf dem Vormarsch, als er sich in seiner Rolle einer Zweitcodierung des moralisch Guten hält. Er verschwindet über Nacht, wenn ein anderer Code an dessen Stelle rückt. Die Gegenwart experimentiert noch mit verschiedenen Codes. Aber allein dieses Experimentieren hat zur Folge, dass dem Pazifismus bereits ein gewisser modriger Geruch anhängt, der sein Verschwinden zumindest in seiner angestammten Nachkriegsform ankündigt. Bezieht man nun hingegen in die Überlegungen nicht nur das ein, was jeweils den Pazifismus in Abgrenzung zum Nicht-Pazifismus ausmacht, sondern gibt der Dynamik des unterscheidenden Bezeichnens ein eigenes Gewicht, dann kommt man zu dem Urteil, dass die Seite, von der sich der Pazifismus abzugrenzen sucht (bellum-iustum-Lehre, politischer und tragischer Realismus) ein konstitutives Moment des Pazifismus ist. In der Art und Weise, in der sich die beiden Seiten ausschließen, ergänzen sie einander. Dadurch nämlich, dass sich der Pazifismus als Negation all der Positionen profiliert, die als Nicht-Pazifismus erscheinen, sind seine konstitutiven Merkmale dieselben. Das sollte anhand verschiedener Beispiele im vorangegangenen Kapitel gezeigt werden. Der Pazifismus liefert die „verhältnismäßigen“ Mittel, schont die Unschuldigen, garantiert für die „rechte Absicht“ und reklamiert für sich die „gerechten Gründe“. Als Strategie der Non-Violence erfordert er all die Tugenden, die der Kriegsgeist für sich in Anspruch nimmt, die Aufopferungswilligkeit, die Tapferkeit, die Solidarität und Kameradschaft: „Denn der Glaube ist Kampf. Und unsere Non-Violence ist der allerhärteste Kampf. Der Weg des Friedens ist nicht der Weg der Schwäche. Wir sind viel weniger Feinde der Ge-
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3 Kriegsphilosophischer Pazifismus walt als Feinde der Schwäche. Was der Kraft entbehrt, hat keinen Wert: weder das Schlechte noch das Gute. Und lieber noch alles Böse als das Gute ohne Saft und Kraft. Der wimmernde Pazifismus ist dem Frieden tödlich: er ist eine Feigheit und Mangel an Glauben. Diejenigen, die nicht glauben können, oder die sich fürchten, mögen sich zurückziehen! Der Weg des Friedens ist die Aufopferung seiner selbst.“82
Die Tatsache, dass genau die Elemente, von denen abzugrenzen ein Selbstverständnis konstituiert, zugleich die bestimmenden Merkmale sind, kann aus der Dynamik heraus erklärt werden, in der sich das unterscheidende Bezeichnen ereignet. Denn die Unterscheidung von Pazifismus und Bellizismus ist immer zugleich ein Ganzes, nämlich eine Unterscheidung, und sie ist ein Geteiltes, nämlich zwei Seiten, die in Beziehung zueinander treten und die nur aus ihrer Beziehung zueinander gedeutet werden können. Daraus geht hervor, dass pazifistisches Beobachten wie jedes Beobachten paradox ist. Denn beide Aussagen schließen einander aus. Entweder der Pazifismus ist ein Ganzes, ein mit sich Identisches oder er ist nur eine von zwei Seiten, deren andere als Bellizismus erscheint. Wenn die einzige Ganzheitlichkeit, die einzige Identität sich aber auf die Unterscheidung als Ganze bezieht, dann ist es nicht möglich, „den Pazifismus“ als ein solches selbstidentisches Phänomen, als „Gegenstand“ im empirischanalytischen Sinn zu fassen. Diese formlogischen Überlegungen sind alles andere als marginal. Denn nur vor ihrem Hintergrund wird verständlich, weshalb die besonderen Heimsuchungen des Pazifismus durch Gewalt und Krieg weder als Halbherzigkeiten der Personen noch als Sachzwänge der Situationen „erklärt“ werden können. Die Zurechnung der Inkonsequenz, mit der sich Pazifisten pazifistisch verhalten, auf Personen und Situationen, ist gerade in ihrer zeit- und modeabhängigen Interpretation ein Hinweis auf die Dynamik unterscheidenden Bezeichnens, die dem Pazifismus immer wieder bellizistische Züge verleiht. Wo diese Konsequenz in keiner Weise mehr hingenommen wird, finden wir eine persönliche Einstellung zur Gewaltlosigkeit, die der Instrumentalisierung von moralischen Haltungen für politische Zwecke eine Absage erteilt und damit ein Praxismodell bevorzugt, das orientiert an der christlichen Bergpredigt dem politischen Machtmechanismen gegensteuert.83
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Aus „Mahatma Gandhi“, von Roman Rolland, Der Sturm der Gewalt fegt über die Welt, in: Kobler (1928: 18). 83 Ein zu Unrecht vergessenes Beispiel liefert Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966), der ähnlich wie Gandhi die im okzidentalen Rationalismus angelegte Verdrängung des ethisch-religiösen Friedensideals durch das Ideal der Machtsteigerung als eine Quelle des Militarismus betrachtet. Siehe Donat (1987: 167ff.), Henrique Otten (2007).
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4.1 Rechtspazifismus Neben dem behandelten negatorischen Pazifismus finden wir einen pazifistischen Typus, der gewissermaßen die besondere Dynamik unterscheidenden Bezeichnens von Pazifismus und Bellizismus so in das eigene Begriffsverständnis aufgenommen hat, dass es nicht mehr die Negation ist, die das Verhältnis der beiden Seiten zueinander regelt. An die Stelle der Negation tritt die Produktion, die Gestaltung eines „Friedenszustandes“ im Sinne eines rechtlich geordneten Gemeinwesens, das im Endergebnis Krieg und kriegerische Gesinnung überwindet. Diese in der einen oder anderen Form immer auf Immanuel Kant84 zurückgehende Art der Betrachtung wird in der Friedens- und Konfliktforschung als „konfigurativ“ bezeichnet. Das Denken des Friedens ist identisch mit dem Machen des Friedens.85 Während sich im kriegsphilosophischen Pazifismus die Gewalt auf kompliziertem Wege durch die Dynamik des unterscheidenden Bezeichnens einschleicht, ist sie im situativen Pazifismus des konfigurativen Friedensverständnisses in einer indirekten Weise präsent und akzeptiert. Da es nämlich nunmehr um die Herstellung eines Friedenszustandes geht, der gewisse Formen des Konfliktaustrags aufgrund seiner institutionellen Verfasstheit (Parlamentarismus, Rechtsstaatlichkeit, Partizipation) ausschließt, scheint das Problem im Ansatz beseitigt, an dessen Bewältigung dem Pazifismus gelegen ist. Es handelt sich gewissermaßen um ein anderes Paradigma. Dieses wechselt in Bezug auf die Frage nach den handlungsleitenden Bedingungen die Blickrichtung. Der kriegsphilosophische Pazifismus folgt der ethischen Fragestellung nach den Bedingungen, unter denen Gewalt legitim und/oder notwendig ist. Seine Antwort fällt im Prinzip negativ aus, weil er die Bedingungen so einschätzt, dass weder Effizienz noch Legitimität einzulösen sind. Von diesem „im Prinzip“ gibt es dann wieder Einschränkungen, die sich auf die pazifistischen Strategien und Taktiken auswirken. Dieses Fragen nach den Bedingungen, unter denen Gewalt legitim ist, geht aus von der Einsicht, dass es Dilemmasituationen gibt, in denen die Gegensätze so groß sind, dass eine friedliche Einigung nicht erfolgreich sein kann. Erst jetzt, im Hinblick auf 84 Die Schlüsselstellung Kants für den organisatorischen Pazifismus bringt Rainer Piepmeier (1987: 17ff.) nicht nur mit Kants kleiner Schrift zum ewigen Frieden in Verbindung. Der Friede sei vielmehr der Impuls der gesamten Philosophie Kants, was sich in den Begriffen der Kritik und der Öffentlichkeit manifestiere, die zur Bedingung einer den Frieden erst ermöglichende Distanz zu Dogmatismen jeder Art werden. 85 Paradigmatisch für diesen Ansatz sind die aufeinander folgenden von Dieter Senghaas herausgegebenen Sammelbände, „Den Frieden denken“ von (1995) und „Frieden machen“ von (1997).
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die Dilemmasituation, scheiden sich die Geister im Bekenntnis zu Idealtypen, zum pazifistischen „Dennoch gewaltloser Strategien“ und zum Ultima-ratio-Denken. Wir sprechen hier vom friedensphilosophischen und nicht einfach vom „organisatorischen“ Pazifismus, weil in dieser Terminologie der unterschiedliche Charakter der Hauptrichtungen weniger im strategischen Kalkül und mehr im unterscheidenden Bezeichnen verortet werden kann. Damit gewinnen wir ein sehr viel exakteres Analyseinstrument angesichts der vielfältigen Überschneidungen in Bezug auf die proklamierten Ziele und die gewählten Handlungsschritte. Der organisatorische Pazifismus86 erwächst aus der bürgerlichen Friedensbewegung, wie sie sich seit dem neunzehnten Jahrhundert formiert hat. Diese folgt dem Ziel einer globalen Friedensordnung souveräner Staaten und stützt sich darin auf die Rechtslehre von Kant. Hinweise und Richtlinien finden sich einmal in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795, aber auch in der stärker moral- und rechtsphilosophischen Abhandlung zur „Metaphysik der Sitten“ von 1797, insbesondere im ersten Teil mit dem Titel „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“. Von dort kommen die entscheidenden Anregungen zum kontinentaleuropäischen Rechtsdenken, das die Grundlage sowohl des Völkerbunds nach dem Ersten Weltkrieg und der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg liefern wird. Kant war es um die Einhegung der kriegerischen Auseinandersetzungen absolutistischer Staaten gegangen und zugleich um die Berücksichtigung des Vernunftprinzips im geltenden Recht. Dies sollte durch die Kodifizierung der Menschen- und Bürgerrechte gewährleistet werden. Die im eigentlichen Sinne pazifistische Frage, mit welchen Mitteln das Friedensziel erreicht werden könnte, tritt nun partiell in den Hintergrund. Denn die Vernunft übernimmt gegenüber der Differenz von Mitteln und Zwecken die Rolle eines Einheitsbegriffs, der die asymmetrische in eine symmetrische Struktur überführt. Das Augustinische Friedensdenken suchte die innerhalb des irdischen Friedens unvermeidliche Asymmetrie von (Friedens-)Zweck und (Gewalt-)Mittel in dem auf Gewissen basierenden Gerechtigkeitsideal tragbar zu machen. Im Kantischen Friedensdenken ist hingegen die Asymmetrie in einem Vernunftideal aufgehoben, das nach und nach durch Erziehung und politisch-rechtliche Bemühungen – Befreiung der Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit – Wirklichkeit werden sollte. Indem die Vernunft an die Stelle rückt, die im voraufklärerischen Denken das Gewissen eingenommen hatte, wird jene Verschiebung eingeleitet, die zunehmend ein der Tendenz nach introvertiertes durch ein extrovertiertes Friedensengagement überlagert.87 86
Die theoretischen Grundlagen desselben hat Alfred Herrmann Fried (1864-1921) in „Die Grundlagen des revolutionären Pazifismus“ und „Handbuch der Friedensbewegung“ gelegt. Das Programm der von ihm 1882 gegründeten „Deutschen Friedensgesellschaft“ (DFG) spiegelt den liberalen Fortschrittsoptimismus wider. Siehe Riesenberger (1987: 54ff.). 87 Es geht hier um eine gebahnte Tendenzwende, die die introvertierte Gewissensbindung über die Figur der „Empfindsamkeit“ des 17. Jh.'s über die aufklärerische Sensibilität in ein formbares – nach
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Der sog. „aktive“ Pazifismus, der diese Orientierung im Titel führt, ist jedoch gegenüber dem organisatorischen Pazifismus insofern noch mehr der vormodernen Wahrnehmung des Friedensproblems verhaftet, als er die genuin friedensethischen Fragen der rechten Mittelwahl nicht durch ein Vernunftkonzept für überwunden hält. Der „aktive“ Pazifismus ringt noch mit einem ethisch-moralischen Problem, das der „organisatorische“ nur noch als logisch-vernunftrechtliches wahrnimmt. Als herausragender Vertreter der rechtspazifistischen Bewegung in Deutschland vermag Ludwig Quidde88 in der deutschen März-Revolution infolgedessen einen Schritt auf dem Weg zur allgemeinen Friedensordnung erkennen. Mit der Beseitigung der reaktionären wilhelminischen Regierung und der siegreichen Nationalen Bewegung waren Hoffnungen verbunden, die die bürgerliche Linke die Ansicht vertreten ließen, der nationale Einigungskrieg sei der letzte noch zu führende Krieg.89 Denn der Nationalstaat galt als ein Kollektivsubjekt, das sich als vernunftorientiertes selbstbestimmtes in die Völkergemeinschaft eingliedern werde. Zusammen mit dem angelsächsischen Utilitarismus, dem amerikanischen Quäkertum, der Freihandelspolitik90 und der Antisklavereiagitation setzte sich der bürgerlich-liberale Pazifismus für die Durchsetzung der völkerverständigenden Vernunft ein.91 Wir haben es hier insofern mit einem friedenstheoretischen und -praktischen Ansatz zu tun, als die Frage, welche Mittel legitim und effizient sind, nicht auf ein Dilemma bezogen werden, sondern allein auf die Herstellung von Bedingungen, unter denen Dilemmasituationen erst gar nicht auftreten. Das ganze Raffinement dieser verschobenen Zweck/Mittel-Kalkulation besteht darin, dass der Friedenszweck unverändert im Zentrum aller Überlegungen steht, aber die Mittelwahl nur noch in einer mediatisierten Form mit diesem Zweck in Beziehung gebracht wird. Das Medium, das sich zwischen Mittel und Zweck schiebt, kann als „Recht“ beschrieben werden, auch als „Rechtsstaatlichkeit“, als „Gewaltmonopol“, als „Verteilungsgerechtigkeit“, als „Partizipation“, als „Demokratie“ oder sogar als „Zivilisation“. Deren Fehlen wird als Ursache für Friedlosigkeit gewertet. Auf diese Weise lässt sich das Zweck/Mittel-Schema als moralisch neutrales Instrument im Rahmen einer empirischen Analyse jener Methoden nutzbar machen, mit denen die gewünschten Friedensbedingungen geschaffen werden können. Jene Mittel, von denen angenommen Freud schließlich auch – therapierbares Innenleben transformiert, um schließlich zum Gegenstand „aktiver“ Bearbeitung gemacht zu werden. 88 Vgl. Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914-1918. Aus dem Nachlaß L. Quiddes, hsg. von K. Holl und H. Donat, Boppard 1979. Zum Verhältnis von Frieden und liberaler Demokratie bei Quidde siehe auch Karl Holl in: Rajewsky/Riesenberger (1987: 133ff.). 89 Dieses Konzept, den Krieg mit dem Krieg zu überwinden, wird vom „aktiven“ Pazifismus etwa der Internationalen Kriegsdienstgegner, verworfen. Siehe Kobler (1928). 90 Zum pazifistischen Aktivisten der Freihandelsbewegung, dem Engländer Richard Cobden (18041865), welcher Weltharmonie durch Weltwirtschaft erwartet, siehe Ludger Freitag in: Rajewsky/Riesenberger (1987: 33ff.). 91 Siehe dazu Holl (1988: 15f.).
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wird, sie könnten rechtsstaatliche Verhältnisse etablieren, funktionierende Gewaltmonopole errichten, Demokratien durch „Demokratieimport“ aus der Taufe heben, sind immer unschuldig, weil der Zweck, dessen Wert verwirklicht werden soll, nur mittelbar der Friede ist. Das unmittelbare Ziel ist es, die institutionellen, administrativen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen herzustellen, unter denen Frieden möglich ist. Sobald der Friede identisch ist mit den Bedingungen, die selbigen möglich machen, erübrigt sich die Klärung dieses Leitbegriffs. Gewalt und selbst Kriege sind jetzt nicht länger dem Frieden prinzipiell unvereinbar, denn sie scheinen in ihrem Verhältnis zum Frieden vorab durch eine Subdifferenzierung in zivilisierende und entzivilisierende Gewalt, in Frieden schaffende und Frieden verhindernde Kriege, geklärt. Im Widerspruch zum Frieden stehen nur entzivilisierende Formen der Gewalt und des Krieges. Auf der Grundlage dieser begrifflichen Setzungen kann Friedenswissenschaft übergehen zur empirischen Überprüfung der Einzelfälle konkreter Konfliktlagen. In diesen gilt es die Frage zu klären, ob es sich um fortschrittliche oder rückschrittliche Gewalt handelt, um von dieser Diagnose ausgehend konkrete Politikempfehlungen aussprechen zu können für militärisch gestützte Maßnahmen des Peace building und des Nation building. Solche Friedens- und Konfliktforschung droht ihre Distanz zur Realpolitik zu verlieren.92 Die gewaltsame Herstellung von Bedingungen, unter denen Dilemmasituationen erst gar nicht auftreten, erscheint selbst nicht mehr als ein Dilemma. Indem der kriegsphilosophische Pazifismus das Dilemma in den Vordergrund rückt, muss er im Falle unvermeidlichen Gewaltgebrauchs die Lehre vom gerechten Krieg zu Hilfe nehmen, um das Übel abzumildern. Obgleich das Dilemma in der „organisatorischen“, der „institutionalistischen“ oder der „rechtspazifistischen“93 Variante des friedensphilosophischen Pazifismus in den Hintergrund gedrängt ist, lässt sich an gewissen Standardeinsichten des Pazifismus festhalten, wie derjenigen, dass Gewalt Gewalt produziert. Infolgedessen vermag auch das konfigurative Friedensverständnis Zweck/Mittel-Symmetrie gewissermaßen folgenlos beherzigen. Der bellizistische Leitsatz “Si vis pacem para bellum“ kann durch den Satz „Si vis pacem para pacem“94 abgelöst werden, ohne dass dies eine ethische Reflexion auf die Bedingungen der Gewaltfreiheit implizieren müsste. Der „konfigurative Pazifismus“ möchte mehr 92
In Vergessenheit gerät dabei, dass Kant, auf den sich diese friedenswissenschaftliche Richtung beruft, “Kritik“ und „Öffentlichkeit“ als Garanten der Handlungsorientierung am Frieden nur von „Philosophen“ im Sinne eines Sozialtypus erwartet, der nicht durch Macht oder andere fremde Interessen geleitet ist, sondern aufgrund seiner Unabhängigkeit das „freie Urteil der Vernunft“ besitzt. (Siehe dazu auch Piepmeier 1987: 24). 93 Hier werden jeweils die Akzente des pazifistischen Engagements betont. Die beiden ersten legen das Gewicht auf die Komponenten des Aufbaus internationaler Institutionen gewaltfreier Konfliktregelung. Beim Rechtspazifismus steht der Aspekt der Verrechtlichung internationaler Beziehungen im Vordergrund. (Siehe Strub/Bleisch 2006: 22). 94 Siehe Dieter und Eva Senghaas (1996: 245ff.).
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sein als bloßer Anti-Militarismus; er möchte eine soziale Ordnung schaffen, in der „Konflikte in aller Regel verlässlich gewaltfrei bearbeitet werden, also im politischen Sinne des Begriffs Frieden hergestellt ist.“ (Senghaas 2004: 26). So folgt aus der deklarierten Zweck/Mittel-Symmetrie keine Gewaltabstinenz und noch nicht einmal notwendig ein Ultima-ratio-Denken der realistischen Tradition. Denn das konfigurative Denken, das alle Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfen möchte, muss verhindern, dass ein spätes Eingreifen den Zeitpunkt verpassen lässt, an dem mit einem relativ geringem Mittelaufwand höchste Ergebnisse erzielt werden könnten. Die enge Verklammerung dieses Ansatzes mit der in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts florierenden Zukunftsforschung macht sich hier bemerkbar. Einerseits straft diese friedenskonfigurative Richtung jeden Pazifismus Lügen, indem sie die Grenze zu bellizistischen Positionen aufhebt und sich zur Sinnhaftigkeit der prima ratio des Militäreinsatzes bekennt.95 Auf der anderen Seite bleibt sie Wahrerin und Fortsetzerin des pazifistischen Projekts, indem sie ihre Konzeption als Einlösung der Zweck/Mittel-Symmetrie entfaltet: Jener Friede, der sich aus dem Zusammenspiel der konfigurativen „Bausteine“ (Gewaltmonopol, Rechtsstaat, Partizipation, Verteilungsgerechtigkeit, Affektkontrolle, Empathie)96 ergibt, lässt Konflikte ohne Rückgriff auf Gewalt austragen. Das Problem dieses Friedenskonzepts besteht darin, dass der Friede identisch ist mit der Einlösung der Bedingungen, die ihn möglich machen. Selbige Bedingungen aber sind ihrerseits nur möglich, wenn alle Bedingungen zugleich verwirklicht sind. Daraus erwächst eben jene Paradoxie, die auch im Kantischen Friedensmodell weltweit etablierter Republiken auftritt: Bedingung für den Frieden ist die Herrschaft des Rechts, die Kant als republikanisches Prinzip beschreibt. Solche Republiken haben aber nur Bestand, wenn auch alle anderen Staaten Republiken geworden und demzufolge in ihren wechselseitigen Beziehungen vertraglich abgesichert sind. Kant jedoch reflektiert im Gegensatz zu den Vertretern der zivilisationstheoretischen Version diese Paradoxie und stellt infolgedessen den Begriff des „Widerstreits“ ins Zentrum. Angesichts der Tatsache, dass Kant Gewaltrechtfertigung avant coup ablehnt,97 entfernen sich heutige rechtspazifistische Konzeptionen von dieser Tradition, wenn sie Militärinterventionen als „Revolutionen von Oben“ zum probaten Mittel von Rechtsstaaten deklarieren, einen Regimewechsel in fremden Ländern zu erzwingen. Was heute als Rechtspazifismus in Erscheinung tritt, knüpft insofern an Kant an, als sich dieser geradezu über eine Haltung mokiert, die den Frieden als abstraktes Ziel einklagt und dies mit der bloßen Weigerung verbindet, Gewalt anzuwenden. Was ein solches friedliches Friedensverständnis allenfalls erreichen könne, sei ein Zustand, der der Inschrift einer Friedenskneipe „Zum ewigen Frieden“ am nächsten 95
So Senghaas (1998). Dieses Friedensverständnis wird bei Senghaas (1995) modellhaft als „Zivilisatorisches Hexagon“ dargestellt. Zur Auseinandersetzung und Kritik siehe die Beiträge in Calließ (1996). 97 Siehe dazu Hirsch (2004: 159f.). 96
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komme. Weniger durch bloße Gewaltlosigkeit, sondern durch eine politische Gestalt des Friedens, eine vertraglich gesicherte Friedensordnung der Staaten, könne der Krieg überwunden werden. Der Rechtspazifismus ist insofern ein situativer oder konditionaler Pazifismus, als die Ablehnung gewaltsamer Konfliktlösungsformen nicht aus dem Tötungsverbot als einer religiösen und ethischen Norm abgeleitet wird. Sie entspringt auch nicht der Überzeugung, dass gewaltlose mit Notwendigkeit die effizienteren Mittel seien. Allein der Widerspruch zwischen Recht und Gewalt, wie ihn Kant verstanden hat, motiviert die Ablehnung gewaltsamer Formen der Konfliktlösung. Wenn Walter Benjamin (1921/1971) in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Kant in diesem Punkt zu widerlegen meint, indem er nachweist, dass Recht und Gewalt kein Ausschließungs-, sondern ein Bedingungsverhältnis sind, antwortet er bereits auf moderne Desillusionierungen.98 Nach Benjamin ist Gewalt entweder Recht setzend oder Recht erhaltend und infolgedessen jedes Recht auf Gewalt gegründet und angewiesen. Sie lässt sich deshalb noch nicht einmal in der extremen Form des Militarismus als Gegensatz zum Recht begreifen. Gewaltkritik falle deshalb „mit der Kritik aller Rechtsgewalt, das heißt mit der Kritik der legalen oder exekutiven Gewalt“ (Benjamin 1971: 40f.) zusammen. Erfolgt die Kritik der Gewalt nicht konsequent, sondern nur konsequenzialistisch, beschränkt sie sich auf unerwünschte Folgen, dann müssen der Benjaminschen Logik nach auch völkerrechtswidrige und terroristische Gewalt gerechtfertigt sein. Diese sind dort ins Recht gesetzt, wo es darum geht, neue Rechtsverhältnisse – heute das sog. „Weltbürgerrecht“ oder „islamisches Recht“ – zu etablieren. Denn außerhalb dieses erfolgreich etablierten Rechts, das erst den Frieden unter den Menschen sichert, gibt es nach den Maximen des Rechtspazifismus kein Recht. Wirklicher Friede kann nach Benjamin deshalb nur jenseits rechtlich geregelter Verhältnisse möglich sein, so in der reinen Unterredung und der Herzensgüte, die allerdings nicht organisiert und gemacht werden können. Kant selbst steht zu diesem Legitimitätsdenken in einem auffälligen Zwiespalt, wenn er Gewalt zwar als rechtswidrig tadelt, aber post fest dieselbe Gewalt in ihrer neuen Recht begründenden Funktion dadurch anerkennt, dass er den Untertanen eines Usurpators ebenso zum Gehorsam anhält, wie den Untertan eines auf rechtmäßigem Wege eingesetzten Souveräns. Nach Kant gibt es kein Widerstandsrecht, weil das Recht auf den rechtskonstituierenden Akt und nicht auf göttliche Gesetze zurückzuführen ist und insofern der Recht begründende Souverän nicht selbst dem Recht unterworfen sein kann. Damit wäre Kant ein Rechtspositivist, wenn dieses Rechtsdenken nicht mit der Figur des vernunftbegabten Subjekts verknüpft worden wäre. Vernünftig ist eine Maxime, der alle Menschen zustimmen könnten, wenn sie ihrem 98 Diese setzen bereits mit Friedrich von Gentz, einem Schüler Kants, ein, der sich in „Über den ewigen Frieden“ (1800) skeptisch gegenüber der moralischen Stärke der menschlichen Natur äußert. Siehe zu den ideengeschichtlichen Voraussetzungen des Pazifismus in Deutschland Holl (1988: 11ff.).
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Verstand und nicht ihren Leidenschaften folgen. Es ist dieses fiktionale Moment, das in der diskurstheoretischen Erweiterung des Kategorischen Imperativs „Handle nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1785/1956: 51) zu folgenreichen Veränderungen führt: Die kommunikative Ethik Karl-Otto Apels (1973) hat das Prinzip der kommunikativen Verallgemeinerbarkeit „verallgemeinerte Reziprozität“ genannt. Im Gegensatz zur logischen Verallgemeinerungsfähigkeit, über die jeder Einzelne befindet, hebt die kommunikative Verallgemeinerungsfähigkeit die Ansprüche hervor, die wechselseitig erhoben werden können. Indem der Akzent von der jedem Einzelnen erreichbaren Vernunft auf die nur in der Interaktion erreichbare kommunikative Vernunft verlagert wird, wechselt der Frieden schaffende Akteur vom menschlichen Subjekt zur Diskursgemeinschaft, die definiert, was als Vernunft zu gelten hat. Die Bedingungen möglicher Zustimmung ruhen bei Kant in der Verallgemeinerbarkeit der Maxime. Im Falle der diskursiven Erweiterung ist es die Gemeinschaft, die einen Anspruch auf Zustimmung erhebt. Sie begründet diesen Anspruch damit, dass sich die von ihr vertretenen Maximen im Diskurs herausgebildet hätten. Diese Konzeption bedarf kommunikativ kompetenter Repräsentanten, die den Rahmen für Vorverständigungen abstecken, innerhalb derer Diskussionen erst möglich sind. Hier wird Konsens unterstellt. Nicht anders als bei Kant ist auch in der diskursethischen Erweiterung des kategorischen Imperativs die Zustimmung nicht empirisch einzulösen; sie ist transzendentaler Art. Man könnte nun meinen, dass der bloß unterstellte Konsens im diskursethischen Rechtspazifismus Streit vermeiden lässt. Denn die verlangte faktische Einigung aller Mitglieder, die dem Ideal nach durch den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas), tatsächlich wohl eher durch rhetorische Manipulation und Diffamierung abweichender Meinungen zu erreichen wäre, dürfte dem Frieden kaum förderlich sein. Hinzu kommt als Frieden sicherndes Element, dass die Diskursgemeinschaft auf den Kreis von einer Maxime Betroffener beschränkt wird. De facto verdoppelt sich damit jedoch nur der Gegenstand des Streites: Den Auseinandersetzungen über die Frage, wer darüber befindet, welche Maximen der Vernunft und welche den Leidenschaften entspringen, folgt ein Streit darüber, wer zu den Betroffenen und damit zur Definitionsmacht zählt. Wenn den Betroffenen aber gar keine definitorischen Kompetenzen zugesprochen werden, und zwar allein deshalb, weil auch Kinder und zukünftige Generationen eingerechnet sind, dann bleibt die Erweiterung der logischen um die kommunikative Verallgemeinerung ohne Konsequenzen. Deshalb sind die Kriterien der Reziprozität und Revisionsfähigkeit, an der die "Interkulturationsfähigkeit" der Positionen gemessen werden, immer nur für den Beobachter informativ, der im Einzelfall die Zumutbarkeit und die Zuträglichkeit der beiden Kriterien bestimmt. Für den Westen aber sind weder Demokratie noch Menschenrechte – und zwar in ihrer unvollkommenen historischen Gestalt und subjektiven, eurozentrischen Auslegung – revidierbar. Ihre reziproke Geltung muss unterstellt werden können. Hier verbirgt sich ein Widerspruch, denn
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"unbefragte Befolgung" und "universale Geltung" der eigenen Maximen werden als typisch fundamentalistische Anmaßungen getadelt (Nicklas 1996: 183). 4.1.1 Metamorphosen des Rechtspazifismus: das Weltbürgerrechtsmodell Die Friedenssicherungsfunktion eines globalisierten Rechtssystems wird heute von einer Stärkung der Weltgemeinschaft – vertreten durch die Vereinten Nationen – erwartet. In den Rang einer legitimitätsstiftenden Diskursgemeinschaft gehoben, fällt dieser die Aufgabe zu, Geltungen, die die Weltbevölkerung normativ binden, konsensfähig zu machen. Die Argumentationsbasis bildet infolgedessen ein „westliches“ Normengerüst, das auf bloßen Verfahrensweisen beruht und nicht auf Glaubensgewissheiten und Dogmen. Es ist das aufgrund seiner Formalität der Idee nach mit allen Kulturen und Traditionen vereinbar. Jeder Krieg und jeder Terroranschlag liefert nur einen neuen Beweis für die Notwendigkeit der Durchsetzung eines global verbindlichen Rechtssystems, das welteinheitliche Normen aufstellt, die für alle Populationen bindend sind. Vor dem Hintergrund dieser westlichen Selbstgewissheit wurde der Zusammenbruch des Realsozialismus zunächst nicht als Zusammenbruch einer überstaatlichen Normalität interpretiert, die als Abschreckungsgleichgewicht bisher den Frieden gesichert hatte. Er wurde vielmehr als Überwindung eines irregulären der Selbstbehauptung unfähigen Regimes durch die überwältigende westliche Normalität gefeiert. Da ein dominantes Normalitätsempfinden aber mit einem großen Vertrauen in die Machbarkeit gesellschaftlicher und nunmehr weltgesellschaftlicher Verhältnisse einhergeht, verlagert sich im rechtspazifistischen Konstrukt der Akzent vom Zweck weltuniversaler Rechtsgeltung auf die Mittel, mit denen dieser Zweck verwirklicht werden kann. Im Windschatten des Ost-West-Konflikts konnte das Verhältnis von Zwecken und Mitteln als ein pazifistische und bellizistische Denkweisen spaltendes Problem ausgeblendet werden, da gewaltsam-militärische Mittel zur weltweiten Durchsetzung des demokratischen Rechtsstaatsprinzips im Angesicht der sowjetischen Drohkulisse problematisch schienen. Erst das Ende der Abschreckungspolitik zeigte einen Klärungsbedarf bezüglich genuin pazifistischer Teile des Rechtspazifismus. Das meint die Verpflichtung auf gewaltlose Mittel, wenn die Verwirklichung gewaltloser Konfliktbewältigungsformen ansteht. Vor diese schwierige Frage und Entscheidung war der Rechtspazifismus angesichts der ethnonationalistischen Ausschreitungen im zerfallenden Jugoslawien gestellt. Im Rahmen der innerpazifistischen Kontroverse vertritt Jürgen Habermas (1999) eine Position, die mit ihrem Votum für die Luftangriffe auf Serbien deshalb Aufsehen erregt hat, weil sie mit dem diskursethischen Ansatz in Widerspruch zu stehen schien. Habermas rechtfertigt die Militärschläge zunächst mit dem auch von offizieller Seite vorgebrachten Argument, selbst ohne ein Mandat des Sicherheitsrates müsse „Nothilfe für eine verfolgte ethnische (und religiöse) Minderheit“ geleistet werden. Dieser unmittelbare Zweck wird allerdings in den Kontext des übergeordne-
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ten mittelbaren Zwecks gestellt, das Rechtsstaatsprinzip für die Weltgesellschaft verbindlich zu machen. Im Hinblick auf diese Perspektive votiert Habermas gegen einen unzeitgemäßen „Gesinnungspazifismus“ und für einen zeitgemäßen „Rechtspazifismus“: „Die pazifistischen Gegner (der Luftschläge)99 rufen den moralischen Unterschied zwischen Tun und Lassen in Erinnerung und lenken den Blick auf das Leiden der zivilen Opfer, die eine noch so zielgenaue militärische Gewaltanwendung 'in Kauf nehmen' muß. Der Appell richtet sich jedoch dieses Mal nicht an das gute Gewissen hartgesottener Realisten, die die Staatsraison hochhalten. Er richtet sich gegen den legal pacifism einer rotgrünen Regierung. An der Seite der alten Demokratien, die von vernunftrechtlichen Traditionen stärker als wir geformt worden sind, berufen sich die Minister Fischer und Scharping auf die Idee einer menschenrechtlichen Domestizierung des Naturzustandes zwischen den Staaten. Damit steht die Transformation des Völkerrechts in ein Recht der Weltbürger auf der Agenda. Der Rechtspazifismus will den lauernden Kriegszustand zwischen souveränen Staaten nicht nur völkerrechtlich einhegen, sondern in einer durchgehend verrechtlichten kosmopolitischen Ordnung aufheben. Von Kant bis Kelsen gab es diese Tradition auch bei uns. Aber heute wird sie von einer deutschen Regierung zum ersten Mal ernst genommen. Die unmittelbare Mitgliedschaft in einer Assoziation von Weltbürgern würde den Staatsbürger auch gegen die Willkür der eigenen Regierung schützen. Die wichtigste Konsequenz eines durch die Souveränität der Staaten hindurchgreifenden Rechts ist, wie sich im Falle Pinochets schon andeutet, die persönliche Haftung von Funktionären für ihre in Staats- und Kriegsdiensten begangenen Verbrechen.“ (Habermas 1999: 1).
Wird die rechtspazifistische Position nicht als Entfaltung und Auflösung einer Paradoxie – die Verbreitung des Rechts mit rechtswidrigen Mitteln – explizit gemacht, so bleibt nur der implizite Rückgriff auf tradierte Angebote der Entparadoxierung. Für das Problem der Rechtfertigung von Mitteln, die durch das geltende Recht nicht abgedeckt sind, aber gleichwohl zur Erreichung eines hochwertigen Zwecks, wie die Verwirklichung des Weltfriedens, unerlässlich scheinen, bot die Tradition mit der „Lehre vom gerechten Krieg“ ein Konzept an, auf das seit dem Golfkrieg wieder verstärkt zurückgegriffen wird. Im rechtspazifistischen Weltbürgerrechtsmodell wird die intentio recta als entscheidendes Legitimitätsprinzip stark gemacht. In den Ausführungen von Habermas waren die nach geltendem bundesrepublikanischem Recht – das bereits die Vorbereitung von Angriffskriegen mit einer lebenslangen Strafe belegt – sowie nach bisheriger Völkerrechtsauslegung normwidrigen Bombenabwürfe auf jugoslawische Städte, gerechtfertigt, weil diese von der „Absicht“ getragen waren, einem Welt99
Diese werden von Habermas im selben Text als „Gesinnungspazifisten“ bezeichnet. Die nunmehr so genannten „Rechtspazifisten“ decken sich mit den im Anschluss an die Unterscheidung Max Webers so genannten „Verantwortungspazifisten. Mit dem Auswechseln des Gegenbegriffs „Verantwortung“ durch „Recht“, verschiebt Habermas den sinnstiftenden semantischen Kontext vom verpönten politischen Realismus zum bevorzugten Kantischen Friedensdenken.
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bürgerrecht, einem „kosmopolitischen Recht der Weltbürgergesellschaft“ vorzugreifen.100 Der Überfall auf den Irak durch die USA und ihre Verbündeten wurde hingegen von Habermas (2003) unter Hinweis darauf scharf verurteilt, dass die Invasion expansiven Zwecken und einer Festigung der US-amerikanischen Hegemonie diene. Gemessen am gewaltabstinenten Rechtspazifismus, wie er unter steter Berufung auf die Tradition Kants seit dem zweiten Weltkrieg für eine Stärkung der Vereinten Nationen gegen die Gewaltneigung der Supermächte eingetreten war, zeichnet sich hier ein noch schwer einzuordnendes Verschwimmen mit bellizistischen Positionen ab. Denn der nach selbstgesetzten Maßstäben „aufgeklärte“ Westen, der „Demokratie“, „Freiheit“ und „Menschenrechte“ als Fundamente historischer Errungenschaften101 begreift, sieht sich selbst in der Rolle von „vernünftigen liberalen Völkern“ (Rawls 1999: 4) denen die historische Aufgabe zuteilt ist, die unvernünftigen durch „brüderliche Züchtigung“ (Habermas 1996: 217) auf den richtigen Weg zu bringen. Dass es sich durchaus nicht um ein bloßes Überwechseln auf die andere Seite der erkenntnis- und politikleitenden Differenz, den Bellizismus, handelt, sondern um innersemantische Verschiebungen im Verständnis dessen, was echter Pazifismus sein kann, beweisen zahlreiche Bemühungen, den legitimen Rückgriff auf kriegerische Mittel beim Gewährsmann der eigenen rechtspazifistischen Position, nämlich bei Kant selbst, nachzuweisen. Die Kantische Figur des „ungerechten Feindes“102 stand bei der rechtspazifistischen Legitimierung der Bombenabwürfe auf jugoslawische Städte im Vordergrund, die den Verlautbarungen nach eine humanitäre Katastrophe im Kosovo unterbinden sollten. Die Konstruktion einer rechtsentlasteten Legitimitätsfigur, wie sie Habermas (1999) mit dem „Vorgriff“ entwickelt, ist insofern für pazifistisches Denken bedeutsam, als hier ganz im Sinne des Pazifismus Zweck/Mittel-Symmetrie hergestellt ist. Gleichzeitig aber wird diese Symmetrie, die dem Mittel die Einhaltung der Werte des Zwecks abverlangt, von der Realität ins Fiktive übertragen. Die (militärisch gestützten) Operationen, mit denen die Weltbürgerrechtsgesellschaft etabliert werden sollen, 100
Schmidt (2000: 21) weist auf moral- und geschichtsphilosophischen Schwächen dieser Konstruktion hin: Die vom UN-Friedenssystem sich abkoppelnden Nato-Staaten sollen zum Motor der Weltbürgerrechtsentwicklung werden. 101 Die Annahme von „Errungenschaften“ provoziert ein Überlegenheitsbewusstsein jener Gesellschaften, die meinen im Besitz derselben zu sein. Johan Galtung (1978: 211) hat bereits in den 70er Jahren mit dem „Prinzip des abnehmenden Ertrages“ die Grundlage dieses Denkens erschüttert. Der starke Einfluss des zivilisationstheoretischen Ansatzes in der Friedens- und Konfliktforschung (Senghaas 1995) zeigt die mangelnde Rezeption dieser Kategorie. 102 In den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ trägt Kant im § 60 den Völkern auf, einen „Unfug“ zu beenden, der von einem „ungerechten Feind“ ausgeht, dessen öffentlich geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter den Völkern wäre. Nach Brandt (1999) nimmt Kant diesen Begriff sogleich wieder zurück, da nur ein Gerichtshof entscheiden könne, was gerecht ist. Ein solcher aber fehle im Naturzustand, in dem sich die Staaten ohne einen übergeordneten Völkerbund befinden.
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bewegen sich mithin auf zwei Ebenen. Auf der realen Ebene faktisch vollzogener politischer Handlungen bleibt das Verhältnis von Mitteln und Zwecken asymmetrisch, denn die Mittelwahl erfolgt unter strategisch-taktischen Gesichtspunkten und damit in einer Weise, die Gewalt in Kauf zu nehmen zwingt. Allein diese Konzession an „realistisches“ Denken muss in dieser neuen Lesart des Rechtspazifismus nicht die pazifistische Grundausrichtung Lügen strafen, denn die Ebene effizienter Mittelwahl ist nicht die Ebene, auf der die Frage nach der Legitimität dieser Wahl entschieden wird. Ausschlaggebend ist vielmehr die handlungsleitende Absicht, die ihre eigene intentionale Struktur auf die Mittelwahl überträgt. Handelt es sich um die beabsichtigte welteinheitliche Geltung rechtlicher Standards, mit der ein dauerhafter Weltfrieden verbunden wird, dann verändert dies den gesamten Kontext, in dem Gewalthandlungen zugerechnet werden. Im Falle antizipierten Weltbürgerrechts handelt es sich dann nicht um kriegerische, sondern um rechtserhaltende Gewalt, die sich nicht gegen „Feinde“, sondern gegen Straftäter – Menschenrechtsverletzer – richtet.103 Die Umgehung des Gewaltverbots der Vereinten Nationen um einer höheren Moral willen,104 hatte selbst friedensphilosophisch orientierte Vertreter des Pazifismus zum Rückgriff auf vormodernes Legitimitätsdenken bewogen. Dies war jedoch nur unter der Voraussetzung schlüssig, dass der säkulare Kontext, in den die „Lehre vom gerechten Krieg“ nun gestellt wurde, die Kriterien des legitimen Gewaltgebrauchs nicht grundlegend verändert. In Bezug auf das Kriterium der „rechten Absicht“ scheint dies insofern zweifelhaft, als der Augustinische religiöse Kontext der Zweiweltenlehre des irdischen und himmlischen Friedens das Gewissen zur entscheidenden Prüfinstanz erhebt. Allein das Gewissen lässt über den rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Charakter der Absicht urteilen. Das säkulare Substitut liefert der Rechtspazifismus Habermasscher Spielart mit der Diskursgemeinschaft als einer „indefinite society“ im Sinne John Rawls’. Diese bedarf allerdings konkreter Diskurse, die Geltungen immer wieder neu zu überprüfen die Aufgabe haben. Obgleich mithin bestehende Geltungen der Idee nach nicht dogmatisch verfestigt werden können, weil sie von konkreten Diskursteilnehmern immer wieder in Frage gestellt werden dürfen, so bleibt die Entscheidung darüber, was als Beitrag zum Diskurs verstanden werden kann und wer zur Diskursgemeinschaft zählt, immer vom Votum derer abhängig, die diskursives Anschlusshandeln von nicht anschlussfähiger Gewalt unterscheiden. 103
Reinhard Brandt (1999) vertritt die These, dass Kant in der Entmachtung der UN durch die Nato eine gravierende Rechtsverletzung gesehen hätte. Durch die kriegerische Entmachtung des serbischen Gewaltherrschers sei kein „neuer exemplarischer Umgang mit einem Staat, der durch historische Umstände in die Gewalt eines Schurken Shakespeareschen Ausmaßes gerät, entwickelt.“ Das Bombardieren sei nach Kant nicht zukunftsweisend und eröffne keine neuen Umgangsformen mit Staaten, die das Völkerrecht missachten. 104 Richard Herzinger (1999: 51) wendet sich gegen einen „unnachgiebigen Pazifismus“, der angesichts völkermörderischer Bedrohung in moralische Indifferenz umschlage, wenn jetzt noch „die vorbehaltlose Akzeptanz von Verfahrensregeln“ gefordert würde.
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Damit ist der ureigenste Sinn der „intentio recta“ im Hinblick auf den Charakter der Selbstverpflichtung verfälscht. Dieser hält den Entscheidungsträger zur Mäßigung an, weil das Gewissen eine nur subjektiv zugängliche Wertungsinstanz ist. Tritt an die Stelle des „subjektiv“ urteilenden Gewissens nun das „objektive“ – weil intersubjektiv zustandegekommene – Urteil der Diskursgemeinschaft, dann erscheint als „Absicht“ ausschließlich das, was als solche bekundet wurde, bzw., was eine Gemeinschaft einer anderen als „wahre Absicht“ unterstellt. Damit befindet sich das Gute immer auf der Seite derjenigen, die urteilen. Bekanntlich entscheiden sich Menschen in Gemeinschaft immer für das „Gute“ und nicht für das „Schlechte“. Allein dies hängt nicht mit einer minderen Anfälligkeit für Fehlentscheidungen bei Gruppen im Gegensatz zur Fehlbarkeit der einzelnen Individuen zusammen, sondern allein mit der Präferenzstruktur von Unterscheidungen, mit denen Einzelne und Gruppen beobachten. Moralische Kommunikation baut sich über Operationen unterscheidenden Bezeichnens dessen auf, was als gut und was als schlecht, als böse oder verwerflich zu bewerten ist. Die urteilende Diskursgemeinschaft, die darüber befindet, wo die Grenze zwischen guter und schlechter Absicht verläuft, steht insofern für sich selbst immer auf der Seite des Guten und Wahren; andernfalls könnte sie nicht moralisch urteilen. Die Möglichkeit der Kritik gerät in diese selbstgefällige Konstruktion allein durch die Differenz zwischen der Diskursgemeinschaft als legitimitätsstiftender Einheit und der Vielheit ihrer Teilnehmer, die einander wechselseitig kritisieren können. Da der Teilnehmerstatus aber abhängig gemacht ist von der Anschlussfähigkeit des kommunikativen Beitrags, kann Kritik niemals die „Vorentscheidungen“ treffen, die eine Vielheit erst zur Einheit einer Diskursgemeinschaft machen. Zu diesen „Vorentscheidungen“ gehören jene Vorzugswerte „Menschenrechte“, „Demokratie“, „Freiheit“, „Rechtsstaatlichkeit“ nicht nur im Sinne auslegungsbedürftiger Normen, sondern als strukturbildende sogenannte „Errungenschaften“ eines Gesellschaftstypus. Diese signalisieren einem „Außen“, dass die moralisch wertende Diskursgemeinschaft universale Geltungsansprüche erheben kann, weil selbige durch ein Verfahren kritischer Überprüfung zustandegekommen sind. Die Kritik an der Nichteinlösung dieser Werte durch die Diskursgemeinschaft, die von einzelnen Teilnehmern vorgebracht wird, läuft insofern ins Leere, als es eben jene Diskursgemeinschaft ist, die die Grenze zwischen dem Guten – Menschenrechte, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit – und dem Schlechten – Menschenrechtsverletzung, Diktatur, Totalitarismus, Unrechtsregime – zieht. Diese Grenzziehung konstituiert die Diskursgemeinschaft und erweist sich somit als Bedingung dafür, dass eine Vielheit von Mitgliedern möglich ist, die einander kritisieren können.105 105
Diese Logik ist derjenigen nachgebildet, die bei Hobbes und Kant jedes Widerstandsrecht gegen den Souverän undenkbar macht. Da die Machtunterworfenen ihre Sicherheit und somit ihr Leben dem Souverän, d.h. dem Gewaltmonopol, verdanken, kann Gehorsam nicht an Bedingungen gebunden sein. Zu Hobbes und Kant siehe Hirsch (2004: 156ff.).
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Die Konsequenzen dieses logisch konsistenten diskurstheoretischen Denkhabitus106 konnten erst unter den völlig veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu Tage treten. Die Identifizierung der „indefinite society“ als grenzbestimmender Diskursgemeinschaft mit der „westlichen Wertegemeinschaft“ beauftragt den Rechtspazifismus mit der Pazifizierung der Weltbevölkerung. Sinngemäß wird dabei die befriedende Leistung daran gemessen, inwieweit es gelingt, das westliche Politik- und Gesellschaftsverständnis zu exportieren und diesem universale Gültigkeit zu verschaffen.107 Genau diese Tendenz aber wird vom sog. „rest of the world“ als aggressiver Neokolonialismus wahrgenommen und entsprechend bekämpft. Das metamorphisierte Verständnis des Pazifismus als Pazifizierung der Weltbevölkerung108 begünstigt mithin einen übergriffigen Paternalismus, der ein Selbstbestimmungsrecht nichtwestlicher Staaten nicht mehr anerkennen lässt und sich selbst ein Recht auf militärische Interventionen vorbehält. Selbst die rechtliche Absicherung dieser Interventionen durch den Weltsicherheitsrat bleibt angesichts der undemokratischen Struktur der UNO in ihren Akzeptanzbedingungen prekär. Hinzu kommt, dass die rechtliche Absicherung – sei es durch die nationalen Gerichte oder durch den Weltsicherheitsrat – nachrangig ist in einem Modell, für das nicht geltendes und mithin unzulängliches, sondern antizipiertes globalisiertes Recht politisches Handeln bindet.109 Die Schwierigkeit der Übertragung des Ausschließungsverhältnisses von Recht und Gewalt auf die zwischenstaatliche Ebene besteht nach Kant darin, dass die Umwandlung aller Staaten in Republiken Voraussetzung für den Frieden und zugleich der zwischenstaatliche Friede absolute Bedingung für die Durchsetzung des republikanischen Prinzips ist. Da Gesetzesherrschaft und Frieden nicht als kausales, sondern als Konstitutionsverhältnis gedacht sind, gibt es keinen Handlungsmodus, der die Menschheit gegen ihren Willen in diesen Friedenszustand versetzen könnte. Aus diesem Grund ist der „Widerstreit“ ein zentraler Topos des Kantischen Friedensden106
Zur pazifismusbezogenen Kritik siehe S. Tönnies (2006). In diesem Zusammenhang mag der Hinweis aufschlussreich sein, dass Montesquieu, der für das demokratische Gewaltenteilungsprinzip steht, sich nur deshalb gegen die universelle Verbreitung der Monarchie ausgesprochen hat, weil jede Nachahmung eines politischen Systems an anderer Stelle Variationen hervorbringe müsse, jeder Kopiervorgang deshalb Abweichungen erzeuge. Siehe dazu Rudolf Stichweh (Beitrag zu Montesquieu in Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Feb. 2005). 108 In der angelsächsischen Literatur wird der Gegensatz in der typologischen Unterscheidung von Pazifisten (die den Krieg ablehnen) und Pazifizisten (die Institutionen der gewaltfreien Konfliktauftragung schaffen) bei Caedel (1989), Norman (1995) deutlich gemacht. 109 Die Globalisierung des Rechtssystems vollzieht sich analog der Globalisierung des ökonomischen und politischen Systems als Emanzipation von rechtlichen Handlungsbeschränkungen. Dies erklärt die breite Akzeptanz der US-amerikanischen Öffentlichkeit von geheimen CIA-Gefängnissen (sog. „renditions“), in denen mutmaßliche Terroristen in einem rechtsfreien Raum festgehalten und verhört werden. 107
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kens. Dabei handelt es sich in gewisser Weise um genau das Dilemma, mit dem sich Augustinus in der Lehre vom gerechten Krieg beschäftigt hatte. Auch Kant konzediert, dass in vielen Konflikten keine Lösung erzielt werden kann, weil der von allen akzeptierte moralische „Gerichtshof“ fehlt. Die Möglichkeit, einen solchen Gerichtshof zu erzwingen, fällt weg, da die empirischen Subjekte, die selbiges mit allen zur Verfügung stehenden Methoden versuchen könnten, nur partikulare Mächte sind.110 Die beiden kulturellen Welten, die heute teils aufeinanderprallen, deren Crash zum Teil jedoch auch aus kriegspropagandistischen Gründen hochstilisiert wird, betreffen säkulares und fundamentalistisches Christentum,111 auf der einen Seite, und säkularisierten und fundamentalistischen Islam, auf der anderen Seite. Mit dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins und dem erzwungenen Regimewechsel haben die USA und ihre Verbündete 2003 eine säkular-nationalistische Spielart des politisierten Islam beseitigt, um an dessen Stelle ein System nach westlichem Vorbild setzen zu können. Dies hat bislang nur zu Staatszerfall und einer bürgerkriegsähnlichen Situation im Land geführt. 4.1.2 Die zeitliche Entparadoxierung der Zweck/Mittel-Symmetrie Die unterschiedlichen Richtungen, in denen der Kantische Rechtspazifismus einmal für und einmal gegen die Anwendung kriegerischer Methoden zum Zwecke der Verwirklichung einer globalen Rechtsordnung fruchtbar gemacht wird, zeigt die innere Ambivalenz, die aus dem pazifistischen Denken ebenso wenig entfernt werden kann, wie aus allen anderen Richtungen politischen Denkens. Als Bewegung reagiert der Pazifismus auf die besondere Art und Weise, in der eine bestimmte Zeit die Unterscheidung von Frieden und Krieg handhabt. Und zwar zielt die pazifistische Kritik auf den Modus der Entparadoxierung, der am deutlichsten in Konflikt mit pazifistischem Selbstverständnis tritt, wo der Krieg mit kriegerischen Mitteln zu überwinden gesucht wird. In den Hintergrund getreten ist nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus die marxistische Variante geschichtsphilosophischer Paradoxieauflösung, die das Entwicklungsgesetz im Ausscheidungskampf der Klassen vermutete. Der Klassenkampf der international vereinigten Arbeiterklasse konnte hier als Verwirklichung eines echten Pazifismus erscheinen, der sich nicht im Gewaltverzicht erschöpft, sondern der die weltpolitischen und -wirtschaftlichen Bedingungen herzustellen sucht, die einen solchen Verzicht erst möglich machen. Zivilisierungstheoretische oder weltinnenpolitische Konzeptionen greifen heute eher auf die geschichtsphilosophischen Spekulationen von Norbert Elias (1976) 110
Von der Erzwingbarkeit gehen Speck/Sznaider (2003) aus. Zur Kritik an dieser Neigung, vom Diskurs über Frieden durch Recht zu einem Diskurs über Ordnung als imperiales Projekt überzugehen, siehe Brock (2004: 1). 111 Auf diese im europäischen Raum vielfach ausgeblendete Komponente des Anti-Terror-Krieges macht Galtung (2004a: 59ff.) aufmerksam.
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zurück, der die Zuordnung des Ausscheidungsgedankens auf obsolete Größen wie die Hegelsche „Nation“ oder die marxistische „Klasse“ vermeidet und stattdessen einen Ausscheidungskampf der Zivilisationen konzipiert. Dieser vollzieht sich im Wesentlichen als ein Prozess, in dem versprenkelte kleinere und gegeneinander kämpfende politische Verbände durch Eroberung größerer Verbände absorbiert werden, sodass Elias am Ende dieses Prozesses ein einziges Frieden stiftendes Weltgewaltmonopol prognostiziert.112 Dieses geschichtsteleologische Konstrukt ist allerdings historisch unhaltbar, weil der tatsächlichen Geschichte, die durch den Aufstieg und Niedergang von Weltreichen gekennzeichnet ist, unvereinbar. Gegen die augenscheinlich anderslaufende Geschichte kann sich die zivilisationstheoretische Geschichtsphilosophie nur behaupten, indem sie kontrafaktisch an einem fiktiven Entwicklungsgesetz festhält, das alle Zerfallsprozesse als irrelevante Interimsphasen deutet, die durch „entzivilisierende Rückbildungsprozesse“ (Senghaas 1995: 48) gekennzeichnet, nur Verzögerungen des welthistorischen Gangs bedeuten können, aber nicht in der Lage sind, die teleologische Gesamtrichtung zu beeinflussen. Die Mittel, mit denen der Frieden erreicht werden soll, enthüllen sich in ihrem kybernetischen Zusammenspiel als Friedenszweck. Damit ist der Idee nach dem pazifistischen Gebot der Zweck/Mittel-Symmetrie genüge getan, aber keineswegs als ein das tatsächliche politische Handeln bindendes Prinzip, sondern nur als Qualität eines analytischen Systems (Senghaas 2004: 128). Die Frage, in welchem Verhältnis analytisches und empirisches System zueinander stehen,113 wird als Problem umgangen, indem der Habermassche Begriff des Wahrheitsanalogen auf die Friedensthematik übertragen wird. Ebenso wie Habermas der Fallibilität (der Irrtumsanfälligkeit) eines nachmetaphysischen Wahrheitsbegriffs Rechnung trägt, ohne den relativistischen postmodernen Standpunkt beziehen zu müssen, spricht Senghaas nun von rechtsstaatsanalogen Rechtsinstituten (Senghaas 2004: 128). Diese sollen einem in globale Räume ausgreifenden westlichen Gewaltmonopol weltweite Akzeptanz im selben Maße verschaffen, wie die rechtsstaatliche Einhegung des nationalstaatlichen Gewaltmonopols dessen Legitimität sichert. Diese Zusammenhänge machen deutlich, dass Konsequenzen, die sich aus der Logik von Legitimitätskonstukten ergeben, stärker sind als politische Bekenntnisse. Wenn auch Habermas diese voluntaristische Traditionslinie ablehnt und sich ausschließlich zur vernunftrechtlichen bekennt, so bleibt die rechtsentlastete Handlungs112
Siehe zur gegenteiligen Einschätzung einer Errungenschaft, die den Staat zu einem Ideal hat werden lassen, Van Creveld (1999: 219): „Das Ergebnis all dieser Entwicklungen war schließlich eine Reihe von Explosionen zunehmender Gewalt, angefangen von der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen bis hin zur Ära des totalen Krieges.“ Diese hätte von 1939-1945 allein mittels konventioneller Waffen zwischen vierzig und sechzig Millionen Menschen getötet. 113 Die Rezeption der Systemtheorie beschränkt sich in der Friedens- und Konfliktforschung größtenteils noch auf die struktur-funktionale Phase. Eine für die Systemtheorie bisher nicht revidierte Klärung dieses Verhältnisses von analytischem und realem System findet sich jedoch bereits bei Luhmann (1984).
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figur des „Vorgriffs auf eine Weltbürgerrechtsgesellschaft“ auf die fraglose Anerkennung wahrheitsanaloger Geltungen angewiesen und mithin auf Imperative des Handelns, die weder durch Diskurs, geschweige denn durch Konsens zustandegekommen sind.114 Mit diesen spiegelbildlich komponierten Legitimitätsformeln des Wahrheitsanalogen und der rechtsstaatsanalogen Rechtsinstitute möchte die Diskursethik den innerstaatlichen Rechtsfrieden und der zivilisierungstheoretische Ansatz die Akzeptanz der Dominanz des hochgerüsteten Westens durch den Rest der Weltbevölkerung motivieren. Beide schöpfen die Legitimität aus fiktiven Quellen, die in der politischen Alltagspraxis verdeckt werden müssen, um den nötigen Gehorsam nicht zu gefährden. Will man trotz aller Überschneidungen dennoch einen Unterschied zwischen pazifistischem und realistischem Zweck/Mittel-Denken erkennen, so ist es nach wie vor ein symmetrisches Verhältnis von Mitteln und Zwecken, an dem stärker dem Pazifismus zuneigende Positionen festhalten, während der sich selbst als realistisch bezeichnende Standpunkt ein asymmetrisches Verhältnis als weniger problematisch betrachtet. Bei beiden handelt es sich um metaphysische Vorentscheidungen, mithin um Vorannahmen, die zwar empirisch zustandegekommen sind und somit auf Beobachtung beruhen. Indem jedoch die beobachteten historischen Fälle zu Generalaussagen verallgemeinert werden, bilden sie die Folie, vor der politische Handlungen bewertet werden. Sie geben nunmehr die Bedingungen an, unter denen etwas empirisch beobachtet werden soll. Nimmt man die pazifistische These, nach der Mittel so geartet sein müssen, dass sie die Werte des Zwecks nicht dementieren, so erweist sich die Bestätigung in der Realität als höchst schwierig, wenn nicht unmöglich. „Gewalt“ kann eine Gewaltspirale auslösen;115 sie kann aber auch als „Beendigungsmechanismus“ (Luhmann 1984: 537f.) eskalierender Gewalt funktionieren.116 Zu politischen „Lehren“ und weltanschaulichen Positionen verdichten sich „Pazifismus“ und „Realismus“ erst dort, wo von Handlungsgesetzen ausgegangen wird. Der Pazifismus verabsolutiert die unheilvolle Eskalationsmechanik, der „politische Realismus“ den heilsamen Frieden stiftenden Beendigungsmechanismus. 114
Ernst Tugendhat (1984: 60) bezweifelt mit Recht die Möglichkeit einer semantischen Zugangsweise zur Moralphilosophie mit dem Argument, man könne doch nicht im Ernst glauben, dass durch eine Analyse, wie man über Gutes und Schlechtes redet, ein Kriterium darüber zu gewinnen sei, was gut und schlecht ist. 115 Dies wird in einem philosophischen Ansatz, der den Gewaltdiskurs als Teil des Phänomens betrachtet, besonders deutlich. Siehe Hirsch (2004: 45f.): „Jede Situation, in der wir Anderen begegnen, ist interpretations- und auslegungsoffen und darum gibt es keinen Automatismus der Gewalt. Auf einen ganz bestimmten Reiz hin muß keiner instinktartig zum Schlag ausholen.“ 116 Heinz-Günther Stobbe (1993: 61) nennt als Bedingung dafür, dass Gewalt die Spirale unterbrechen kann, dass es sich um einen „frei gesetzten Akt der Gewalt“ handelt, der auch unterlassen werden könnte im Gegensatz zur Gewalttätigkeit, die den Kreislauf fortsetzt. Damit ist nach Stobbe Gewalt noch nicht sittlich gerechtfertigt. Aktionsfreiheit ist aber Voraussetzung für die moralische Bewertung.
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Diese offensichtlich von der Empirie nicht gedeckte Annahme, dass die Mittelwahl den Zweck gewissermaßen mit gesetzmäßiger Zuverlässigkeit determiniere, bedarf zu ihrer Bestätigung einer Methode der Entparadoxierung. Das impliziert Folgendes: Um an der Vorentscheidung angenommener Zweck/Mittel-Symmetrie festhalten zu können, müssen die offensichtlichen Abweichungen in der Realität aus der Perspektive eines übergeordneten Deutungskontextes relativiert werden. Geschichtsteleologische Deutungen liefern einen Rahmen, der die Tatsache verkraften lässt, dass es nicht in allen Gefahrenlagen möglich ist, auf Gewalt zu verzichten, um den Frieden zu sichern, weil die Diskrepanz, in der sich die vom Mittel verratenen Werte des Zwecks zur Idee des Friedens befinden, „aufs Ganze gesehen“ nicht ins Gewicht fällt. Wenn auch gegenwärtig und in diesem besonderen Fall Gewalt und selbst Krieg vonnöten sind – so die Argumentation – dann beziehen diese Aktionen ihre Funktion aus dem historischen Entwicklungsprozess, der als objektiver der subjektiven Mittelwahl seinen Stempel aufdrückt. Es sind also nicht die Menschen, die den Wert des Zwecks verraten, wenn sie sich des Mittels von gewaltsamen Kämpfen bedienen. Denn diese Mittel sind Negationen eines Negativen, das überwunden werden muss, um ein Besseres – eine Synthese – erzielen zu können.117 4.1.3 Zweck/Mittel-Symmetrie als Ergebnis von Lernprozessen Für jede beliebige These lassen sich hinreichende „Beweise“ in der Geschichte beschaffen.118 Das schlichte und leicht widerlegbare empirische Argument, gewaltlose Konfliktlösungsmethoden hätten in der Geschichte ihre Überlegenheit gegenüber gewaltsamen bewiesen, gewinnt jedoch ein anderes Gewicht, wenn die erfahrungsbedingte Ablehnung von Krieg in eine Theorie sozialen Lernens eingebettet wird. Es geht jetzt bei der Mittelwahl nicht mehr um eine Bewertung nach statistischen Gesichtspunkten der Häufigkeitsverteilung den Frieden fördernder und den Frieden verhindernder Wirkungen, denn eine bestimmte Wirkung ist noch vor ihrer empirischen Bestätigung einer Vorabwertung unterzogen worden. Wir stoßen hier auf einen Argumentationstypus, der seit den pädagogischen Vorstößen der Aufklärer, insbesondere Rousseaus, ein standardisierter Beschaffer von Plausibilitäten ist.119 Um eine Vorabwertung handelt es sich, da bestimmte Einstellungen als Ergebnis von Lernprozessen 117
Sibylle Tönnies (2006: 283) sieht den Grund für die Akzeptanz der Habermasschen Diskurstheorie bei einem großen Teil der Intellektuellen darin, dass er die westliche liberalistische Normalität mit dem Materialismus versöhnt habe. 118 Siehe dazu Reinhard Koselleck (2005). 119 Bereits der Anarchopazifist Bart de Ligt hat in den 20er Jahren des 20. Jh.'s die antimilitaristische Aktion als eine pädagogische Unternehmung verstanden, die von einer friedenserzieherischen Konzeption, der Vermittlung „neuer Methoden der Selbsterziehung und Selbstverwaltung“ getragen ist. Siehe dazu Jochheim (1977: 42f.). Eine christlich fundierte Friedenspädagogik vertritt zeitgleich Friedrich Wilhelm Foerster; siehe Donat (1987: 169).
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aufgewertet sind, andere Einstellungen gelten hingegen von vornherein als Weigerung zu lernen.120 Das pädagogische Schema von Lernen/Nichtlernen(wollen oder -können) wird als moralische Unterscheidung gehandhabt. Der Satz „Lernen ist besser als Lernverweigerung“ kommt ohne jede Begründung aus. Das pädagogische wird offensichtlich zu einer Zweitcodierung des moralischen Schemas. Dieser systemtheoretische terminus technicus gibt etwas wieder, auf das es uns in diesem Zusammenhang besonders ankommt. Die Unterscheidung einer Erst- und einer Zweitcodierung ist sinnvoll, wenn der Vorgang des unterscheidenden Bezeichnens – in diesem Fall von historischen Lernprozessen – und nicht nur das Resultat, das als „Lernen“ bewertete Endergebnis, beachtet wird. Wenn man auf die denkerische Tätigkeit des Unterscheidens reflektiert, dann tritt jene Reihenfolge klar zu Tage, die gewöhnlich in der Fixierung auf die Gegensätze Lernen/Lernverweigerung, völlig unbeachtet bleibt. Wird die kriegskritische Haltung als erfolgreiches Lernen verbucht,121 so liegt im allgemeinen Bewusstsein kein moralisierendes Sprechen vor. Tatsächlich aber ist die pädagogische eine moralische Semantik. Das Vorzuziehende wird nicht als ein im moralisches Sinne Gutes thematisiert, sondern auf eine Weise suggeriert, die nicht in Zweifel gezogen werden kann. Argumentationen hingegen, die sich einer moralisierenden Semantik bedienen und ganz unverhohlen die nichtgewaltsame Konfliktlösung als Verwirklichung des Guten ausgeben, müssten darauf gefasst sein, auf ihre Geltungsgründe hin befragt zu werden. Das wirft ein Licht auf zeitbedingte Akzeptanzchancen, die mit bestimmten Semantiken erhofft werden. Selbst religiöse Spielarten des Pazifismus, bei denen die moralische Verwerflichkeit verletzender Gewalt über jeden Zweifel erhaben zu sein scheint, stützen die Hauptlast der Begründung nicht auf die religiöse Ethik, sondern auf eine strategisch-zweckrationale oder eine pädagogische Logik. Wie die strategische Logik, so dient auch die pädagogische der Vermittlung einer moralischen Haltung, die sich angesichts der Relativität des „Guten“ in ein anderes – kontingenzbewusstes – Gewand kleiden muss. Diese zusätzliche Stütze, deren die Moral in modernen Gesellschaft bedarf, um nicht in den Geruch zu kommen, Wahrheitsansprüche geltend zu machen, firmiert unter dem Begriff der „Realitätsstütze“. Mit Realität im engeren Sinne hat die Zusatzbestimmung nichts gemein. Eher ist es so, dass Zweckrationalität (und mithin die strategische Logik), oder Ler120
In der Friedens- und Konfliktforschung haben Konzepte von positivem und negativem Lernen im Rahmen einer Auseinandersetzung zwischen methodischen Zugängen zur Aggressionsproblematik von Seiten behavioristischer und psychoanalytischer Sozialpsychologie, Eingang gefunden. Siehe Horn (1970, 1988). 121 Andreas Buro („Die Entstehung der Ostermarsch-Bewegung als Beispiel für die Entfaltung von Massenlernprozessen, in: Steinweg 1977, S. 50-78) spricht von Massenlernprozessen, die am kollektiven Bewusstsein für kriegsfördernde Probleme gesellschaftsstruktureller Art sichtbar werde, hinter das nicht mehr zurückgegangen werden könne. Unter demselben Paradigma fragt Buro 1982: „Kann die „neue“ von der „alten“ Friedensbewegung lernen? (in: Steinweg 1982, S. 401-417).
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nen (und mithin die pädagogische Logik), zum Ausdruck bringen, was die moderne Gesellschaft als Realität zu beurteilen gewillt ist. „Realität“ ist in diesem Sinne eine soziale Konstruktion, die sich bevorzugt auf die gerade zeitgemäße Semantik stützt. Dies lässt sich an einem Interview zeigen, in dem Eugen Drewermann seine pazifistische Haltung angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Herausforderungen durch den internationalen Terrorismus darlegt. In der Antwort auf die Frage: „Mit welcher Hoffnung, mit welchem Realitätsanspruch kämpfen Sie weiter als Pazifist?“ verweist er auf seine Erfahrung nach dem Ende des Vietnamkriegs, die ihn und seine Zeitgenossen davon überzeugt habe, der Krieg sei nun überwunden. „Wir glaubten, eine offene Gesellschaft, eine demokratisch verfasste Ordnung, würde das Militär und jedenfalls den Krieg nicht mehr akzeptieren.“ „Es war eine Menge an psychologischer, vor allem sozialpsychologischer Aufklärung getan worden. Es lag vor aller Augen, wie Kriege vorbereitet werden: Man polarisiert den Begriff der Menschlichkeit, fragmentiert die Zusammengehörigkeit der Menschen, projiziert alle Selbstablehnung der eigenen Person und Gruppe in den Gegner, man bildet sich ein positives Autostereotyp von der eigenen Gruppe und ein absolut negatives Heterostereotyp von der Gegnergruppe. Man benutzt heilige Begriffe der Religion, Moral, der politischen Kultur als Waffe im Kampf der Aufrüstung gegen den anderen. Man partikularisiert absolute und universelle Begriffe wie Menschlichkeit im Dienst der relativen Interessen des eigenen Bezugssystems. Das alles war so klar, dass man dachte, wir seien dagegen gefeit, dass sie derlei wieder mit uns machen würden.“ (Drewermann 2002: 59f.).
Das pädagogische und das strategische Schema liefern im pazifistischen Diskurs mit den Zielgrößen des „Lernens“ und der „Zweckrationalität“ eine wertende Maßeinheit. Es handelt sich um ein Maß, das seinen moralischen Charakter verhehlt und sich als „realitätsangemessen“ darstellt. Der Begriff des „Lernens“ und der Begriff der „Zweckrationalität“ können in gewisser Weise als Scharniere betrachtet werden, die Deskription und Präskription so in ein bewegliches Miteinander überführen, dass sowohl der empirische Test als auch die ethiktheoretische Begründung des Normativen entbehrlich erscheinen. Gerade am Pazifismus lässt sich beobachten, wie die sprachliche Praxis Denkverbote umgeht oder austrickst. Denn um nichts anderes handelt es sich, wenn der Verweis auf Lernprozesse oder auf zweckdienliche Effizienz von Begründungen entlastet. Nach dem modernen kontingenten Wahrheitsverständnis müssen nämlich zwei Kriterien erfüllt sein, um etwas als wahr anzuerkennen. Es muss sich in der Empirie bestätigen lassen und es muss von allen geteilt werden können. Das zweite Kriterium wird vom ersten aus bestimmt. Da der moderne Wahrheitsbegriff die empirische Validierbarkeit eines Sachverhalts verlangt, lassen sich in der Regel nur für solche Sachverhalte Konsens beschaffen, die empirisch bestätigt werden konnten. Wenn jedoch behauptet wird, die kriegskritische Haltung sei ein Ergebnis von historischen Lernprozessen, dann sind bloße Wiedergabe des Wirklichen und Formulierung einer normativen Zielgröße miteinander verschmolzen. Der deskriptive bestätigt den präskriptiven Teil der Aussage, was streng genommen nicht möglich ist, weil beide ihre bestätigende Begründung durch völlig unterschiedliche Methoden,
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nämlich empirisch-analytische und ethiktheoretische bzw. moralphilosophische erhalten. Das aufgeklärte Denken überlistet sich selbst, indem es Konstrukte ersinnt, die seine eigenen Auflagen an Wert und Wahrheit zu ignorieren erlauben. Dieses Muster trägt selbst dann noch, wenn der Sachverhalt, der als Ergebnis von Lernprozessen in gleicher Weise als wahr und normativ gegolten hatte, plötzlich nicht mehr vorhanden ist. Wir befinden uns heute in exakt dieser Situation. Denn der Sachverhalt „Kriegsablehnung“ ist seit dem ersten Golfkrieg, spätestens aber seit dem Kosovokrieg, entschwunden, um einem anderen Sachverhalt zu weichen, nämlich einem Ultimaratio-Denken, das nach den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki und definitiv nach dem Vietnam-Debakel als unzeitgemäß über Bord geworfen worden war. Da die pädagogische Logik den deskriptiven und den präskriptiven Anteil des „Sachverhalts Kriegsablehnung“ als Lernprozess vereinheitlicht hatte, kann man nicht zur moralischen Verurteilung des Krieges einfach zurückkehren, wenn die Ablehnung nicht mehr allgemein geteilt wird. Denn die Begründung hatte sich ja gerade nicht nur auf die Amoralität von militärischen Optionen, die atomar eskalieren konnten, gestützt. Sie hatte zudem unterstellt, dass die Aufklärung über psychosoziale und militärisch-organisatorische Zusammenhänge auf Dauer den Krieg als Institution diskreditieren müsste. Andernfalls wäre der Hinweis auf kollektive Lernprozesse ohne jeden Sinn geblieben. Innerhalb der pädagogischen Logik lässt sich der Meinungsumschwung deshalb nur als rückläufiger Lernprozess, als Prozess des Verlernens erklären. Handelt es sich nicht einfach um Vergessen und damit um ein unwillkürliches Verhalten, sondern um Absicht und Willkür, dann kann nur gezielte Desinformationspolitik den Entwicklungsprozess umkehren und die Bevölkerung in ein Stadium zurückversetzen, von dem angenommen worden war, es sei definitiv überwunden. Drewermann verlässt die pädagogische Logik nicht und benutzt damit weiterhin den Lernbegriff als Verbindungsstück, das Realität und Norm nicht mehr als getrennte gelten lässt. Die rückläufige Aufklärung bei der Bevölkerung verdankt sich einem Lernprozess auf Seiten des politisch-militärischen Systems, insbesondere des Pentagon: „Man hat gelernt, dass man einer offenen Gesellschaft nicht jeden Abend im Fernsehen die Panzer der eigenen Army in brennenden Bambusdörfern zeigen kann. Auf diese Weise will niemand „verteidigt“ werden. Daraus folgerte man aber nicht, die Panzer der USArmy abzuschaffen, sondern nur, die Kameras abzuschalten und nur noch zu senden, was dem Wehrwillen guttut.“ (Drewermann 2002: 60).
Diese Argumentation ist insofern in sich konsistent, als sie der pädagogischen Logik treu bleibt. Und wieder ist es die handlungsleitende Kraft des Lernbegriffs, mit der etwas normativ bewertetes Faktisches unterstellt wird, das jede Nachfrage erübrigt. In diesem Fall bezieht sich der Lernprozess jedoch auf etwas moralisch negativ Bewertetes, nämlich die Manipulation der Bevölkerung, die für den unbegrenzten Krieg gegen
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den Terrorismus gewonnen werden soll. Nun kann kaum in Zweifel gezogen werden, dass es diese Desinformationspolitik gibt, denn ohne eine solche ließe sich in der Tat kaum ein Aufrüstungsprogramm betreiben, wie es im gesamten Westen heute in vollem Gange ist. Was wir hier nur kritisch beobachten wollen, sind gewisse Ungereimtheiten, die sich durch die pädagogische Logik einschleichen und die zweifellos richtige Lageeinschätzung wieder Einwänden aussetzt. Denn der Lernbegriff findet bei Drewermann in einer zweifachen und durchaus widersprüchlichen Lesart Verwendung. Der historische Lernprozess, von dem im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg gesprochen worden war, bezog sich auf die kollektive Aufklärung über die tatsächlichen entmenschlichenden Wirkungen des Waffeneinsatzes und über kriegsfördernde Mechanismen. Wenn aber offene und aufgeklärte Gesellschaften das Instrument des Krieges nicht mehr akzeptieren können, dann impliziert dies einen Bewusstseinswandel, der die ganze Gesellschaft erfasst und nur so als „kollektives Lernen“ begriffen werden kann. Selbiges markiert ein Stadium, in dem der interessenbedingten Manipulation widerstanden wird. 4.1.4 Zum Verlust der moralischen Funktion des Lernbegriffs durch den Begriff negativen Lernens Der Lernbegriff bezeichnet, wie wir gesehen haben, etwas moralisch positiv Bewertetes und zugleich die Realitätstauglichkeit dieses Positiven. Gibt es jedoch auch ein negatives Lernen, so verliert der Lernbegriff genau diese Funktion, einen Sachverhalt – wie die Kriegsverweigerung – als normative Realität und als realisierte Norm in einem auszuzeichnen. Wenn es auch negatives Lernen gibt, dann ist das Vorzuziehende wieder kontingent: Es kann immer auch anders gewertet werden und ist somit nicht notwendig, weil der Realität angeblich angemessener. Diese den Lernbegriff diskreditierende Konsequenz lässt sich umgehen, wenn der sozialwissenschaftliche Charakter des Gegenstands bestritten und die Bewertungsmaßstäbe vom Gesundheitssystem bezogen werden. Es gibt dann „gesundes“ und „pathologisches“ Lernen. Diese Begriffe haben unter dem Einfluss der psychoanalytischen Sozialpsychologie in der Kritik der Abschreckungstheorie und -praxis im Rahmen der „Kritischen Friedensforschung“ eine große Rolle gespielt.122 Pathologisches Lernen meinte nichts anderes als negativ bewertete Selektivitätsverstärkung – ein Anschließen von Operationen an Operationen gleichen Typs.123 122
Siehe dazu Karl Deutsch, Dieter Senghaas, „Die brüchige Vernunft von Staaten“. In: Senghaas (1972: 105ff.); Horn (1988). Heute wieder Senghaas (2004). 123 Zur Bestimmung dieses Begriffs im Rahmen der neueren Systemtheorie siehe Niklas Luhmann (1984: 73ff.). Die Kritische Friedensforschung hatte nur ältere systemtheoretische Ansätze wie die Kybernetik Karl Deutschs und die struktur-funktionale Systemtheorie von Parsons rezipiert. Siehe dazu kritisch Brücher (2002: 79ff.).
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Der systemtheoretische Begriff der Selektivitätsverstärkung ist wertfrei, nicht aber der Begriff des Lernens. Wird „Lernen“ im Sinne von Selektivitätsverstärkung zu einem negativen Term, dann suggeriert dieser Begriff, dass ein genuin positiver Prozess missbraucht wird, um unlautere Ziele zu verwirklichen. Genau dies ist der heimliche Sinn des Sprachgebrauchs. Damit ist jedoch der Sachverhalt selbst, die große Akzeptanz militärischer Konfliktlösungsmodi verschwörungstheoretisch verkürzt. Für diese Sichtweise gab es große Akzeptanzchancen in einem vom Neomarxismus geprägten intellektuellen Klima. Mit dem Wechsel intellektueller Moden nach der „Wende“ treten gewisse konzeptionelle Unstimmigkeiten zutage, die zuvor unbemerkt geblieben waren. Nicht an der Tatsache änderte sich etwas; auch heute gibt es jene mächtigen Interessen, die kriegstreibend wirken. Aber dieser Hinweis auf interessenbedingtes Handeln diskreditiert dieses Handeln auffälliger Weise nicht länger, wird es von einer neoliberal gestimmten Öffentlichkeit doch honoriert, Interessen zu haben und machtvoll zur Geltung zu bringen. Um diese historische Pendelbewegung vom Pazifismus zum Bellizismus und vom Bellizismus zum Pazifismus, ins rechte Licht rücken zu können, bedarf es zunächst einer entsprechenden Sensibilität für subtile Umschwünge. Allein eine solche ist nur möglich, wo die „Gründe und Ursachen“ der Kriegsbegeisterung nicht einfach in einem Mangel an Friedenserziehung, an Friedensinstitutionen, an Friedenskultur und Friedenswirtschaft vermutet werden. Denn andernfalls bliebe unverständlich, weshalb der Bellizismus der Weltkriege zunächst vom Bildungsbürgertum getragen und propagiert wurde. Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, Paul Heyse, Alfred Baeumler, Ernst Jünger priesen die erneuernden Kräfte, die marode und verweichlichte Gesellschaften einem Krieg verdanken.124 Das friedensphilosophische Engagement sucht in erster Linie Bedingungen herzustellen, unter denen Dilemmasituationen gar nicht entstehen. Offensichtlich aber sind die „Gründe und Ursachen“ nicht so ohne weiteres aus der Welt zu schaffen. Gerade bei den häufig angeführten Syndromen Xenophobie, Nationalismus, wirtschaftlicher Niedergang, Kapitalakkumulation, unkontrollierbare private Rüstungsproduktion, können wir heute sehen, dass diese Phänomene durch semantische Verschiebungen unkenntlich gemacht werden, sodass man sich weiterhin an die Ideale der Aufklärung gebunden fühlen kann. Unverändert wehrt man Fremdenfeindlichkeit, aber man pflegt seit dem 11. September Wachsamkeit gegenüber Mitgliedern islamischer Kultur und Religion, denen eine gewisse Prädestination zum Selbstmordattentat angesichts der Verheißungen unterstellt wird, die der Koran dem Märtyrer nach dem Tode macht. Dass sich ganz analoge Stellen in der Bibel finden und dass sich namhafte islamische Schriftgelehrte gegen eine solche Identifikation des passiv
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Zum Einfluss der Intellektuellen vor dem ersten Weltkrieg im Sinne einer „geistigen Mobilmachung“ siehe Flasch (2000); zu den zeitgenössischen Parallelen Flasch (2003).
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den Tod erleidenden Märtyrers mit dem aktiv tötenden Selbstmordattentäter verwahren, kann den Terrorismusdiskurs kaum beeinflussen.125 Auch der Kampf gegen die zweite „Ursache“ kriegerischer Neigungen, den Nationalismus, wird bruchlos insbesondere in den Bestrebungen fortgesetzt, supranationale Institutionen zu stärken und nationale Zusammenschlüsse, wie die „Europäische Union“ zu fördern. Dieses Plädoyer für die „postnationale Konstellation“ (Habermas 1998) lenkt ab von den wahren Verschiebungen, die den nationalistischen Affekt ganz unbeschadet lassen, weil sie ihn an einen unverdächtigen Ort verlegt haben. So scheint heute das Bekenntnis zum „Patriotismus“ und stärker noch zum „Verfassungspatriotismus“ keinerlei Ähnlichkeit mit dem verfemten Nationalismus aufzuweisen, weil die emotionale Bindung nicht dem „Deutschen Reich“, sondern „Europa“ oder „Amerika“ und mithin einem Konstrukt gilt, das seiner Selbstbeschreibung gemäß „universale“, weil durch Verfahren – Diskurs, Recht – zustandegekommene Werte proklamiert. Damit entsteht das Problem des Umschlagens universaler in partikulare Zwecke im Moment der Interpretation und praktischen Umsetzung dieser universalen Werte. Gerade dieser Umschlag bewirkt, dass ein Bekenntnis zum „Patriotismus“ analoge Abgrenzungsbedürfnisse gegen einen „unzivilisierten“, „rückständigen“ „rest of the world“ erzeugt wie einstmals der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine solche Problembeschreibung, die die eminenten Schwierigkeiten einer Wiedererkennung der „Gründe und Ursachen“ in einer ganz anderen politischen Semantik und einer ganz anderen zeitgeschichtlichen Situation benennt, ist freilich im Rahmen einer zivilisationstheoretischen Friedenstheorie nicht zu erwarten. Denn diese geht davon aus, dass Gewalt eine Folge von unzureichender Informiertheit, von Erziehungs- und Bildungsmängeln sowie von fehlenden Institutionen ist, die „Friedlichkeit“ als enttäuschungsfeste Erwartung „auf Dauer stellen“.
4.2 Atompazifismus Was wir heute als Atompazifismus bezeichnen, ist ein situativer Pazifismus, der weniger aus gewissen unverrückbaren moralischen Prinzipien seiner Anhänger und mehr aus der nüchternen Einschätzung der Bedingungen resultiert, unter denen im Nuklearzeitalter allein Krieg geführt werden kann. Die strikte Ablehnung des Krieges als Mittel der Konfliktlösung, der Interessenverfolgung und selbst der Verteidigung verdankt sich also weniger einem pazifistischen Bekenntnis zum absoluten Wert des menschlichen Lebens und damit zur Zweck/Mittel-Symmetrie, die verbietet, den Frieden mit unfriedlichen Mitteln erreichen zu wollen. Sie verdankt sich ausschließlich einer realistischen Einschätzung der exorbitanten Zerstörungskraft von ABC-Waffen, 125
Zu einer differenzierten Sicht siehe den Arabisten Eckehard Schulz, „Wie wirkt der Anti-TerrorKrieg in der arabischen Welt?“ In: Meggle (2003: 191ff.).
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die als prinzipiell unverhältnismäßig eingestuft werden, gleichgültig, wie hoch der Wert politischer Ziele auch sein mag. Im Hinblick auf die nicht auszuräumende Gefahr, dass selbst konventionell geführte Kriege atomar eskalieren, haben die Kirchen qua moralische Instanzen die Lehre vom gerechten Krieg für obsolet erklärt.126 Nuklearwaffen galten als per se unverhältnismäßig. Unter dem Damoklesschwert atomarer Bedrohung konnte sich während des Ost/West-Konflikts deshalb ein pazifistischer Grundkonsens entwickeln. Gehegte Stellvertreterkriege und Kolonial- bzw. Befreiungskriege galt es hingegen als Ausnahmen von dieser Normalität des Strebens nach Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht überzubewerten.127 Das Friedensdenken dieser Zeit ist durch Expertisen der Friedens- und Konfliktforschung geprägt, die sich grundlegend von der Problembeschreibung nach Beendigung des atomaren Patts unterscheidet. Mochte man bisher, das heißt vor den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki in der Einschätzung von Rationalität und Legitimität der Mittelwahl politische Nützlichkeitserwägungen mit ethischen Maximen zu verrechnen suchen, wozu die Differenz von Gesinnungsund Verantwortungsethik diente, so schien sich dieses schwierige Geschäft des Abwägens ein für allemal erledigt zu haben. Die entscheidende Umorientierung betrifft aus diesem Grund einen Wechsel der Blickrichtung weg von einer Spezifizierung der Bedingungen des Gewalteinsatzes (gute Absicht, Verhältnismäßigkeit, Schonung der Zivilisten) hin zur Spezifizierung der Bedingungen des Friedens (Demokratisierung).128 Diese Umorientierung ist eine Zäsur, die alle den Frieden betreffenden Themen ganz aus der ethisch und moralphilosophisch orientierten Irenik herauslösen lässt. Den Frieden betreffende Fragen werden nun als Gegenstand der positiven Wissenschaften neu zu fassen gesucht. Der Pazifismus erübrigt sich damit in einer gewissen Weise, zumindest soweit er an einer ethisch-religiös geforderten Gewaltfreiheit orientiert ist. Sobald Gewaltverzicht nämlich durch die Verhältnisse aufgezwungen ist, bedarf es nicht länger einer Lehre und Bewegung, die den Verlust gesamtgesellschaftlicher Moral durch eine Ideologie kompensiert und all das verlangt, was in vormodernen westlich-abendländischen Gesellschaften idealiter von den Religionen eingefordert wurde. In dieser nuklearpazifistischen Phase durchlebt der Pazifismus einen Gestaltwandel. Er stirbt nicht einfach ab und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Zum einen verschwindet das alte militaristische Denken nicht schon dadurch, dass das Ende der Gewaltpolitik von Seiten der Friedensforschung deklariert wird. Zum ande126
Im Hirtenbrief der Deutschen Bischofskonferenz von 1983 „Gerechtigkeit schafft Frieden“ wird die Lehre vom gerechten Krieg in ihrer klassischen Form verabschiedet. 127 Für den US-amerikanischen Philosophen und Friedensaktivisten John Sommerville (1973) darf Pazifismus nicht „total“ sein, sondern muss sich in seiner Ablehnung auf den omnicid konzentrieren. 128 Dieser Wechsel wird an anderer Stelle in seinen vielfältigen Implikationen für den Friedensbegriff und das Selbstverständnis der Friedens- und Konfliktforschung nachgezeichnet, siehe Brücher (2002: 79ff.).
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ren zeigt sich die Bellizismus/Pazifismus-Kontroverse als unendlich regenerationsfähig. Sie findet ihre Fortsetzung im Streit über die Frage, ob die Abschreckungspolitik und -praxis sowohl legitim als auch effizient sein kann. In ihrer Effektivität wurde die Drohung mit Atomwaffen als Mittel der Kriegsverhütung in Zweifel gezogen angesichts der großen Gefahr, dass Abschreckung versagt und eine die Menschheit vernichtende apokalyptische Katastrophe heraufbeschwört. Es muss daran erinnert werden, dass die Funktionsweise des Abschreckungssystems der Öffentlichkeit in dem viel beachteten Buch Herman Kahns „Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale“ aus dem Jahr 1967 nahe gebracht worden war. Nach Kahn weist die Eskalationsleiter 44 Sprossen auf, die noch einmal in 7 Kategorien aufgeteilt sind, welche wiederum eine wechselnde Zahl von Sprossen aufweisen: 1. Schritte unterhalb der Krisenschwelle 2. Traditionelle Krisen 3. Intensive Krisen 4. Bizarre Krisen 5. Exemplarische zentrale Angriffe 6. Militärische Zentralkriege 7. Zivile Zentralkriege. Diese sieben Gruppen werden durch sechs Zwischenräume voneinander getrennt, metaphorisch „Brandmauern“ oder „Schwellen“: 1. Gefahr für das Gleichgewicht 2. Der Atomkrieg ist undenkbar 3. Kein Einsatz von Atomwaffen 4. Zentrale Schutzstätte 5. Zentraler Krieg 6. Angriff auf Städte. (Kahn 1967: 76f.). Die Rasanz der Entscheidungsabläufe verhindert in einer Gefahrenlage, wo es auf Reaktionen in Sekundenschnelle ankommt, innerhalb eines komplexen Aktions/Reaktions-Modells „rational“ abzuwägen. Es wurde deutlich, dass nicht jede den Gewalteinsatz erhöhende Eskalationsstufe durch politisch-militärische Entscheidungsprozesse faktisch unterbrochen werden konnte, dass vielmehr im Krisenfall eher eine mechanische Stufenabfolge zu erwarten war. Einmal in Gang gesetzt, schien der Homozid keine Entgleisung mehr, sondern die stringente Folge eines nach eigenen Gesetzen ablaufenden militärischen Funktionsganzen. Die große Zahl der Kriege, die unterhalb der atomaren Schwelle geführt wurden, aber auch das grundlegende Spannungsverhältnis von Normen (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) und Zielkonflikten („gutes Leben“ in Demokratien vs. Überleben) (Krell 1984: 54ff.) schien die überkommenen ethischen Fragen von Güterabwägung und Zweck/Mittel-Relation nicht zu erübrigen.129 Mit einer gewissen Normalisierung setzte die Verdrängung der sicherheitspolitischen Gefahren ein. „Normalität“ wird gewöhnlich mit einem hohen Maß an Erwartbarkeit (des reibungslosen Ablaufs) verknüpft. Der Ausnahmezustand zeichnet sich hingegen durch Erwartungsunsicherheit aus, einer den Alltag strukturierenden Antizipation gefährlicher Ereignisse. Phasen hoher Erwartungssicherheit korrelieren mit einer psychosozialen Verfassung, die der Machbarkeit einen hohen Stellenwert einräumt, während Phasen hoher Erwartungsunsicherheit die Macht der Verhältnisse in den Vordergrund rücken lässt. So sahen sich die Menschen der fünfziger Jahre waffentechnologischen Fortschritten ausgeliefert, die seit den Atombombenabwürfen der Amerikaner auf Hiro129
Siehe zur Politik und Ethik der Abschreckung Böckle/Krell (1984).
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shima und Nagasaki in ihrer massenmörderischen Dimension als neue Bedrohung bewusst wurden. Vor diesem Hintergrund war die „Ohne mich-Bewegung“ als der erste öffentliche Protest der Nachkriegszeit gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik verständlich.130 Zu einer breiteren Protestbewegung, der „Kampf dem Atom-Tod-Kompagne“ entwickelte sich diese seit Wiederbewaffnung und Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1956 als eine Neuauflage der PaulskirchenBewegung unter Aufnahme von Plänen für eine atomwaffenfreie Zone.131 Das mit den Atomversuchen der Sowjetunion im Jahre 1956 hergestellte atomare Patt ließ angesichts der ideologischen Feindschaft der Großmächte UDSSR und USA einen atomaren Schlagabtausch befürchten und die Vision eines atomar ausgelösten Homozids politikbestimmend werden. Der Atompazifismus wurde infolgedessen zu einer verbreiteten gesellschaftlichen Grundhaltung, in der Rationalitäts- und Legitimitätsdiskurs ununterscheidbar geworden waren. Denn es schien schlechterdings kein politisches Ziel mehr vorstellbar, das die Vernichtung der Menschheit als verhältnismäßiges Mittel hätte formulieren lassen.132 Von nun an galt die „Lehre vom gerechten Krieg“ als obsolet. Keines ihrer Kriterien schien unter den neuen waffentechnischen Bedingungen noch erfüllbar, weder die causa iusta (der gerechte Zweck) noch die intentio recta (gute Absicht) noch die Proportionalität (Verhältnismäßigkeit der Mittel) noch die Immunität der Nichtkombattanten (Schonung der Zivilbevölkerung). Das Bekenntnis zum Pazifismus als Verzicht auf den gewaltsam-militärischen Konfliktaustrag verlor jeden gesinnungsethischen Anstrich und zeigte sich als nüchtern-realistische verantwortungsethische Option,133 die auf objektive Verhältnisse und nicht auf subjektive Moralvorstellungen reagiert. Selbst die konträre kämpferisch antikommunistische Devise „Lieber Tod als Rot“ wurde ganz von der Logik der Abschreckungsdoktrin absorbiert, sodass die demonstrierte Entschiedenheit des Atomwaffengebrauchs nur von ihrer Funktion her legitimierbar war, die Glaubwürdigkeit der eigenen Abschreckung zu erhöhen und damit den Frieden zu sichern. Auch auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“ distanzierte sich die politische Führung von der Vorstellung, es könne im Atomzeitalter gerechte Kriege geben, eine Vorstellung, an der noch Lenin im Falle von Waffengängen festgehalten hatte, die der Emanzipation des Proletariats zugute kommen. 130
Die Motive dieser Bewegung waren sehr heterogen: Trotzreaktionen eines durch die Niederlage verunsicherten Nationalismus, traditioneller Antimilitarismus, christlich begründeter Pazifismus (Martin Niemöller). Siehe Holl (1988: 223ff.). 131 1960 wurde die Deutschen Friedensunion (DFU) als eine sozialdemokratische, zunehmend kommunistisch unterwanderte Splitterpartei gegründet, die sich u.a. für die Kriegsdienstverweigerung einsetzte, vgl. Holl (1988: 228). 132 Diese Zeitstimmung drücken aus: Günther Anders (1992), Georg Picht (1980); Henrich (1990). Zu Anders siehe Lütkehaus (1992). 133 Es muss daran erinnert werden, dass Max Weber (1919) in seiner Rede „Politik als Beruf“ das Gesinnungsethische an Pazifisten illustriert.
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Eben jene waffentechnologischen Forschritte, die Pazifismus und Bellizismus als polare Positionen zugunsten des Pazifismus aufgehoben hatten, waren es, die kriegerische Mittel des Konfliktaustrags mitunter wieder rehabilitierten. Die Entwicklung immer zielgenauerer und treffsicherer, darüber hinaus miniaturisierter Atomwaffen mit geringerer Destruktivkraft machte die Verhältnismäßigkeit kriegerischer Methoden wieder zu einer umstrittenen Frage. Zugleich geriet die Abschreckungspolitik angesichts der drohenden Gefahr ihres Versagens ins Kreuzfeuer der Kritik. Einerseits trat mithin eine gewisse Normalisierung ein, mit der sich das öffentliche Stimmungsbarometer wieder in Richtung zunehmenden Vertrauens in die Kalkulierbarkeit des Gewalteinsatzes und damit die Machbarkeit politisch-gesellschaftlicher Verhältnisse bewegte. Diese machten sich insbesondere US-amerikanische Strategen zu nutze, die dem Westen in der Eindämmung der „kommunistischen Gefahr“ keine Fesseln auferlegen wollten und selbst mit der Option eines Dritten Weltkrieges als vermeintlich einzigem Instrument zur Überwindung des Totalitarismus – wofür der Zweite Weltkrieg als empirische Bestätigung angesehen wurde – spielten. Andererseits lieferte der unüberwindliche Systemantagonismus und ein damit verbundenes wechselseitiges Misstrauen immer neue Anlässe zur Vergegenwärtigung einer Kriegsgefahr, die angesichts des im Abschreckungsmodell vorgesehenen abgestuften Gewaltgebrauchs die drohende Eskalation von konventionellen zu ABC-Waffen vor Augen führte. Diese Angst vor einem atomaren Schlagabtausch beherrschte die Öffentlichkeit insbesondere während der Nachrüstungsdebatte134 zwischen 1979 und 1983, die die Implementierung atomarer Mittelstreckenwaffen nicht verhindern konnte. Am Nato-Doppelbeschluss wurde die Vorneverteidigung kritisiert, die mit der Kriegsführungsfähigkeit die akute Kriegsgefahr erhöhte. 4.2.1 Metamorphosen des Atompazifismus: Weltgewaltmonopol Das politikleitende Schema von Normal- und Ausnahmezustand ist in eine Temporalstruktur eingebettet, die über die Art und Weise des Voranschreitens von Geschichte Auskunft gibt. Für Zeitdiagnosen stehen historisch-dialektische, evolutions- oder zivilisationstheoretische Modelle zur Verfügung. Die historisch-dialektische Geschichtsbetrachtung, die den Verlauf als konflikthafte Abfolge von These (Normalität), Antithese (Ausnahme) und Synthese (Fortschritt) denkt, hat nach dem Scheitern des Realsozialismus seinen Erklärungsanspruch eingebüßt. Die evolutionistische Betrachtung konzipiert Geschichte als einen dynamischen Prozess, in dem die Mechanismen der Variation (Ausnahme), der Selektion (Normalisierung) und der Stabilisierung (Normalität) zur Wirkung gelangen. Die zivilisationstheoretische Geschichtsdeutung (Elias 1976) ist wie die dialektische fortschrittsoptimistischer Natur, wobei das ideale End134
Siehe ausführlich Lutz (1981), Mechtesheimer (1981). Zum Zusammenwirken von Friedensforschung und Friedensbewegung z.Z. der Nachrüstungsdebatte siehe Wasmuht (1998: 294ff.).
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stadium eines Weltgewaltmonopols (Normalität) als das Ergebnis eines Prozesses von Ausscheidungskämpfen (Ausnahme) erwartet wird. Dieser Prozess, in dem die jeweils größeren die kleineren Einheiten absorbieren, wird ebenso konflikt- und gewaltträchtig gedacht, wie im historisch-dialektischen Fortschrittsmodell. Nachdem das Projekt der Moderne nicht mehr in zwei einander bekämpfenden Varianten existiert, sondern nur noch als politisch-wirtschaftlicher Liberalismus, haben sich die politikbestimmenden Kampffronten verlagert. Hatte im Ost-WestKonflikt jedes der beiden Gesellschaftssysteme das Vermächtnis der Aufklärung für sich in Anspruch genommen, sodass es nur um die Frage zu gehen schien, ob die Menschheit durch Betonung des Individualsubjekts oder durch Betonung des Kollektivsubjekts vollendet würde, so sieht sich nun plötzlich dieses Menschen- und Weltbild selbst Zweifeln ausgesetzt. Diese kommen zunächst nicht von anderen Kulturen, insbesondere vom moslemischen Teil der Weltbevölkerung, wie häufig behauptet wird. Die Zweifel kommen von den westlichen Ländern selbst, die im Zuge der Aufklärung über die metaphysischen Grundlagen der Subjektkonzeption des Menschen postmodern geworden waren. Denn nicht im Sinne eines empirisch feststellbaren Faktums ließ sich die Vernunft als handlungsleitende Kraft nachweisen. Vernunft wurde in ihren metaphysischen Zügen einer bloßen Idee erkennbar. An die Stelle des verlorenen kommunistischen Feindes ist zunächst also ein gewissermaßen innerer Feind in Gestalt fundamentalkritischer Verunsicherung des liberalen Projekts getreten. Bevor es jedoch zu einem Überdenken des eigenen Gesellschaftssystems und in der Folge zur Auflösung der NATO als angemessene Antwort auf die Auflösung des Warschauer Pakts kommen konnte, wurde ein Weg eingeschlagen, der erlaubte, die alten Bedrohungsszenarien in neue zu überführen. Der „Kalten Krieg“ wurde durch einen „kalten“ Zweifrontenkrieg ersetzt, in dem die liberale Weltgesellschaft gegen alles kämpft, das sie von innen und außen bedroht. Da das Projekt der Moderne mit der Subjektwerdung des Menschen – Autonomie, Selbstverwirklichung, Freiheit – identifiziert wird, dieses Subjekt als Idee und als Praxis jedoch nur als Zweiseitenform, als Einheit der Unterscheidung von Individual- und Kollektivsubjekt denkbar ist, hat mit dem Ende des Realsozialismus dieses Menschenbild einen konstituierenden Teil verloren. Die Aufgabe, die der übrig gebliebene Westen nun zu leisten hat, könnte größer nicht sein. Sie besteht darin, ein System nicht nur gegen Anfechtungen zu immunisieren, sondern als weltgestaltendes einzig mögliches zu behaupten und durchzusetzen, dessen Selbstverständnis im Wesentlichen von der Abgrenzung gegenüber dem kollektivistischen Systemtypus geprägt war. Als Ausweg aus dieser Identitätskrise bietet sich eine Reformulierung des politischen Code an. Der veraltete Ost/West-Code wird durch den neuen „Orient/Okzident-Code“ ersetzt, der zwar auf den alten osmanisch-christlichen Kulturkonflikt zurückgreift und insofern nicht wirklich neu ist, der in der gegenwärtigen politischen Semantik als vergessenes Gut jedoch unverbraucht wirkt. Damit wird es möglich, an die überkommenen Bedrohungsanalysen anzuschließen und entsprechend die Atomkriegsgefahr wieder ins Zentrum zu rücken. Da mit der Sowjetunion als einer den
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USA ebenbürtigen atomar gerüsteten Supermacht auch das Abschreckungssystem zusammengebrochen ist, existiert diese Gefahr nicht als faktische, sondern nur als mögliche für den Fall, dass dem Westen feindlich gesonnene Regime Atomwaffen entwickeln, oder Terroristen sich Zugang zu selbigen verschaffen. Da „Feindschaft“ aber keine fixe ontologische Kategorie ist, vielmehr mit jedem Regierungswechsel über Nacht entstehen kann, verlieren Bedrohungsanalysen jeden Rückhalt in einer kalkulierbaren politischen Realität. Dem apokalyptischen Szenario einer Vielzahl von Atommächten, die unter Drohung mit „der Bombe“ die Weltgemeinschaft zu erpressen in der Lage sind, setzen die USA die strategische Option von Präventivkriegen. Diese richten sich gegen Staaten, die als „Schurken“ eingestuft werden. Allein die Gefahr, dass feindlich gesonnene Staaten sich atomar bewaffnen, oder aufgrund ihrer industriell-technischen Entwicklung in der Lage wären, ABC-Waffen zu produzieren, wird in durchaus realistischer Weise so hoch eingeschätzt, dass Fehlanalysen bezüglich bestehender Gefahren und selbst lancierte Falschinformationen – wie im Falle des Irak – nicht in der Lage sind, Militärschläge zu delegitimieren, mit denen feindliche oder auch nur unsichere Länder unter die Kontrolle westlicher Sicherheitskräfte gebracht werden.135 Dies ist die Lageeinschätzung, die einem kriegerisch metamorphisierten Atompazifismus zugrunde liegt. Dieser betont den pazifistischen Charakter der Monopolisierung weltweit zerstreuter Gewaltpotenziale in Analogie zur frühneuzeitlichen Situation, die mit dem Hobbesschen Modell der Entprivatisierung der Gewalt und deren Übertragung auf einen staatlichen Souverän als Meilenstein in der Zivilisierung der Menschheit gedeutet wird. Wichtig ist zu betonen, dass dieses Plädoyer für eine „Weltgewaltordnung“, eine „Weltregierung“ bzw. ein „Weltgewaltmonopol“ als Plädoyer für die welteinheitliche Geltung des Prinzips nichtgewaltsamen Konfliktaustrags in den Augen seiner Verfechter als pazifistisch erscheint. Eine paradoxe Vorgehensweise, die den Frieden durch Krieg zu erreichen sucht, bedarf geeigneter Denkfiguren, die entparadoxierend wirken. Das geschieht, indem eine zeitliche Komponente zwischen die beiden einander widersprechenden Begriffe geschoben wird, sodass die Pole als entzerrte nicht mehr aufeinander stoßen. Diese Lösung greift in der Regel auf geschichtsphilosophische Annahmen in der Tradition Hegels zurück. Der Krieg erscheint jetzt nicht mehr als der Gegenpol des Friedens, sondern als Moment eines objektiven Entwicklungsprozesses, demgegenüber die politischen Akteure nur Ausführungsorgane sein können. Sobald der Friedensbegriff mit dem gesamten Prozess in Verbindung gebracht wird, der sich aus einzelnen Schritten der Herstellung und Konsolidierung des Friedens zusammensetzt, ist die 135
Prototypisch für diese Position ist die Haltung von Walter Laqueur, der als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats am Center for Strategic and International Studies in Washington großen Einfluss auf sicherheitspolitische Optionen und deren Rezeption in den Massenmedien (u.a. Laqueur 2002) ausübt. Er hält angesichts der weltweiten Gefahren „Tatenlosigkeit“ für schlimmer als „unberechenbare“ militärische Optionen.
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Unterscheidung von Zwecken und Mitteln durch die Unterscheidung von vorher und nachher überlagert. Nicht mehr einer zweckrationalen, sondern einer temporalen Logik gehorcht dann auch die Begrifflichkeit, mit der die einzelnen Schritte benannt werden. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass es keinen distinkten Unterschied zwischen Frieden und Krieg mehr gibt. Kategorien wie „Ausscheidungskämpfe“, „humanitäre Intervention“, „Frieden schaffende Maßnahmen“ wirken tendenziell entgrenzend. Der Zusammenbruch des Realsozialismus und die Annäherung der Länder des Warschauer Pakts an das westliche Gesellschaftssystem, schienen seit dem Jahr 1989 zunächst die Bedingungen zu beseitigen, die den Atompazifismus hervorgebracht hatten. Nachdem die Bedrohungsanalysen mit der selbstgewählten Metamorphose des feindlichen in ein dem Westen freundlich gesonnenes System gegenstandslos geworden waren, kehrte die Politik des siegreichen Westens wieder zur traditionellen Interessenpolitik zurück. Für diesen Prozess der Normalisierung,136 der die Selbstfesselung der Gewaltpolitik beendete, steht der 2. Golfkrieg gegen Saddam Hussein, den George Bush als „Beginn einer neuen Weltordnung“ verstanden wissen wollte. Diese zeichnete sich in den Augen der „altkonservativen“ amerikanischen Rechten als Herrschaft des Rechts über die Gewalt aus, die Angriffkriege – wie den von irakischer Seite gegen Kuwait geführten – von der Weltgemeinschaft nicht mehr zu tolerieren beabsichtigte. Die Diskussion über die „Neue Weltordnung“ erweckte über die wieder eingeführte bellum-iustus-Doktrin auch die alten Polaritäten pazifistischer und realistisch/ bellizistischer Grundhaltungen zu neuem Leben. Ausschlaggebend wurden nun wieder „gute Absicht“, „gerechter Grund“, „Verhältnismäßigkeit der Mittelwahl“ und die „Schonung der Zivilbevölkerung“. Zwar gingen in Bezug auf alle diese Legitimitätskriterien die Meinungen auseinander, aber es kristallisierten sich dominante Strömungen heraus, die europäische und US-amerikanische Öffentlichkeit nach außen hin ein einigermaßen konsistentes Bild vermitteln ließen. Sympathien und Loyalitäten richteten sich freilich zunächst nach parteipolitischen Gesichtspunkten und damit nach homogenen politischen Semantiken, die die Kriterien der gerechten Kriegführung nach den wertehischen Standards der jeweiligen politischen Tradition bestimmen ließen. So bewegte sich die Gewalt legitimierende Sprache des US-amerikanischen Establishments anlässlich des 2. Golfkrieges in Sprachbildern, die dem Legitimationsdiskurs der überwiegend sozialdemokratisch und sozialistisch regierten europäischen Länder unvereinbar war. Dies mag der Hauptgrund für ein Aktivwerden der Friedensbewegung gewesen sein. Die Bombenangriffe auf Jugoslawien im Jahre 1999, mit denen der kosovoalbanischen Separatismus gegen die jugoslawischen Sicherheitskräfte unterstützt 136
Diese Normalisierung findet freilich vor dem Hintergrund einer sukzessiven Legitimation des Militärs durch jede neue Krise statt. Siehe dazu Becker (2001: 5ff.).
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werden sollte, wurde hingegen von einer Menschenrechtsrhetorik begleitet und konnte sich infolgedessen der Solidarität verfassungspatriotischer Bevölkerungsteile versichern. Die völkerrechtlichen Probleme, die mit einer Missachtung des in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Gewaltverbots auftreten mussten, konnten mit rechtspazifistischen Legitimitätsfiguren, die weltbürgergesellschaftliche bzw. weltinnenpolitische Zustände antizipieren, umschifft werden. Dabei gelang ein gemeinsames Vorgehen von europäischen Alliierten und US-Amerikanern, da dem Demokraten Bill Clinton keine hegemonialen Interessen, sondern humanitäre Ziele unterstellt wurden. Die Terroranschläge auf World Trade Center und Pentagon am 11. September 2001 änderte an dem neuen als Rechtspazifismus auftretenden humanitären Interventionismus zunächst nichts, im Gegenteil; sie schienen die neuartige Handhabung der Differenz von Pazifismus und Bellizismus eher noch zu konsolidieren angesichts der Tatsache, dass sich die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit nahezu ausschließlich auf die Opfer richtete. Diese politikleitende Perspektive ließ den deutschen Bundeskanzler Helmut Schröder von einer „uneingeschränkten Solidarität“ sprechen, die bei der neu gewählten US-amerikanischen Regierung unter dem Republikaner George W. Bush Begehrlichkeiten hinsichtlich weitgehender Unterstützung bereits geplanter Feldzüge gegen Afghanistan und den Irak wecken musste. Die rechtspazifistische causa iusta des 2001 begonnenen Afghanistankrieges, die das Ergreifen des international gesuchten Terroristen Bin Laden zum Ziel hatte, geriet noch nicht in Widerspruch zum neuen Rechtspazifismus. Erst der mit fadenscheinigen und nach und nach falsifizierten Gründen gerechtfertigte Angriffskrieg gegen den Irak im Jahre 2003 ließ den neugewonnenen belli-pazifistischen Konsens zerbrechen und bei den Europäern kriegskritische Töne vernehmen, wie sie anlässlich des 2. Golfkrieges zu hören gewesen waren.137 Sowohl Rechts- als auch Nuklearpazifismus betrachten die Globalisierung im Prinzip als friedenssichernden Trend, aber nur unter der Voraussetzung, dass dieser nicht beim Wirtschaftssystem stehen bleibt, sondern alle anderen Subsysteme erfasst. Mit der Globalisierung des gesamten funktional differenzierten Gesellschaftssystems verbinden sich Hoffnungen, die gegenwärtig zu beobachtenden Fehlentwicklungen durch eine Stärkung globaler Politik und globalen Rechts, aber auch durch die Globalisierung von Wissenschaft und Bildung korrigieren zu können. Hier gibt es allerdings unterschiedliche Prioritäten: Das „Weltbürgerrechtsmodell“ lässt stärker in den Kategorien der Globalisierung des Rechtssystems denken und das „Weltgewaltmodell“ stärker in den Kategorien einer Globalisierung des politischen Systems. Dieses ist als ausdifferenziertes Funktionssystem Grenzen sprengend und damit transnational. Das Modell der „Weltinnenpolitik“, in dem das Zusammenspiel der globalisier137
S. Tönnies (2006: 280f.) sieht den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak als eine Folge des „Dammbruchs“ der Aushöhung des Völkerrechts, den die europäische Initiative zum Angriff auf Jugoslawien bewirkt hatte.
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ten Funktionssysteme hervorgehoben wird, misst von der Anlage her der Wirtschaft im euphemistischen Topos der „Verteilungsgerechtigkeit“ ein größeres Gewicht bei. 4.2.2 Die soziale Entparadoxierung der Zweck/Mittel-Symmetrie Allen Varianten des Pazifismus geht es um eine Annäherung an die Zweck/MittelSymmetrie des Friedens mit friedlichen Mitteln. Sofern der Pazifismus jedoch als Lehre und als Bewegung weniger die logische und ethische Stringenz und mehr die direkten Wirkungen im Auge hat, verlagert sich das pazifistische Kalkül auf den angemessenen Umgang mit der para-pacem-Paradoxie. Denn der mit friedlichen Mitteln durchgesetzte Friede setzt jenen Friedenszustand voraus, den er bezweckt. Die Gewaltverstrickung aller Friedensbemühungen bleibt somit der zentrale Problemgegenstand selbstkritischer Friedenskonzeptionen. Die dominanten Formen der zeitlichen Entparadoxierung – historische Dialektik, Evolutionstheorie und Zivilisationstheorie – haben wir schon genannt. Der soziale Modus der Entparadoxierung soll nun im Abschnitt über atompazifistische Gegenwartsströmungen zur Sprache kommen, weil die gewaltmonopolistische Friedenskonzeption für diese Richtung zentral ist. Was diesen sozialen Entparadoxierungsmodus auszeichnet, ist die Zurechnung der Mittelwahl auf Akteure, welche in der Lage sind, die Wertverletzung neutralisieren zu können. Als Ahnherr dieser Lösung gilt noch heute Thomas Hobbes, der mit dem Leviathan den Prototyp eines potenten Akteurs geschaffen hat. Im Leviathan, dem personifizierten Gewaltmonopol, ist der unerträgliche Widerspruch zwischen den heren Werten des Friedenszwecks und den gewaltsamen Mitteln überwunden. Denn der Souverän absorbiert alle partikularen Gewalten und verwandelt sich auf diesem Wege in ein Universales, das nicht mehr schaden kann, weil das Ganze nichts anderes als die Vereinigung der Vielen ist. Wie aber sollte das Ganze sich selbst schaden können? Diese logisch konsistente und von Hobbes sogar als mathematische Gewissheit entwickelte Lösung des Friedensproblems lässt allerdings die entscheidende Frage offen, wie die arithmetisch komponierte maschinelle Figur des Leviathan nicht nur Gewalt monopolisiert, sondern wie sich diese Figur aus ganz konkreten Menschen mit all ihren Schwächen und Unzulänglichkeiten zusammensetzen kann. Diese Menschen müssen als Ausführungsorgane oder Repräsentanten dieser Herrschaftsmaschinerie sich selbst auf der Seite des Souveräns und nicht auf derjenigen der Untertanen positionieren müssen. Um gewährleisten zu können, dass die Funktionsträger das Universale repräsentieren und nicht etwa die totale Macht zu partikularen Zwecken missbrauchen, muss Hobbes und die gesamte ihm mehr oder weniger verpflichtete moderne Friedenskonzeption alle Hoffnungen, die vormoderne Zeiten in die religiöse und moralische Bindung des Monarchen gesetzt haben, nunmehr von einer Technik erwarten.
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Das Grundvertrauen in Sozialtechniken als entparadoxierende Kraft ist bis heute ungebrochen. Die Techniken selbst haben in der Folgezeit unterschiedliche Gestalt angenommen,138 was alle verbindet, ist der unterstellte teleologische Wirkmechanismus, der in bestimmten Institutionen enthalten ist. Selbst Kant entwickelt das republikanische Prinzip als eine von der lauteren Absicht der einzelnen Menschen unabhängige überpersönliche Kraft. Angesichts der Entartungstendenzen funktionierender Demokratien in der griechischen und römischen Antike mochte diese Hoffnung schon im 18. Jh. naiv erscheinen. Dieses Urteil übersieht jedoch die inneren Beweggründe, die dem Institutionellen, Verfassten und Gesetzten eine Bedeutung zusprechen lassen, wie sie bisher undenkbar gewesen sein mag. Wir nähern uns mit dieser Frage einem Kernbereich pazifistischen Engagements. Denn wenn man überhaupt einen Unterschied zu religiösen Bemühungen um die universelle Beachtung des Tötungsverbots erkennen möchte, dann ist es die veränderte Bezugsquelle, aus der die Begründung für eine solche Achtung geschöpft wird. Seit der Aufklärung sind die Argumente zwar moralischer Natur, aber das Moralverständnis findet weniger in der religiösen und mehr in der wissenschaftlichen Semantik Ausdruck. Der Akteur, dem seit Hobbes die Kraft der Entparadoxierung zugetraut wird, ist nicht mehr ein Akteur „von Gottes Gnaden“; er ist nunmehr ein Akteur von wissenschaftlichen Gnaden.139 Und ein Großteil der Wissenschaften hatten sich unter dem Schockerlebnis der amerikanischen Atombombenabwürfe dem Vorbild ihres großen Physikers Albert Einstein140 angeschlossen, der nicht müde wurde, die Institution „Krieg“ als ein dem Stand der industriell-technischen Entwicklung moderner Gesellschaften nicht mehr angemessenes Konfliktlösungsinstrument zu brandmarken. Nach dem Zerfall der Atommacht Sowjetunion hat sich für den Atompazifismus insofern die Situation geändert, als nun erstmals möglich schien, was als einziger Ausweg aus dem ständig drohenden Versagen der Abschreckungspolitik erschienen war, nämlich das Ende der Blockkonfrontation und der Abbau des Systems abgestuften, im atomaren Schlagabtausch kulminierenden, Gewaltgebrauchs. Allerdings kam es nicht zur Abrüstung der NATO-Staaten als Reaktion auf die Auflösung des War138
Czempiel (1986) unterteilt Friedensstrategien in drei Hauptrichtungen: Prozessmuster des internationalen Systems, Einwirken auf die Interaktion und Änderung der gesellschaftlichen Strukturen. Wenn die Semantik der Demokratie das Volk in dieser Rolle sieht, so bleibt die Sicherheitspolitik davon ausgeschlossen und erst Recht die Entscheidung über Krieg und Frieden. Über die Bedeutung des Ausnahmenzustandes wächst „Rechtlosen“ und „Opfern“ eine konstituierende Funktion zu. Zu einem neuen Diskurs über Souveränität in modernen Gesellschaften siehe Agamben (2002, 2004); Wolf (2005). 140 Siehe die erste deutsche Originalausgabe mit einer Sammlung aller zugänglichen schriftlichen und gedruckten Dokumente von Einsteins Engagement für die Abschaffung des Krieges, mit Vorwort von Bertrand Russel, Einstein (2004). Zu Versuchen, diesen Ansatz im Zeitalter der „Technoscience“ weiterzudenken, die zunehmend weniger zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung unterscheidet, siehe Wolfgang Liebert (2006: 48ff.). 139
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schauer Pakts und auch letztere erwies sich nicht als Zuwachs weltpolitischer Sicherheit angesichts der Tatsache, dass von der zerfallenden Großmacht weltweite Proliferation ausging.141 Im Zuge dieser Entwicklung vollzog sich innerhalb des Atompazifismus ein ähnlicher Meinungswandel wie innerhalb des Rechtspazifismus: Das Bekenntnis zur Gewaltabstinenz, zum nichtgewaltsamen Konfliktaustrag, wurde zunehmend von der realen auf die fiktive Handlungsebene übertragen. Seitdem bleibt strikte Zweck/Mittel-Symmetrie zwar weiterhin das Ideal, aber sie bindet nicht das faktische Handeln, dem die Aufgabe zugeteilt wird, die Bedingungen herzustellen, unter denen konsequenter Gewaltverzicht möglich ist. Das Weltbürgerrechtsmodell ortet, wie wir gesehen haben, diese Bedingungen primär im globalisierten Rechtssystem, das mittels Kompetenzerweiterung des Sicherheitsrats nach völkerrechtlich gültigen und allgemein akzeptierten Standards die Aufgabe der Friedenssicherung und Friedenserzwingung übernehmen soll. Hier liegt der Akzent auf dem Einfluss der Zivilgesellschaft, die aus den nichtstaatlichen Akteuren, den sog. „Nichtregierungsorganisationen“ erwächst und sich bereits als Netzwerk für zivile Konfliktbearbeitung profiliert hat.142 Das atompazifistische Pendant ortet die Bedingungen, unter denen strikte Gewaltabstinenz möglich ist, zunächst im globalisierten Gewaltmonopol. Die neue Erfahrung mit dem Phänomen zerfallender Staaten, die Gewaltpotenziale freisetzen, scheint alle anderen Gefahren in den Hintergrund zu drängen. Denn es entstehen „Weltgewaltmärkte“, in denen private Rüstungsfirmen mit regionalen Warlords kooperieren und im höchsten Maße an Entstehung und Fortsetzung militärisch ausgetragener Konflikte interessiert sind. 4.2.3 Zur Pathologisierung der Militanz durch den Pazifismus Der nach dem Ende des Ost/West-Konflikts unter Druck geratene Atompazifismus suchte während des Balkankrieges einer Zeitstimmung zu wehren, die um bestimmter guter Zwecke willen wieder für militärische Einsätze votierte. Eine solche Haltung, die angesichts der Dignität und zivilisatorischen Überlegenheit der westlichen Werte militärische Zurückhaltung meinte aufgeben zu dürfen, beschaffte sich den nötigen legitimatorischen Rückhalt durch Analogiebildungen. Die während des Historikerstreits der achtziger Jahre vehement verteidigte Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen wurde als Topos an den Rand gedrängt, um einer Typisierung zu weichen, die den Holocaust zum generellen Muster der Wiedererkennung des Bösen in der Welt stilisierte. Das Kriterium der bellum iustus Lehre, 141
Siehe dazu Bittner (2002), der sich mit der These auf den Generaldirektor der IAEO Mohamed EIBaradei stützt, Terroristen benötigten keine Schurkenstaaten, um sich mit Massenvernichtungswaffen einzudecken. Der Zerfall der Sowjetunion habe dazu geführt, dass es überall auf der Welt Quellen für radioaktives Material gibt. 142 Siehe zur Verteidigung des Rechts gegen die „harten Tatsachen“ der internationalen Politik, Brock (2004).
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die intentio recta, mit dem die rechtspazifistische Weltbürgerrechtstheorie die Bombenabwürfe auf jugoslawische Städte rechtfertigte, wurde von der atompazifistischen Antikriegshaltung dieser Tage pauschal verworfen.143 Die für Rechtsstaaten ungewöhnliche Betonung des Tatmotivs droht in deren Augen unweigerlich in die Nähe einer politischen Einstellung zu geraten, bei der die verwendeten Mittel durch den Zweck geheiligt werden. Sollen wieder gewisse Konzessionen an dieses Denken möglich sein und die Wahl der Mittel von rechts- und völkerrechtlichen Beschränkungen befreit – wie dies für die militärische Intervention in den Bürgerkrieg in Bosnien und später in den Kosovo angenommen wurde – so scheint dies ganz ohne Opferbereitschaft nicht möglich. Mit dem Zusammenschrumpfen der Effektivitäts- und Legitimitätsproblematik auf die Frage nach der Absicht, von der die Mittelwahl getragen ist, war bereits von rechtspazifistischen Kreisen ein Feld betreten, das ins Transrationale wenn nicht Irrationale führt. Denn gewaltsame Mittel, die Menschenrechte missachten und den Einspruch der Betroffenen übergehen, verhalten sich zu den Zwecken, die sie bewirken sollen, als vollends paradox, sofern diese Zwecke das genaue Gegenteil von Gewalt umschreiben. Das ist beim Frieden ebenso der Fall wie bei Menschenrechten und Demokratie. Deren Verwirklichung rückt mit den militärischen Zwangsmitteln in immer weitere Ferne. Die Diskrepanz von hochgehaltenem Ideal und faktischem Handeln legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Idealen selbst nur um Derivationen einer primitiven Gewaltbereitschaft handelt, die sich unter dem Deckmantel kulturell hochstehender Ziele besser ausleben lässt. Prägungen „jenseits der Verständigungslogik“ müssen nach Sibylle Tönnies unbedingt berücksichtigt werden und zwar nicht nur im Hinblick auf das Verständnis militanter Äußerungsformen, sondern auch im Hinblick auf eine pazifistische Grundhaltung, „die fest ist wie ein Instinkt und sich nicht um rationale Begründungen kümmert“ (Tönnies 1997: 61). Damit stoßen wir bei der nuklearpazifistischen Friedenskonzeption auf jenes schon im letzten Kapitel angesprochene Menschenbild, das im Verhalten und Handeln ein Resultat konditionierter Lernprozesse vermutet. Sibylle Tönnies (1997: 58ff.) interpretiert die periodisch wiederkehrenden und auch die aktuelle Situation kennzeichnenden Stimmungsumschwünge von pazifistischen zu bellizistischen Einstellungen im Rahmen der Anthropologie Paretos. Dieser geht von einem gewissen Anteil an „Residuen“, anthropologischen Grundkonstanten aus, die im Laufe der Evolution durch geistige Prozesse überlagert und mithin kultiviert werden. Diese Residuen, zu denen die Militanz zählt, treten im zivilisierten menschlichen Leben allerdings nicht in ihrer Reinform in Erscheinung, sondern nur in rationalisierter Gestalt, den von ihm sogenannten „Derivationen“. Tönnies stützt sich in ihrem Plädoyer für eine pazifistische Position zwar auf Pareto, aber sie folgt diesem nicht in seiner Interpreta-
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So Loquai (2000), der in Bezug auf den Kosovo-Krieg von einem vermeidbaren Krieg spricht.
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tion, nach der auch die Ideen der Freiheit, der Wahrheit und Liebe nichts weiter als verschleierte Derivationen seien. Dieses problematische Basis/Überbau-Modell wird in seiner Menschenverachtung für den Einfluss Paretos auf den italienischen Faschismus verantwortlich gemacht. Gleichwohl bezeichnet es Tönnies geradezu als gefährliche Selbsttäuschung, wenn der wahre Kern der Beobachtungen Paretos zusammen mit der gesamten Theorie nur deshalb über Bord geworfen werde, weil der Faschismus diese Theorie instrumentalisiert hat. Sie vertritt die Ansicht, dass man mit der Preisgabe dieser Theorie die Beantwortung der wichtigen Frage, wie die Militanz motiviert sein könne, den Rechten überlasse. Die dem Pazifismus historisch zuneigende Linke würde sich damit analytischer Mittel für die Deutung irrationaler Kräfte des kollektiven Unbewussten berauben. Ihrer Meinung nach müssten hingegen „festsitzende Archetypen und Mythen“ berücksichtigt werden, die noch heute als lockende Atavismen die Menschen fesseln und die nur im rechten politischen Milieu ausgelebt werden könnten. Mit dem Hinweis auf dessen Atavismus kann das Phänomen jedoch nicht überwunden werden. Denn wie jede zeitliche Schematisierung, so ist die Unterscheidung von alt und neu vom Zeitgeist und sogar vom aktuellen Mainstream nicht zu trennen, der das Avantgardebewusstsein zum Inbegriff fortschrittlicher Geistesverfassung erklärt. Dieses hat sich in den Vereinigten Staaten von Amerika vom Vietnamtrauma erholt und beschert einer popkulturellen Kriegsfuturistik Bestzellerauflagen.144 Ein von der Kulturindustrie geförderter Bellizismus ist ungleich erfolgreicher als es gegenwärtig ein beim Großteil der Bevölkerung nach wie vor verpönter Neonazismus sein könnte. Auch heute hält der Pazifismus noch an der Vorstellung fest, affektregulierende Zivilisierung könne eine tiefgreifende Metamorphose der Triebstruktur auslösen. Diese Bewältigung des Gewaltproblems setzt sich wie alle zivilisationstheoretischen Konzeptionen der Frage aus „wer erzieht die Erzieher?“ Damit wird das utopische Moment der Herangehensweise offenkundig. In diesem Punkt laufen die Linien der 144
So z.B. dem Kriegsroman „Watch on the Rhine (Die Wacht am Rhein)“ von John Ringo und Tom Kratman (2005), einem Militär-Science-fiction, der die Waffen-SS zum Ideal des neuen Antiterrorkriegers stilisiert. Diese neue Form der Kriegsliteratur möchte mentalitätsverändernd wirken: „Lieber Leser, wir wollten dir einen verfluchten Schock einjagen. Denn in diesem Moment befindet sich die westliche Zivilisation, auch wenn viele ihrer Nutznießer das nicht zugeben wollen, in einem Weltkrieg. Wir können uns eine Niederlage nicht leisten. Aber der Sieg wird seinen Preis haben. Wie die Invasion, die hier beschrieben wird, dazu führt, dass die Menschheit sich in etwas verwandelt, was ein Mitglied von Hitlers Waffen-SS wiedererkennen und für sein Zuhause halten kann, wird auch dieser Krieg uns verändern. Denn an der Seite der Tugenden der westlichen Zivilisation stehen Laster, die uns zerstören können; juristische Kleingeisterei, eine Betonung der Umgangsformen gegenüber den Inhalten und ein Unwille, die erbarmungslosen und gewalttätigen Dinge zu tun, die wir tun müssen, um zu überleben. Schlimmer noch, der Westen hat an seiner Brust eine Menge widerlicher, abscheulicher, verräterischer Schurken gezüchtet, die bei jeder Gelegenheit alles tun, was seiner Zerstörung förderlich ist. Aber es gibt Hoffnung. Der Überlebenswille ist stärker als die Umerziehung.“
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Argumente, mit denen der Atompazifismus für die Ablehnung kriegerischer Mittel wirbt, auseinander. Einerseits gilt es nun bis zu den Residuen vorzustoßen und hier umstrukturierend zu wirken, sodass am Ende das kollektive Unbewusste dem Pazifistischen und nicht dem Militanten zuneigt. Ziel dieser Umstrukturierung sind jene „festsitzenden Archetypen und Mythen“, die das friedliche Zusammenleben als alternativlos erscheinen lassen. Auf der anderen Seite ist die so angestrebte Zivilisierung als ein Vorgang verstanden, in dem Irrationales zugänglich und in rationale Verständigung überführt werden kann. Sobald mit zivilisierungstheoretischen Annahmen gearbeitet wird, scheint es kaum noch möglich, die Residuen, das kollektive Unbewusste, als leere Disposition zu denken, die mit diesem oder jenem Inhalt gefüllt werden kann. Zivilisierung meint bei Norbert Elias einen Prozess der Umformung roher gewaltgeneigter Affekte in verfeinerte Sitten, die sich durch gewaltabstinente Umgangsformen auszeichnen. Dieser Ansatz macht nur Sinn, wenn der Gegenstand dessen, was seit den geistesgeschichtlichen Anfängen von der philosophischen Ethik behandelt worden ist, zu einer reinen Angelegenheit von Techniken, von gelernten konditionierten Umgangsformen, wenn nicht sogar zum Resultat von Verhaltenstraining erklärt wird. „Gute“ pazifistische Residuen sind demzufolge undenkbar.145 Nun wäre es jedoch ganz unsinnig, die moralische Unterscheidung auf diejenige von Natur und Kultur einfach nur abzubilden, sodass Gutes mit Kultiviertem identifiziert wird, während Schlechtes, Gewaltsames, unkultivierter Natur gleicht. Damit hätte man nur einen idealistischen Kulturbegriff eingehandelt, der die Kultur zu einem realperfekten Phänomen erklärt, das mit teleologischen Kräften ausgestattet ist.146 Die Annahme, man müsse die guten gegen die schlechten Residuen stützen und fördern, bleibt als Argument für die Sache des Pazifismus schwach, solange das zweifache Problem ungelöst bleibt: 1. die Begründung eines Kulturbegriffs, der die Güte gegenüber der Gewalt favorisiert, 2. der Umgang mit dem Kräfteungleichgewicht von Güte und Gewalt, das in der Alltagsweisheit Ausdruck findet „niemand kann in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“. Zu diesen beiden ungelösten Problemen kommt hinzu, dass Fortschrittskonzeptionen mit einer Elite rechnen müssen, die selbst von barbarischen Residuen ganz frei ist und infolgedessen 145
Wechselt man vom zivilisationstheoretischen zum religiösen Kontext, dann wird die Vorstellung eines Einübens von nichtgewaltsamen Problemlösungsformen Teil einer asketischen Praxis, die ethisch rückgebunden ist: „Ich bin der Auffassung, dass sich Gewaltlosigkeit antrainieren läßt, und dazu gehört Geduld. Sollten wir gerettet werden und einen wesentlichen Beitrag leisten zum Wohl der Welt, dann müssen wir entschlossen den Weg des Friedens einschlagen.“ (Gandhi, Young India, 22.7.1929). Dieses „Antrainieren“ bekommt allerdings im Kontext paradoxer Prämissen ein anderes Gewicht. Wir kommen darauf im letzten Kapitel zu sprechen. 146 Gegen diese Sichtweise wird immer wieder auf den hohen Grad der Affektregulierung hingewiesen, der für den administrativ ausgeführten Massenmord an den Juden im Nationalsozialismus notwendig war. Siehe Günther Anders (1992, Bd. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 271ff.).
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die Zähmung der niederen Instinkte bei der zurückgebliebenen Masse der Bevölkerung mit allen erforderlichen Mitteln vorantreiben kann. Peter Sloterdijk hat in seiner Elmauer Rede von 1999 über den Menschenpark diese Denkrichtung in ihren logischen Schlussfolgerungen auf den Punkt gebracht, wenn er angesichts der Jahrtausende alten Bemühungen um eine Zähmung des bestialischen Potenzials den neuen gentechnologischen Methoden das Wort redet. Diese versprechen den aggressiven Dispositionen mit neuartigen Mitteln beizukommen. Während die bisherigen „allotechnischen“, Schmerzen bereitenden, Methoden in Ermangelung alternativer „Behandlungs“möglichkeiten Herrschaftsmethoden sein mussten, die zu Demütigung, Freiheitsberaubung, wenn nicht gar zu Folter und Todesstrafe führen, so erlauben die neuen „autotechnischen“ Methoden eine schmerzfreie Zivilisierung der Menschheit. Durch Manipulation der genetischen Ausstattung des Menschen lassen sich dieser Ideologie des perfekten social engeneering gemäß die Erbanlagen sozialverträglich modellieren, so dass Eigenschaften erst gar nicht ausgebildet werden, die Herrschaft der Menschen über Menschen notwendig machen. (Sloterdijk 2000).147 Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts galten eugenische Projekte dieser Art in den industriell-technisch am weitesten entwickelten Ländern des Westen als Zeichen höchster Fortschrittlichkeit und Zivilisiertheit, die das nationalsozialistische Deutschland als führende Industrienation mit brutaler Stringenz in die Tat umsetzte. Was hier deutlich geworden ist, trifft auch die heutigen Bemühungen ins Mark, nämlich die gefährliche Illusion, es sei eine moralisch integre und von Herrschaftsphantasien freie Züchtungselite denkbar. Zähmung und Züchtung erscheinen als gleichrangige Wege der Zivilisierung, wenn das eigentliche und theoriesprengende Problem ausgeklammert wird, das mit der Annahme verbunden ist, es gebe eine von bestialischen Trieben selbst nicht heimgesuchte politische oder wissenschaftlich-technische Elite. Das aber bedeutet in seinen logisch-praktischen Konsequenzen, dass ein dieser Denktradition verhafteter Pazifismus gegen Eugenik und Euthanasie keine triftigen Gründe anführen kann, wenn selbige Methoden erklärtermaßen dem Zweck der Zivilisierung der Menschheit dienen. Sloterdijk (2000) konstatiert mit einer scharfen Beobachtung das Verschwinden der „Rohsubjekte“, die die Gewalt ihrer Mitmenschen nur durch Unterdrückung in Schranken weisen können. Und er prophezeit die Heraufkunft von Humantechniken, die ganz ohne herrische Relikte auskommen. Pazifistische Grundgestimmtheit geht hier einher mit einer Akzeptanz von Dominanz, die als freiwillige begrüßt wird, auf die aber im Falle störrischer Weigerung angesichts der Dringlichkeit, Bestialität zu überwinden, nicht verzichtet werden kann. In diese Dialektik von „freiwilliger Unterwerfung“ – für die Hobbes den Vertragsgedanken bemüht – und „Zivilisierung wider Willen“ (Senghaas 1998) gerät jede ordnungspolitische Konzeption, ob sie sich pazifistisch nennt oder nicht, die in den Gewalt monopolisierenden Aktivitäten die 147
Siehe dazu Brücher (2004a: 51f.).
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entscheidende Friedensbedingung ausmacht. Der Akzent liegt dabei auf den Aktivitäten, denn Ordnung erscheint in diesem Verständnis als ein Produkt gewaltmonopolisierenden Handelns und damit letztlich als etwas, das durch Polizei und Militär hervorbracht wird.148 Dass diese Ordnung noch nicht als Friede Anerkennung findet, sondern noch weiterer Maßnahmen rechtlicher, erzieherischer und wirtschaftlicher Bemühungen bedarf, mit denen Zufriedenheit und Interessenausgleich erzielt wird, ändert nichts am organisationstheoretisch-sozialtechnischen Profil. Der Atompazifismus erwartet Frieden von einem Welthegemon, einer Weltherrschaft, die nach Sibylle Tönnies durch einen Weltkonsens und nach Karl-Otto Hondrich nur als „Weltgewaltordnung“ (Hondrich 2003) denkbar ist.149 Trotz den Erfahrungen mit der Selbstauflösung einer totalitären Hegemonialmacht hat die Idee einer Weltregierung nicht an Attraktivität eingebüßt. Deren Verwirklichung ist jedoch seit dem ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungenen Terrorismusproblem in noch weitere Ferne gerückt. Wird an einer Problemlösungsvariante aber wider alle Realisierungschancen festgehalten, so liegt es nahe, die erforderlichen Zwangsinstrumente zu legitimieren, die das Ziel angeblich erreichen lassen. Der „Zivilisierung wider Willen“ korrespondiert die „Entrechtlichung wider Willen“. Dieser Logik folgend ist der dezidierten Ablehnung des Menschenrechtsinterventionismus zur Zeit des Kosovokrieges eine mildere Bewertung des 2. Irakkrieges gewichen, der gleichwohl mit weit fadenscheinigeren Gründen geführt worden war. Die seit Rousseau diskutierte Schlüsselfrage aller zivilisierungstheoretischen Entwürfe, wer die Erzieher erziehe, wiederholt sich im Modell der Weltgewaltordnung als Frage, wie ein guter nicht korruptionsgefährdeter Welthegemon gedacht werden könne, der universale und nicht seine eigenen partikularen Interessen verfolgt, der weise und ausgewogen urteilt, nicht jedoch fanatisch und in Freund/FeindDenken befangen. Dieser Frage konnte bei Hobbes nur aus dem Grund keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden, weil der Leviathan ein Produkt arithmetischer Kalkulationen ist. Aus der Substraktion der Gewalt jedes Einzelnen und dessen Aufaddierung zum Gewaltmonopol folgt ein maschinelles Konstrukt, das zwar von Menschen bedient wird, dessen Funktionsweise aber durch die konkludente Summe übertragener Rechte festgelegt ist. Selbst wenn diese Maschine des Leviathan Unrecht produzieren sollte, so kann dieses doch niemals die Qualität der überwundenen Schrecken permanenter Todesangst erreichen. Hobbes kannte nicht die Möglichkeiten industrieller Kriegführung und Massenvernichtung. Die Tatsache, dass nach den modernen Massenmorden, die auf das Konto jener gewaltakkumulierenden Maschinerie gehen, noch heute ein Glaube an den guten 148
Diese Logik des zivilisationstheoretischen Paradigmas macht Gerda Zellentin (1994/95: 56ff.) in ihrer Auseinandersetzung mit der Rezeption des Ansatzes von Norbert Elias in der Friedensforschung sichtbar. 149 Das gigantische Weltbeherrschungs-Projekt, das die USA verfolgt und zu dem der Irak-Krieg als Teil der geopolitischen Global-Strategie gehört, wird von Zbigniew Brzezinski (1999) beschrieben.
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Welthegemon aufrechterhalten werden kann, verdankt sich seinerseits einem Vertrauen auf technische Lösungen des Gewaltproblems, die dieses Mal nicht der Mathematik, sondern den Sozialwissenschaften entnommen werden. Die Overkill-Kapazität des Weltgewaltmonopols ist dann friedensstiftend, wenn seine politische Struktur durch demokratische und nicht durch totalitäre Institutionen geprägt ist. Wie allerdings die Entwicklung nach 1989 zeigt, war die Differenz von Demokratie und Totalitarismus an die einander ergänzende und einander widersprechende individualistisch-freiheitsorientierte und kollektivistisch-gleichheitsorientierte Auslegung moderner politischer Gemeinwesen gebunden. In den siegreichen Liberalismus halten nach und nach die einst als totalitär abgelehnten Praktiken des Realsozialismus Einzug: überwachungsstaatliche Maßnahmen, für den Sicherheitsdienst arbeitende Normalbürger, die ihre Nachbarn und Arbeitskollegen bespitzeln.150 Am Selbstverständnis „pazifistisch“ zu sein, können die Vertreter des Weltgewaltmonopols nur festhalten, wenn sich die Argumentation ganz aus dem Themenbereich herausbewegt, der den Kern der Differenz zwischen Pazifismus und Bellizismus ausmacht. Dieser kreist um die Frage, ob die verwendeten Mittel nicht so beschaffen sein müssen, dass sie die Werte des Zwecks befolgen, oder ob es für eine sog. „Zwischenphase“ noch unzureichender Zivilisierung unbedenklich ist, wenn Mittel gewählt werden, die dem Ziel des Weltfriedens unmittelbar entgegengesetzt sind. Sobald eine „absolute“, unverzichtbare Bedingung genannt ist, unter der einzig Friede möglich sein kann, lässt sich an Gewaltabstinenz nicht festhalten. Wer die Problemlösung – Weltgewaltmonopol – zu kennen meint, muss die Wahl der Problemlösungsmethoden – Diplomatie, wirtschaftliche Sanktionen, ideologische Unterwanderung, Unterstützung der Opposition, Droh- und Einschüchterungspolitik, militärische Intervention, Attentate – allein nach pragmatischen Gesichtspunkten treffen und darf sich nicht von prinzipiengeleiteten, aber auch nicht von rechtlichen und völkerrechtlichen Beschränkungen seiner Handlungsfreiheit daran hindern lassen zu tun „was not und an der Zeit ist“ (Tönnies 2005). 4.2.4 Mentalitätstheoretische Argumente für den Pazifismus Wir sehen hier sehr deutlich, dass sich pazifistische Gesinnung häufig in der Ablehnung eines ganz bestimmten Krieges erschöpft. Das bedeutet, spezifische Kriegsgründe werden als „causa iusta“, als gerecht, andere werden als ungerechtfertigt bezeichnet. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn sich die Kritik auf mentalitätstheoretische Überlegungen stützt und weniger auf zweckrationale. Die Veränderung der politischen Konfliktsemantik im Zuge einer Wahrnehmung aller Auseinandersetzungen als innergesellschaftliche, führt auch zu einer entsprechenden Umdefinition von Mentalitäten, die mit Entzweiungen einhergehen. So konstatiert Sibylle Tönnies 150
Gesetze, wie der in den USA geltende „patriot act“ werden auch in der EU diskutiert.
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(1997) ein Verschwinden von Ehr- und Moralgefühlen, die in Zeiten gehörten, die noch auf männlichen Mut und Kampfeswillen angewiesen waren. Und sie verweist auf Ludwig Quidde, der die Parallele zwischen der Überwindung des Fehderechts am Ausgang des Mittelalters und der Überwindung zwischenstaatlicher Kriege betont, und Erich Fechner, der von einer soziologischen Parallele zwischen der Überwindung der Blutrache zwischen souveränen Familienverbänden durch den Staat und einer gegenwärtig in Teilräumen des Erdballs sich anbahnenden Überwindung des Krieges durch überstaatliche Organisationen, spricht. Zu den problematischen Mentalitäten zählen Virilitätsphantasien, antiquierte Vorstellungen von Ehre und Ruhm, die bei Bedarf wieder aufgefrischt werden können ebenso wie Masochismus und suizidale Neigung. Wenn im Folgenden einige dieser Punkte besprochen werden sollen, so muss vorweggeschickt werden, dass die Plausibilität dieser kriegstreibenden Faktoren in keiner Weise von der tendenziösen Erwähnung beeinträchtigt wird. Die Beobachtungen werden nicht deshalb falsch, weil sie zur Diffamierung eines bestimmten Krieges, des Kosovokrieges, publik gemacht werden und beim Irakkrieg keine Rolle mehr zu spielen scheinen. Die Unterstellung, Frauen würden kriegerische Mittel der Konfliktlösung und erst recht jene zu Massenhysterie neigende Kriegsbegeisterung mehrheitlich ablehnen, spielt im historischen Pazifismus eine so große Rolle, dass mitunter die Einstellung zum Krieg als eine geschlechtsspezifische Angelegenheit erscheinen mochte. Dieses dem Pazifismus äußerst abträgliche Urteil151 hat im Laufe der waffentechnischen Neuerungen und damit einhergehender Kriegsführungstechniken an Plausibilität eingebüßt. Hinzu kommen veränderte Bedingungen bezüglich der Rollenaufteilung zwischen Männern und Frauen. Bertha von Suttner152 leitet die weibliche Abneigung gegen den Krieg aus der Tatsache her, dass Frauen als Mütter und nächsten Bezugspersonen der Kinder der Gedanke auf eine sehr natürliche Weise unerträglich sei, das Leben junger Männer für eine politische Idee zu opfern. Dabei handelt es sich freilich nur um einen Erfahrungswert, dem eine sehr unterschiedliche Kinderliebe im Einzelfall gegenübersteht. Die Integration von Frauen in die Berufswelt und insbesondere ins Militär hat vornehmlich in den Ländern, deren Armeen einen hohen Frauenanteil aufweisen, wie den USA und Israel, die Hoffnung der frühen Pazifistinnen in den Frieden stiftenden Einfluss von Frauen enttäuscht. Nach Sibylle Tönnies (1997: 58ff.) bestätigt dies jedoch nur die spezifische These eines genuin „organi151
Indem Wolf-Dieter Narr (2002) nicht die mitunter verwendete doppelgeschlechtliche Form PazifistInnen verwendet, sondern ausschließlich von Pazifistinnen und Friedensforscherinnen spricht, wirbt er für eine pazifistische Position mit einer sprachlichen Form, die gegentendentiell konnotiert ist. Die vorliegende Abhandlung sucht die Gefahren der Sabottage durch Sprachperformanz zu umschiffen, indem die Form beibehalten wird, die sich am Geschlecht des Menschen orientiert, darauf vertrauend, dass das Geschlecht der Autorin gegen den Verdacht geschlechtlicher Diskriminierung gefeit macht. 152 Zu Bertha von Suttner siehe Gabriele Clemens in: Rajewsky/Riesenberger (1987: 47ff.). Zu Suttner und Pierre Rasmus Müller-Kampel (2005).
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schen“ Pazifismus im Falle der Mutterschaft, die fruchtbar gemacht werden könne in der Übertragung auf das männliche Geschlecht.153 Die Vaterrolle sei es, die eine mäßigende Wirkung auf den Kriegsgeist ausübe und infolgedessen sei ein zu beobachtender Rollenwandel zu begrüßen, der die Versorgung der Kinder nicht mehr als unmännlich verurteile. Einen anderen Akzent gewinnt das, was hier als Virilitätsphantasie in einen Zusammenhang mit Kriegsneigungen gebracht werden soll, wenn man eine soziale Einrichtung näher betrachtet, die sich bei allen Kulturen, mit Ausnahme der modernen, findet. Gemeint sind Initiationsriten, mit denen junge Männer Mut und Tapferkeit beweisen müssen. Erst diese Tugenden machen männliche Jugendliche in vormodernen Gesellschaften für die besonderen Aufgaben tauglich, die ihnen der Schutz von Frauen und Kindern abverlangt. Neben dieser Funktion, die nicht nur aufgrund körperlicher Stärke, sondern auch durch fehlende physiologische Beeinträchtigungen, denen Frauen über die Zeit von Schwangerschaft und Geburt hinaus jeden Monat unterworfen sind, natürlicher Weise von den Männern übernommen wurde, kommt den Initiationsriten auch eine Bedeutung für das Erwachsenwerden zu. Während dieser biographische Schnitt im Leben der Frauen von der Natur selbst bewerkstelligt wird, fehlt beim männlichen Geschlecht eine vergleichbare Zäsur. Deren Funktion übernimmt traditionell das männliche Kollektiv. Bei der männlichen Entwicklung ist insofern gewissermaßen seit den Anfängen das Soziale prägend wirksam, während Frauen in den natürlichen Ablauf dergestalt involviert zu sein scheinen, dass sie von hier aus ihre wesentlichen Instruktionen erhalten. Die Verdrängung des Weiblichen ins Animalisch-Naturhafte geriet den Frauen in der beginnenden Neuzeit im Zuge einer neuen Ideologie zum Verhängnis, die in der Naturbeherrschung das eigentliche Ziel des Wissenserwerbs ausmachte. Es wäre allerdings falsch, das typische kulturbedingte Männlichkeitsideal einseitig in kriegsgeneigter Richtung zu interpretieren. Das Christentum hat in einer anderen Weise kulturstiftend gewirkt, indem es Tapferkeit und Männlichkeit im Vermögen verortet, das Böse nicht mit Bösem zu vergelten. Dieser Imperativ der Bergpredigt tritt nicht als passives Leidensprinzip, sondern als Aufforderung zum politischen Handeln diesem Image entgegen. So schreibt der Gandhi-Anhänger Leonhard Ragaz (1930: 58f.): „Das Wort (Gewaltlosigkeit) ist aber viel zu negativ und viel zu passiv, auch etwas schwächlich; denn es handelt sich um eine sehr positive und aktive Sache, die siegreiche Selbstbehauptung des Guten, des Gottessohns und Gottesreiches gegen das Böse und sein Reich; es handelt sich um Angriff und Eroberung, nicht bloß zur Abwehr. Und es ist auch 153
Natürlich geht hier eine Wertung von normaler und normativer Mutterschaft ein, die jedem einleuchten dürfte und die durch Einzelfälle – die wegen Misshandlung von Häftlingen im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib 2005 verurteilte Soldatin und junge Mutter Lynndie England – nicht hinfällig wird.
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eine männliche Sache, die einzig männliche Haltung, die es gibt. Denn die Abwehr auf der gleichen Linie; die Vergeltung des Bösen mit Bösem, des Schlages mit Gegenschlag, des Gemeinen mit Gemeinen ist bubenhaft ….“
Wir haben gesehen, dass die zivilisierungstheoretischen Bemühungen, mit denen der Atompazifismus unbewusste Motive zu beeinflussen sucht, sehr unterschiedliche Wege gehen kann. Die von intensiv gelebter Elternschaft zu erwartende Kriegsabneigung kann durch politische Fördermaßnahmen unterstützt werden, die mit der beruflichen Gleichstellung von Mann und Frau – freilich nur bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung – zu einer Intensivierung der väterlichen Gefühle beitragen kann. Das wäre gewissermaßen ein historisches Experiment, gegen das allerdings die verstärkte Kriegsneigungen von Ländern wie den USA skeptisch stimmt, die in punkto Gleichstellung sehr weit fortgeschritten ist. So muss auch die gegenteilige These bedacht werden, nach der vornehmlich Gesellschaften, in denen geschlechtsnivellierende Tendenzen zu Lasten des Weiblichen gehen, die verlorene Differenz durch aggressive Asymmetrisierungen wiederherzustellen gesucht wird. Auf das Konto dieser Bemühungen geht in allen Ländern des Westens, aber vorwiegend in den USA, ein medialer Gewaltkult, der von der Gleichheitsidee spätestens seit der Kultfigur Lara Croft erfasst ist und einen neuen kriegerisch-martialischen Typus des Weiblichen inauguriert hat. Seitdem inszeniert sich die Gleichstellung der Geschlechter auch als Wettlauf um weibliche und männliche Coolness. Gendertheoretische Begründungen des Pazifismus sind als Politikum vielfach gegen ihr eigenes Ziel gerichtet, weil die Effemination des Männlichen mit negativeren Gefühlen besetzt ist als die Vermännlichung der Frau. Dieser Befund mag sich nicht nur einer sozialen Konstruktion verdanken, sondern einfach aus der Tatsache hervorgehen, dass jeder Mensch in der embryonalen Phase mit dem weiblichen Körper eins gewesen ist. Die Ablösungsbemühungen müssen deshalb beim männlichen Geschlecht rigider und kompromissloser – dem Erscheinungsbild nach aggressiver – ausfallen. Je unsensibler Frauen mit diesem physiologisch-biographischen Faktum umgehen, desto schwieriger gestaltet sich das Zusammenleben der Geschlechter, ohne das kein weitergehender Friede denkbar ist. Pathognostische ebenso wie lern- und mentalitätstheoretische Hypothesen sind für Pazifismus und/oder Friedensbewegung interessant, soweit sich das Aktionsfeld auf einen überschaubaren sozialen Raum beschränkt. Aufklärungs- und Erziehungsprogramme treffen in diesem Fall auf Adressaten, die gewisse Vorverständigungen teilen. Zwar muss sich ein solcher Raum nicht durch ideologische Homogenität auszeichnen; Voraussetzung aber bleibt, dass eine Leitkultur diskursbestimmend ist. Für das säkularisierte und teilweise sogar entkonfessionalisierte Europa liefern die Wissenschaften diese Leitkultur, wobei konform den Dominanzverschiebungen innerhalb der christlichen Konfessionen vor der Aufklärung, der diskursprägende Einfluss nunmehr von wechselnden Disziplinen seinen Ausgang nimmt. Hatte bis ins neunzehnte Jahrhundert noch die Philosophie die eindeutige Meinungsführerschaft, so findet im Laufe dieses Jahrhunderts eine teilweise Überlagerung durch Geschichts- und Na-
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turwissenschaften statt. Der physiologisch-biologisch-medizinischen leitdisziplinären Ausrichtung in der zweiten Hälfte des neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, folgen nach dem 2. Weltkrieg Psycho- und Sozialwissenschaften, um nach der Wende wieder vom neurophysiologisch-biologisch-medizinischen Diskurs abgelöst zu werden. Mit dem Phänomen der Globalisierung verändert sich nun jedoch der Referenzrahmen pazifistischer Reflexion und Praxis von Grund auf, vorausgesetzt, mit Globalisierung wird nicht die Übertragung und Durchsetzung des westlichen Politik- und Gesellschaftsmodells auf den Rest der Welt verstanden. Ist letzteres der Fall, so verliert der Pazifismus sein traditionelles herrschaftskritisches Profil und beginnt in all jenen Projekten aufzugehen, die sich die weltweite Durchsetzung der „Errungenschaften“ der „westlichen Wertegemeinschaft“ zum Ziel gesetzt haben. Diesem Phänomen der Selbstüberwindung des Pazifismus gehen wir im nächsten Kapitel über postmodernen Pazifismus nach. Ohne leitkulturelle quasihomogene Binnenorientierung werden all die genannten friedensgefährdenden Faktoren und Dispositionen randständig, weil die kulturell zerklüftete Weltgesellschaft keinen Ansatzpunkt für mentalitätsverändernde Aktivitäten erkennen lässt. Das „Pathologische“, das „Lernunwillige“ und „Paternalistische“ dient unter diesen Bedingungen nur noch als Verbalinjurie, mit der Angehörige fremdkultureller Länder verunglimpft werden können. Sobald Pazifisten nicht mehr die klassischen Bellizisten, sondern „Terroristen“ und „Schurken“ als ideologische Kontrahenten ausmachen, und damit nicht mehr der Krieg, sondern „privatisierte Gewalt“ und „neue Kriege“ als Herausforderung ersten Ranges erscheinen, verschiebt sich der Fokus von Grund auf. Denn bei diesen Phänomenen handelt es sich um devolutive Erscheinungen, um ein Instabilwerden von kulturellen und politisch-gesellschaftlichen Strukturen – letztlich der funktionalen Differenzierungsform – innerhalb derer die Pazifismus/ Bellizismus-Differenz erst Sinn macht. 4.2.5 Von „privatisierter Gewalt“ zum globalen Konfliktsystem So präsentiert sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine spiegelbildliche Szenerie in den zerfallenden und den intervenierenden Staaten. An Militärinterventionen der Industriestaaten in die Dritte-Welt sind Service-Unternehmen beteiligt, die für die Kriegslogistik sorgen und die Hilfestellung bei der Bedienung komplexer Waffensysteme leisten (Brock 2004: 5). Diese reziproke Verflechtung von Privatwirtschaft und politischem Interventionismus höhlt die Idee des Gewaltmonopols von innen her aus, indem das, was sich als Monopol profiliert, in Wahrheit einen Prozess der weltweiten Deregulierung unterstützt oder auslöst und selbst ein Produkt privatisierter Verfügung über Gewaltmittel ist. Militärinterventionen dienen dem Unterbinden von blutigen Konflikten in gleicher Weise wie deren Förderung. Anders gesagt, sie etablieren ein
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weltweites Konfliktsystem,154 das privaten Sicherheitsgesellschaften die Gelegenheit gibt, lukrative Konflikte am Schwelen zu halten. Verlässt man die Ebene der Idealtypik und betritt diejenige tatsächlicher weltpolitischer Verhältnisse, dann zeigt sich die Gewaltrechtfertigung unter Verweis auf die lebensbedrohliche Proliferation als Trugbild. Nicht erst die Weltgewaltordnung, sondern bereits das Weltgewaltmonopol ist eine Chimäre, weil sie etwas ganz außer Acht lässt, was für ein Gewaltmonopol unabdingbar ist, nämlich die „Akzeptanz von Dominanz“. Diese wird im Modell des globalisierten politischen Systems als Effekt der Machtüberlegenheit gedeutet und damit als eine gewissermaßen sekundäre Tugend eingestuft, die als kluge Unterwerfung im Sinne der Hobbesschen Vertragskonzeption nichts mit Servilität und Unterwürfigkeit gemein hat. Gerade die Vertragsmetapher signalisiert bei Hobbes jedoch das Moment freiwilliger Unfreiwilligkeit und damit eine Paradoxie, die aufzulösen nicht Sache einer Zwangsgewalt sein kann. Die Untertanen müssen einen Souverän als Zwangsgewalt in sein Recht einsetzen, das sich zusammensetzt aus den abgetretenen Rechten der Vertragsmitglieder. Was die Hobbesrezeption in solch diametrale Lager spalten konnte, wie das totale Herrschaft rechtfertigende von Carl Schmitt und das liberaldemokratische von Ferdinand Tönnies, ist die unterschiedliche Interpretation des Bedingungsverhältnisses von Unterwerfungsakt und Zwangsgewalt. Im ersten Fall wird die Notwendigkeit der Sanktionsgewalt über die Möglichkeiten zu deren Durchsetzung gestellt, sodass die stärksten zur Verfügung stehenden Mittel (Todesstrafe, Folter, Lager, Krieg) gerechtfertigt scheinen. Im zweiten Fall werden den realen Chancen einer Durchsetzung größeres Gewicht beigemessen und infolgedessen Mittel bevorzugt – Diskurs, Verständigung, Konsens –, die allgemeine Akzeptanz erwarten lassen. Totalitäre und liberale Interpretation gehen jedoch in gewisser Weise am Kern der Hobbesschen Aussage vorbei. Denn in dieser frühen Form der modernen Subjektkonzeption des Menschen geht es um die Befriedung der Menschheit durch sich selbst und mithin um das Prinzip der Selbstreferenz, der Bezugnahme eines gefährdeten Selbst auf die befreienden Kräfte, die in der Vernunft dieses Selbst liegen. Diese gebietet, die partikularen Gewalten in einem einzigen Gewaltmonopol zu bündeln und damit den Frieden zu sichern. Da es um die Konstitution des modernen Subjekts unter dem Aspekt seiner Gefährdung geht, handelt es sich bei Unterwerfung und Gewaltmonopol nicht um ein Verhältnis von Ursache und Wirkung, sondern um ein reziprokes, um ein Bedingungs-, genauer, um ein Konstitutionsverhältnis. Die Bereitschaft zur Machtübertragung ist dem Gewaltmonopol gleichursprünglich. Es handelt sich um die beiden Seiten einer einzigen Unterscheidung, deren Einheit als Frieden 154
Die systemtheoretischen Analysen Luhmanns (1984: 488ff.) haben insofern die Konfliktsoziologie revolutioniert, als Konflikte nicht nur in ihrem Beitrag (positiv und negativ) zum Sozialsystem, sondern als Systeme eigener Art gefasst werden können.. Gegenüber primär moralisierenden Termini wie Totalitarismus, Staatsterrorismus oder Krieg ermöglicht der Begriff des Konfliktsystems analytische Prägnanz.
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erscheint. Der Leviathan ist Frieden im Sinne eines Zustandes, in dem sich eine befriedete Gesellschaft befindet. Hobbes schreibt für ein vom Dreißigjährigen Krieg traumatisiertes Europa, das von Marodeuren heimgesucht wird. Dieses bedarf einer neuen Ordnungsform jenseits des alten Dualismus von weltlicher und geistlicher Macht, dem die Konfessionskriege angelastet wurden. Hobbes ist jener Theoretiker der beginnenden funktional differenzierten Gesellschaft, der das Politische nicht mehr auf eine gesamtgesellschaftlich verbindliche religiöse Moral verpflichtet, sondern auf den Selbsterhaltungstrieb gründet. Herrschaft bezieht ihre Legitimation nicht mehr aus religiösen Quellen, die weltliche von geistlicher Macht zu kontrollieren verlangen. Sie rechtfertigt sich nun aus ihrer Funktion, Gewalt einzudämmen. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, darf der Herrscher nicht selbst den Regeln unterworfen sein, die er instituiert, darin verbirgt sich der immanent totalitäre Charakter des autonom gesetzten Politischen. Zugleich ist mit der säkularen eine neue Akzeptanzstruktur etabliert, die in einem von Konfessionskriegen zerrütteten ausgebluteten Europa willkommen sein mochte. Die Idee, eine in der menschlichen Natur gegründete „vernünftige“ Moral könne die Menschheit im Gegensatz zur trennenden religiösen Moral in Frieden einen, bedurfte eines Tests in der politischen Wirklichkeit. Die Gewaltexzesse und Massenvernichtungen seit der französischen Revolution haben die Friedensstiftungsfunktion „des Gewaltmonopols“ als Gründungsmythos der modernen Gesellschaft erkennen lassen (Hirsch 2004). Was seit dem Westfälischen Frieden von 1648 allmählich zu Ende geht, ist die Monopolisierung der Gewalt in den Händen der Aristokratie und mithin eines Waffen tragenden Standes. Diese geht über auf eine staatliche Administration, auf deren Polizei und Militär. Beide Formen des Gewaltmonopols, die ständische und die staatliche, kennen funktionale und dysfunktionale Varianten, Zeiten der Friedenssicherung und Zeiten, in denen die Waffentragenden das eigene Land und andere Länder mit Krieg überziehen. Diese historische Evidenz für die Moderne nicht anerkennen zu wollen, setzt geschichtsmetaphysische Deutungen voraus, die die napoleonischen Kriege, die beiden Weltkriege, imperiale Kriege, Holocaust, Gulag, Hiroshima, Nagasaki und alle nach 1945 geführten „Stellvertreterkriege“ oder heutige „chirurgische Kriege“ in geschichtsexterne Räume verbannt.155 Die Globalisierung des westlichen Gesellschaftstypus scheint eine rückläufige Entwicklung zu provozieren: In deren Folge weicht das Gewaltmonopol des Staates wieder einer Vielzahl von privaten Sicherheitsgesellschaften, von denen sich reiche Bürger mehr Schutz erhoffen, die aber auch aufgrund ihrer unternehmerischen Akti-
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Modernitäts- und zivilisationstheoretische Modelle gehen in dieser Weise vor, indem sie diese Massenvernichtungen außerhalb des „Projekts der Moderne“ ansiedeln. In einem Diskurs über „Moderne und Barbarei“ sind die unhaltbaren Denkvoraussetzungen dieses Modelldenkens transparent gemacht. Siehe dazu Miller/Soeffner (1996), Bauman (1992a, 1992b).
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vitäten den Staat abhängig machen. Die Privatisierung der Sicherheitspolitik156 ist dem diametral entgegengesetzt, was mit Gewaltmonopol umschrieben wird. In diese Paradoxie mischt sich bei den Verfechtern eines Weltgewaltmonopols, zu dessen Ausübung die stärkste Weltmacht USA befugt sein soll, eine zweite, indem die weltweite Akzeptanz von Dominanz gegenüber einer Nation eingefordert wird, die den Schritt zur Entprivatisierung der Gewalt im Inneren noch gar nicht vollzogen hat – Waffenbesitz ist nach wie vor in den USA erlaubt – und eine der höchsten Kriminalitätsraten der Welt aufweist. Wenn aber Rechtsabtretung und Zwangsgewalt ein Konstitutionsverhältnis moderner säkularer Staatlichkeit ist, dann kann die militärische Entmachtung der Welt gerade nicht erzwungen werden.157 Die Aussicht auf die Anerkennung der Führungsrolle einer von nichtwestlichen Ländern vielfach mit einer Kultur des „sex and crime“ wahrgenommenen amerikanischen Gesellschaft ist höchst unwahrscheinlich. Das deutlichste Zeichen für diese Unwahrscheinlichkeit ist der internationale Terrorismus, der sich mit dem Selbstmordattentat einer Waffe bedient, gegen die militärische Übermacht wirkungslos bleiben muss. Gerade die Störanfälligkeit hochindustrialisierter Staaten zeigt die Hochrüstung als unzulängliches Mittel der Friedenssicherung. Dieses Argument wird zwar vom Pazifismus geltend gemacht, aber selbst hier provoziert es diametrale Handlungsempfehlungen. Der konsequente oder absolute Pazifismus sieht in der offenkundigen Ohnmacht des militärischen Apparats angesichts von Bedrohungen, wie sie durch den 11. September manifest geworden sind, den Pazifismus als einzige Möglichkeit, einer um sich greifenden terroristischen Deregulierung einen Riegel vorzuschieben. Eugen Drewermann greift in diesem Punkt einen Appell des Dalai Lama auf, der vor Journalisten des CNN zwei Tage nach den Anschlägen in Washington und New York erklärte, dieses Ereignis sei eine große Chance für die Gewaltlosigkeit. Nach Drewermann (2002b: 14) dachte der Dalai Lama „als Buddhist nicht anders, als es jeder Christ aus der Bergpredigt kennt: „Reagiert auf das Böse nicht (mit denselben Mitteln)“ – „Überwindet das Böse durch das Gute“ – so Paulus im Römerbrief.“ Das auf Hochrüstung gegründete Sicherheitsdenken sei heute am Ende. „Ein Umdenken aber ist nicht nur notwenig, es ist auch in seiner einfachen Menschlichkeit evident. Bislang hatten wir Geld für den Krieg stets in jeder Höhe bereit – 25 Millionen Euro jedes Jahr allein in der BRD; für den Frieden aber, für effektive Hilfe für Menschen in Not, war noch niemals Geld vorhanden Was aber könnten wir mit den unglaublichen Summen von 120 Milliarden Dollar oder 25 Milliarden Euro alles machen, nicht um Kriege führen zu können, sondern um den Blutsumpf der Kriegsgefahr auszutrock156
Diese beiden Aspekte privatisierter Gewalt, von Warlords, organisiertem Verbrechen, Milizen und Rebellen ausgehender Staatszerfall, und die staatlich geförderte Privatisierung der Gewaltapparate der hochindustrialisierten Länder, werden zunehmend als ein gemeinsames Strukturproblem wahrgenommen. Siehe Wulf (2006); Weizecker/Young/Finger (2005). 157 Zu diesem Urteil gelangt selbst der Hauptvertreter der Realistischen Schule Hans Morgenthau (1960: 509ff.).
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4 Friedensphilosophischer Pazifismus nen! Wir könnten endlich tun, was die Religion lehrt: das Böse überwinden durch das Gute (Röm. 12,21). Der Pazifismus ist nicht die Utopie der Blauäugigen und ewig Gestrigen, er war und ist die Antizipation der einzigen Form von Zukunft, die uns Menschen auf dieser Erde beschieden ist. Entweder lernen wir es, in Freiheit den Frieden wirklich zu wollen, oder wir werden uns die Notwendigkeit des Stillhaltens, des Terrorfriedens, durch permanente Überwachung und durch das Diktat des jeweils Mächtigsten aufzwingen lassen müssen.“ (Drewermann 2002: 65f.).
In dieser Weltlage lässt sich der am Weltgewaltmonopol orientierte Atompazifismus nur als kontrafaktische Idee ausarbeiten. Diese wird im Sinne Hegels wieder in den Rang eines Weltgeistes gehoben, der sich in allem Wirklichen verkörpert. Sibylle Tönnies (2005) greift in ihrem Plädoyer für den Weltstaat158 auf die Geschichtsphilosophie Hegels zurück und weist dem gleichwohl auch in ihren Augen mit fadenscheinigen Gründen geführten Irakkrieg eine historische Funktion der Durchsetzung des „Allgemeinen“ gegen das „Partikulare“ zu. Die „Qualität der Motive“ sei für den historischen Gang, in dem der Weltgeist – ein objektiv Vernünftiges und mit Vernunft gleichzusetzendes Objektives – zu sich selbst kommt, insofern zu vernachlässigen, als „die List der Vernunft“ aus bösen Motiven gute Folgen erwachsen lassen könne. Die einseitige Konzentration der öffentlichen Diskussionen über den Irakkrieg auf die Motive, unter denen der Angriff erfolgte, lenken ihrer Meinung nach von der entscheidenden Hegelschen Frage „was not und an der Zeit ist“ in einer geradezu gefährlichen Weise ab. „Not und an der Zeit“ ist, „dass der Prozess der Ausdehnung des Gesellschaftsvertrages jetzt seinen letzten Schritt macht und verabredet wird, dass nur eine einzige Macht zu legitimer Gewaltausübung berechtigt ist“. „Pazifismus“ wird infolgedessen als „Unterwerfungsbereitschaft“ gedeutet, die nicht nur der Hobbesschen Friedenskonzeption entspreche, sondern auch dem von Norbert Elias gezeichneten Zivilisationsprozess, der „die Herstellung immer größerer, im Innern pazifizierter Integrationseinheiten“ als einen zu erwartenden Geschichtsverlauf aus dem bisherigen Weltgeschehen meint ablesen zu können. Dabei hebt Tönnies den gewaltsamen Charakter der Pazifizierung159 hervor, der bereits in den ethymologischen Ursprüngen des Friedensbegriffs reflektiert sei. Denn „pacare“ bedeute gleichzeitig „unterwerfen“ und „befrieden“. „„Pax“ ist die durch den Unterwerfungsakt – den Pakt – besiegelte Zentralisierung der Gewaltausübung. Frieden ist die Einhaltung dieses Pakts – den „Gesellschaftsvertrag“ zu nennen man sich trotz aller Abneigung gegen Hobbes angewöhnt hat.“ (S. Tönnies 2005).
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Siehe auch Sibylle Tönnies, „Völkerrecht bricht Menschenrecht?“, in: Universitas, 6/2000, S. 548554. 159 „Pazifizierung“ erscheint auch bei Senghaas (1972: 358ff.) als Friedensstrategie. Sie macht nur Sinn unter Zugrundelegung eines bestandsorientierten Friedensbegriffs.
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Problematisch bleibt bei dieser Aktualisierung, dass die Vertragskonzeption des modernen Friedensverständnisses als Chiffre für die Selbstverpflichtung einer Gemeinschaft und mithin die Bindung eines Selben an eigene Maximen der Selbstbindung als Zwang untauglich wird. Der Vertrag zeigt die Konstitution eines Gemeinsamen als Akt der wechselseitigen Bindung. Niemand kann einem anderen einen Vertrag aufzwingen und selbst in der Charta der Vereinten Nationen werden Verträge für ungültig erklärt, bei denen nachgewiesen werden kann, dass sie durch Zwang zustandegekommen sind. Die Konstruktion eines Gesellschaftsvertrages ist deshalb nicht eigentlich ein Friedensvertrag. Letzterer besiegelt einen neuen Rechtszustand, indem das Recht der Sieger durch den Besiegten anerkannt wird. Wenn Hobbes den Gesellschaftsvertrag als Unterwerfungsvertrag konzipiert, dann tut er dies vor dem Hintergrund der Annahme, dass die „Angst vor dem Tode“ als die stärkste Triebkraft im Menschen eine gemeinsame Unterwerfungsbereitschaft erzeuge, wenn die Techniken bekannt gemacht würden, die Wege aus der wechselseitigen Bedrohung weisen können. Insofern geht Hobbes von einem naturgegebenen Problem aus, nämlich der natürlichen Gewaltsamkeit und von einer Problemlösung in Gestalt der Herrschaftsmaschinerie des Leviathans. Diese Problemlösung ist als reine Technik gedacht, deren Bauprinzipien und deren Betriebsanleitung durch den Selbsterhaltungstrieb vorgegeben sind. Es ist das Vertrauen in die praktische Wirkung der Aufklärung über diese Zusammenhänge, die Hobbes dazu bewegt, der Bekanntmachung dieser wissenschaftlichen Geheimnisse eine Wirkung zuzuschreiben, die allen Menschen, haben sie sich erst einmal kundig gemacht, die Unterwerfung als ihr ureigenstes Selbsterhaltungsinteresse nahe legt. Mit der Annahme, der Selbsterhaltungstrieb sei die stärkste Triebkraft im Leben eines Menschen, hat sich Hobbes geirrt. Das wird nicht erst heute angesichts einer Kampftechnik wie dem Selbstmordattentat evident.160 Zu allen Zeiten gab es Menschen, die sich für eine Sache – für eine Idee, einen Wert – aufgeopfert und dabei eine große Zahl von Menschen mit in den Tod gerissen haben. Um am anthropologischen Konstrukt festhalten zu können, dem als Gründungsmythos der modernen Gesellschaft die Qualität eines Weltbildes eigen ist, wurde der offensichtliche Widerspruch mit der Wirklichkeit aufgelöst, indem Todesbereitschaft entweder pathologisiert wurde oder als Zeichen einer fanatischen und darin vernunftwidrigen Gesinnung ins soziale Abseits gedrängt. Infolge dieser aufklärungskonformen Einstellung geriet selbst das Soldatische in Verdacht und nach und nach in Verruf, sodass ein strikter Pazifismus, der nicht nur Kriege, sondern auch den Dienst mit der Waffe radikal ablehnt, als gewissermaßen logische Folge der Vernunftkonzeption der Aufklärung erscheinen konnte.161 Sibylle Tönnies (1997: 58) möchte in diesem Sinne selbst den 160
Als institutionalisierte Strategie fungiert das Selbstmordattentat seit den Erfolgen der Hisbollah im Libanon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die zum Rückzug der Amerikaner aus dem Land geführt haben. Siehe dazu Christoph Reuter (2002: 88ff.). 161 Zur Entwicklung der Kriegsdienstverweigerung und ihrer Organisationen in der BRD siehe Guido Grünewald in: Steinweg (1977: 197ff.).
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Slogan „Soldaten sind Mörder“ als Anzeichen für eine zivilisierte Mentalität interpretiert wissen. Und die Tatsache, dass dieser Satz unter Strafe gestellt worden sei, signalisiere, dass es sich nicht um eine unwahre Behauptung gehandelt haben kann, denn eine solche würde sich von selbst erledigen und müsste nicht durch rechtliche Sanktionen unterbunden werden. Gleichzeitig erscheint diese strafrechtliche Regelung in ihren Augen gerechtfertigt, da wir uns „in der Frage des Tötungstabus in einer schwierigen Übergangszeit befinden“ (Tönnies 1997: 58). Nachdem deutlich geworden ist, dass sich ein bekennender Pazifismus mitunter nur durch die Friedenssemantik von der „realistischen Schule“ unterscheidet, müssen wir die Übergänge herausarbeiten, die die beiden Semantiken trennen und verbinden. Ließ der Rechtspazifismus in seinen unterschiedlichen Lesarten des Kantischen Republikanismus einmal die militärische Intervention in den Kosovo-Krieg ablehnen und ein anderes Mal befürworten, so finden wir auf Seiten des Atompazifismus unterschiedliche Lesarten der Hobbesschen Sozialphilosophie. Dabei steht die Frage im Vordergund, wie ein Frieden stiftendes Gewaltmonopol – heute ein Weltgewaltmonopol – zustande kommt oder zustande gebracht werden kann. Die beiden diskursbestimmenden Lesarten orientieren sich noch immer an den diamentralen Auslegungen von Carl Schmitt und Ferdinand Tönnies. Die ambivalente Einstellung zum Gründungsvater des modernen Staatsverständnisses hängt mit der Abgrenzung von dem im Nationalsozialismus einflussreichen Staatsrechtler Carl Schmitt (1937/1995) und seiner Interpretation von Hobbes als Theoretiker totalitärer Macht zusammen. In der jungen Bundesrepublik trat an deren Stelle zunehmend die liberaldemokratische Interpretation von Ferdinand Tönnies (1925/1971). Während die erste Lesart die kriegsbereite Dominanz hervorgehoben hatte, betonte die zweite die Frieden sichernde Funktion des Gewaltmonopols. Die pazifizierende Wirkung der Vereinheitlichung und Homogenisierung in einem einzigen Willen kontrastiert einer Betonung des Ausnahmezustands, der die politische erst gegen andere nicht-absolute Mächte, wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht und Erziehung abhebt. Dabei geht es allein um die Akzentuierung der politischen Funktion, die übereinstimmend mit der verbindlichen Entscheidung in Zusammenhang gebracht wird, aber in dem Punkt zu abweichenden Ergebnissen kommen lässt, wo es um die Verteilung der Gewichte geht. Liegt der Hauptakzent auf dem Gegenstand des Entscheidens, wie in der Lesart von Ferdinand Tönnies, dann gelangt man zur Betonung der Friedenssicherungsfunktion. Denn das Autoritative der Zentralgewalt mit all ihren Zwangsmechanismen scheint vor dem Hintergrund des Schutzbedürfnisses der Bürger gerechtfertigt. Liegt das Hauptaugenmerk hingegen auf der Operation des Entscheidens, der bindende Qualität zukommt, dann wird der Gegenstand, über den entschieden wird, zu einer Konstruktion des politischen Systems. Diese Konsequenz ergibt sich aus dem Blickwinkel, unter dem Carl Schmitt die Monopolgewalt betrachtet. Das Politische hat nun in gewisser Weise die Aufgabe, einen regelungsbedürftigen Bereich von einem Ungeregelten zu unterscheiden, anders gesagt, Freunde von Feinden zu unterscheiden. Erst im Kampf gegen die Herausforde-
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rung durch Feinde lässt sich eine Ordnung schaffen. Diese ist dem Chaos – dem Hobbesschen Naturzustand – abgerungen. Das atompazifistische Plädoyer für ein Weltgewaltmonopol ist nun jedoch auf den Nachweis angewiesen, dass die Freund/Feind-fixierte Interpretation Carl Schmitts gegenüber der konsensorientierten von Ferdinand Tönnies überzogen und falsch ist. So gibt Sibylle Tönnies bezüglich weit verbreiteter Befürchtungen, ein globales Gewaltmonopol sei nur als totalitärerer Überwachungsstaat denkbar, Entwarnung, indem sie das Zustandekommen des nationalstaatlichen Gewaltmonopols konform der Hobbesschen Darstellung als vertragliche Einigung der Bürger beschreibt. Die Hobbessche Vertragsmetapher wird gleichgesetzt mit einem Konsens der Bürger. Das entspricht den Tatsachen, wenn allein das Funktionieren des Gewaltmonopols Beachtung findet. Richtig ist die Feststellung, dass ein Gewaltmonopol an die Voraussetzung allgemeiner Akzeptanz gebunden ist. Fehlt eine solche Bereitschaft bei einem Großteil der Bevölkerung, sich gesetzeskonform zu verhalten, so bleiben staatliche Zwangsinstrumente, wie die jüngsten Erfahrungen der unblutigen Revolution von 1989 gezeigt haben, wirkungslos. Für die pazifistisch-bellizistische Kontroverse ist jedoch weniger die Frage des Funktionierens von Gewaltmonopolen unter normalen Bedingungen, sondern sehr viel mehr die Frage entscheidend, durch welches politische Handeln – gewaltsam oder nichtgewaltsam-konsensual – ein Gewaltmonopol entstehen kann. Denn darum geht es dem Atompazifismus in der aktuellen Weltgesellschaft, einen Prozess auf globaler Ebene fortzusetzen, der auf nationaler Ebene gelungen und angeblich abgeschlossen ist. Was wir hingegen heute beobachten, sind sehr viel eher Erscheinungen von Staatsverfall, denen im zivilisationstheoretischen Denken allerdings nur das Gewicht von Rückfällen zukommt, die den globalen welthistorischen Trend als solchen nicht beeinflussen. Aber nicht nur der erste Teil der Begründungsstruktur, die These der Fortsetzung eines Prozesses sieht sich Zweifeln ausgesetzt. Auch die liberal-demokratische Hoffnung, das Weltgewaltmonopol könne auf konsensual-vertraglichem Wege zustandekommen, wird durch die harten Tatsachen enttäuscht. Selbst Hobbes konzipiert den Gesellschaftsvertrag nicht als ein Ereignis, das irgendwann im Laufe der Menschheitsentwicklung tatsächlich stattgefunden hat. Beim Vertrag handelt es sich um eine Metapher, die das Gesetzte und Konstruierte, das Künstliche des Leviathan im Gegensatz zu einem Naturgegebenen betont. Die korrespondierende Metapher ist der Staat als Maschine. Hobbes präsentiert eine Lösung des Problems natürlicher Gewaltsamkeit, die nur insofern von allen gewollt sein muss, als Hobbes die „Furcht vor dem gewaltsamen Tod“ und mithin den Selbsterhaltungstrieb zur stärksten Kraft im Menschen erklärt, in deren Dienst die Vernunft gestellt ist. „Vertrag“ ist mithin eine Chiffre für unterstellte allgemeine Zustimmung.
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4.2.6 Atompazifistisches Mittel: das kollektive Attentat Dieses moderne Menschenbild, das im Willen zu überleben eine alle verbindende gemeinsame Motivation zur Unterwerfung ausmacht, wird von einer institutionalisierten Strategie, wie dem Selbstmordattentat, Lügen gestraft. Anders mag es sich beim Beruf des Soldaten verhalten, bei dem der eigene Tod zwar riskiert, aber gewöhnlich nicht – jedoch durchaus mitunter – ins strategische Kalkül einbezogen wird. Streicht man die triebtheoretische Komponente bei Hobbes und bestreitet, dass die Vernunft immer dem Überleben dient, marginalisiert man ferner in der Wirklichkeitskonstruktion nicht jene Individuen und Kollektive, für die ranghöhere Werte den Wert des Lebens herabsetzen können, dann stürzt auch der erste Teil der Begründung eines Trends zum Weltgewaltmonopol in sich zusammen. Ein solcher Trend würde nämlich voraussetzen, dass die Unterwerfung der Weltbevölkerung unter einen einzigen Souverän von allen als Vorteil betrachtet würde. Diese Voraussetzung einer empirisch nachweisbaren Zustimmung aller Menschen zur Zentralgewalt taucht bei Hobbes nicht auf; sie ist gleichsam entbehrlich angesichts der Tatsache, dass die Aufklärung über die – gewaltsame – Natur des Menschen und die Information über Abhilfe schaffende Techniken das Ihre tun und einer Bestätigung nicht bedürfen. Ist der Konsens aber nur ein unterstellter und nicht ein faktischer, dann können sich alle unumschränkten Machthaber auf ihn berufen. Die Frage, ob der im Vertragsgedanken enthaltene Konsens ein transempirisch-apriorischer (vor jeder Erfahrung) ist, oder ein empirischer, nachzuweisender, mag letztlich für die ideengeschichtliche Bewertung von Hobbes entscheidend sein. Müssen die Menschen dem Leviathan nicht zustimmen, sondern ist dieser befugt, eine Zustimmung einfach zu unterstellen, dann ist Hobbes der Theoretiker des Totalitarismus. Ist der Konsens aber ein faktischer, der immer wieder durch konkrete Abstimmungen ermittelt werden muss, dann ist Hobbes der Theoretiker des liberalen Rechtsstaates. Tatsächlich bedarf es bei Hobbes dieser periodischen Überprüfung, einer Bestätigung des Gesellschaftsvertrages durch eine Versammlung der Bürger, nicht, und es ist Rousseau, der die gefährlichen Implikationen dieses Verzichts bemerkt und in seinem eigenen Entwurf auf einer Erneuerung des „Contrat Social“ von Zeit zu Zeit insistiert. Mit dieser zentralen Frage aber, wie Verfassungs-, wie Rechtsstaaten entstehen können, bewegt sich das pazifistische Denken aus dem Kernbereich seiner Überzeugungen wieder heraus. Denn die Unterteilung der Bürger in Recht setzende und Recht unterworfene schafft selbst unter der Voraussetzung, dass der Souverän seinem eigenen Recht gehorchen muss – wie dies bei Rousseau, aber nicht bei Hobbes und Kant der Fall ist – eine asymmetrische Herrschaftsstruktur. In den Augen der Benachteiligten wird das herrschende Recht als Recht der Herrschenden betrachten (Karl Marx). An der Frage, wie es zur allgemeinen Akzeptanz gewaltmonopolistischer Herrschaft kommt, scheiden sich die Geister. Hier ist der Grad, den die Konzeption eines Weltgewaltmonopols von dem Konzept der Weltgewaltordnung trennt, außerordent-
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lich schmal. Das wird durch abgrenzende Polemiken verdeckt. Sibylle Tönnies verteidigt einen echten im Sinne von konsensual zustandegekommenen Weltstaat von dem bei Karl-Otto Hondrich (2003) so bezeichneten „Quasi-Weltstaat“, der sich von ersterem darin unterscheidet, dass er sich zu seiner asymmetrischen Struktur offen bekennt. Die Weltgewaltordnung will nichts anderes als ein Dominanzverhältnis sein, in dem eine Weltmacht den Rest unterworfen hat; dies jedoch zu dessen Besten. Denn die Alternative zur usurpatorischen Monopolgewalt ist das lebensgefährliche Chaos einander bedrohender und einander wechselseitig erpressender Atommächte. Diesem letzten Teil der Aussage stimmt der Atompazifismus freilich voll und ganz zu. Aber er meint zum gemeinsamen Ziel auf eine Weise gelangen zu können, die keine Nation bevorzugt, weil es in naher Zukunft der Sicherheitsrat selbst ist, dem die Ordnungsfunktion zufällt. Hondrich entfernt sich in den Augen des Pazifismus von Hobbes und dem von diesem ausgehenden historischen Prozess, der über Völkerbundsidee und Friedensbewegung läuft, indem sein Konzept auf eine Weltstaatsbildung hinausläuft, „die nicht konsensual, sondern gewaltsam ist“ (Tönnies 1997: 157). Von diesem „sozialdarwinistischen Entstehungsmodell“ grenzt sich der Pazifismus ab. Betrachtet man die Argumentation aber von der Nähe, dann fällt auf, dass sich der Gegensatz auf das Sprachspiel beschränkt, innerhalb dessen Gewalthandlungen befürwortet werden. In einen geschichtsphilosophischen und zivilisationstheoretischen Zusammenhang gestellt, zeigen sich dieselben kriegerischen Handlungen als Hegels „List der Vernunft“, die zum Zwecke der „Gründung einer militärischen Zentralgewalt“ als der Grundlage aller Zivilisation die „Entmachtung der partikularen Waffenträger“ vornimmt (Tönnies 2005: 13). Dieser historische Prozess ist bei Hegel ein außerordentlich gewaltsamer. Da er jedoch in der atompazifistischen Lesart als Vorgang interpretiert wird, in dem konform der Hegelschen Geschichtsphilosophie das Partikulare durch das Universale abgelöst wird, gilt dieser gewaltschwangere Vorgang als im Interesse der Menschheit liegend. Der Konsens, auf dem der Pazifismus im Gegensatz zum erklärt gewaltsamen Zustandekommen der sozialdarwinistischen Version insistiert, ist mithin ein bloß unterstellter Konsens, den nachzuweisen von niemandem verlangt werden darf. Denn wie könnte es auch möglich sein, die Zustimmung von fünf Milliarden Menschen zur Voraussetzung für eine Institution zu machen, von der der Weltfriede abhängt. Weltbürgern, die selbiges verlangen, könnte mit Hobbes entgegnet werden, dass sie die Möglichkeit, eine solche Forderung überhaupt zu erheben, jenem Gewaltmonopol verdanken, das sie vor einer Verwüstung des Erdballs durch den atomaren Schlagabtausch bewahrt. Bewegt man sich im Hobbesschen Gedankenkreis, dann gibt es schlechterdings keine Einwände gegen Methoden, deren sich eine Zentralgewalt bedient. Die „Unwiderstehlichkeit des Souveräns“ ist dem Grundgedanken „nichtgewaltsamen Konfliktaustrags“, der nicht mit der Ruhe und Ordnung stiftenden Funktion des Staates schon identisch ist, unvereinbar. Die Entgegensetzung von „relativem“ und „radikalem“ oder „absolutem“ Pazifismus kommuniziert eine denunzia-
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torische Absicht, wie immer sich Autoren zu einer Sprachperformanz subjektiv verhalten, deren sie sich bedienen.162 Das Verharmlosen der Todesbereitschaft als atavistischer und pathologischer Impuls gibt keineswegs die Meinung jener Autoren wieder, deren Autorität für den modernen Legitimitätsdiskurs unumfochten ist. Weder Hobbes noch Rousseau oder Kant pathologisieren oder diffamieren den Todesmut, mit dem Menschen sich für eine gute Sache einsetzen. Eine in der Vernunft liegende Unterwerfungsbereitschaft, die offenkundig wird im Augenblick ihrer Bekanntgabe, bedarf der Selbsterhaltung (Hobbes), der Selbstliebe (Rousseau) oder des Selbstgehorsams (Kant) als tiefstes steuerndes Prinzip. In den Rang eines Prinzips erhoben, fordern diese der Vernunft zugrunde liegenden Impulse auch Opfer und sei es das Opfer des eigenen Lebens. Die säkulare Grundlegung der Gemeinschaft kann sich von der religiösen nur in dem Punkt entfernen, an dem die tiefsten Impulse zur Friedensstiftung vermutet werden. Das christlich geprägte alteuropäische Verständnis verlegt diese Impulse in die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die diesen anhält, dem Anderen eine der eigenen Person gleichrangige Bedeutung zuzuerkennen. Dem wird durch Beachtung der Zehn Gebote Folge geleistet. Das moderne säkulare Verständnis sieht die Quelle gemeinschaftstauglichen Handelns in naturgegebenen Problemen der Gewaltneigung und einem naturgegebenen Bedürfnis, diese Probleme zu lösen. Was dieses Konstrukt „ihre Lösung als immanenten Telos enthaltener Probleme“ erst plausibel macht, ist die Annahme einer Hierarchie von Bedürfnissen, in der dem Überlebensinteresse vor allen anderen Interessen, insbesondere vor demjenigen, anderen Schaden zuzufügen, seine Aggressionen auszuleben, absolute Priorität zukommt. Wenn diese Bedürfnishierarchie aber ihrerseits ein kontrafaktisches Konstrukt sein sollte, das durch die empirische Wirklichkeit ebenso bestätigt wie widerlegt wird, dann lässt sich die Moral nicht als schlichte Verlängerung der Natur rekonstruieren, sondern muss aus trans- oder übernatürlichen Quellen gespeist sein. Gegen die These, der Gesellschaftsvertrag könne im Ausscheidungskampf der westlichen gegen alle atavistischen weil nicht westlichen Gesellschaften heute seinen letzten Schritt machen und ein Weltgewaltmonopol etablieren, spricht darüber hinaus folgender Sachverhalt: Die vertragstheoretische Grundlegung des modernen staatlichen Gewaltmonopols, wie sie post festum für das wieder befriedete Europa geleistet worden ist, reflektiert keineswegs eine Friedensordnung, die durch den Sieg einer der beiden streitenden Parteien zustandegekommen ist. Weder der katholischen noch der protestantischen Auslegung des Christentums ist es gelungen, eine im Glauben wie162
Aufschlussreich ist die von Ulrike C. Wasmuht (1998) veröffentlichte Sammlung und Auswertung von Intervieuws mit einem Personenkreis, der sich der Friedensforschung zugehörig fühlt, zu einem Zeitpunkt, als das Ende des Ost/West-Konflikts erste Früchte zeigte. Sie konstatiert die Aufkündigung eines atompazifistischen Konsenses, der selbst durch Diskussionen über möglicherweise legitime und effektive beschränkte Einsätze miniaturisierter Atomwaffen nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden konnte. Ausführlicher zum Richtungsstreit Wasmuht (1998a).
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dervereinte Christenheit zu erkämpfen. Was ein des Kämpfens müde gewordenes Volk hingegen unterstützt hat, ist nunmehr das „cuium regio eius religio“ – die regionale Lösung des religiösen Konflikts. Mit diesem Verzicht auf die kulturelle Homogenität war die Notwendigkeit verbunden, einer transreligiösen säkularen Kraft Befugnisse zu erteilen, die zuvor dem Gottesgnadentum zukamen. Was die gegenwärtige von der Situation am Ende des Dreißigjährigen Krieges unterscheidet, ist das Fehlen von Bedingungen, die im Europa des siebzehnten Jahrhunderts gegeben waren, nämlich distinkte Konfliktparteien, die einander bekämpfen. Jene als hochexplosiv wahrgenommene Weltlage, auf die bereits mit einer neuen Sicherheitsdoktrin geantwortet wurde, ist durch ein Phänomen hervorgerufen, das adäquat nur als „Privatisierung der Gewalt“ umschrieben werden kann. Wie die durchaus ambivalente Haltung zum Phänomen der Gewalt bei allen Protagonisten der staatsphilosophischen Moderne beweist, liegt eine selbstüberwindende Sprengkraft der gewaltmonopolistischen Lösung bereits im Begriff der „Verteidigung“. Denn der moderne hobbesianische Verteidigungsgedanke lässt das Etwas, um dessen Schutz es geht, nicht mehr als außerhalb des Selbst befindlich denken. Nur „Selbst“erhaltung, „Selbst“verteidigung, „Selbst“schutz gelten als Frieden stiftend und erhaltend, aber nicht länger die Verteidigung von Glaubenssätzen und Ideen. Nur vordergründig ist das Selbst als jener Gegenstand, den es zu schützen und zu verteidigen gilt, etwas, das die Menschen verbindet im Gegensatz zu den „Werten“, die die Menschen entzweien. Denn das Selbst lässt sich nur schwer eingrenzen. Seine Konturen sind mit der organisch-leiblichen Existenz nicht erschöpfend umschrieben. Für den Menschen und das ihn bestimmende Selbst treten Sinnstrukturen in den Vordergrund, die nicht nur den Menschen als soziales Wesen tangieren, sondern die bis in die Psyche und selbst das Körperempfinden hineinwirken. Diese psycho-soziale Dimension des Selbst, die den Menschen als Individual- und als Kollektivsubjekt zugleich zu sehen zwingt, nimmt dem Begriff der (Selbst)Verteidigung seine Eindeutigkeit und lenkt den Blick auf die Frage, was dieses Etwas sei, das verteidigt werden soll. So bleiben die Grenzen zwischen Verteidigung, Vorneverteidigung, präventiver Verteidigung und Angriff fließend und dies nicht allein aus dem Grund, weil Begriffe von politischen Interessen immer auch manipuliert werden. Vielmehr lässt es die Sinnvermittlung dessen, was als „Selbst“ Ziel und Gegenstand der Verteidigung ist, nicht zu, ein für allemal eine Entscheidung darüber zu treffen, ob Verteidigung am eigenen Körper oder „am Hindukusch“ beginnt.163 Dies bedeutet nun allerdings, dass die universalen Werte der Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, mit denen der Westen einen Universalitätsanspruch gegenüber allen anderen, als bloß partikular bezeichneten, Kulturen geltend macht, nur für ein psycho-soziales Selbst informativ sein können. Davon 163
Zu Konstitutionsproblemen des Selbst und Möglichkeiten, diese konstruktiv anzugehen, siehe Brücher (2004b: 85ff.).
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zeugen gegenwärtige Debatten über Fragen der kulturellen Identität, der Integration und der Leitkultur. Offensichtlich bedarf dieses psycho-soziale Selbst bestimmter politisch-kultureller Semantiken, um seine Konturen sichtbar zu machen. Solche Semantiken aber tendieren zur ideologischen Verfestigung. Die Existenzphilosophie Jean Paul Sartres, die zwischen Idealismus und Materialismus angesiedelt ist und insofern in besonderer Weise das Heraufkommen einer neuen postmodernen entdifferenzierten Sichtweise anzeigt, hat mit ihrer Unterscheidung von Für-sich-Sein und An-sich-Sein164 das hier thematisierte Problem prägnant umschrieben. Nur in Verbindung mit einem bestimmten Subjekt und dessen ganz bestimmten kulturellen Verfassung, sozio-ökonomischen Lage und psycho-sozialen Disposition können die „Werte“ mit Inhalt gefüllt werden. Insofern sind alle Desiderate der „westlichen Wertegemeinschaft“ mit allen Kulturen vereinbar. Ihr formalistischer und darin universalisierbarer Gehalt rührt aber daher, dass er inhaltlich nicht festgelegt ist, sodass alle Staaten sich auf ihn berufen können. Das existenzphilosophische Für-Sich-Sein wird in der soziologischen Systemtheorie Luhmanns unter stärkerer Einbeziehung der sozialen Konstitutionsbedingungen als Zurechnung von Begriffen, Werten, Ideen auf einen Akteur weitergeführt. Das bedeutet, wann immer man von den „Werten des Westens“ spricht, bleibt der gemeinte Sinn auf den Akteur bezogen, der unter Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten jeweils etwas versteht, das nur aus dem kulturellen Kontext heraus verständlich wird. Der reklamierte Universalismus entpuppt sich somit als universell akzeptierter Partikularismus, als wechselseitiges Akzeptieren je besonderer Auslegungen eines Wortlautes, auf den sich je spezifische Gemeinschaften zu berufen geeinigt haben. Nur als Ausbuchstabierung dieser Logik ist bisher das westliche Politikverständnis für die Welt attraktiv gewesen. „Menschenrechte“ und „Demokratie“ sind gleichsam zu Chiffren geworden, in denen die einzelnen Populationen in Distanz zur eigenen Kultur treten, um in dieser Bewahrenswertes von Abzulehnendem bloß Überkommenem trennen zu können. „Fremde Werte“ infiltrieren Vergleichsgesichtspunkte, die Reflexionen auf die zentralen Sinngehalte der eigenen Kultur ermöglichen. Nur von dieser Plattform aus macht ein „Dialog der Kulturen“ Sinn, dem auf westlicher Seite das Ziel vorschwebt, einen „Weltethos“ (Küng)165 oder eine „Goldene Regel“ als kleinsten gemeinsamen Nenner transkultureller Verständigung zu formulieren. Dabei ist es wichtig, ein gefährliches Missverständnis zu beseitigen, nach 164
Siehe hier vor allem das grundlegende Werk von Sartre, L'Etres et le Néant, dt.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie von 1974. Sobald die eigenen Werte als an sich gültige angenommen werden, sind die Ziele so hoch gesteckt, dass eine Begrenzung der Mittel kaum denkbar ist. Die Verwendung von völkerrechtswidrigen Kasetten- und Streubomben in den beiden Irakkriegen, im Kosovo- und im Afghanistankrieg bezeugen dies. Sartres hat gemeinsam mit Bertrand Russel z.Z. des Vietnamkrieges in einem eigenen Tribunal Anti-Personen-Waffen als unmenschlich gebrandmarkt. Siehe dazu Drewermann (2002: 14). 165 Siehe zur pazifistischen Weiterung Albert Fuchs (2005: 49ff.).
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dem dieses Gemeinsame durch Übernahme von oder durch Adaptation an die überlegenen „aufgeklärten“ Werte des Westens erfolgen würden.166 Man darf annehmen, dass dieses Überlegenheitsbewusstsein ein friedensgefährdender Bazillus ist, der die Sprengkraft unterschiedlicher Verteilung des Reichtums, der strukturbedingten Ausbeutung der armen durch die reichen Länder, noch übersteigt. Wo diese Zusammenhänge nicht einfach ignoriert, sondern als Problem wahrgenommen werden, besteht auf nuklearpazifistischer Seite allerdings die Neigung, diesen Affekt gegen das westliche Überlegenheitsbewusstsein seinerseits wieder zu einem Moment überlebter Kultur zu erklären, nämlich zu einem Relikt antiquierter Ehrgefühle.167 Mit dieser Sichtweise bleibt die Gefahr verbunden, dass der Selbstbehauptungswille dem Westen unterlegender Gesellschaften vorab entwertet ist, indem Parallelen zur eigenen längst überwundenen Phase eines übersteigerten Heroismus gezogen werden.168 Diese Assoziation aber macht die verletzten Gefühle eines Großteils der Weltbevölkerung, die nicht zum hochindustrialisierten Westen zählen, nicht nur lächerlich und unterwirft sie dem verächtlichen Urteil einer vermeintlich höher entwickelten Kulturgemeinschaft. Sie erklärt sie mehr noch zu einer subversiven Kraft, die dem Weltfrieden auf ähnliche Weise abträglich ist wie einst der europäische Heroismus der Weltkriegszeiten. Diese Deutung muss im Ergebnis nicht falsch sein; aber sie lässt falsche praxeologische Schlüsse ziehen, indem sie die komplexen psycho-sozialen Rahmenbedingungen unbeachtet lässt, die einen aggressiven Heroismus gerade von deutscher Seite aus haben entstehen lassen. Die demütigende Behandlung der „verspäteten Nation Deutschland“ durch die Kolonialmächte ist nicht der einzige, aber ein nicht unwesentlicher Faktor, der zur Radikalisierung eines ganzen Volkes beigetragen hat.169 Das Ringen um kulturelle Identität und Unverwechselbarkeit vollzieht sich immer 166
Entscheidend mag für dieses Missverständnis sein, dass sich das Überlegenheitsbewusstsein auf die vermeintliche zivilisatorische Reife des säkularen gegenüber dem religiösen Kulturverständnis herleitet. Der US-amerikanische protestantische Fundamentalismus fügt sich in dieses universalwestliche Einteilungsschema der Welt, da protestantische Religionsgemeinschaften ein privatisiertes Religionsverständnis politikfähig zu machen suchen. Die Trennung von Staat und Kirche bleibt mithin auch dann unangetastet, wenn sich ein Präsident als unmittelbares Ausführungsorgan der Weisungen Gottes ausgibt. Die Trennung schützt nicht vor der fundamentalistischen Entartung auf beiden Seiten, der des säkularen und des religiösen Kulturverständnisses. 167 S. Tönnies (1997: 71ff.) verbindet diese mit dem Bedürfnis nach einem „Stahlbad“. 168 Die kriegskritischen Stimmen zu Beginn des letzten Jahrhunderts messen den Ehrgefühlen als individuellem und kollektivem Selbstbehauptungswillen eine größere Bedeutung zu. So gründet William James in seinem Essay Das moralische Äquivalent des Krieges von 1910 seine Friedensvision auf den Gedanken, man könne für die erzieherischen Funktionen des Krieges Ersatz auch im Frieden finden, wenn die Ideale von Ehre und Tüchtigkeit erhalten werden könnten. 169 So akzeptierten die Pazifisten der Weimarer Republik die im Versailler Vertrag beschlossene Entwaffnung Deutschlands nur als Beginn einer weltweiten Abrüstung: Siehe dazu Holl (1988: 175). Indem der Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster Schuldeingeständnis und Reue von den Deutschen verlangt, zieht er den Hass aller, selbst der organisatorischen Pazifisten auf sich. Siehe Donat (1987).
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wieder neu und bedient sich unverbrauchter Semantiken. Die Diffamierung fremdkulturellen Selbstbehauptungswillens übersieht dabei geflissentlich, dass im Westen nach dem Ende des Systemantagonismus analoge Bestrebungen forcierter Identitätssuche zu beobachten sind, die sich in einer Semantik des „Patriotismus“ artikulieren. Nachdem der Westen als einziges Projekt der Moderne übrig geblieben ist, greift Unsicherheit um sich, welche Handlungen noch mit Demokratie, mit Menschenrechten, mit Frieden und Freiheit vereinbar sind und welche bereits in den Bereich der Gegenbegriffe fallen. Die öffentlichen Diskurse über die Zulässigkeit der Folter „unter bestimmten Bedingungen“ (Terrorismus, Erzwingen von Geständnissen, um Leben zu retten), das Abschießen von Zivilflugzeugen „unter bestimmten Bedingungen“ (von Terroristen gekapertes Flugzeug), das Führen von Angriffskriegen „unter bestimmten Bedingungen“ (Menschenrechtsverletzungen, Schurkenstaatlichkeit, Tyrannei), das Verweigern von Bürger- und Menschenrechten „unter bestimmten Bedingungen“ (Terrorismus, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) beweisen dies. Zwar gab es all diese Erscheinungen und Gefahren auch schon vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus – man denke nur an den Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) – aber ein Blick auf wirkliche oder unterstellte Praktiken der totalitären kollektivistischen Spielart des „Projekts der Moderne“ ließ in Bezug auf die Frage, was zulässig und menschlich und was unzulässig und unmenschlich ist, sehr viel leichter eine Antwort finden. Das pazifistische Insistieren auf nichtgewaltsamer Konfliktlösung wirkt in einem funktional differenzierten Gesellschaftssystem, das aus der Emanzipation von einer gesamtgesellschaftlichen Moral hervorgegangen ist, veraltet. Sibylle Tönnies (1997: 65) tröstet darüber hinweg, indem sie behauptet, der Pazifismus würde die „Moral zukünftiger Epochen“ vorwegnehmen. Mit dieser Aussage aber nähert sich der Atompazifismus dem Rechtspazifismus in der Bindung des Handelns an Maximen, die noch nicht sind, die aber sein werden. In beiden Fällen tritt an die Stelle einer innerethischen Begründung – die nicht umhin käme, das Tötungsverbot zu erneuern – eine Trendaussage. Diese stützt sich in beiden Fällen auf ein pragmatisches Argument, das wieder unabhängig von einer Bestätigung in der Empirie macht: Auch wenn die Zeichen der Zeit ganz andere sein sollten und keine der beiden Seiten, weder die Mächtigen noch die Ohnmächtigen, gewillt, auf Gewaltmittel zu verzichten, so wird die gemeinsame Einigung auf ein Weltgewaltmonopol und auf welteinheitliche Rechtsnormen in absehbarer Zukunft kommen. Sie ist der nuklearpazifistischen Trendaussage gemäß unvermeidlich, da angesichts der Proliferation die Gefahr von Atomkriegen als Damoklesschwert über der Menschheit schwebt.170 Kurz ge-
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Diese Gefahr wächst kontinuierlich mit der tiefgreifenden Krise, in der sich die globale Nichtverbreitungspolitik befindet. Siehe den Bericht von Nikolas Busse, Bald zwanzig Kernwaffenstaaten? Nach dem Scheitern der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages, in: FAZ 23.6.2005, Nr. 143, S. 10.
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sagt: Der Weltfriede ist möglich, weil er vernünftig ist und Vernunft manifestiert sich in der Optimierung der Überlebensmöglichkeiten. Auf die monokausale Anthropologie von Hobbes, der den Selbsterhaltungstrieb als Friedensursache hervorhebt, sind wir bereits eingegangen. Und wir waren zu dem Urteil gelangt, dass diese weder empirisch noch logisch haltbar ist. Empirisch gesehen, blendet diese Anthropologie die Kraft sinnstiftender Ideen aus, die Menschen in der Vergangenheit und noch heute dazu veranlassen, ihr Leben um einer Sache Willen aufzuopfern. Der logische Bruch zeigt sich in der Annahme, dass ein Gewaltmonopol das universale Gemeinsame repräsentiere im Gegensatz zur Einzelgewalt, die dem Partikularen zugeordnet sei. Da Handeln aber stets einem Akteur zugerechnet wird, wie immer dieser in Erscheinung tritt, als Person oder als kollektives Handlungssubjekt, greift die legitimitätsstiftende Unterscheidung von partikular und universal auf der Ebene der Handlungslegitimation nicht mehr. Wir bekommen es mit sog. attributionstheoretischen, nämlich mit Begriffen zu tun, die erst durch ihre Zurechnung Sinn machen. Das Universale oder das Partikulare ist immer nur das, was ein Beobachter einem Akteur zurechnet; aber ein Akteur ist nicht sui generis „universal“ oder „partikular“. Selbst für den Fall, dass er in altruistischer Absicht allgemeine Interessen vertritt, vermag er niemals für alle zu sprechen, lässt sich diese Gesamtheit doch in einem nachmetaphysischen Denken nicht mehr als transzendentale, sondern nur noch als empirische behaupten. In jedem Plädoyer für das Weltgewaltmonopol schwingt jedoch ein transempirischer Begriff der Gesamtheit mit. Und tatsächlich ist bereits dort, wo dem US-amerikanischen Hegemon diese Rolle zugesprochen ist, ein entsprechendes Denken mit übernommen, das diesem Immunität zugesteht. Wenn der Souverän nicht zugleich Untertan sein kann, dann gehen alle Toten, die im Zusammenhang mit der Herstellung und Bewahrung der hegemonialen Stellung zu beklagen sind, auf das Konto all derer, die das Monopol nicht akzeptieren.171 Die Verursacher sind somit all diejenigen, die auf eigene Faust das eigene und das Recht Ihresgleichen zu erkämpfen suchen. Das bedeutet, ein Weltgewaltmonopol-Diskurs begibt sich jeglicher Unterscheidungskriterien, die zwischen humanitärer Intervention, Blauhelmeinsätzen, Präventiv- und Präemptivkriegen moralisch und rechtlich differenzieren ließe. Die Mittelwahl moralisch-rechtlich beschränken zu wollen, würde bedeuten, dem Souverän seine Stellung streitig machen und das Gewaltmonopol zu untergraben, ohne das der Weltfriede nicht denkbar ist. An innerpazifistischen Auseinandersetzungen wird die Durchschlagskraft der logischen Struktur des Arguments deutlich. All die aufgeführten Bestandteile, aus denen sich das Argument zusammensetzt, sprechen eine eigene Sprache. Und keine einzige gegenläufige der Gewalt zutiefst abgeneigte Intention erklärt pazifistischer 171
Merkel (2004) kritisiert unter einem rechtsphilosophischen Aspekt die verbreitete Einstellung, nach der die Schuld für „Kollateralschäden“ den Interventionsverursachern anzulasten sind.
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Autoren kann gegen die gewaltträchtige Sprachperformanz (die handlungsleitenden Implikationen gewisser Redewendungen) etwas ausrichten. Als Anfang der neunziger Jahre „alle weltordentlichen Gedanken um die Vereinten Nationen, die UNO und ihre Organisationen“ (Narr 1992: 50) kreisten, da mochte es den Anschein haben, als sei die Frage nach dem Weltgewaltmonopol mit der Frage nach dem – legitimen – Subjekt dieses Monopols ganz eng verknüpft. Diese Hoffnung ignorierte die innere Logik des Hegemonialgedankens, wie wir sie an Hobbes nachgezeichnet haben. Deshalb ist es nicht erstaunlich, sondern immanent folgerichtig, wenn Sibylle Tönnies im Jahre 1997 die Vereinten Nationen als den selbstverständlichen Träger des Weltgewaltmonopols annimmt und 2005 die Vereinigten Staaten in dieser Position akzeptiert.172 Diese Verschiebung gibt den Umschwung in der Debatte über den weltgesellschaftlichen Akteur der Friedensstiftung wieder. Beide, UN und USA, fungieren dort, wo Erfolg in Aussicht gestellt wird, als universale Ordnungsmacht, wobei „Erfolg“ keine empirische Größe ist, die bestritten werden könnte, sondern eine transzendentale. Denn das Gewaltmonopol kann als Bedingung für das Überleben der Menschheit in ihrer Legitimität nicht davon abhängig gemacht werden, wie viele Menschen überleben. Der Tod ist immer der Tod konkret Einzelner, das „Überleben“ ist als ein von gewaltmonopolistischer Herrschaft erst Ermöglichtes immer Überleben „der Menschheit“. Anders gesagt: wer lebt, verdankt sein Leben dem Gewaltmonopol, wer stirbt, ist entweder abtrünnig, er stirbt als Terrorist, oder er stirbt als Kollateralschaden. Sein individueller Tod ermöglicht das Leben der Vielen. Die Konzession an Methoden der Friedenssicherung, die den Tod von Menschen nicht nur einkalkulieren, sondern die Menschenleben gezielt für weltgewaltmonopolistische Zwecke instrumentalisieren, findet sich an mehreren Stellen. Wird Weltgewaltmonopol als konstitutiver Bestandteil des Friedenszwecks identifiziert, dann tritt an die Stelle der Unterscheidung von gewaltsamen und gewaltlosen Konfliktlösungsmethoden die einzige Unterscheidung von staatlicher und krimineller Gewalt. In globale Dimensionen hinein verlängert, führt dieser Wechsel der Beobachtungsebene zu einer fundamentalen Veränderung der politischen Semantik, in der es keine Konfliktparteien mehr gibt, sondern nur noch eine durch Rechtsbrecher herausgeforderte Zentralmacht, kein Militär mehr, sondern nur noch ein umfassendes Polizeiwesen, keine Unabhängigkeitkämpfer mehr, sondern nur noch Terroristen. Die Annahme, dass der Weg zu diesem Weltgewaltmonopol nicht nur gewaltfrei sein könne, teilt der zeitgenössische Atompazifismus mit dem „völkerbundsnahen“ Pazifismus der Zwischenkriegszeit. Dieser hatte bereits „eine im internationalen Auftrag tätig werdende internationale Exekutionsarmee“ (Tönnies 1997: 152) gefordert. Die damalige Flügelbildung unterschied „organisatorische“ Pazifisten, die einen Sanktionskrieg im Namen des Völkerbundes akzeptierten von „radikalen“ 172
Diese Position wird von S. Tönnies (2006: 287ff.) noch einmal im Zusammenhang mit der Beschreibung zentraler Schwächen des europäischen Konzepts bekräftigt.
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Pazifisten. Letztere lehnten den Gedanken an eine „Völkerbundexekutive“ nicht zuletzt aufgrund der gewaltsamen Methoden ab. Diesen Flügeln entspricht innerhalb der Partei der Grünen heute die Unterscheidung zwischen „Realos“ und „Fundis“. Die von Empirie entlastete Mittelwahl ist kaum noch ein Gegenstand des pazifistischen Diskurses. Denn die aus strategischen und/oder moralisch-rechtlichen Gründen gewählten Mittel müssen ihren Erfolg nicht nachweisen, ist dieser doch in eine zukünftige weltmonopolistische Ordnung projiziert. Weder die Effizienz noch die Legitimität sind nunmehr Streitpunkte. Ein auf Daten gestützter Nachweis, dass Strategien, beispielsweise im Irak, fehlgeschlagen und infolgedessen unverhältnismäßig, illegitim sind, verliert sofort an Bedeutung, wenn der Maßstab der Bewertung nicht gegenwärtige Effizienz und gegenwärtige Verhältnismäßigkeit, sondern der langfristig zu erwartende Friedensgewinn eines Weltgewaltmonopols ist. Neben dem vielfach geschilderten Überdruss, den inflationär praktizierte Protestformen der Friedensbewegung nach einer gewissen Zeit hervorrufen,173 haben wir hier einen weiteren Grund für das Versiegen pazifistischen Engagements vor uns. Diesen Grund liefert paradoxerweise die nuklearpazifistische Logik selbst: Je weiträumiger der Ordnungsanspruch einer Idee ist, desto abstrakter werden die Kompositionsprinzipien dieser Ordnung. Friedenskonzeptionen, die den Anspruch erheben, eine kulturell, religiös und sozio-ökonomisch zerklüftete Welt als ganze ordnen zu wollen, müssen in ihrem Zweck/Mittel-Denken ganz der Empirie enthoben sein. Der Weg zur Etablierung eines Gewaltmonopols kann nicht gewaltlos vonstatten gehen, sofern Gewaltlosigkeit ein Ergebnis solcher Monopolbildung ist. Diese zirkuläre Argumentation hatte auch dem Weltbürgerrechtsmodell verwehrt, den Diskurs zu einem universalen Prinzip der Problemlösung zu machen. Denn es musste offen bleiben, wie es möglich sein soll, durch Diskurs zu diskursiven Methoden der Konfliktlösung zu motivieren angesichts flagranter Fälle von Diskursverweigerung, die als Menschenrechtsverletzung in Erscheinung treten. Wer die Menschenrechte verletzt, behandelt sein Gegenüber nicht mehr so, wie es einem Mitglied der Diskursgemeinschaft gebührt, sondern wendet Gewalt an. Sofern nun ganze Gesellschaften unter diese Anklage gestellt werden, scheint es diskurstheoretisch nicht mehr angezeigt, sich mit diplomatischen und zivilen Mitteln zu begnügen. Vielmehr ist jetzt ein Menschenrechtsinterventionismus geboten, der einer funktionierenden Diskursgemeinschaft vorgreift, in der Gewalt als bloßer Rechtsverstoß bestraft werden kann.174 Es gibt auf der Grundlage eines mit dem „Weltgewaltmonopol“ oder dem „Weltbürgerrecht“ verknüpften Friedens keine triftigen Argumente gegen ein gewaltsames Vorgehen, das im Namen dieser idealen Konfiguration stattfindet. Wir stoßen hier auf den beunruhigenden Befund einer Parallele zu Gewalttaten, die im Namen 173
Zu diesen Schilderungen, die Stimmungen der Massenmedien wiedergeben, siehe S. Tönnies (1997: 13ff.). 174 Siehe zu diesen friedenstheoretischen Konsequenzen der Diskurstheorie ausführlich Brücher (2002: 65ff.).
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„Allahs“ gerechtfertigt werden. Den diskurstheoretischen Abschied von nichtgewaltsamen Methoden zur Durchsetzung von Menschenrechten, etikettiert Tönnies (1997: 158f.) „Menschenrechtsfundamentalismus“. In ihrer diametralen Haltung zum Irakkrieg wird indes deutlich, dass an pazifistischer Gewaltabstinenz im Falle einer Militärintervention nicht mehr festgehalten werden kann, die als zivilisatorischer Ausscheidungskampf auf dem weltgeschichtlichen Weg hin zur Etablierung immer großräumigerer Herrschaftsgebiete erscheint. Insofern ist es der Deutungskontext und nicht die Natur der Handlungsweise, die einzig die Frage beantworten lässt, ob es sich um einen Verstoß gegen pazifistische Prinzipien handelt oder nicht. Im Zusammenhang mit der Konstruktion des Weltgewaltmonopols – wohlgemerkt der „Konstruktion“ und nicht „des“ Weltgewaltmonopols – bricht Menschenrecht selbstverständlich Völkerrecht in dem Sinne, dass Staaten schon heute kein Recht mehr auf territoriale Integrität geltend machen sollen im Angesicht eines morgen zu schaffenden Weltgewaltmonopols (Tönnies 2000: 548ff.). Interpretiert man vom Horizont des Weltgewaltmonopols aus, so gibt es nicht mehr jene zwei Fronten, die wie im militärischen Kampf gegeneinander in Stellung gehen, sondern: „Die Ordnung geht gegen die Rebellion vor. Sie scheut sich dabei nicht, „von hinten“ zu kommen; die Prinzipien des „ehrlichen Kampfes“, die so viel Blutvergießen fordern, gelten bei polizeilichem Vorgehen nicht. Nach der polizeilichen Moral gilt es als anständiger, an Staatsoberhäupter vergiftete Zigarren zu schicken, als hunderttausend junge Leute zu tödlichen Gefechten gegeneinander zu hetzen. Die Methoden des CIA sind in diesem Rahmen gefragt; man betritt die Welt von James Bond. Da es auf nationalstaatlicher Ebene gelungen ist, diese suspekten Tätigkeiten rechtsstaatlich anzubinden, besteht gute Aussicht, dasselbe auf Weltebene fertigzubringen.“ (Tönnies 1997: 161).175
Wir müssen prüfen, an welcher Stelle sich diese Logik mit der des Terrorismus kreuzt und wo sie von dieser abweicht. Denn in beiden Fällen wird das Attentat zum probaten Mittel politischer Interessenverfolgung. Im Nachkriegsterrorismus bestimmten antiimperialistische Motive die Methoden, mit denen gegen Schlüsselpersonen in Politik und Wirtschaft vorgegangen wurde. Die Attentate hatten immer zunächst einen symbolischen Charakter. Durch eine gezielte Verunsicherung und Destabilisierung der personellen Schaltstellen der Macht sollte die Störanfälligkeit des bekämpften Systems demonstriert werden. Sofern die Bevölkerung der eigentliche Adressat der Terroranschläge ist, wird hier ein modernes Legitimitätsverständnis aktiviert, das die Funktion des Staates wesentlich aus seinen Aufgaben ableitet, den inneren Frieden zu sichern. Einen ruhigen und gewaltfreien Alltag nicht gewährleisten zu können, ist bereits Grund genug, einer Regierung das Vertrauen zu entziehen. 175 Faktisch entziehen sich die Geheimdienste jeder rechtlichen Kontrolle und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie im Geheimen operieren müssen. Siehe zu den Praktiken und der „Meinungsmache undercover“ Erich Schmitt-Eenboom (2004).
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Ganz anders scheint der politische Mord ausschließlich instrumentelle und nicht demonstrative Gewalt zu praktizieren. Es geht ihm um die Beseitigung ganz bestimmter Personen, die Schlüsselfunktionen innerhalb eines Regimes innehaben. Dieses gilt es zu unterminieren und mit willfährigen Personen zu besetzen. Ein Verzicht auf die symbolische Wirkung des Attentats wird nun sogar als Zeichen moralischer Integrität bewertet. Es wird darin eine – für Demokratien typische – Absicht gesehen, Menschenleben zu schonen. An dieser Differenzierung orientiert sich heute eine Typologie, die ein und dieselben Praktiken des Terrorismus und Antiterrorismus von der jeweils unterstellten Absicht her beurteilt. Terrorismus liegt vor, wenn die Akteure die Verletzung von Zivilisten wollen. Im legitimen per definitionem nur Gegengewalt praktizierenden Antiterrorkrieg wird der Tod von Zivilisten nicht geplant, sondern nur in Kauf genommen.176 Da beide, terroristische und antiterroristische, Akteure jedoch außerhalb einer positiven Rechtsordnung operieren, ist ihr Handeln dann als Mord einzustufen, wenn es nicht kriegsrechtlich gedeckt ist. Findet dieses Handeln jedoch innerhalb eines Ausnahmezustandes statt oder im Rechts- und Völkerrechtsvakuum sich wandelnden Rechts, dann tritt, wie wir gesehen haben, die Legitimitätsfigur des Vorgriffs auf einen künftigen Rechtszustand an die Stelle etablierten Rechts. Exakt diese Logik aber leitet nicht nur das außerlegale Handeln von Regierungsorganisationen; es leitet auch dasjenige der terroristischen NGOs, die mit ihrer Tat einem marxistischen oder islamischen Rechtssystem vorgreifen. Die Zuteilung der Handlungslegitimität durch Unterstellen einer guten und einer bösen Absicht ist nur möglich, wenn nicht nur die juridische Unterscheidung von recht und rechtswidrig durch die moralische Unterscheidung von Gut und Böse ersetzt, sondern schließlich die moralische durch die Unterscheidung von Freund und Feind abgelöst wird. Der gegenwärtige Legitimitätsdiskurs, der selbst große Teile des Pazifismus entweder für Menschenrechtsinterventionen oder für politische Attentate gewinnt, hat bereits ganz im Sinne des Staatsrechtstheoretikers Carl Schmitt die doppelte Substitution vom rechtlichen zum moralischen und schließlich zum politischen Schema im Schmittschen Verständnis vollzogen.177 Ein wissenschaftliches Beobachten dieses Diskurses muss eine Metaposition beziehen. Es darf sich nicht seinerseits von der Unterstellung leiten lassen, der vom Westen zu verantwortende gewaltsame Tod sei deshalb anders zu bewerten, weil er 176
Siehe statt vieler Carr (2002). Eine gewaltkritische pazifistische Gegenposition formuliert Soran Reader (2006: 205ff.), die den „global war on terror“ mit der Perspektivenverengung auf die Täter in Verbindung bringt, die nur von Rache geleitet ist und die Opfer völlig ausblendet. 177 Thomas Assheuer (Die Zeit Nr. 47, 15. 11.2001) spricht von einer Renaissance, die Carl Schmitt nach den Terroranschlägen des 11 September erlebe: „Es ist diese Schmittsche Melodie, die heute von vielen Gegenwartsanalysen, linken wie rechten, intoniert wird.“ Dies schließe die bellizistische Metaphysik ein, mit der das Problem der postmodernen Unübersichtlichkeit und der erschlaffenden Weltgesellschaft durch den gemeinsamen Kampf gegen einen Feind gelöst werde könne.
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der eigenen Gesellschaftsordnung zugute kommt, welche universelle Geltung beansprucht. Translegale politische Gewalt gehorcht zweckrationalem Kalkül und weniger innerethischen Maximen bzw. deren bewussten Negation. Ein Verzicht auf demonstrative Gewalt, mit dem die Zivilbevölkerung geschont wird, ist nicht das untrügliche Zeichen dafür, dass wir es hier mit einem „guten“ arbeitsteilig vollzogenen Tötungsakt zu tun haben. Politischer Mord, wie er durch Geheimdienste verübt wird, kann jeglicher symbolischer Breitenwirkung entbehren, weil er von einer überlegenen Machtbasis aus operiert. Er weiß einen Regierungsapparat im Rücken, für den er arbeitet und ist deshalb nicht auf die Unterstützung des unzufriedenen, benachteiligten Teils einer Bevölkerung angewiesen. Er ist auch unabhängig von der Empörung der Massen, die sich gegen eine Regierung richtet, der Schwäche gegenüber terroristischen Gewalttätern und infolgedessen Versagen vorgeworfen wird. Der Verzicht auf Propagandaeffekte ist keinem moralischen Ethos geschuldet, sondern einem strategischen Kalkül. Dieses ist dem einen Ziel untergeordnet, die personelle Spitze eines feindlichen Landes durch eine Marionettenregierung zu ersetzen.178 Da von Geheimdiensten verübte Morde Repräsentanten ausländischer Regierungen oder mutmaßliche Terroristen treffen, ist ihre Legitimationsbasis keine andere als die des internationalen Terrorismus. Denn die Beseitigung unliebsamer Personen findet außerhalb der eigenen Rechtssphäre statt und überschreitet damit immer schon die Kompetenzen des Akteurs. Sie kann schwerlich als Ausübung einer Ordnungsfunktion gedeutet werden. Da es im weltpolitischen Kräftemessen mehrere Parteien gibt, die aus festeren oder loseren Bündnissen bestehen – das Antiterrorbündnis wird als ausgesprochen fragil eingestuft – muss ein Legitimitätsdiskurs, der einer Seite überhaupt den Status einer Konfliktpartei streitig macht und nur noch den Kriminellenstatus bzw. den Nichtstatus des Terroristen zubilligt, als Gewaltproduzent angesehen werden. Dass dieser Vorwurf auch den Pazifismus trifft, ist um so bedenklicher, als hier die markanten Schwellen entgrenzter – postmoderner – Verhältnisse sichtbar werden, an denen die politische Globalisierung pazifistische in bellizistische Positionen übergehen lässt.179
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Der Nachkriegspazifismus der Ostermarsch-Bewegung der Atomwaffengegner (zwischen 19601967) richtete sich einst gegen die neo-kolonialistischen Interventionen der USA (Iran, Indochina, Guatemala usw.), Englands und Frankreichs in Ägypten sowie gegen Frankreichs Algerienkrieg. Siehe zur Bewegung Corinna Hauswedell (1997: 47ff.). 179 Siehe zur Analyse der Entdifferenzierung als Anzeichen einer neuen ‚postmodernen“ Qualität des Terrorismus als eines weltgesellschaftlichen Phänomens, Brücher (2004).
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5.1 Historisch-gesellschaftliche Kontextverschiebungen des pazifistischen Diskurses Beim Pazifismus haben wir es zunächst mit einem Bekenntnis und mit einer Stigmatisierung zu tun. Bekennen sich Individuen und Gruppen zum Pazifismus, so geben sie damit anderen zu verstehen, dass sie ihre eigenen Absichten und Handlungsmethoden dem Frieden zuordnen, was nur Sinn macht als Kontrastaussage gegenüber anderen Ansichten und Handlungsmethoden, die wirklich oder vermeintlich der Gewalt und dem Krieg zuarbeiten. Die polarisierende Wirkung der pazifistischen Kommunikation ist im Schema angelegt, mit dem die Lehre oder Bewegung operiert und ist keineswegs die Folge einer – vermeidbaren – Verteufelung politisch Andersdenkender als „Militaristen“ oder „Bellizisten“. Als Perzeptionsmuster macht sich die pazifistische Selbstbeschreibung dabei unabhängig von der Selbstbeschreibung derer, die in einem konkreten Konflikt die „guten Gründe“ anders interpretieren. Die historischen Beispiele zeigen, dass es im Falle des bekennenden säkularen Pazifismus häufig nur eine Ablehnung gewaltsamer Formen des Konfliktaustrags bezogen auf ganz konkrete Konflikte gibt, sodass sich der im eigentlichen Sinne moderne nichtreligiöse Pazifismus weniger als Phänomen sui generis beschreiben lässt. Spiegelbildlich richtet sich auch die Fremdbeschreibung ausschließlich auf unterschiedliche Strategieempfehlungen; sie richtet sich jedoch nicht auf die prinzipielle Einstellung zur Gewalt. „Der Pazifismus“ ist unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges und den zu erwartenden verheerenden Folgen eines siegreichen Nationalsozialismus von seiner bisherigen Position abgerückt und hat nicht länger auf diplomatischen Methoden insistiert. Dieselbe Unsicherheit macht sich heute unter dem Eindruck einer diametralen, nämlich einer Siegesstimmung, breit, die den Liberalismus nach dem Ende des Systemantagonismus ganz neue Gestaltungschancen wahrnehmen lässt. Damit kommen wir zum letzten Aspekt, unter dem ein Beobachten von Beobachtungsweisen, ein „Beobachten zweiter Ordnung“ (von Foerster 1985) den Pazifismus als ein soziales Phänomen zu erhellen sucht. Was jetzt in den Vordergrund rückt, ist die besondere Art und Weise, in der der Pazifismus die moralische Unterscheidung handhabt und wie der Pazifismus von anderen moralisch beurteilt wird. Unter den weltpolitischen Bedingungen, wie sie seit dem Ende des Ost/West-Konflikts gegeben sind, hat sich die Wahrnehmung merklich zu Lasten jener Pazifisten verschoben, die ihren Grundsätzen treu bleiben. Diese werden entweder als ewig Gestrige verunglimpft, oder geraten in eine gefährliche Nähe zum Terrorismus. Pazifismus und Terrorismus markieren die beiden Seiten der moralischen Unterscheidung nämlich nur unter der Voraussetzung eines Gewaltbegriffs, der sich auf die physische
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Verletzung beschränkt und nicht ebenso psychische und soziale Beeinträchtigungen der Entfaltungsmöglichkeiten einbezieht. Für einen Gewaltbegriff, der von der Schädigungsabsicht eines Täters abstrahiert und nur die Perspektive des Geschädigten berücksichtigt, entsteht das Problem eines differenzlosen Begriffs, der „Gewaltlosigkeit“ nicht mehr als empirisch feststellbaren Sachverhalt, sondern nur noch als Perspektive subjektiver Betroffenheit denkbar macht. Von hier aus wäre eine Strategie der Gewaltlosigkeit kaum zu konzipieren, weil es kein strategisches Kalkül geben kann, das die Empfindungen von der Strategie betroffener Menschen vorwegnimmt. Indem „gewaltlos“ agierende Mitglieder der Friedensbewegung Gefahr laufen, der Obstruktion von politischen Schritten bezichtigt zu werden, die ein Weltgewaltmonopol zum Ziel haben, ist die Grenze zu einer völlig umstrukturierten Wahrnehmung des Phänomens überschritten. Denn der hegemoniale Diskurs der Weltgesellschaft hat das topdog/underdog-Schema umgekehrt und hat die hochindustrialisierte sogenannte „zivilisierte“ Minderheit der Weltbevölkerung zum Opfer des internationalen Terrorismus erklärt. Eine solche Entwicklung geht durchaus mit der inneren Logik eines Gewaltbegriffs konform, der die moralische Anklage an die Perspektive potenziell Betroffener bindet. Eben weil das Empfinden der physischen und psychischen Beeinträchtigung nicht objektivierbar ist, bleibt als Ausweg nur die Politisierung. Das bedeutet, die Frage der Gewalt wird auf dem Wege der Artikulation und Durchsetzung von Interessen entschieden; sie verwandelt sich damit im Kern zu einer Angelegenheit der Machtverteilung.180 Zur Zeit der Entkolonialisierungs-, der Studenten- und der Antivietnambewegung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts fand eine breite Solidarisierung mit den Unterprivilegierten in allen Weltteilen statt und setzte das politisch-wirtschaftlich-militärische Establishment ins Unrecht. Durch Aufwertung der Interessen der sog. underdogs wuchs deren Ansehen und veränderte zumindest symbolisch das Kräfteverhältnis. Diese Umorientierung verdankte sich dem moralischen Gewicht, das ein welthistorischer Trend dem Revolutionsparadigma zuspielte. Nach dem als Scheitern dieses Paradigmas interpretierten Zusammenbruch des planwirtschaftlichen Gesellschaftssystems haben sich die Kräfteverhältnisse wieder mangels Solidarität der Intellektuellen mit den Schwachen zu Gunsten der politisch-militärisch und wirtschaftlich potenten Akteure zurückverlagert. 180
Galtung (1972) hat als erster diese Verschiebungen des Gewaltdiskurses registriert und darauf aufbauend eine Gewalttypologie erstellt. Er geht allerdings über die moralische Indifferenz dieses neuen Diskurses hinweg und interpretiert den Kult der Betroffenheit im Sinne des überkommenen Gewaltbegriffs als eine Erweiterung der moralischen Sensibilität. In der Definition schlägt sich diese Hoffnung im Zusatz der „Vermeidbarkeit“ nieder. Die vom Betroffenen registrierte Minimierung der Entfaltungschancen muss vermeidbar sein. Um einen nicht von der Schädigungsabsicht, sondern von der Betroffenheit her konzipierten Gewaltbegriff nicht über Bord zu werfen, muss auch die Feststellung von Vermeidbarkeit dem potenziellen Opfer obliegen. Auch Senghaas (1999: 12) geht noch immer davon aus, dass die „Fundamentalpolitisierung“, und damit die machtgetragene Kommunikation, dem „konstruktiven Pazifismus“ zugute käme.
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„Betroffenheit“ und „subjektive Opferperspektive“ sind einzig einem nachmetaphysischen Gewaltbegriff vereinbar, der das Kriterium der Schädigung nicht als Privation, als Beraubung eines natur- und vernunftrechtlichen oder eines gottgegebenen Guten festlegen kann. Wer sich als moralischer Ankläger Gehör verschaffen kann, der verfügt über Macht, der vermag seine Interessen zu artikulieren gegenüber anderen, deren Opferperspektive unbeachtet bleibt. Die Rivalitäten zwischen den Interessengruppen der Opfer von Holocaust und Zweitem Weltkrieg181 ist nicht nur auf knappe Wiedergutmachungsgelder zurückzuführen, sondern ist auch Symptom eines politisierten Gewaltdiskurses. Wenn die Konstruktion des moralisch Abzulehnenden auf Machtverhältnissen beruht und die breite Solidarität der einflussreichen Akteure mit den Habenichtsen dieser Welt durch den Verlust der historisch-dialektischen Perspektive aufgekündigt ist, dann verwundert es nicht, wenn Kritiker eines alternativlos gewordenen Systems zu „gefährlichen Subjekten“ werden. In dieser Situation verändert sich die Präferenzstruktur der Unterscheidung von Affirmation und Kritik. Der positive Wert wechselt zur Seite der Affirmation und überwindet damit ein Muster der Erkennung und Früherkennung gesellschaftlicher Gefahren, das seit der Aufklärung das europäische und amerikanische politische Denken beherrscht hat. Dieser erstrangige erkenntnisleitende Status, den Negation und Kritik die letzten zweihundertfünfzig Jahre besessen hat, war allerdings immer darauf angewiesen, dass es eine übereinstimmende Meinung über ein Positives, über „Vernunft“, „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ gibt. Diese Vorstellung von einem Vorzuziehenden, das die Richtung der kritischen Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten leitet, beruhte auf weltanschaulichen Orientierungen, auf Natur- und Vernunftrecht, aber auch auf historisch-dialektischer Geschichtsphilosophie. Beide werden von fundamentalkritischer Seite nach und nach als Glaubensgut einer metaphysischen Epoche erkannt und verlieren an Überzeugungskraft. Schließlich beziehen sie ihre Konturen nur noch aus den Freund/Feind-Orientierungen der kommunistisch-kapitalistischen Systemkonkurrenz. Die Alternativlosigkeit des marktwirtschaftlichen Modells musste vor diesem Hintergrund zur Gleichsetzung der Vernunft mit „herrschender Vernunft“, von Gerechtigkeit und Freiheit mit herrschenden Praktiken führen. Diese Fragen sind für die moralische Beobachtung zweiter Ordnung, für die Beobachtung moralischer Beobachtungsweisen, die den Pazifismus tangieren, von großer Bedeutung. Denn nur der organisatorische – von uns als friedensphilosophisch eingestufte – Pazifismus ist auf die Affirmation des liberalen Gesellschaftstypus eingestellt und praktiziert Kritik nur unter dem Blickwinkel einer steten Vervollkommnung des liberalen politisch-ökonomischen Projekts. Der kriegsphilosophische Pazifismus hingegen steht notwendig in Distanz zu allen herrschenden politischen Systemen, deren Verhältnis zur Gewalt notwendig paradoxer Natur ist: Gegründet 181
Zum Kampf um Anerkennung und der daraus resultierenden Konkurrenz der Opfer siehe Chaumont (2001).
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auf gewaltgestütztes Recht und rechtmäßige Gewaltausübung, ist jedes politische System in seinen Möglichkeiten begrenzt, gewaltlose – nicht-verletzende und nichtbenachteiligende – Mittel zu verwenden. Der entgrenzte Gewaltdiskurs, der alles als Gewalt brandmarken lässt, was der Selbstverwirklichung und der Bereicherung einflussreicher pressuregroups im Wege steht, führt neben dem Veralten der systemkritischen Perspektive zu einer Marginalisierung des kriegsphilosophischen Pazifismus.
5.2 Postmoderne Tendenzen der Zwischenkriegszeit Die Alternative „Gewalt/Gewaltfreiheit“ beginnt erst im neunzehnten Jahrhundert die sozialistische Bewegung zu spalten. Der utopische Sozialismus hatte sich noch ganz auf die von der Aufklärung empfohlenen Mittel der Bildung, der Überzeugung und der Ansteckung durch mächtige Vorbilder verlassen. Erst dessen Verflechtung mit der Arbeiterbewegung und die wissenschaftliche Systematisierung derselben im Marxismus setzt die Gewaltfrage auf die Tagesordnung. Damit sondern sich Strömungen eines „aktiven“ Pazifismus nicht nur von einem „organisatorischen“ Kantianischen Pazifismus ab, sondern auch von einem sozialistischen zunehmend gewaltbereiten Pazifismus. Der organisatorische und der sozialistische siedeln das Ideal der Gewaltlosigkeit nur im Zielbereich an. Bei ersterem ist dieses Ziel eine Frieden stiftende zwischenstaatliche Organisation und die weltweite Verwirklichung des republikanischen Prinzips. Das Ziel des Sozialismus ist die klassenlose Gesellschaft, zu deren Verwirklichung die Internationale gegründet wird. Der „aktive“ Pazifismus, der Gewaltfreiheit nicht erst als Fernziel aller politischen Bemühungen, sondern als Mittel und damit als Prinzip des Handelns selbst zu verwirklichen sucht, entfernt sich zunehmend von der europäischen Systemkritik und fühlt sich moralisch mehr mit der indischen NonViolence-Bewegung Gandhis verbunden. So schreibt Hendrik de Man im Handbuch des aktiven Pazifismus von 1928 zum Thema „Sozialismus und Gewalt“: „Was theoretisch als Ethisierung dieses Kampfes durch die Beziehung auf ein eschatologisches Endziel gedacht war, wirkte sich jedoch praktisch als An-ethisierung aus. Die Entscheidung wurde der Person abgenommen und einer überpersönlichen Macht – der „Entwicklung“, der „Klassenmission“ und dergleichen – übertragen. Somit entzog sie sich dem Kreise der persönlichen Verantwortung. Das Resultat war ein Überhandnehmen der so geheiligten Macht- und Interessenmotive über die Gesinnungsmotive. Der Marxismus wurde für die Arbeitermassen und für die meisten seiner Theoretiker – denn hierin begegnen sich Kautsky, Lenin und Sorel – zum reinen Sozialutilitarismus, wo Klassennot kein Gebot kennt. In diesem Stadium der Arbeiterbewegung werden Fragen der Gewaltanwendung bloss vom Standpunkt der unmittelbaren empirischen Zweckmässigkeit beurteilt. Der Zweck heiligt die Mittel.“182
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Hendrik de Man, Sozialismus und Gewalt, in: Kobler (1928: 160f.).
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Diese Phase des Sozialismus sei an sein Ende gelangt, und zwar aus dem Grund, weil die praktischen und theoretischen Voraussetzungen, auf denen sie beruhten, durch die Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte erschüttert worden seien. Es habe sich gezeigt, dass die dem Streben nach Vorteil und Macht überlassenen Arbeitermassen in dem Maße, in dem dieses Streben Erfolg gehabt hätte, in den kleinbürgerlichen Kulturkreis hineingewachsen wären. Das „Klasseninteresse“ sei offensichtlich ein so unsicherer Führer, dass die Internationalität in die Brüche gegangen sei, Interessen, Macht- und Revanchemotive reichten nicht aus, um eine neue soziale Ordnung aufzubauen. Jenes vermisste Neue bezieht sich 1928 auf den Abbau von Gewaltstrukturen als einem Ziel, für das die sozialistische Bewegung Opfer gefordert hatte. Aus dieser Erfahrung leitet de Man die Erkenntnis ab, dass der alte Glaube an die Unabhängigkeit des Mittels vom Zweck nicht mehr aufrechterhalten werden könne. Vor diesem Hintergrund plädiert Hendrik de Man für eine Ethisierung der Diskussion, mit der er auf die Verwerflichkeit einer Machtanwendung hinweisen möchte, die auf Gewalt, d.h. „auf die Einflössung von Angst beim Objekt beruht“ (de Man 1928: 164). Die sozialistische Praxis ziele auf die Veränderungen der sozialen Zustände und Einrichtungen, die, sofern dies nur durch Machtausübung zu erreichen ist, noch keine Wesensänderung der Menschen bedeute. Hier gelte es allerdings eine Spannung und Tragik auszuhalten, die zwischen dem Absolutismus der ethischen Forderung und dem Relativismus des Zweckmäßigen bestünden. Das gelte für Sozialismus und Pazifismus gleichermaßen. Was den wesentlichen Unterschied beider ausmache, sei der Widerstand, den ersterer dem Übel entgegensetzen wolle, während für den letzteren das Prinzip des Nicht-Widerstehens entscheidend sei. Um Widerstand im Sinne des Kampfes begründen zu können, bedürfe es eines Nachweises abgestufter Übel, sodass ein im Zusammenhang mit dem Widerstand verursachtes gegenüber dem zu verhindernden Übel zu vernachlässigen ist: „kasuistische Lösungen sind so billig wie Brombeeren, wenn man nur – wie es wirklich nicht anders geht – das unvermeidliche Übel mit dem entsprechenden Schuldgefühl als Übel anerkennt und die evidente Unterscheidung zwischen dem Unendlichkeitscharakter des ethischen Maßstabes und dem Endlichkeitscharakter der menschlichen Leistung berücksichtigt.“ (de Man 1928: 165).
Auffällige Analogien, aber auch Unterschiede zu den aktuellen Diskussionen über Legitimität und Effektivität gewaltsam/kriegerischer Methoden werden deutlich, wenn man sich immer wiederkehrende Beschwörungen von Lernerfolgen und nachgewiesenem Anachronismus vergegenwärtigt. Ende der zwanziger Jahre schien die ethische Indifferenz des Mittels ad absurdum geführt. Ihr Scheitern schien evident zu sein: „Seit der Zeit, wo der Terror im Kampfe gegen politische Unterdrückung noch als Gipfel des sozialen Heldentodes, der Barrikadenkampf noch als das Wesen der revolutionären Aktion, der Krieg noch als das ureigene Mittel des nationalen Daseinskampfes, der Streik noch als die vorzügliche symbolische heroische Rebellion erschien, ist reichlich ein hal-
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5 Postmoderner Pazifismus bes Jahrhundert vergangen. Den Höhepunkt jener Periode bezeichnen etwa die Daten: 1864-72 (die erste Internationale), 1864-1871 (die deutschen Einigungskriege), 1871 (die Pariser Kommune), 1881 (das Attentat beim Petersburger Winterpalast). Heutzutage ist der Terror als Waffe gegen den monarchistischen Absolutismus überflüssig geworden, weil dieser Absolutismus tot ist. Der Krieg hat sich statt als das Mittel der nationalen Daseinsbehauptung als Mittel der nationalen Selbstvernichtung erwiesen. Der Barrikadenkampf kann nichts mehr erreichen, was nicht viel leichter und sicherer durch das Wahlrecht und durch die Ausnutzung der „friedlichen Revolution in Permanenz“, wozu die Demokratie das Mittel bietet, erreicht werden könnte. Der Streik, seitdem er nicht mehr bloß die spontane, wilde Entladung eines sozialen Protestes ist, ist zur ungern gebrauchten ultima ratio einer Gewerkschaftspolitik geworden, deren Ziel die vertragliche Bindung der Parteien durch Rechtsnormen ist.“ (de Man 1928: 166).
Diese vor dem zweiten Weltkrieg angefertigte Diagnose wird aus dem Grund hier erwähnt, weil sie eine politische Haltung wiedergibt, die bei den Zeitgenossen als Ethisierung der strategischen Diskussion verstanden wird. Gewalt hat zur Durchsetzung politischer Interessen nicht nur versagt, sondern zeigt sich angesichts der wirklich erfolgreichen Methoden des Wahlrechts, der demokratischen Reformen und der Vertragsabschlüsse als schlichtweg überlebt. Die Zielgrößen des „organisatorischen Pazifismus“ werden hier zum Inbegriff ethisierter Mittel, wie sie vom „aktiven Pazifismus“ gefordert sind. In diesem Text von de Man wird in Ansätzen erkennbar, was unter den heutigen weltpolitischen Bedingungen zur vollen Entfaltung gelangen konnte, nämlich die vollendete Entdifferenzierung auch all jener kategorialen Unterscheidungen, die für den Pazifismus bezeichnend sind. Der wesentliche Unterschied zwischen den Fraktionen innerhalb der pazifistischen Bewegung ließ sich am besonderen Umgang mit dem Zweck/Mittel-Schema ablesen. Ethisierung des Zwecks und Ethisierung des Mittels waren nicht in Einklang zu bringen, weil sie in ihrem Einschließungs- und Ausschließungsverhältnis die Paradoxie des Friedens offen legen: Allem Anschein nach ist es nicht möglich, ein in sich schlüssiges Friedensmodell nur entweder auf das gewaltlose Mittel oder auf den Endzweck der Gewaltlosigkeit zu gründen.183 Wenn man der Überzeugung Ausdruck verleihen möchte, dass es keine ethisch neutralen Mittel gibt, weil die Gewalt nicht nur zu neuer Gewalt führt, sondern auch die Akteure korrumpiert, die sich derer bedienen, dann ist nicht der Friedenszweck für irrelevant erklärt, sondern es wird 183
Hans Driesch (1927) versucht dennoch beide mit Hilfe einer „axiomatischen Ethik“ vereinbar zu machen. Diese impliziert Tötungsverbot und radikale Ablehnung des Krieges, und erlaubt gleichzeitig dem Völkerbund gegen Friedensbrecher vorzugehen. Das Ziel des Kantischen ewigen Friedens soll durch einen kosmopolitisch-partikularistischen Pazifismus erreicht werden. Ziel ist ein „Provinzenbund“ als (Welt)Staat, der die nationalen Besonderheiten achtet. Driesch lehnt jedoch jede Gewalt ab, um das Ziel eines solchen „Pankosmos“ zu erreichen. Kater (2006: 96ff.) sieht hier einen Ansatz, der Mittel- und Zielpazifismus versöhnt, allerdings unter den Bedingungen der Zwischenkriegszeit. Heute reagiert ein postmoderner Pazifismus auf desillusionierende Erfahrungen mit den Vereinten Nationen.
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lediglich die konstitutive Bedeutung des Mittels für den Zweck bekräftigt. Umgekehrt zieht der reine „organisatorische Pazifismus“, der Glauben machen will, in der jetzigen noch schlechten Welt Mittel anwenden zu müssen, die in der zukünftigen besseren Welt entbehrlich sein werden, den Vorwurf des Selbstwiderspruchs auf sich. Denn ein Handlungsmodus, der als Mittel gewählt wird, strukturiert die sozialen Verhältnisse, die mit dessen Hilfe etabliert werden. Die Unterteilung des komplexen Handlungsgeschehens in Zweck und Mittel erweist sich als eine bloße Schematisierung, die dazu dient, der Komplexität Herr zu werden, in die hinein und aus der heraus gehandelt werden muss. Denn der Akteur sieht sich gezwungen, nicht nur all das in sein Kalkül einbeziehen, was vor ihm entschieden worden ist. Er müsste außerdem, um adäquate Entscheidungen treffen zu können, ohne sein Wissen ablaufende Handlungsprozesse berücksichtigen, die simultan zu seiner eigenen Handlung die soziale Wirklichkeit konstituieren. All dies ist nicht möglich. Der Akteur handelt in einer Situation, die unzählige Andere mit ihrem Handeln auf ihre Weise gleichzeitig beeinflussen. Niemand kann sich auf eine solche Komplexität simultaner Vollzüge planend und gestaltend einstellen. Insofern ist die Konzentration auf die Perspektive der Mittelwahl oder die des Zwecks selbst schon eine Methode des Umgangs mit dem größten aller Probleme, nämlich der Komplexität. Wenn weder das eine, die ausschließliche Ethisierung des Mittels, noch das andere, die ausschließliche Ethisierung des Zwecks, gelingt, so ist damit noch nicht ein neuer Weg aufgezeigt, der ein besseres Gelingen für den Fall verbürgt, dass die Differenz von Zweck und Mittel aufgehoben wird. Der Nachweis, dass die Trennung der beiden Strategien misslingt, beweist noch nicht, dass deren Verbindung möglich ist.184 Offensichtlich erfüllt eben jene Trennung des komplexen Handlungsgeschehens in Mittel und Zweck eine Funktion, die nicht ersatzlos gestrichen werden kann, ohne beim Handlungswilligen eine Lähmung zu bewirken, die nur zur Folge hat, dass andere mit ihren Handlungen die Welt in ihrem Sinne gestalten. Damit kommen wir auf den Text von Hendrik de Man und die Parallelen zur heutigen Situation zurück. Indem de Man behauptet, die im Stichwort „Demokratie“ zusammengefassten institutionellen Errungenschaften würden zugleich die Ethisierung des Mittels verbürgen, weil mit ihrer Hilfe eine Lage geschaffen worden sei, die das Mittel der Gewalt durch institutionelle, nichtgewaltsame Mittel verdrängt hätte, so benennt er eine Wirklichkeit gewordene ideale Konfiguration, in der die Paradoxie des gewaltgestützten Friedens aufgelöst ist. Denn die Methoden, deren sich jene Institutionen bedienen, die Gewaltfreiheit im Ziel- und im Mittelbereich realisiert haben, können nicht mehr mit Hilfe der Schemata beurteilt werden, die sie so grundlegend verwandelt haben. Der Frieden sichernde Beitrag der demokratischen Institu184
Im nuklearpazifistischen Plädoyer für ein Weltgewaltmonopol wird „Zentralisierung“ (S. Tönnies 2006: 282f.) zum Friedensmittel und Friedenszweck zugleich und darin zu einer Lösung des Problems einer überkomplexen Weltgesellschaft, die Habermas als Argument gegen den Weltstaat anführt.
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tionen liegt darin, dass Zwecke nur auf dem Wege vorgeschriebener Verfahren verfolgt werden dürfen. Die prozeduralisierten Ziele lassen sich von den gewaltlosen Mitteln nicht mehr unterscheiden, die der „aktive Pazifismus“ gegen den Zweck der Gewaltfreiheit meint ausspielen zu können. In diesen zivilisatorischen Errungenschaften schließen die Fixierung auf das gewaltlose Mittel und auf den Zweck der Gewaltlosigkeit einander nicht mehr aus, sondern sie sind in der „Errungenschaft“ miteinander versöhnt. Hendrik de Man konstatiert diesen erfreulichen Befund im Anschluss an eine Reihe vom Pazifismus als gescheitert betrachteter Revolutionen und Kriege, besonders dem als Katastrophe gewerteten Ersten Weltkrieg. Der entscheidende Einfluss auf diese optimistische Sicht aber kommt von den ersten Erfolgen der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Um den kritischen Punkt zu benennen, muss hier wieder daran erinnert werden, dass Kant sein Friedensmodell des Republikanismus von der Regierungsform abgekoppelt hat, sodass die Weimarer Republik noch nicht als Teilverwirklichung des rechtspazifistischen Zieles angesehen werden muss. Erst recht aber ist sie nicht die Einlösung der vom „aktiven Pazifismus“ geforderten gewaltlosen Mittelwahl.185 Dieses Urteil jedoch, nach dem die neuen Institutionen die Spaltung des Pazifismus überwinden würden, weil sie Gewaltlosigkeit auf der Ebene der Ziele und der Mittel zugleich berücksichtigen können, ist recht besehen gar nicht auf einen Nachweis in der politischen Wirklichkeit angewiesen. Und genau hierin zeigt sich bei de Man ein argumentatives Strukturmerkmal, das sich im heutigen „politischen Pazifismus“ wiederholt. Da nämlich die demokratischen Institutionen als realisierte pazifistische Methode und als erreichtes pazifistisches Ziel zugleich symbolisiert sind, lassen sie sich nicht mehr mit Hilfe jener Unterscheidung beurteilen, deren Aufhebung durch sie zustande gebracht worden ist. Die Demokratie ist Praktizierung gewaltloser verfahrensförmiger Mittel und somit erreichtes Ziel der Gewaltlosigkeit; wie wollte man da noch die einzelnen Handlungsschritte danach beurteilen wollen, ob sie zur Durchführung ihrer Verfahren und Prozeduren Gewalt anwenden müssen. Selbige Prozeduren und Verfahren heißen jetzt nicht mehr Gewalt, sondern Recht. So argumentiert Walter Benjamin allerdings zu dieser Zeit noch in cognito; seine Schriften werden erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ehren kommen. Was aber unter diesen Vorzeichen der aufgehobenen Zweck/Mittel-Differenz deutlich wird, ist die Vereinbarkeit des demokratischen Prinzips mit Gewalt jeder Art. Das gilt selbst für die auf legalem Wege erworbene Macht, deren sich Hitler bediente, als er den Ausnahmezustand ausrief, um die gefährdete Republik mit Notstandsgesetzten zu regieren.186 Die „terroristische Gefahr“ ging seinerzeit den Ver185
Friedrich W. Foerster bezieht eine pazifistische Außenseiterposition, indem er auf die Kontinuität des preußischen Militarismus aufmerksam macht und mit der Prophezeihung eines neuen Krieges die „Errungenschaften“ in Zweifel zieht. Siehe Donat (1987). 186 Die Parallele zu den „signing statements“ des amerikanischen Präsidenten George W. Bush werden von US-amerikanischen Juristen heute mitunter als so augenfällig betrachtet, dass nur ein rasches
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lautbarungen nach von international agierenden Juden aus. Sobald bestimmte soziale Einrichtungen als Verwirklichung ethischer Ziele und ethisierter Mittel in einem gelten, wächst diesen eine Legitimität zu, die jedes Handeln als moralisch vertretbar erscheinen lässt, dieses entledigt sich Rechtfertigungspflichten. Das an Verfahrensweisen gebundene formalistische Rechtsverständnis hatte in Carl Schmitt einen Rechtstheoretiker gefunden, der im Führerprinzip die effektivste Form dieses prozeduralisierten Politikverständnisses ausmachte, da der Führer am schnellsten Verfahren in konkrete Verordnungen münden lassen kann und damit rasche Entscheidungen in einer gefahrvollen Zeit möglich machte. Das Gewaltmonopol findet hier als personalisierter Leviathan seine Vollendung. Es ist der Vertrauensvorschuss, der, wie wir an Hendrik de Man sehen konnten, bestimmten Institutionen gewährt wird, der die Gefahr unterschätzen ließ, die von Hitler und der nationalsozialistischen Partei ausging, waren diese doch angetreten, nicht nur die Rechte und Interessen des deutschen Volkes nach den Demütigungen des Versailler Vertrags zu vertreten und wiederherzustellen, sondern auch dem Terrorismus Herr zu werden. Von anarchistischer und sozialistischer Seite her sucht dieser die Länder Europas in einem ganz anderen Umfang heim, als es heute der islamistische Terrorismus tut. Dieser Legitimitätsüberschuss bestimmter Institutionen lässt selbst kriegerische Methoden akzeptieren, werden selbige doch einem gerechten Grund zugeordnet, was nahe liegt, da den Trägern dieser Institutionen gute Absichten unterstellt werden. Damit schließt sich ein Kreis, der dafür sorgt, dass unendliches Leid über die Menschen kommen muss, bevor eine solche selbststabilisierende Kontext-Hypothese187 brüchig wird. Nicht Kriege und Großverbrechen sind in der Lage, eine solche Hypothese zu falsifizieren, sondern allenfalls eine traumatisierende Niederlage.
Amtsenthebungsverfahren den Prozess umfassender Entrechtlichung aufhalten könne, wie sie von den Anhängern der „unitary executive theory“ in ihrer Verteidigung von Folter und Aufhebung der Freiheitsrechte, befördert werde. Siehe Thomas E. Woods Jr., in: The American Conservative vom 30.01.2006, 1300 Wilson Blvd., Suite 120, Arlington, VA 22209; Elizabeth Holtzmann, in: The Nation vom 30.01.2006, 33 Irving Place, New York, NY 10003. 187 Dieser Terminus der Sozialpsychologie beschreibt einen konditionierten Wahrnehmungsmechanismus, Vorurteile, die auftreten, wenn im Kontext der Annahme personen- oder institutionenbedingter guter Absichten Gewalt als legitime Verteidigung oder als Präventivmaßnahme akzeptiert wird. Im Kontext der Annahme schlechter Absichten wird jedes beliebige Handeln zur Gewalt. Selbst Gesten zur Versöhnung werden als Heimtücke und raffinierte Hinhaltetaktik interpretiert. Zur Deutung des „paranoiden Misstrauens“ auf beiden Seiten des Abschreckungssystems (White 1965) fand die Kategorie in die Friedens- und Konfliktforschung Eingang.
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5.3 „Politischer Pazifismus“ 5.3.1 Gesellschaftsstrukturelle Rahmenbedingungen Wir haben in den vorangegangenen Überlegungen Entdifferenzierungsprozesse beschrieben, die dazu führen, dass die beiden pazifistischen Richtungen nicht mehr einander gegenüber stehen. Die alternative Konzentration auf die Ethisierung des Zieles oder die Ethisierung der Mittel scheint sich historisch überlebt zu haben. Dieser Eindruck bildet sich auf dem Hintergrund eines Vertrauensvorschusses, der bestimmten demokratischen Institutionen gewährt wird. Dies schildert die Situation Ende der zwanziger Jahre und wiederholt sich im Anschluss an das Jahr 1989, nachdem der Liberalismus in seiner Entfaltungskraft nicht mehr durch den sozialistischen Feind behindert wird. Wenn es Institutionen gibt, deren Funktion darin besteht, Konflikte nichtgewaltsam auszutragen, wird jede von ihr ausgeübte Gewalt zur Ordnungsmaßnahme. Der Rechtspazifismus betrachtet die weltweite Einrichtung parlamentarischer Demokratien als Verwirklichung vom historischen Pazifismus angestrebter Zweck/ Mittel-Symmetrie. Die für uns entscheidende Frage lautet: Handelt es sich um Symmetrie, oder handelt es sich um bloße Entdifferenzierung von Zweck und Mittel? Im ersten Fall richtet sich das Urteil nach der Funktion und dem erklärten Selbstverständnis der demokratischen Institutionen. Da es eben die Funktion dieser Institutionen ist, Konflikte ohne Rückgriff auf Gewalt zu lösen, ist das Ziel „Frieden“ erreicht und zugleich ist gewährleistet, dass die Mittel friedlicher Art sind. Es ist die Funktion der demokratischen Institutionen, Konflikte ohne Rückgriff auf Gewalt auszutragen, die dafür garantiert, dass Friedenszweck und Friedensmittel nicht mehr in Widerspruch zueinander geraten. Gemessen an der Funktion gibt es keine Abweichungen in der Empirie, denn jede Gewaltanwendung findet in eben dieser Funktion statt, den nichtgewaltsamen Konfliktaustrag zu sichern. Sie wird demzufolge gar nicht als Gewalt wahrgenommen, sondern als Rechtsdurchsetzung. Damit wechselt die Analyse von einem sozialpsychologischen zu einem funktionalistischen Sprachspiel. Es ist jetzt ist nicht mehr die Rede vom Vertrauensvorschuss, den bestimmte Institutionen genießen, sodass auf deren Konto gehende gewaltsame Verordnungen als legale und legitime Führererlasse akzeptiert werden. Wir sprechen jetzt von Funktionen, die bei demokratischen Institutionen eben die des gewaltfreien Konfliktaustrags sind. Mit dem Begriff der Funktion haben die Sozialwissenschaften eine Beschreibungsebene eingeführt, die genau das von uns skizzierte Phänomen zum Ausdruck bringt: Sie bezeichnet Operationen, die einem System – parlamentarische Demokratie – zugerechnet werden. Es handelt sich demnach zugleich um empirische Operationen, faktische Konfliktlösung durch Prozeduralisierung, durch Verrechtlichung, und um die Bedingungen dafür, dass solches Handeln möglich ist. Denn das beobachtete Konfliktlösungshandeln wird Systemen zugerech-
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net, die aufgrund ihrer besonderen – demokratischen – Struktur, die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Konfliktlösung als empirisches Datum vorkommt. Wir können also formulieren: Es ist die Funktion dieses Begriffs „Funktion“, eine Beschreibungsebene zu finden, bei der die Kantische Unterscheidung von empirisch und transzendental aufgehoben ist. Es ist faktisches Handeln (das demokratischen Strukturen zugerechnete Ordnungshandeln), welches die Bedingung dafür liefert, dass der Konfliktaustrag nichtgewaltsam – nach demokratischen Verfahren – zustande kommt. Was sich bei Hendrik de Man als missliche Kontext-Hypothese in ein pazifistisches Gedankengebäude eingeschlichen hat, das ist in einem modernen funktional differenzierten Gesellschaftssystem, das sich mit nachmetaphysischen Denkmitteln legitimiert, zur Selbstverständlichkeit geworden. Da die Funktion eine Leistung wiedergibt, die zugleich empirisch und transzendental ist, können ihr die Methoden der empirischen Sozialforschung nichts anhaben. Man mag noch so viele Verstöße gegen das Gebot der Gewaltfreiheit nachweisen, weder das Handlungssystem selbst noch das faktische Handeln werden diskreditiert, solange die Handlungen einem System zugerechnet werden, dessen Funktion es ist, Konflikte nichtgewaltsam zu lösen. Allein die Funktion ist es, die ethische Qualität verleiht. In nachmetaphysischen Legitimitätsstrukturen tritt die Funktion das Erbe der transzendentalen Bestimmung an.188 Sie bezeichnet die Bedingungen, unter denen Ursachen etwas bewirken können. In sozialen hochkomplexen Handlungszusammenhängen ist die Isolierung bestimmter Ursachen zur Erklärung bestimmter Wirkungen nicht in der gleichen Weise möglich, wie dies naturwissenschaftliche Experimente vermögen. Der Versuch, den Ausbruch eines Krieges auf distinkte Ursachen zurückzuführen, deren Kenntnis in späteren Fällen zur Kriegsverhinderung fruchtbar gemacht werden könnte, ist bis jetzt fehlgeschlagen. Ein historisches Aufarbeiten der Fakten, die in den Relevanzbereich solcher Kriegsursachen fallen, fördert ein hochkomplexes Ursache/Wirkungs-Geschehen zu Tage, das auf spätere Konfliktfälle deshalb nicht übertragbar ist, weil die besondere Kasuistik nur durch das Zusammenwirken bestimmter Persönlichkeiten mit bestimmten Ereignissen und bestimmten historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erklärt werden kann. Historische Konstellationen werden von Historikern als singuläre Phänomene behandelt. Dies veranlasst an Steuerung und gesellschaftlicher Transformation interessierte Gesellschaftswissenschaften mitunter dazu, sich von den historischen Disziplinen zu distanzieren, um ein von diesen aufbereitetes Datenmaterial für eigene Forschungsvorhaben nutzbar zu machen. Die empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften haben infolgedessen soziale Laborbedingungen konstruiert, die es erlauben sollen, Diagnosen und Prognosen über soziale Phänomene mit einer den naturwissenschaftlichen Expertisen vergleichbaren Exaktheit anzufertigen. Dazu dient die Hypothesenbildung, die es an188
Diese Zusammenhänge hat Luhmann deutlich gemacht, siehe „Funktion und Kausalität“, in: ders. (1970: 9ff.); „Funktionale Methode und Systemtheorie“ in: ders. (1970: 31ff.); „System und Funktion“ in: (1984:30ff.).
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hand empirischer Daten zu verifizieren oder zu falsifizieren gilt. Die Selektion aus der Fülle des Datenmaterials ist dabei von der subjektiven Hypothesenbildung desjenigen abhängig, der relevante Expertisen anfertigt. Der oben erwähnte Perzeptionsmechanismus der Kontext-Hypothese wiederholt sich bei der Selektion und erst recht bei der Auswertung der gesammelten Daten. Die Bedenkenlosigkeit, mit der selbst rechts- und atompazifistische Stimmen heute Krieg als Vorgriff auf weltbürgerrechts- und weltinnenpolitische Verhältnisse akzeptieren, ist nur vor diesem Hintergrund verständlich. Denn die Funktion von rechtlichen und gewaltmonopolistischen Institutionen in parlamentarischen Demokratien gibt immer dann Entwarnung, wenn Bedenken bezüglich bestimmter Strategien laut werden. Sollten Philosophie und Wissenschaft einen Beitrag zum Frieden leisten können, so ist es nur eben dieser, auf Mechanismen und Denkgewohnheiten aufmerksam zu machen, die dafür sorgen, dass eine immer gleiche Gewalt so unvergleichlich daherkommt und sich wieder und wieder als bloße Ordnungsmaßnahme darzustellen vermag. Damit kommen wir auf den Ausgangsgedanken dieses Abschnitts zurück. Es war gesagt worden, dass die neuen Kriegsrechtfertigungen sich zwar einer immer wieder neuen Sprache bedienen, aber in ihren Argumentationsstrukturen relativ statisch bleiben. Was als Zweck/Mittel-Symmetrie, als Einlösung der Ethisierung des Zwecks und der Ethisierung der Mittel, gefeiert wird, ist keine wirkliche und echte Symmetrie, sondern das Merkmal einer aufgehobenen Unterscheidung von Zweck und Mittel. Die zivilisatorische Errungenschaft der demokratischen Institutionen ist so konzipiert, dass die von ihr verwandten Mittel als Mittel zum Friedenszweck interpretiert werden, eben weil es deren Funktion ist, auf nichtgewaltsame Weise Konflikte auszutragen. Die wahrgenommene Symmetrie ist in Wahrheit eine Wahrnehmungsverzerrung, denn dem westlichen Gewaltmonopol gelingt es keineswegs Frieden zu „machen“, indem es den Frieden vorbereitet.189 Dieser Anschein wird nur durch eine Vorverständigung erweckt, die sich auf die Funktion der Institutionen und damit auf eine Konfiguration konzentriert, bei der zwischen den ergriffenen und den ermöglichenden Möglichkeiten, zwischen dem Empirischen und dem Transzendentalen, nicht mehr unterschieden wird. Damit haben wir es mit nichts anderem als mit einer konstruierten und gefährlichen Entdifferenzierung von Zweck und Mittel zu tun, die die paradoxe Natur aller Friedensbemühungen unterschlägt und so tut, als handele es sich bei der nach Weltgestaltung und Weltverwaltung strebenden “Koalition der Fähigen und Willigen“ nicht um einen schlichten Fall von Weltherrschaftsambitionen, die in der Geschichte bisher immer in die Katastrophe geführt haben, weil die betroffenen „Objekte“ Fremdherrschaft früher oder später abschütteln.
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Zum Versuch, das Verhältnis von Demokratie und Frieden unter einer kritischen Perspektive zu betrachten siehe Schrader (2007).
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Da die deklarierte Symmetrie in Wahrheit Entdifferenzierung von Zweck und Mittel ist, haben wir ein Phänomen vor uns, das zunehmend als ein postmodernes Phänomen bewusst wird. Als postmodern kann heute eine Verwendung von Begriffen bezeichnet werden, deren Sinn nicht mehr durch „typisch moderne“ Leitunterscheidungen festgelegt ist. Die Unterteilung des Handelns in Zwecke und Mittel verbürgt dessen Rationalität als jenem Leitbegriff, der die bei Kant und Hegel noch unterschiedenen Kategorien der Vernunft und des Verstandes in einem einzigen Sinnkonstrukt bündelt. Als rational gilt erst ein Verhalten, das darin objektiven Gesichtspunkten des Vorzuziehenden folgt, als es sich in den Dienst eines Subsystems begibt, das die gesellschaftlichen Funktionen der Sicherheit, der Rechtsschöpfung, der Subsistenz- und Wertbeschaffung, der Erziehung und Therapie erfüllt. Es folgt aber auch subjektiven Gesichtspunkten, sofern es erlaubt, an einer Differenz zwischen Rationalität (Vernünftigkeit) und Rationalisierung (Systemfunktionalität) festzuhalten. Letztere Unterscheidung hat in modernen funktional differenzierten Gesellschaftssystemen die alte der Aufklärung verhaftete Unterscheidung von Vernunft und Verstand ersetzt. Wie Luhmann (1973) in seinen Analysen der Funktion von Zwecken in sozialen Systemen gezeigt hat, entfallen im Lichte dieser Funktion jegliche Argumente gegen die Zweck/Mittel-Vertauschung. Da es nämlich in Gesellschaften, die ihre Einheit nicht mehr in einer hierarchischen Spitze (König, Kaiser) finden, keinen gesamtgesellschaftlichen Zweck gibt, treten Zwecke in sozialen Systemen nur noch als Systemzwecke in Erscheinung. Das politische System versteht es als seinen Zweck, für Sicherheit und Frieden zu sorgen. Für die anderen Subsysteme, die je eigene systemerhaltende Zwecke geltend machen, ist dieser besondere politische Zweck nur ein mehr oder weniger hilfreiches Mittel. Für die Wirtschaft ist Rechtssicherheit eine Voraussetzung, um Investoren anzulocken. Zugleich erweisen sich Rüstungsaufträge und die Waffenproduktion ankurbelnde kriegerische Konflikte als Beitrag zum Systemerhalt und zeigen sich damit als zweckdienlich, ohne in die Zweckformel der Wirtschaft aufgenommen zu werden. Der Zweck markiert eben nur die Selbstbeschreibung, in der sich die Systemfunktion dem Außen, der Gesamtgesellschaft, darbietet. Die Funktion aber wird primär durch systemerhaltende Operationen erfüllt, was eine Terminologie der Zwecke, die immer noch Spuren des alten aufklärerischen Verständnisses von Rationalität enthält, verdeckt. Man kann diese Sinnfunktion, die Zwecke in sozialen Systemen erfüllen, nicht verstehen, ohne die Luhmannsche Unterscheidung von Codierung und Programmierung an dieser Stelle einzuführen.190 Die Zweckformel, mit der sich ein System nach außen darstellt, mit dem es seine Daseinsberechtigung, seine Ressourcenforderungen und seine Autorität, geltend macht, ist bloß ein Programm. Sie ist nicht dem teleologischen Zweck vergleichbar, der im antiken und im mittelalterlichen Denken allem 190
Ausführlich Luhmann (1987:13ff.).
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Handeln einen Sinn verliehen hat und der klassisch in den Begriffen von „Frieden“ und „Gerechtigkeit“ zum Ausdruck gebracht wurde. Wenn auch heute dieselben Begriffe verwendet werden, so bewegen sie sich doch in einem anderen Verstehenskontext. Bezogen auf eine religiös fundierte hierarchisch organisierte Gesellschaft meinen Frieden und Gerechtigkeit anderes als in der säkular fundierten funktional differenzierten Gesellschaft.191 Wird vom Frieden gesprochen, so kann das politische System immer auf die Bedeutung verweisen, die allen systemstabilisierenden politischen Maßnahmen noch vor jeder Friedenssicherung zukommt, denn wenn das politische System seine Stabilität verliert und also nicht mehr funktionstüchtig ist, wie sollte es dann für Frieden sorgen können. Der Systemerhalt wird zum Zweck, demgegenüber der Frieden nur die Bedeutung eines Mittels zukommen kann. Wird diese Funktion durch Krieg besser erfüllt, dann ist dieser dem Frieden unbedingt vorzuziehen. So stellt sich die Zweck/Mittel-Vertauschung nicht als böswillige und skrupellose Missachtung des Friedenszwecks ein, sondern als schlichter Effekt der Gesellschaftsstruktur. Das politische System funktional differenzierter Gesellschaften unterscheidet sich nämlich darin vom Souverän einer hierarchisch organisierten Gesellschaft, dass seine Macht im Vergleich zu dieser gering ist, kann es doch nicht ohne weiteres alle anderen Teilsysteme für seine besonderen Belange einspannen. Obgleich die Macht des Subsystems idealtypisch – von den gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen aus gesehen – geringer ist, so mag sie in einer anderen Hinsicht deshalb größer sein, weil der Monarch an gesamtgesellschaftlich gültige Moralmaximen in gleicher Weise gebunden war wie seine Untertanen und die Kirche idealiter über deren Einhaltung wachte. Für den König galt deshalb dasselbe Tötungsverbot wie für jeden Einzelmenschen, eine Tatsache, die mit Hilfe einer eigenen, von Anfang an umstrittenen, Ethik – der Lehre vom gerechten Krieg – abzuschwächen gesucht wird. Als Gegenmaßnahme konnte sich die Kirche des Mittels der Exkommunikation des Herrschers bedienen.192 Damit kommen wir zu folgender Darstellung: Die Macht des politischen Systems ist darin geringer, dass dieses über weniger Legitimität verfügt als eine Herrschaft von Gottes Gnaden. Diese ist vom Wahlmechanismus abhängig und ist zeitlich auf eine oder wenige Legislaturperioden beschränkt. Sie ist deshalb gezwungen, auf alle anderen Subsysteme Rücksicht zu nehmen, in die das Wahlvolk sei es als Funktionsträger oder als Leistungsempfänger eingebunden ist. Werden die Interessen der Wirtschaft nicht bedient und Kapitalflucht setzt ein, dann schwinden die Wahlchancen in dem Maße, in dem sich die Verhältnisse verschlechtern. Dieselbe Abhängig191
Zum historischen Wandel des Friedensbegriffs siehe Janssen (1975). Da kulturelle und geistige Produktivität im Mittelalter von der Kirche ausgehen, ist weltliche und geistliche Macht von denselben Quellen beeinflusst. Es ist deshalb schwierig, ein Handeln und Verhalten „der Kirche“ in einen Gegensatz zu den gerade vorherrschenden Kräfteverhältnissen – Verfilzung und Trennung von Geistlichem und Weltlichem – in der Gesellschaft zu bringen.
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keit vom Rechtssystem drosselt ebenfalls die Machtentfaltung des politischen Systems. In allem Handeln, in dem das Politische nicht anderen Funktionsbereichen in die Quere kommt und gegen deren Interessen verstößt, ist das System jedoch frei. Es gibt keine übergeordnete Instanz, die über den ethischen Gehalt der Funktionserfüllung wacht. Was als Zweck ausgegeben wird – die Friedenswahrung – ist in ihrer Metamorphose reine Funktionserfüllung und weniger noch, sie ist ein Programm, das erstellt wird und das jeder Zeit durch ein neues ersetzt werden kann. Luhmann spricht von der „programmatischen Festlegung von Entscheidungsprämissen“,193 die reines Mittel der Systemerhaltung ist. Der Zweck mag nur das Aushängeschild sein, unter dem alles firmiert, was im Rahmen politischer Programme an Einzelentscheidungen gefällt wird. In Gestalt von Programmen ist der Zweck demnach ein Mittel. Vom Programm ist der Code zu unterscheiden, der den Gesichtspunkt bezeichnet, unter dem das Subsystem Vorzuziehendes von Abzulehnendem trennt. Um seinen Bestand zu sichern, muss das politische System alles tun, was ihm Macht verschafft und alles meiden oder bekämpfen, was seine Macht untergräbt. Der Code im Sinne der handlungsanleitenden Unterscheidung des Politischen ist deshalb das Schema Macht/Machtunterworfen. Diese Verstehensgrundlage taucht die pazifistische Kontroverse in ein besonderes Licht. Denn wenn wir von Pazifismus sprechen, dann tun wir dies immer im Kontext einer bestimmten zeitgeschichtlichen und gesellschaftsstrukturellen Verfassung. Für den westlichen marktwirtschaftlich-parlamentarischen Typus gilt in jedem Fall, dass zwischen Semantik (dem deklarierten Zweck, Frieden zu sichern, Gerechtigkeit herzustellen, Menschenrechte zu verteidigen) und der Gesellschaftsstruktur (der unvermeidlichen Verwandlung des Zwecks in programmatische Festlegung von Entscheidungsprämissen und damit dessen Verwandlung in Mittel des Systemerhalts) strikt unterschieden werden muss. Im Anschluss an diese Trennung wäre zu fragen, wie die Ziele des Pazifismus, die Ethisierung der Zwecke und die Ethisierung der Mittel, in dieser besonderen Gesellschaftsstruktur verfolgt werden können. Tatsächlich finden wir bei den säkularen pazifistischen Richtungen, die den zeitgenössischen Diskurs am stärksten prägen, keine Anhaltspunkte mehr für eine substanzielle Unterscheidung von Zweck und Mittel. Das geht aus unserer Analyse des Rechts- und des Nuklearpazifismus hervor, die sich gezwungen sehen, alle Operation, die dem internationalen Rechtssystem und dem internationalen Gewaltmonopol vorgreifen, als rechtmäßig gelten zu lassen, weil sie nach den Standards künftiger demokratischer Weltstrukturen beurteilt werden. Was bei Hendrik de Man beobachtet werden konnte, die Bereitschaft nämlich, in den demokratischen Institutionen die Verwirklichung ethischer Ziele und ethischer Mittel in einem zu sehen, wird nun im 193
Nach Luhmann (1973: 255) bietet sich der Programmbegriff „zur Bezeichnung der steuernden Struktur dieses Informationsverarbeitungsprozesses deshalb an, weil er nicht, wie die klassischen Begriffe Wert, Zweck und Norm zeitindifferent ist, sondern gerade die Ordnung einer Zeitfolge von Nachrichten meint.“
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vermeintlichen Anschluss an die Weltbürgerrechtskonzeption von Kant globalisiert. Es wird davon ausgegangen, dass jedwedes politische Handeln, das im Namen der gewünschten Verfassung erfolgt, nicht mehr ein wertneutrales Mittel ist, das seine Legitimität aus dem Zweck bezieht. Da das Mittel („humanitäre Intervention“, Nation building, Antiterroreinsatz) den Zweck (Weltbürgerrechtsordnung, Weltinnenpolitik, Weltgewaltmonopol) antizipiert, ist sein Verhältnis zum Zweck kein asymmetrisches, sondern ein symmetrisches. Wie wir sehen werden, reagiert der „politische Pazifismus“ unserer Tage auf eine Logik, die bestimmt, was als plausibel und zeitgemäß gilt und die dafür verantwortlich ist, dass die „radikalpazifistischen“ Kritiker auf scheinbar verlorenem Posten stehen. Wer genau dies nicht will, dass nämlich alle schwächeren Länder mit Kriegen überzogen werden – deklariert als weltinnenpolitische Ordnungsmaßnahme – der darf nicht an moralische Gefühle appellieren und Effizienzgesichtspunkte angeblich überlegener gewaltloser Mittel ins Spiel bringen, die in einem nachmetaphysischen und entdifferenzierten kulturellen Milieu hoffnungslos veraltet sind. Denn die Metakritik, mit der sich der gewaltbereite „politische Pazifismus“ gegen seine Kritiker zur Wehr setzt, bewegt sich gar nicht mehr in den typisch modernen Denkkategorien, sondern hat längst auf eine postmoderne Argumentationsebene übergewechselt, auf der die Unterscheidungen der Moderne, Rationalität-Irrationalität, Zweck-Mittel, Innen/Außen als aufgehobene Unterscheidungen Verwendung finden. 5.3.2 Marginalisierung des kriegsphilosophischen Pazifismus durch die „Neuen Kriege“ Bevor wir auf diese Kontroverse zu sprechen kommen, um das Gesagte an einem Beispiel zu erläutern, muss noch eine weitere Veränderung erwähnt werden, die mit der Definition bestimmter Kriege als weltinnenpolitische Ordnungsmaßnahme in Zusammenhang steht. Angesprochen ist der Gesichtswandel des Krieges, der als Problem „neuer Kriege“ den Pazifismus vor ganz andere Anforderungen stellt. In der Unterscheidung von kriegs- und friedensphilosophischem Pazifismus hatte in den bisherigen Überlegungen die besondere Art des Umgangs mit der Unterscheidung von Zweck und Mittel im Vordergrund gestanden. Die kriegsphilosophische Variante verlangt Gewaltfreiheit nicht nur für einen zu erstrebenden idealen gesellschaftlichen Friedenszustand, sondern für jedes Handeln, das sich um diesen Zustand bemüht. „Verlangen“ bedeutet jedoch keinesfalls, dass Pazifisten diesen selbstauferlegten Einschränkungen des Handelns nicht nur in der Praxis, sondern bereits in der Theorie genügen könnten. Allein dies ist nicht der Leistungsschwäche der Protagonisten anzulasten, sondern der paradoxen Natur der Friedensproblematik. Die friedensphilosophische Variante identifiziert strikte Gewaltabstinenz mit Kant als Friedhofsfrieden und verortet das rechtspazifistische Ideal des gewaltfreien Konfliktaustrags im Zielbereich. Bevor dieses Ziel, das Weltgewaltmonopol bzw. die Weltbürgerrechtsordnung, erreicht ist, bedarf es mitunter gewaltsamer Methoden. Und zuletzt hatten wir sogar
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gesehen, dass ein dem Ideal vorgreifendes Handeln gar nicht mehr als Gewalt, sondern als Rechtsentscheid derjenigen Länder wahrgenommen wird, die von der Überlegenheit des eigenen Rechtssystems überzeugt sind. Der kriegs- unterscheidet sich vom friedensphilosophischen Pazifismus in einer mehr oder weniger distinkten Weise darin, dass er sich durch Abgrenzung gegenüber einem Negativen profiliert. Dabei ist die Ablehnung des Krieges als Mittel der Konfliktlösung als Basisüberzeugung allgemein geteilt, während dies nicht im gleichen Maße für die Ablehnung der Gewalt gilt. Was diese eint, ist der „anti-war-ism“ (Teichman 1986: 4). Man könnte nun aufgrund der Tatsache, dass Krieg im ursprünglichen Sinne eines zwischenstaatlichen mit militärischen Mitteln ausgetragenen Konflikts gegenüber einem als „neue Kriege“ bezeichneten Typus in den Hintergrund getreten ist, nur noch der friedenphilosophischen Spielart des Pazifismus Bedeutung zusprechen.194 Der Begriff des „Neuen“ bezieht sich dabei nicht nur auf die große Zahl von innerstaatlichen Kriegen, Bürgerkriegen im klassischen Sinne, von Warlords befehligter privater Söldnerheere, die Marginalisierte und selbst Kinder rekrutieren. Was neben diesem insbesondere für die Dritte Welt geltenden Phänomen in den großen Themenkomplex der „Neuen Kriege“ zunehmend einbezogen wird, sind „Militärinterventionen“ des sich globalisierenden Westens in Länder, die als Peripherie wahrgenommen werden. Wir finden seit dem ersten Golfkrieg jene veränderte Bewertung von Waffengängen, die die OECD-Staaten unter Führung der USA vom Begriff einer „Neuen Weltordnung“ aus legitimieren. Vor die Wahrnehmung dieser Militärinterventionen als „Krieg“ schiebt sich nach und nach eine Interpretation, die selbige als weltinnenpolitische legitime Polizeiaktion einordnet. Es geht dabei um folgenschwere Verschiebungen im gemeinten Sinn der politischen Semantik, die den Grundimpuls der pazifistischen Theorie und Praxis von der Definition der Situation her gegenstandslos macht. Die Auseinandersetzung über Fragen der Moralität und Legitimität erübrigen sich letztlich, wenn das legalistische Schema auch außerhalb nationalstaatlicher Grenzen zur einzig verbindlichen erklärt ist. Die Kategorie der legalen Gewalt wird als Vorgriff auf eine neue Weltordnung globalisiert und darin nicht mehr als der Gegenbegriff zum Frieden wahrgenommen. Um in einer solchen gesellschaftspolitischen Situation eine strategische Diskussion über die Gewaltfrage im pazifistischen Sinne anregen zu wollen, müsste Hand an eine hegemoniale politische Semantik gelegt werden, die die Realität hat verschwinden lassen, auf die das pazifistische Profil zugeschnitten gewesen war. So suggeriert der Terminus der „postnationalen Konstellation“ (Habermas 1998) eine weltpolitische Einheit, die es zu bewahren und zu verwalten gilt.195 Die pazifistische 194
Thomas Kater (1999: 340ff.) spricht von einem „philosophischen Ziel-Pazifismus“, der sich in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchgesetzt und im Zusammenhang mit dem 200. Jahrestag des Erscheinens von Kants Zum Ewigen Frieden seinen Höhepunkt gefunden habe. 195 So Zangl/Zürn (2003), die von einer evidenten politischen Wirklichkeit im Begriff der „transnationalen Problemlagen“ ausgehen, welche die ursprüngliche Trennung von innerer und äußerer Sphäre
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müsste, um sich gegen die Globalisierungssemantik zu behaupten, zunächst das theoretische Koordinatensystem in Frage stellen, mit dem der Westen nach dem Ende des Systemantagonismus seine hegemonialen Ansprüche geltend macht. Das politische Sprachspiel, innerhalb dessen ein Phänomen wie der Afghanistankrieg und die internationale Militärpräsenz seit 2003 in den Massenmedien zur Darstellung gelangen, zeigt wechselseitig stabilisierende Situationsdefinition und politische Semantik als ein hermetisches Ganzes, das von außen kaum in Frage gestellt werden kann. Das betrifft zunächst die Einordnung des Afghanistankrieges als „humanitäre Intervention“, die in krassem Missverhältnis zu den Gründen stehen, die die Interventionsmächte selbst für einen Militärangriff geltend gemacht haben. Vereinigte Staaten und „Koalition der Fähigen und Willigen“ haben nach eigenen Verlautbarungen nicht eingegriffen, um Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden und einer notleidenden Bevölkerung zu Hilfe zu eilen. Die deklarierte Absicht war vielmehr die Ergreifung des Terroristen Usama bin Laden und, nach verweigerter Auslieferung durch die Regierung, der Sturz des Taliban-Regimes. Das Missverhältnis zwischen analytischer Einordnung, die sich auf die wissenschaftliche Publizistik erstreckt, und dem Charakter der Intervention, zeigt die Definitionsmacht einer herrschenden oder zur Herrschaft gelangten politischen Semantik. Der Begriff der „humanitären Intervention“ liefert ein nicht rechtfertigungspflichtiges funktionales Äquivalent für den rechtfertigungspflichtigen „Krieg“. Während der Krieg völkerrechtlich nach den Kriterien des ius ad bellum und des ius in bello legitimiert werden muss,196 ist die „humanitäre Intervention“ ein Typus von Strategie und Taktik, der seine eigene Legitimität in sich trägt. Er fungiert heute als Symbol für einen gerechten – einen verhältnismäßigen und in guter Absicht geführten – Krieg. Auch das zweite sich selbst legitimierende Konstrukt des „Nation building“ zwängt im Falle Afghanistans eine gegenläufige Realität ins Prokrustesbett einer hegemonialen Semantik. Die militärische Offensive trifft 2003 nicht eine von Staatszerfall bedrohte oder schon heimgesuchte Region, sondern ein Land, in das unter der Talibanherrschaft – wie immer diese aus der Perspektive anderer Rechtstraditionen beurteilt werden mag – nach langer Zeit wieder zu stabilen Verhältnissen zurückgefunden hatte. An die Stelle der pazifistischen Unterscheidungen von Krieg und Frieden bzw. von Gewalt und Frieden tritt die Unterscheidung von Weltbürger und Terrorist. Letztere Unterscheidung kombiniert zweierlei Semantiken, die demokratisch-rechtsstaatliche und die sozialrevolutionäre. Die Verschmelzung dieser beiden Semantiken ist die Folge des weltpolitischen Sieges des liberalkapitalistischen über das planwirtschaftlich-sozialistische Projekt der Moderne. Beide historischen Figuren, der mit des Staates aufgehoben habe. Die Frage wird nicht gestellt, ob dem Westen, der als universaler Problemlöser „postnationale Sicherheitspolitik“ betreibt, universale Legitimität zukommt. 196 Semantische Verschiebungen vermögen infolgedessen wichtige Bemühungen um eine Zivilisierung des Kriegs, wie sie Michael Ignatieff (2000) unternimmt, zu untergraben.
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Waffengewalt für eine gerechte Gesellschaft kämpfende Guerillero und der mit den Mitteln der Non-Violence kämpfende Pazifist verlieren ihre historische Funktion, da sich jede alternative gerechtere Gesellschaftsordnung von der Idee her überlebt hat. Wie sehr die veränderte Gesellschaftsstruktur – die Globalisierung des funktionalen Differenzierungstypus – bereits die gesellschaftliche Semantik beeinflusst hat, macht sich in den Konflikten bemerkbar, die seit den neunziger Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts ausgebrochen sind. Angesichts der Ausschreitungen ethno-nationalistischer und separatistischer Gruppierungen im auseinanderbrechenden Jugoslawien, die Vertreibungen, Vergewaltigungen und Massaker im Gefolge hatten, begannen Teile des europäisch-amerikanischen Pazifismus eine Ausnahmelogik zu entwickeln, nach der es gute Gründe nicht nur für die militärische Intervention in Krisengebiete, sondern sogar für die Bombardierung jugoslawischer Städte als probates Mittel erfolgreicher Unterbindung von Menschenrechtsverletzungen gibt. Die causa iusta der Menschenrechtsverletzung wollte jedoch ein anderer Flügel des Pazifismus nicht anerkennen. Dieser stigmatisierte die Zustimmung zur Militärintervention der Alliierten nicht nur als Verrat an der Idee des Pazifismus, sondern bestritt auch, dass es sich bei den Kriegsgründen um „gute“ handele. Die Wertung erfolgte dabei immer unter dem Gesichtspunkt des „Legitimen“ und des „Effizienten“. Wenn der Menschenrechtsinterventionismus in den Reihen der erklärten Pazifisten mithin unterschiedlich beurteilt wurde, so bezog sich der Dissens einmal auf den Rechts- und Völkerrechtsbruch, der in Kauf genommen werden musste. Zum anderen bezog er sich auf einen grundsätzlichen Zweifel, dass nicht nur die Institution Krieg, sondern im weiteren Sinne überhaupt Menschenrechtsverletzungen auf dem Wege des Rechtsbruchs überwunden werden könnten. Zu diesem Rechtsbruch zählten im Bosnien- und im Kosovokrieg nicht nur die Verletzung des Art. 2 (4) der Charta der Vereinten Nationen, der ein Gewaltverbot ausspricht, sondern auch der kodifizierten Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten und nicht zuletzt, die Verwendung von Streubomben und anderer völkerrechtswidrigen Waffen mit Uranmunition. Die öffentlich ausgetragene innerpazifistische Kontroverse ist in einer Diskussionsreihe der Frankfurter Rundschau zu Beginn des Jahres 2002 dokumentiert. Sie entzündete sich an den Thesen des Grünen-Staatsministers im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, der für ein Verabschieden des „radikalen Pazifismus“ in Zeiten des Terrors eintritt. Volmer unterscheidet einen prinzipientreuen gesinnungsethisch orientierten radikalen Pazifismus von einem die konkreten historischen Bedingungen berücksichtigenden verantwortungsethischen „politischen Pazifismus“.197 Letzterer sieht sich gezwungen, von seinen maximalistischen Forderungen der Gewaltabsti197
Heinz-Günther Stobbe (1993: 58f.) schlägt vor, die Differenz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik aus dem Verkehr zu ziehen, da diese nur für Polemiken und zum politischen Meinungsund Richtungsstreit tauge. Von der Ethik werde der sachliche Kern der Differenz adäquater in den Begriffen „deontologisch“ und „teleologisch“ wiedergegeben.
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nenz abzurücken, wenn die Verhältnisse so geartet sind, dass gewaltfreie Strategien gegen Menschenrechtsverletzungen nichts ausrichten können. An den Einwänden, die gegen die Thesen Volmers von unterschiedlichen Seiten aus (Wolfgang Gehrcke (PDS), Reinhard J. Voß (Pax Christi), Harald Müller (HSFK), Wolf-Dieter Narr, Eugen Drewermann, Horst-Eberhard Richter) formuliert wurden, lassen sich geradezu exemplarisch die wichtigsten Fragestellungen und Probleme des Pazifismus aufzeigen. Die Kontroverse berührt Grundfragen der Ethik, die für das pazifistische Anliegen besondere Bedeutung haben. Diese beziehen sich auf die Notwendigkeit und Möglichkeit einer strikten Einhaltung moralischer Gebote und Verbote in einer Welt, in der nicht alle Menschen normgerecht handeln. Wir werden im Folgenden nicht nur das angesprochene Problem zu erörtern haben, das Volmer mit der auf Max Weber zurückgehenden klassischen Differenz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik umschreibt. Es gilt weitere Fragen aufzuwerfen: Weshalb behandelt eine politische Lehre und Bewegung seit zweitausendfünfhundert Jahren diskutierte ethische Grundfragen als politische? Wie verhalten sich Norm und Situation zueinander? Lässt sich eine „politische Ethik“, die mit ihren Maximen auf die politischen Bedingungen reagiert, von einer „“universellen Ethik“ unterscheiden, die den Anspruch erhebt, raumzeitlich nicht gebunden zu sein? Sobald man sich auf die Fragen näher einlässt, gerät man in Paradoxien, die mit der Gewaltverstrickung alle Friedensbemühungen in Zusammenhang stehen. Sie lassen sich erst in einem Typus pazifistischen Diskurses berücksichtigen, der dieses Problem der Paradoxie nicht ignoriert. Was den hier als postmodern zu beschreibenden Diskurs hingegen kennzeichnet, ist ein Ausweichmanöver. Die tiefergehende Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen wird dadurch umgangen, dass Unterschiede eingeebnet werden, die das Problem der Militärinterventionen erst als ethisch-moralisch-legitimatorisches einstufen lassen. Solche Unterscheidungen sind Zweck-Mittel, Innen-Außen (Innenpolitik-Außenpolitik), Frieden-Krieg, Universalismus-Partikularismus, Gesinnung-Verantwortung. An konkreten Beispielen soll dieser neue „postmoderne“ Typus pazifistischen Argumentierens veranschaulicht werden. Volmer vertritt zunächst einen historistischen Pazifismus, der Typen desselben mit bestimmten zeitgeschichtlichen Erscheinungen verknüpft. „Gewaltverbot“ tritt als Maxime in den Gesichtskreis eines Pazifismus, der in einer Situation mit Massenzerstörungswaffen einander bedrohender feindlicher Hegemonen um das Beste in der Politik kämpfte. 198 Das Gewaltverbot stellte sich somit als Verhaltensoktroy in einer weltpolitischen Situation dar, in der jeder Waffengang die Eskalationsspirale auslösen konnte. Angesichts der Tatsache, dass die beiden Abschreckungssysteme weitge198
Bereits diese Einschätzung ist kontrovers. Huber/Reuter (1990: 97) sehen in der großen Zahl der Kriege insbesondere in der Dritten Welt, die von den Supermächten nach 1945 geführt wurden, ein Zeichen für die Kontinuität bellizistischen Denkens.
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hend automatisiert waren, wirkten sie als ein die Menschheit als Ganze bedrohendes System. In seinem Artikel bezeichnet Volmer den kollektiven Bewusstseinswandel, der bereits nach Hiroshima und Nagasaki, spätestens aber seit der Zündung einer Wasserstoffbombe durch die Sowjetunion (1953) und dem nun einsetzenden atomaren Wettrüsten, einsetzt, als „radikalpazifistisch“. Diese Wortwahl ist zunächst verblüffend, weil sie sich nicht in das Schema fügt, das Volmer selbst zur moralischen Bewertung der einzelnen pazifistischen Positionen bemüht. Denn nach der Unterscheidung Max Webers in gesinnungs- und verantwortungsethische Orientierung bedurfte die entschiedene Ablehnung kriegerischer Optionen angesichts einer überwältigend wahrgenommenen „Nichtführbarkeit von Kriegen“ keinerlei Gesinnung, sondern nur das schlichte Verantwortungsgefühl von Politik und Öffentlichkeit. Die verantwortungslose Gesinnung lebte dem allgemeinen Urteil dieser Zeit nach eher in jener revisionistischen antikommunistischen radikalen Minderheit fort, die mit der Devise „Lieber tot als rot“ die historische Erfahrung eines mit militärischen Mitteln überwundenen nationalsozialistischen Totalitarismus auf die „kommunistische Gefahr“ übertrugen. Um das Etikett „Radikalpazifismus“ einer ganzen Epoche anheften zu können, muss in folgender Weise argumentiert werden: Zur Zeit des Ost/West-Konflikts war es ein Zeichen höchster Verantwortung, wenn man eine Gesinnung an den Tag legte, die den Krieg als völkerrechtliches Institut der Konfliktlösung ablehnt und die bereit ist, an dessen Überwindung wissenschaftlich und politisch mitzuwirken. Nachdem sich die östlichen Planwirtschaften in Marktwirtschaften verwandeln haben und dieser Prozess zur Auflösung der hegemonialen politisch-militärischen Struktur führte, ist es verantwortungsbewusst, die eigenen Vorstellungen von „gutem Leben“ nicht nur in die Welt zu tragen. Vielmehr gilt es die eigenen „Werte“ mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verbreiten und über deren Einhaltung auf der ganzen Welt zu wachen. Vor 1989 manifestierte sich Verantwortung in der gesinnungsethischen Kriegsabstinenz. Nach 1989 gibt sich das gesinnungsethische Profil von Menschenrechtskriegen als Zeichen einer historischen Verantwortung. Was in diesem verqueren Spiel mit traditionellen Differenzschemata zum Ausdruck kommt, ist weit aufschlussreicher als die hier offenbarte Haltung zu ganz konkreten Kriegen. Zunächst scheint das Kriterium, das Volmer zu Hilfe nimmt, um einen „politischen Pazifismus“ von einem „radikalen Pazifismus“ abzusetzen, insofern einleuchtend, als hier das wertethische Schema von Gesinnung und Verantwortung bemüht wird, mit dem der Soziologe Max Weber die Sozialwissenschaften von den Gängelungen durch Philosophie und Theologie ein für allemal befreien wollte. Die empirisch arbeitenden Disziplinen hatten sich mit der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ihre eigene axiomatische und axiologische Grundlage verschafft und konnten die schwierigen innerethischen Reflexionen ganz außer Acht lassen. Der Kategoriengebrauch wider die eigene Logik, mit dem Volmer jedoch Gesinnung (Gewaltverbot) vor 1989 mit Verantwortung gleichsetzt und nach 1989 Ver-
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antwortung (Militärintervention) in ihrem Unterschied zur Gesinnung (Menschenrechte) unkenntlich macht, zeigt diese Art des pazifistischen als einen für die Postmoderne typischen Diskurs. Als postmodern kann heute eine Verwendung von Begriffen bezeichnet werden, deren Sinn nicht mehr durch „typisch moderne“ Leitunterscheidungen festgelegt ist. „Gesinnung und Verantwortung“ zählt zu den Leitunterscheidungen, die den Kommunikationsteilnehmer sofort informieren. Man meint nicht nachfragen zu müssen, wenn Volmer den abwägenden verantwortungsethischen Umgang mit militärischen Mitteln in einer Welt beschwört, die es mit einer Verletzung von Menschenrechten und mit Terrorismus zu tun hat. Der entdifferenzierte Gebrauch des Schemas von Gesinnung und Verantwortung zieht auch Unterscheidungen in Mitleidenschaft, aus denen die Kriterien für das spezifisch Gesinnungsmäßige und das spezifisch Verantwortungsbewusste bezogen worden waren. Volmer bringt das gesinnungsethische Profil in Verbindung mit einen Universalismus, der sich von der Geschichte freigemacht hat. In die Nähe von Autoritarismus, Totalitarismus, Intoleranz und Rigidität gerät Universalität als Leitbegriff der Moderne einfach dadurch, dass der Gegenbegriff ausgewechselt wurde. Positiv ist die Bedeutung, wenn Universalismus einem Partikularismus gegenübergestellt wird, der für eine selbstbezogene Haltung steht, in der das Gemeinwohl keinen Platz hat. Sie ist nicht mehr positiv, wenn der Gegensatz des Universalen nicht das Partikulare, sondern das Flexible, das waches Bewusstsein für historische Veränderlichkeit ist. Universalismus/Partikularismus ist eine der Leitunterscheidungen der Moderne, die sich in einer Fülle weiterer Unterscheidungen, wie konservativ/progressiv, rechts/ links, fortschrittlich/rückschrittlich, spiegelt. Vollmer hingegen verschiebt den gemeinten Sinn von Universalismus unmerklich, indem er den Begriff einem wachen Bewusstsein für historische Bedingtheit und historischen Wandel kontrastiert. Dadurch sieht sich universalistisches Denken und Handeln plötzlich seitenverkehrt platziert. Es hält die Stelle rückschrittlicher Geschichtsvergessenheit besetzt, die zuvor vom Partikularen eingenommen worden war. Harald Müller moniert in seiner Kritik am Plädoyer Volmers für einen „politischen Pazifismus“ diese Gegenüberstellung. Er weist darauf hin, dass die als Antwort auf zeitgeschichtliche Herausforderungen ausgegebenen Menschenrechte in gleicher Weise Universalismen seien wie die vom Radikalpazifismus hochgehaltene Gewaltfreiheit. „Für die Menschenrechte wie für den unbedingten Pazifismus gilt, dass die Aufgabe der Unbedingtheit und die Anerkennung von historischem Relativismus Selbstaufgabe bedeutet.“ (Müller 2002: 20).
Damit stünden ganz einfach zwei universalistische Positionen einander gegenüber, die nur um den Preis der Selbstverleugnung flexibel auf die tagespolitischen Erfordernisse reagieren könnten. Denn Menschenrechtspolitik nimmt für sich in Anspruch, über die Einhaltung der Menschenrechte unabhängig davon zu wachen, ob die jeweiligen politischen und/oder sozio-ökonomischen Bedingungen deren Einhaltung erleichtern oder
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erschweren. Rechte, die dem Menschen qua Menschen zukommen, sind eben gerade nicht als Rechte konzipiert, die bestimmte staatlich-rechtliche verfasste Ordnungen dem Menschen gewähren wollen oder können. Wo sich die Menschen- nicht mehr von den Bürgerrechten unterscheiden, ist der Menschenrechtsgedanke aufgegeben. Dieser Einwand rechnet mit dem leitbegrifflichen Verständnisses von Universalismus und nicht mit der entdifferenzierten postmodernen Verwendung des Begriffs. Die „moderne“ Verwendung des Begriffs blendet immer sofort den Gegenbegriff des Partikularismus ein, um dem auf die Spur zu kommen, was gemeint sein könnte. Dazu muss zunächst ermittelt werden, ob sich der Gegensatz aufrechterhalten lässt, anders gesagt, ob die beiden Seiten des Universalen und Partikularen in ihrer Unterschiedenheit zur Geltung kommen. Das stellt Müller in Abrede, wenn er darauf hinweist, dass beide Spielarten des Universalismus, die Gewaltfreiheit und die Menschenrechte, in ihrer universalen Geltung prekär seien, weil sie mit unausweichlichen Dilemmata konfrontiert sind: „Der Pazifismus muss zu Gunsten seiner prinzipiellen Gewaltlosigkeit in Kauf nehmen, dass das Böse widerstandslos Gewalt anwenden kann. Die für die Menschenrechte Streitenden verantworten den unvermeidlichen „Kollateralschaden“, die Opfer an Leib und Leben Unschuldiger, die dieser Streit nach sich ziehen kann. Der abwägende Verantwortungsethiker läuft ständig Gefahr, die Grenze zu überschreiten, indem das Anbequemen an die „Sachzwänge“ der Realität ihn zum Objekt, wenn nicht gar zum Subjekt der Macht- und Interessenpolitik so genannter Realpolitik werden lässt.“ (Müller 2002. 20).
Dieses Problem der Dilemmata stellt sich erst vor dem Hintergrund einer intakten Unterscheidung von universal und partikular. Denn nur unter der Voraussetzung klarer Unterscheidbarkeit lässt sich der Frage nachgehen, inwieweit sich die Realität nach dieser Unterscheidung richtet, bzw., inwieweit es der Politik gelingt, Gewaltlosigkeit und Menschenrechte allen Menschen zugute kommen zu lassen (Universalität) und nicht auf Kosten eines Teils der Menschheit einem anderen Teil zu verschaffen (Partikularität). In der postmodernen Lesart kann dieser Einwand jedoch der neuen Unterscheidung von „radikalem“ und „politischem“ Pazifismus nichts anhaben, denn die Aussage lautet nicht: „die Menschenrechte sind keine universalistischen Werte“; sie lautet vielmehr: „die Menschenrechte sind nach 1989 historisch-gesellschaftliche Möglichkeiten und insofern Notwendigkeiten, als das Ende des atomaren Patt neue Chancen der weltweiten Durchsetzung und Überwachung eröffnet hat. Die Begriffarchitektur ist mithin dieselbe wie sie bereits in der Bewertung der radikalpazifistischen Gewaltabstinenz vor 1989 zum Tragen gekommen war. Ebenso wie damals ein Zeichen größten Verantwortungsgefühls war, gesinnungsethisch gegen Gewalt zu sein, so ist es heute ein Zeichen von Verantwortung, gesinnungsethisch für Menschenrechtsinterventionismus einzutreten. Dieser letztere Standpunkt ist nach Volmer nicht gesinnungsethisch, sondern verantwortungsethisch, weil die zeitgeschichtlichen Umstände eine solche Politik verlangen, weil sie diese als rational erscheinen lassen.
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Auch hier zeigt sich der entdifferenzierte Gebrauch der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Die Gesinnung „Gewaltfreiheit“ war früher verantwortungsbewusst; sie zeigt sich heute in ihrer Rolle, die Durchsetzung der Menschenrechte zu behindern, als unverantwortlich. Das heutige Handeln von der ehemals verantwortlichen Gesinnung leiten zu lassen ist unverantwortlich. Damit wird das Desiderat der „Gewaltlosigkeit“ zur reinen Gesinnung und damit zum schroffen Gegenteil der Verantwortung. Die gewaltsame Mittel nicht prinzipiell ablehnende Menschenrechtspolitik ist hingegen eine verantwortungsbewusste und damit eine Gesinnung, die nicht in Widerspruch zur Verantwortung steht. „Gewaltlosigkeit“ und damit der Radikalpazifismus, ist vor 1989 mithin adäquat und rational, weil hier Gesinnungs- und Verantwortungsethik ununterscheidbar sind. „Gewaltbereite Menschenrechtspolitik“ ist nach 1989 aus demselben Grund adäquat und rational. Sie ist nicht wie die „Gewaltfreiheit“ reine Gesinnung, sondern sie ist verantwortliche Gesinnung und befindet sich damit nicht in einem Gegensatz zur Verantwortung. Wenn wir im entdifferenzierten Gebrauch von modernen Leitunterscheidungen das Charakteristische des Postmodernen sehen wollen, so zeigt sich auch hier wieder die Parallele zur Zwischenkriegszeit. Ein analoges Spiel mit der Zweiseitenform von Gesinnung und Verantwortung qua instrumentalisierter Gesinnung, in der Folge auch von Mittel- und Zielpazifismus, finden sich beim Neukantianer Paul Natorp (1916, 1924) und bei Max Scheler 1927/1974). Hatten diese vor dem Ersten Weltkrieg den Pazifismus noch als Irrtum verworfen und einem heroisch-kriegerischen Weg zu Kants „Ewigen Frieden“ das Wort geredet, so distanzieren sich beide nach dem Krieg von dieser Position. Allerdings verbleibt die Gewaltkritik in jenen auch für die heutige postmoderne Zeit typischen Schranken. Verworfen wird der Bellizismus der Vorkriegszeit, bezeichnet als „Gesinnungsmilitarismus“ ebenso wie der „Instrumentalpazifismus“, in dem der Friede nur Mittel zu einem Zweck ist. Scheler bekennt sich hingegen zu einem „Gesinnungspazifismus und Instrumentalmilitarismus, dazu Förderung aller Bestrebungen auf ewigen Frieden hin …“199 Man muss diese begriffsarchitektonische Raffinesse durchschauen, um verstehen zu können, weshalb die sachgemäßen und logischen Einwände der Kritiker Volmers in gewisser Weise alt aussehen und weshalb sich die Logik Volmers gegenwärtig quer durch alle Parteidifferenzen durchzusetzen scheint. Eine durchschlagende Kritik an der heutigen Zeitströmung enttabuisierter Gewalt muss in diese Tiefendimension vorstoßen, in der sich die Metamorphose der modernen in postmoderne Leitunterscheidungen vollzieht. Wie in gesellschaftlichen Diskursen heute allgemein, so findet man auch im pazifistischen Diskurs beide, den modernen (differenzerhaltenden) und den postmodernen (entdifferenzierten) Gebrauch von Leitunterscheidungen. Wo die Begriffe postmodern frisiert worden sind, dort verschieben sich zwangs199
Max Scheler „Die Idee des Friedens und der Pazifismus“, ein 1927 auf Einladung des Reichswehrministeriums gehaltener Vortrag. Zitat nach Kater (2006: 96).
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läufig die Legitimitätsstrukturen. Gewissermaßen alles Sinnverstehen gerät ins Schlingern, wenn die Grundbegriffe mit ihrem Gegenteil verschmelzen und Krieg als probates pazifistisches Mittel erscheint. Hier wird sichtbar, wie diese Form der Fundamentalkritik, die den Sinn der Gedanken fundierenden Leitunterscheidungen nicht mehr anerkennt, Kritik stumpf werden lässt. Mit seiner Kritik am Universalismus zielt Volmer ja nicht auf das, was im Kontext der modernen Leitunterscheidung mit diesem Begriff gemeint ist, nämlich den Gegensatz zum Partikularen. Er zielt vielmehr auf den Sinn der Unterscheidung als solcher, wenn er Flexibilität und ein waches Bewusstsein für historische Veränderungen zum Gegenbegriff erklärt und damit den Universalismus zum Inbegriff einer rigiden Grundhaltung macht. Eine über das Ziel der Kritik an bestimmten Erscheinungen (Krieg) hinausschießende Kritik, die bis zu den Grundlagen vorstößt, welche Kritik erst möglich machen, zerstört kritisches Denken und treibt in die Affirmation, die zustimmende Hinnahme von jeglichem Handeln, mit dem die Funktionssysteme ihre Macht vergrößern. Das geschieht im angesprochenen pazifistischen Diskurs dadurch, dass der für das pazifistische Selbstverständnis konstitutive negative Wert (Krieg, Gewalt) durch einen anderen negativen Wert (Menschenrechtsverletzung) ersetzt wird. Vordergründig gesehen ist damit an der Möglichkeit der kritischen Distanz zu gängigen Praktiken nichts verändert. Die Betonung der Menschenrechte wird unter Verkennung der postmodernen Metamorphose von Leitperspektiven als Komplexierung des pazifistischen Ziels missverstanden, als Erweiterung des Katalogs. Sie wird somit zum Zeichen eines „konstruktiven Pazifismus“ (Senghaas 2004) und eines „Integrational Pazifism“ (Smith 2006). Denn es wird ja an einem Negativen festgehalten, das zu kritisieren das humanitäre Profil sichert. Entscheidend ist bei diesem Auswechseln des Gegenbegriffs jedoch, dass dieses als spezifisch pazifistisch ausgegeben wird, gewissermaßen sogar als Erneuerung eines zeitgemäßen Pazifismus. Auf diese Weise kommt es zur beschriebenen Entdifferenzierung. Denn indem behauptet wird, diese neue Leitunterscheidung von Menschenrechten und Menschenrechtsverletzung sei Signum einer zeitgemäßen Version, wird die alte über die neue Unterscheidung so geschoben, dass auch die Legitimitätsdiskurse verschwimmen. Beide, pazifistischer und Menschenrechtsdiskurs aber transportieren diametrale Einstellungen zu Gewalt und Krieg. Für den Pazifismus ist Gewalt tendenziell der Antiwert; beim Menschenrechtsdiskurs ist Gewalt nicht negativ, sondern ambivalent. Im Begriff der Menschenrechtsverletzung ist das negative Moment aufgehoben; im Begriff der „humanitären Intervention“ tritt Gewalt als Kraft der Problemlösung in Erscheinung. Indem Volmer diese beiden Diskurse verschmelzen lässt, erhält der Menschenrechtsinterventionismus höhere pazifistische Weihen: Es wird ihm attestiert, gewaltlos zu sein, wenn auch nicht in seiner unmittelbaren Erscheinung, so doch in seinen langfristigen Auswirkungen der Sache des Pazifismus zuzuarbeiten. Die Empörung über den Beitrag von Ludger Volmer mag entscheidend durch diesen Umstand ausgelöst worden sein. Denn gegen eine Kultur der Verständigung
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verstößt derjenige, der sich Rechtsfertigungspflichten entzieht, indem er zwischen Referenzsystemen hin und her pendelt, sodass der Kommunikationsteilnehmer stets aufs Neue über den Sinn der verwendeten Begriffe nicht informiert, sondern absichtlich desinformiert wird. Man sieht hier erneut, wie sehr die theoretische Durchdringung der Praxis erst in die Lage versetzt, Praxis zu betreiben, indem die Operationen Schritt für Schritt nachvollzogen werden, die sich vor dem Auge des Betrachters so tatkräftig darstellen. Insofern ist die Theorie tatsächlich die höchste Form der Praxis, wie der berühmte Satz Adornos lautet. Von diesem heutigen postmodernen entdifferenzierten „politischen Pazifismus“ scheint sich der „sozialrevolutionäre Pazifismus“ der Entkolonialisierungsbewegung zur Zeit des Ost/West-Konflikts kaum zu unterscheiden. Auch hier hatte man zwei Referenzsysteme übereinander kopiert, um einer bestimmten Politik fraglose Anerkennung zu verschaffen. Die „revolutionäre Gewalt“ wurde zur „Kraft der Gewaltlosigkeit“, zumindest langfristig in der in Aussicht gestellten gerechten Gesellschaftsordnung. Wenn es sich auch um dieselben politischen Kreise und partiell um dieselben Personen handelt, die vor 1989 den „sozialrevolutionären Pazifismus“200 und nach 1989 den „politischen Pazifismus“ propagierten,201 so sind es die unterschiedlichen zeitgeschichtlich bedingten Referenzsysteme, die einen schroffen Gegensatz von modernem und postmodernem Umgang mit dem Pazifismus sichtbar machen. Mit dem Begriff des Menschenrechtsdiskurses wird heute zwar der Anschein erweckt, es läge ein Referenzsystem vergleichbar dem Marxismus oder dem Liberalismus vor, tatsächlich haben wir es aber mit sehr unterschiedlichen Erscheinungsweisen zu tun. Marxistisches und liberalistisches Denken entspringen philosophisch untermauerten und dem Anspruch nach wissenschaftlich gestützten Welterklärungsmodellen, die im historisch-dialektischen Materialismus und in der Evolutionstheorie über eine Methode und zugleich eine begriffsbestimmende Theorie verfügen. Beide methodisch-theoretischen Ansätze interpretieren die Menschenrechte je verschieden, eben unter dem Blickwinkel eines kollektivistischen und eines individualistischen Menschenbildes. Die Menschenrechte waren in ihrer diametralen Auslegung als soziale Beteiligungsrechte und als politische Mitwirkungsrechte ein Terminus, der für die moralische Überlegenheit des jeweiligen Gesellschaftssystems stand. Der Begriff des Menschenrechtsdiskurses meint ein im Laufe langjährigen Sprechens über die Menschenrechte historisch sedimentiertes Sinnkonstrukt. Dieses hat 1989 seinen theoretischen Rückhalt verloren. Was mit einem Appell an die Men200
Was Ulrike Wasmuht (1998: 281ff.) als zweiten Richtungsstreit über die „Entgrenzung der Gewalt“ in der Friedensforschung beschreibt, ist aufgrund vielfältiger Überschneidungen und Vernetzungen derselben mit der Friedensbewegung auch für unseren Zusammenhang relevant. 201 So versuchte der damalige Außenminister Josef Fischer die Radikalen seiner Partei für den harten außenpolitischen Kurs zu gewinnen, indem er an die Guerilla-Debatten der siebziger und frühen achtziger Jahre erinnerte. Analogiebildung wurde zu einer Strategie der Auflösung von Widersprüchen im Menschenrechtsinterventionismus, siehe dazu Brücher in: Becker/Brücher (2001: 75ff.).
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schenrechte gemeint war, erschloss sich nämlich nicht nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen sozialistischen oder liberalistischen Referenzrahmen. Die Forderung, Menschenrechte zu wahren, bezog ihren informativen Wert zusätzlich aus der Art und Weise, in der sich die Gesellschaftssysteme gegeneinander abgrenzten. So wurde Freiheit – ein philosophisch voraussetzungsreicher und mehrdeutiger Begriff – erst vor dem Hintergrund planwirtschaftlicher Vereinnahmungen und den Gängelungen des Einparteienstaates ein eindeutiger Begriff. Man musste den entmündigten und überwachten Bürger der östlichen Hemisphäre vor Augen haben, um zu wissen, was Freiheit bedeutet. Nach 1989 beginnt der Freiheitsbegriff als differenzloser Begriff Verwendung zu finden und damit in seinen Grenzvariablen uneindeutig zu werden. Es ist jetzt nicht mehr verständlich, weshalb die Überwachung der Bürger, weshalb die Inhaftierung auf Verdacht ohne beweiskräftige Verdachtsmomente, weshalb unbegrenztes Festsetzen von Verdächtigten in Untersuchungshaft mit der „westlichen Wertegemeinschaft“ in Widerspruch stehen sollen, wenn solche Maßnahmen doch die Terrorismusgefahr herabsetzen können. Im totalitarismuskritischen Jargon hieß dasselbe Verhalten bezogen auf den verfeindeten Osten „totalitär“. Selbst wenn der zeitgenössische Menschenrechtsdiskurs im siegreichen westliche Menschenrechtsmodell evolutionstheoretisch fundiert ist, so fehlt doch der ehemalige Referenzrahmen, da das liberal-marktwirtschaftliche Verwertungsdenken sein humanitäres Profil aus der Abgrenzung vom Sozialismus bezogen hatte. Als Wert sui generis konnte sich der Liberalismus nicht halten; er degenerierte bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts zum reinen Sozialdarwinismus, der für die mitleidlose Vernichtung von allem „Minderwertigen“ Partei ergriff. Erst in Abgrenzung von der nationalsozialistisch-faschistischen Vergangenheit und dem zeitgenössischen „kommunistischen System“ wurde der Menschenrechtsgedanke stark. Heute haben sich nicht die Formeln verändert, unter denen die politische Praxis für ihre Handlungskonzepte wirbt; aber diese Formeln sind mit einer neuen Bedeutung angereichert, die die alte zunehmend verdrängt. Man könnte also sagen, eine veränderte politische Semantik überlagert eine stagnierte politische Begrifflichkeit. Was die alten Begriffe nach wie vor an Sinngehalt transportieren, ist eine von diesen Begriffen ausgehende Legitimität, von der Handelnde profitieren, die sich auf „Freiheit“, „Demokratie“, „Menschenrechte“, „Frieden“ oder „Pazifismus“ berufen. Damit können wir den Unterschied zwischen moderner und postmoderner Überlagerung mehrerer Semantiken klarer bestimmen. Zur Zeit des Ost/West-Konflikts war das typisch pazifistische Gewaltverbot durch einen „revolutionären Pazifismus“ aufgehoben, der die pazifistische Forderung gewaltfreien Konfliktaustrags in eine Zukunft projizierte, in der die Gewalt fördernden Unrechtsstrukturen überwunden sein werden. Dieser Pazifismus arbeitete nicht mit der Verunklärung des überkommenen Sinns, sondern stützte sich auf die kollektivistische Auslegung des Menschenrechtsgedankens im historisch-dialektischen Materialismus, der Gewalt als revolutio-
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näre, als Geburtshelfer einer gewaltlosen klassenlosen Gesellschaft, offen propagierte.202 Es gab in einer ideologisch gespaltenen Welt nicht nur die unterschiedlichen historischen Richtungen „des Pazifismus“, sondern es gab vor allem jenes weltweit die Machtstrukturen bestimmende individualistisch-kollektivistische Schisma. In seiner Replik auf die Thesen Ludger Volmers bewegt sich der PDS-Abgeordnete Wolfgang Gehrcke innerhalb dieses Schismas. Es werden infolgedessen die moralisch verbrämten Interessen ins Feld geführt, die für Krieg votieren lassen. Die Basis-Überbau-Logik schält unter umgekehrten Vorzeichen einen adäquaten aus der wabernden undifferenzierten – weil von Realpolitik ununterscheidbar gewordenen – Substanz des „politischen Pazifismus“ heraus. Das geschieht zunächst, indem der ideologische Gehalt von politischen Formeln entlarvt wird, mit denen der Pazifismus für die Politik der Bundesregierung wirbt. Im Zentrum steht die „humanitäre Intervention“. Hier gehe es „nicht um Macht, Einflusssphären, Reichtum oder Rohstoffe, sondern um Menschlichkeit. Das war der Fall in Kosovo, als deutsche Soldaten für Auschwitz sühnten, das ist so in Afghanistan, wo sich, laut Bundesregierung, „Bündnistreue“, „Bündnisfähigkeit“ und „uneingeschränkte Solidarität“ zu erweisen haben. Seitens Rot-Grün erhält jede neuere deutsche Kriegsbeteiligung die höhere Weihe eines Handelns bar jeglichen Eigeninteresses. Militäreinsätze sind altruistisch.“ (Gehrcke 2002: 14).
Da das Links/Rechts-Schema nicht mehr die Kontroverse über alternative, kapitalistische oder sozialistische Gestaltungsprinzipien gesellschaftlichen Lebens strukturiert, zielt der Einwand Gehrckes auf ein kollektives Problembewusstsein, das nicht mehr existiert. Die moralisierende Sprache, deren sich die neuen Eliten bedienen, hat nicht mehr die Funktion, machtpolitische Interessen schamhaft zu verdecken. Denn das alternativlos gewordene liberal-kapitalistische Modell unterscheidet sich von seinem in Konkurrenz zum Sozialismus befindlichen Vorläufer gerade darin, dass materielle als ideelle Interessen und vice versa anerkannt sind. Besonders der neue Sicherheitsbegriff203 zeigt, wie wenig Interessen und Werte noch als Gegensätze empfunden werden. Die Betonung der Humanität soll einen anderen Verdacht ausräumen, nicht den Verdacht, materiellen Interessen nachzugehen, sondern den für Deutschland sehr viel kompromittierenderen Verdacht, an die Praktiken der nationalsozialistischen Großmachtpolitik anzuschließen. Das pazifistische „Nie wieder Krieg“ wird dem vergangenheitsbewältigenden „Nie wieder Auschwitz“ geopfert“, nachdem die These von der Gleichursprünglichkeit der beiden Formeln fallengelassen worden war.
202
Ernst Bloch bekräftigt diesen Gedanken noch einmal 1968 in „Widerstand und Friede“ als pazifistischen Gedanken. Nur Krieg sei erobernd, Kampf sei als sozialistischer geburtshelferisch (Bloch 1995:39f.). 203 Zu den neuen Sicherheitsdiskursen siehe Brock (2005).
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Indem die innerpazifistische Kritik an den sozialistischen Pazifismus-Diskurs anschließt, bleibt offen, ob die neue Gewaltbereitschaft, die Krieg als ultima ratio regis wieder salonfähig macht, aus der Perspektive eines „radikalen Pazifismus“ abgelehnt wird, oder nur aus der Perspektive eines „revolutionären Pazifismus“, der Gewalt um anderer Ziele Willen durchaus anzuwenden bereit wäre. So wird sozialistischer Internationalismus dem Interventionismus der G 8-Staaten gegenübergestellt. Letztere seien nichts anderes als ein durch wirtschaftliche Macht legitimierter Zusammenschluss der großen Industrienationen. Diese spiele sich als Weltregierung auf und täusche weltweite gemeinsame Rechts- und Wertvorstellungen vor. Das pazifistische Profil erhält der Gegenentwurf Gehrckes durch eine sozialistische Politik, deren Strategien sui generis dem Frieden dienen: „Wir wollen soziale Differenzen nicht mehr zuspitzen, sondern ausgleichen. Unser Ziel ist nicht mehr die Instabilität, sondern Stabilität für ökologische, ökonomische und soziale Reformen. Dafür stellt nicht der Staat ein Hindernis dar. Rechtsstaatlichkeit wird vielmehr zur Voraussetzung für internationale Kooperation, für regionale Sicherheit und Abrüstung. Sozialisten engagieren sich für Armutsbekämpfung, ökologischen Umbau, ökonomische Umverteilung, gewaltfreien Interessenausgleich, Stärkung des internationalen Rechts. Krieg gehört für uns nicht zu den Mitteln der Politik.“ (Gehrcke 2002: 14).
Diese innerpazifistische Kritik aus sozialistischer Perspektive teilt die besonderen Schwierigkeiten, ihren Argumenten Plausibilität zu verschaffen, mit allen anderen politischen Lehren und Bewegungen. Diese können die Legitimität von Strategien nicht unabhängig von deren Effektivität denken. Darin radikalisieren moderne Ideologien utilitaristische Ethiken, indem das Kriterium „Erfolg“ durch Machterwerb und Machterhalt ausbuchstabiert wird. In ihrer sozialen Funktion, die Kriterien moralischen Urteilens zu reflektieren, sind Ethiken freilich mit lebenspraktischen Fragen befasst. Die abendländische Philosophie ist seit der griechischen Antike am „gute Leben“ und seit Kant an einer Sollensethik ausgerichtet, die der Erhaltung vernunftbegabter Wesen dient. Aber erst die Entdifferenzierung von Vernunft und Verstand im Rationalmodell der ausdifferenzierten Funktionssysteme war in der Lage, die weit folgenreichere Entdifferenzierung von Ethik und Politik einzuleiten. Der Praxisbezug, der in den ideologisch metamorphisierten politischen Ethiken der Moderne angemahnt ist und der zu dieser Verschmelzung von Legitimität und Effektivität führt, verdankt sich einem rationalistischen Handlungsverständnis. Dieses beginnt seit der naturwissenschaftlichen Revolution des neunzehnten Jahrhunderts alle Bereiche zu durchdringen. Die Kosten dieses zweckrationalen instrumentalistischen Denkens werden in Bezug auf den Themenkomplex NaturwissenschaftTechnik-Umwelt von der Wissenschaftsethik aufgezeigt.204 Die geistes- und sozialwissenschaftlichen Folgen eines Denkens in Kategorien sozialtechnischen Manage204
Zur Moral als Preis der Moderne siehe Otfried Höffe (1993).
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ments, das den Menschen zum Humankapital, zur Ressource für Ökonomie, Verwaltung und Konfliktmanagement macht, wurden zunächst im Rahmen der marxistischen Kapitalismuskritik vor allem durch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule aufgezeigt. In der geschichtsphilosophisch orientierten Kritik am Verwertungsdenken bemisst sich der Wert des Handelns an seiner Fähigkeit, das erstrebte Ziel zu verwirklichen. Aus diesem Grund sind Handlungsmodi, die mit einem gescheiterten Projekt verknüpft werden, diskreditiert. Zwar lassen sich auch Weltanschauungen in gewisser Weise zu den ethischen Positionen zählen, da sie die Bedingungen angeben, unter denen Menschen geachtet und missachtet werden. Aber diese Gemeinsamkeit beschränkt sich auf eine soziale Funktion, die Ethiken, Weltanschauungen oder Ideologien im Kommunikationssystem erfüllen. Erst der Historismus des neunzehnten Jahrhunderts konnte mit seiner Betonung der Relativität und Zeitabhängigkeit von Vorzugspositionen einen Typus von Ethik entwickeln, der einen Unterschied zur Ideologie unscheinbar werden ließ. Denn mit der Betonung der historisch variablen Auslegung von Wahrheit, von Wirklichkeit und Moralität begann die „Geschichte“ und diese vorantreibende „Ausnahmepersönlichkeiten“ und schließlich „gesellschaftliche Strukturen“ die Stelle zu besetzen, die noch in der Aufklärung Natur und Naturrecht, und vor dem achtzehnten Jahrhundert, Substanz, Essenz und Wesensbestimmung eingenommen hatten. Bestimmte Gesellschaftsstrukturen verheißen in den großen Weltanschauungen der Moderne, im Marxismus und im Liberalismus nicht nur etwas Gutes – Gleichheit und/oder Freiheit – für den Menschen. Hinzu kommt, dass sie als funktionale Äquivalente von Wesen, Substanz und Natur auch die Bedingungen liefern, unter denen Menschen etwas als wesentlich, als substanziell und natürlich erfahren können. Damit schließt sich ein Kreis. Der Mensch ist in die von ihm selbst geschaffene soziale Welt so eingesponnen, dass selbst Begriffe, die ein Jenseits zwischenmenschlich-gesellschaftlicher Bezüge symbolisiert hatten, gesellschaftlich vereinnahmt worden sind. Heute gilt alles als gesellschaftlich konstruiert.205 Verlieren gesellschaftliche und semantische Strukturen ihre Bindewirkung, dann nehmen überraschende Ereignisse überhand. Diese werden allein aus dem Grund so wahrgenommen, weil sie sich nicht mehr in ein ordnendes Prinzip einfügen lassen. Nicht nur semantische, auch gesellschaftliche Strukturen werden als Sinnstrukturen wahrgenommen, deren Verlust halt- und orientierungslos werden lässt. Solche Umbruchzeiten sind noch heute als waches Geschichtsbewusstsein präsent, insbesondere im Übergang vom römischen Weltreich zum christlichen Mittelalter, vom christlichen Kaiserreich zur Neuzeit und schließlich in den Revolutionen und Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts, die zur Ablösung bildungsbürgerlicher Struk205
Der theoretische Konstruktivismus (Luhmann 1990), den wir als methodologische Grundlage gewählt haben, weil hier die Beobachtung von Beobachtungsweisen im Vordergrund steht, unterscheidet sich vom Alltagsbewusstsein des praktischen Konstruktivismus nur darin, dass ein dominantes Denken reflektiert wird.
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turen durch die moderne Massengesellschaft geführt haben. Dieses Zerbrechen von Rahmen wird im Allgemeinen von Gewalt größten Ausmaßes begleitet. Ebenso wie die Ausschreitungen anarchistischer, anarchosyndikalistischer und marxistischer „Terroristen“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts die maroden Reststrukturen einer hierarchischen Gesellschaftsordnung in den endgültigen Zusammenbruch getrieben hatten, so muss heute der fälschlicherweise mit dem islamischen Fundamentalismus identifizierte „internationale Terrorismus“ als zerstörerisches Prinzip gesehen werden, das Hand an die maroden Strukturen der funktional differenzierten Gesellschaft legt. Man kann auch umgekehrt formulieren: Die Fähigkeit der Terroristen, mit ihren vereinzelten und verglichen mit den Opfern normaler Kriminaldelikte im Weltmaßstab immer noch marginalen Attentate, die entstehende Weltgesellschaft in ein Weltkonfliktsystem zu verwandeln, weist auf die Fragilität und den Funktionsverlust des funktional differenzierten Gesellschaftssystems hin. Der Terrorismus ist weniger Gefahr und Feind eines zivilisierten humanen und prosperierenden Gesellschaftssystems, als Symptom strukturellen Niedergangs.206 In dieser Zeit des Umbruchs und eines um sich greifenden kollektiven Bewusstseins im Ausnahmezustand zu leben, drängt von allen Seiten her ein Radikalismus in den Vordergrund und mäßigende Stimmen können sich nicht mehr Gehör verschaffen. Radikale Parolen, die für Präventivkriege, für Folter, für die Todesstrafe, für die Aufhebung der Differenz von Kombattanten und Nichtkombattanten207 und für Internierungslager eintreten, begünstigen und legitimieren staatsterroristische Methoden und dies nicht nur beim US-amerikanischen Neokonservativismus. Auch im sog. Neoliberalismus kämpft sich radikales tatphilosophisches Denken an die Oberfläche und verdrängt den Typus eines Nachkriegspolitikers, der mit dem marxistischen Terrorismus der Roten Armee Fraktion fertig geworden war, ohne die genannten radikalen Optionen ersthaft ins Auge zu fassen.208 Man findet eine Verachtung gegenüber dem abwägend-mäßigenden Ton nicht nur an den Rändern der Gesellschaft, den Marginalisierten und Delinquenten, sondern nun auch im Zentrum der Macht. Das war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht anders, als terroristische – rechtsverhöhnende – Gewaltbereitschaft keineswegs nur an der politischen Peripherie zu finden war, sondern mit dem Nationalsozialismus und einem aus dem Anarchosyndikalismus hervorgegangenen Faschismus auch bei der staatstragenden Elite. 206
Emmanuel Todd (2004) interpretiert in diesem Sinne Afghanistan- und Irakkrieg als Zeichen USamerikanischen Machtverlusts. 207 Auch für Galtung (2004: 227f.) handelt es sich dort um einen „postmodernen Aspekt“, wo „die zivile Infrastruktur und Zivilisten zu Angriffszielen werden“, wie es die US-Air-Force-Doktrin schon seit 1943 vorsieht (Bombardierung deutscher und japanischer Städte während des Zweiten Weltkriegs, übernommen in den größeren Operationen in Korea, Vietnam, Irak, Jugoslawien, Afghanistan). 208 So besonders der z.Z. des terroristischen Herbstes 1977 amtierende Bundeskanzler Helmut Schmidt, der heute in Weltmachtsambitionen und Sendungsbewusstsein der USA eine dem Terrorismus nicht nachstehende Gefahr für den Weltfrieden sieht, vgl. Schmidt (2004).
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Der entdifferenzierte postmoderne „politische Pazifismus“ wird in der an den Beitrag Volmers anschließenden Kontroverse nicht mit seinen eigenen, sondern mit den Waffen moderner Leitunterscheidungen zu schlagen gesucht. Damit wird der Anschein erweckt, als sei die Annäherung an macht- und interessenpolitische Ziele vorwiegend deshalb erfolgt, weil der Pazifismus der humanitären Rhetorik der offiziellen Kriegsrechtfertigung auf den Leim gegangen wäre. Nach der kritischen Darstellung Wolfgang Gehrckes rührt die Täuschung aus der unterschlagenen oder nicht beachteten Unterscheidung von Werten und Interessen her. Der Generalsekretär von Pax Christi in Deutschland Reinhard J. Voß führt den Verlust kritischer Distanz gegenüber den vom Militär angebotenen Optionen darauf zurück, dass die Unterscheidung von Idealität und Realität preisgegeben worden sei. Wo unbemerkt bleibt, dass die zahnlos gewordene postmoderne Fundamentalkritik den Nerv der Zeit trifft, weil sie das moderne Kontingenzbewusstsein mit all ihren Unsicherheiten ins Extrem treibt, ist die Überzeugungskraft gering. In seiner Kritik am politischen Pazifismus, der als „macht-opportunistisch“ bezeichnet wird, hebt Reinhard J. Voß die Bedeutung dreier Leitunterscheidungen gegen die pazifistische Vereinnahmung durch macht- und interessenpolitische Ambitionen hervor. Die Unterscheidung von Idealität und Realität finde ihre Ergänzung in der Differenz von Universalität und Partikularität, aber auch von wohlverstandenem und falsch verstandenem Eigeninteresse. Seines gewaltkritischen Charakters könne ein Pazifismus kaum beraubt werden, der innerhalb dieser Unterscheidungen klar zu erkennen gibt, wie die Präferenzen verteilt sind, sodass es nicht zu gefährlichen Entdifferenzierungen kommt. So ist ein „politischer Pazifismus“ nach Voß gegen seine machtpolitische Vereinnahmung gefeit, der seinen idealen Gegenpol, den prophetischen-religiösen Pazifismus als Korrektiv und Wegweiser keinen Augenblick außer Acht lässt. Die Diffamierung des konsequenten Pazifismus als fundamentalistisch,209 als „abstrakt-gesinnungsethisch“ und „handlungsunfähig“, wie sie sich bei Ludger Volmer findet, sei nur möglich, wenn diese Funktion als steter Halt und Einspruch übersehen werde. Finde die Notwendigkeit, an den beiden Seiten der Unterscheidung, an einem prophetisch-religiösen Idealen und einem politischen Realen festzuhalten, hingegen Berücksichtigung, dann könne auch der „politische Pazifismus“ nicht mehr so verstanden werden, wie Volmer es tut. Reinhard J. Voß erinnert daran, dass der Begriff „politischer Pazifismus“ nicht neu ist, sondern bereits unter Pazifisten in den letzten Jahren diskutiert wurde. Allerdings fanden diese Diskussionen unter Berücksichtigung der wechselseitigen Angewiesenheit von Idealität und Realität statt und legten demzufolge den „politischen Pazifismus“ auf ein Verständnis fest, das ein völliges Aufgehen im machtpolitischen 209
Wolf-Dieter Narr (2002: 118) lehnt die Unterteilung in einen „fundamentalistischen“ Pazifismus „ohne Wenn und Aber“ und einen „akzeptablen“ Pazifismus, der „je nach Lage gelegentlich Kriege einschließt“, ab zugunsten eines Verständnisses, das von einer Minima Moralia ausgehend erst kritische Distanz zu den Gewaltpraktiken der Politik erlaubt.
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Kalkül unmöglich machte. Worum es in diesem so verstandenen politischen Pazifismus ging, bezog sich auf die Erweiterung des Militärischen durch gewaltfreie Methoden, wie sie in Bosnien 1999 praktiziert worden sind. Der politische Pazifismus „engagiert sich etwa durch zivile Konfliktbearbeitung, zivile Friedensdienste, Trauma- und Versöhnungsarbeit im Umfeld politisch-militärischer Konflikte – in der Prävention, im Konflikt selbst und in der Nachsorge und Wiederaufbau.“ (Voß 2002: 14).
Dieses Verständnis von politischem Pazifismus und einem hier zu verortenden Engagement ist nicht willkürlich, sondern ergibt sich folgerichtig aus dem Gegenbegriff zur Realität, der einem Handeln, das nicht schwärmerischen Wunschbildern folgt, sondern etwas bewirken möchte, die nötige Kontur verleiht. Diese ist nach Voß, solange sie sich pazifistisch nennen möchte, auf antimilitaristische Methoden festgelegt. Jede Konzession an militärische Konfliktlösungsformen könne zwar den Frieden als Ziel nennen, aber sie könne nicht die Bezeichnung pazifistisch für sich in Anspruch nehmen. Das spezifisch pazifistische Ideal nichtmilitärischen Konfliktaustrags ist nach Voß tiefer fundiert, nämlich „christlich, religiös oder humanistisch“. Als Vertreter des christlich motivierten Pazifismus beschreibt Voß dieses Ideale anhand von fünf Leitbildern: 1.
2.
3.
„das Leitbild des gewaltfreien Jesus, die Vision der „Pax Christi“, des Jesuanischen Friedensstifters durch radikales Verstehen und manchmal auch Provozieren des „Gegners“. Das derzeit oft abschätzig zitierte Hinhalten der „anderen Wange“ (Mr. 5,39) deuten wir neu: „Die Person, die die andere Wange hinhält, sagt damit: Versuch es noch einmal! Dein erster Schlag hat sein eigentliches Ziel verfehlt. Ich verweigere dir das Recht, mich zu demütigen.“ (W. Wink). Solch gewaltfreier Widerstand ist nicht passiv, sondern eine sehr aktive, erlernbare, und sogar taktisch und strategisch einsetzbare Haltung und Handlung. Sie setzt aber eine spirituelle Vertiefung voraus. Eine ständige innere Wachheit. das Leitbild des „gerechten Friedens“, das sich der grundsätzlichen „vorrangigen Option für Gewaltfreiheit“ der Ökumenischen Versammlungen der Kirchen in der DDR (1987/88) verdankt, basierend auf der tiefen Einsicht, dass Gewalt allzu leicht nur Gewalt gebiert und in Form einer Spirale sehr schnell politisch unkontrollierbar wird. Die christlichen Kirchen unseres Landes stützen jetzt dieses Leitbild, ohne sich schon alle pazifistisch zu nennen. Sie lehnen erstmals seit Jahrhunderten den „gerechten Krieg“ in jeder Form ab und sehen auch die in allerschwersten Fällen zugestandene Anwendung von Gewalt als „Ultima ratio“ nur noch als „Übel“. Alle Kriege der letzten Jahre für die Menschenrechte halten m.E. diesen Kriterien des gerechten Friedens nicht stand. das Leitbild der zivilen Konfliktbearbeitung, des zivilen Friedensdienstes und des „Schalomdiakonats“. Pazifisten entwickelten dazu eine Vielfalt gewaltfreier Aktionsformen von der Sozialen Verteidigung und der Mediation bis zu internationalen Missionen in präventiver und auch konfliktvermittelnder Absicht. Der amerikanische Ex-Präsident hat mit seinem „Carter-Institut“ Vorbildliches in dieser Hinsicht geleistet.
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5.
5 Postmoderner Pazifismus das Leitbild einer Kultur des Friedens und der Toleranz, ein dialogisch-politischer Ansatz der Anerkennung unterschiedlicher Interessen und Positionen jenseits eines simplen Gut/Böse-Schemas. Dieses Leitbild verweist auch auf die eigenen negativen Anteile und wird dadurch konsens-, kompromiss- und versöhnungsfähig. 2001 bis 2010 haben die Kirchen eine „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ und die UN eine solche für eine „Kultur des Friedens“ ausgerufen. Auch Initiativen wie „Weltethos“ und „Erdcharta“ dienen diesem Ziel: Interreligiöser und interkultureller Dialog sind Wege dahin. das Leitbild des Völkerrechts im Sinne von Kants „Ewigem Frieden“, nämlich einen weltweit koordinierten und kodifizierten juristischen Weg der Gewaltkontrolle durch Entwicklung weiterer UN-Instrumente zur Bekämpfung und Bestrafung internationaler Gewalttäter. Der nächste Schritt dazu ist nun die rasche Ratifizieren des in Rom 1998 beschlossenen Internationalen Strafgerichtshofes – ein Begriff, den man in Volmers Beitrag übrigens vergebens sucht.“ (Voß 2005: 14).210
Die Skizze des prophetisch-religiösen Pazifismus wurde an dieser Stelle als Teil des Disputs auch aus dem Grund so ausführlich erwähnt, weil hier nicht nur religiöse, sondern auch modernitätsspezifisch-säkulare Leitunterscheidungen gegen das Volmersche Verständnis von „politischem Pazifismus“ ins Feld geführt werden. Das wohl verstandene und das falsch verstandene Eigeninteresse zielen auf einen utilitaristischen Verstehenskontext, der aufgrund der Kontingenz des Interessenbegriffs kaum gegen die eigennützige Verwertungspraxis der Funktionssysteme ausgespielt werden kann. Denn dieser Kontext scheint unvereinbar mit dem paradoxen Verständnis von Widerstand, wie es sich bei Gandhi findet: Dieser betont den grundsätzlichen Unterschied zwischen passivem Widerstand und Satyagraha: „Wenn wir meinen und zu verstehen geben, wir seien schwach und hilflos und deshalb nur zu passivem Widerstand fähig, dann wird unser Widerstand uns niemals stark machen, und wir werden beim geringsten Anlaß unseren passiven Widerstand als Waffe der Schwachen aufgeben. Wir sind hingegen Satyagrahis und leisten wir Satyagraha und glauben wir an unsere Stärke, so werden wir von Tag zu Tag stärker werden … Und während im passiven Widerstand kein Raum für die Liebe ist, hat in der Satyagraha der Haß hier keinen Platz, verstößt er doch gegen ihr Prinzip. Während beim passiven Widerstand Raum ist für Waffengebrauch, wenn die Gelegenheit sich bietet, ist in der Satyagraha physische Gewalt unter allen Umständen ausgeschlossen.“ (Gandhi 1984: 38).
Anders verhält es sich mit den religiösen Leitunterscheidungen, die in ihrer den diskursiven Rahmen sprengenden Intention und Wirkung im Kapitel über paradoxe Ele210
Über die kontroverse Auslegung der katholischen Friedensethik kam es im Anschluss an die Bombardierung Afghanistans 2001 zum Streit zwischen dem auf Seiten der amerikanischen katholischen Bischöfe argumentierenden Hamburger Weihbischof Jaschke und der deutschen Sektion von „Pax Christi“. Jaschke hatte die Meinung vertreten, die Gegenschläge von Präsident Bush seien „nicht blinde Rache, sondern eine Kulturleistung der Zivilisation, ein angemessenes Vorgehen gegen das Unrecht.“ Siehe Kany (2001).
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mente des Pazifismus zur Sprache gebracht werden sollen. Das kleinste gemeinsame Vielfache, das Leitbild einer Kultur des Friedens und der Toleranz, kann jedenfalls nicht inhaltlicher Art sein. Offensichtlich leitet heute ein Missverständnis den Dialog der Kulturen und Religionen in die Irre. Sucht man das verbindende Gemeinsame nämlich in Werten und Moralvorstellungen, und womöglich sogar im „Wohlverstandenen“ eines Eigeninteresses, dann ist man gegenüber der Menschenrechtspolitik, wie sie von der Weltorganisation und den weltweit tätigen Menschenrechtsgruppen betrieben werden, nicht weiter gekommen. Das „Projekt Weltethos“ (Küng 1990) verspricht Konsens durch eben solche Korrekturen, die eine Streit auslösende Menschenrechtssemantik wieder an eine ethische Semantik rückbindet, von der sich bereits die Aufklärung eine einigende Wirkung erhofft hatte. Der relativ mühelosen gemeinsamen Einigung auf bestimmte Formeln steht jedoch ein Dissens bezüglich der Auslegung dieser Formeln gegenüber. Dieser Dissens entfernt die Völker in dem Maße wieder voneinander, in der die Formeln diese zunächst einander näher gebracht hatten. Der Friedensforscher Harald Müller bezieht in der Kontroverse insofern eine besondere Position, als er sich weder auf die Seite innerpazifistischer Kritiker noch auf die Seite eines politischen Realismus stellt, der die Gewaltkritik des Pazifismus an sich für überzogen hält. Die radikalpazifistische Gegenposition hält er heute für unabdingbar, nachdem sich die Einstellung zum Krieg innerhalb der Demokratien fundamental wandelt. Alle drei von Kant für die besondere Friedensneigung der Demokratien genannten Begründungen stützen nach Einschätzung Müllers immer weniger die These, dass Demokratien friedfertiger seien als alle anderen Regierungsformen. Da ist zunächst der Kostenfaktor, den Kant ins Feld führt, der die finanzkräftige Bürgerschaft davon abhalten soll, Kriege zu begünstigen. „Moderne Kriegstechnik und die erdrückende militärische Überlegenheit des Westens, vor allem seiner Führungsmacht USA, haben militärische Interventionen erfolgversprechender und opferärmer gemacht. Die Kriegsscheu aus Kostengründen vermindert sich damit.“ (Müller 2002: 20)
Ferner könne die Achtung der Menschenwürde in Demokratien heute nicht mehr nur als Motiv für die strikte Begrenzung der Gewalt auf Verteidigung gelten, da sie zugleich eine tiefe Verachtung für diejenigen hervorrufe, die Menschenrechte tatsächlich oder vermeintlich missachten. „Der Universalismus der Menschenrechte, der einerseits kriegshemmend wirkt, ist andererseits ein mächtiger Feindbildproduzent, der die Kriegsschwelle der Demokratien senkt.“ Auch das dritte Argument, die Transparenz, verliert zunehmend an Überzeugungskraft, denn diese „wird heute zum Teil durch die perfekte Inszenierung der Kriegführung für die Öffentlichkeit konterkariert. Die Medien (vor allem die auf das Bild angewiesenen) zeigen die Tendenz, Gegnerschaft zu personalisieren und damit am Entwurf eines wirkungskräftigen Feindbilds (Saddam Hussein, Aidid, Milosevic, bin Laden) mitzuwirken.“ Auch würden die „Parlamente von der Exekutive durch vorab eingegangene Verpflichtungen gegenüber dem Bündnis in eine Entscheidungszwangslage gebracht, die
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5 Postmoderner Pazifismus eine unabhängige und kritische Prüfung von Regierungsentscheidungen unterläuft.“ (Müller 2002: 20).
Die Unterteilung der Gruppe bekennender Pazifisten in Falken und Tauben zeigt den Pazifismus als soziale Bewegung, die wie alle Bewegungen immer nur als Antwort auf bestimmte zeitgeschichtliche Problemlagen auftritt und sich auflöst, wenn andere Probleme kollektive Aufmerksamkeit erregen. „Der Pazifismus“ ist mithin der Niederschlag einer ins kollektive Bewusstsein getretenen Friedensproblematik. In dieser Weise auf das soziale Phänomen einer Massenbewegung bezogen, markiert der Pazifismus den Stand einer historischen Problemwahrnehmung, die in der Regel auf Ereignisse beschränkt ist und mit der Überlagerung durch andere Ereignisse wieder in der Versenkung verschwindet. Da soziale Bewegungen nur vor dem Hintergrund eines normalen eingespielten Alltags eine aufrüttelnde Wirkung auf die Bevölkerung ausüben können, musste der Versuch, die Friedensbewegung der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit regelmäßigen Versammlungen und Aktionen zu institutionalisieren, dieses urdemokratische Mittel wirkungslos machen. Denn die Institutionalisierung einer Protestbewegung führt nicht zur Potenzierung des Protests, sondern zur veränderten Selbst- und Fremdwahrnehmung, die aus der überraschenden Information überraschungsarme routinierte Interessenpolitik werden lässt. Da Frieden und Krieg im Zentrum des Politischen stehen, können sich Pazifismus und Friedensbewegung nur wie alle anderen außerparlamentarischen Oppositionen in der Umwelt des politischen Systems ansiedeln. Ritualisierter Protest wirkt sich geradezu verhängnisvoll aus, wenn kriegsgeneigte Interessenpolitik ein demokratisches Massenengagement wieder notwendig machen sollte. Einen solchen Überdruss beobachtete Sibylle Tönnies (1997: 21ff.) im Anschluss an exzessive die öffentliche Aufmerksamkeit überstrapazierende Inszenierungen von „Friedlichkeit“ durch eine Gruppe von Aktivisten/innen, die, nachdem der NATO-Doppelbeschluss nicht mehr zur Entscheidung anstand, die eingespielten Protestformen als soziale Riten der Montagsumzüge, Lichterketten und Lesungen weiterzupflegen suchten und damit die „Bewegung“ gewissermaßen in eine zivilreligiöse Glaubensgemeinschaft verwandelten. Die Geschichte der Religionen hat deutlich gemacht, dass sich Glaubensgemeinschaften in dem Maße weniger auf Tötungsverbot und Liebesgebot verpflichten lassen, in dem Religion moralische und mithin sozialintegrative Funktionen zu erfüllen hat. Sobald nämlich die Kohärenz der Gruppe spirituelle Fragen überlagert, werden Sinngehalte pragmatischen Zielen der Integration untergeordnet. Dies macht es schwer, die Instrumentalisierung von Tötungsverbot und Liebesgebot zum Zwecke der Abgrenzung eines Wir von Andersdenkenden zu vermeiden und zu verhindern, dass Letztere zum Träger des Antiwertes stilisiert werden. Die zu „Werten“ herabgesetzten religiösen „Gebote“ der Schonung und Rücksichtnahme binden nur noch die Mitglieder der eigenen Glaubensgemeinschaft, die Christen, und sie entbinden selbige von den selbstauferlegten Pflichten der Gewaltabstinenz, wenn es um „Ungläubige“ und „Heiden“ geht. Dieselbe Logik, die in griechisch-römischer und christlicher Religion bereits korrumpierend gewirkt hat, ereilt auch alle modernen zivilreligiösen
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Lehren. Insofern hat die interne Spaltung des Pazifismus in Falken und Tauben durchaus nichts Überraschendes an sich. Die Selbstverpflichtung zur Gewaltabstinenz wird wieder auf bestimmte Konflikte beschränkt und der Titel „Pazifismus“ bleibt für ein Bekenntnis zum Frieden und zum nichtgewaltsamen Konfliktaustrag als situationsunabhängige Grundhaltung reserviert. Darin schwingt der Anspruch moralischer Überlegenheit mit, indem die gewünschte Grundhaltung bei Nichtpazifisten in Abrede gestellt wird. Dieser Anspruch kann im einzelnen Konfliktfall, in dem nach Ansicht einiger Pazifisten ein casus belli vorliegt, rasch in ein ius ad bellum umgewandelt werden. Krieg im Namen des Pazifismus lässt sich weit schwerer kritisieren als ein Waffengang, der nicht moralisch, sondern ausschließlich zweckrational begründet ist.
5.4 Entdifferenzierung und Kampf gegen privatisierte Gewalt In der von Ludger Volmer angestoßenen Kontroverse um richtigen und falschen Pazifismus wird eine sehr wesentliche und tatsächlich unüberbrückbare Differenz offensichtlich, die den Pazifismus in den unterschiedlichen Rollen eines Akteurs und eines Beobachters zeigt. Diese beiden Perspektiven entfalten diametrale Wirkungen. Als politischer Akteur profiliert sich der Pazifismus in gewisser Weise nur als der bessere Akteur, der dem Anspruch nach die situationsadäquateren Diagnosen anfertigt, die wirklichkeitsnäheren Prognosen aufstellt und die effizienteren Problemlösungsstrategien entwirft. Obgleich sich der Pazifismus als ideologischer Kontrahent des politischen Realismus versteht, teilt er in der Regel dessen Wissenschafts- und Methodenverständnis. Ausgehend vom Axiom des rational handelnden Akteurs entzündet sich der pazifistisch-bellizistische Streit an der Frage, welche Methoden den Frieden am erfolgreichsten sichern lassen. Allein die Flügelbildungen innerhalb eines Pazifismus, der die Akteursperspektive einnimmt, ist ein Hinweis auf den realpolitischen Sog, in den der Pazifismus hineingerät, sobald er sich auf die Akteursebene begibt. Nicht für alle Situationen und für alle Zeiten lassen sich gewaltlose Methoden als Frieden schaffende Methoden nachweisen. Auf der Akteursebene verliert der Pazifismus, je weiter er sich in die Funktionslogik politischer Systeme einspinnt, sein kritisches Potenzial und sieht sich im Angesicht faktischer Dilemmata gezwungen, Kompromisse einzugehen. Anders verhält es sich, wenn sich der Pazifismus nicht als der bessere Akteur, sondern nur als eine spezifische Perspektive profiliert, unter der Politiken beobachtet werden.211 211
Dieses Problem gilt stärker noch für eine institutionalisierte Friedensforschung, die der praktischen Politik verwertbare Expertisen liefert. In einem Interview mit Ulrike Wasmuht (1998: 286) bezeichnet Ekkehart Krippendorf die „subtile Form von Nähe zur Macht“ als Ursache für eine Perspektive, die das kritische Potenzial aufzehrt. Da die kritische Distanz zur Politik aber den Wissenschaftscharakter dieser Forschung ausmacht, entscheidet der Ruf nach Praxisrelevanz auch über die
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Deshalb ist es wichtig, nicht nur der Frage nachzugehen, was beobachtet und wie bewertet wird, sondern genau hinzusehen, ob die beobachtungsleitenden Unterscheidungen in einer modernen oder in einer postmodernen Weise Verwendung finden. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entdifferenzierung und damit zur postmodernen Verwendung ist das Auswechseln des Gegenbegriffs, wie wir an der Argumentation Volmers sehen konnten. Weder die politische noch die moralische Grundhaltung muss geändert werden, wenn sich die Situationsdefinition bis zur Unkenntlichkeit wandelt. Eine andere Wirklichkeit drängt sich mit ihren eigenen Sachzwängen im Zeitalter der Globalisierung dem Handelnden auf. Der Präferenzcode oder „positive Wert“ ist immer das, mit dem sich ein Beobachter (Aktor, der eine Unterscheidung macht) identifiziert und der Reflexionscode bezeichnet das, von dem er sich abgrenzt. Wenn der negative Begriff mit „Krieg“ nicht mehr umschrieben werden kann, sondern als „neue Kriege“ bzw. „internationaler Terrorismus“ ein neues Profil gewinnt, dann verändert sich damit das pazifistische Selbstverständnis grundlegend. Das Frieden stiftende pazifistische Engagement versteht sich als Antwort auf die besonderen Probleme, die in der Semantik der „neuen Kriege“ zur Darstellung gelangen. Ist die negative Realität, auf die der Pazifismus eine Antwort sucht, der Terrorismus, so mögen damit zwar Afghanistan- und Irakkrieg, aber nicht der Kosovokrieg gerechtfertigt sein. Anders ist es mit dem Gegenbegriff der „privatisierten Gewalt“, den Erhard Eppler (2002) dem Begriff des Terrorismus vorzieht mit dem Argument, ein „Ismus“ bezeichne eine ideologische Richtung, der Terrorismus aber sei eine Methode, deren sich im Rahmen privatisierter Gewalt bedient werde. „Privatisierte Gewalt“ markiert als relevanter Gegenbegriff jede nicht vom staatlichen Gewaltmonopol ausgehende Gewalt, die so unterschiedliche Phänomene wie Operationen von Rebellen und von Selbstmordterroristen gleichermaßen einschließt. Da nunmehr aber nur noch ein spezifischer Modus der Gewalt und nicht mehr Krieg oder Gewalt an sich das schlechthin Abzulehnende ist, sind alle nötigen Schritte gerechtfertigt, die helfen, ein Gewaltmonopol zu sichern oder zu errichten. Wir müssen den Argumentationen im Einzelnen nachgehen, um die Folgen der thematischen Umorientierung für den Pazifismus abschätzen zu können. Der wesentliche Grund für privatisierte Gewalt ist ein in unterschiedlichen Stadien befindlicher, aber weltweit zu konstatierender Prozess des Staatszerfalls. Am weitesten fortgeschritten ist er in Afrika. Aber auch in Asien und Lateinamerika sind die Auswirkungen zurückgehender Entwicklungshilfe und die Folgen der Globalisierung eine teilweise Verelendung ganzer Landstriche und Stadtteile und damit verbundene Bandentätigkeit. Die armen Staaten verlieren nach 1989 auf beiden Seiten ihre Schutz-
Ortsbestimmung – Politik statt Wissenschaft.
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macht212 und erodieren. Aber nicht nur einander bekämpfende Warlords, die aus der staatlichen Konkursmasse Gewinne zu erzielen suchen, sind für den Anstieg privatisierter Gewalt verantwortlich. Hinzu kommt ein privatwirtschaftlich organisierter internationaler Gewaltmarkt, der neben dem Verkauf von Waffen, besonders Schnellfeuergewehren, auch Söldner für regionale Konflikte vermittelt. Charakteristisch für diese Gewalt von unten ist die Ununterscheidbarkeit von ideologischen und kommerziellen Zielen. Was bis zum Ende der achtziger Jahre durch die finanzielle Unterstützung durch die jeweilige Schutzmacht gesichert war, das muss jetzt auf kriminellem Wege durch Geschäfte mit Drogen, Waffen, Giftmüll, Blutkonserven und Organen beschafft werden 213 Der Kriminalitätsanstieg provoziert private Gewalt von oben, von Paramilitärs, mit der ungerechte, illegitime Machtapparate in Afrika, Asien und Lateinamerika einer privilegierten Oberschicht Sicherheit verschaffen.214 Das Phänomen erodierenden Gewaltmonopols findet sich jedoch auch innerhalb der Industriestaaten, am deutlichsten in den USA. Die Globalisierung hat dazu geführt, dass es inzwischen auch Ansätze in Kerneuropa gibt, das sich gezwungen sieht, angesichts wachsender Staatsverschuldung immer mehr Bereiche an die Privatwirtschaft abzutreten. Der „Marktradikalismus“ befördert als gegenwärtig dominante Ideologie des euroatlantischen Raums ein Politikverständnis, das den Staat in allen Bereichen zurückzudrängen empfiehlt, im Vertrauen auf die Selbstregelungs- und Selbstheilungskräfte des Markes. Selbst im Kernbereich der Sicherheitspolitik werden nach der Darstellung Epplers marktförmige Entscheidung gefällt, was in den USA bereits dazu geführt hat, dass der Strafvollzug zunehmend an private, kommerzielle Firmen übertragen wird (Eppler 2002: 143; Züchner 2006). Zwischen 1991 und 1995 wurden in den USA allein 3160 Bombenanschläge in der überwiegenden Mehrzahl durch USBürger verübt. Ein großer Teil der Täter kommen von den 200 rechtsradikalen Organisationen. „Eine Regierung, die ihr Land gegen Terror unverwundbar machen möchte, müsste sich also zuerst einmal um das Gewaltmonopol im eigenen Land kümmern.“ (Eppler 2002: 142). Angesichts der von Eppler beschriebenen weltgesellschaftlichen Situation, in der eine Tendenz zur Privatisierung der Gewalt zum Strukturmerkmal der Globalisierung gehört, erstaunen die politischen Vorschläge, wie diesem Prozess Einhalt geboten werden könnte. Zur Bekämpfung der privatisierten Gewalt von oben und von unten wird für die unterentwickelten Regionen eine Aufhebung der durch die Welt212
Eppler (2002) weist darauf hin, dass für die USA die Entwicklungshilfe wesentlich die Funktion gehabt habe, Drittweltländer als antikommunistische Vorposten im Kampf gegen die Sowjetunion anzuwerben. 213 Siehe Eppler (2002: 53). 214 Das betrifft nicht nur arme und Schwellenländer, wie das von Paramilitärs beherrschte Kolumbien (FARC); auch in Jugoslawien waren unter Milosevic Teile der serbischen Milizen von den paramilitärischen „Tiger“ durchsetzt.
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organisation verbürgten Souveränitätsrechte verlangt, die der NATO die Möglichkeit der Militärintervention verschafft. Zu Unrecht sei die Bombardierung Jugoslawiens als Verstoß gegen das Gewaltverbot kritisiert worden, habe es in diesem Land doch kein funktionierendes Gewaltmonopol mehr gegeben. (Eppler 2002: 44). Das nicht neue Plädoyer für ein Weltgewaltmonopol versteht dieser heutige politische Pazifismus im Gegensatz zu den Friedensvisionen etwa Carl Friedrich von Weizeckers in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nicht als das erstrebenswerte Resultat eines die ganze Welt erfassenden Umdenkungsprozesses, als ein Resultat vernünftiger Einsicht in Notwendigkeiten, sondern als etwas, das angesichts drohender Gefahren weltweiter Anomie durch potente Regierungen auch erzwungen werden muss. Eppler (2002: 98) kontrastiert diese nüchterne Sicht dem damaligen Traum von einer „globalen Idylle“. Zugleich werden die Alleingänge der Supermacht entschieden abgelehnt und ein gemeinsames Vorgehen der Industriestaaten als eine auf Solidarität beruhende gemeinsame Verantwortung für die Welt begrüßt. Die Unschlüssigkeiten dieses Konzepts springen nicht nur einem wissenschaftlichen Beobachter ins Auge, der mit übertriebenen Konsistenzerwartungen der Komplexität und Widersprüchlichkeit des wirklichen Lebens niemals gerecht werden kann. Was gegen solche Nothilfeprogramme spricht, die bedrängten Gewaltmonopolen zu Hilfe eilen will, dysfunktionale oder „schurkenstaatliche“ Monopolgewalten suspendieren oder fremden Bevölkerungen helfen möchte, ein neues Gewaltmonopol zu errichten, ist die Tatsache, dass genau diese Aktionen Terrorismus produzieren oder potenzieren. Der Irak ist ein schwer widerlegbares Exempel für die Bestätigung dieser These. Die Sicherheitslage des Landes hätte sich kaum anders entwickelt, wenn nicht eine „Koalition der Willigen und Fähigen“, sondern die NATO interveniert wäre. Die Unschlüssigkeit des Konzepts zeigt sich im bloßen Umstand, dass Staaten, oder Zusammenschlüsse von Staaten, die sich nicht strukturell, sondern nur graduell von denjenigen Staaten unterscheiden, in die sie intervenieren, an der weltgesellschaftlichen Situation kaum etwas ändern können. Die pragmatisch-strategische Konklusion Epplers müsste mit dem Engagement out of areas nur die Abhängigkeit von privaten Sicherheitsagenturen erhöhen und damit den Prozess der Erosion des Gewaltmonopols auch in den entwickelten Ländern vorantreiben. Etwas anderes liegt auf der Hand, das dem humanistischen Selbstverständnis des politischen Pazifismus allerdings kaum vereinbar ist, nämlich das Plädoyer für eine friedenspolitische Perspektive, die das Gewaltverbot der UN für obsolet erklärt, um den ihrerseits destabilisierten, aber gut bewaffneten reichen Ländern die Chance zu geben, ihr eigenes erodierendes Gewaltmonopol zu konsolidieren, indem wehrlose fremde Populationen unterworfen werden. Die eigentliche Logik der Privatisierung der Sicherheitspolitik verbirgt sich hier: Es ist dieselbe Logik, die den privaten Firmen Erfolge sichert. Eppler macht dies an privaten Investoren wie Bill Gates und L.J. Ellison, Oracle exemplarisch; das Vermögen des ersteren entspricht dem Bruttosozialprodukt Singapurs, das des zweiteren von Ungarn. (Eppler 2002: 28). Die wirtschaftliche Monopolisierung, die sol-
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che Reichtümer anhäufen lässt, ist nur möglich durch den unbegrenzten Zugriff auf Arbeitskräfte. Deren materielle Not lässt noch so geringen Lohn einer nicht durch Sozialversicherung kompensierten Arbeitslosigkeit vorziehen. Die Kalkulationen bezüglich dem Westen erteilter Expansionsbefugnisse, zivil-militärische Interventionen, gründen auf einer analogen Hypothese: Um ihr Überleben zu sichern, werden marodierenden Banden, Warlords und Todesschwadronen schutzlos ausgelieferte Menschen sich potenten Akteuren unterwerfen, die ihnen Sicherheit versprechen. Es handelt sich um eine Wiederauflage des Hobbesschen Unterwerfungsvertrages, der jetzt den armen und von Gewalt heimgesuchten Bevölkerungen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas angeboten bzw. okroyiert wird. An dieser Stelle entfalten die Mythen der Klassiker ihre politikgestaltende Wirkung bis zum heutigen Tag. Liegt diese Unterwerfung nämlich im objektiven Interesse dieser Bevölkerungen, so ist sie einer Vernunft geschuldet, die sich nicht durch empirische Ermittlung des tatsächlichen Willens der betroffenen „Untertanen“ bestätigen lassen muss. Aufgrund des apriorischen Vernunftbegriffs ist jedoch der direkte Anschluss an die Klassiker des politischen Denkens und die Übertragung von diesen ausgearbeiteter Modelle auf die heutige weltgesellschaftliche Situation nicht möglich. Der Einspruch der Betroffenen ist in einer Weise einzubeziehen, wie es nicht nur für die Aufklärer, sondern auch für den aus der Aufklärung erwachsenen Idealismus (Kant, Fichte, Hegel) und Materialismus (Marx, Lenin, Che Guevara) undenkbar war.215 Die neuen Probleme, die im Rahmen der Globalisierung auftreten, können nicht mit Vorschlägen der Vergangenheit gelöst werden. Denn die Friedensentwürfe der Klassiker entsprechen heute nicht mehr einem Auf-den-Begriff-Bringen von allgemeinen Empfindungen, Hoffnungen und Gedanken. Als recyceltes Ideengut dienen sie heute eher als Rechtfertigung dafür, dass die Länder der klassischen Moderne ihre Probleme auf Kosten anderer „zurückgebliebener“ noch nicht modernisierter Länder lösen. Die Geschichte beweist, dass Bevölkerungen langfristig keine Fremdherrschaft durch überlegene Gewaltmonopole tolerieren, mag ihre Lage auch desolat sein. Der ideengeschichtliche Irrtum pazifistischer Vertreter eines Weltgewaltmonopols rührt aus der Fehleinschätzung der Autorität, die den Klassikern der Moderne zugesprochen wird. Diese beruht nicht auf der zeitenthobenen Wahrheit ihres Vernunftmodells, sondern auf der relativen historischen Wahrheit einer Konzeption, die die Probleme der Zeit zu lösen versprach. Die hier gezeichnete Linie muss fortgesetzt werden: Die blutig entartete Religion wird durch die Kontrollen der Moral in ihre Schranken verwiesen. Dieser Prozess kulminiert in der Aufklärung und kommt in der französischen Revolution zu ihrem Ende. Die blutig entartete Moral wird nunmehr 215
So ist es angesichts der Terrorismusproblematik heute nicht ratsam, Einsprüche von Seiten nichtwestlicher Länder zu übergehen, oder als bloßen Vorwand für die Stabilisierung von Unrechtsregimen zu verharmlosen. Das gilt für die viel zu wenig beachteten afrikanischen und islamischen Menschenrechtserklärungen, die schon 1981 die „Allgemeine Menschenrechtserklärung“ der UNO von 1948 als regional-okzidental abgelehnt haben. Vgl. dazu Friedli (1996: 106).
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durch die Kontrollen des Rechts in ihre Schranken verwiesen. Dieser Prozess kulminiert in Kant, in Völkerbund und Vereinten Nationen. Er endet heute mit den Menschenrechts- und Antiterrorkriegen, mit denen sich die hochindustrialisierten Länder des Westens anschicken, ihre Rechtsvorstellungen als Weltbürgerrecht zu deklarieren, um über die gesamte Weltbevölkerung zu Gericht zu sitzen. Die gezeichnete ideengeschichtliche Linie, auf der fortzuschreiten erst als historischer Lernprozess verbucht werden könnte, müsste sinngemäß fortgesetzt werden. Das blutig entartete Recht kann nur durch Kontrollen der Ethik in seine Schranken verwiesen werden. Damit kommen wir zu Gandhi. Im Konzept des Ahimsa, des Nichtverletzens, wird die Ethik zur Reflexionstheorie der Religion, der Moral und des Rechts. Bevor wir uns dem Pazifismus Gandhis zuwenden, muss der zeitdiagnostischen Behauptung nachgegangen werden, wir hätten es heute mit der blutigen Entartung des Rechts zu tun. Damit kann freilich nur eine Tendenz innerhalb der avanciertesten, d.h. der postmodern gewordenen abendländischen Moderne gemeint sein. Die Legitimität, mit der die USA und Europa sich heute ausgestattet sehen und befugt, in alle Teile der Welt militärisch zu intervenieren, bei denen „Staatszerfall“, „Menschenrechtsverletzung“, „Atomwaffenbesitz“, „Schurkenstaatlichkeit“ oder „Terrorismus“ beobachtet wird, wächst diesen vermeintlich deshalb zu, weil es sich um Rechtsstaaten handelt. Das positivrechtliche Verständnis von Rechtsstaatlichkeit – und nur dieses lässt sich in säkular verfassten Gesellschaften begründen – bleibt auf ein Wahlvolk begrenzt, das den Status der Rechtsunterworfenheit durch bloßen Aufenthalt in einem Rechtsraum erwirbt. Größe und innere Struktur dieses Rechtsraums sind für das Faktum der Rechtsunterworfenheit belanglos. Wenn die EU zu einer einzigen staatlich verfassten Gemeinschaft zusammenwächst, so lässt sich daraus noch nicht die Befugnis ableiten, ordnend in andere Teile der Welt einzugreifen, weil Europa seine außerordentlichen diesbezüglichen Fähigkeiten unter Beweis gestellt hat, nach dem Motto: „Wenn wir uns einmal an so etwas wie europäische Innenpolitik gewöhnt haben, wird uns Welt-Innenpolitik nicht mehr schwerfallen.“ (Eppler 2002: 154). Um für eine Gegenwart als Vorschlag gegen das Gespenst weltweiter Entstaatlichung der Gewalt verstanden werden zu können, muss eine weltinnenpolitische Situation antizipiert werden. Der virtuelle Weltstaat rechtfertigt alle politischen Handlungsschritte – welche Mittel auch immer zum Einsatz kommen. Der Vorgriff auf das Weltgewaltmonopol, auf Weltinnenpolitik oder die Weltbürgerrechtsgesellschaft aber entdifferenziert jede politisch relevante Unterscheidung, sei es diejenige von legitim und illegitim, von Recht und Unrecht, von Zweck und Mittel und mehr noch: „Privatisierte Gewalt entzieht sich der Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden. Wo sie sich austobt, ist kein Frieden. Aber auch kein Krieg.“ (Eppler 2002: 47). Darin wird das postmoderne Szenario sichtbar und zwar nicht nur auf Seiten der Objekte, sondern auch der Subjekte der Weltgestaltung. Denn das Nation building geht von politischen Akteuren aus, die ihr Handeln aus Rechtsquellen schöpfen, die mittels der von ihnen lancierten Interventionen geschaffen werden sollen. Was ihr
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Handeln legitimieren könnte, ist noch nicht Realität und so muss es Realität werden, damit das intervenierende Handeln der politisch-militärischen globalplayers nicht im rechtfreien Raum verbleibt. Entdifferenzierung der Leitunterscheidungen der Moderne aber produziert Unbeobachtbarkeit. Denn was nicht mehr unterschieden werden kann, das entzieht sich dem erkennenden Blick und was nicht mehr sichtbar ist, das lässt sich auch nicht mehr gestalten und beeinflussen. Negative Bilanzen von Militärinterventionen fügen sich nicht in die KontextHypothesen einer Moderne, die ihre postmoderne Metamorphose nicht wahrhaben will und noch immer die Lösungen der beginnenden Moderne für die Weltgesellschaft empfiehlt. Die von Eppler (2002: 59ff.) angegebenen Merkmale privatisierter Gewalt betreffen in der Regel Entdifferenzierungen. Ununterscheidbar werden in den neuen Kriegen zunehmend Front und Hinterland, vor allem aber Kombattanten und Zivilisten, Krieg und Verbrechen, innere und äußere Sicherheit, Innen und Außen. Aufgrund dieser postmodernen Entdifferenzierung bevorzugt Mary Kaldor (2000) den Begriff der „neuen Kriege“ gegenüber dem Begriff der „privatisierten“ oder „inoffiziellen“ Gewalt:216 Nach ihr ist die Privatisierung der Gewalt zwar ein wichtiges Element dieser Konflikte, „aber in der Praxis ist die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen, staatlichen und nichtstaatlichen, inoffiziellen und offiziellen, ökonomisch und politisch motivierten Faktoren nur sehr schwer möglich“ (Kaldor 2000: 9). Diese Entdifferenzierung wird nun allerdings zugleich als alarmierender Hinweis auf eine veränderte Situation beschrieben und als probates Mittel der Problembewältigung empfohlen. Eppler, der in diesem Punkt mit Mary Kaldor übereinstimmt, betrachtet die Entdifferenzierung von Polizei und Militär als eine Chance, den Gefahren der „neuen Kriege“ zu wehren. Dieser Vorschlag gibt zu denken, denn ohne das Vorhandensein eines globalen Rechtsstaates bedeutet eben dieser Vorschlag nichts anderes, als mit Hilfe privatisierter Gewalt das Problem privatisierter Gewalt lösen zu wollen. Das entspricht einem klassischen Machtkampf, der am Beginn aller neuen Ordnungen gestanden haben mag. Sobald aber genau dies beim Namen genannt wird, bewegt sich die Argumentation in Richtung jener traditionell bellizistischen Semantik, die man nicht nur in ihren Rhetoriken überwunden zu haben meinte, sondern besonders in ihrem legitimatorischen Denken.
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Direkt von „postmodernen Kriegen“ spricht Chris Hables Gray (1997).
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6.1 Moralphilosophische Axiome des Pazifismus Mit der Beschreibung einer postmodernen Metamorphose des Pazifismus haben wir streng genommen einen Punkt erreicht, in dem sich das auflöst, was als spezifisch „pazifistisch“ erkennbar wäre. Die rasant voranschreitende Entdifferenzierung von Leitunterscheidungen erreicht – so die hier vertretene These – die moralische Unterscheidung von gut und schlecht jedoch nur bruchstückhaft. Es macht sich eine Verunsicherung breit, was noch rechtmäßig und legitim, was mit demokratischen Methoden noch vereinbar ist. Aber die Verunsicherung wird nur deshalb als schmerzlich bewusst, weil die Moral in ihrer gesellschaftlichen Funktion einer Achtungskommunikation unzerstörbar ist. So lange etwas bezeichnet wird, um an dieses Bezeichnete Operationen der Reflexion oder des Handelns anzuschließen, kommt der Beobachter nicht umhin, ein Vorzuziehendes von einem Abzulehnenden zu unterscheiden. Da selbiges also unvermeidbar ist, drängt sich die Frage nach der allgemeinen Verbindlichkeit auf, die manche Akteure ihren spezifischen Kriterien des Unterscheidens zusprechen. Nicht nur das Moralisieren, mit dem sich der Sprecher vor aller Augen als moralisch überlegen geriert, sondern schon das unterscheidende Bezeichnen des Vorzuziehenden provoziert Streit, wenn nicht von vornherein die Machtverhältnisse geklärt sind. So zeigen sich die Entdifferenzierungsprozesse, die Krieg und Frieden verschwimmen lassen und auf diese Weise alle Friedensstrategien in einen Kampf mit Windmühlen verwandeln, auch als eine Frage der Macht über gesellschaftliche Diskurse. Denn wer behauptet, Krieg und Frieden seien durch die Privatisierung der Gewalt nicht mehr zu trennen, der steuert auf neue Trennungen zu, die jene Schritte legitimieren sollen, die aus dem drohenden Chaos herausführen. Die nicht verbalisierte Metakommunikation lautet: Da sich Krieg und Frieden nicht mehr unterscheiden lassen, lösen sich Strategien und Taktiken von ihrem semantischen Untergrund und werden zum frei verfügbaren Mittel in den Händen desjenigen, der Gefahren abzuwenden sucht. Die neue alles legitimierende Unterscheidung ist die von Freund und Feind, die freilich heute nicht mehr in der Sprache von Carl Schmitt, sondern in einer zeitgenössischen Sprache Ausdruck findet, die zivilisierte Staaten von Schurkenstaaten, Weltbürger von Terroristen absondert. Zur vorrangigen Aufgabe philosophischer Reflexion gehört es, die Sprachverwirrung sichtbar zu machen, die aus teils propagandistischen teils unbewusst verbreiteten Sinngehalten bestimmten politischen Optionen zugrunde liegen. Anlässlich des Kosovo-Krieges bemüht sich von moralphilosophischer Seite aus Robert Spaemann (1999) um eine solche Entwirrung und entlarvt sowohl die Parteinahme für als auch gegen den Krieg, indem er den zugrunde liegenden Sprachsinn verbalisiert. Die ei-
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gentlichen moralischen Probleme zeigen sich seiner Ansicht nach erst dort, wo die Konsequenzen des Nichteingreifens und des Eingreifens ungeschönt zum Ausdruck gebracht werden. So müsste ein nicht verbrämtes Sprechen gegen den Krieg folgenden Wortlaut haben: „Wir haben es hinzunehmen, wenn in Europa kleinere Völker vertrieben oder umgebracht werden. Wir können versuchen, die Nachteile für die Täter groß zu machen. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, Völkermord zu verhindern, falls das nur um den Preis des Lebens unserer Söhne oder aber nur durch völkerrechtswidrige Gewalt möglich ist. „Es ist besser, daß Ungerechtigkeit geschieht, als daß es auf ungerechte Weise behoben wird“ (Goethe). Wir können den naturwüchsigen Prozessen ihren Lauf lassen, bis das Parallelogramm der Kräfte zu einem neuen Gleichgewicht geführt hat.“217
Die Befürworter der Intervention haben nach Spaemann allerdings die semantische Verwirrung auf die Spitze getrieben. Hätten sie sich einer ehrlichen Sprache bedient, dann hätte man folgendes lesen müssen: „Die völkerrechtliche Diskriminierung des Angriffskrieges war ein realitätsferner Irrtum, den jeder Staat auf eigene Verantwortung korrigieren darf. Nach wie vor gibt es gerechte Angriffskriege, also Kriege, die durch eine gerechte Sache gerechtfertigt sind. Eine gerechte Sache ist zum Beispiel die Wiederherstellung verletzter Grundrechte von Bevölkerungsgruppen in souveränen auswärtigen Staaten wie der Albaner, der Sudentendeutschen oder der Palästinenser, der schwarzen Mehrheit beziehungsweise gegebenenfalls der weißen Minderheit in Südafrika oder der Katholiken in Nordirland. Zur Führung eines solchen Interventionskrieges ist, auch ohne Vollmacht der Vereinten Nationen, jeder Staat oder jede Staatengemeinschaft berechtigt beziehungsweise, in einer weniger globalen Variante, jede Großmacht beziehungsweise Staatenallianz innerhalb des Großraums, für den sie eine Ordnungsfunktion beansprucht. Jeder solchen Großmacht steht es selbst zu, festzustellen, wann eine solche Verletzung vorliegt.“
Dieses vorbehaltlose Aufdecken des gemeinten Sinns gibt die Paradoxie wieder, an deren Auflösung Pazifisten und Nicht-Pazifisten in Konflikt geraten. Indem die Logik der Interventionsbefürworter trotz der ablehnenden Haltung eines Teils der Europäischen Union zum Irakkrieg auf dem Vormarsch ist und daran selbst Aufklärungen der zitierten Art bislang nichts ändern konnten, zeigt sich ein anhaltender Trend. Sollten sich Stimmen mehren, die für die Freigabe aller Mittel votieren, mit denen „erzwungene Weltinnenpolitik“ betrieben werden kann, so berührt dies die fundamentale Differenz von Demokratie und Totalitarismus. Der Bielefelder Philosoph Rüdiger Bittner beschreibt die Dynamik der Entdifferenzierung von Demokratie und Totalitarismus als einen Vorgang, der gleichsam 217
Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass dieser Kommentar Spaemanns in einer Zeit erfolgt, als die politische Öffentlichkeit noch davon ausging, dass sich in diesem Krieg Täter und Opfer klar unterscheiden ließen. Diese Sicht ist inzwischen korrigiert, siehe dazu Merkel (2004: 108).
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innerhalb des politischen Codes vor sich geht. Dieser regelt das Verhältnis von Macht und Machtunterworfenheit ausgehend von einer übergeordneten Struktur, die unter den weltpolitischen Bedingungen der Bipolarität eine eingespielte Beziehung war. Sowohl die Machthabenden (Großmächte und ihre Verbündeten) als auch die Machtunterworfenen (Satellitenstaaten) standen unter dem Diktat der Machtverhältnisse. Für die Mächtigen bestanden diese in den blockierenden Wirkungen des Abschreckungssystems, für die Machtunterworfenen in erzwungener Parteilichkeit oder zumindest Loyalität gegenüber einem der beiden Hegemonen. Beim heutigen Terrorismus handelt es sich um ein Symptom stillgestellter, „sauer“ gewordener Politik. (Bittner 2003: 48). Erst jetzt sei die Hobbessche Vision des Leviathan Wirklichkeit geworden. Da diese unumschränkte Macht jedoch keine Zentral-, sondern eine Partikularmacht sei, entstehe eine Dynamik von Übermacht und Terror, die deshalb zur Eskalation prädestiniert sei, weil die Militarisierung der Politik, mit der Sicherheit erzielt werden soll, mit einer Entrechtlichung der Politik einhergeht und auf diese Weise „freie Gewalt“ produziert. Die „Entmilitarisierung durch Recht“, welche bisher als Garant des Weltfriedens verstanden worden war beginne sich umzukehren. Die Visionen Bittners sind trübe: Staaten würden zu militärischen Apparaten, die aufgrund fehlender ernstzunehmender Feinde Staaten zu solchen erklären, um die diffuse „politisch nicht gebundene Gewalt“ bzw. die „unter-politische Gewalt“ an diese rückzubinden. Formaliter bleiben diese Militärstaaten Demokratien; „es werden turnusgemäß Sprecher des Militärs durch das Volk gewählt, die ihm, dem Volk, ankündigen, von welcher Seite ihm die größten Gefahren drohen.“ (Bittner 2003: 51). Diese visionären Ausführungen Bittners sind für unseren Zusammenhang deshalb besonders interessant, weil die Einschätzung der weltpolitischen Situation mit dem erklärten Pazifisten Eppler geteilt wird, aber dessen politisch-pragmatischer Sprung in eine ganz andere Wirklichkeit durch ein nüchternes Aufzeigen unvermeidlicher Konsequenzen ersetzt wird. Der Aktionismus eines Politikmodells, das die Schrecken der Entdifferenzierung durch die Entdifferenzierung von Polizei und Militär meint bannen zu können, zeigt sich hier als klares Kalkül. Dieses nimmt in Kauf, dass zwischen Demokratie und Totalitarismus nicht mehr unterschieden werden kann. Wenn das zivilreligiöse politische Selbstverständnis jedoch in dieser Differenz sein moralisches Profil erkennt, dann hat der Ansatz eines dem Weltgewaltmonopol vorgreifenden Handelns auch den Unterschied zwischen Pazifismus und Bellizismus restlos eingeebnet. Erübrigen würde sich damit unser Thema allerdings nur dann, wenn sich der Pazifismus in einer modernen Ideologie erschöpfen würde, einer Ideologie, die auf besondere Weise dem Friedensproblem verpflichtet ist. Lehre und Bewegung erfüllen in der modernen Gesellschaft jedoch zweifellos auch eine Funktion, die durch den Autoritätsverlust der Kirche und damit einhergehender pluralistischer Moralvorstellungen nur noch unzureichend wahrgenommen wird. Es geht hier nicht nur um Wertvorstellungen, sondern um ethische Grundfragen. Diese beziehen sich auf die Geltung von moralischen Kriterien, die in gesellschaftlichen Diskursen beschafft werden müssen angesichts der Tatsache, dass säkulare Gesellschaften nicht mehr auf
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Wahrheiten der Offenbarungstheologie zurückgreifen können. Selbst wenn es einen diesbezüglichen Konsens geben mag, so bleibt die Reichweite der Regelungskompetenz gesellschaftlicher Diskurse doch stets umstritten, und das gilt insbesondere für Entscheidungen über Leben und Tod, über Todesstrafe und Angriffskriege. Die angesprochene betrifft die Frage, ob es ein Unverfügbares gibt, oder ob im Prinzip alles verfügbar ist und zwar nach Regeln, die von Konvention und Usus bestimmt sind.218 Die unterschiedliche Verteilung der Prioritäten „Leben“ vs. „gutes Leben“ quer durch alle politischen Lager könnte nun erneut nahe legen, die sog. „Wertrangbeziehung“ aus einer Abhandlung über den Pazifismus herauszuhalten. Da sich in dieser ethischen Grundsatzentscheidung für das konkrete Leben und gegen das über theoretische Artefakte vermittelte „gute“ Leben aber nichts geringeres als eine Kernüberzeugung verbirgt, die erst den Pazifismus aus der Vielzahl moderner Weltanschauungen heraushebt, müssen wir zu diesem Punkt einschlägige Protagonisten befragen. Jene Tendenz zur Vereinheitlichung der außerparlamentarischen Positionen von Rechts und Links, von Konservativ und Progressiv zu sicherheitspolitischen Fragen, lässt sich auch innerhalb des Pazifismus beobachten. Es wäre möglich, dass auch die Pazifismus/Bellizismus-Kontroverse ein Epiphänomen dieses seit der Französischen Revolution die politische Öffentlichkeit spaltenden Dissenses zwischen beharrenden und veränderungswilligen Kräften ist. Dieser Dissens erübrigt sich, seitdem die Veränderung selbst als beharrendes Moment sich beschleunigender Marktprozesse erkannt ist. Wenn Umstrukturierung – als permanente Suche nach Marktlücken – als änderungsresistentes Dogma liberaler Marktwirtschaft gilt, das durch keine alternative Gesellschaftsordnungsidee mehr herausgefordert wird, sondern nur noch durch Menschen und Menschengruppen, die nicht mehr als Gegner, sondern nur noch als Terroristen wahrgenommen werden, dann löst sich der Gegenstand ehemaliger Kontroversen auf. Dieser Gegenstand bezieht sich auf die ethische Frage, ob „Freiheit“ als der Leitwert des Westens keine Schranken der Veränderbarkeit mehr denken lässt, sodass alles und jeder den Verwertungsinteressen der Subsysteme zum Opfer fällt, oder ob es ein widerständiges Prinzip unüberschreitbarer Legitimitätsschranken gibt, das Grenzen der Verwertungsfreiheit etabliert. Die Frage nach den moralphilosophischen Axiomen gehört in ein Kapitel, das den Pazifismus im Hinblick auf die Unterscheidung von gutem und schlechtem oder bösem Handeln beobachtet. Damit aber sind wir bereits mitten in der Terrorismusproblematik, da Pazifismus (gewaltlose NGO) und Terrorismus (gewaltsame NGO) als moderne moralische Codierung diejenige von Pazifismus und Bellizismus/Militarismus abgelöst hat. Genau diese Unterscheidbarkeit geht verloren, wenn die Entdifferenzierung von „Leben“(serhaltung) und „gutem Leben“ als notwendige Transformation eines Pazifismus gefordert wird, der in einer globalisierten Welt Bestand haben will. Der Pazifismus symbolisiert in sei218
Ausführlich dazu Brücher (2006).
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nen mannigfachen Spielarten im Schema politisierter Moral das gute, weil gewaltfreie Handeln. Diese Zuordnung bleibt auch dort unversehrt, wo das Prinzip der Gewaltfreiheit mehr im Sinne eines Fernziels darüber nichts aussagt, welche Mittel hier und jetzt nötig sind. Die Seite des „bösen“, rechtsverhöhnenden Handelns symbolisieren „Terrorismus“ und als „Schurkenstaaten“ bezeichneter Staatsterrorismus. Da in den nachwestphälischen Gesellschaften keiner moralischen Instanz das Recht zusteht, verbindliche Kriterien für ein Unterscheiden moralisch guten von schlechten Handlungen aufzustellen, sind es die gesellschaftlichen Diskurse selbst, die entscheidende Richtlinien liefern. Um zu ermitteln, was gut und was schlecht ist, muss die gesellschaftliche Kommunikation – Massenmedien, Umfragen, Interviews Prominenter, Talkshows – beobachtet werden. „Pazifismus und Terrorismus“ treten als zeitgemäße Form der moralischen Unterscheidung allerdings nur dort in Erscheinung, wo moralisch argumentiert wird. Pazifistisches kommt als gutes weil gewaltfreies Handeln gar nicht ins Spiel, wo die humanitäre Perspektive außen vor gelassen und eine Sprache bevorzugt wird, die das Vorzuziehende ausschließlich im Rahmen von Systemcodes – Machterwerb, Wachstum, Lernen, Mitbestimmung, Wissenszuwachs – beschreibt. Solches Sprechen und Schreiben, das nicht auf den Menschen als Ganzen Bezug nimmt, um der Gefahr einer moralisierenden Betrachtung zu entgehen, bezieht das Vorzuziehende auf ein bestimmtes Funktionssystem: Gutes ist politisches Handeln, das die Machtverhältnisse klärt (da es keinen Frieden ohne Gewaltmonopol gibt). Gutes ist wirtschaftliches Handeln (da es keinen Frieden ohne Wohlstand gibt). Gutes ist ein die Verrechtlichung vorantreibendes Handeln (da es keinen Frieden ohne Rechtsstaat gibt). Das zentrale Problem, um das alle pazifistischen Reflexionen kreisen und gewissermaßen die einzig zulässige Maßeinheit für die Art und Weise liefert, wie Menschen und Gruppen, die sich Pazifisten nennen, Stellung zu aktuellen tagespolitischen Themen beziehen, ist das Problem der Unterordnung des menschlichen Lebens unter die Bestandserfordernisse des Staates. Diese Unterordnung ist die unvermeidliche Folge der frühneuzeitlichen Ausdifferenzierung des politischen Systems, die beginnende Umstellung der Gesellschaft von einer hierarchischen auf eine funktionale Differenzierungsform. Diese wird begleitet von einer Veränderung der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Das betrifft vorwiegend die Semantik der Ordnung und des Friedens. Diese werden nicht mehr in einem geschichteten Modell von vorgegebenen und menschlich zu leistenden Regelungen verortet und nicht mehr als Ineinander von göttlichem, natürlichem und positivem Recht verstanden. Das geregelte und friedliche Zusammenleben erscheint zunehmend als das Werk von Fürsten (Machiavelli), von absolutem Herrscher (Hobbes), von Volkssouveränität (Rousseau), von rechtlich verfasster Gemeinschaft (Kant), des Marktes (Adam Smith), und heute zusätzlich der Diskursgemeinschaft (Habermas). Obgleich der Liberalismus Leben und Wohlergehen (Freiheit) des Individuums gegenüber dem Staat als obersten Wert behauptet, bleibt auch hier, gemäß seiner ideengeschichtlichen Herkunft in Aufklärung, in Evolutions- und Zivilisationstheorie
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die Erhaltung der Ordnung stiftenden Struktur des Marktes als wirtschaftliche Dynamik (Monopolisierung des Kapitals durch Konkurrenz) und als politische Dynamik (Monopolisierung der Gewalt durch Wahlen), dem Wert des individuellen Lebens immer vorgeordnet. Diese Konsequenz zeigt sich erst nach dem Ende des sozialistisch-kapitalistischen Systemantagonismus, der den Liberalismus erstmals in der Geschichte ohne größere Widerstände in die Lage versetzt, die eigene Struktur zu einem weltumspannenden funktional differenzierten Gesellschaftssystem auszubauen. In diesem Stadium der Globalisierung kommt die innere Logik dieses Modells zum Vorschein, die in Bezug auf die Wertschätzung des individuellen menschlichen Lebens vom sozialistischen Modell nicht abweicht. Das Problem, auf das der Pazifismus als gesellschaftspolitische Bewegung reagiert, ist die Schutzlosigkeit des menschlichen Lebens in einem säkularen Ordnungsverständnis, das gewaltgestützte Macht zur Bedingung möglicher Ordnung und damit möglichen Friedens erklärt. Der Wert des menschlichen Lebens war im Naturrechtsdenken nicht als menschliche Wertzuschreibung, sondern als eine Gegebenheit verstanden, die jeder Mensch als ein von Menschen geborener schon vorfindet und deshalb nicht in Frage gestellt werden kann. Dieses Postulat der Unverfügbarkeit findet in der christlichen Semantik in der zugleich als Norm und als Faktum gemeinten Formel von der „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ Ausdruck. „Heiligkeit“ meint als Faktum dieses von jedem individuellen Menschen immer schon vorgefundene Menschsein; sie meint als Norm eine daraus erwachsende Unverfügbarkeit des einen konkreten menschlichen Lebens durch andere konkret Lebende. Im modernen Ordnungsverständnis ist seit Hobbes ein Lebensrecht jenseits einer Rechte gewährenden Schutzmacht nicht begründbar. Da Menschenwürde und Menschenrechte jedoch auf einem überpositiven und damit nicht gesetzten Recht des Menschen auf Leben basieren, stehen sie in Widerspruch zum säkularen Ordnungsverständnis der westlich-abendländischen Moderne. Ihre metaphysikkritische Relativierung vollzieht sich gegenwärtig im Zusammenhang mit der Emanzipation des Liberalismus von allen moralischen, rechtlichen und völkerrechtlichen Beschränkungen des Handlungsspielraums der Funktionsträger in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Politik und Recht. Am deutlichsten tritt die Entmoralisierung des Rechts, die Rechtsinstitutionen wie Menschenwürde und Menschenrechte ihres vorpositiven Charakters beraubt, in der Neuinterpretation des Grundgesetzes durch den Staatsrechtslehrer Matthias Herdegen in Erscheinung. Der grundrechtlich verbriefte Lebensschutz, der gegen die (nach dem zweiten Weltkrieg zum Staatsverbrechen erklärte) Vernichtungspolitik „lebensunwerten Lebens“ (als Krankheits- oder Rassemerkmal verstanden) von Seiten des Nationalsozialismus, gerichtet war, ist in der neuen Auslegung aufgehoben. Herdegen kritisiert das „zähe Festhalten von deutschen Staatsrechtslehrern an einem „überpositiven Charakter“ der Menschenwürdegarantie und ihrer Deutung als „Einbruchstelle für naturrechtliche Vorstellungen.“ Allein die Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts
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können seiner Auslegung nach rechtlich relevant sein. Wo dies nicht so gesehen werde, setze man auf das „Hohepriestertum seiner höchstpersönlichen Ethik“ und deren Überzeugungskraft. Nur eine weltanschaulich homogene Gemeinschaft erlaube eine Auslegung mit vorhersehbaren Ergebnissen. Wo diese fehle, handele es sich um Intoleranz gegenüber allen, denen der rechte Zugang zu den Gewissheiten einer überpositiven Weltordnung versagt sei. Der Menschenwürdeanspruch ergebe sich erst aus einer wertenden Gesamtbetrachtung. Wer dem nicht zustimme, beschränke den Schutz der Menschenwürde auf ein schmales Feld von Verfolgungen aus rassischethnischen Gründen, „oder aber das strikte Verbot jedes würderelevanten Eingriffs erstickt die Handlungsfähigkeit staatlicher Organe.“219 Die Funktion des Pazifismus besteht angesichts eines weltanschaulichen Pluralismus, Dezisionismus und Wertrelativismus darin, den Schutz menschlichen Lebens gewissermaßen zum politischen Programm zu erheben, um diesem in einer Massenbewegung Geltung zu verschaffen. Die Politisierung der im Lebensschutz fundierten Menschenwürdegarantie ist auch eine Reaktion auf den Autoritätsverlust der philosophischen Ethik und den Autoritätszuwachs der positiven Wissenschaften, die überpositives Wissen als Metaphysik verwerfen. In ihrer modernisierten Gestalt als Friedensbewegung konnte sich der Pazifismus noch einmal „verwissenschaftlichen“,220 da sich mit der Friedens- und Konfliktforschung eine Richtung etabliert hatte, die als positive empirisch gestützte Sozialforschung ohne den Rückgriff auf Moralphilosophie, auf Erkenntnistheorie und religiöse Ethik den Schutz menschlichen Lebens als wissenschaftlich geboten meinte nachweisen zu können. Dies gelang allerdings nur im Angesicht der Atomkriegsgefahr, die von den beiden einander bedrohenden Hegemonialmächten USA und UDSSR ausging. Einen drohenden Homozid abzuwenden, schien sich als politisch-wissenschaftliche Aufgabe ersten Ranges unabhängig davon aufzudrängen, ob dem menschlichen Leben ein absoluter oder nur ein relativer Wert beigemessen wurde. Das Ende des Ost/West-Konflikts hat das mit diesem Konflikt verwobene Legitimitätsdenken gegenstandslos werden lassen. Seit dem Golfkrieg 1991 hält die Güterabwägung die Stelle besetzt, die unter dem Eindruck der Atomkriegsgefahr der Lebensschutz eingenommen hatte. Demzufolge treten die traditionellen wertethischen Begründungsfiguren wieder in den Vordergrund. Das gilt nicht nur für Richtungen, die sich dem politischen Pazifismus zugehörig fühlen, sondern insgesamt für die Friedens- und Konfliktforschung, die den nichtgewaltsamen Konfliktaustrag zum Erkenntnisanliegen erhoben hatte. Nachdem Kriege wieder führbar scheinen, wächst der Friedensethik gegenüber der bisher dominierenden Friedenswissenschaft wieder Bedeutung zu. Nicht nur die Legitimierung, auch die Delegitimierung von Waffen219
Siehe zur Neukommentierung (Maunz/Dürig 2003) kritisch Ernst-Wolfgang Böckenförde (2003); Reinhard Müller (2005). 220 Siehe dazu Steinweg (1977); Steinweg (1982), bes. Jahn (1982: 146ff.); Hauswedell (1996: 491ff.); Wasmuht (1998a).
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gängen muss sich rechtfertigen. Mehr noch, es wird mitunter von moralphilosophischer Seite die Ansicht vertreten, Gewaltkritik lasse sich jenseits des Kriterienkatalogs der Lehre vom gerechten Krieg, besonders im Hinblick auf den als Mittel der Terrorismusbekämpfung wieder aufgewerteten Krieg, kaum üben. Die Abwägungsbedürftigkeit der Menschenwürde verstößt als Konstrukt sowohl gegen den christlichen als auch gegen den säkularen Humanismus.221 Sie drängt sich gleichwohl als Konsequenz nicht nur eines positivistischen Rechtsverständnisses, sondern auch eines diskursethischen Moralverständnisses auf. In dem Maße, in dem die Menschenwürde zur einklagbaren Norm erhoben wird, zeigen sich Gerechtigkeit und Frieden in ihrem Spannungsverhältnis. Denn die Vorstellungen von dem, was menschenwürdiges Leben ist, bleiben eng verknüpft mit den Ansprüchen gerechter Verteilung der Chancen, des Einflusses, der Macht und der Güter. Liegen die Vorstellungen weit auseinander, so bedarf es jener institutionellen Stützen der Friedfertigkeit, von denen bereits Kant angenommen hatte, sie würden die fehlende Übereinstimmung bezüglich der Vorstellungen gerechter und lebenswerter menschlicher Bedingungen kompensieren. Aber nicht nur die Erwartungen in die freie Presse und deren Fähigkeiten, Transparenz zu erzeugen, werden enttäuscht, auch Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung werden durch die Globalisierung zunehmend untergraben. Vor dem Hintergrund einer Tendenz zur Auflösung des „Nexus zwischen Demokratie und Frieden“ begrüßt Harald Müller (2002: 20) bei aller Kritik an einzelnen Positionen die grundsätzliche Teilnahme eines „unbeugbaren Pazifismus“ am öffentlichen Diskurs. Das geht in die Richtung der von uns beschriebenen Funktion, ein Defizit zu kompensieren, das die Legitimitätsgrundlage des westlichen Politikmodells suspendiert. „Entgegen der Tendenz in unserer westlichen Debatte, humanitäre Interventionen auf eine Doktrin des gerechten Krieges zurückzuführen, erinnern uns die Pazifisten an die unverrückbare Ungerechtigkeit jedes Krieges. Da Krieg unweigerlich zum Tod Unschuldiger führt, produziert jeder Krieg Ungerechtigkeit. Sie wird nicht dadurch neutralisiert, dass die Zahl der Leben, die durch die Intervention gerettet werden, die Zahl der Opfer übersteigt.“
Das wertethische Problem der Abwägung von Menschenleben wird hier als so gravierend eingestuft, dass es selbst dann noch gegen die Intervention spricht, wenn mehr Menschen gerettet werden können als dieser Rettungsaktion zum Opfer fallen. Allein diese Abwägung ist bereits illusorisch, weil sie aktuelle Tote mit potenziellen Toten verrechnet, was Kalkulationsmöglichkeiten voraussetzen würde, die aus logischen Gründen niemals gegeben sein können. Verrechnen lassen sich nämlich immer nur Chancen innerhalb einer einzigen modalen Kategorie. So kann in vergleichenden Länderstudien der Umgang mit der Abwägungsproblematik „Leben gegen Leben“ an 221
Für Emmanuel Lévinas (1995: 126) ist die Rechtfertigung des Schmerzes des Anderen der Ursprung aller Unmoral. Siehe dazu auch Hirsch (2004: 257), der vom „Leidenstausch“ spricht.
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Fallbeispielen, wie den Praktiken der Todesstrafe, abgelesen werden. Der Vergleich verbleibt innerhalb der empirisch signifikanten Wirklichkeit. Es können freilich auch Modelle und Weltanschauungen in Bezug auf je ihren Umgang mit der Abwägungsproblematik verglichen werden, wobei die Ebene potenzieller Wirklichkeit (Möglichkeit) nicht verlassen wird. Geht es im Vergleich um wissenschaftliche Hypothesen über mögliche Entwicklungen, so bewegt sich die Analyse wiederum innerhalb ein und derselben modalen Kategorie, nämlich dem statistisch zu ermittelnden Wahrscheinlichen. Wirklichkeit, Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit bestimmen als Art und Weisen das Sein je unterschiedlich. Die Schlussfolgerungen, mit denen von einer zur anderen Ebene modaler Bestimmungen gesprungen wird, sind nicht logisch, sondern assoziativ und hypothetisch. In sich sind die Verlaufsberechnungen durchaus logisch und konsistent. Die Konsistenz ist aber eine solche der Methode, die solche Verläufe rekonstruieren lässt. Als wirkliche werden diese auf dem Wege empirischer Untersuchungen nachgewiesen. Alle Variablen dieser Kalkulation müssen sich in der Empirie bestätigen lassen, die Ursachen in gleicher Weise wie die Wirkungen. Das prognostizierende Verfahren hingegen, das Wahrscheinliches zu ermitteln erlaubt, stützt sich auf statistische Methoden, die aus der Häufigkeit, mit der gewisse Kausalitäten auftreten, auf ein Raum und Zeit übergreifendes Gesetz schließen lassen. Das bloß Mögliche aber wird mit Hilfe konditionaler Wenn-dann-Sätze erschlossen. Hier lassen sich strukturelle Zusammenhänge rekonstruieren, die über das tatsächliche Eintreten von Ereignissen nichts aussagen. Im pazifistischen Diskurs wird die bevorzugte Position, soweit es nicht um ethische Prinzipien geht, gemeinhin nur empirisch und statistisch untermauert. Im Zusammenhang mit der besonderen Fragestellung dieses Kapitels, die sich mit den moralphilosophischen Axiomen des Pazifismus beschäftigt, diente der Hinweis auf die moralischen Dimensionen der (willkürlichen) Auswahl von Ursachen dazu, noch einmal die unersetzliche Bedeutung der ethischen Reflexion hervorzuheben. Das Argument von Harald Müller lautete: Selbst wenn die Zahl von Leben, die durch eine Militärintervention gerettet werden, die Zahl der Opfer übersteigen würde, so ließen sich die Ungerechtigkeiten, die jeder Krieg produziert, dadurch nicht neutralisieren. „Eine Menschenrechtsethik, die solche humanitären Interventionen fordert, kann Gerechtigkeit nicht in Verrechenbarkeit von Menschenleben suchen, hier trifft sie sich mit der Wertorientierung der Pazifisten. Die pazifistische Kritik zwingt die Befürworter der humanitären Intervention dazu, die Messlatte sehr hoch zu legen, bevor sie Gewaltanwendung befürworten.“ (Müller 2002a: 20).
Wenn wir nun aber feststellen mussten, dass die Abwägung von geretteten und geopferten Menschenleben als logische nicht gelingt, weil sich faktischer und potenzieller
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Tod nicht gegeneinander aufrechnen lassen,222 dann gewinnt die Unmöglichkeit der moralischen Abwägung ein noch größeres Gewicht. Zwei voneinander getrennte moralphilosophische Gründe sprechen nun für den Pazifismus. Der erste ergibt sich aus dem fehlenden moralischen Rückhalt für die Verrechenbarkeit von Menschenleben. Der zweite zielt auf die unersetzbare Bedeutung, die dem Pazifismus aus der Tatsache erwächst, dass Militärinterventionen nicht einfach Leben retten, sondern lediglich die Entscheidung über die Verteilung von Geretteten und Geopferten in andere staatliche Hände bringt. Denn genau das findet statt, nämlich eine Verlagerung der Entscheidungskompetenz über Leben und Tod vom einen zum anderen Souverän. Jeder Souverän teilt nach eigenen Maßstäben Menschen die Rolle des Opfers oder des Kollateralschadens zu. Für die serbischen Sicherheitskräfte war die unter kosovo-albanischem Nationalismus und Separatismus leidende serbische Bevölkerung das Opfer und die vertriebenen Kosovaren die Kollateralschäden. Für die Koalition der Interventionsmächte war es genau umgekehrt. Nicht nur in Bezug auf die Entscheidung zur Bombardierung jugoslawischer Städte fiel diese Art der Verrechnung von serbischem und kosovo-albanischem Menschenleben ins Gewicht. Die Koalition blieb bei ihrer Interpretation der Abwägung auch noch zu einer Zeit, als sich im Kosovo die Vertriebenzahlen zu Lasten der Serben umkehrten. Diese Vertreibungspolitik wurde als verständliche Rache der Kosovo-Albaner für erlittene Menschenrechtsverletzungen in ihrer menschenrechtsverletzenden Bedeutung herabgesetzt. Der Pazifismus zwingt zur Auseinandersetzungen mit diesen Fragen. Dessen Herausforderung „hält auch den Verantwortungsethikern das ständige Risiko vor Augen, hinter der Folie angeblicher politischer Sachzwänge schrittweise zur Figur im Macht- und Interessenspiel zu werden. Sie zwingt zur ständigen, sorgfältigen, selbstkritischen Prüfung. Der Pazifismus ist der Stachel im Fleisch von Selbstgerechtigkeit und Abschottung, die unserer politischen Debatte über Krieg und Frieden in seiner Abwesenheit drohen mag.“ (Müller 2002a: 20).
Nun wäre es ganz weltfremd behaupten zu wollen, die Unterscheidung von Angreifern und Angegriffenen oder auch von Tätern und Opfern würde immer nur auf Parteinahme und damit auf Ungerechtigkeit beruhen. Aber die Verteilung der Rollen gelingt Außenstehenden in der Regel schon dann nicht, wenn es um Konflikte in kleineren sozialen Einheiten geht. Für die Konfliktparteien selbst gilt dies in noch stärkerem Maße; jeder fühlt sich als Opfer, wenn auch nicht notwendig von personeller, so doch von struktureller oder kultureller Gewalt. Jede der drei Gewalttypen aber neigt dazu, eine Gewaltspirale auszulösen – im Galtungschen (1998: 134ff.) Modell ein „Konfliktdreieck“. Von jeder Seite aus, den widersprüchlichen Interessen (strukturelle Gewalt), den Affekten (personelle Gewalt) oder den Stereotypen (kulturelle Gewalt) 222
Zu einer einfachen Vergleichsrechnung, die auf einseitiger Darstellung beruht, siehe Scharping (2001) und die Kritik von Olaf Müller, „Was wissen sie über Kosovo?“, in: Meggle (2004: 64ff.).
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können Eskalationsprozesse in Gang kommen. Religiöse Ordnungsvorstellungen projizieren die Fähigkeit, den Menschen in ihrem Handeln Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, aus eben diesem Grund in eine transmundane Instanz, die als begriffliche Leerstelle all die Vollkommenheiten beherbergt, die der Mensch sich nicht anzueignen vermag. Infolgedessen liegt auch die absolute Gerechtigkeit nur bei Gott. Dasselbe Denken findet sich im Islam. Der Protest der gesamten moslemischen Welt anlässlich der Etikettierung des Feldzugs gegen Afghanistan mit „infinite justice“, hat George W. Bush zur Korrektur der Devise und deren Umbenennung in „enduring freedom“ veranlasst. Es ist die spezifische Funktion der Teilung zwischen spiritueller und gewaltgestützter Macht, den konkreten Menschen vor dem Zugriff mächtiger Personen und Gruppen zu schützen (Schutz der Menschenwürde), die in säkularisierten Gesellschaften kaum noch erfüllt werden kann. In den islamischen Gesellschaften wird die Funktion von Seiten jener wirtschaftlich und politisch vom Westen unterstützter Herrscher unterlaufen, die den islamischen idealtypischen Dualismus von Schriftgelehrten und staatlichen Repräsentanten ignorieren. Interessanter Weise erfüllen Pazifismus und Islamismus äquivalente Funktionen gesellschaftlicher Mahner, die auf die praktischen Konsequenzen dieser Entdifferenzierung aufmerksam machen. Der Islamismus sucht die Stellung der Schriftgelehrten gegenüber den Politikern zu stärken, um auf diese Weise einem islamischen Menschenrechtsverständnis zur Durchsetzung zu verhelfen, das dem sozialistischen näher ist als dem liberalen. Der zentrale Begriff der Maslaoa meint den Vorrang des Gemeinwohls und des öffentlichen Interesses vor den Interessen des Einzelnen. Den Zulauf, den der Islamismus in den moslemischen Gesellschaften verzeichnet, ist mitbedingt durch die sozialen Leistungen, den sozialen Netzwerken und Selbsthilfe-Vereinigungen, die nach dem Islamwissenschaftler Eckehard Schulz (2003: 192) „genau die gesellschaftlichen Bereiche auf kommunaler Ebene besetzen, die die Herrschenden sträflich vernachlässigen …“ Die islamistischen Kontroversen über Methoden der Durchsetzung von Reformen sind denen nicht unähnlich, die jahrzehntelang innerhalb der verschiedenen sozialistischen Richtungen ausgetragen worden sind. Auch der historische Anarchismus kennt diese Kontroversen und findet in Leo Tolstoj und Gustav Landauer dezidierte Gegner jeder Gewalt. Über den pazifistischen Diskurs innerhalb des Realsozialismus haben wir bereits gesprochen. In diesem Zusammenhang wurde allerdings auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Ambivalenz bezüglich gewaltsamer Formen der Druckausübung durchaus nicht auf das marxistische ideologische Umfeld beschränkt bleibt, sondern sich auch im Liberalismus dort findet, wo „Frieden“ im Sinne einer Politik des „nichtgewaltsamen Konfliktaustrags“ im Zielbereich verankert wird. Sobald eine Zweck/Mittel-Logik über die Vertretbarkeit von Methoden entscheidet, ist es schlechterdings nicht mehr möglich, gewaltsame Strategien als Option völlig auszuschließen, da das „Mittel“ in dieser Logik per se wertneutral ist. Der „revolutionäre Pazifismus“ ist also streng genommen nicht einfach eine die Prinzipien des Pazifismus missachtende Splitterbewegung, die sozialistisches Ge-
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dankengut als pazifistisches ausgibt. Wir haben es hier vielmehr mit einer Erscheinung zu tun, die aus den prinzipiellen Schwierigkeiten politisch relevante Schlüsse zieht. Schwierig ist es, die Menschenwürde (gebunden an ein verfassungsrechtlich zementiertes Tötungsverbot) im Rahmen einer säkularen Ethik als überpositive Norm zu behaupten. Genau genommen handelt es sich bei Sozialismus und Islamismus um die kollektivistische Version jener Lockerung des Tötungsverbots, die eine zwangsläufige Folge der säkularisierten Moral ist. Die individualistische Version verbirgt sich in Positionen, wie sie Ludger Volmer im Begriff des „politischen Pazifismus“ wiedergibt. Ebenso wie sich der „revolutionäre Pazifismus“ substanziell nicht von sozialistischen Politikvorstellungen unterscheidet, so finden wir im „politischen Pazifismus“ Analogien zum „politischen Realismus“. Beide Pazifismen markieren das ethische Profil von Sozialismus und Liberalismus. Wenn die Verfügungsrechte der Stärkeren (hochgerüsteter Westen) über das Leben der Schwächeren („rest of the world“) bestritten und also an der Menschenwürde als einem für alle Menschen geltenden „Prinzip der Praxis“ oder praktischen Prinzip festgehalten werden soll, dann ist die zweckrationale Logik ein unzureichendes Instrument. Nachdem bewusst geworden ist, dass die Menschenrechte als überpositive Rechte der Metaphysikkritik nicht stand halten können und tatsächlich längst dem Kontingenzbewusstsein geopfert worden sind,223 und seitdem dieses Bewusstsein zur Neuinterpretation der Menschenwürde im Grundgesetz geführt hat, steht der Mensch in gewisser Weise schutzlos da. Wo der Pazifismus in diese Lücke stößt und ein Recht auf Leben gegen alle ethiktheoretischen und juristischen Einwände geltend macht, erfüllt er eine Funktion, die in gewisser Weise eine Bedingung dafür ist, dass es ethische Reflexionen überhaupt gibt. Wir stoßen hier auf den Kern der moralphilosophischen Bedeutung des Pazifismus. Denn die Achtung vor dem menschlichen Leben und mehr noch, das Postulat prinzipieller Unverfügbarkeit desselben, liefert die Basis einer jeden weiteren ethischen Begründung von Werten, Rechten und Pflichten. Indem das politisch-militärische Funktionssystem an dieses Prinzip der Unverfügbarkeit und damit der Menschenwürde um der effizienteren Bekämpfung des Terrorismus willen, mithin aus sicherheitspolitischen Motiven heraus, rührt, und indem das wissenschaftliche Funktionssystem aus biotechnologischen Motiven der besseren Bekämpfung von Krankheiten auf entsprechende Gesetzesänderungen pocht, wird nicht lediglich das „westliche Wertesystem“ verändert. Es werden vielmehr die Grundlagen für ethische Begründungen menschlichen Handelns beseitigt. Denn solche Grundlagen werden nicht durch einzelne Moralvorstellungen, sondern durch die Differenz von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit hergestellt. Wenn alles verfügbar ist, dann richten sich die Maximen des Handelns nach dem Willen des Stärkeren. Dieser ist ein Produkt der jeweiligen Gesellschaftsstruk223
Eine präzise Beschreibung dieser Bewusstwerdung findet man bei Niklas Luhmann, „Das Paradox der Menschenrechte und drei Formen seiner Entfaltung“, in: Luhmann (1995: 229ff.).
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tur. In segmentären Gesellschaften – Stammesgesellschaften, Familienclans – übt das Familienoberhaupt oder der Stammesführer die Definitionsgewalt aus. In hierarchischen Gesellschaften ist es einer Elite vorbehalten, den Wert vom Unwert zu unterscheiden. In modernen funktional differenzierten Gesellschaften sind die namhaften Adressaten der moralischen Wertung die Funktionsträger. Die Bedingungen der Achtung und Missachtung – im sozialen Leben als Moral wahrgenommen – orientieren sich am Stark/Schwach-Schema. Die Verteilung moralischer und faktischer Stärke bestimmt auch die Achtung, die Menschen entgegengebracht wird. Insofern ist die Würde eines Menschen immer zunächst ein der Person verliehenes Attribut, das diesen als wertvolles Mitglied der Gesellschaft ausweist. Es ist aufs Engste verknüpft mit Verdiensten, die andere Menschen dieser Person zuschreiben. Vor dem Hintergrund seiner Analysen des Konnexes von Gesellschaftsstruktur und Moral gelangt Niklas Luhmanns (1978: 43ff.) zur Überzeugung, dass die metaphysikkritische Relativierung nur noch jenes soziologische Verständnis der Moral als Achtungskommunikation zulasse, in der die Bedingungen für die Verteilung von Achtung und Missachtung immer wieder neu ausgehandelt werden. Ethik erscheint demgegenüber als Theorie, die die Kriterien reflektiert, unter denen eine Verteilung von Achtung und Missachtung in der urwüchsigen moralischen Kommunikation zustande kommt. Erst auf dieser Ebene kommt die Differenz von Moral und Moralität ins Spiel. Auf der Ebene der Achtungskommunikation, wo sich moralische Vorstellungen ganz naturwüchsig aus der Interaktion der Gesellschaftsmitglieder entwickeln, gibt es die Kategorie der Unverfügbarkeit und damit der Menschenwürde nicht. Um ehische Kriterien für die moralische Kommunikation und mithin für die Verteilung von Achtung und Missachtung benennen zu können, muss zwischen Personwürde und Menschenwürde unterschieden sein. Ohne diese Unterscheidung entfällt jeder Grund dafür, die Bedingungen der Achtbarkeit eines Menschen zu beobachten, zu überprüfen und zu korrigieren. Denn das Gute erscheint einer Gesellschaft immer als das, was in der jeweiligen Zeit als „gut“ gilt. Ein überpositives Recht, zwischen dem Wert des einen und dem des anderen Menschen abwägen zu dürfen, ließe sich nur begründen, wenn Vollkommenheit und Unvollkommenheit nur gesellschaftliche Zuschreibungen wären und nicht eine diesen Zuschreibungen vorausgehende logische und kategoriale Unterscheidung. Nur im ersteren Fall sind Menschen in der Lage, aufgrund der Achtung, die ihnen in der Gesellschaft entgegengebracht wird (Personwürde), sich als Repräsentanten oder sogar als Verkörperungen idealen, vollkommenen Menschseins (Menschenwürde) zu verstehen. Nur dann sind sie in der Lage, Verfügungsrechte über unvollkommene Exemplare ihrer eigenen Gattung geltend zu machen. Das konstruktive Moment der Bedeutungszuschreibung, das bereits der Nominalismus des Mittelalters, der Cartesianismus der Neuzeit, der philosophische Idealismus der Moderne und heute der Konstruktivismus der Postmoderne hervorheben, bleibt immer auf die besondere Art beschränkt, in der die beiden Seiten der Differenz mit Inhalt gefüllt werden. Das Differenzbewusstsein als solches aber kann keine gesellschaftliche Konstruktion sein, weil es die Voraussetzung dafür ist, dass etwas
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als etwas Bestimmtes konstruiert wird. Wenn die besondere postmoderne konstruktivistische Erkenntnistheorie heute mitunter auch gegen Kant und seine Transzendentalphilosophie zu Felde zieht und behauptet, die von ihm genannten apriorischen Kategorien seien kontingente – auch anders mögliche – Unterscheidungen, so wird lediglich das Differenzbewusstsein noch eine Stufe tiefer gelegt und das bedeutet, noch weiter auf seine formale, letztlich mathematische Struktur reduziert. Diese findet sich in der mathematischen Logik George Spencer Browns, der eine irreduzible mathematische Formel für die Bezeichnung des grundlegenden Differenzbewusstseins einsetzt.224 Diese Formel versteht er nicht nur als erkenntnistheoretische, sondern auch als ethische Grundlage jeder wissenschaftlichen Disziplin und jeder Kultur. Denn geht die Unterscheidung von Vollkommen (positiver Wert) und Unvollkommen (negativer Wert) jeder gesellschaftlichen Diskussion über inhaltliche Bestimmungen der einzelnen Begriffe voraus, dann gibt es keinen privilegierten Beobachter („rationalen Akteur“ qua vollkommenen Mensch), sondern nur einen Aktor, der eine Unterscheidung macht. Der Pazifismus dringt als Lehre und als Bewegung in die tiefere ethiktheoretische Reflexion nicht ein. Das scheint vordergründig gesehen auch nicht notwendig, weil er eben gerade jenes Vakuum, das der Relativismus im Hinblick auf ethische Grundfragen hinterlassen hat, mit Politik auszufüllen sucht. Ein solcher Vorstoß findet freilich nur bei Gleichgesinnten Anerkennung, also bei all jenen Menschen, die aus anderen Gründen, aus religiösen oder humanistischen Überzeugungen heraus, Menschen das Recht streitig machen, als Richter über Leben und Tod aufzutreten. Was der pazifistische Diskurs vermag, ist allenfalls ein Gewissen wachzurütteln, das keiner logisch konsistenten Begründungen bedarf, um das Töten an sich schon für schlecht zu halten. Er kann jedoch nicht all jene Menschen ansprechen, die eben solche moralischen Intuitionen nicht besitzen, oder die ein Abwägen von Menschenleben meinen legitimieren zu können. Was er darüber hinaus vermag, ist Überzeugungsarbeit hinsichtlich bestimmter politischer Positionen zu leisten. Er kann ein Hintergrundwissen bezüglich konkreter Konflikte beschaffen, das die Öffentlichkeit über wenig bekannte Motive politischer Entscheidungsträger, verbrämte Interessen und faktische Gefahren einer Militärintervention informiert. Um dies zu leisten, muss man aber nicht Pazifist sein, sondern nur ein kritischer Beobachter politischer Prozesse. Und schließlich vermag der Pazifismus Gegenmacht zu erzeugen, z.B. in Gestalt einer Massenbewegung. Da eine Massenbewegung nicht aus der widerspruchsfreien Wahrheit der sie tragenden Überzeugungen lebt, sondern nur aus zeitabhängigen Plausibilitäten, die für den Augenblick einem Unmut, einer Unzufriedenheit oder einer Angst die Argumente liefern, nimmt der Pazifismus diesen Charakter einer vorübergehenden Zeit224
Siehe zu dieser These Karl Eberhard Schorr („Zu Formanalyse und Formgebrauch in der Logik“: in: Baecker 1993a: 73).
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strömung und einer Gesinnung mit dieser Zeitströmung verbundener Menschen an. Wer von der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens und damit von der Unantastbarkeit der Menschenwürde wirklich überzeugt ist, sollte dies nicht nur durch Zugehörigkeit zu einer modernen Ideologie tun, sondern sollte sich im Klaren sein, dass der gegenwärtige Stand der Ethiktheorie eine solche Unbedingtheit nur als Radikalismus und womöglich sogar nur als Fundamentalismus anzusehen vermag. Die Notwendigkeit einer ethischen Vertiefung wird deshalb auch von pazifistischer Seite besonders dort angemahnt, wo sich die Motive für den politischen Einsatz aus einem christlichen Moralkodex speisen. 6.1.1 Ersetzen der ethischen durch psychologische Grundlagen des Pazifismus? Weniger durch ethische Grundsätze und mehr durch psychologische Affekte angetrieben worden zu sein, sieht Eugen Drewermann (2002) als einen Hauptgrund für das nahezu völlige Versanden der Friedensbewegung in der heutigen Zeit, die sich in Teilen für militärische Interventionen rüstet. Drewermann wirft den Mitgliedern der Friedensbewegung vor, zur Zeit der Nachrüstungsdebatte nur aus Angst vor einem Atomkrieg aktiv geworden zu sein. Dieses egozentrische Interesse am Frieden musste sich in sein Gegenteil verkehren, als die Gefahr vorüber und an deren Stelle ein westliches Überlegenheitsbewusstsein getreten war. Nunmehr galt es, die Chancen der Weltgestaltung zu ergreifen, die die militärische Stärke des eigenen Gesellschaftssystems bot. Dass Angst nicht nur ein schlechter Ratgeber politischer Entscheidungen, sondern auch ein unzureichendes Motiv für die Propagierung gewaltloser Konfliktlösungsformen ist, trifft als Vorwurf nicht nur die pazifistische Friedensbewegung. Was als Argument auf Anhieb einzuleuchten scheint, ist recht besehen ein Hieb gegen die moderne Friedensethik. Diese hat mit Thomas Hobbes in einer bis heute gültigen Form die gesamte Friedensmotivation aus dem einzigen Faktor der Angst abgeleitet. Diese anthropologische Grundlage der modernen Friedensethik gerät heute freilich durch die Praxis des Selbstmordattentats ins Wanken. In den Augen der weltpolitisch Schwachen und Ohnmächtigen scheint dies die einzig noch verbliebene Strategie gegenüber der unaufhaltsamen globalen Expansion der Funktionssysteme. Auch hier wieder stoßen wir auf eine verblüffende und anstößige Parallele zwischen Pazifismus und Terrorismus. Denn um der Angst diese Schlüsselstellung im friedensethischen Entwurf streitig machen zu können und Motive ins Spiel zu bringen, die jenseits des Überlebensinteresses der Menschen angesiedelt sind, muss eben gerade bestritten werden, dass das Leben das höchste Gut ist. Alle weiteren Diskussionen betreffen ab diesem Punkt nur noch die Frage, ob die notwendige Güterabwägung zwischen „Leben“ und „gutem“ oder „sinnerfülltem Leben“ nur die Bereitschaft einschließt, sich selbst für eine Sache aufzuopfern, oder ob im Falle hochstehender Ziele, wie einem Weltfrieden, in dem der Krieg als Institution abgeschafft sein wird und nur noch Polizeiaktionen gegen Straftäter stattfinden, eine Zustimmung auch anderer Menschen zu ihrer Opferung stillschweigend vorausgesetzt werden kann.
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Diese Frage wird innerhalb des Islamismus deshalb kontrovers beantwortet, weil auch die Schriftgelehrten aus der Koranexegese zu keinen einhelligen Ergebnissen kommen können. Selbige Figur der „stillschweigend vorausgesetzten Zustimmung von Dritten zu ihrer Opferung“ wurde auch im Christentum zum Zankapfel und letztlich zur Sprengkraft, die den religiösen Charakter des Christentums zunehmend durch einen politischen ersetzte. Dieser gleitende Übergang ist begleitet von einer Außenwahrnehmung, die das Selbstopfer des Märtyrers gegenüber dem Kampf der Kreuzritter in den Hintergrund drängt. Wir haben mit Eugen Drewermann einen Vertreter des radikalen oder konsequenten Pazifismus zu Wort kommen lassen, der die Angst vor dem Krieg nicht nur als unzureichende, sondern auch als kontraproduktive pazifistische Motivation beschreibt. Mit der Relativierung der Todesangst muss er jedoch Werte ins Spiel bringen, die das Leben überragen. Genau diese Konsequenz sucht ein metaphysikabstinenter moderner Ansatz seit Hobbes zu vermeiden, weil ein Begriff des „guten Lebens“, der mehr impliziert als das bloße Bannen der Todesgefahr, nicht mit einem Konsens aller Gesellschaftsmitglieder rechnen kann. Das neue Verhältnis zur Militärintervention schlägt sich im zahlenmäßigen Anstieg der causa iusta nieder. Verletzung territorialer Integrität gilt bereits nicht mehr als gerechter Grund, da der hochgerüstete Westen dieses Recht für sich reklamiert und aufgrund seiner Überlegenheit kaum fürchten muss, dass auch andere Staaten dieses Recht in Anspruch nehmen. Insofern sind die Gründe breit gefächert, die dem Westen nicht nur das Recht, sondern sogar eine Pflicht zur Intervention auferlegen: Menschenrechtsverletzungen, Kampf gegen den Terrorismus, Staatszerfall, Besitz von Massenvernichtungswaffen oder auch nur die technische Möglichkeit, selbige herzustellen, Regimewechsel. Diese neue und positive Einstellung zum Krieg ist allerdings bisher nur möglich, weil der technologische Vorsprung der hochindustrialisierten Staaten diesen gestattet, größte Einsätze mit geringen Opfern auf der eigenen Seite zu wagen. Dass die Angst vor dem Tod nicht nur ein kontraproduktiver, sondern überhaupt der entscheidende Impuls menschlichen Handelns sei, wird nicht nur vom Pazifismus, sondern auch vom Selbstmordterrorismus Lügen gestraft. Während der Pazifismus jedoch idealtypisch nur das Selbstopfer als legitime und effiziente Strategie gegen die personelle, strukturelle und kulturelle Gewalt menschenverachtender Politik akzeptiert – und sich in dieser Überzeugung auf die historischen Beispiele Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings225 beruft – geht der Selbstmordattentäter von der stummen Einwilligung Dritter in die Teilnahme an der Selbstopferung aus. Wir treffen hier auf eine Legitimitätsfigur, die auch im liberalen Rechtsdiskurs bereits öffentlich debattiert wird. Es geht um die Frage, was Notstand heißt und was er impliziert. Im geltenden Grundgesetz dominiert die Herleitung des Notrechts aus dem Utilitätsprinzip. Unmoralisches und selbst rechtswidriges Handeln ist nach die225
Zu Martin Luther King siehe Pressler (1996).
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sem erlaubt, wenn bei Abwägung aller Umstände der gesellschaftliche Nutzen eines Verhaltens größer ist als der verursachte Schaden. Da die Vertretbarkeit des Handelns in erster Linie dem Prinzip der Güterabwägung folgt, kann auf dieser Grundlage auch von einer Rechtspflicht zur Solidarität ausgegangen werden. Dies impliziert die stillschweigende Einwilligung der Betroffenen in eine Gefährdung von Leib und Leben, wenn nur so Schaden abgewendet werden kann. Das im utilitaristischen Denken vorausgesetzte verständige Eigeninteresse des Bürgers, aber auch notwendige Fairness, lassen von einer solchen Einwilligung selbst dann ausgehen, wenn niemand um seine Meinung gefragt wird. Dieser utilitaristischen widerspricht eine freiheitstheoretische Konzeption des Notrechts,226 die Kant darin zustimmt, dass es keine Not geben könne, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig mache. In Weiterführung der Notstandslehre Hegels wird in dieser Konzeption allerdings eine Regelung befürwortet, die nicht erst auf einen eingetretenen Schaden reagiert, sondern die diesem zuvorkommt. Insofern erhält die Notstandspflicht einen freiheitsermöglichenden Charakter. Damit ist allerdings die Solidaritätspflicht nicht aufgehoben, sondern erweitert: Von Unbeteiligten wird nicht nur die stillschweigende Einwilligung zum Opfer des eigenen Lebens erwartet, wenn eine konkrete Gefahr für die Gemeinschaft besteht. Erwartet wird dies vielmehr bereits für den Fall einer möglichen Gefahr, die es zu verringern gilt. Die Abwägungsproblematik als das Herzstück aller Gewaltrechtfertigung findet sich aus rechtsphilosophischer Perspektive bei Reinhard Merkel (2004: 125f.) in einer Weise traktiert, die selbst von Utilitaristen nicht so einfach von der Hand zu weisen sein dürfte. Der Versuch, Leben gegen Leben aufzurechnen, stützt sich auf die Plausibilität von zumeist konstruierten Präzedenzfällen wie diesen: Ein Attentäter hätte die Chance, Hitler bei einem Schulbesuch zusammen mit einer gewissen Zahl von Schülern in die Luft zu sprengen und damit Millionen von Menschenleben zu retten. Analog wurden die Kollateraltötungen des Kosovo-Krieges legitimiert. Merkel bezeichnet die Perspektive des distanzierten Beobachters, „gleich weit entfernt von Tätern, Opfern und Geretteten“ und dazu geneigt, „das Beste für das große Ganze“ zu wollen, „als rechtliche wie moralische grundsätzlich verfehlt, oder zumindest unzureichend.“ Denn ein Standpunkt der Moral müsse der einer radikalen Verallgemeinerbarkeit der eigenen Maxime sein. Merkel bekennt sich damit nicht nur zur Kantischen Ethik, sondern macht diesen Schluss als einzig zwingenden sichtbar: „Wer das Recht eines Helfers behauptet, Unschuldige zu töten, um viele andere Unschuldige zu retten, behauptet damit zugleich eine Pflicht der Getöteten, ihr Leben zugunsten anderer zu opfern“. 226
Siehe dazu Pawlik 2002. Lothar Fritze (2004) fordert, dass sich auch Unschuldige töten lassen müssten, wenn dadurch eine Gefahr für die Gemeinschaft abgewendet werden könne. Fritze legitimiert diese Zumutung mit der Unterstellung eines Sinns für Fairness, weil der absolut gesetzte Lebensschutz, indem er die Erlaubnisnorm für den Täter dementiert, mit der nötigen Gefahrenabwehr in Konflikt geraten lässt.
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Bereits das Recht des Helfers ließe sich mit Kant bestreiten. Denn der Handelnde vermag niemals die Perspektive des distanzierten Beobachters einzunehmen. Er verfügt nicht über die erforderliche Berechnungsgrundlage, auf der ein Vergleich zwischen „vielen Geretteten“ und „wenig Geopferten“ möglich wäre. Aber selbst wenn man dieses Problem außer Acht ließe, so gäbe es nach Merkel immer noch keine moralisch-rechtliche Grundlage, die einige Menschen befugt, anderen die Pflicht aufzuerlegen, sich opfern zu lassen: „Und selbst wenn jemand zum Märtyrer oder zum selbstzerstörerischen Samariter disponiert wäre, wer wollte ernsthaft behaupten, jeder andere hätte die Pflicht, dies auch zu sein?“ Und Merkel (2004: 126) spitzt diese Frage in einer zweiten zu: „Welcher Utilitarist möchte denn in einer Welt leben, in der er jederzeit gegen seinen Willen als Organspender für fünf andere zwangsgeschlachtet werden dürfte?“ Damit zeigt sich eine Unterscheidung als schlechtweg unaufhebbar und sogar als eine Voraussetzung dafür, dass die Kategorie verwerflichen Handelns in moralischer und rechtlicher Hinsicht nicht gänzlich über Bord geworfen wird. Dies ist die Unterscheidung zwischen dem, „was man verhindern darf, und dem, was als noch so bitteres Schicksal (oder als noch so böse Tat eines anderen) hingenommen werden muss, weil es nicht legitim verhindert werden kann …“. Die Anerkennung von Dilemmata bedeutet indes nicht Schicksalsergebenheit. Merkel weist auf die Unterscheidung zwischen rechtmäßigem und bloß schuldlosem (wenn auch rechtswidrigem) Handeln hin, das unvermeidliche Kollateraltötungen im Rahmen eines Verteidigungskrieges entschuldbar und dennoch nicht rechtfertigungsfähig macht. Die Zwangslage, auf die diese Rechtsfigur zugeschnitten ist, muss sich immer auf die Lebensbedrohung des Handelnden beziehen. Die Grenze zwischen Märtyrer und Selbstmordattentäter ist nicht nur durch den Gegenstand der Tötung (sich selbst oder den Anderen) bestimmt, sondern auch von der Absicht, mit der getötet wird. Der Märtyrer instrumentalisiert im Gegensatz zum Selbstmordattentäter nur das eigene Leben für das Friedensziel, aber nicht dasjenige fremder Menschen. Damit liegt dem Handeln beider nicht schon eine unterschiedliche Absicht zugrunde, denn es geht immer um die Beseitigung eines Unrechts. Was aber entscheidend ins Gewicht fällt, ist die Übergehung des Willens Dritter, die in ihre Opferung faktisch nicht eingewilligt haben. Indem diese Legitimitätsfigur jedoch keineswegs auf den Selbstmordterrorismus beschränkt bleibt, sondern in analoger Weise in jenen Kriegsphilosophien zu finden ist, die das militärische Selbstverständnis auch westlicher Demokratien prägt, müssen die Linien anders gezogen werden, als dies üblicherweise geschieht. Denn wir können an dem rasant fortschreitenden Wandel der Menschenwürde- und Menschenrechtssemantik die Konsequenzen verfolgen, die einer sich globalisierenden Welt drohen, in der Terrorismus und Krieg, Märtyrertum und Selbstmordterrorismus faktisch ineinander übergehen. Die klare Trennung gelingt nur, wenn eine ganz bestimmte, nämlich die bellum iustum-Lehre aus der Vielzahl von Kriegsphilosophien ausgewählt wird, um die von westlichen Staaten ausgehenden völkerrechtswidrigen Tötungen als Krieg und mithin als
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Rechtszustand zu würdigen und die von illegalen Nichtregierungsorganisationen (Terrorgruppen) ausgehende völkerrechtswidrige Gewalt als Rechtsverstoß. Auf all diese Fragen stößt ein Ansatz, der das Selbsterhaltungsinteresse als hinreichende Friedensmotivation in Frage stellt. Diese Konsequenzen werden umgangen, sobald zwischen Angstmotiv und friedensethisches Motiv der therapeutische Gedanke geschoben wird. Nicht die Arbeit an einer Friedensethik scheint jetzt erstrangig, mit der Menschenwürde und Personwürde so weit auseinander gehalten werden können, dass jedem Menschen ein Recht auf Leben zugestanden wird, unabhängig davon, welches Ansehen er bei seinen Zeitgenossen genießt. Für Drewermann ist entscheidend, den psychologischen Motiven der Angst auf den Grund zu gehen. Angst könne nicht der Grund sein, Frieden zu wollen. „Ganz im Gegenteil. Um friedensfähig zu sein, muss Angst positiv durchgearbeitet werden.“ (Drewermann 2002: 61). Die Weigerung, ein Recht auf Leben unterschiedslos zuzuerkennen, kann jedoch nur dann als Krankheitssymptom angesehen werden, wenn es vereinzelt auftritt. Denn beim Begriff der Krankheit haben wir es zunächst nur mit dem von einer Norm abweichenden Zustand eines organischen Systems zu tun. Die naturwissenschaftliche Medizin des neunzehnten Jahrhunderts hat mit Sigmund Freud begonnen, seelische Befindlichkeiten auf organische Defekte zurückzuführen. Sie hat damit eine Wissenschaftsbewegung ins Leben gerufen, die sich im therapeutischen Bereich niederschlug und schließlich auch auf den zwischenmenschlichen Bereich interaktioneller und kommunikativer Beziehungen übertragen ließ. Zusammen mit sozialdarwinistischen Strömungen erlaubte dies am Ende des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, auch die Probleme des Zusammenlebens der Menschen mit Hilfe der Unterscheidungen von krank und gesund, normal und abnormal zu beschreiben. Diese Art der Betrachtung war von Anfang an als Verdrängungswettbewerb der exakten Wissenschaften gegenüber philosophischer und theologischer Moralphilosophie gedacht. Um die disziplinierende – die Frieden erhaltende – Funktion der ethischen Reflexion übernehmen zu können, war die wissenschaftliche Richtung allerdings auf die unangefochtene Autorität der Ärzte und Therapeuten angewiesen. Auch die pazifistische Motivationsanalyse von Drewermann bedarf dieser Stütze der unbedingten Autorität des medizinischen Subsystems, wenn die schwierigen moralphilosophischen Begründungen entbehrlich sein sollen. Das medizinisch-technische hatte sich allerdings gerade als wissenschaftliches Wissen gegen ein auf kirchliche Autorität gestütztes Moralbewusstsein profiliert. Erst nachdem heute nicht nur das moralische Unterscheiden von gut und schlecht, sondern auch das therapeutische Unterscheiden von normal (gesund) und anormal (krank) als kontingent anerkannt ist, verliert das medizinisch-technische System nach und nach seine Definitionsmacht, wie vor ihm im neunzehnten Jahrhundert die Kirchen. Wenn aber das Normale und Gesunde nicht mehr anzugeben vermag, was gut und vorzuziehen ist, dann dient das Gesundheitssystem nicht mehr – wie Drewermann es möchte – als Bollwerk gegen naturalistische Überzeugungen. Diesen gemäß ist es nämlich nicht plausibel, weshalb das Leben von Schwachen (körperlich, geistig, sozial, waffentechnisch) von den
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Starken geschont werden sollte, wenn „Stärke“ im liberalen Menschenbild doch die Folge einer Überlegenheit ist, die einfach daraus erwächst, dass sich das Funktionale, das für die Gesellschaft Gute, durchsetzt. Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung war nach dem als „Scheitern“ vermerkten Niedergang des Realsozialismus ein Großteil der Linken zum Liberalismus konvertiert. Drewermann geht jedoch noch davon aus, dass die Bekanntgabe dubioser Friedensmotive Menschen dazu veranlassen könne, nicht die Motive anders zu verankern, sondern die Hindernisse zu beseitigen, die dafür verantwortlich sind, dass sich die Menschen nach beseitigter Angst nicht mehr für den Frieden einsetzen. Warum aber sollten die Menschen diese Hindernisse – die unverarbeitete Angst – beseitigen wollen, wenn nicht aus einer ethischen Überzeugung heraus, dass alle Menschen ein Recht auf Leben haben. Diese Überzeugung aber entsteht nicht schon dann, wenn Angst bewältigt wird. Angst ist nur ein hinzutretender Faktor, der als emotionale Ressource bei Gelegenheit für den Frieden oder für den Krieg genutzt werden kann. Nach Drewermann genügt die Einsicht in gewisse psychodynamische Zusammenhänge, um Menschen auch dann noch gegen den Krieg zu mobilisieren, wenn sie keine Angst mehr haben. Man müsse nur folgendermaßen mit sich sprechen: „Wenn ich keinen Krieg will, weil ich Angst vor dem Krieg habe, dann will ich lediglich diesen Krieg nicht, der mich erreichen wird. Das ist aber noch keine Haltung gegen den Krieg als solchen. Ganz im Gegenteil: Wer Angst hat, wird aus lauter Angst um sich schlagen, wenn Gewalt ihn selber bedroht. Wir müssen gegen den Krieg sein, weil Krieg darin besteht, Menschen zum Morden zu präparieren. Was Menschen im Rahmen von Militär und Krieg mit Menschen machen können und machen sollen, das ist das Grauenhafte. Davor muss man Angst haben. Das, was die sogenannten Gegner mit uns machen könnten, das ist das Sekundäre. Was unsere eigenen Führer aus uns machen, um dahin zu kommen, dass wir tötungsbereit werden, ist das Schlimme. Sterben müssen wir irgendwann alle, aber töten sollen wir niemals, und wir sollten uns nicht einreden lassen, es sei unverantwortlich, wenn wir es nicht lernen.“ (Drewermann 2002: 61).
Man muss die rhetorischen Figuren in ihrer besonderen Verknüpfung beachten, um verständlich zu machen, dass auch hier das pazifistische Plädoyer nur Gleichgesinnte erreicht, aber kaum zu überzeugen vermag, wenn gewisse Prämissen nicht geteilt werden. Auf die Reflexion der Prämissen aber käme es heute an, da sich die öffentliche Meinung auf einen weltweiten und unbegrenzten „Krieg gegen den Terrorismus“ positiv einzustellen beginnt. Drewermann verbindet zwei Theorietraditionen, die in gewisser Weise diametrale Aussagensysteme hervorgebracht haben. So ist das moderne therapeutische Denken am Individuum, seinem Wohlbefinden und seiner Selbstverwirklichung orientiert. Der Andere tritt erst als Beschaffer oder Zulieferer positiver Gefühle in Erscheinung. Die von dieser Richtung geleistete Überzeugungsarbeit stützt sich auf den Gedanken, dass Menschen einander wechselseitig für ihr Wohlbefinden bedürfen. Das ist zwar richtig, aber keineswegs unbeschränkt gültig für den Umgang mit allen Menschen. Denn es ist vom egozentrischen Ansatz her nicht einsichtig,
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weshalb ich den Straffälligen, den Behinderten, den misstrauisch blickenden Ausländer oder womöglich das Mitglied einer Kulturgemeinschaft „brauchen“ sollte, dessen Religion – den offiziellen Verlautbarungen nach – Selbstmordattentäter mit himmlischen Freuden belohnt. Aufgrund des von Drewermann bemühten egozentrischen therapeutischen Praxismodells sprechen die Gründe weniger gegen als für den „Krieg gegen den Terrorismus“. Das westliche Selbstverwirklichungsmodell fördert sehr viel eher ein expansionistisches Denken, das die ganze Welt in eine Ressource für die Gestaltungswünsche des westlichen aufgeklärten selbstbestimmten Subjekt zu verwandeln sucht. Wenn der nach 1989 entwickelte Sicherheitsbegriff keine Grenzen mehr anerkennt, so trifft dies für den Begriff von Normalität und Gesundheit längst zu. Auch die Selbstverwirklichung kann keine Grenzen anerkennen, die durch andere Menschen und deren Bedürfnisse gezogen werden. Der innerhalb der Wissenschaften ausgetragene Zielkonflikt zwischen Forschungsfreiheit und Menschenwürde ist weitgehend zulasten der Menschenwürde geschlichtet. Ähnliches vollzieht sich innerhalb von Rechts- und politischem System im Zusammenhang mit dem Zielkonflikt zwischen Sicherheit und Menschenrechten. Auch hier findet zunehmend eine Verdrängung des Menschenrechts- durch das Sicherheitsdenken statt.227 Die Anerkennung des Anderen und zwar unabhängig davon, ob dieser Andere für die eigene Selbstverwirklichung einen positiven Beitrag leistet, ist vom therapeutischen Ansatz nur so lange gedeckt, als die Schädigung anderer Menschen übereinstimmend als krankes Verhalten angesehen wird. Das ist aber in keiner Weise der Fall und zwar allein deshalb nicht, weil das marktwirtschaftliche Konkurrenzmodell auf einer solchen sozio-moralischen Grundlage kollabieren würde. Infolgedessen muss Drewermann das therapeutische durch ein weiteres Kriterium ergänzen, um glaubhaft machen zu können, dass das Töten noch schlimmer sei als das Sterben. Mit „schlimmer“ kann allerdings nur eine Steigerung im moralischen Sinn gemeint sein. Es führt aber kein direkter Weg vom therapeutischen zum moralischen Unterscheiden, seitdem sich die philosophische Anthropologie von einem normativen Begriff der Normalität verabschiedet hat, wie ihn Kant verwendet.228 Da in der modernen säkularen Ethik jedoch ein Wahrheitsbegriff dominiert, der diskursive Geltungsgründe nicht transzendiert, ist ein Gutes jenseits konventioneller Vorstellungen von einem Guten kaum denkbar.229 Deshalb ist die Sprache Drewer227
Zum schleichenden Prozess der Militarisierung zivilgesellschaftlicher Vorstöße zu internationalen Friedenseinsätzen, der im Mai 2004 von der Bundesregierung verabschiedeten „Zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“, siehe Lothar Brock (2005: 18ff.). 228 In der „Kritik der Urteilskraft“ geht Kant (1993: 56ff.) von einer Normalidee aus, die allen Menschen eingeboren ist. Zur Normalität als philosophischem Grundbegriff des 20. Jahrhunderts siehe Thomas Rolf (1999). Zum Verlust von Normalitätskriterien als moralisch-menschenrechtliches Problem siehe Brücher (2004b: 131ff.). 229 Siehe zum Wahrheitsbegriff Jürgen Habermas (1999a).
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manns dort apodiktisch, wo sich eine Überleitung von therapeutischer zu moralischer Argumentation nur noch auf den Begriff des „Sollens“ zu stützten vermag. Und um das ganze Ausmaß dieses Sollens und damit den moralischen Vorzug des Sterbens gegenüber dem Töten gewissermaßen aus sich selbst heraus evident erscheinen zu lassen, wird von der moralischen Ebene wieder zur therapeutischen gewechselt. Das geschieht, indem Drewermann die zuvor moralisch diskreditierte Angst zur motivierenden pazifistischen Kraft erklärt, vorausgesetzt, diese Angst wechselt ihr Objekt. Wovor der Pazifist Angst haben soll, ist nicht das Sterben, sondern die Verführung zum Töten. Damit behält das therapeutische Denken die Oberhand und gibt dem in seiner Überzeugungskraft geschwächten moralischen Denken die Impulse. All dies kann allerdings nur denjenigen überzeugen, der längst überzeugt ist, und der nur immer wieder des Zuspruchs und der ermutigenden Rede bedarf, um eine Überzeugung leben zu können, die er im Innersten teilt. Damit ist auch der Stellenwert umschrieben, den eine solche pazifistische Literatur im Rahmen einer wissenschaftlichen Abhandlung über den Pazifismus einnehmen kann. Sie hat eine stärkende und aufbauende Funktion für all jene Menschen, die mit Skepsis die unterschiedlichen Rechtfertigungen für kriegerische Aktionen vernehmen. Um dem Problem der Rechtfertigung von Gewalt zum Zwecke der Friedenswahrung, der Friedenssicherung oder der Friedensstiftung von den Denkgrundlagen her auf die Spur zu kommen, müssen allerdings die Schemata ins Visier genommen werden, mit denen Gewalt und Krieg gerechtfertigt werden. Und in diesem Punkt steuert die zeitgemäße Verwendung von Schemata, wie Normalität und Abweichung, von Gut und Schlecht, von Zweck und Mittel, von Recht und Gewalt, nicht in die Richtung, die „radikale“, „konsequente“ Pazifisten wünschen. Dasselbe gilt für das Schema Fortschrittlich/Rückschrittlich. Was zurzeit von Studenten-, Anti-Vietnam- oder Friedensbewegung plausibel war, das hat unter den seit 1989 veränderten Rahmenbedingungen seine Evidenz verloren. Seit der Aufklärung dient der Fortschrittsgedanke als Ersatz für die verlorene religiöse Letztgewissheit. Und da er von der Überzeugung getragen ist, dass dieser Fortschritt ein zugleich technischer und moralischer ist, wurden im Laufe der letzten zweihundert Jahre Modernität und Modernisierung zum Inbegriff des Guten. Atomkriegsgefahr, ökologische Probleme und gentechnologische Gefahren haben dieser Forschrittskonzeption ihre Plausibilität genommen. Deshalb muss eine Unterscheidung wie diejenige von „altem Menschen“ und „neuem Menschen“ nicht ohne weiteres der Gewaltfreiheit die Argumente liefern. Nach Drewermann meint der alte Begriff des Politischen „Management der Interessen der jeweiligen Gruppe im Kampf gegen andere Gruppen“. Hier seien Machtgewinn und Machtausübung in der Gruppe nur das Mittel zum Zweck der Machtausdehnung und Machtbehauptung gegenüber anderen Gruppen gewesen. (Drewermann 2002: 64f.). Der „neue Mensch“ ist der humane Mensch, der aus der „Tret- und Blutmühle“ der bisherigen Geschichte herausgefunden hat. Schon 1930 wirbt der Pazifismus mit derselben Schematisierung, indem er ein „neu-
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es Ehrgefühl“ (Ragaz 1930: 60) gegenüber jenem überkommenen der Wiedervergeltung propagiert. Offensichtlich ist der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Menschen als ein solcher der Humanität verstanden. Damit aber tritt dieses Verständnis von Humanität in Konkurrenz zu jenem anderen, das über die Rechtsfigur der Nothilfe gebietet, den Opfern von Menschenrechtsverletzungen mit den stärksten zur Verfügung stehenden Mitteln – und dies sind militärische Zwangsmittel – zu Hilfe zu eilen. Wenn derselbe Begriff der Humanität als Argument gegen kriegerische Gewalt tragen soll, der von der offiziellen Politik als Argument für Militärinterventionen bemüht wird, dann zeigt sich der Begriff der Humanität in seiner janusköpfigen Gestalt. Was sich jetzt als Thema dem Pazifismus aufdrängt, ist die Paradoxie, in die alle Begriffe verstrickt werden, die sich mit dem Frieden befassen. Der Fortschrittsgedanke soll eine Paradoxie verdecken, bzw. im Sinne des pazifistischen Autors auflösen. Er soll ein Vorurteil der Aufklärung zu neuem Leben erwecken, das menschliche Gewalt im Unwissen, in mangelnder Aufklärung über die Ursachen des Gewalthandelns verankert hatte. Was die friedens- und konfliktwissenschaftliche Ursachenforschung jedoch zu Tage gefördert hat, ist eben jene Paradoxie, die ein und dieselben Faktoren als Friedens- und als Gewaltproduzenten zugleich sichtbar macht. Das gilt auch für das von Drewermann (2002: 65) angeführte Beispiel, mit dem er sein mit gewaltlosen Konfliktlösungsformen verbundenes Verständnis von Humanität als das alleinig zukunftsfähige darzustellen sucht. „Der amerikanische Präsident George W. Bush hat, nachdem er mit 120 Milliarden Dollar im Wahlkampf gesponsert wurde, 120 Milliarden Dollar für das Nationale Verteidigungssystem gegen mögliche einfliegende Raketen freigegeben, die von „Schurkenstaaten“ mit chemischen, biologischen oder sogar nuklearen Sprengköpfen gegen die USA und ihre Verbündeten abgeschossen werden könnten. Auf diese Weise hofft er und macht er glauben, die Sicherheit verbessern zu können. Nun zeigt aber der 11. September 2001, dass wir uns mit Raketen nicht gegen Teppichschneider wehren können. Diese ganze Vorstellung, durch Hochrüstung, durch maximale Tötungskapazität, Sicherheit zu gewährleisten, ist am Ende.“
Dieses Beispiel folgt denselben Motiven, wie sie Drewermann wenige Seiten zuvor bei der Friedensbewegung der neunziger Jahre kritisiert hat. Diese habe sich von der Angst vor dem Tode und mithin von reinem Sicherheitsdenken leiten lassen. Nachdem mit der Auflösung des Warschauer Pakts die Gefahr vor einem Atomkrieg aus dem allgemeinen Bewusstsein entschwunden sei, habe man sich rasch zu den neu entstandenen Chancen der Weltgestaltung positiv eingestellt und sich nicht länger gegen einen Krieg ausgesprochen, der das eigene Leben nicht bedroht. Infolge dieser inneren Logik des Arguments kann nicht verwundern, wenn sich auch nun wieder sofort Gegenargumente einstellen, die den pazifistischen Gewaltverzicht im Hinblick auf das eine gemeinsame Ziel der Sicherheit als ineffizient bezeichnen lassen. Denn nimmt man die offiziellen Verlautbarungen, die nunmehr
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auch von Seiten des „politischen“ Pazifismus zu hören sind, dann geht es beim neuen sicherheitspolitischen Kurs um die kulturelle, politische, rechtliche, wirtschaftliche und wissenschaftliche Homogenisierung der Weltbevölkerung. Diese ist erst in der Lage, auch dem Attentäter mit Teppichschneidern prophylaktisch das Handwerk zu legen. Es geht um die Globalisierung des funktionalen Gesellschaftstypus als einziger Garantie für den Weltfrieden. Dieses Konstrukt aber lässt sich durch faktische Gewaltausbrüche, wie immer diese beschaffen sein mögen, und von wem immer diese ausgehen, nicht widerlegen. Denn es gibt in diesem globalen Koordinatensystem nichts mehr, das mit Maximen bewertet werden könnte, die mit diesem System in Widerspruch stehen. Wenn es keine Gegner mehr gibt, sondern nur noch Rechtsbrecher, dann entfällt ein Konfliktverständnis, das bipolar strukturiert ist. Erst ein solches Verständnis kann aus Feinden bloße Gegner und aus diesen wiederum „Konfliktpartner“ machen. Aus der anderen Konfliktpartei, die inkompatible Interessen vertritt, mit denen umzugehen das gesamte Wissen der Friedens- und Konfliktforschung aufgewendet werden sollte, ist „der Terrorismus“ und sind “die Schurkenstaaten“ geworden. Ein Rechtsbrecher aber ist kein Gegner; er verstößt gegen eine zugleich legitime und legale Ordnung, jenseits derer Frieden nicht denkbar ist. Das sicherheitspolitische Argument kann schlechterdings nicht am Ende sein, weil jede bewehrte Ordnung unterlaufen werden kann und unterlaufen wird, sobald die Grundlagen der Legitimität brüchig werden. Und dennoch sticht das Argument in jedem Fall, weil der Legitimitätsglaube auch vom Sicherheitsgefühl abhängt, welches Politik dort erzeugt, wo Sicherheitsmaßnahmen demonstrativ zur Schau gestellt werden. Das Wissen um die Unfähigkeit einer hochgerüsteten Militärmaschinerie, die Bevölkerung wirkungsvoll gegen Terrorattacken zu schützen, gibt nicht automatisch einem konsequenten Pazifismus Recht, der Vorleistung und Vertrauen, in jedem Fall aber gewaltlose Strategien als einzig verbleibende Möglichkeiten betrachtet, in einer gefahrvollen Welt zu bestehen. Auf der Ebene zweckrationaler Kalkulation lässt sich die Frage des richtigen Handelns nicht abschließend beantworten, weil es Strategien und Taktiken immer nur mit möglichen und nicht mit wirklichen Handlungsfolgen zu tun haben. Falsifizieren aber lassen sich nur wirkliche und nicht mögliche Wirkungen des Handelns. Das bedeutet, allenfalls im historischen Rückblick lässt sich sagen, ob bestimmte Maßnahmen die Sicherheit erhöht oder herabgesetzt haben. Der Erfolg kann, wie wir immer wieder zu zeigen suchen, kein moralischer Bewertungsmaßstab sein. Im Zentrum des pazifistischen Ringens um die rechte Mittelwahl befindet sich sehr viel eher die moralphilosophische Frage, ob Menschenrechte aufrechenbar sind. Der Hamburger Philosoph Harald Wohlrapp (2004) verneint diese Frage entschieden und sieht in der gängigen Aufrechnungspraxis geradezu einen Grunddefekt der „humanitären Intervention“. Da die unterschiedslos jedem Menschen zugestandene Menschenwürde im Menschenrechtsgedanken juristisch abgesichert sei, könne das Recht nicht eben jene Gleichheit wieder aufheben, die Grundlage der Judifizierung der Menschenwürde ist. Denn bei den Menschenrechten handelt es sich ja nicht um
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Rechtsschöpfung im positiven Sinne einer im Rechtssystem geschaffenen Norm, sondern nur um die nachträgliche Verrechtlichung eines seit der Antike tradierten Menschenbildes. 6.1.2 Zur Dialektik von Sicherheit und Legitimität Ein wesentlicher Grund für die außerordentlichen Schwierigkeiten, unterschiedslos zu gewährende Lebensrechte und damit eine Zurückweisung von machtpolitischen Ambitionen und Verfügungsansprüchen moralphilosophisch begründen zu können, liegt heute in der Menschenrechtskonstruktion selbst. Denn wird das Leben des Menschen als Rechtsanspruch formuliert, so tritt die Garatiemacht in den Vordergrund, die diesen Anspruch einlöst.230 Dieses “Einlösen“ ist durchaus in einer zweifachen Bedeutung gemeint. Die in Frage stehende Instanz lässt den Anspruch erst als einen natürlichen oder naturgegebenen verstehen und sie garantiert, dass berechtigte Ansprüche von allen anerkannt werden. Da keine denkbare irdische Instanz mit einer solchen Machtfülle je ausgestattet sein könnte, war zu allen Zeiten „höchste Macht“ ebenso wie „tiefster Grund“ einer logisch konstruierten Entität vorbehalten. Die Antike lässt den „Logos“ über die natürlichen Rechte des Menschen wachen, das christliche Europa „Gott“, Aufklärung und Idealismus „den Himmel“. Die zweite Bedeutung zielt auf die machtgestützte Gewährung der Menschenrechte und bringt somit den irdischen Machtträger ins Spiel. Dieser kann ohne jegliche Gewalt und ohne Menschenrechtsverletzungen über dieselben nicht wachen. Die nachmetaphysische Moderne ist heute mit dem Problem konfrontiert, dass eine konstruierte Instanz mit dem säkularen Profil der modernen Gesellschaften nicht vereinbar zu sein scheint und man deshalb nur gewillt ist, eine konkrete Instanz als Garant der Menschenrechte anzuerkennen. Diese Rolle übernehmen die Vereinten Nationen.231 Die UN aber kann der reinen Idee nach allenfalls die zweite der beiden oben genannten Bedeutungen abdecken, nämlich die machtpolitische Seite der Überwachung; aber sie ist niemals eine ideelle Quelle, aus der ein menschliches Lebensrecht als überpositives hergeleitet werden könnte. Infolgedessen ist der überpositive Charakter der Menschenrechte tatsächlich preisgegeben und dieselben werden im politischen Entscheidungsprozess wie positive Rechte behandelt, die zugeteilt oder abgesprochen werden. Aber nicht nur die erste, auch die zweite Bedeutung bleibt auf der Strecke. Denn die UN ist als Organisation von Einzelstaaten noch nicht einmal so mächtig wie die irdischen Mächte der Vergangenheit. Aus diesem Grund mag es nahe liegen, wenn die „einzig verblieben Weltmacht“ USA diese Rolle des Weltgewaltmonopols 230
Darin sieht Jan Narveson (1965, 2006) sogar einen Selbstwiderspruch des konsequent jede Gewalt ablehnenden Pazifismus. 231 Semantisch schlägt sich diese Doppelfunktion im erweiterten Sicherheitsbegriff nieder, der mit dem Friedensbegriff zunehmend verschmilzt. Siehe zu dieser Entwicklung Gert Krell 1980: 33ff..
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übernimmt. Aber nicht erst im letzteren Fall der usurpatorischen US-amerikanischen Weltherrschaft wird die Idee der Menschenrechte verraten. Auch der Sicherheitsrat verletzt die Menschenrechte durch „humanitäre Interventionen“, die zu deren Schutz beschlossen werden. Diese sei „pragmatisch inkonsistent“, wie Wohlrapp (2004: 193) begründungsphilosophisch bemerkt: „Sie behauptet, ein Ziel zu verfolgen, das sie durch ihr Mittel selbst zerstört. Eine „Humanitäre Intervention“ treibt mit Beelzebub den Teufel aus.“ Dieser Defekt ist keineswegs darauf zurückzuführen, dass der Sicherheitsrat nicht über hinreichende Macht verfügt und eben kein faktisches Gewaltmonopol ist. Nicht erst die Praxis, sondern bereits die Deklarationen der UNCharta sind mehrdeutig bis widersprüchlich. „In Art.1.3. und 55c wird die Wahrung der Menschenrechte gefordert, aber Art. 2.7. schließt Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten ausdrücklich aus; ein Prinzip, welches dann in Art. 39 und 42 wieder eingeschränkt wird: Falls es zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlich ist, kann der Sicherheitsrat militärisch einschreiten.“ (Wohlrapp 2004: 191).
Hinzu komme die metaphorische und suggestive Sprache der „chirurgischen Kriegsführung“, die falsche Tatsachen widerspiegele. Beim gegenwärtigen Stand der Waffentechnik gebe es jedoch keinen Krieg, in dem nicht Zivilbevölkerung und Umwelt in schwerste Mitleidenschaft gezogen würden. Auch aus prinzipiellen Gründen ist Krieg nach Wohlrapp als dekultivierender, rebarbarisierender Prozess unvereinbar mit Menschenrechtsschutz. Im Krieg werde das gesamte kulturelle Geflecht aus Gewohnheiten, Institutionen und Werten außer Kraft gesetzt und die Tötungshemmung überwunden, auf deren Internalisierung alle Kultur beruht. „Was den Einzelnen betrifft, so wird er (seit neuestem auch: sie) bei Gelegenheit eine vorhandene Neigung, Disposition oder auch nur Neugierde hinsichtlich des Begehens von Gräueltaten ausagieren. Kriegshandlungen haben eine fließende Grenze zu Kriegsverbrechen. Was den Gesamtprozess betrifft, wird er immer weniger eine rationale Handlung, sondern bekommt eine Eigendynamik, die das Resultat zu einer Sache des Zufalls bzw. der himmlischen Vernunft macht (die aber hier definitiv höher ist als die menschliche).“ (Wohlrapp 2004: 192).
Der moralphilosophische Kern aber ist das Aufrechnungsargument, das zu widerlegen zur Voraussetzung jeder fundamentalen Kritik an der Völkerrechtsfigur der „humanitären Intervention“ wird und erst recht zur Voraussetzung für die pazifistische Pauschalkritik am Krieg. Denn dieses Argument liegt dem Kriterium der Proportionalität, der Verhältnismäßigkeit der Mittel zugrunde, das im Zentrum des „ius in bello“ der Lehre vom gerechten Krieg steht. Für die zeitgenössische Auslegung ist indes die utilitaristische Moralphilosophie bestimmend, wie sie von Jeremy Bentham (17481832), John Stuart Mill (1806-1873) und Henry Sigwick (1838-1900) begründet worden ist. Hier sind es Nützlichkeitserwägungen, die den moralischen Maßstab des Handelns liefern. In seiner Widerlegung des Aufrechungsarguments konzentriert sich
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Wohlrapp auf vier Komponenten, die Alternativauswahl, die Folgebestimmung, die Nutzenabwägung und die Gesamtglücksbilancierung, die miteinander verzahnt sind. Zunächst muss die Vergleichbarkeit alternativer Güter gesichert sein, die es nach Nützlichkeitsgesichtspunkten zu wählen gilt. Das utilitaristische Denken kann in seiner Fixierung auf Kosten/Nutzen-Kalkulationen materielle und ideelle Güter nur als Werte im ökonomischen Sinn begreifen. Der Wert zeigt sich den Menschen als das Ergebnis einer Operation der Bilancierung, des Vergleichs von Soll und Haben im Hinblick auf Gesichtspunkte rentablen Wirtschaftens. Auch Bedürfnisse und Genüsse sind in dieser Weise als Werte einzustufen, die immer gerade so viel wiegen, wie die Menschen ihnen an Bedeutung einräumen. Das aber will heißen, selbst ideelle Werte gehorchen demselben Prinzip wie materielle Werte, nämlich dem Marktwert, nachdem die Nutzenabwägung erfolgt. Ebenso wie es im Wirtschaftsleben Preisbindung und freie Preisgestaltung gibt, so wird auch der Preis von Werten unterschiedlich bemessen, eben je nach Lage der Dinge. Das menschliche Leben erscheint in diesem Denken ein ebenso aufrechenbarer Wert wie einzelne Genüsse oder Bedürfnisse, die zu erfüllen u.U. das Leben kosten können. In diesem Fall konkurrieren z.B. Gerechtigkeitsansprüche oder Ansprüche der Beachtung von Menschenrechten mit dem Anspruch darauf, am Leben zu bleiben. Nach dem Prinzip ökonomischer Kalkulation gibt es durchaus einen Vergleichsmaßstab, der es erlaubt, die beiden Werte so miteinander zu verrechnen, dass eine für alle akzeptable Entscheidung möglich wird. Wie bei der Preisgestaltung sind es Angebot und Nachfrage, die den Marktwert auch des menschlichen Lebens bestimmen. Im Falle einer Konfliktsituation, in der eine Minderheit eine Mehrheit mit dem Tode bedroht, ist die Wertverteilung eindeutig durch die Nachfrage geregelt. Es versteht sich von selbst, dass die Nachfrage „am Leben zu bleiben“ größer ist bei der zahlenmäßig größeren Konfliktpartei und aus diesem Grund deren Leben eher als erhaltenswert erscheint als das Leben der Minderheit. Mehrheit/Minderheit ist dabei ein kognitives Schema, das über die Nachfrage die Preisgestaltung regelt. Dieses ökonomistische Denken hat in der Legitimierung des Kosovo-Krieges zu wertethischen Problemen ersten Ranges geführt: „Nicht Menschen, Werte sollen verteidigt werden. Das kann zweierlei bedeuten, und in beiden Fällen bedeutet es etwas Unsinniges und äußerst Gefährliches. Entweder man meint – in Übereinstimmung mit dem herrschenden westlichen Relativismus – die sogenannten „westlichen Werte“, also das, was wir schätzen und wichtig finden, unsere Lebensart, den westlichen way of life. Dieser kann in Jugoslawien nicht angegriffen werden. Die Albaner repräsentieren ihn nicht, und Milosevic will niemanden hierzulande daran hindern, auf seine Facon selig zu werden. Westliche Werte in Jugoslawien verteidigen kann also nur heißen, unsere Lebensart dieser Nation aufnötigen zu wollen im Blick auf eine von uns für sie anvisierte Mitgliedschaft in der Europäischen Union. In diesem Fall handelt es sich um den klassischen Fall eines imperialistischen Krieges. Oder aber man glaubt, Menschen als Menschen hätten unveräußerliche Rechte, wozu auch die Zugehörigkeit zu einem Volk gehört. Und man will Menschen helfen, denen diese Rechte vorenthalten werden. In diesem Fall einer naturrechtlichen Begründung der Intervention geht es nicht um Verteidigung von „Werten“, sondern von „Menschen“. Wertphilosophisch
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gesprochen ist es in der Tat wertvoll, anderen Menschen zu ihren Rechten zu verhelfen und ganz einfach ihr Leben zu retten. Aber dieser Wert, der sich nicht unserer Wertsetzung verdankt, sondern „absolut“ ist, bedarf weder der Durchsetzung noch der Verteidigung. Er gilt von sich aus. Wer, ihm entsprechend, Menschen verteidigt, verteidigt nicht Werte, sondern Menschen. Werte verteidigen ist wertlos.“ (Spaemann 1999).
Dabei handelt es sich bei Spaemann nicht um einen Streit um Worte, weil mit genau dieser Semantik eine Politik betrieben werde, bei der „die Menschen auf der Strecke bleiben.“ Dass der Utilitarismus nur für die Ökonomie, aber in keiner Weise für die Ethik tauge, begründet Wohlrapp seinerseits damit, dass sich die ihrem Wesen nach qualitativen und unteilbaren Menschenrechte schlechterdings nicht in quantitativ bestimmbare teilbare Menschenrechte verwandeln ließen. Der eigentliche Sinn der Menschenrechte besteht gegenüber den auf die Gemeinschaft bezogenen Bürgerrechten nämlich in der Anerkennung des Individuums als nicht dividierbarem Wesen, als unteilbare Einheit. Aus diesem Grund können Kulturen und Religionen, die – wie der Islam – der Gemeinschaft, oder – wie der Konfuzianismus – der Familie, den Vorrang gegenüber den Einzelnen zuerkennen, die Menschenrechte nicht in diesem ethymologischen Sinn anerkennen.232 Dasselbe gilt für das sozialistische Menschen- und Weltbild. Die Unteilbarkeit, die in der Bezugnahme des vollen Menschseins auf das Individuum zementiert ist, betrifft einmal den Körper dieses Einzelnen, der nicht um externer – dem Individuum äußerlichen, z.B. nicht seine Gesundheit betreffenden – Zwecken zerteilt werden darf. Sie betrifft aber auch einen aus der Unteilbarkeit resultierenden gleichen Anspruch aller Individuen auf eben diese körperliche Unversehrtheit. Denn um dem Leben der einzelnen Individuen einen jeweils höheren oder niedrigeren Wert zusprechen zu können – und erst unter dieser Voraussetzung lässt sich Leben gegen Leben abwägen – dürfte der Einzelne nicht als kleinste Einheit, als InDividuum gelten. Er müsste als Teil einer größeren Einheit verstanden sein, mit deren Erhaltung der Mensch als Gattungswesen beauftragt ist. In menschenrechtlichen Überlegungen überhaupt Quantitäten ausmachen zu wollen, kann deshalb nach Wohlrapp (2004: 195) nur als Kategorienfehler gelten. Damit wären die beiden Begriffe „Humanität“ und „Militärintervention“ nicht zusammenzubringen, was jenen Zweig des Pazifismus von moralisch-naturrechtlicher Seite aus bestätigen würde, der auch im Falle von Menschenrechtsverletzungen kriegerische Mittel für prinzipiell unangemessen hält. Ein Problem dieser eindeutigen Delegitimierung „humanitärer Interventionen“ taucht allerdings auf, wenn nicht der ureigenste und von den Bürgerrechten abgrenzbare ethymologische Sinn der Menschenrechte Beachtung findet, sondern vom praktischen Sprachgebrauch her geurteilt wird. Fragt man nach der Performanz der Menschenrechte, nach den im Begriff mitschwingenden Handlungsempfehlungen, die der Appell an diese Rechte enthält, dann wird man Sinnverschiebungen in Rechnung stellen müssen. Diese zeigen das unteil232
Siehe Tilman Nagel, „Erst der Muslim ist ein freier Mensch“, in: Nolte/Schreiber (2004).
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bare Individuum schon längst nicht mehr als den alleinigen Träger der Menschenrechte. Die Semantik der Menschenrechte wird heute durch einen Legitimitätsdiskurs geprägt, der die Grenze zwischen Bürger- und Menschenrechten zusehends verschwimmen lässt. Fällt der schutzbedürftige Einzelne unter die Kategorie des „Verbrechers gegen die Menschlichkeit“ oder des „Terroristen“, so wird er selbst der elementaren Menschenrechte beraubt. Dasselbe gilt für die Kategorie des „Kollateralschadens“.233 Vom strengen und ursprünglichen Menschenrechtsverständnis her gesehen, wäre selbiger Begriffswandel aber undenkbar, weil das, was Wohlrapp „individuelle Ganzheitlichkeit“ nennt, ein Recht auf Leben völlig bedingungsfrei zuerkennt und mithin aus dem puren Menschsein ableitet. Nun hatte Wohlrapp den ureigensten Sinn der „individuellen Ganzheitlichkeit“ seinerseits nur als einen historisch gewordenen und noch dazu als einen „Glauben“ bezeichnet, der den Menschenrechtsgedanken von seinen Anfängen in der griechischen Philosophie her begleitet. „Die Menschenrechtsanerkennung ist unsere moderne Zivilreligion“ (Wohlrapp 2004: 189). Wenn dies aber so ist, dann gibt es kein moralisches Argument gegen Sinnverschiebungen der genannten Art, in der sich der Glaube nach und nach vom festen Glauben an ein gleiches Recht aller Menschen auf Leben zu einem Glauben an das alleinige Lebensrecht unverdächtiger Menschen fortentwickelt. Gegen diese schleichende zivilreligiöse Absegnung von Todesschuss, Folter, prophylaktischem Abschießen von Passagierflugzeugen, Präventivkriegen und „humanitärer Intervention“ lässt sich heute kein natürliches oder göttliches Gebot ins Feld führen. Infolgedessen argumentiert auch Wohlrapp gleichsam umgekehrt, nicht auf dem Wege des Erhärtens von Lebensrechten, sondern auf dem Wege einer Kritik an der logischen Konsistenz, die man bei all diesen vom Utilitarismus vorgenommenen Aufweichungen und Sinnverschiebungen angeblich vermisst. Der Utilitarismus rückt keineswegs vom individualistischen Menschenbild ab, wenn er einen überindividuellen Vergleichsmaßstab postuliert, der erlaubt, zwischen dem Leben des einen und dem des anderen Menschen abwägen zu können. Das wird möglich, weil über dem Leben der „Wert“ steht, aber nicht im wertethischen,234 sondern im versicherungswirtschaftlichen Sinne, verstanden als ökonomisches Prinzip eines bei geringstem Aufwand zu erzielenden höchsten Ertrags. Ein solcherart kalkulierendes Denken lässt sich aber nur dann von der Wirtschaft auf die Ethik übertra233
Vom moralphilosophischen Standpunkt her gesehen stehen Modifikationen des Immunitätsprinzips nicht zur Verfügung; es gibt keine allgemeinverbindlichen moralischen Kriterien, die eine indirekte Schädigung erlauben könnten. Für Robert L. Holmes (1989: 193ff.) legt diese Tatsache den Pazifismus nahe. 234 Der Liberalismus stützt sich auf das subjektive Wertverständnis in der Bedeutung einer „Eigenschaft eines Seienden (einer Person oder Sache), die ihm zukommt, sofern es von einem Menschen oder einer bestimmten Gruppe von Menschen tatsächlich geschätzt, begehrt, gewollt ist, sofern es also als Ziel eigenen oder fremden Wollens anerkannt wird. Wert meint hier den Grad der Geschätztheit oder Erstrebtheit eines Seienden.“ (Max Müller/Alois Halder (Hg.), Kleines Philosophisches Wörterbuch, Freiburg im Breisgau 1972: 302).
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gen, wenn eine über den Köpfen der taxierenden Akteure wirkende Kraft dafür sorgt, dass das Kosten/Nutzen-Kalkül dem Menschen zugute kommt. Das ist die invisible hand, die jeder Utilitarismus voraussetzen muss. Denn die menschlichen Nützlichkeitserwägungen sind zu kurzsichtig und allzu sehr am augenblicklichen Interesse orientiert, um garantieren zu können, dass konkrete Kalkulationen auch tatsächlich den Nutzen über den Schaden stellen. Wenn nun Sigwick den Maßstab des Taxierens ins Individuum, nämlich seine innersten Gefühle verlegt, so scheint diese Konsequenz umgangen. Die „moralischen Intuitionen“ versprechen dem Menschen immer schon die richtige Antwort auf die Frage mitzuteilen, ob im Kriegsfall hunderte von Menschen gerettet werden sollen, auch wenn dies durch den ungewollten Tod von einigen wenigen Menschen erkauft werden muss. Es gibt zwei entscheidende Argumente gegen die Aufhebung von Tötungs- und Gewaltverbot unter Berufung auf „moralische Intuitionen“. Das erste verweist auf den Einfluss, den zeitbedingte Moralvorstellungen auf solche Intuitionen ausüben. So rebellierten die „moralischen Intuitionen“ zur Zeit von Aristoteles nicht gegen die Willkür, mit der ein pater familias Sklaven behandelte und selbst Frauen, die in ihrer Eigenschaft einer „beweglichen Habe“ in jeder Hinsicht verfügbar waren. Mit seinen anthropologischen Analysen zum Sündenbock hat René Girard (1998) eine Fülle an Beispielen für die Flexibilität solcher Intuitionen geliefert, deren vollständiges Versagen in den Rasseideologien zu Beginn des letzten Jahrhunderts besonders im Nationalsozialismus augenfällig ist. Das zweite Argument zielt auf die Nichteinlösbarkeit der Kriterien, die Sigwick angibt, um zu verhindern, dass der gewöhnliche common sense über Leben und Tod entscheiden soll. Als reflektiert kann eine „moralische Intuition“ gegenüber einer einfachen Meinung nach Sigwick nur gelten, wenn vier Bedingungen erfüllt sind: 1. sie müssen selbstevident sein. 2. sie müssen sich in klarer und präziser Form darstellen lassen, 3. sie dürfen anderen grundlegenden Wahrheiten nicht widersprechen und 4. sie müssen unter Experten allgemeine Zustimmung finden. Wohlrapp (2004: 181) kommt zu dem Schluss, dass sich die Inkonsistenzen des Intuitionismus nicht utilitaristisch reparieren ließen. Zum einen seien die elementaren Menschenrechte in utilitaristischer Perspektive gar nicht darstellbar, und zum anderen seien Appelle an „moralische Intuitionen“ aufgrund ihrer geringen theoretischen Substanz unbrauchbar. Hinzu kommt, dass Erfüllung oder Nichterfüllung all dieser Kriterien von der medialen Aufbereitung eines Konflikts abhängen. So dürfte es kaum einen Konflikt geben, der von Experten einhellig begutachtet wird. Aber öffentliche meist tendenziöse Berichterstattungen, die abweichende Meinungen unterschlagen, erwecken den Eindruck, es gebe übereinstimmende Diagnosen. In der Darstellung von Abwägungsverhältnissen geht es zudem niemals um die reale Situation, die zu komplex und dilemmatisch ist, um in einer einfachen Kosten/Nutzen-Kalkulation erfasst werden zu können. Dargestellt werden simple Täter/Opfer-Konstellationen, die nicht den Tatsachen entsprechen, sondern reine „Situationsfiktionen“ (Wohlrapp 2004: 199) sind.
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So lag dem „Aufrechnungsargument“ im Kosovokrieg die Fiktion eines quantitativ bestimmbaren Verhältnisses zwischen einer großen Zahl an geretteten KosovoAlbanern und einer kleinen Zahl an kollateralen Bombentoten zugrunde, die „Luftschläge“ rechtfertigten, mit denen die serbische Zentralregierung gezwungen werden sollte, den Forderungen des kosovo-albanischen Separatismus nachzugeben. Der explosive Anstieg der Vertreibungen und die Zunahme der serbischen Brutalität hätten den fiktionalen Charakter dieser Güterabwägung rasch erkennen lassen. Wie wenig das Aufrechnungsargument jedoch mit den tatsächlichen Relationen von gerettetem und geopfertem Leben zu tun hat, zeigt die Tatsache, dass die Unterschiedlichkeit der Berechnungen keineswegs einen Konsens von öffentlicher Meinung und Bewertung durch Experten zur Folge hatte. Dabei war das Missverhältnis gravierend und kommt in seinen Auswirkungen geradezu einer epochalen Zäsur gleich. „Mit dem selbstbewussten Verstoß der NATO gegen das Gewaltverbot und der Demontage des UN-Systems als des einzigen globalen Friedens- und Systems kollektiver Sicherheit ging einher die dramatische Verschlechterung der Beziehungen zu Russland und China – bis hin zum Risiko russischer Nuklearschläge. Die Provozierung eines weiteren Aufrüstungsschubs durch vorgenannte Taten, die Steigerung insbesondere nuklearer Begehrlichkeiten, das zu erwartende Zusammenrücken der Nuklearmächte Russland, China und Indien als potenzielle Bündnispartner gegen den US-NATO-Zangengriff auf Eurasien, dürfen ebenfalls in der Bilanz des NATO-Krieges nicht ausgespart bleiben.“ (Schmidt 2004: 243f.).
Jedes dieser Punkte zieht den Kreis möglicher Argumente enger, mit denen militärische Gewalt legitimiert werden könnte. Auf diesem Wege, nämlich dem Aufzeigen von Grenzen der Legitimierbarkeit kriegerischer Konfliktlösungsmethoden, scheint Gewaltkritik weniger angreifbar als in einem pazifistischen Kalkül, das von der strategischen und moralischen Überlegenheit „gewaltloser“ Mittel ausgeht. So war die Rechtfertigung der „humanitären Intervention“ durch den Rechtspazifismus bereits von atompazifistischer Seite einer scharfen Kritik unterzogen worden, was der Bewegung in ihrer Außenwirkung zweifellos geschadet hat. Die Legitimation von Kriegen im Namen der Menschenrechte gerät unwillkürlich auf eine Ebene mit dem Töten im Namen Allahs.235 Es handelt sich um eine zivilreligiöse Form des Heiligen Krieges. 235
Diese Haltung findet sich außerhalb des Pazifismus bezogen auf den neuen Legitimitätsdiskurs bei Stanley Fish (2003), der auf der Grundlage eines zu Ende gedachten Relativismus zu dem Schluss kommt, dass sich die Kontingenz – die Offenheit der Auslegung – nicht nur auf die Werte und deklarierten Ziele individuellen und gesellschaftlich/staatlichen Handelns erstrecke, sondern auch die Mittel umfasse. Attentate und Menschenrechtsbombardements seien nicht aus der Perspektive ohnehin subjektiver Werte zu tadeln. Ihre Ablehnung erfolge aus einem Gruppenkonsens heraus, der seinerseits keinen Anspruch auf Universalität erheben könne. Terrorakte seien analog den Menschenrechtsbombardements wider die Menschlichkeit gerichtete unmoralische Taten nur im Kreise derer, die so urteilen. Es ist mithin die Kontingenz von Zwecken und Mitteln, die Terrorismus und Antiterrorkrieg zum Religionskrieg macht.
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Was in diesem innerpazifistischen Disput jedoch ganz auf der Strecke bleibt, ist das Anliegen, Tötungs- und mehr noch Gewaltverbot nicht nur im politischen Zielbereich zu verankern, sondern auch zu beherzigen, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft zu sein scheinen. Auch der Atompazifismus akzeptiert kriegerische Methoden dort, wo selbige zur Herausbildung eines Weltgewaltmonopols taugen. Um selbst dort noch militärische Gewalt ablehnen zu können, wo alle anderen Mittel erschöpft zu sein scheinen, muss der Nachweis geführt worden sein, dass Menschenrechte nicht aufrechenbar sind. Da der Wert des menschlichen Lebens im liberalen Menschenrechtsdenken immer nur am Individuum und nicht an der Gattung aufgewiesen werden kann, ist das Argument, die Politik dürfe und müsse sogar zum Schutz der Menschenrechte vieler Menschen die Verletzung der Menschenrechte einer geringeren Zahl von Unbeteiligten oder Unschuldigen in Kauf nehmen, hinfällig. In diesem Sinne stellt der australische Philosoph C.A.J. Tony Coady (2003) die „Immunität der Nichtkombattanten“ in den Mittelpunkt und zwar nicht im Sinne einer Wertentscheidung, sondern gewissermaßen als eine Bedingung für die Möglichkeit, Fragen nach der Legitimität von Mitteln überhaupt stellen zu können. Wenn nämlich noch nicht einmal das Leben der am Kampf Unbeteiligten unantastbar ist, dann wird unvermeidlich das im Grundgesetz verbürgte Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit, aber auch das völkerrechtliche Gewaltverbot gegenstandslos. Aus diesem Dilemma führt nach Coady eine Überlegung, die moralische Probleme ähnlich wie logische angehen lässt. Er stützt sich dabei auf eine Grundaussage des Logikers Willard Van Orman Quine. Dieser geht trotz Relativität allen empirischen und logischen Wissens von Propositionen aus, die in unserer Art zu denken und auf die Welt zu reagieren, tiefer verankert sind als andere. Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Ludwig Wittgenstein in seiner Abhandlung „Über die Gewissheit“, der einen Kernbestand an Propositionen annimmt, zu denen auch eine Reihe gewöhnlicher empirischer Propositionen gerechnet werden. (Coady 2003: 83). Dieses Verfahren wendet Coady in der Suche nach moralischen Gewissheiten an und gelangt somit zu jenen moralischen Intuitionen, die ein Töten Unschuldiger in jedem Fall verwerfen lasse. Diese Intuitionen stützen in dieser Argumentation aber lediglich ein Gebot, das bereits logisch und transzendental begründet ist. Es verleiht etwas Plausibilität, das auch ohne diese gefühlsmäßige Hilfe denknotwenig ist. Mit dieser eminenten Bedeutung, die der Immunitätsthese eingeräumt wird, ist nun auch wieder die bellum-iustum-Lehre aufgewertet. Das von Kurt Flasch (2003: 91) hervorgehobene Problem der „Zeitverwischung“ lässt sich nun umgehen. Nach Flasch macht der unterschiedliche mittelalterliche und moderne semantische und gesellschaftsstrukturelle Kontext eine Übertragung der Kriterien der Lehre unmöglich. Als bloßes Medium moralischer Intuitionen gewinnt die bellum-iustum-Doktrin erneut an Gewicht, wobei sich die einzelnen Kriterien gleichsam um die „Immunität der Nichtkombattanten“ als ihrem moralischen Zentrum herum gruppieren. Das Immunitätsprinzip fungiert als moralische Gewissheit, Coady (2003: 85) spricht auch von „common sense Moralität“, aber nicht im Sinne eines Prinzips, dem ein
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Höchstmaß an Konsens unterstellt werden kann, sondern eher im Sinne einer moralischen Schlüsselrolle, die preiszugeben das gesamte moralische Gefüge zum Einsturz bringt. Was Coady letztlich im Immunitätsprinzip aufgehoben sieht, ist das Prinzip der Achtung des menschlichen Lebens überhaupt. „Wertschätzung des menschlichen Lebens“ und die „Würde unschuldigen menschlichen Lebens“, die „so zentral für Kants Ethik und für einen Großteil der wichtigsten religiösen Traditionen der Menschheit“ (Coady 2003: 79) sei, wird in den Rang einer Bedingung gehoben, die moralisches Unterscheiden erst möglich macht. Alle von Coady genannten Problempunkte, die im Zusammenhang mit der Frage behandelt werden müssen, wie terroristische und antiterroristische Gewalt moralisch beurteilt werden können, sind gleichsam ein Lackmustest für die prinzipielle Wertschätzung des menschlichen Lebens. Die moralphilosophische Reflexion arbeitet also nicht mit Präskriptionen, mit moralischen Vorgaben und Vorschriften, sondern bewegt sich auf der Ebene von Argumenten, die moralisches Unterscheiden erst ermöglichen. Wo Indifferenz gegenüber dem menschlichen Leben vorliegt, entfallen alle weiteren Überlegungen bezüglich der Frage, welche Mittel verhältnismäßig sein könnten. Ebenso bedürfte es keiner gerechten Gründe für die Mobilisierung kriegerischer Mittel. Die Beantwortung dieser Schlüsselfrage, wie die Immunität der Nichtkombattanten theoretisch und praktisch gesichert werden könnte, gibt aber nicht nur die Richtlinie für eine moralphilosophische Stellungnahme zu Praktiken der Antiterrorkriegführung. Die Immunitätsthese verwehrt auch eine politische Vorentscheidung, die nur eine Seite der Konfliktbeziehung als Akteur ernst nimmt und die andere Seite durch Vorabkriminalisierung und Pathologisierung den Status eines Gegners – mit eigenen Rechtsauffassungen, eigenen (gerechten) Gründen,236 eigenen Zweck/ Mittel-Kalkulationen – abspricht. Ausgehend von dieser minimalistischen moralphilosophischen Vorentscheidung für den Eigenwert des menschlichen Lebens und damit gegen diesbezügliche Indifferenz, gilt es in der gegenwärtigen Debatte zunächst, darauf zu insistieren, dass es sich bei der Terrorismusproblematik überhaupt um einen Konflikt und mithin um ein Zwei-Seiten-Phänomen handelt, bei dem beide Seiten legitime Interessen haben und nicht lediglich eine Herausforderung des zivilisierten Guten durch das Böse stattfindet. Was beim Versuch, die bellum-iustum Lehre auf die Terrorismusproblematik anzuwenden deutlich wird, sind die Implikationen, die eine radikale Absage an dieses Legitimitätsdenken von Seiten des radikalen Pazifismus für die neuen Herausforderungen durch den internationalen Terrorismus birgt. Denn jede Ablehnung von Gewalt lässt auch die Frage nach möglicherweise legitimen Interessen derjenigen außer Acht, die etablierte Ordnungen als Unrechtsordnungen wahrnehmen und von dieser Interpretationsplattform aus bekämpfen. Weder die juristische Kategorie des Wider236
Zur moslemischen Sichtweise siehe Monika Wohlrab-Sahr, „Religionsdeutungen nach dem 11. September“, in: Meggle (2003: 167ff.).
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standsrechts noch die moralische des Tyrannenmords, inbegriffen den bewaffneten Kampf gegen den Nationalsozialismus, sei es durch einzelne Attentäter oder durch die Alliierten, sind ohne gewisse Konzessionen an möglicherweise legitime Gewalt vertretbar. Sobald aber vom strikten Gewaltverbot unter Hinweis auf gravierendes Unrecht Abstand genommen wird, ohne den Titel des Pazifismus für eine solche Haltung preisgeben zu wollen, verwischen sich die Konturen der Positionen bis zur Unkenntlichkeit. 6.1.3 Pazifisten und Terroristen Wie sich im Zusammenhang mit dem augenfälligen Einstellungswandel gegenüber Kriegen gezeigt hat, die als „Menschenrechtsinterventionismus“ oder „Antiterrorkrieg“ eingestuft werden, findet seit 1989 und 2001 weder die radikal- noch die rechtspazifistische Vorabwertung einen Rückhalt in der gesellschaftlichen Realität. Die Gleichsetzung der legitimen mit der legalen (staatsmonopolistischen) Gewalt ist spätestens obsolet, seitdem sich die offizielle Politik auf rechtsentlastete Handlungsmodi stützt, den „Vorgriff“ auf weltbürgerrechtliche und weltinnenpolitische Verhältnisse und das „Vorausreagieren“ auf eine mögliche Gefahr. Verzichtet eine Analyse auf jegliche Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt und definiert den Terrorismus im Sinne des FBI als „Gebrauch politischer Gewalt durch nichtstaatliche Akteure gegenüber dem Staat oder dessen Akteuren“,237 dann stehen nicht die Methoden, sondern nur die umstürzlerischen Absichten als verwerflich im Vordergrund.238 Diese politische Definition ist allerdings nicht beliebig gewählt, sondern bezeichnet sehr genau den Rahmen, innerhalb dessen Antiterrormaßnahmen allein legitimiert werden können. Im Gegensatz zum Vergehen, das gewöhnlichen Rechtsbrechern zur Last gelegt wird, zielen terroristische Aktionen nicht nur auf einzelne Gesetze, sondern auf die rechtlich verfasste politische Ordnung. An den strikt säkularen legalistischen Staatstheorien der Moderne, insbesondere an denen von Hobbes und Kant, lässt sich zeigen, dass die Schlüsselstellung, die das Gewaltmonopol als eine Frieden und Gerechtigkeit ermöglichende Institution einnimmt, für das Widerstandsrecht der scholastischen Tradition keinen Platz mehr hat. Und Rousseau, der die Kontrollfunktion des Volkes durch ein solches Recht zu stärken sucht, vermag dies nur durch gewisse Konzessionen an christliches Legitimitätsdenken, das in seiner ausschließlichen Fixierung auf die Volkssouveränität zur Zivilreligion wird.239 Im Gegensatz zum christlichen Widerstandsprinzip, das sich aus dem individuellen
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Siehe dazu Coady (2003: 73). So gilt der um eine pazifistische Pädagogik bemühte Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966) nicht erst unter Hitler, sondern bereits in der Weimarer Republik als „Verbrecher“, „Wahnsinniger“ und „Vaterlandsverräter“. Siehe Donat 1987: 167). 239 Siehe die Ausführungen bei Hirsch (2004: 164). 238
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Gewissen als höchster Autorität ableitet, hat die „volonté générale“ gegenüber dem Einzelwillen jedoch absolute Priorität und kann absolute Zwangsgewalt ausüben. In gewisser Weise ist nur die politische Definition des Terrorismus konsequentes säkulares Legitimitätsdenken, während darüber hinausgehende Definitionen den säkularen Rahmen sprengen und in eine Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition treiben. In ihrer Reinform ist säkulares Denken gewahrt, solange die Bedingungen möglichen Unterscheidens von Vorzuziehendem und Abzulehnendem – gut und schlecht/böse, Recht und Unrecht, gerecht und ungerecht – konkreter Natur sind und auf eine Institution zurückgehen, die als Bedingung des Friedens fungiert. Dies ist das Gewaltmonopol des Staates. Wird die Bedingung möglichen Friedens hingegen nicht als Menschenwerk, als bewährtes Konstrukt und Institut gesehen, sondern als abstraktes Prinzip der Gerechtigkeit, dann mögen sich Menschen zwar auf eine Autorität einigen, die definiert, was gerecht und was ungerecht ist, aber das Gerechtigkeitsprinzip selbst bleibt immer ein allen Auslegungen Vorausgehendes. Die taktische Definition des Terrorismus abstrahiert zunächst ebenso wie die politische von der moralischen Qualität der Mittelwahl und konzentriert sich auf die Akteursbeziehung, die immer aus zwei Seiten besteht, aus dem Sender (Täter) und dem Empfänger (Opfer): „Terrorismus ist der organisierte Einsatz von auf NichtKombattanten (Unschuldige in einem speziellen Sinne) abzielende Gewalt zu politischen Zwecken.“ (Coady 2003: 73). Diese Definition orientiert sich in ihrem Legitimitätsdenken an der Frage, wer zum Opfer gemacht werden darf. Die vollkommene Vermeidung von Opfern scheint ausgeschlossen, wenn eine Situation vorliegt, in der ein Akteur in Gewalt verstrickt ist. Jede personelle (Terrorattacken, Angriffskrieg) oder strukturelle (Ausbeutung) Gewalt weist unweigerlich diese zweiseitige Täter/Opfer-Struktur der Akteursbeziehung auf. Eine pazifistische Position einzunehmen wirkt hier verunklärend, sofern ein Gewaltverständnis zugrunde gelegt wird, das die Möglichkeit der Vermeidung von Opfern in Aussicht stellt, wenn man nur darauf verzichtet, zu den Waffen zu greifen. Die als radikale Spielart selbst innerhalb des Pazifismus nicht unumstrittene Bereitschaft zur Selbstopferung verzichtet hingegen nicht auf Gewalt, sondern provoziert selbige womöglich beim Anderen. Dieser sieht sich durch die beharrliche Weigerung des Pazifisten, personelle und/oder strukturelle Gewalt hinzunehmen, gezwungen, „drastischere“ Mittel anzuwenden. „Potenziert“ im Sinne von moralisch noch prekärer, erscheint eine Gewalt, die sich nur noch schwer als Gegengewalt rechtfertigen lässt, sofern der Pazifist selbst nicht gewalttätig wird. Die Gewalt, die gegen ihn mobilisiert werden kann, legitimiert sich allein aus dem Zwang, der dem Störenfried einer öffentlichen Ordnung gilt, oder dem Abtrünnigen, der den Befehlsgehorsam verweigert, bzw., der Bestandteile der Rechtsordnung nicht anerkennt, weil er diese als Unrechtsordnung ablehnt. Die Strategie, die im Falle demonstrierter Leidensbereitschaft zur Anwendung kommt, ist eine von ihrer Grundstruktur her hochinteressante. Was hier nämlich versucht wird, ist die direkte Einwirkung auf eine paradoxe Problemkonstellation. Diese
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ist folgendermaßen zu beschreiben: Der Pazifist versucht auf eine politische Situation einzuwirken, in der er personelle und/oder strukturelle Gewalt wahrnimmt. Die von ihm diagnostizierte Gewalt wird von den Tätern aber als legale, gesetzmäßige, oder als außerlegale, weil von einem Ausnahmezustand her legitimierte, Gewalt gerechtfertigt, die sich zudem als Gewalt gegen einen Aggressor bzw. einen Rechtsbrecher darstellt. Die stets von einer subjektiven Rechtsauslegung abhängige legale Gewalt und die stets von einem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden her verstandene legitime Gewalt befinden sich deshalb immer zunächst auf Seiten des Souveräns. In den Augen der Ordnungshüter ist die von Pazifisten so bezeichnete „gewaltlose“ Strategie Gewalt und zwar eine Widerstandsgewalt, die aufgrund ihrer umstürzlerischen Intentionen so gefährlich ist wie die attentäterische Gewalt. Der Pazifismus kann sich nur auf dieselbe Ebene begeben und sein Widerstandshandeln, das zu Toten führen kann, mit Hilfe einer alternativen subjektiven Rechtsauslegung als legal und mit Hilfe eines subjektiven Gerechtigkeitsempfinden als legitim bezeichnen. So ist es symptomatisch, dass die FBI-Definition des Terrorismus auch auf Pazifisten passt, die wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King mit ihren Aktionen die staatliche bzw. gesellschaftliche Verfasstheit durchaus destabilisiert haben und destabilisieren wollten.240 Da beide Seiten mithin das Handeln des jeweils Anderen als Gewalt bezeichnen, müsste ein wissenschaftlicher Beobachter, der in dieser wechselseitigen Zuschreibung nur einer Seite Recht geben würde, lediglich zu einer weiteren Partei werden, die sich in Widerspruch zu Parteien bringt, die das als gewaltlos bzw. gewaltsam bezeichnete Handeln anders einordnen. Mit dieser Beobachtung aber bestätigen wir nur erneut das für den Gewaltbegriff unleugbare Spezifikum, ein reines Phänomen der Zurechnung zu sein. So heißt es bei Gernod Jochheim (1977: 30) zwar: „Das Kalkül der Gewaltfreiheit besteht darin, daß auf alle jene Formen von Gewalt verzichtet wird, deren zerstörerische Folgen nicht wieder rückgängig gemacht werden können.“
Es wird aber eingeräumt, dass dieses Kalkül nicht aus einer „Eigenbewegung des Geistes“ oder aufgrund „prinzipieller moralischer Haltungen“ entstanden sei, sondern ein Ergebnis von Beobachtungen und Überlegungen darstelle. Angesichts der Perspektivengebundenheit der Problemfassung kommt eine wissenschaftliche Analyse 240
Die Wirkungsgeschichte konzentriert sich auf Personen, denen bedeutende gesellschaftliche Veränderungen zugeschrieben werden. Dies erklärt die marginale Stellung des anarchistischen Pazifismus Tolstojs, der Gandhi stark beeinflusst hat. Tolstoj verbindet das Bekenntnis zur christlichen Gewaltfreiheit mit einer Ablehnung des Staates als einer Institution, die dem Gebot der Nächstenliebe konstitutiv entgegengesetzt ist. In „Das Reich Gottes ist in Euch“ von 1893 wird das Christentum als neues Lebensverständnis politisch gewendet mit dem Argument, die Freiheit Gottes bestehe nicht darin, dass wir die Schwachen bekämpfen und unterdrücken, sondern darin, dass wir alle Menschen als Brüder anerkennen und einander dienen.
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nicht weiter, die die Frage zu beantworten sucht, ob es sich bei der vom Pazifismus attackierten personellen und/oder strukturellen Gewalt wirklich um Gewalt handelt oder um eine Ordnungsmaßnahme. Dasselbe gilt für die Beantwortung der umgekehrten Frage, ob die vom Pazifismus gewählten Strategien des Streiks, der Sitzblockade, des Erduldens von Militär- oder Polizeigewalt – Schläge, Folterung, Inhaftierung, Tötung – unter „gewaltfreier Strategie“ einzuordnen sind.241 Es ist nämlich keineswegs im Prinzip unmöglich, einer psychologischen Diagnostik gemäß solche Leidensbereitschaft als Selbstmord oder als introvertierte Aggression, als Selbstbeschädigung zu pathologisieren.242 Denn welcher externe Beobachter kann schon mit Sicherheit sagen, ob die proklamierten nicht nur vorgeschobene Gründe sind, hinter denen latente pathologieverdächtige Beweggründe stehen. Begibt man sich ins psychologische Deutungslabyrinth, dann schwindet der moralische Vorzugscharakter der pazifistischen Aktion und einander gegenüber stehen nur noch der politische Ziele mit Hilfe extrovertierter Aggression durchsetzende Soldat oder Polizist, und der Pazifist, der sich introvertierter Aggression bedient, um seine Ziele zu verfolgen. Lässt man sich noch weiter auf psychologische Denkfiguren ein, dann wäre der Soldat, der mit offener Gewalt dem Anderen die Chance zur Gegengewalt lässt, moralisch sogar dem Pazifisten überlegen, der auf subtile masochistische Weise moralischen Druck ausübt und den Anderen wehrlos zu machen sucht. Genau dieses aber intendiert der Pazifismus. Er möchte die Situation in seinem Sinne beeinflussen, indem er dem als Täter identifizierten Anderen ein schlechtes Gewissen macht, und auf diese Weise zwingt, auf seine Gewalt zu verzichten. Man sieht, wie leicht es ist, durch Überwechseln zu einem anderen hermetischen Sprachspiel selbst die lautersten und selbstlosesten Ambitionen noch zu diskreditieren. Da psychologisch-medizinisches ebenso wie juristisches Bewerten menschlicher Handlungen die Stelle eingenommen haben, die vormals eine von der Kirche definierte und überwachte Moral innehatte, gibt es keine Möglichkeit, als „pathologisch“ oder „rechtswidrig“ stigmatisierte Handlungen zu rehabilitieren, indem psychologische und juristische Bewertungsmaßstäbe durch einen ethischen Maßstab ersetzt werden. Die Überlegenheit von psychologisch-medizinischen und juristischen Urteilen gegenüber moralphilosophisch-theologischen rührt aus der Deutungshoheit „wissenschaftsgestützter“ Subsysteme gegenüber der Kirche, die ihre Autorität in Fragen des richtigen und adäquaten Handelns seit der Aufklärung an die weltlichen Einrichtungen abgeben 241
Das wird im Falle eines radikalen Pazifismus, der vor weitgehenden Sachschäden nicht zurückschreckt, auch innerhalb des Pazifismus kontrovers beurteilt. Ein prominentes Beispiel liefert der radikale katholische Pazifismus von Daniel und Philip Berrigan, die während des Vietnamkrieges in den USA ihre Protesthandlungen als urchristliche Weigerung verstanden, Gesetze zu befolgen, die eine imperialistische und kriegstreiberische Politik stützen. Siehe Hans-Jürgen Benedict in: Rajewsky/Riesenberger (1987: 364ff.). 242 Für den Terrorismus siehe zu dieser Deutung Schlösser/Gerlach (2002); Wirth (2003); Piven/ Boyd/Lawton (2003).
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musste. Hinter den Schwierigkeiten, selbstloses pazifistisches Engagement zu honorieren, steht zunächst der Verdrängungswettbewerb von Subsystemen, der in der Moderne zu Lasten der Kirche entschieden worden ist. Gerade dieses Eindringen in die psychologischen Deutungsmuster lässt die Probleme erahnen, die Aversionen gegen den Pazifismus gerade auch aus moralischen Gründen erklärbar macht. Was „Gutmenschentum“ genannt wird, zielt ja nur ausnahmsweise auf den Vorwurf der Unaufrichtigkeit. Überwiegend ist damit ein verdecktes Konfliktverhalten gemeint, das sich moralischer Kommunikation bedient und damit das Gegenüber mit Achtungsentzug bestraft, wenn es sich nicht im Sinne der eigenen moralischen Überzeugungen verhält. Was diese Art der Druckausübung anrüchig macht, ist die Funktion, die moralische Kommunikation in einer säkularen Gesellschaft erfüllt. Sollte das Spezifische einer modernen Gesellschaft, die sich aus autonom gesetzten Funktionssystemen zusammensetzt, nämlich darin bestehen, dass die Unterscheidung von Vorzuziehendem und Abzulehnendem weniger durch eine Ethik und mehr durch die positiven Codes der Funktionssysteme festgelegt ist, dann gerät jeder Verweis auf ein „Gutes“, das mehr sein will als das ökonomisch, politisch, wissenschaftlich, erzieherisch, rechtlich „Vorzuziehende“, in den Geruch des Anmaßenden. Das eigentliche Problem besteht nun jedoch darin, dass eine Gesellschaftsform, die die Bedingungen für eine plausible moralische Semantik beseitigt hat und zwar aus dem schlichten Grund, weil sie aus einem Prozess der Emanzipation von der Moral hervorgegangen war, nicht die Moral selbst zu beseitigen vermag. Das bedeutet, moralische Kommunikation ist nicht deshalb anrüchig, weil es kein Gutes gäbe, oder weil selbiges kontingent – auch anders möglich – wäre. Sie ist fragwürdig, weil diese Gesellschaft, so wie sie funktioniert, nur durch Außerachtlassung moralischer Fragen, nur durch die Beschränkung auf Effizienz, Rentabilität, Rationalität, kurz: durch Fortsetzung der Systemoperationen funktionieren kann. Wenn man nun den Relativismus, der in Fragen des Guten und Wahren heute allein vertretbar scheint, nicht seinerseits zu einer höheren Wahrheit stilisiert, sondern nur noch als gesellschaftliche Semantik gelten lässt, die in funktional differenzierten Gesellschaft allein plausibel ist, dann wird das Problem erkennbar, auf das der Pazifismus reagiert. Denn selbst wenn eine moderne in Funktionssysteme unterteilte Gesellschaft keine Instanz mehr anerkennt, die definiert, was gut und wahr ist, so vermag dieselbe Gesellschaft noch nicht ihre Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es jenseits von Systemcodes keine Bewertungsebene gibt, sodass Töten und Getötetwerden nur im Horizont der Bestandsinteressen von Funktionssystemen zu bewerten wären.243 243
Der von der politischen Philosophie hervorgehobene Unterschied zwischen der „rollenbezogenen Moral der Politik“ und der handlungsbezogenen Moral des privaten Einzelmenschen, wird von Reinhard Merkel (2004: 129) als unbegründet, weil auf einer petitio principii beruhend, zurückgewiesen: „Warum und auf welchen normativen Grundlagen es ‚Rollen’ geben kann, die ein ansonsten verwerfliches und verbotenes Verhalten erlauben – das gerade ist ja die Frage. Sie wird durch die bloße
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Damit ist die Spannung angezeigt, in der sich der Pazifismus selbst aufreibt und von einer Gesellschaft aufgerieben wird, die den moralischen Ton der Bewahrung des fremden menschlichen Lebens als unaufgebbares Ferment der humanistischen Tradition fortführt. Sie läuft darin Gefahr, gegen ein modernes Kontingenzbewusstsein zu argumentieren, das im Begriff ist, absolut gesetzt zu werden. Das Anmaßende des moralisierenden Stils ist mithin nicht etwas, das von den einzelnen Vertretern vermieden werden könnte. Es ist das kompromisslose Festhalten am Selbstzweckcharakter des menschlichen Lebens, welches modernes relativistisches Denken in einer Weise durchkreuzt, dass selbst der Pazifismus als „alternative“ Bewegung meint nicht mehr geschlossen hinter diesem Prinzip stehen zu können. Mit dieser Feststellung bewegen wir uns aber wieder ausschließlich auf einer Ebene der Was-Fragen, auf der, wie bereits eingehend beschrieben, eine klare und eindeutige Kontur nicht zu gewinnen ist. Stellt man hingegen die Wie-Frage und dröselt nach und nach die Probleme auf, deren ungelöster Status erklären hilft, wie das konstituiert wird, was als Pazifismus von sich Reden macht, dann sagt die nackte Tatsache eines pazifistischen Dissenses bezüglich des relativen oder absoluten Wertes von Menschenleben, nichts aus. Die Schwierigkeit, aus einer radikalen Ablehnung von Gewalt zu einer glaubwürdigen Gewaltkritik, insbesondere im Kontext von Terrorismus und Antiterrorkriegführung, zu gelangen, zeigt der Beitrag von Christian Wolff (2003) „Dem Bösen widerstehen – Die neuen Aufgaben des Pazifismus“, in dem vom Tötungsverbot als präskriptiver undifferenzierter Norm ausgegangen wird, was nicht nur den Terrorismus, sondern auch die Antiterrorkriegführung zur Sünde machen würde. Diese Konsequenz wird allerdings umgangen, da die Gewaltkritik nicht aus der genuin religiösen Art der Betrachtung abgeleitet ist. Der religiöse Zugang ist hingegen vom moralischen nicht unterschieden und so gerät die Argumentation auf ein religionsfremdes Gleis. Wir konnten eine solche pazifistische Argumentationsführung bei Jürgen Drewermann beobachten, bei dem die christliche Semantik nur die Oberflächenstruktur einer tieferliegenden psychologischen Wahrheit bildet. Bei Wolff dient die christliche Moral als Zweitcodierung staatsphilosophischer Einsichten. Das ist konsequent vor dem Hintergrund eines von seinen moralischen Funktionen her verstandenen Religionsverständnisses, wie es sich seit Aufklärung durchsetzt und zwar keineswegs nur bezogen auf den Protestantismus. Wenn es den Glaubensgemeinschaften in erster Linie um die gottgefällige Lebensführung im Sinne eines moralisch einwandfreien Handelns geht, dann richtet sich die Aufmerksamkeit nicht nur auf kirchliche Autoritäten, auf professionelle Interpreten der aus Bibel und Tradition übermittelten moralischen Gewissheiten. In den Vordergrund rückt auch eine Staatsmacht, die Sicherheit bietet vor Menschen, Behauptung einer spezifischen ‚Rollenmoral’ ersichtlich nicht beantwortet, sondern erst aufgeworfen.“ Dieser Einwand trifft heute nicht nur die Politik, sondern auch den wissenschaftlich-technischen Bereich, in den eine rollenbezogene Moral längst Einzug gefunden hat.
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die eine solche Lebensführung unmöglich machen. Sobald die moralische Unterscheidung von gut und böse die spezifisch religiöse Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz dominiert, gehen zwei Handlungsfelder ineinander über, nämlich die Bemühungen um ein gottgefälliges, moralisch einwandfreies Handeln und ein abwehrendes Handeln, das die Bösen bekämpft. Da die Identifizierung des Bösen als ein von konkreten Menschen abstrahierendes Prinzip ohne die konkrete Erfahrung mit Menschen, die Böses tun, nicht möglich ist, kann das Verhältnis von Prinzip und konkretisiertem Prinzip immer nur als eine Paradoxie veranschaulicht werden. Zum moralisierenden Religionsverständnis aber gehört, dass dieses Wissen um die Paradoxie unterscheidenden Bezeichnens von gut und böse völlig überlagert wird durch moralische „Überzeugungen“, die als Errungenschaften, sei es der „christlichen Tradition“ oder der fachmännischen Bibelexegese, hochgehalten werden. Diese Dominanz des moralischen über das religiöse Schema führt dazu, dass Gewalt schwer kritisiert werden kann, steht sie doch einmal im Dienste des Guten und einmal im Dienste des Bösen. Damit verliert das „Gute“ den Bezug zu seinem ureigensten Sinn der Gewaltvermeidung. Um diesen Sinn zu erhalten, darf die moralische Unterscheidung nicht aus ihrer Verankerung in der Differenz von Immanenz und Transzendenz herausgelöst werden. Das bedeutet, die moralische Unterscheidung von guten, gewaltvermeidenden und bösen, gewalttätigen Handlungen ist ohne die logisch-ontologische Unterscheidung des weltlichen Friedens, der pax temporalis, vom göttlichen Frieden, der pax aeterna, ortlos und unverständlich. Im wirklichen Leben kann man nie sicher sein, dass selbst das gut gemeinte Tun verheerende Folgen für andere Menschen hat, diese Anderen also schädigt. Das gilt selbst für die strikte Gewaltabstinenz, die womöglich dem gefährdeten Anderen den Schutz verwehrt. Worüber die apodiktische Ablehnung der Gewalt als willentliche Schädigung anderer informiert, ist die Unmöglichkeit, Gewalt als Gutes auszuweisen. Wer aufgrund der gewaltverstrickten Struktur irdischen Daseins meint Gewalt anwenden zu müssen, sei es um andere zu schützen, um Recht wieder herzustellen und großen Schaden abzuwenden, vermag dies nicht als ein gutes Handeln zu rechtfertigen. Der Handelnde kann seine Entscheidung im Rahmen der Augustinischen Friedenssemantik nur als Umgang mit einer Paradoxie legitimieren; er kann sich nur auf sein Gewissen berufen. Der Täter hat nur sein Gewissen als Prüfinstanz für die Richtigkeit seiner Handlung und steht damit immer in Gefahr, sich mit seiner Tat von anderen zu isolieren, die andere Gewissensentscheidungen getroffen hätten. Der Tyrannenmord ist das logische Gegenstück zu einem Legitimitätsdenken, das dem individuellen Gewissen letzte Autorität zubilligt. Sobald die Autorität auf eine Instanz, den Fürsten oder das Gewaltmonopol des Staates übergeht, verliert die semantische Figur des Tyrannenmordes ihre Funktion und koexistiert allenfalls noch eine Weile mit modernen Verhältnissen als nicht mehr legitimierbares Relikt einer alten Struktur. Die tiefe Kluft zwischen individuellem Gewissen, das unter Umständen Gewalt als kleineres Übel zu wählen zwingt, und einer christlichen Ethik, die auf dem Tötungsverbot als ihrem Zentrum beruht, macht eine Rechtfertigung von Gewalt im
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modernen Sinne unmöglich. Denn das eigene Gewalthandeln befindet sich immer in Widerspruch zu einem kulturstiftenden Wertekanon, der sich an den Zehn Geboten orientiert. Das Gewissen ist als ein ins gewaltverstrickte Irdische hineinragendes Organ der Gottebenbildlichkeit gewissermaßen das Scharnier, das die Notwendigkeiten des unvollkommenen mit den Wünschbarkeiten des vollkommenen Friedens so verbindet, dass weder die Schuld einer vom Gewissen befohlenen Gewalttat geleugnet und das Handeln seine Maximen nur noch aus den Sachzwängen bezieht noch die Mitmenschen schutzlos einer ungerechten Übermacht überlassen bleiben. Die Zehn Gebote binden bis zu den Aufweichungen dieses Legitimitätsdenkens in der Renaissance auch den Monarchen. Erst Niccolò Machiavelli (1469-1527) wird den „Neuen Fürsten“ von der religiösen Moral befreien und ausschließlich auf die Belange des Staates verpflichten. Nur dieser Bezugsrahmen eines vom Gewissen zu vermittelnden Doppelhorizonts von irdischem und himmlischem Frieden, erlaubt es, in der Suche nach dem richtigen Handeln in konkreten politischen Situation die Kriterien der bellum-iustum-Lehre zu befragen. Der religiöse Pazifismus überspringt jedoch mitunter diesen Bezugsrahmen und blendet damit die Paradoxie von Tötungsverbot und Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens aus. Damit begibt er sich in die Hände jener staatsphilosophischen Deutungsmacht, die Sicherheit und Frieden nur als Leistung eines staatlichen Gewaltmonopols anerkennt. Auf diese Weise führt er im Gegensatz zur christlichen Ethik244 einen Typus von Gewalt ein, der sich durch eine neue „utilitaristische“ Ethik rechtfertigen lässt. Von nun an ist jene Gewalt nicht mehr „Sünde“, von der glaubhaft gemacht werden kann, sie stehe im Dienste des staatlichen Gewaltmonopols und damit im Dienste von Sicherheit und Frieden. Ganz diesem gedanklichen Kontext verhaftet gilt die Sorge Christian Wolffs (2003) den gefährlichen Konsequenzen einer politischen Kapitulation vor dem Terrorismus im Falle einer allzu strikten Auslegung des Tötungsverbots. Deshalb bringt er Antiterroraktionen in die Nähe der legalen Gewalt der Verbrechensbekämpfung. Damit gerät die Diskussion um pazifismuskompatible Gewalt jedoch erneut in das Fahrwasser einer politischen Interpretation, die das politische Handeln nur in sogenannten „normalen“ Zeiten an Recht und Moral zu binden bereit ist, aber nicht im Falle des „Ausnahmezustandes“. Dieser ist in einer am Terrorismus orientierten Gefahrendiagnose zwangsläufig gegeben, denn Terrorismus ist ein transnationales Phänomen, dem angesichts einer fehlenden internationalen Rechtsordnung und widersprüchlich ausgelegten Völkerrechts, nicht ohne weiteres im Rahmen der Verbrechensbekämpfung begegnet werden kann. Auswege aus diesem Dilemma sind von weltbürgerrechts- und zivilisationstheoretischer Seite aus gewiesen, wenn geraten 244
Sicherheit und Frieden werden hier mitunter sogar als Gegensätze begriffen. Siehe Dietrich Bonhoeffer, „Kirche und Völkerwelt“, in: Bonhoeffer (1965: 216ff.). Nach ihm bedeutet Sicherheiten fordern, Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiere wiederum Krieg. Deshalb heiße Friede sich gänzlich ausliefern dem Gebot Gottes. Kämpfe würden nicht mit Waffen gewonnen, sondern mit Gott.
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wird, so zu handeln, als ob es ein Weltgewaltmonopol oder eine Weltrechtsordnung gäbe. Damit jedoch ist militärische Gewalt als Vorgriff auf zukünftige Weltinnenpolitik gerechtfertigt. Die in den Augen des Pazifismus zulässige Verbrechensbekämpfung verwandelt sich unter dem Diktat dieser Legitimitätsfigur in eine Kriminalisierung von Menschen und Gruppen, die verdächtigt werden, Gewalt gegen die Staatsgewalt auszuüben oder zu planen. Darunter fällt jetzt aber auch der Pazifist,245 der gegen staatliche Regelungen vorgeht, die er als ungerecht oder menschenrechtsverletzend einstuft. Er versucht seinen Willen gegen den Widerstand der Staatsorgane zwar nicht mit extrovertierter, aber mit introvertierter Gewalt (Selbstopfer), durchzusetzen. Diese Terrorismusdefinition des FBI, die den „konsequenten“, opferbereiten Pazifismus einschließt, ist durchaus nicht willkürlich, sondern steht in Einklang mit einer moralischen Semantik, die das Gute und Vorzuziehende von den Funktionssystemen betreut sieht. Da eine gesamtgesellschaftlich verbindliche Moral nämlich nur in einer kulturell-religiös homogenen Gesellschaft möglich ist, gerät die moralische Unterscheidung von gut und schlecht in eine Abhängigkeit von dem, was in den Funktionssystemen als Vorzugswert erscheint. Für den Gewaltbegriff, der die negative Seite des Moralschemas bezeichnet, hat diese Abhängigkeit zu einer Unschärfe geführt, die gewissermaßen jedes Handeln aus einer subjektiven Perspektive der Betroffenheit, als Gewalt bezeichnen lässt. Symptomatisch für diese Loslösung des Gewaltbegriffs von einem bestimmten Handeln ist die Definition von Johan Galtung (1982: 9), der Gewalt vorliegen sieht, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle Verwirklichung geringer ist als die potentielle Verwirklichung und diese Differenz vermeidbar ist. Da gewisse Selbstverwirklichungsstufen nur auf Kosten anderer möglich sind und mithin das moralisch aufgewertete Selbstverwirklichungsmodell „Kollateralschäden“ einrechnen muss, verliert der pazifistische Topos der „gewaltfreien Konfliktlösung“ jede Verankerung im wirklichen Leben. Von dieser subjektiven Ebene der Gewaltwahrnehmung erreicht man eine objektive transpersonale Ebene nur über einen Systemstandpunkt, von dem aus Negatives als Gewalt dann verbucht wird, wenn es in der Optik des Funktionssystems so erscheint. Auf diesem Wege geraten im Rahmen der therapeutischen Unterscheidung von gesund und krank die extrovertierte und die introvertierte Aggressionsbewältigung auf ein und dieselbe Ebene. Es bedarf eines systemexternen juristischen Bewertungsstandpunktes, der differenziert und der die Fremdschädigung als gravierender behandelt als die Selbstschädigung. Für den Betroffen sind die Konsequenzen hingegen in beiden Fällen Freiheitsentzug, entweder in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie oder im Gefängnis. Für das politische System jedoch geraten diese beiden Formen der Aggressionsbewältigung dann wieder auf eine Ebene der Bewertung, wenn beide in der Lage sein sollten, im subversiven Sinne erfolgreich zu sein. Einem 245
Deutlich wird dies bei Robert L. Holmes (2006: 158f.), der „humanitäre Intervention“ als Subversion mit den Mitteln der „nonviolent action“ versteht, eine erfolgreiche Strategie, um Regimewechsel im Irak und im Iran herbeizuführen.
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in der Selbstwahrnehmung gefährdeten Staat – und das ist ein Staat, der behauptet, sich im Ausnahmezustand zu befinden – muss es gleichgültig sein, mit welchen Mitteln die Staatsgewalt unterhöhlt wird. Diese Logik bekamen bereits Jesus von Nazareth246 und die frühen christlichen Gemeinden zu spüren, deren strikte Gewaltabstinenz und Bereitschaft zum Märtyrertum von einer siechen römischen Staatsmacht nur um so gefährlicher eingestuft wurden. Auch Gandhi ist mit seiner Strategie der Non-Violence Opfer dieser Logik geworden.247 Bereits während seines Engagements in Südafrika sei er von der weißen Bevölkerung zunehmend als vogelfrei behandelt worden, schreibt Fritz Diettrich in der Einleitung zur „Gandhi-Revolution“ 1930: „Die schärfsten Rebellen mit gewaltsamen Methoden sind schonender in Europa behandelt worden, als der Prediger und Organisator der Gewaltlosigkeit. In den Burenkriegen, stets, wenn Not im Lande war, hob Gandhi die Non-Cooperation ritterlich auf und organisierte mit einer großen Anzahl von Indern einen vorbildlichen Sanitätsdienst. Als die Pest in Johannesburg ausbrach, eröffnete Gandhi ein großes Spital. Aber was erntete er für all die Menschlichkeitsdienste an seinen Feinden? Wiederholte Verurteilung zu Zuchthaus und Zwangsarbeit und öffentliche Beleidigungen die Menge! Einmal wurde er von Pogromisten fast entleibt; und, für tot gehalten, ließ man ihn auf dem Platze.“ (Diettrich 1930: 8).
Wichtig ist in diesem Zusammenhang deutlich zu machen, dass ein pazifistisches Legitimitätsdenken, das dem nachhobbesianischen Gewaltrechtfertigungsdiskurs folgt und somit Sicherheit und Frieden vom staatlichen Gewaltmonopol abhängig sieht, schlechterdings dieser Logik des Kampfes gegen subversive Elemente – und seien es Pazifisten – nicht entkommen kann. Krieg, der im Dienste der Terrorismusbekämpfung steht, fällt in den Aufgabenbereich des Rechtssystems. Und dieses ist unter der Ägide gewaltmonopolistischer legaler Herrschaft tätig. Dabei wird das Fehlen eines globalen Rechtssystems im gegenwärtigen Legitimitätsdenken durch jene semantische Brückenfunktion ausgeglichen, die bei den säkularen Lösungen durch Übertragung der Problematik von der Sach- in die Zeitdimension gewonnen wird. An die Stelle der aktuellen tritt die antizipierte Rechtsgeltung. Als Vorgriff auf eine Weltbürgerrechts246
Gandhi betont dieses Moment des politischen Widerstands bei Christus: „Europa hat den weisen, kühnen und tapferen Widerstand Jesu von Nazareth als passiven Widerstand mißdeutet, wie wenn es sich um die Tat eines Schwächlings handelte. Als ich das Neue Testament zum erstenmal las, fand ich nichts von Passivität oder Schwäche an Jesus in den Schilderungen, die die vier Evangelien von ihm geben.“ (Gandhi Harijan 7.12.1947). 247 Ein analoger Fall ist in Deutschland der Zeitgenosse und Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster, der aufgrund seiner Kritik am säbelrasselnden preußischen Militarismus vor dem ersten und dem zweiten Weltkrieg bedroht wurde. Die Münchner „Allgemeine Zeitung“ verunglimpfte ihn 1923 als „Verbrecher“, „Wahnsinniger“ und „Vaterlandsverräter“. Siehe Donat (1987: 167). Gandhi agierte an der Spitze einer „zeitgemäßen“ Bewegung; Foerster kämpfte gegen eine „zeitgemäße“ Bewegung. Allein dies liefert eine Erklärung für den Erfolg des einen und die Erfolglosigkeit des anderen.
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ordnung ist außerlegale Gewalt nicht nur im ethischen Sinne legitim, sondern sie ist im Rechtsempfinden ihrer Verfechter im juristischen Sinne legal. Ein funktionales Äquivalent für den „Vorgriff“ findet sich im religiösen Pazifismus bei Wolff im konkreten Verständnis der Heilsgeschichte. Der „Glaube“ bezieht sich auf die historische Einlösung der Friedensverheißung des Propheten Jesaja: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ (Jesaja 2,4) (Wolff 213).
Von diesem in die Zukunft ausgelagerten realperfekten – damit verwirklichbaren – Friedenszustand ausgehend, ist Gewalt als „polizeilich-rechtliche Aktion“ gerechtfertigt. Und es zeichnet den Pazifismus geradezu aus, die militärisch-kriegerische Variante zu verhindern und die polizeilich-rechtsstaatliche Lösung zu ermöglichen. Angesichts der Tatsache, dass die Bedingungen für ein Weltgewaltmonopol nicht gegeben sind, die erst gewisse Gewaltmethoden als rechtsstaatliche ausweisen könnten, rückt die pazifistische Position peu à peu von ihrer maximalistischen Forderung des Gewaltverzichts ab, um schließlich dort zu landen, wo sich gegenwärtig die Realpolitik befindet, nämlich bei der Güterabwägung von Fall zu Fall. Der Pazifismus empfiehlt sich damit de facto nur noch als die bessere Politik: Hier ist (im unterstellten Gegensatz zu Nicht-Pazifisten) „der Lebensschutz von Opfer und Täter oberstes Gebot. Die Tötung der Täter ist ultima ratio, kann aber grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden.“ Mehr noch: „Gerade wenn es darum geht, gewaltsame Konfliktlösungen zu vermeiden, dürfen sich Pazifisten dann nicht aus der Verantwortung stehlen, wenn eine Entscheidung für die ultima ratio zu treffen ist. Warum? Damit eine militärische kriegerische Lösung verhindert wird. Damit eine solche Entscheidung ultima ratio bleibt.“ (Wolff 2003: 220).
Die religiöse Verankerung korrigiert die realpolitische Einstellung darin, dass sie ein Schuldbewusstsein an die Stelle einer generellen Unschuldsvermutung zu fördern sucht. Auch Gegengewalt gilt nicht als „gut“, sondern eben als „kleineres Übel“ (ebd.). Genau diese Haltung, die von Pazifisten den Nicht-Pazifisten unterstellt wird, findet sich in einem moralphilosophischen Kontext nur als utilitaristisches zweckrationales Denken traktiert (Coady 2003: 76). Auch der Utilitarismus ist nicht einfach eine moralfreie Argumentation, vielmehr geht er davon aus, „dass Krieg eine derartige „Hölle“ und der Sieg daher derart wichtig sei, dass alles diesem Ziel untergeordnet werden müsse.“ (ebd.). Selbst im Rahmen des Utilitarismus sei allerdings unklar, „ob diese Form von rücksichtsloser Härte wirklich zu den besten Ergebnissen führt, insbesondere, wenn diese Haltung von beiden Kriegsparteien eingenommen wird.“ (ebd.). Was gemeinhin in der Selbst- und Fremddarstellung vielfach als pazifistische Haltung bezeichnet wird, definiert C. A. J. Coady sehr viel exakter als „Intrinsikalisten“ und als „Nicht-Utilitaristen“, die davon ausgehen, dass es unabhängig von
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einer nicht erreichten Maximierung guter Folgen „intrinsisch Falsches“ gebe. Diese könnten zwar zugeben, „dass es auch extrinsische Gründe für die Immunitätsregel gibt, aber sie werden diese Tatsache nur als einen weiteren signifikanten Grund für die Befolgung des Prinzips ansehen.“ (Coady 2003: 76). Offensichtlich ist das Procedere der Argumentationsführung nicht unwesentlich für die gewaltkritische oder -affirmative Haltung, die ein Legitimitätsdiskurs zu Tage fördert. Der religiöse Pazifismus postuliert das unbestreitbare Recht eines jeden Menschen zu leben, ein Recht, das Christian Wolff (2003: 212) aus der Gattungsgeschöpflichkeit folgert. Allein diese Formulierung, die Gewalt- und Tötungsverbot aus einem Rechtsanspruch ableitet, lenkt die Aufmerksamkeit auf die de-facto-Macht, die in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass dieses Recht nicht verletzt wird. Ein Abstandnehmen von der maximalistischen Position „nichtgewaltsamer Konfliktlösung“ ist die notwendige Folge. Stück für Stück wird unter Angabe der Bedingungen, die gewaltabstinente Politik möglich sein lassen, Gewalt als Ultima ratio wieder zugelassen. So distanziert sich ein religiöser – häufig mit kompromisslosem, radikalem oder konsequentem Pazifismus identifiziert – von einer „ethischen Fundamentalposition“ (Wolff 2003: 211).248 Die einzigen Gemeinsamkeiten mit dem, was im allgemeinen als pazifistisches Profil ausgemacht wird, bleiben der Anspruch, das Tötungsverbot in praktische Politik umsetzen zu können, und die Formulierung des Friedensgebots als Zielorientierung jeder politischen Praxis. Spezifisch pazifistisch sind diese beiden Ansprüche aber nur, wenn bei Nicht-Pazifisten weder die Fähigkeit praktischer Friedenspolitik noch der Wille dazu angenommen werden kann. Das „Neue“ des pazifistischen strategischen Ansatzes ist „die Ablösung der allein aufs Militärische ausgerichteten Interventionspolitik der westlichen Industrienationen durch eine Gewalt vermindernde Friedens- und Gerechtigkeitspolitik.“ (Wolff 2003: 211).
Entscheidend ist für die friedenssichernde Qualität der ethischen Argumentation, dass die paradoxe Natur der Friedensproblematik Beachtung findet. Das ist der Fall in einem Reflexionskontext, der die Ansatzhöhe einer Beobachtung 2. Ordnung, der kritischen Beobachtung von Beobachtungsweisen, gewinnt. So verfahren moralphilosophische Ansätze, die nicht bloß eine adäquate und gute Problemlösung vorstellen, sondern umgekehrt die angebotenen Legitimitätskonstrukte auf die Haltbarkeit ihrer Argumente hin überprüfen.249 „Die wirkliche Frage ist nicht mehr, ob das Zielen auf Nicht-Kombattanten unmoralisch ist (das ist es), sondern wie sich „Kollateral“-Schäden und die Tötung von Nicht-Kombattanten rechtfertigen lassen.“ (Coady 2003: 78). 248
Auch Dietrich Bonhoeffer ist von seinem konsequenten Pazifismus („Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit.“ In: Bonhoeffer 1965: 140ff.) angesichts der Hitler-Diktatur abgerückt (Widerstand und Ergebung. Neuausgabe. München 1970). 249 Diese Vorgehensweise dominiert in den Sammelbänden von Bleisch/Strub (2006) und von Meggle (2003, 2004).
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6.2 Probleme politisierter Religion 6.2.1 Die Instrumentalisierung der Liebe Die Delegitimierung der Gewalt folgt außerhalb einer kleinen Gruppe „konsequenter“ oder „radikaler“ Pazifisten, die personelle/militärische Gewalt auch im Verteidigungsfall ablehnen, einem mixtum compositum zweckrationalem Kalkül – dieses lässt gewaltlosen Mitteln den Vorzug geben – und einem religiösen Glauben in die „Kraft der Liebe“.250 Soweit auf die Überlegenheit sog. „gewaltloser Mittel“ gesetzt wird, kommen Effizienzgesichtspunkte ins Spiel, die eine Festlegung auf bestimmte Mittel im Einzelfall verwehren, wenn die Kraft der Güte, Liebe und des Diskurses ergebnislos geblieben sind. In diesem Fall werden im allgemeinen sprachliche Korrekturen vorgenommen, die bevorzugte, bzw. aus religiösen Gewissensgründen allein akzeptierte, Methoden in die Semantik der „Nicht-Gewalt“ einordnen lassen. Wenn die säkulare Variante des Pazifismus durch die neue Bedrohungsperzeption und die nach 1989 neu entstandenen weltpolitischen Gestaltungschancen als überlebt empfunden wird, so kommt bei der religiösen Spielart noch hinzu, dass politisch relevante Religion seit dem 11. September überwiegend in einen Zusammenhang mit fundamentalistisch motivierter Gewaltbereitschaft gestellt wird. Das Projekt von Mahatma Gandhi und Martin Luther King, Nächsten- und Feindesliebe zu politisieren, rechnet mit der Möglichkeit, genau jenes Gewaltpotenzial durch eine Verpflichtung der Mitglieder auf gewaltlose Methoden in ein Potenzial zur Versöhnung verwandeln zu können, das mit der Instrumentalisierung des Religiösen für politische Zwecke mitunter freigesetzt wird. Die friedens- und konflikttheoretischen Bedingungen dieser „paradoxen Intervention“ (Laing 1972) und deren Anwendung zum Zwecke der Förderung „nichtgewaltsamer Konfliktaustragsformen“ sind bisher nicht erforscht. Die Frage, ob und unter welchen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen politisierter Glaube einmal gewaltfördernd und ein anderes Mal gewalteindämmend wirksam sein kann, muss angesichts der „Wiederkehr des Religiösen“ (Küenzler 2003) beantwortet werden. Denn die Botschaft des christlichen Religionsgründers bietet kein Strategiekonzept der politischen Druckausübung – Nichtkooperation, Steuerboykott, Sitzstreik – an, sondern lediglich eine spirituelle und darin praxisbezogene Orientierung („die andere Wange hinhalten“) des Umgangs mit der Unterscheidung von Menschlich/Übermenschlich (Göttlich), Immanenz/Transzendenz. Die in Bezug auf den Topos „nichtgewaltsamen Konfliktaustrags“ zu beantwortende Schlüsselfrage, ob es eine gute und eine schlechte Instrumentalisierung des Religiösen geben könne, muss sich zunächst dem immanenten Widerspruch zuwenden, den die instrumentell verstandene „Kraft der Liebe“ produziert.251 Denn der Sinn 250
Zum Versuch einer therapeutisch-pazifistischen Interpretation siehe Antoch (1999: 58ff., 73ff.). Bei den Kritikern der Friedensbewegung der 1980er Jahre wird die Instrumentalisierung des Christentums eher vor dem Hintergrund einer sehr schlichten Bewertung der politischen Verhältnisse
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des Liebes-Gebotes liegt gerade in der selbstlosen Zuwendung und damit im Verzicht auf das Zweck/Mittel-Kalkül. Unklar ist, ob die Nutzung dieses Gebots für einen „guten Zweck“ die Mittelwahl nicht in eine Abhängigkeit vom Zweck treibt, die es kaum noch möglich macht, den Märtyrertod nur als Selbstopfer zuzulassen und nicht gegebenenfalls als Gemeinschaftsopfer zu verlangen, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind. Eine Friedens- und Konfliktforschung, die Möglichkeiten und Grenzen nichtgewaltsam/ziviler Konfliktlösungsmethoden auszuloten sucht, sollte sich diesem zentralen Thema der ethisch-moralischen Grenzverflüssigung von „Märtyrer“ und „Selbstmordattentäter“ im Rahmen politisierter Religion zuwenden. Diese spezielle Frage, ob es eine gute und eine schlechte Instrumentalisierung des Religiösen geben könne, oder ob nicht die Politisierung des Religiösen dieses zu Fundamentalismus und darin und somit zu gewaltgeneigten Phänomen mache, bringt die Unterscheidung von Operationalisierung und Instrumentalisierung ins Spiel. Anders als im Falle der oben behandelten Kriegsphilosophien geht es nun nicht um eine Lehre, sondern um Religion. Letztere bedarf in einer Studie über den Pazifismus allerdings nur dann einer gesonderten Behandlung, wenn Religion mehr ist als eine Erzählung unter anderen Erzählungen, wie eine postmoderne Lesart im Anschluss an Jean-Francois Lyotard (2005) nahe legt. Um dieser unter wertrelativistischen, pluralistischen und metaphysikkritischen Bedingungen kaum zu widerlegenden Behauptung aus dem Weg zu gehen, soll versucht werden, das Konzept der Non-Violence bei Gandhi an der Stelle zu fassen, an der es nicht mit moralischer Unterscheidung und moralischer Kommunikation gleichgesetzt werden kann. Insofern unterscheidet sich dieser vom vorangegangenen Abschnitt, der moralische Beobachtungsweisen ins Visier genommen und in diesem Zusammenhang auch religiös argumentierende Pazifisten hatte zu Wort kommen lassen. Was die erwähnten Pazifismen allerdings auszeichnete, bezog sich auf die Unterstützung bestimmter als pazifistisch bewerteter moralischer Positionen mit Hilfe religiöser Denkfiguren. Als Erzählung oder Text wird Religion von postmoderner Seite im Hinblick auf die in ihr erhobenen Geltungsansprüche relativiert. In dieser Bedeutung einer höherstufigen, oder einer Reflexionstheorie der Moral, ist aber die Religion in ihrem Verhältnis zum Pazifismus nicht hinreichend erfasst. Wie an verschiedenen Beispielen gezeigt werden konnte, sind religiöse Argumente in dieser Funktion einer höherstufigen Moral in der Lage, alle Richtungen zu unterstützen, das radikalpazifistische ebenso wie das Ultima-ratio-Denken. Und diese Funktion ist es auch, die Religion um der Durchsetzung von „Werten“ willen instrumentalisieren lässt. Anders stellt sich die Frage nach der Operationalisierung einer religiösen Lehre, die die Belange des Anderen in den Mittelpunkt einer durch sie geförderten Moral rückt. nach dem Schema Utopisch-Realistisch zurückgewiesen. Die verhängnisvollen Auswirkungen utopischer Lagebeurteilung führt Manfred Hättich (1983) sogar dazu, die Instrumentalisierung des Christentums für den Krieg unter der Aufschrift „Gott für uns“ mit derjenigen für den Frieden des „Damaskus-Erlebnisses“ als pseudoreligiöse Erweckungsbewegung gleichzusetzen.
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Interessanterweise findet sich bei Gandhi kein solches Religionsverständnis, das moralischen Vorstellungen durch religiöses Wissen zusätzliches Gewicht zu verleihen sucht. Gerade die Tatsache, dass Gandhi aus einem hinduistischen Kulturkreis kommend ein Ferment praxisrelevanter Religiosität für alle Kulturen gedacht und vorgelebt hat, macht ihn noch heute zu einer herausragenden Gestalt auch für eine zusammenwachsende Weltbevölkerung.252 Was Gewaltfreiheit im Denken Gandhis meint, lässt sich aus den Schlüsselbegriffen des Satyagraha253 und des Ahimsa entnehmen. Diese beiden Begriffe bilden gewissermaßen das theoretische Gerüst, in das die korrespondierenden Begriffe der praktischen Umsetzung, die Non-Violence und die Non-Kooperation einzufügen sind. Dieser Ansatz Gandhis wird sehr bedacht erst am Ende der vorliegenden Abhandlung eingehender behandelt, da wir die Ausführungen über die postmoderne Metamorphose des Pazifismus benötigen, um das Konzept Gandhis verstehen zu können. Denn Gandhi hat als Initiator und Inspirator des Pazifismus in einer Zeit gewirkt, in der das, was heute als postmoderner Verlust des Glaubens an religiöse und an säkular- aufklärerische Überzeugungen bewusst ist, mit Charles Darwin und Friedrich Nietzsche einsetzt.254 Die metaphysikkritische Zersetzung religiöser und aufklärerischer Moral hatte die Menschenrechte diskreditiert, dem puren Machtinteresse der Kolonialherren geopfert. Die besondere Verbindung von Religion und Politik findet bei Gandhi in seinem Kampf gegen die Unmenschlichkeit der englischen Kolonialherren in Südafrika und der Briten in Indien durchaus auf dem Hintergrund eines europäischen Bewusstseins statt. Dieses hatte sich von den humanitären Idealen der Aufklärung distanziert und hatte dem Prinzip der evolutionären Auslese ebenso wie dem Freund/FeindDenken des emporkommenden Nationalismus gehuldigt. Insbesondere aber ist es das technische Denken, dem Gandhi mit seinem religiös verstandenen Praxisverständnis eine Absage erteilt. Die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind eine Hochzeit für sozialtechnische Entwürfe, mit denen Mensch und menschliche Angelegenheiten zum Gegenstand von Verwaltung und Gestaltung herabgewürdigt werden.255 252
Siehe zur Autobiographie Gandhi (2001). Zur Herausforderung des Satyagraha für die empirische Wissenschaft siehe Albert Fuchs (1999: 116ff.); für die empirische Sozialpsychologie Ulrich Wagner (1999: 78ff.). Zur Interpretation des Begriffs als Gütekraft siehe Arnold/Knittel (1999), als Kraft der Gerechtigkeit, Liebe und Gewaltfreiheit siehe Berndt Hagen (1999: 42ff.). 254 Das Studium der Rechtswissenschaft in London und die starken europäischen Einflüsse müssen bei Gandhi als prägender Rahmen seiner Grundüberzeugungen gesehen werden. Dazu gehört auch die Berührung mit Denkern der sozialistischen Fabian Society (Marx, Darwin, Morris, Kropotkin). Gandhi selbst nennt als wichtigste westliche Einflüsse Henry David Thoreaus Schrift „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (1848/49), John Ruskin, einen englischen Sozialphilosophen, der 1862 eine christlich begründete Wirtschaftsutopie („Unto this Last“) begründet, Leo Tolstoj und die Bergpredigt. Siehe Gernot Jochheim 1987b: 114f. 255 Die Natur dieses technischen Denkens in ihrem Verhältnis zur Gewalt beschreibt George Sorel in 253
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Angesichts dieser Geistesverfassung, die den Humanismus der Aufklärung zu überwinden sucht, um die Welt nach dem Schema von höher- und minderwertigem Leben neu zu ordnen, war es kaum möglich, bei den europäischen Kolonialstaaten an eine Moral zu appellieren, deren Bindekraft zunehmend im Begriff war verloren zu gehen. Was infolgedessen bei Gandhi aktiviert wird, ist ein vormoralisches religiöses Bewusstsein, das er ausdrücklich als ein Bewusstsein für die paradoxe Konstitution moralischer Gebote und Verbote versteht. Das zeigt sich bereits im Begriff der Gewaltlosigkeit, die nach dem Zeitgenossen und Schüler Gandhis, Oskar Ewald (1930: 30) sehr viel mehr eine Übersetzung für Satyagraha (Wahrheit) als für Ahimsa (Nichtverletzen) ist. Satyagraha sei am treffendsten mit „Gewalt des Geistes“256 zu übersetzen, und zwar aus dem Grund, weil in dieser Übersetzung das Paradoxe257 zum Ausdruck kommt. Wer meint, gutes von schlechtem Handeln mit Sicherheit unterscheiden zu können, bedarf keiner Reflexion auf jene tieferliegende Ebene des Unterscheidens von Einheit (Vollkommen) und Differenz (Unvollkommen), die Religion ins Spiel bringt. „Gewalt des Geistes“ ist als paradoxes Phänomen grundverschieden von körperlicher und seelischer Vergewaltigung und sie ist dennoch Gewalt, weil sie eine Ordnung zu beseitigen anstrebt, von der manche Menschen profitieren. Auch wenn eine große oder relevante Anzahl von Menschen unter dieser Ordnung leiden, so weiß sich diese Methode der Gewaltlosigkeit im Sinne einer „Gewalt des Geistes“ nicht einfach auf der positiven Seite des Moralschemas. Sie unterscheidet sich darin grundlegend von allen Revolutionsmodellen, die dem Kämpfer für Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlstand jeden Zweifel nehmen, dass sein Handeln gut und gerechtfertigt ist. Gewaltlosigkeit ist damit nichts Negatives, Untätigkeit oder Stillstand, sondern etwas Positives und Aktives: „Die Weisheit, die sich da offenbart, ist eine im Wortsinn paradoxe, das heißt, eine gegen unsere gewöhnliche Meinung verstoßende; sie kehrt die Verhältnisse der vulgären Logik um. Von solchen Paradoxien ist die Sprache der Religionen voll.“ (Ewald 1930: 31).
Zur Veranschaulichung wird das Wu-Wei der alten Lehre Laotses angeführt, in dem das Nichts-Tun als Idealzustand einer durchaus aktiv zu deutenden Tat gepriesen wird, die im Gegensatz zur modernen blinden Vielgeschäftigkeit „Selbstbezeugung“ meine. „Über die Gewalt“ von 1928 (1969). 256 „Kraft der Wahrheit“ ist eine häufige Übersetzung, die das Moment der Durchsetzung und Wirkung dem rationalistischen europäischen Denken konform überbetont. Gandhi selbst (1928: 169) führt auch die Übersetzung Tolstojs „Seelenkraft“ oder „Liebeskraft“ als gleichsinnig an. Wichtig ist die paradoxe Art der Wirkung, die das empirisch-analytische Wahrheitsverständnis der okzidentalen Moderne nicht zum Ausdruck bringt. Siehe zu diesem Problem Brücher (1999: 122ff.). 257 Gewaltlosigkeit heißt deshalb nicht schon „Vermeidbarkeit von Gewalt“: „Im Leben kann man Gewalt nicht völlig vermeiden. Es fragt sich nur, wo die Grenze verlaufen soll, und sie ist nicht für jeden dieselbe. Wohl ist das Prinzip im Wesen eins, doch jeder wendet es auf seine Weise an.“ (Gandhi, Harijan, 9.6.1946).
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Gleichsinnig wird auch das Gebot der Bergpredigt angeführt „dem Bösen nicht zu widerstreben“, was zunächst als Aufforderung zur Passivität, zur fügsamen Unterwerfung, missverstanden werden kann. Diese Aufforderung besage jedoch allein, „daß man das Böse nicht mit Bösem , sondern mit Gutem, den Haß nicht mit Haß sondern mit Liebe – jedenfalls aus der Liebe – beantworte.“ (Ewald 1939: 31f.).
In der gleichen Weise ist die Aufforderung gemeint, noch die andere Wange hinzuhalten, wenn man geschlagen wird. Bei Paulus (Römer 12, 21.) lautet die Deutung: „Begegne dem Bösen nicht in seiner eigenen Sphäre, sondern begegne ihm von oben her, vom Reich des Guten her. Begegne nicht der Gemeinheit mit Gemeinheit, der Lüge mit Lüge, dem Haß mit Haß, der Selbstsucht mit Selbstsucht, der Gewalttat mit Gewalttat, sondern begegne der Gemeinheit mit Adel, der Lüge mit Wahrheit, dem Haß mit Liebe, der Selbstsucht mit Hingabe, der Gewalttat mit der Würde des Geistes.“258
Ausgehend von einem moralischen und einem zweckrationalen Denken ist es naheliegend, das Liebesgebot völlig losgelöst vom paradoxen Befund zu interpretieren und „Liebe“ gewissermaßen als effizientes Mittel politischer Interessendurchsetzung zu konzipieren. Das ist eine Falle, in der sich an Gandhi orientiertes pazifistisches Engagement von Beginn an verfangen hat. Das Nichts-Tun Laotses und die Unterbrechung der Gewaltspirale durch Liebe haben hingegen den Umgang mit einer Paradoxie gemein, die verhindert, dass sich das Gute einfach durchsetzen lässt. Das bloße Durchsetzen ist durchsetzt von einer Gewalt, die verhindert, dass mit dem eigenen Engagement allen geholfen wird; denn es gibt keine Ordnung, die allen in gleicher Weise schadet. Wenn also „Liebe“ zur Unterbrechung der Gewaltspirale empfohlen wird, so markiert die „Liebe“ genau jenen Zweifel in die Besserung der Verhältnisse durch die bloße Abschaffung oder Bekämpfung (personeller Gewalt) der schlechten Verhältnisse (struktureller Gewalt). Da selbige eben nicht für alle schlecht sind, werden die Profiteure ihre eigene Gewalt als Gegengewalt legitimieren können und damit durchaus Zustimmung ernten. Die „Negation“, die „Abschaffung“ und „Beseitigung“ mag die äußere Gestalt der Unrechtsverhältnisse ändern, aber sie ändert nichts an denselben im Prinzip. Dieses Andere der Gewalt, das mit „Liebe“ umschrieben wird, unterbricht diesen Kreislauf nun jedoch allein aus dem Grund, weil hier ein Bewusstsein genau jener Paradoxie in das Handeln einfließt, die einer Verwirklichung gerechter Verhältnisse im Wege steht. Der Liebende weiß im Gegensatz zum Macher von der Tatsache, dass nichts nur schlecht ist, dass vielmehr dieses „Schlechte“ in mancher Hinsicht und für manche Menschen im Gegenteil „Gut“ ist. Wer im Horizont dieses Wissens sich für das einsetzt, von dem er überzeugt ist, es sei notwendig, der wird seine Feinde nicht hassen, weil er sie versteht. 258
Zitiert bei Leonhard Ragaz (1930: 58).
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Auch das besondere Schuldempfinden und der praktische Umgang mit demselben rühren aus diesem Verständnis des Satyagraha. Gandhi hat für alle Vergehen, die von seinen Volksgenossen im Namen der Sache begangen wurden, die Schuld auf sich genommen und hat sich harter Bußen und hartem Fasten unterzogen. Nur von dieser Grundtatsache der paradoxen Konstitution des Zwischenmenschlichen aus, sind auch die anderen Schlüsselbegriffe Gandhis verständlich. Ohne diesen Zusammenhang erschließt sich dessen Bedeutung nur den Anhängern eines religiösen Glaubens, der Menschen ohne solche Ambitionen nichts sagen kann. Dieses Schisma von religiösem und nichtreligiösem Pazifismus konnte nur bestimmend werden, weil ausschließlich die religiöse Semantik beachtet, aber nicht der dahinter stehende Sinn verstanden wurde und wird. Gerade an einer Verbindung von Religion und Politik, wie sie von Gandhi propagiert worden ist, lässt sich jedoch jenes formlogische Verständnis des religiösen Phänomens exemplarisch machen, wie es von einem systemtheoretisch-funktionalistischen konfessions- und religionsunabhängigen Zugang aus deutlich wird. Diese unhintergehbare sinnkonstituierende Funktion wird hier als „Generieren von Formen“ beschrieben. Was Luhmann (1996: 7) mit diesem Begriff zum Ausdruck zu bringen sucht, ist das Faktum, dass jedes Unterscheiden auf Kriterien zurückgeht, die ihrerseits wieder auf Unterscheidungen beruhen, sodass Begründungen keinen Halt in einem letzten Grund finden. Als Chiffre für nicht zu begründendes Begründen und damit für den infiniten Regress, in den jede Rechtfertigung gerät, und damit für „Ewigkeit“, steht im Christlichen der Name „Gott“, im Islamischen „Allah“. Nimmt man nun diese differenztheoretische Beschreibungsebene als eine solche zum Ausgangspunkt, die nicht nur für religiöse, sondern auch für „religiös unmusikalische“ Menschen verständlich ist, dann kann man dieses Prozessieren von Formen gewissermaßen in aufsteigender Linie beschreiben und konkretisieren. Auszugehen ist von jener nicht mehr auf eine grundlegendere Unterscheidung rückführbare Differenz von Einheit (Vollkommenheit) und Differenz (Unvollkommenheit), um schließlich all die nachgeordneten, aber stets auf sie Bezug nehmenden Unterscheidungen zu berücksichtigen. In dieser aufsteigenden Linie, in der sich das Prozessieren von Formen ereignet, lässt sich der Wahrheitsbegriff Gandhis verorten.259 Vielleicht wird 259
Vor diesem Hintergrund gesehen werden Anknüpfungsmöglichkeiten an das rationalistische europäische Wahrheitsverständnis sichtbar, was in Umgehung dieses spezifischen Sinnkontextes zu Fehlurteilen verleitet. Ein experimentelles Moment kommt in den Begriff des Satyagraha dadurch, dass der Verzicht auf Zwangsmittel und damit „Gewaltlosigkeit“ auch als Test für die gesuchte Wahrheit dient. „Denn man kann Wahrheit nur herausfinden, wenn man gegenüber jenen, die für ein Unrecht verantwortlich sind, keine Gewalt anwendet. Tut man es, wird unklar bleiben, ob sich das gerechte Ziel – also Wahrheit – durchgesetzt hat oder ob lediglich die Angst vor den Folgen der Gewalt den Gegner zu Zugeständnissen bewogen hat.“ (Jochheim 1987: 115f.). Dieser „Test“ ist allerdings wie alle empirisch-analytischen falsifikationsfähig, denn – wie am Nachgeben der britischen Besatzer deutlich wird – kann psycho-sozialer Druck wie physische Zwangsmittel wirken, ohne das Bewusstsein des in seinem Verhalten Beeinflussten zu verändern.
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dieser Begriff überhaupt erst in der formlogischen Aufschlüsselung für eine säkulare Moderne verständlich und anschlussfähig. „Formlogisch“ meint in diesem Zusammenhang die Art und Weise, wie Unterscheidungen zur Bezeichnung von etwas Verwendung finden. Wahrheit bezieht sich im Verständnis von Gandhi auf die Verbindung von Theorie und Praxis. Deren Trennung wird geradezu als künstlich und wirklichkeitsfremd zurückgewiesen, ohne die Differenz einfach durch eine Einheit ersetzen zu wollen. Worum es geht, ist das paradoxe Zugleich von Einheit und Differenz. In diesem Wahrheitsverständnis steht die Christusgestalt für nicht eliminierbaren Praxisbezug aller kognitiven Operationen, um es modern auszudrücken, oder, in der Sprache der Bibel: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14,6). Dies bestimmt das historische Urteil über Gandhi, er sei kein Politiker der Macht, sondern ein Politiker des Geistes gewesen. Der Wahrheitsbezug wird in genau dieser Differenz augenfällig: Er enthüllt sich im Zusammenhang mit dem Impuls, aus dem Politik ins Spiel kommt. Hier werden mit Blick auf Gandhi zwei Typen von Menschen unterschieden. Der eine wählt die Politik, da er die mit dem Politischen verbundene Macht anstrebt. Der andere sieht sich in einem politischen Spannungsfeld, aus dem er sich nicht befreien kann und das ihm eine politische Tätigkeit als Reaktion auf die wahrgenommenen Missstände aufzwingt. Dieser zweite Typus, der von Politik gewissermaßen heimgesucht wird, weil er sich genötigt sieht, auf die politisch erzeugten und politisch geduldeten Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten zu reagieren, folgt nicht einem Machtimpuls, sondern einem Impuls, der aus dem Geistigen entspringt.260 Dieses praktisch oder politisch gewordene Geistige wäre Wahrheit im ursprünglichen Sinne des Wahr-Werdens einer Idee oder eines Projekts. Ewald (1930: 27f.) betont, Gandhi habe sich weniger aus Neigung und Anlage, als aus Pflicht und Berufung mit Politik beschäftigt. „Wenn ich an der Politik Anteil zu nehmen scheine, so geschieht es nur, weil sie uns heute alle umfängt wie Windungen einer Schlange, aus denen wir uns trotz aller Anstrengungen nicht befreien können.“ In diesem reaktiven Politikverständnis wurzelt auch der Bezug zur Religion als Widerstand und Befreiungsakt: „Ganz eigensüchtig, weil ich wünschte, inmitten heulender Stürme in Frieden zu leben, habe ich bei mir selbst und bei meinen Freunden versucht, Politik mit Religion zu verbinden. Mit Religion meine ich nun nicht die der Hindus – die ich allerdings höher stelle als alle Religionen – sondern ich meine die, die über allen Hinduismus hinausgeht, die den Menschen bis in die Tiefen der Seele verändert und darum unablässig läutert.“261 260
Was hier an Gandhi prototypisch beschrieben wird, findet sich in allen Epochen. Die herausragende Bedeutung Gandhis ergibt sich – das muss immer wieder betont werden – aus dem Erfolg seiner Aktionen. Für den nationalsozialistischen Widerstand ist Dietrich Bonhoeffer diese herausragende Gestalt, der allerdings das Prinzip der Gewaltlosigkeit der Bergpredigt als „Widerstehen bis aufs Blut“ (siehe Manfred Wichtelhaus 1987: 204ff.) auch unter Einbeziehung der Tradition des Tyrannenmordes interpretiert. 261 Zitiert aus „Jung-Indien“ nach Ewald (1930: 28).
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Die aufsteigende Linie vom Abstrakten zum Konkreten zeigt sich sehr deutlich in jenem Wahrheitsbegriff Gandhis, der das Praktischwerden der Theorie, oder die von geistigen Impulsen ausgehende Praxis, zum Ausdruck bringt: „Einem hungernden und darbenden Volke darf sich Gott in keiner anderen Gestalt zeigen, als in der von Arbeit und Arbeitslohn.“262
Der Versuch, den Begriff des Satyagraha in eine moderne Sprache zu übersetzen, hat bereits Gandhis Ansatz als einen solchen sichtbar gemacht, der die Gefahren politisierter Religion nicht ignoriert, sondern selbigen gerade „aus dem Geist“ zu wehren sucht. Damit konnten wir aber noch nicht den Sog von der Hand weisen, der von der Politisierung selbst ausgeht, die notwendig machtgetragene Kommunikation ist. Die Macht bleibt auch dann der erste Zweck des Politischen, wenn dessen Sinn als gemeinwohlorientiert konzipiert ist. Denn um dieses Gemeinwohl verwirklichen zu können, bedarf es jener Macht, die immer gegen die Ansprüche anderer potenzieller Machthaber erkämpft werden muss. Martin Buber (1930) arbeitet diesen Widerspruch von Politik und Religion bei Gandhi heraus, ohne aus ideologischen Gründen zu einer vorschnellen Auflösung kommen zu wollen. Es sind die orientierungsleitenden Unterscheidungen, die in Politik und Religion grundverschieden und nicht aufeinander reduzierbar sind: „Religion meint Ziel und Weg, Politik Zweck und Mittel. Der politische Zweck ist dadurch gekennzeichnet, daß er – eben im „Erfolg“ – erreicht und sein Erreichtsein historisch verbucht wird. Das religiöse Ziel bleibt auch in den höchsten Erfahrungen dem sterblichen Weg das schlechthin Richtungsverleihende, es geht nie in geschichtliches Gewordensein ein.“ (Buber 1930: 163).
Die Einführung der Politik in die Religion, Religionspolitik also, verknüpft nach Buber die religiöse Tat mit politischem Erfolg. Um diesen zu erzielen, bedürfe es aber jener Ausnutzung der menschlichen Leidenschaften als einer Fähigkeit, die erfolgreiche Politiker beherrschen. Auf Überredung gegründete Gefolgschaft benötigt nicht überzeugungsbasierte Freiwilligkeit, auf die Gandhis Konzept der Gewaltlosigkeit angewiesen ist. Hier sieht Buber einen schwer auflösbaren Widerspruch, gegen den selbst Gandhi nichts hätte ausrichten können. Denn viele seiner Anhänger erlagen mehr seinem Charisma als dass sie innerlich jene Metamorphose durchlebt hätten, ohne die es für Gandhi keine Erneuerung Indiens geben konnte. Um in seinem Sinne wirken zu können, durfte Gandhi mithin nicht die Politik in die Religion einführen. Er musste umgekehrt verfahren und Religion auf eine Weise praktizieren, die zu politischen Veränderungen führt. Das aber bedeutete, auf die spezifischen Methoden verzichten, die der Politik zum Erfolg verhelfen und mehr 262
Zitat nach Ewald (1930: 29).
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noch, dem Erfolgsdenken selbst abzuschwören. Damit sind wir bei der in der Therapie praktizierten Methode der „paradoxen Intervention“. Die Überredung Gandhis geht den Weg über deren Verzicht und dessen Gefolgschaft beruht auf der steten Abwendung in den Akten der Askese und Selbstkasteiung. Buber sieht in diesem Widerspruch freilich ein Moment der Tragik und wittert nicht das geschulte Hyperraffinement, das der Pragmatismus seit William James bis heute zu vermuten geneigt ist. Diese Art des Engagements ist einzig mit seinem Wahrheitsverständnis vereinbar, das jede Veränderung als flüchtig und nichtig ansieht, die nicht aus vollkommener Einsicht und Freiwilligkeit heraus erfolgt. Alle auf Gewalt oder Zwang beruhenden Veränderungen – und Manipulation ist eine Form psychischen, wenn auch unbewussten, Zwangs – werden durch Veränderungen hinweggespült, die neuer Zwang bewirkt. Mit dieser Forderung jedoch, dass sich der Mensch selbst ändern müsse, um die Welt um ihn herum ändern zu können, setzt Gandhi nur ein Projekt fort, um das sich alle Religionsgründer und -erneuerer immer wieder bemüht haben. Könnte es mithin so etwas wie die Bekehrung zu einer religiösen Lehre, zumindest in deren politischer Form geben, wie Buber (1930: 167) die Paradoxie ausdrückt. In der religiösen Lehre bliebe Gewaltlosigkeit der Weg zum Ziel, auch wenn sie als Mittel zum Zweck versagt und ihre Wirkung würde sogar auf dieser Unangreifbarkeit durch Widerstände beruhen, die dem Politischen längst zum Verhängnis geworden wären. Weil die Paradoxie selbst kaum in politische Kalkulation rückübersetzt werden kann, ist die Gefahr groß, dass die Kategorien vermischt werden und das Ziel zum Zweck, der Weg zum Mittel wird. Buber löst für sich selbst diese Paradoxie im „dialogischen Prinzip“ auf.263 Die Irreduzibilität der beiden Sphären des Politischen und des Religiösen, die in der besonderen Art des unterscheidenden Bezeichnens zum Ausdruck kommt, hat nicht nur diese paradoxe tatphilosophische Seite. Es sind nicht nur die Einschränkungen zu berücksichtigen, die einem auf übliche politische Methoden und auf erfolgsorientiertes Handeln verzichtenden Modell der Einwirkung und Umgestaltung zu schaffen machen. Das will sagen: Schwierigkeiten sind nicht nur im Hinblick auf die Bemühungen der Anhänger der Gewaltlosigkeit zu verzeichnen. Es muss auch die andere Seite, die der Politik, zur Sprache kommen. Der Verzicht auf übliche politische Methoden macht es der Politik nämlich unmöglich, Aktivisten in der eigenen politischen Sphäre zu begegnen, die aus jener anderen Sphäre heraus Politik betreiben. Gerade wenn die Kategorien nicht vermischt werden, bleibt die Politik machtlos angesichts eines politischen Engagements, das außerhalb des Machtmediums operiert.264 Es ist deshalb nicht nur die Perspektive der Gandhi-Anhänger zu berücksich263
So zuerst in Martin Buber, „Ich und Du“, Leipzig 1923. Im Rahmen seiner metaphysischen Anthropologie muss der Bezug zum Anderen immer jenseits aller Zweck/Mittel-Orientierung bleiben. Sein Verhältnis zur Gewaltlosigkeit als politisches Prinzip ist nicht nur von Gandhi beeinflusst, sondern zunächst von dem deutschen, der Gewaltlosigkeit verpflichteten, Anarchisten Gustav Landauer. 264 Das gilt auch für die auf den Prinzipien der Feindesliebe und der Selbstopferung beruhenden Me-
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tigen, sondern auch diejenige des politischen Umfeldes, in dem die Methode der Non-Kooperation seine Wirkungen entfalten soll. Denn wer sich politisch betätigt, von dem wird erwartet, dass er sich jenes Mediums bedient, innerhalb dessen politisch kommuniziert wird. Niklas Luhmann (1975) hat Macht als korrespondierendes Kommunikationsmedium der Politik herausgearbeitet: Damit ist eine besondere Art der selektiven Wahrnehmung der anfallenden Probleme unter dem Blickwinkel ihrer Relevanz für Machtfragen angesprochen. Wer politisch kommuniziert, ohne sich des für Politik kennzeichnenden Kommunikationsmediums zu bedienen, der tritt aus dem politischen System aus, ohne dieses zu verlassen. Er treibt Politik mit einem artfremden Medium, nämlich dem des Glaubens. Das machte und macht die Gandhi-Anhänger noch heute für das politische System weit gefährlicher als es säkulare Pazifisten je sein könnten. Denn die religiöse Dimension des Steuerboykotts ist gleichwohl darin politisch, dass sie die Sphären selbst voneinander in einer Weise trennt, die nicht im Interesse der Machthabenden sein kann. Es geht um die Definition dessen, was des Kaisers und was Gottes ist, die Gandhi eben nicht den Politikern überlassen möchte. Denn wenn auch richtig sein mag, dass Macht das Medium darstellt, innerhalb dessen politisch Handelnde in einer säkular verfassten Gesellschaft miteinander kommunizieren und Einfluss nehmen, so heißt dies noch nicht, dass es die Politiker sind, die die Grenze zwischen dem politischen und anderen Subsystemen der Gesellschaft ziehen. Damit bleibt offen, ob die Verteilung von Armut und Reichtum, die Verteilung von Arbeit und Arbeitslosigkeit, von gesellschaftlichen Privilegien und Unterprivilegierung, eine pure Machtfrage ist, z.B. vom Wahlmechanismus geregelt wird, sodass man sagen könnte, die Gesellschaft entscheide sich mit der Wahl von bürgerlichen oder sozialistischen Parteien für ein bestimmtes Verteilungsmodell. Mit gleichem Recht konnte Gandhi davon ausgehen, dass es sich hier nicht um Macht-, sondern um Glaubensfragen handelt, die immer nach dem Menschenbild entschieden werden, die den gesellschaftlichen Regelungen von Über- und Unterordnungsverhältnissen zugrunde liegen. Im Kern geht es mithin um Kompetenzstreitigkeiten, die im Grenzbereich zwischen den Subsystemen ausgetragen werden, im Falle Gandhis, zwischen politischem und religiösem Bereich. Kompetenzstreitigkeiten aber können nicht über das Machtmedium entschieden werden, denn dazu müsste die Allzuständigkeit des Politischen feststehen, was in modernen funktional differenzierten Systemen gerade nicht der Fall ist. Wir nähern uns dem Kernstück dieses letzten Kapitels, indem wir den Begriff der Non-Kooperation ins Visier nehmen. Denn dieser Begriff meint „die konsequente Weigerung, sich thoden gewaltfreier Aktion, die Jean Goss und Hildegard Goss-Meyr in ihrem Kampf gegen Unrechtsregime, besonders gegen lateinamerikanische Diktaturen propagiert haben. So wird die gewaltfreie Bürgeraktion im Algerienkrieg von ihnen ebenso unterstützt wie 1977 der Kampf der Bolivianischen Bergarbeiterfrauen gegen die Militärdiktatur General Banzers. (Goss/Goss-Meyr 1983).
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an einem System zu beteiligen, das man aus sittlichen, religiösen, geistigen Gründen verwirft.“ (Ewald 1930: 37). Bereits die frühen Christen wurden aufgrund dieser Haltung, die durchaus nicht nur ein Unterlassen, sondern auch aktives aufständisches Tun impliziert, verfolgt. Auch im Mittelalter findet sich diese Form der aktiven Systemkritik bei dem Tschechen Chelschitzky, einem Zeitgenossen von Johannes Huß, der im fünfzehnten Jahrhundert das Prinzip der Non-Kooperation in ein System gebracht hat. Zu nennen ist auch die Gründung eines Quäkerstaates in Amerika durch William Penn, dessen Mitglieder im Ersten Weltkrieg zu Tausenden den Waffendienst verweigerten. Gandhi seinerseits wurde über Tolstoj und das Gespräch mit britischen Christen von der Bergpredigt beeinflusst. Es geht in all diesen Fällen um Systemveränderung, die bei Gandhi im Wesentlichen aus folgenden Aktivitäten und Forderungen besteht: Non-Kooperation, Wiederbelebung der Handarbeit durch die Charkha (die englische Baumwollindustrie hatte das einheimische Handwerk zerstört und damit zur Verarmung der indischen Bevölkerung beigetragen), Hindu-Mohammedanische Einigung, Aufhebung des Fluches der „Unberührbarkeit“, der sogenannten Kastenlosen.265 Die Schwierigkeit, eine aufgewiegelte Menge auf gewaltlose Methoden zu verpflichten, lässt auch heute den Pazifismus in den Augen der Verfassungshüter und Ordnungskräfte gefährlich erscheinen. Im Prozess der englischen Regierung gegen Gandhi im Jahre 1922 wurde dieser für den blutigen Aufruhr seiner Landsleute verantwortlich gemacht und musste eine Gefängnisstrafe von sechs Jahren verbüßen. Die Non-Kooperation ist freilich, solange sie sich dem Geiste Gandhis verschrieben hat, selbst in ihrem systemsprengenden Effekt, dem „Prinzip der Gewaltlosigkeit“ verpflichtet. Aber die Schwierigkeiten, den Begriff der Gewalt substanziell zu verstehen, indem nur bestimmte Formen der Verletzung unter diesen Begriff fallen, ist nicht erst heute ein Problem. Die Auffächerung des Gewaltbegriffs in personelle, strukturelle, symbolische, kulturelle und systemische266 schiebt das Urteil demjenigen zu, der sich als Opfer von Verletzung oder von Benachteiligung sieht. Dieser Jemand ist heute im Westen der Staat und das mit selbigem identifizierte Mitglied der „westlichen Wertegemeinschaft“, aber auch alle übrigen sich globalisierenden Subsysteme. Auf diese Weise ist Gewalt eine Operation, die vom Handelnden kaum vermieden werden kann, liegt es doch im Ermessen des Anderen zu beurteilen, ob eine Handlung von ihm als schädigend empfunden wurde oder nicht. Da die Schädigungsabsicht gegenüber den objektiven Wirkungen des Handelns nur insofern ins Gewicht fällt, als eine solche Absicht vom „Geschädigten“ unterstellt wird, können auch die kulturell-religiösen Appelle an gewaltloses Handeln nichts mehr ausrichten. Dieses Ausufern und Unscharfwerden des Gewaltbegriffs verändert heute nicht nur das strategische Denken auf Seiten der Systemgegner, sondern spiegelt sich auch im politischen und juristischen Diskurs über terroristische 265
Siehe dazu Ewald (1930: 38). Dies diagnostizierte Galtung schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Zur „systemischen“ Gewalt siehe Baecker (1996).
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Unterwanderung und Gefährdung der modernen störanfälligen Gesellschaft wider. Gewalt verschwindet als distinktes Phänomen, das objektivierbare Spuren hinterlässt, um zunehmend im Bereich des Potenziellen angesiedelt zu werden. Der potenzielle Terrorist, der Schläfer, wird durch erleichterte Haftbedingungen dem tatsächlichen Täter gleichgestellt, die kulturbedingte Gesinnung wird kriminalisiert und zum Straftatbestand aufgewertet. Unter diesen Bedingungen eines Gewaltbegriffs, der vornehmlich als Zurechnung auf eine Täterkonstruktion informativ wird und einem globalisierten Systemverständnis, das keine gesellschaftsstrukturellen Alternativen mehr, sondern nur noch Feinde der „westlichen Wertegemeinschaft“ kennt, mag dem Pazifismus eine andere Bedeutung zukommen als in einer Zeit, die sich noch nicht als „One world“ verstanden hatte. Der gewaltkritische Impuls des Pazifismus attackiert gerade in seiner Gandhischen Spielart nicht nur den kriegerischen Konfliktaustragsmodus, sondern auch das, was Galtung „strukturelle Gewalt“ nennt. Die Reaktion auf systembedingte Missstände ist neben der Non-Kooperation bei Gandhi auch die „civil disobedience“. Diese sind berufen, „im Kampfe gegen das ganze Reich der Gewalt, heiße es nun Militarismus, Etatismus, Kapitalismus oder sonstwie, eine ungeahnte Rolle zu spielen. Man denke nur an die Bedeutung, die ein wirklich durchgeführter Generalstreik beim drohenden Ausbruch eines Krieges, die Verweigerung der Herstellung von Munition und anderem Kriegs- und Militärmaterial in Friedenszeiten oder gar die massenhafte Verweigerung alles Kriegs- und Militärdienstes gewönne. Aber auch sonst könnten in einer Welt, die immer mehr unter die Herrschaft anonymer, menschenfeindlicher Gewalten zu geraten droht, gerade diese durch Gandhi geschmiedeten oder andere, in ähnlichem Geiste zu erfindende „Waffen der Bergpredigt“ den Schwächeren – seis ganzen Klassen – die Möglichkeit geben, sich jenen Gewalten zu widersetzen, ohne daß es wieder zu Gewalt und vielleicht gar zum Bürgerkrieg käme.“ (Ragaz 1930: 61f.).
Bezogen auf die heutige Situation drängt sich in besonderer Weise das Verhältnis der indischen Befreiungsbewegung zur europäischen Friedensbewegung auf.267 Dabei gibt es bei Gandhi keine Anknüpfung an den organisatorischen Pazifismus und damit eine Richtung, die sich in der heutigen weltgesellschaftlichen Situation als der einzig legitime Erbe der historischen Friedensbewegung fühlt. Aber es gibt vermittelte Bezüge, die das säkulare Friedensdenken Kants und das religiöse Gandhis im Begriff der Wahrhaftigkeit auf eine gemeinsame Grundlage stellen. Zum einen müssen wir 267
Die Verbreitung der Gedanken Gandhis im kontinentalen Europa der 20er Jahre geht zunächst auf die schriftstellerischen und publizistischen Tätigkeiten Romain Rollands zurück. Die Rezeption Gandhis findet allerdings auf dem Boden eines bereits existierenden Diskurses über Gewaltlosigkeit statt (Quäker, Menonniten, Tolstoj, holländische Marxisten und radikale antimilitaristische Bewegung um Bart de Ligt). Siehe Jochheim 1987b: 113. Für die Friedensbewegung der 80er Jahren des 20. Jh’s gilt nach dem Grünen-Politiker Winfried Nachtwei (2006: 305f.) dass sie „vor allem eine AntiRakenbewegung, nur zum Teil eine auf umfassende Friedenspolitik hingeordnete Bewegung und nur zum geringsten Teil eine Bewegung für stikte Gewaltfreiheit“ war.
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deshalb genauer nach der Verknüpfung der indischen Konzeption mit dem europäisch-amerikanischen Pazifismus fragen. Hier geht es vorrangig um das Konzept „sozialer Verteidigung“. Die Antwort auf diese Frage wird dann die Konturen für eine zweite, nämlich die Frage nach der neuen zeitgenössischen Relevanz Gandhis für die postmoderne Problemwahrnehmung liefern. Die mangelnde Aktualität Gandhis stellt sich als bloß vordergründiger Effekt einer Siegesgewissheit dar, mit der der liberalkapitalistische Westen nach der Auflösung des sozialistisch-planwirtschaftlichen Systems der ganzen Welt begegnet. Sobald jedoch bewusst wird, dass sich das okzidentale subjektphilosophische Menschen- und Weltbild nur durch die Konkurrenz von individualistischem (die Freiheit des Einzelnen betonendem) und kollektivistischem (die Solidarität mit den anderen hervorhebendem) System als ethisch-humanitäres Projekt der Aufklärung halten konnte, wird auch die Problemwahrnehmung eine andere werden. Da beide Regime aus demselben Impuls der Aufklärung hervorgegangen sind, bezog sich ihre Konkurrenz auch auf deren beiden Ziele, den technischen und den moralischen Fortschritt.268 Die moralische Rivalität um die Verwirklichung der Menschenrechte entfiel mit dem Ende des Ost/West-Konflikts. Allein die Rivalität bezüglich des technischen Fortschritts endete nicht mit dem Jahr 1989, gab es doch insbesondere in asiatischen Schwellenländern einen wirtschaftlichen Aufschwung, der sich auf Produktion und Entwicklung neuester Technologien erstreckt. Der um einen wesentlichen Teil verkürzte Fortschrittsgedanke führt zu dem, was Erhard Eppler die „Privatisierung der politischen Moral“ nennt. Damit ist die Entartung der Debatten gemeint, in denen statt der moralischen Qualität des Gesetzes die moralische Qualifikation der Gesetzgeber zum Thema wird. (Eppler 2000: 9). Bevor wir uns mit den Anknüpfungsmöglichkeiten des europäischen an das indische Befreiungsdenken beschäftigen, müssen die Konturen der moralischen Kommunikation noch schärfer gezeichnet werden. 6.2.2 „Civil disobedience“ und die „Privatisierung der Moral“ Die Entwicklung ist konzise und naheliegend: Die Neuzeit beginnt mit der Säkularisierung qua Privatisierung der Religion, womit das Ende des hierarchischen und der Aufbau eines neuen, des funktional differenzierten Gesellschaftssystems auf der Grundlage einer öffentlichen Moral einhergeht, die die Religion in ihrer sozialintegra268
Der Glaube an diesen Zusammenhang kennzeichnet besonders den organisatorischen Pazifismus, den Alfred Herrmann Fried als erster im Programm für die Deutsche Friedensgesellschaft 1907 aufzeigt: „Die jeweilige Entwicklung der Technik bestimmt den Umgang der Gesellschaft ... Der Weg von der ersten Steinaxt bis zur Dynamomaschine bezeichnet nicht nur einen technischen Aufstieg, sondern auch einen gesellschaftlichen. Er weist von der patriarchalischen zu den modernen Staatenverbänden und bereits über diese hinaus zur Weltorganisation. So schafft die Technik den Frieden. Denn Kultur ist Friede … Der Friede ist die Funktion der Kultur.“ (zit. nach Riesenberger 1987: 56f.).
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tiven Funktion ablösen wird. Die Moral hat aber nicht der Menschheit zu Einheit und Einigkeit verholfen, wie dies von den Aufklärern erhofft worden war. Als Faktor der gesellschaftlichen Integration erwies sich die naturrechtlich begründete Moral als ebenso konfliktanfällig wie die Religion. Die Aufspaltung der Natur- und vernunftrechtlichen Moral in einander bekämpfende Ideologien des Sozialismus und Liberalismus erwies sich sogar als noch weit gefährlicher und drohte im Falle eines Versagens der atomaren Abschreckung noch mehr Menschenleben zu fordern als die europäischen Konfessionskriege. Wenn es nun am Ende des Kalten Krieges zu einer Verdrängung ethischer Fragestellungen kommt, so allein aus dem Grund, weil der Sieg des einen Modells über das andere als moralische Überlegenheit interpretiert wurde. Die liberalistische Ideologie wird zur Moral schlechthin und verliert damit ihren Vergleichmaßstab in einer Ethik, die als Reflexionstheorie der Moral vor genau dieser Selbstgerechtigkeit bewahren soll. Auch die politisierte Religion verabsolutiert ihre eigenen Kriterien des Unterscheidens von Gutem und Bösem und neigt dazu, sich selbst als die Verwirklichung des Guten ausgegeben. Worum es bei der politisierten Religion und der ideologisierten Moral recht eigentlich geht, ist die Abkoppelung von einer Ethik, die eine Ebene der Beobachtung und Bewertung der sozialintegrativen gesellschaftlichen Selbstbeschreibung vorschaltet und damit selbstkritische Distanz möglich macht. Das Streit auslösende Moment liegt in der Politisierung, mit der dem Code einer religiösen und einer säkularen Moral (Gut/Böse) der politische Code (Macht/Machtunterworfen) übergestülpt wird. Nur die Moral ist von unmittelbarer Relevanz für Integration und Desintegration von Gemeinschaften, nicht die Religion. Auch hier ist wieder sinnvoll, zwischen Codierung und Programmierung zu unterscheiden. Der religiöse Code, der als Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz, von Sakral und Profan oder von Diesseits und Jenseits in Erscheinung tritt, hat es nur mit jener fundamentalen Ebene zu tun, die im Prozess unterscheidenden Bezeichnens nicht mehr unterschritten werden kann. Bevor zwischen vorzuziehendem und abzulehnendem Verhalten unterschieden wird, bedarf es einer Beschreibungsebene, auf der die Kriterien reflektiert werden, die den Unterschied bestimmen. Solche Kriterien sind immer doppelter Natur; sie geben an, worin sich das Gute vom Bösen unterscheidet und sie bezeichnen die Bedingung dafür, dass moralisches Unterscheiden als solches sichtbar und damit möglich wird, indem sie die moralische in den Horizont einer übergeordneten Unterscheidung stellen. Die erste Natur des Kriteriums markiert die Differenz, die zweite die Einheit der moralischen Unterscheidung, die sich als Einheit erst aufgrund jenes Kontextes profiliert, in den das moralische Unterscheiden gestellt ist. Ob religiös oder säkular, jede Moral verweist auf ihre eigenen Tiefenstrukturen, in denen Einheit und Differenz in ein Verhältnis gesetzt sind. In Bezug auf die tiefste grundlegende Ebene wird auch von Abschlussformel gesprochen. Der Strukturalismus benutzt den Begriff der Erzählung, die Systemtheorie den der Programmierung und die Diskurstheorie den des Diskurses als sich selbst begründende letzte Gewissheit.
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Diese Begriffe bringen etwas Bestimmtes zum Ausdruck, gewissermaßen eine Funktion, die Religion und Ideologie jede auf ihre Weise erfüllen, ohne in dieser Funktion ganz aufzugehen. Die politische Moral kann als Zivilreligion ohnehin keine Bindewirkungen entfalten vergleichbar der religiös fundierten Moral in hierarchisch organisierten Gesellschaften. Sie vermag dies nicht aufgrund der Tatsache, dass der funktionelle Primat des Politischen in modernen Gesellschaften nicht mehr anerkannt ist. Auch die islamischen Gesellschaften gehören nicht mehr zum hierarchischen Organisationstypus, sofern sie von der funktionalen Differenzierungsform zu stark erfasst sind, um Religion als einheitliches Programm moralischer Codierung aufrechtzuerhalten. Der Fundamentalismus fordert die islamische Orthodoxie in genau jenem Punkt heraus, wo es um die Verhältnisbestimmung von Einheit und Differenz geht. Die Umma soll auf der Grundlage der Differenz von weltlicher (Stammesführer und lokale Machthaber) und geistlicher (Religionsgelehrte) Macht gegründet sein und nicht auf der Herrschaft von Autokraten, die von der eigenen Geistlichkeit und vor allem auch von den Regierungen des Westens unterstützt werden.269 Was „Privatisierung der politischen Moral“ meint, wird in diesen Ausführungen deutlich. Zum bloßen Moralisieren im Sinne reiner Achtungskommunikation, in der die Verteilung von Achtung und Missachtung einzig von der Popularität einer Person und von modischen Stimmungen abhängig ist, wird das Unterscheiden von gut und schlecht in dem Maße, in dem die moralische Kommunikation nicht mehr durch eine Ethik reflektiert und kontrolliert wird. Die Ablösung von Einschränkungen durch ethische Prinzipien, die nur noch als Gängelung und Freiheitsberaubung wahrgenommen werden können, begleitet jedoch notwendig den Prozess der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen aus dem moralisch integrierten gesellschaftlichen Ganzen. Nur wenn die Politik ihre Funktion optimal erfüllen kann, ohne auf die christlichen Zehn Gebote oder das Kantische Sittengesetz verpflichtet zu werden, vermag sie jene Macht zu akkumulieren, die in Gestalt des Gewaltmonopols zur Bedingung für das Funktionieren von Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Therapie und Erziehung wird. Mit dem gleichen Argument lösen sich seit dem neunzehnten Jahrhundert nach und nach alle Funktionssysteme von den moralischen Auflagen, gestützt von der Unterscheidung Max Webers zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik.270 Die ethisch gebundene und reflektierte Moral wird als Gesinnungsethik in den privaten 269
Dieser Modus der Gewaltenteilung hält sich an den Koran, der dem Herrscher die Aufgabe erteilt „das Gute durchzusetzen und das Schlechte zu verbieten“ (Sure 3:110). „Deshalb kandidieren in den meisten arabischen Ländern die Männer der Religion nicht für politische Ämter und halten sich an den Spruch: „Die Gottesgelehrten sollen nicht herrschen“, weil sie sich dann von Gott entfernen und dem Diesseits zuwenden müssten.“ (Schulz 2003: 197). Nach Schulz hätten die Islamisten zur Frage der Macht eine ambivalente, uneinheitliche Position. Die Mehrheit neige wohl zum Griff nach der Macht bis sich ein „tauglicher Herrscher“ bzw. gewählter Präsident gefunden habe. 270 Max Weber hat in seiner Rede „Politik als Beruf“ vom Februar 1919 seinen Begriff der Gesinnungsethik an Pazifisten illustriert.
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Bereich abgedrängt und die ethisch ungebundene Moral wird als Verantwortungsethik mit der Funktionserfüllung gleichgesetzt. Wenn nun aber die „Privatisierung der politischen Moral“ zur Autonomie eines Funktionssystems „Politik“ führt, dann ist sie gewissermaßen ein Strukturmerkmal des Gesellschaftssystems und kann nicht ohne weiteres korrigiert werden. Recht besehen aber haben wir hier keinen anderen Missstand vor uns, als er bei einem theokratischen Regime zu beobachten ist, dessen Achtungskommunikation nicht mehr sach-, sondern ausschließlich personengebunden abläuft: Es geht nicht mehr um die moralische Qualität des Gesetzes, sondern nur noch um die moralische Qualifikation des Gesetzgebers. Über die moralische Qualität eines Gesetzes muss nämlich nur gestritten werden, so lange moralische Fragen auf dem Hintergrund einer Ethik beantwortet werden, die sich immer in Distanz zur moralischen Kommunikation befindet und die über diese Distanz wacht. An die Stelle der Ethik tritt das Ansehen eines Funktionsträgers. Was mithin in unserem modernen westlichen Gesellschaftssystem beanstandet wird, unterscheidet sich strukturell nicht von dem, was die Islamisten in den moslemischen Gesellschaften anprangern. Damit kommen wir zur Systemkritik, zu Civil disobedience und Non-Cooperation zurück. Ein für das humane menschenrechtliche Profil jeder religiös oder säkular verfassten Gesellschaft entscheidendes Wechselspiel zwischen Moral (ein Unterscheiden von guten und schlechten Verhältnissen, Handlungen, Personen, Institutionen) und Ethik (als religiöse oder säkulare Reflexionstheorie dieser Moral) funktioniert nicht automatisch und muss immer wieder neu gewährleistet werden. In den westlichen Demokratien wurde dieser Part des Mahners uneingelöster Ansprüche auf gerechte Verteilung, auf Menschenrechtsgewährung, von Protestbewegungen übernommen, die ihre ethisch-humanitären Maximen vorwiegend aus marxistischen und neomarxistischen, aber auch aus Quellen christlicher Sozialethik speisten. Das Versiegen systemkritischen Engagements steht in Zusammenhang mit der historischmaterialistischen Grundüberzeugung, dass sich die eigenen sozialrevolutionären Programme historisch nicht bewährt hätten. Diese psychosozialen Effekte dürften jedoch bald überlagert werden von neuen Unzufriedenheiten, die die Selbstgerechtigkeit der Sieger und die Niedergeschlagenheit bei den diskreditierten Sozialkritikern überwinden. Der Bedarf nach Reflexionstheorien, die eine Beobachtungsebene etablieren, von der aus Distanz zu den gängigen politischen, wirtschaftlichen und juristischen Praktiken gewonnen werden kann, ist in jeder Gesellschaft groß. Er wird in dem Maße noch wachsen, in dem die Opfer des globalisierten funktional differenzierten Gesellschaftssystems weltweit nicht mehr als bloße Kollateralschäden hingenommen werden. An dieser Stelle offenbaren die Methoden der Non-Violence ihre zeitgemäße Relevanz. Diese ist durchaus nicht beschränkt auf regionale Entkolonialisierungsprozesse und erst recht nicht auf die euro-amerikanische pazifistische Rezeption dieser Richtung, die sich auf die Abschaffung von Kriegen konzentriert. Denn wie wir gesehen haben, scheint die Wahrnehmung derselben als „neue Kriege“ den Gegen-
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stand der pazifistischen Kritik so zu verändern, dass das pazifistische Engagement gleichsam ins Leere läuft. Jeder Vertreter des organisatorischen auf das Weltgewaltmonopol und die Weltbürgerrechtsgesellschaft setzenden Pazifismus wird diesem radikalen oder aktiven Pazifismus entgegenhalten können, dass es sich bei selbigen Konflikten und Metzeleien um einen weltinnenpolitischen Problemfall handelt, dem mit vorgreifenden hegemonialen Polizeiaktionen entgegenzutreten ist.
6.3 Säkularer und religiöser Pazifismus im Vergleich Kant entwirft ein Friedensmodell, das selbst für ein Volk von Teufeln tragfähig ist. Gandhis Friedensmodell ist, wie häufig vorgeworfen, für ein Volk von Engeln konzipiert. „Teufel“ ist hier im Sinne eines Menschen verstanden, der nur seinen eigenen Vorteil sucht und dafür gravierende Nachteile des Anderen in Kauf nimmt oder begrüßt. „Engel“ meint ein Wesen, das nicht nur das fremde Wohlergehen in all seinen Handlungen berücksichtigt, sondern mehr noch das Wohl des Anderen über sein eigenes stellt. Egoismus und Altruismus ist die Unterscheidung, mit der beide Charakterzüge umschrieben werden. Zwar liegt es nicht in der deklarierten Absicht Gandhis, für ein Volk von Engeln zu schreiben und zu wirken, vielmehr soll allen Menschen der Sinn von Satyagraha und Ahimsa nahe gebracht werden. Was Gandhi aber verlangt, sind fast übermenschliche Fähigkeiten, auch dort noch auf Gegengewalt und Rache zu verzichten, wo das zugefügte Leiden271 unerträglich ist. Über die Frage, ob die Strategie der Gewaltlosigkeit übermenschliche oder im Gegenteil wahrhaft menschliche Stärken verlangt, haben bereits die Zeitgenossen Gandhis gestritten. Der Gandhi-Anhänger Leonhard Ragaz (1930: 59f.) wendet sich gegen eine Interpretation, die diese Haltung der Bergpredigt als höchstes Heldentum beschreibt, das nicht allen zugänglich ist und bloß als eine “eschatologisch-asketische falsche Hinaufrückung“ zu bezeichnen ist. Er sucht die Anforderungen der Non-Kooperation und des zivilen Ungehorsams demgegenüber zu einem allgemeinmenschlich Möglichen zu machen, indem er das Gute zur „Selbstverständlichkeit“ erklärt. Wenn damit Erwartbarkeit gemeint sein sollte, dann ist die Hoffnung sicher überzogen. Und dennoch, obgleich das massenhafte Durchhalten der Gewaltlosigkeit höchst unwahrscheinlich ist, konnte Gandhi mit wenigen Ausnahmen gewaltsamer Ausschreitungen gewissermaßen ein ganzes Volk zum gewaltlosen Widerstand veranlassen, selbst unter grausamen Sanktionen. Diese ungewöhnlichen Fähigkeiten, die eine so große Anzahl von Menschen entwickelt haben, wird mitunter dem Charisma Gandhis, oder auch der andersgearteten kulturellen Prägung durch den Hinduismus 271
Der Hinduismus sieht das Leiden als eine positive Kraft: „Leid ist das Gesetz des Menschenwesens. Krieg ist das Gesetz des Dschungels. Doch ist das Leid unendlich mächtiger als das Gesetz des Dschungels, denn es bekehrt den Gegner und es öffnet ihm die Ohren für die Stimme der Vernunft.“ (Gandhi, The Nation's Voice).
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zugeschrieben, und damit als nicht übertragbar angesehen. Das Mittelalter hatte für einen solchen Gleichklang einer Vielzahl von Menschen, die sich in der Begeisterung für das Gute zusammenfinden, den Begriff des „Wunders“ reserviert. Im Wunder werden alle menschlichen Gegensätze und Besonderheiten aufgehoben und ein Einklang von Gott und Geschöpfen geschaffen, wie er sich im normalen Leben nicht findet. Wunder dieser Art waren nicht in den für den „Gottesdienst“ vorgesehenen Räumen möglich, sondern nur im Freien.272 Im vorliegenden Kapitel soll der Gegensatz zwischen säkularem und religiösem Verständnis nicht in erster Linie von den unterschiedlichen Hintergrundüberzeugungen her verständlich gemacht werden. Es geht nicht um Semantiken, die Unterschiede betonen, sondern um Überschneidungen, die in einem kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen sind. Nur für den Fall, dass die gewaltlose Methode allgemeinmenschlich möglich und somit im Bereich normalen Handelns zu verorten ist, gibt es solche Überschneidungen, die der säkulare Pazifismus zu einer erlernbaren Technik ausarbeiten kann. In diesem Punkt gibt es keine einhellige Meinung innerhalb des religiösen Pazifismus. Inwieweit religiöse mit säkularer Bestrebung zu verbinden ist, hängt ganz von der Bedeutung ab, die der Kategorie des Erfolges im entsprechenden Handlungsentwurf beigemessen wird. Wird davon ausgegangen, dass der gewaltlosen Methode Erfolg beschieden ist – auch wenn sich dieser nicht sofort, nach einer einmaligen Aktion, einstellt, sondern Zeit braucht –, dann lassen sich viele Menschen für diese Methode begeistern. Dass damit gegebenenfalls Leiden und Sterben verbunden sind, muss kein Hindernis sein, da sich jeder Soldat auf dasselbe Risiko einlässt. Was religiöse und säkulare Einstellungen zur Non-Violence wesentlich unterscheidet, ist die Erfolgsorientierung. Sobald jede Form der Kalkülisierung verworfen wird, die das Handeln auf einen Zweck hin ordnet, demgegenüber die einzelnen Handlungsschritte als prinzipiell wertneutrale Mittel erscheinen, entfernt sich das Modell nicht nur aus dem politischen, sondern sogar aus dem gesellschaftlichen Handlungszusammenhang. Wird mehr noch das Zweck/Mittel- und das Erfolgsdenken für ein Übel gehalten, das notwendig auf Abwege geraten lässt, dann wird das Handeln einer Motivationsquelle beraubt, auf die nur der Heilige verzichten kann.273 Denn nun geht es darum, das Gute um des Guten willen und nicht um eines sichtbaren Vorteils willen zu tun. Was zweifellos für Gandhi, nicht aber für seine Anhänger und Schüler bestimmend sein mag, ist die Unabhängigkeit von jeglichem Erfolgsdenken selbst in Bezug auf die von ihm propagierte Methode. Auch wenn der politische Erfolg ausgeblieben 272
Siehe dazu Arno Borst (2005: 343). In den Ausführungen zum Zweck/Mittel-Schema haben wir in Kap. I eine solche Wertneutralität des Mittels als etwas erkannt, das aus dem Schema nicht wegzudenken ist. Sobald das Mittel nicht mehr bloß Mittel zum Zweck ist, müssen tieferliegende teleologische Begründungen dafür beschafft werden, warum das Mittel seinen Wert nicht aus seiner Bedeutung für den Zweck, sondern aus sich selbst heraus bezieht.
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und Indien nicht vom Kolonialismus befreit worden wäre, so hätte Gandhi gleichwohl seine Art des politischen Einsatzes für die einzig mögliche gehalten. Denn obgleich Gewalt vordergründig Widerstand brechen kann, so bleibt der Gewaltcharakter doch unversehrt, den Gewalt zu überwinden gesucht hatte. Sollte Gewaltlosigkeit nichts ausrichten, so kann dies durch Gewalt nicht kompensiert werden. Das Abendland aber hänge einem „Gewaltglauben“ an, wie Ragaz (1930: 54) behauptet. Dieser drücke sich in der starken Rolle aus, die der Staat spiele. Auffälligerweise hat das Abendland keine Religionsgründer, sondern nur Staatsphilosophen und Staatsmänner hervorgebracht.274 6.3.1 Die Konzeption der „sozialen Verteidigung“ Sollte im Okzident das weltlich-säkulare Wesen stärker ausgeprägt sein als im Orient, so würden sich allein daraus die mannigfachen Versuche erklären, dieses Handlungsmodell zu säkularisieren, was bislang allerdings gescheitert ist. Denn Konzepte wie die „soziale Verteidigung“275 oder die „gewaltlose Aktion“276 können das Erfolgs- und das Zweck/Mittel-Denken nicht abstreifen, aus dem sie ihre Legitimität beziehen. Immerhin ist dieses Modell ein Scharnier zwischen gewaltgestützten und gewaltlosen Friedensbemühungen, die an dieser Stelle erwähnt werden müssen. Denn was in diesen Konzepten entbehrlich zu sein scheint, ist jene Wesensänderung des Menschen, die bei Gandhi als Entfaltung des Wesens gedacht ist. Es bedarf einer bloßen Einübung in gewaltlose Verteidigungstechniken. Deren Wirkung ist gemessen an der ausbleibenden positiven Wirkung militärischer Mittel nach Meinung der Protagonisten in jedem Fall groß. Denn dieser Ansatz rechnet mit einer politischen Wirklichkeit, aus der Atomwaffen nicht mehr wegzudenken sind. In diesem Punkt behält der strategische Ansatz seine Aktualität, da die von der Waffentechnik ausgehenden Gefahren nicht auf den historischen Konflikt zwischen den USA und der UDSSR beschränkt werden können. Sie sind mit der technologischen Innovation verknüpft, eine letztlich unkontrollierbare Entwicklung, die nicht rückgängig gemacht werden kann und die immer mehr Länder „nachholen“. Die „Waffe“ hängt seither als Damoklesschwert über zwischenstaatlichen und womöglich bereits innerstaatlichen Feindschaften. 274
In diese Richtung geht auch Galtung (1995: 276ff.), wenn er die Epoche, in der in Europa die Religion bestimmende Kraft war, als eine orientalische Phase des Okzidents bezeichnet. 275 Zu Theorie und Praxis, sowie zu historischen Erfolgen siehe Boserup/Mack (1974). Zum Konzept im Schnittpunkt von Friedensbewegung und Friedensforschung siehe Hauswedell 1997: 141ff., 281ff.), Wasmuht (1998: 95ff.). 276 Dieses auf Nichtkooperation und nichtgewaltsamen Widerstand gegründete Verteidigungskonzept wurde unter dem Eindruck sozialkybernetischer und sozialpsychologischer Richtungen in der Friedens- und Konfliktforschung entwickelt, die von der Aggressionsbewältigung durch Aufklärung, Therapie und soziales Management ausging. Siehe Gene Sharp, „Das politische Äquivalent des Krieges – Die gewaltlose Aktion“, in: Krippendorff (1974: 477ff.); Theodor Ebert (1970: 179ff., 1999: 89ff.); Johan Galtung (1982a).
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Gene Sharp folgert seine Argumente für die „gewaltfreie Aktion“ aus dem Ungenügen der von verschiedenen Richtungen aus gegen den Krieg aufgebotenen Maßnahmen. Als letzte noch verbleibende Möglichkeit bezieht die Einübung sozialer Verteidigungsformen ihre Vorzüge zunächst aus dem utopischen Charakter der übrigen Ansätze. So sei die Bekämpfung der Ursachen aus drei Gründen ungenügend: 1. da sich nur ein Teil der Ursachen überwinden lasse, bleibe für die restlichen Ursachen die Frage bestehen, wie im Konfliktfall verfahren werden solle. 2. Die schöpferische Funktion von Konflikten mache deren Überwindung fragwürdig und 3. seien Kriege nicht nur auf korrigierbare Missverständnisse zurückzuführen, sondern würden häufig durch echte Streitfragen verursacht, die durch gegenseitiges Verständnis und Freundschaft nicht zu beseitigen wären. Auch Pazifismus und einseitige Abrüstung seien durch diesen dritten Punkt in ihrem Einfluss geschmälert. Nicht alle Konflikte ließen sich durch Kompromisse und Verhandlungen lösen. Auch würde der bloße Verzicht auf militärische Rüstung einem Land im Falle internationaler Gefahren die Möglichkeit der Verteidigung nehmen. Gegen die Idee einer Weltregierung erhebt Sharp folgende kritische Einwände: „Zuerst einmal scheint die Weltregierung eher eine Folge von Weltfrieden und Weltgemeinschaft (und dann ein Mittel, beide zu bewahren und auszudehnen) als ein Mittel, den Weltfrieden zu erreichen.“ (Sharp 1974: 479).
In diesem Punkt stützt sich Sharp auf den Vertreter der Realistischen Schule Hans J. Morgenthau, der zwingend auseinandersetzt, dass eine Weltgemeinschaft dem Weltstaat vorausgehen müsse. Damit ist nicht eine der heutigen Globalisierung vergleichbare wirtschaftliche, wissenschaftlich-technische und informationstechnische Vernetzung gemeint, sondern eine Gemeinschaft, in der es keine ernsthaften Konflikte und keine diese Konflikte überdeckenden Loyalitäten gibt. Im Falle einer krisenhaften internationalen Situation könnte nach Morgenthau kein Weltstaat so stark sein, um den Weltfrieden sichern zu können.277 „Die Politik einer Weltregierung könnte nicht nur auf die Opposition von einigen Einzelnen treffen, sondern auch auf die von ganzen bestehenden Staaten und geographischen Einheiten, die durch regionale, politische und nationale Solidarität miteinander verbunden sind. Die Regierung müsste über die Macht verfügen großangelegter Revolutionen und Guerillakriege Herr zu werden. Darüber hinaus wäre die Eroberung oder Fabrikation von konventionellen und sogar nuklearen Waffen durch andersdenkende Gruppen möglich. So könnte der Versuch, verschiedene politische und ideologische Gruppen unter eine einzige Regierung zu bringen, die Chancen für einen Krieg eher noch erhöhen.“ (Sharp 1974: 480). 277
Hier zeigt sich, dass der heutige „politische Pazifismus“ noch bellizistischer ist – wenn man die pazifismuseigene Terminologie benutzt – als der politische Realismus in seiner klassischen Ausformulierung.
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Gene Sharp sieht keine Chancen der demokratischen Kontrolle einer Weltregierung, die ihren Kontrollradius auf die ganze Welt auszuweiten sucht: „Jeder Versuch, das Wiedererstehen autonomer militärischer Gruppierungen zu verhindern, würde wahrscheinlich eine weitgehende Kontrolle über den einzelnen Bürger sowie über Rohmaterialien, die industrielle Kapazität, verfassungsmäßige Regierungen, Polizeikräfte usw. erfordern. Diese Kontrollen könnten auch für weniger edle Zwecke benutzt werden, besonders wenn man die Entwicklung des Totalitarismus im 20. Jahrhunderts betrachtet und die Tatsache, daß ein Weltstaat eine große Anziehungskraft auf die Machtbesessenheit potentieller Diktatoren oder totalitärer Parteien ausüben würde.“ (Sharp 1974: 480).
Zu den genannten Unzulänglichkeiten kommen jene, die mit der Hoffnung auf eine allgemeine kontrollierte Abrüstung verbunden sind. Angesichts eines schlechterdings nicht auszuräumenden Misstrauens und immer unzureichender Überwachungsmöglichkeiten lässt sich mehr als partielle Rüstungsbegrenzung kaum erwarten. Im Plädoyer für eine dem Mittel der Gewaltlosigkeit verpflichtete soziale Verteidigung stützt sich Gene Sharp auf zwei Pfeiler der Argumentation. Beide sind funktionalistischer Natur. Konform der allgemeinen Systemtheorie von Robert M. Merton geht Sharp davon aus, dass gesellschaftliche Einrichtungen Funktionen besitzen, die nicht ersatzlos beseitigt werden können. Da es die entscheidende Funktion des Krieges ist, ein letztes Sanktionsmittel oder eine letzte Kampftechnik für den Fall gefährdeter bürgerlicher Freiheiten, politischer Bestrebungen, religiöser Anschauungen und des gesellschaftlichen Lebensstils eines Landes zur Verfügung zu stellen, hätten all die vorgeschlagenen Maßnahmen bisher nicht überzeugen können. Denn diese sind nicht als letztes, sondern immer nur als vorletztes Mittel konzipiert. Auf der Suche nach einem funktionalen Äquivalent militärischer Verteidigung gelangt Sharp zu einer zweiten Funktion, die sich die Bevölkerung in ihrem Streben nach Sicherheit zunutze machen kann. Da es nämlich die Funktion des Politischen ist, Macht auszuüben und selbiges nur realisierbar ist auf der Grundlage einer breiten Unterstützung durch die Machtunterworfenen, beziehen letztere eben daraus ihre Macht, die Herrschaft der Machtträger möglich oder unmöglich zu machen. Die Macht von unten lässt sich freilich doppelt mobilisieren, einmal zur Machtkontrolle der eigenen Regierung und ferner als gewaltlose Kampftechnik für den Fall einer militärischen Intervention. „Ungehorsam“ und „Nichtzusammenarbeit“ sind Strategien, die einem Aggressor oder einer ungerechten Herrschaft die Machtbasis entziehen. Das allerdings verlangt vom Widerständigen Eigenschaften und Fähigkeiten, wie sie der Krieg fordert, nämlich Tapferkeit, Furchtlosigkeit, ein fester Wille zu widerstehen und vor allem, „Sanktionen als die Kosten des Ungehorsams zu akzeptieren“ (Sharp 1974: 489). An dieser Stelle drängt sich die entscheidende Frage nach der Motivation auf, die einen Menschen zu einer gewaltlosen Aktion veranlassen könnte, welche zwar die soldatischen Eigenschaften, aber nicht die mit diesen Eigenschaften natürlicher
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Weise verknüpften gewaltsamen Kampftechniken verlangen. Wo nun bei Gandhi das religiös motivierte Selbstopfer278 eine wesentliche Rolle zu spielen beginnt, da führt Sharp den historischen Erfolg von gewaltlosen Aktionen ins Feld. Das ist eine Wendung, die ganz dem erfolgsorientierten historisch-dialektischen und sozialkybernetischen westlichen Denken verhaftet ist, das Gandhi nicht in dieser Weise teilt. Sharp führt nicht nur den grandiosen Sieg der indischen Befreiungsaktionen an, sondern erwähnt auch europäische Beispiele, die das prominente Argument entkräften sollen, Asiaten und Europäer wären in ihrer Mentalität zu verschieden, um das Modell Gandhis auf europäische Verhältnisse übertragen zu können. Sowohl der massive Widerstand der Norweger gegen die Invasion Hitlers als auch derjenige der russischen Bevölkerung zeugen nach Sharp von der Richtigkeit der Ausgangsthese Gandhis, dass der Gehorsam der Beherrschten für die Aufrechterhaltung des Besatzungsregimes notwendig ist. Damit formuliert Sharp ein methodisches Paradigma, dem seither alle Adepten des Konzepts der Gewaltfreiheit folgen. Dieses projiziert die ganze Kraft der Überzeugung in die Quantität der historischen Fälle, in denen dieses strategische Prinzip erfolgreich gewesen ist. Und die Hoffnung richtet sich hier auf die empirischen Sozialwissenschaften, die bisher solche Fallstudien sträflich vernachlässigt haben, weil sie in Bezug auf ihr Forschungsinteresse immer schon von den militärstrategischen Vorurteilen geprägt waren. Johan Galtung (1998: 211) hat diese Liste vervollständigt und um aktuelle Fallbeispiele erweitert: „1. Gandhis Swaraj Kampagne 1920 für die Unabhängigkeit Indiens; 2. die Befreiung arrestierter Juden im Februar 1943 in Berlin; 3. Martin Luther Kings Kampagne seit 1956 im Süden der USA; 4. die Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, innerhalb und außerhalb Vietnams; 5. das Vorgehen der Mütter gegen das Militär der Plaza del Mayo in Buenos Aires; 6. die „People's Power“- Bewegung auf den Philippinen 1986; 7. die „ChildrensPower“-Bewegung in Südafrika seit 1986; 8. die Intifada im besetzten Palästina seit 1987; 9. die Demokratiebewegung in Peking, im Frühjahr 1989 und 10. die Solidarnosc/DDR-Bewegung, die zum Ende des Kalten Krieges führten.“279
Solche historischen Beispiele sind geeignet, die Bewertung des Pazifismus als idealistisch, wenn nicht gar realitätsfremd, ad absurdum zu führen. Dennoch ist es im Prinzip unmöglich, aufgrund geglückter Versuche Gewaltlosigkeit einem Nützlichkeitstest zu unterziehen, der zuungunsten der Gewalt ausfallen würde. Denn dazu müsste es möglich sein, die vielfältigen Funktionen, die Gewalt in der Interaktion erfüllt, auf sehr wenige zu reduzieren und davon ausgehend zu fragen, ob Gewaltlosigkeit als funktionales Äquivalent in Frage kommt. Die soziale Wirklichkeit, auf die Konzepte der 278
Dies kann allerdings nur begrenzt gelten, denn auch bei Gandhi kommt der Gedanke des Selbstopfers nicht ganz ohne Effizienzgesichtspunkte aus, wir kommen weiter unten darauf zurück. Eine detailliertere Liste findet sich in Galtung (1989: 82ff.). Holmes (2006: 158) führt auch den Sturz von Milosevic im Oktober 2000 nicht auf die Militärintervention, sondern auf die „nonviolent action“ der Serben zurück.
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Gewaltlosigkeit zugeschnitten sind, bezieht sich nahezu ausschließlich auf Unterdrückung, Ungleichheiten, Ungerechtigkeit, Diskriminierung von Rassen, Klassen und kulturellen Minderheiten. Achtungsentzug und Armut lassen nach Strategien Ausschau halten, die zur Verbesserung der sozialen Situation der Unterprivilegierten führen. Dies entspricht in einem aktuellen Diskurs über den Gestaltwandel politischer Gewalt dem Typus des Guerillakämpfers, der konkrete Ziele verfolgt: Befreiung von kolonialer Fremdherrschaft, Freilassung von inhaftierten Kampfgenossen oder Loslösung einer ethnischen Gruppe aus einem Staatsverband. Der gewaltlose Kämpfer tritt an die Stelle des Guerillakämpfers und – mit Gandhi, Theodor Ebert, Gene Sharp und Johan Galtung – an die Stelle des Soldaten. In Kontrast zu diesem Typus wird heute jedoch ein Typus von Gewalttätern in den Vordergrund gerückt, bei dem solche Ziele fehlen, bei dem Gewalt aber gleichwohl als politische und nicht bloß als kriminelle eingestuft wird. Damit kann allerdings zweierlei gemeint sein: einmal die prinzipielle Feindschaft gegenüber einem Gesellschaftssystem, oder ein um sich greifender Unwille, die Gesetze zu befolgen. Terroristische und anomische Prozesse begleiten die Globalisierung aller Funktionssysteme aus dem Grund, weil diese Systeme ihrerseits nur auf dem Wege der Emanzipation von moralischen und rechtlichen Bindungen ihren Machtbereich weltweit auszudehnen vermögen. Da aber die Gesellschaftsmitglieder über die Teilhabe an den Funktionssystemen in die Gesellschaft integriert sind, partizipieren alle Inkludierten an diesem Trend, der als Entmoralisierung und als nachlassende Bindewirkung des Rechts beobachtet wird. Jene Gewalt aber, die auf die langsame Erosion des Gewaltmonopols zurückgeht, ist eben keine zweckgebunden mobilisierte Gewalt, die durch funktionale Äquivalente gewaltloser Methoden ersetzt werden könnte. Die nachlassende Bindewirkung von Recht und Moral, die mit der Globalisierung die Gesamtgesellschaft erfasst, fällt bei den ohnehin Exkludierten noch viel stärker ins Gewicht. In deren Kreisen wird von vornherein Gewaltneigung vermutet. Als funktionales Äquivalent kann die Gewaltlosigkeit demnach nur in Betracht kommen, wenn Gewaltanwendung einem definierbaren Zweck folgt, der mit diesem Mittel verwirklicht werden soll. Damit scheint die säkulare Variante der NonViolence in ihrer Bedeutung stark geschmälert. Aber sie erübrigt sich nicht, da diese klare Trennung von rationale Zwecke verfolgendem Guerillero und irrationalem Gewalthandeln verpflichtetem Terroristen auch ein Versuch ist, das komplexe und undurchdringbare weltweite Phänomen „privatisierter Gewalt“ auf wenige Parameter zu reduzieren. Sie dient der Vereinfachung, auf deren Grundlage dann Antiterrorstrategien ausgearbeitet werden können. Selbst wenn die Zuschreibung von Irrationalität mitunter, oder sogar in der Regel, der Komplexitätsreduktion dient und es damit sinnvoll ist, strategische Interessen auch dort zu unterstellen, wo die Motive unverständlich sind, so bleibt die zur Strategie ausgearbeitete Gewaltlosigkeit doch auf einen Typ von Konflikt zugeschnitten, bei dem identifizierbare Konfliktparteien einander gegenüber stehen.
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Ist der Feind hingegen unsichtbar, wie im Falle „privatisierter“ terroristischer oder anomischer Gewalt, dann tritt die Strategie der Gewaltlosigkeit als funktionales Äquivalent der Gewalt in den Hintergrund. Aber Non-Violence wird eben nicht nur als Strategie der Verwirklichung von politischen Zwecken zum bevorzugten Mittel. Mindestens gleichrangig ist jene Bedeutung, die der Non-Violence aus dem Versagen der gewaltsamen Problemlösung zuwächst. Diese zweite Bedeutung ist unabhängig von einem Konfliktpartner, der sichtbar und zumindest in seinen Plänen soweit kalkulierbar ist, dass gewaltlose Strategien als funktionale Äquivalente gewaltsamer Zwangsinstrumente entworfen werden können. Denn jene der Gewalt bescheinigte Erfolglosigkeit ist nicht aus der Fehlinterpretation der Ziele und Wünsche des feindlichen Gegenübers abgeleitet, sondern gründet sich allein auf einen immanenten Defekt der Gewalt. Galtung (1999: 40) behauptet sogar, Gewalt könne nie funktionieren und begründet dies wie folgt: 1. positive Wirkungen seien durch „die Zahl der getöteten und ihrer Nächsten beraubten Menschen, die Zahl der an Leib, Seele und Geist verletzten Menschen und jene, die davon berührt werden, nicht zu leugnen, ebenso wie der physische Schaden am menschlichen Lebensraum und der Natur.“ 2. „Sofern Gewalt zu einem Wandel in den Beziehungen zwischen der eigenen Seite und der Gegenseite führt, dann geschieht dies, indem das Gegenüber unfähig zum Handeln gemacht wird. Aber ein erzwungenes Ergebnis ist nicht nachhaltig, weil es nicht akzeptiert ist; und es ist unakzeptabel, weil ein besiegtes Gegenüber nicht länger ein Gegenüber ist.“ 3. „hat es keine positive Transformation der eigenen Seite gegeben, sondern sogar eine negative Transformation, weil ein Sieg eine Sucht nach Gewalt auslösen und zu mehr Gewalt bei der nächsten Gelegenheit führen kann.“ 4. „hat es keine positive Transformation des Gegenüber gegeben, sondern wahrscheinlich eine negative Transformation, weil auch die Niederlage eine Sucht nach Gewalt auslösen und zu Rache führen kann. Dadurch, dass man das Opfer von Gewalt wurde, wurde eine Grenze verletzt, sodass eine Barriere entfällt, moralisches Unrecht auszuüben.“
Der Misserfolg der Gewalt bemisst sich hier genau besehen also nicht an der Unfähigkeit, ein bestimmtes politisches Ziel zu erreichen, sondern daran, auf lange Sicht einen Zustand möglich zu machen, der als Frieden bezeichnet werden kann. Was gegen die Gewalt spricht, ist die fehlende Nachhaltigkeit der Veränderungen, die diese hervorruft. Mit dieser Wendung, die das Votum für gewaltlose Strategien nimmt, ist Abstand vom zweckrationalen Kalkül gewonnen und dennoch ist dieses nicht gänzlich preisgegeben. Der säkulare Rahmen muss nicht gesprengt werden, wenn die Wirkung von der unmittelbar zu erwartenden auf einen weiteren Zeitrahmen ausgedehnt wird. Das Handeln bleibt dann weiterhin zweckorientiert, aber der Zweck selbst ist so verstanden, dass er den Sinn dessen noch aufzunehmen vermag, was der religiöse Pazifismus als Ziel formuliert. An dieser Stelle kommen wir auf den von Martin Buber angegebenen schwer überbrückbaren Unterschied zwischen religiöser und politischer Handlungsorientierung zurück. Das politische Handeln findet seine Erfüllung in der Verwirklichung des Zwecks; religiöses Handeln ist auf ein Ziel hin geordnet, dem sich immer nur annähern lässt, das aber nicht erreicht werden kann. Und womöglich liegt
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hier ein grundsätzlicher Zwiespalt, der Politik und Religion als ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeitdimension erkennbar macht. Denn in dem Augenblick, in dem der Handlungszweck nicht als unmittelbares Ergebnis einer Operation, sondern als gute Fernwirkung vorgestellt ist, macht sich ein Friedensbegriff bemerkbar, der als „unendliche Annäherung“ die Züge religiöser Zielorientierung annimmt. Da die Natur des Politischen im Verfolgen definierbarer Zwecke, in der Erfüllung von Programmen besteht, muss hier ein Friedensverständnis zum Zuge kommen, das sich als Provozieren von Unterwerfungsbereitschaft umschreiben lässt. Das ausdifferenzierte politische System meint in der Bestandserhaltung des Gewaltmonopols die wesentliche Bedingung für den Frieden unter den Menschen ausmachen zu können. In diesem modernen friedensphilosophischen Denken hat „Nachhaltigkeit“ keinen Platz, da es nicht die qualitativ veränderte zwischenmenschliche Beziehung ist, die den Frieden sichert, sondern allein die Unterwerfungsbereitschaft. Selbst wenn zu dieser weitere Friedensbedingungen hinzutreten mögen, so ändert dies nichts am Friedensverständnis. Mit „Nachhaltigkeit“ meint Galtung eine „positive Transformation“ im Sinne einer andersgearteten zwischenmenschlichen Beziehungsstruktur, aus der Zwang so weit es irgend geht, ausgeschlossen wird.280 Der Begriff des Zwangs ist dabei notwendig sehr weit gefasst, weil das Maß für dessen Abwesenheit die „positive Transformation“ ist. Mit letzterem Begriff bietet Galtung eine säkularisierte Version der von Gandhi verlangten „Wesensänderung“ an. Säkularisiert bedeutet in diesem Zusammenhang, dass politische Konzepte der Gewaltfreiheit stärker gewichtet werden, die nach Galtung durch die vielen historischen Erfolge gerechtfertigt scheinen. Nachdem die Geschichte so viele Beweise für die Effizienz der Non-Violence geliefert habe, gelte das Erfolgsdenken nicht mehr als etwas, das jener Haltung unvereinbar sei, die Gewaltlosigkeit zum Erfolg führen könne. Damit ist die besondere Paradoxie umgangen,281 die für Gandhis Überlegungen im Zentrum gestanden, und von der wir behaup280
Galtung (1998: 342) geht darin so weit, dass er selbst die Sozialisation in eine Kulturgemeinschaft ablehnt und nur ein vages Kulturangebot für zulässig hält, aus dem sich das Individuum das Passende aussuchen kann. Diese in den 70er Jahren entwickelten antiautoritären Konzepte unterschätzen den Beitrag mimetischen Verhaltens bei der Herausbildung moralischer und rechtlicher Bindungen. Permissivität und Wertrelativismus werden heute als Gewaltproduzenten ebenso zum Thema, wie in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts Autoritarismus und unflexibler Umgang mit Werten. 281 In den säkularisierten Versionen fehlt geradezu ein Verständnis für die Paradoxieproblematik. So findet nach Galtung (in: Bläsi 2001: 10) eine Verbesserung der Beziehung der Konfliktparteien durch Satyagraha aufgrund der Wirkweise statt. Bezogen auf die besondere Formulierung Gandhis spricht er deshalb von einer bloß scheinbaren Tautologie: „Wenn Gewaltfreiheit nicht funktioniert, dann darum, weil das Vorgehen nicht wirklich gewaltfrei im Sinne von Wahrheit = Gott = Liebe war. Wahrheit ist das, wofür der Einzelne steht; Gott ist das, was uns alle als Menschheit verbindet; Liebe ist nicht nur kein Zufügen von Verletzungen, sondern besteht aus aktiven Taten des Mitgefühls: Arbeite an allen drei Punkten, reinige dich selbst, und du wirst letztendlich erfolgreich sein.“ „Betrachte deinen Standpunkt noch einmal von einer anderen Seite, ebenso die Position deines Kontrahenten, vertiefe deine spirituelle Verbundenheit mit der Menschheit, schließe in deine Liebe auch deinen Gegner mit ein.“
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tet hatten, sie sei allenfalls über das therapeutische Konzept der „paradoxen Intervention“ in ein säkulares Modell zu überführen. Soweit die „paradoxe Intervention“ im therapeutischen Kontext aber als eine Methode der Verhaltensänderung verstanden wird, die sich das Unwissen des Patienten über die ihn antreibenden psychischen Kräfte zunutze macht, steht einer Übertragung dieses Konzepts in einen politischhumanitären Kontext die Absicht entgegen, keine Form von Zwang auszuüben; Manipulation aber gilt nicht nur bei Gandhi, sondern auch bei Galtung als eine Form des Zwangs. Die bewusste Täuschung des Gegenüber, oder der für die Methode des NonViolent zu gewinnenden Bevölkerung, würde gerade die beabsichtigte Nachhaltigkeit unmöglich machen, weil ein offen oder verdeckt gezwungener Mensch bei der nächstbesten Gelegenheit einem anderen Rattenfänger in die Hände fällt. Mit „positiver Transformation“ kann also Galtung nichts anderes meinen als Wesensveränderung. Aber die Motivationsquelle, die er angibt, führt nicht in den religiösen, sondern allein in den politischen und den therapeutischen Begründungszusammenhang. Wie wir bereits an Drewermann gesehen haben, stützt der therapeutische Gedanke Gewaltfreiheit nur so lange, als Gewalt pathologieverdächtig ist. Aggression und Aggressionsabfuhr aber erscheinen als normal und gesund, wenn es sich um Menschen und Menschengruppen handelt, die als Sündenböcke gesamtgesellschaftlich akzeptiert sind. Um das Verhalten gegenüber solchen Personen als pathologisch bezeichnen zu können, die nach allgemeinem Urteil unberechenbar, abstoßend und gefährlich sind, bedarf es einer weiter ausholenden analytischen Bemühung um kollektive Aufklärung über derlei Vorurteile und Feindbilder. In diesem Sinne hat Galtung immer wieder auf die Gefahren hingewiesen, die mit der zunehmenden Diskriminierung der moslemischen Bevölkerungsgruppe verbunden sind. Der latente Terrorismusverdacht, mit dem die zwischenmenschliche Begegnung vergiftet wird, ist kein Novum in der Geschichte. Die traditionellen Sündenböcke waren im euroamerikanischen Kulturraum die Juden, die schließlich im Nationalsozialismus als potentielle Terroristen ausgegrenzt und vernichtet wurden.282 Die Motivation zur Aneignung gewaltfreier Konfliktlösungsformen auch in Krisensituationen erheblichen Ausmaßes hängt mithin einmal davon ab, ob die historischen Erfolge der Non-Violence gegenüber den vom politischen Realismus aufgeführten Erfolgen kriegerisch-gewaltsamer Methoden mehr ins Gewicht fallen. Ferner ist sie davon abhängig, ob es gelingt, die erniedrigende und entmenschlichende Wahrnehmung des Gegenüber, die der Gewalt den Vorzug geben lässt, als pathologieverdächtiges Vorurteil und als ungesunde Feindbildproduktion glaubhaft zu machen. Da beide Überzeugungen aber in Themenbereichen wurzeln, die innerhalb der Wissenschaften nicht einhellig, sondern kontrovers abgehandelt werden, ist für Pazifisten gewissermaßen ein Zweifrontenkampf die Folge. Einmal gilt es, die Menschen 282
Galtung („Die USA, der Westen und der Rest. Nach dem 11. September 2001. Ein Zwischenbericht.“, in: Meggle 2003: 276) erinnert an den Propagandaminister Josef Goebbels, der den Begriff „Terrorismus“ immer wieder zur Diffamierung seiner Feinde benutzt habe.
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für eine politische Methode zu gewinnen und zugleich muss die eigene Position gegenüber der kontroversen innerwissenschaftlichen Position behauptet werden können. Dieser Kampf kann nicht zugunsten einer strategischen Option entschieden werden, weil der übergeordnete unparteiische Vergleichsmaßstab gerade fehlt. Beide Richtungen, die pazifistische und die nicht-pazifistische, können sowohl Rationalität als auch historische Erfolge für je ihre Konzeption in Anspruch nehmen. Pazifizierung (Unterwerfungsbereitschaft) und Non-Violence (Selbstverwirklichung) bleiben als Friedenszwecke so lange im Konflikt, als die im eigentlichen Sinne ethische Frage, warum das Töten schlecht sein soll, wenn es doch Menschen gibt, die Töten, bzw., die selbiges planen und deshalb als schlecht zu gelten haben, nicht beantwortet ist. Da Gandhi bis zu dieser einfachen und fundamentalen Frage vorstößt und dieser Vorstoß den säkularen Argumentationsrahmen sprengt, ist das Konzept Gandhis nicht einfach die religiöse Version einer Wahrheit, die auch in modernen rationalistischen Handlungskonzepten ausgedrückt werden kann. Zur Überführung der religiösen in eine nicht-religiöse Semantik dürfte nicht nur der entparadoxierte in Techniken verwandelte Gehalt berücksichtigt werden, vielmehr müsste Zugang zu jenen Paradoxien gewonnen werden, die das Denken Gandhis bestimmen. Gleichwohl bedarf es eines kleinsten gemeinsamen Nenners der religiösen und säkularen Konzepte der Gewaltfreiheit, weil andernfalls nur eine einzige Lesart Gandhis in Betracht kommt. Sind die von Gandhi verlangten Eigenschaften nur bei Heiligen anzutreffen, dann scheint es schlechterdings nicht möglich, ein genuin politisch-strategisches Konzept der Gewaltfreiheit auszuarbeiten. Dennoch bleiben prinzipielle Schwierigkeiten, Massenaufruhr einerseits anzuheizen, ihre Entladung andererseits aber so kontrollieren zu können, dass ausschließlich nichtgewaltsame Mittel zum Einsatz kommen, die selbst in pazifistischen Kreisen das militärische Instrument als Ultima ratio nicht vollends verwerfen lässt. Als geradezu symptomatische Argumentation können wir in diesem Zusammenhang eine Position nennen, die im Rahmen der Internationale der Kriegsdienstverweigerer in den zwanziger Jahren als Haltung der katholischen Kirche beschrieben wird. Während Gandhi an die menschlichen Stärken appelliert und mehr noch ein politisches Konzept entwickelt, das mit solchen Stärken rechnet, nimmt Nikolaus Ehlen die Schwierigkeiten zum Ausgangspunkt, die sich einem solchen Programm in den Weg stellen. Für ihn bedeutet von der wirklichen Welt und der in ihr lebenden Menschen auszugehen nicht nur, Konzepte für Menschen zu entwickeln, die die Kraft zur Nichtgewalt haben. Es bedeutet auch, für jene Sicherheit und Gerechtigkeit zu gewährleisten, die diese Kraft nicht aufbringen. Was hier durchscheint, ist die Augustinische Zweiweltenlehre einer sinnlichen Welt, in der die Gesetze mechanischer Gewalt herrschen und eine übersinnliche Welt der Seele und des Geistes, die im Gewissen der Gewalt etwas anderes entgegensetzt: „Denn, wenn das, was man das Gewissen nennt, Gottes Stimme wirklich ist, dann zerschellt alle mechanische Gewalt und zerstört sich selbst. Und diese Zerstörung trifft alles, was damit in Zusammenhang steht, die ganze Welt.“ (Ehlen 1928: 79).
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Da die Gewalt eine Kraft ist, die einen mechanischen Widerstand überwindet, der sich auch überall bemerkbar macht, wo Menschen einander begegnen, gehört die Gewalt ebenso zur irdischen Welt wie alles sinnlich Wahrnehmbare in dieser Welt. Sobald nun aber Innerweltlichkeit und mechanische Gewalt zusammengehören, kann die Kirche als eine irdische Einrichtung an dieser Wahrheit nicht vorbei. Sie kann auf die Gewalt als mechanischem Prinzip nicht ganz verzichten, ohne sich aus der Welt zurückzuziehen. Sie soll deshalb diese unvermeidliche Mechanik, die dort, wo sie willentlich genutzt wird, als Gewalt erscheint, zum Besten der Menschen anwenden. Das Beispiel für eine solche Gewalt ist das gewaltsame Einschreiten im Falle eines Menschen, der sich auf einen verborgenen Abgrund zu bewegt. Man könnte bei diesen Ausführungen Ehlens die Zweideutigkeit des deutschen Begriffs gegen die eindeutige angelsächsische Unterscheidung von power und violence ins Feld führen und das von Ehlen Gemeinte in die Nähe des deutschen Begriffs der Macht rücken. Das wäre jedoch eine tendenziöse Verkürzung. Denn das Phänomen, für das Ehlen den Begriff „Gewalt“ gebraucht, erstreckt sich durchaus auf die negativen Konnotationen des Gewalttätigen. Während die Differenz von power und violence mit der lateinischen Unterscheidung von potestas und violencia deckungsgleich ist und damit recht eigentlich den Unterschied von legaler und illegaler Gewalt angibt, ist „mechanische Gewalt“ ein ontologischer Begriff. Er wird zum Bewegungsprinzip in einer Welt von Widerständen, in der auf Bewegung verzichtet werden müsste, wenn Gewalt vermieden sein soll. Denn mit jedem Einwirken auf etwas Bestehendes wird dieses in seiner Eigenbewegung gestört und behindert. Da nach dem mittelalterlichen Gewaltenteilungsprinzip die Kirche als spirituelle Macht dem Staat gleichgestellt, wenn nicht gar übergeordnet ist, verbietet sich schon von daher ein legalistisches Begriffsverständnis, das entweder violence oder power meint. Aus der Perspektive der Differenz von Immanenz und Transzendenz liegen beide Begriffe auf derselben Ebene innerweltlicher mechanischer und darin möglicherweise schädigender Einwirkung. Dementsprechend ist die Zurückweisung des Prinzips der Gewaltlosigkeit in der Gandhischen Lesart dem Grundverständnis einer Wirkkraft geschuldet, die gelegentlich auf die Einwilligung desjenigen, auf den eingewirkt wird, verzichten muss. Die Zustimmung darf nicht Bedingung sein, wenn nur auf diese Weise großer Schaden abgewendet werden kann. Damit mag im Einzelfall eine Zwangsgewalt gerechtfertigt sein, ohne schon wie bei Hobbes als Friedensgarant sui generis zu erscheinen. Diese Gewalt, mit der die Kirche Schaden abwenden möchte erstreckt sich auf die Verteidigung im Falle eines kriegerischen Angriffs. Damit findet die Kriegsdienstverweigerung ihre Grenze in der Situation der Gefahr, denn die „Kirche sagt, dass es in der Notwehr zu töten erlaubt sei.“ (Ehlen 1928: 79). Entscheidend ist nun jedoch zweierlei: Einmal wird zum Ausdruck gebracht, dass es die Kirche ist, die unbeeinflusst von politischen Machtkalkülen bestimmt, wann der Verteidigungsfall tatsächlich eingetreten ist und wann dieser nur vorgeschoben wurde. Daneben wird
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Gewalt und Krieg als Ultima ratio auch wieder relativiert, indem die Verteidigung zwar für zulässig, aber nicht für notwendig erklärt wird: „Die Kirche sagt, dass es in der Notwehr zu töten erlaubt sei. Damit sagt sie schon, dass es keine allgemeine Verpflichtung gibt, die uns in der Notwehr zu töten nötigt. Unter Notwehr versteht sie aber einen Zustand, wo Leben gegen Leben steht, und es kein anderes Mittel zur Erhaltung des eigenen Lebens gibt als die Tötung des anderen! Nur in diesem Falle kann die Tötung erlaubt sein, aber auch dann ist sie nicht immer erlaubt; ob sie erlaubt ist, das zu erkennen hängt im wesentlichen auch von dem sittlichen Zustande des Menschen ab. Was dem Menschen des Alltags gestattet ist, das ist dem Heiligen noch lange nicht erlaubt, und auch das Umgekehrte ist richtig. Das Geheimnis der Verbindung Gottes mit dem Menschen ist hier das Entscheidende. Daraus ergibt sich auch die klare Erkenntnis, dass die letzte Entscheidung, die nicht erzwungen werden kann und darf, immer auf Seite des lebendigen Menschen liegt. Sieht ein Mensch gar kein anderes Mittel, gegen Gott und Welt gerecht zu sein, als die Tötung, so muss er sich dafür entscheiden. Ist aber seine Verbindung mit Gott so tief, dass er in freiem Leiden das Opfer seines Lebens bringt, so wird er auch gar nicht anders handeln können.“ „So sehr die Kirche ihren Gläubigen in allem das Kreuz vorhält, so sucht sie doch der Wirklichkeit jedes Menschen gerecht zu werden. Aber vielleicht ist es doch so, dass die Glieder der Kirche, die wie alle anderen Menschen dem Einflusse ihrer Umgebung erliegen, nicht genügend im Auge behalten haben, dass die Gewaltanwendung nie das letzte Mittel sein kann, sondern dass dem vollkommenen Menschen eben das freie Opfer seines Lebens …“ bleibt. (Ehlen 1928: 80).
Zusammen mit dieser christlichen Position283 haben wir für jeden Typus der „gewaltlosen Aktion“ ein Beispiel ausgewählt. Dieses richtet sich nach der Art und Weise, wie die Gewaltfreiheit verortet wird. Bei Gandhi handelt es sich um ein Vermögen, das jeder Mensch zu erwerben imstande ist, der die Wahrheit des ahimsa erkannt hat. Bei Gene Sharp und Johan Galtung ist die Gewaltfreiheit nicht nur eine mögliche, sondern im Atomzeitalter die einzig denkbare Strategie, tyrannischer und Fremdherrschaft zu trotzen. Sie bedarf der Einübung von soldatischen Tugenden, die schon deshalb nicht exklusiv sein können, weil sie zur Ausbildung jedes Soldaten gehören. Die Quelle dieser nichtgewaltsamen Kampfform ist die Rationalität. Bei Nikolaus Ehlen haben wir schließlich eine Position kennengelernt, bei der Gewaltlosigkeit die Art ist, in der sich Ausnahmepersonen (Heilige) durchzusetzen vermögen: Der fehlbare Durchschnittsmensch sieht sich damit überfordert; er soll dennoch das Beispiel von Golgatha immer vor Augen haben soll. Die ausschlaggebende Instanz, die den Modus der Verteidigung bestimmt, ist das Gewissen. Bemühungen um eine Säkularisierung der Non-Violence, die im Argument ihre entscheidende Stütze finden, gewaltlose Strategien hätten sich historisch bewährt, 283
Es handelt sich hier um eine unter vielen und ebensowenig um die christliche Position wie die der sozialen Verteidigung typisch für die säkulare ist.
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haben nicht im erhofften Ausmaß überzeugen können.284 Das steht auch mit dem in Zusammenhang, was wir im vorangegangenen Kapitel als Entdifferenzierung der Leitunterscheidungen der Moderne herausgearbeitet haben. Davon betroffen sind besonders Ansätze, die auf die überlegene Rationalität bestimmter Modelle gesetzt hatten. Nachdem die postmoderne Metaaufklärung das Unterscheiden von Rationalität und Irrationalität als abhängig von subsystemischen Präferenzen offengelegt hat, können Rationalität und Moralität nicht mehr wie in der Aufklärung als Synonyme behandelt werden. Der Gegensatz, der im Zusammenhang mit der Terrorismusproblematik zwischen religiöser und säkularer Weltbetrachtung aufgebaut wird, hängt mit einer groß angelegten Entzweiung zusammen, die heute als Kampf um die Leitkultur der Weltgesellschaft in Erscheinung tritt. Löst man sich von der ausschließlichen Beschäftigung mit dem Pazifismus als einem Gegenstand historisch-ideengeschichtlicher Forschung und projiziert die hier entwickelten Konzepte und Problemlösungsmethoden auf unser globalisiertes Weltund Politikverständnis, dann zeigt sich der Pazifismus in seiner ganzen Sprengkraft. Ausgehend von einem politischen Koordinatensystem, das alle Ereignisse vor dem Hintergrund antizipierter Weltinnenpolitik deutet, wird die extreme Störanfälligkeit einer Weltgemeinschaft, in der es regionale Autarkie so gut wie nicht mehr gibt,285 zu einem Argument gegen jegliche – gewaltsame oder nichtgewaltsame – Obstruktion. Das Funktionieren der Weltwirtschaft erscheint als alternativloser Imperativ einer auf Wachstum gegründeten Daseinsvorsorge. Weder Gerechtigkeitsforderungen noch einzelstaatliche Souveränität liegen im Interesse des grenzüberschreitenden Kapitals, das neue Märkte erschließen muss, um konkurrenzfähig zu sein. Es gibt gegenwärtig keine soziale Vision alternativer Modernität, die ein ideelles Gegengewicht zu einem hegemonialen Diskurs bereitstellen könnte, der „Demokratie“ und „Menschenrechte“ in einen Diskurs der Gewaltrechtfertigung verwandelt hat. Die Konversion des Selbstmordterrorismus zur Non-Violence286 könnte von den Akteuren der politischen und wirtschaftlichen Globalisierung in einer ganz ähnlichen Weise als ungleich bedrohlicher weil destabilisierender eingestuft werden, wie dies zu Beginn des letzten Jahrhunderts von den Akteuren des britischen Empire angesichts der Aktionen Gandhis geschehen ist. Nicht nur das britische Weltreich ist 284
Logisch hängt dies mit der Verankerung der kriegsbejahenden und der kriegsverneinenden Haltung in den bereits erwähnten „kontrafaktischen Konditionals“ ab, die weder die empirische Bestätigung noch die Widerlegung möglich machen. Siehe oben S. 80. 285 Freie Bürger sind als Träger einer Friedensordnung u.a. durch Unabhängigkeit gekennzeichnet. Nur unter dieser Bedingung kann der Handelsgeist nach Kant nicht zusammen mit dem Krieg bestehen. („Zum ewigen Frieden“ in: Batscha/Saage 1979: 37ff.). Aus der Ablehnung einer Universalmonarchie (politischer Zentralisierung), folgt auch die Ablehnung der wirtschaftlichen Vereinheitlichung, da das, was heute wirtschaftliche Globalisierung heißt, eines Weltstaates bedarf. 286 So gibt es bereits palästinensische Gandhi-Anhänger, die von erfolgreichen gewaltfreien Aktionen berichten. Siehe Mohammed Daragmeh, „Die neuen palästinensischen Gandhi-Anhänger – erfolgreiche gewaltfreie Erfahrungen“, in: Middle East Times vom 17.06.2005.
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durch den Erfolg der indischen Befreiungsbewegung in einen unumkehrbaren Prozess der Erosion geraten, auch die holländischen und französischen Kolonien konnten sich immer schwerer halten. Die vorübergehenden Erfolge nachholender Kolonialpolitik Hitlers mögen sich der neuartigen, revolutionären Ideologie des Nationalsozialismus verdankt haben. Anders als die alten Kolonialmächte hatte Hitler die Expansion nicht mit den Ideen einer aus Humanismus und Aufklärung hervorgegangenen kulturellen Überlegenheit gerechtfertigt; er hatte sich vielmehr auf die neuesten biologisch-rassekundlichen Forschungen und auf revolutionäre antihumanistische Philosophien gestützt, die das Prinzip von Fortschritt und Höherentwicklung als evolutionistisches Ausleseprinzip interpretierten.287 Gegenwärtig profitieren politische und wirtschaftliche Systeme vom Terrorismus insofern, als die von den Weltwirtschaftsagenturen benötigten Revolutionen von oben legitimiert werden können. Alle Regime, die einen ungehinderten Zugang zu lokalen Märkten verwehren, gefährden den auf billigen Arbeitskräften und enormem Ressourcenverbrauch beruhenden Wohlstand der Industriestaaten. Die historischen Erben der „aufrechten und tapferen Pazifisten“ werden heute eher in den staatlichen Akteuren des Westens wiedererkannt, während zeitgenössische Rebellen auf die Seite der beharrenden Kräfte geraten, die eine vom aufgeklärten und fortschrittlichen Westen überwundene religiös-theokratische gesellschaftliche Verfassung anstreben. Alle säkular-wohlfahrtsstaatlich-egalitär orientierten Kritiken werden als Relikt der 1989 überwundenen Bipolarität marginalisiert. Die neuen Kampffronten liegen quer zu allen Unterscheidungen, die seit Aufklärung und glorious revolution bestimmend waren. Sie gruppieren sich um das eine große Schisma von säkular und religiös. Selbiges aber verwandelt sich zunehmend in ein Instrument des Kulturkampfes. Dieser funktioniert, indem simplifizierende semantische Formeln, die Eindeutigkeit vortäuschen, den Sinn der Unterscheidung festlegen. Säkulares Denken wird mit Kontingenzbewusstsein, Toleranz, kulturellem Pluralismus, Glaubensfreiheit, Primat der Vernunft, Achtung der Menschenrechte, Anerkennung eines Rechts auf Anderssein und Andersdenken gleichgesetzt. Auf diese Weise wird es schlicht als „gutes Verhalten“ der positiven Seite des Moralcodes zugeschrieben. Religiöses Denken wird kontrastierend zum Inbegriff alles dessen, was offenes und versöhnliches Miteinander gefährdet.288 287
Die These, der moderne Totalitarismus sei aus dem Imperialismus und dessen „administrativen Massakern“ entstanden, vertritt Hannah Arendt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Siehe dazu Stuchtey (2003). 288 Volker Kronenberg (2005) möchte das Problem der Fragmentierung durch die Existenz von Parallelgesellschaften und Gettos auf dem Wege einer Durchsetzung der westlichen Leitkultur lösen, die sich gegenüber anderen Kulturen eben durch all die genannten Vorzüge auszeichnet. Gegen diese schlichte Lösung gibt Heinz Theisen (2005) zu bedenken, dass sich Europas Kulturrelativismus nach innen und sein Kulturuniversalismus nach außen am Fehlen von Maßstäben für innere und äußere Grenzen ablesen lasse. Damit entstehe eine doppelte Gefahr: Indem Multikulturalismus und Toleranz mit Gleichgültigkeit und Beliebigkeit verwechselt würden, drohte der westlichen Kultur Identitätslo-
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In diesem festgefahrenen Diskurs und dieser unproduktiven Form der Auseinandersetzung kann die Beschäftigung mit dem religiösen Wahrheitsverständnis, wie es Gandhi in einer allen Religionen und Kulturen kompatiblen – theoretischpraktischen – Sprache dargelegt hat, klärend wirken. Der religiöse Wahrheitsbegriff stellt die Kriterien des Unterscheidens von wahr und falsch in einen Horizont der Ewigkeit – der endlosen Suche nach den Geltungsgründen solcher Kriterien. Der säkulare Wahrheitsbegriff versteht die Kriterien des Unterscheidens von wahr und falsch als solche, die sich in der empirischen Überprüfung bewähren müssen. Relativität und Toleranz sind im religiösen Wahrheitsverständnis aus der Tatsache des infiniten Regresses aller Wahrheitssuche und der Fehlbarkeit des Menschen abgeleitet. Sie ergeben sich im säkularen Verständnis aus der Vorläufigkeit aller empirisch gewonnenen „Erkenntnisse“, die durch nachfolgende Untersuchungen wieder falsifiziert werden können. Die aggressiven kulturkämpferischen Parolen verschwinden in einer Betrachtung, die gegen die Verabsolutierung einer der beiden Seiten einer Unterscheidung gefeit macht. Es gibt nicht das Säkulare an sich, sondern nur eine Säkularisierung des Religiösen. Diese tendiert in erster Linie dazu, die moralischen und ethischen, innerhalb der Religionen entwickelten Richtlinien in eine neue Semantik zu überführen, die für alle Menschen verständlich ist.289 Angesichts der kulturellen und konfessionellen Ausdifferenzierung kann dies von den religiösen Semantiken kaum noch gewährleistet werden. Doch auch die säkulare Moralsemantik hat sich seit der Aufklärung ausdifferenziert und in eine Vielzahl von weltanschaulichen Richtungen gespalten. Aus diesem Grund befinden wir uns heute nicht mehr in einer Situation vergleichbar derjenigen Europas im achtzehnten Jahrhundert, als die Säkularisierung des Christentums Hoffnungen in eine einheitliche, universal gültige Moral wecken mochte. Einen Versuch der Vermittlung von säkularem und religiösem Wesen finden wir durchaus nicht nur bei Kant, dessen Bemühungen in jene Phase europäischer Geschichte fällt, die von der in Rechtsprinzipien umzuformenden weltanschaulichen Moral noch einen Ausweg aus dem Problem religiöser und säkularer Glaubenskriege erwarten ließ. Auch Gandhi unternimmt einen solchen Versuch, freilich von einer anderen, nämlich einer hinduistischen, Kulturtradition aus. Er war durch Ausbildung und berufliche Tätigkeit als Rechtsanwalt mit der europäischen Kultur, und zwar im Kontext der besonderen Zeitströmung vertraut, wie sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dominiert hat. Diese ist vom Kulturpessimismus eines Schopenhauer und Nietzsche geprägt. In „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Schopenhauer 1818) oder „Also sprach Zarathustra“ (Nietzsche 1885) werden die Welt als Wille und Macht beschrieben. Man muss dazu anmerken, dass diese Betonung von Wille sigkeit. Die Universalisierung der westlichen Strukturen und Werte aber verwickele den Westen in Regionen, die dieser nicht verstehe und in Kriege, die nicht gewonnen werden könnten. 289 Siehe zu diesen Versuchen jetzt Jürgen Habermas (2005), der das Gemeinsame jedoch aus der Anpassung des Religiösen an säkulares Denken folgert.
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und Macht auch vor dem Hintergrund der demütigenden Napoleonischen Kriege und dem daraus erwachsenen Bestreben zu interpretieren ist, zu einer eigenen nationalen Identität finden zu können. Damit sucht Deutschland Anschluss an ein gesamteuropäisches Überlegenheitsbewusstsein, das nach Schwachen Ausschau halten ließ, die zu beherrschen das Selbstgefühl steigert. Die Eroberung überseeischer Gebiete nun auch von Seiten der „verspäteten Nation Deutschland“ und die aggressive Besitzstandswahrung der übrigen Kolonialmächte gegen allen Widerstand der einheimischen Bevölkerungen, liegen auf dieser Linie. Gandhi nun deutet diese europäische Betonung von Wille und Macht als Zeichen eines mehr aufs Weltliche bezogenen okzidentalen Wesens und Kulturverständnisses, das er durchaus von seinen organisatorischen und wissenschaftlichen Leistungen her würdigt, aber dennoch als geistig-seelische Verarmung einem orientalischen Sinn für religiöse und metaphysische Fragen gegenüberstellt. Durch eine besondere Kombination beider Mentalitäten möchte er die einen bereichern und den anderen behilflich sein, die Nachteile der weltabgewandten spirituellen Haltung zu kompensieren und einen Willen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu wecken. Vor diesem Hintergrund muss eine Formel interpretiert werden wie „Macht der Liebe“, mit der Gandhi die europäische „Liebe zur Macht“ einfach umdreht, bzw., ins rechte Verhältnis zu setzen sucht. Was offensichtlich mit dieser Formel nicht gemeint ist, ist der eher naive Glaube, dass man mit Liebe den eigenen Willen – die eigenen Vorstellungen von besserem Leben – leichter durchsetzen könne als mit Gewalt. Denn es geht gerade nicht um diese selbstbezogene individuelle und kollektive Willenskraft, sondern um die Mobilisierung dieses Willens zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Anderen. Nicht das Beherrschen des Anderen – zu dessen angeblich längerfristigem Wohl, sondern die liebende Sorge um den Anderen steht im Mittelpunkt. Damit kommen wir wieder zur Ausgangsfrage zurück, ob Gandhi ein Friedensmodell für ein Volk von Engeln entworfen habe. Bevor diese Frage erneut aufgegriffen wird, soll die inverse Botschaft Kants, dass sein Modell selbst ein Volk von Teufeln noch zum Frieden motivieren könne, näher betrachtet werden, um von dieser für uns geläufigeren Lösung aus eine Plattform auch für die Politisierung der Liebe zu gewinnen. Sieht man sich die Quelle genauer an, aus der Kant und Gandhi die menschliche Fähigkeit zur Friedensstiftung schöpfen, so könnte sich der Gegensatz als weniger gravierend erweisen. Die Quelle ist bei Kant eine menschliche Vernunft, die jedem Einsichtigen die eminenten Vorteile des strikten Rechtsgehorsams vor Augen führt. Was der Utilitarismus meint empirisch nachweisen zu können, dass nämlich solidarisches und kooperatives Verhalten für jeden, der Nutzen und Schaden realistisch einschätzen kann, vorgezogen werden müsse gegenüber unsolidarischem und unkooperativem Verhalten, ist bei Kant im kategorischen Imperativ a priori vorausgesetzt. Es bedarf keines Nachweises, denn der Vorteil erschließt sich der Vernunft.
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Ein Problem tritt dann auf, wenn Regel, Norm oder Recht als differenzlose Begriffe gehandhabt werden. Was ist damit gemeint? Es ist damit ausgesagt, dass sich Vorteil und Nachteil nur auf das Insgesamt der Verhältnisse richten können, die nicht etwa durch Regel, Norm und Recht, sondern vielmehr durch ein Unterscheiden von Regel und Ausnahme, von Norm und Normwidrig, von Recht und Unrecht geordnet werden. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach diesen Schemata zu regeln bedeutet, ein bestimmtes Verhalten als regelhaft zu definieren und zum „Gesetz“ zu erheben und anderes Verhalten als regelwidrig zu verwerfen. Das ordnungsstiftende Moment dieser Operation liegt nicht darin, dass bestimmte Verhaltensweisen, die „intrinsisch“ gut sind, zur Maxime eigenen Handelns erklärt werden. Denn dies hätte wieder das Recht durch die Moral desavouiert. Das „intrinsisch“ Gute ist in dieser rechtsphilosophisch erweiterten Form ein Grundsatz, der die Chancen seiner allgemeinen Geltung antizipiert. Worauf aber lassen sich Menschen verpflichten, die so viel Verstand besitzen, dass sie die Herrschaft des Rechts über die Gewalt wünschen und in ihrem Handeln unterstützen? Ist es möglich, den Gehorsam auf den Gehorsam gegenüber dem positiven Wert (Rechtsgehorsam) zu beschränken, wenn die Grenze zwischen Recht und Unrecht nicht zugleich als variabel, als veränderbar begriffen wird? Dem nicht nur gut gewillten, sondern womöglich teuflischen Verstand, den Kant in sein Modell integrieren möchte, mag sehr wohl einsichtig sein, dass es für alle und damit auch für ihn selbst verhängnisvoll wäre, wenn jeder blindlings seinen Leidenschaften folgt und also Regellosigkeit herrscht. Regellosigkeit aber bedeutet nichts anderes, als fehlende Orientierung am Schema Norm/Normwidrig und keinesfalls, dass alle normgemäß handeln. Die von Kant empfohlene Selbstverpflichtung kann sich also immer nur auf die Verpflichtung beziehen, zwischen Norm und Normwidrig zu unterscheiden. Und dieses Unterscheiden kommt nicht nur zustande, wenn man sich selbst bemüht, normgerecht zu handeln, sondern auch dadurch, dass man Normwidrigkeit bei Anderen tadelt, oder Anderen diese Rolle des Normbrechers (heute: Schläfers) zuteilt. Mehr ist nicht nur für den Teufel undenkbar, sondern auch für den Durchschnittsbürger angesichts der Tatsache, dass die Vorstellung vom Normativen einem Wandel unterworfen ist. Was heute als Regel gilt, kann morgen regelwidrig sein. Das Einzige, was an Substanziellem des Rechtsgehorsams bleibt, ist die Selbstverpflichtung auf Solidarität und Kooperation. Selbige aber gehen sehr unterschiedliche Wege und durchaus nicht bevorzugt friedliche. Als es in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts darum ging, die Schmach zu rächen, die dem deutschen Volk durch den Versailler Vertrag angetan worden war und als es darum ging, dem deutschen Volk den nötigen Lebensraum zu erkämpfen – den sich die Kolonialmächte schon seit geraumer Zeit und ohne größeren Widerstand beschafft hatten –, mochte sich so mancher gute Bürger an seine Solidaritätspflichten, seinen Rechtsgehorsam und an das erinnern, was er von klein
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auf gelernt hatte, nämlich Regeln zu befolgen.290 Man sieht an diesem Beispiel sehr gut, dass Kant den Frieden schwerlich als Selbstverpflichtung auf den Gehorsam gegenüber einem bestimmten Vorzugswert gemeint haben kann, sondern nur als Verpflichtung, sich in seinem Handeln nach der Unterscheidung von Norm und Normwidrig zu richten. Die einzelnen Gesetze und Normen beziehen nämlich aus der bestimmten Art und Weise, in der die Differenz gehandhabt wird, ihre Bedeutung. Wenn die aus dem kategorischen Imperativ abgeleitete Rechtsordnung nur die Verpflichtung impliziert, sich in seinem Handeln nach der Unterscheidung von Norm und Normwidrig zu richten, dann ist damit noch nicht die Art des Umgangs mit diesem Schema vorgezeichnet. Zwar bleibt die Einsicht unwidersprochen, dass der positive Wert der Unterscheidung immer die Norm und nicht die Normwidrigkeit sein kann. Aber aus dieser Präferenzstruktur der Unterscheidung lässt sich für den einzelnen Menschen und für die einzelne Situation nicht schon ein Handlungsimperativ ableiten. So wird aus dem Rechtsgehorsam die gehorsame Achtung des Recht/UnrechtSchemas bzw. des Regel/Ausnahme-Schemas, das dem rechtschaffenden Bürger erlaubt, situationsadäquat zu handeln. Das bedeutet, ein Mensch verstößt nicht gegen den kategorischen Imperativ, er orientiert sich auch dann noch am Schema Recht/ Rechtswidrig, wenn er in genau diesem Augenblick, der durch außerordentliche Umstände gekennzeichnet ist, das Schema flexibel handhabt. Das kann mitunter bedeuten, sich am Rechtswidrigen zu orientieren. Dieser Logik folgte mit rechtspazifistischem Plazet die NATO, als sie sich entschloss, Jugoslawien völkerrechtswidrig anzugreifen und die USA und ihre Verbündeten, ohne dieses Plazet, als sie in Afghanistan und den Irak ohne Beschluss des Weltsicherheitsrates militärisch intervenierten. Die Solidaritätspflichten der Bündnistreue beziehen sich heute auf gemeinsame Aktionen der westlichen Freunde, die vom Rest der Welt als bedrohlich wahrgenommen werden.291 Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass die als Rechtsstaatlichkeit konzipierte Friedensordnung Kants insofern auch für ein Volk von Teufeln verbindlich sein kann, als einem jeden Teufel einleuchten dürfte, dass ein gesellschaftlicher Zustand, der durch das Regel/Ausnahme-Schema strukturiert ist, in jeder Hinsicht einem Zustand vorzuziehen ist, in dem jeder sein eigenes Gesetz macht und damit allgemeine Erwartungsunsicherheit herrscht. Es dürfte ihm aber nicht in gleicher Weise einleuchten, weshalb er nicht den speziellen Nutzen einkalkulieren sollte, den ein flexibler Umgang mit der Unterscheidung in einer ganz bestimmten Situation ver290
Zu erinnern ist, dass es für Kant auch im Fall tyrannischer Herrschaft kein Widerstandsrecht gibt. Siehe dazu Hirsch (2004: 160ff.). 291 Diese heutige rechtspazifistische Lesart Kants ist bezeichnend, weil sie eine Logik zu Tage fördert, gegen die Kant („Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen.“ (1797), in: Immanuel Kant, Was ist Aufklärung. Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, Göttingen 1967) selbst mit dem so rigorosen Lügenbeispiel nicht ankommt.
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spricht. Diese These müssen wir nun jedoch noch sehr viel mehr zuspitzen, um einen Anschluss an Gandhi herstellen zu können. Spannt man nämlich die beiden im Rechtsgehorsam enthaltenen Aussagen zusammen, dann ergibt dies ein Bild, das noch in einer weiteren Hinsicht auch, oder besonders, für Teufel attraktiv ist. Einmal hatten wir gesagt, dass angesichts der Kontingenz des Präferenzcodes – was Recht und Norm ist, verändert sich – die Menschen nur auf die Orientierung am Schema als ganzem verpflichtet werden können. Zugleich mussten wir zugeben, dass sich der positive Wert immer auf der Seite des Rechts und der Norm befindet und damit trotz kontingenter, zeitabhängiger Handhabung der Differenz, der Rechtsgehorsam und nicht der Rechtsmissbrauch zur Orientierungsfigur wird. Außerdem hatten wir festgestellt, dass diese Struktur der Unterscheidung, die so geartet ist, dass mit den eigenen Operationen immer auf der Seite des Vorzugswerts angeschlossen wird (jeder versteht die eigene Gewalt als Gegengewalt), für die konkrete Entscheidung in einer konkreten Situation nichts aussagt. Bestünde diese Unsicherheit nicht, dann wäre die rechtspazifistische Legitimation der NATO-Bombardements im Kosovokrieg einhellig als grandioses Missverständnis des Kantischen Friedensansatzes verurteilt worden. Das apodiktische, von der konkreten Situation abstrahierende Festhalten am Präferenzcode, der Verzicht auf die Lüge selbst dann, wenn mit dieser Lüge ganz offensichtlich das Leben eines Menschen gerettet werden kann, erscheint aus der menschenrechtlichen Perspektive teuflisch. Kant selbst aber verwirft dieses „vermeintliche Recht, aus Menschenliebe zu lügen“ und scheint damit den Tod eines Menschen gegenüber der Beschädigung des reinen formalen Rechtsprinzips als kleineres Übel einzustufen. Die einhellige Verurteilung dieses moralischen Rigorismus, dieser als protestantische Sittenstrenge, als „Prinzipienreiterei“ gemaßregelten Treue gegenüber einer Maxime, die zum Gesetz allgemeinen Handelns erklärt worden war, findet aus eben jenen humanistischen Gründen statt, die Kant zum strikten Rechtsgehorsam veranlasst hatte. Damit sind wir bei einer Konstruktion angelangt, die nicht nur „auch“ für Teufel akzeptabel ist, sondern die ganz besonders teuflischen Naturen ein semantisches Instrumentarium an die Hand gibt, zu schädigen und zu töten. Einmal lässt die flexible Handhabung der Differenz von Recht und Unrecht als ganzer ein breites Spektrum an Maßnahmen zu – vom klärenden Gespräch über die Verhandlung bis zur Bombardierung – mit denen rechtsstaatliche Verhältnisse geschaffen werden. Zu dieser Lesart des Rechtspazifismus als aggressiver Kosmopolitismus seit Woodrow Wilson, siehe Bernasconi 2007: 31ff. Zum anderen ermöglicht ein prinzipientreues formalrechtliches Vorgehen, den fremdverschuldeten Tod anderer Menschen hinzunehmen. Daraus müssen wir folgern, dass im eigentlichen Sinne human erst eine Rezeption des Kantischen Rechtfertigungsdenkens genannt werden kann, die sich von der hyperflexiblen Handhabung der Differenz von Recht und Unrecht ebenso wie von der starren Befolgung des Präferenzcodes „koste es, was es wolle“, entfernt. Das Frappierende dieser Reflexion ist nun aber, dass sich dieselben Überlegungen dem Engel aufdrängen, dem wahrhaft guten Menschen, den Gandhi für sein
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Modell benötigt. Auch der menschliche Idealtypus, der das Wohl des Anderen in allen Lebenslagen über sein eigenes stellt, kann sich nicht auf die blinde und gleichsam mechanische Befolgung des positiven Wertes, der Liebe, der Demut, der Treue und der Wahrheit festlegen. Denn eben diese geben sich erst in der konkreten Situation zu erkennen. Was liebendes, den Anderen achtendes und wahrhaftiges Verhalten ist, lässt sich eben nicht ein für allemal in Dogmen, Texten, also Normen, Gesetzen, Rechtskodizes oder Regeln festlegen. Selbst der Vorrang des Anderen versetzt als blind befolgte Regel gar nicht in die Lage, positives im Sinne der friedlichen Konfliktlösung zu bewirken. Die alltagsweltliche Nähe von „gut“ und „blöd“ ist ja keine Erfindung bösartiger Menschen, sondern die Wiedergabe beobachtbarer Wirkungen. Was im Falle Gandhis die ganze Welt in Aufruhr und zum Umdenken bringen konnte, das wurde im Kosovokrieg lächerlich gemacht. Man erinnere sich an jene Menschen, die in demonstrativer Selbstaufopferung an Brückenpfeiler gekettet, der Welt die Unmenschlichkeit der NATO-Bombardements vor Augen zu führen wollten. Dies ist mitnichten gelungen, denn die westliche Presse wertete diesen als „gewaltlose Aktion“ deklarierten Vorfall als Zeichen fehlgeleiteter Gesinnung. Im Versuch der Verwissenschaftlichung von satyagraha im Sinne eines Herausdestillierens von Wirk- und Regelmechanismen, die in jeder Situation anwendbar sind, können solche unterschiedlichen Rezeptionen nicht mehr erklärt werden. Denn hier geht es um das Verstehen einer Paradoxie, um die nicht regelbare, nicht kodifizierbare liebende Zuwendung, die sich von der Reaktion des Anderen unabhängig macht und eben gerade dadurch wirkt. Die wissenschaftliche Suche nach der Wirkweise dieser „Kraft der Liebe“, der „Gewaltlosigkeit“ oder „Gütekraft“ bemüht sich im Kern um nichts anderes, als herauszufinden, worin die Gesetzmäßigkeiten des Heteronomen, worin das Normative der Ausnahme, wo sich die Regeln des Regellosen verbergen. Wann immer sich eine Regelhaftigkeit im Ausnahmegeschehen entdecken lässt, da produziert eben diese Regelhaftigkeit stante pede ihre eigene Ausnahme. Regel und Ausnahme ist ein kognitives Schema, das sich immer nur in Bezug auf ganz spezifische Konkretisierungen dessen aufheben lässt, was jeweils als Normalität und was als Ausnahme gilt. Das Schema selbst aber ist unaufhebbar. Die eigentümliche Wirkweise der „paradoxen Intervention“ besteht im therapeutischen Bereich in der Unkenntnis des Patienten. Die Aufforderung zum Bettnässen darf nicht in seiner Umkehrwirkung durchschaut werden. So verhält es sich auch bei der kollektiven Konflikttransformation, in der Hass mit Liebe begegnet wird. Der Erfolg Gandhis beruhte auf einer perfekten und totalen Enttäuschung aller Erwartungen.292 Dass gedemütigte, misshandelte Menschen nicht zurückschlagen, und mehr 292
Es wird jedoch immer wieder das Gegenteil behauptet, so Galtung (in: Bläsi 2001: 10): Gütekräftiges Vorgehen „wirkt durch das Ausmaß an Verlässlichkeit, zu dem der andere sich sicher und unbedroht fühlt, und durch die er gleichzeitig in den tiefer liegenden Schichten der Seele angesprochen wird.“ Die Briten haben jedoch nur deshalb nachgegeben, weil sie sich nicht mehr sicher und weil sie sich durch die gewaltlosen Aktionen als Kolonialmacht bedroht fühlten. Diese paradoxe Wirkung ist
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noch, dass Hunderte und Tausende sich in dieser Weise nicht erwartungskonform verhielten, destabilisierte ein auf kultureller Überlegenheit gegründetes koloniales Sinnkonstrukt. Eine „primitivere Rasse“ zeigte ein Ausmaß an Humanität und Moralität, die die ganze Welt beschämte. Gerade am indischen Beispiel wird die Singularität und Nichtübertragbarkeit der „paradoxen Intervention“ deutlich. In jedem Fall aber hatte es Gandhi mit einem bereits in seinen Grundfesten erschütterten Kolonialismus zu tun, der – wie die gescheiterten „verspäteten“ Versuche Hitler-Deutschlands beweisen – zunehmend mit dem Widerstand der unterdrückten Völker rechnen musste. „Gewaltlosigkeit“ fungierte in Indien als revolutionärer Geburthelfer ganz im Sinne des marxistischen Verständnisses. Alexis de Tocqueville hatte in seiner Schrift „L’Ancien Régime et la Revolution“ von 1856 die Bedeutung des gewaltsamen Umsturzes herabgesetzt und eine gewaltlose Transformation für ein Land ebenso wahrscheinlich gehalten, dessen feudale Strukturen funktionsuntüchtig und dessen aristokratische Eliten dekadent geworden waren. Unter dem Einfluss der Geschichtsdeutungen von Kant, Hegel und Marx hat sich indes bis heute ein Diskurs der Gewaltrechtfertigung behaupten können, der das historische Datum von 1789 als auf Gewalt gegründeten Beginn eines modernen demokratischen (die Modelle von unmittelbarer und Rätedemokratie eingeschlossen) Zeitalters feiert. Genau hier aber wäre wissenschaftliche Durchdringung vonnöten; es müsste Licht in jene geheimen Triebkräfte einer Diskursgeschichte gebracht werden, die immer wieder die Gewalt und nicht gewaltlose Aktionen als geschichtsmächtig darstellt. Denn auch heute wieder vermag eine der grandiosesten Konflikttransformationen der Geschichte, nämlich die unblutige Revolution von 1989, mit der ein hochexplosives Abschreckungssystem beendet wurde, nicht, den tradierten Diskurs der Gewaltrechtfertigung zu beeinflussen. Nach wie vor besitzen jene Interpreten die Deutungshoheit, die den Zusammenbruch des kommunistischen Einparteienstaates der westlichen Strategie des Todrüstens zuschreiben und nicht den destabilisierenden Wirkungen von Entspannungspolitik und grenzüberschreitender Friedensbewegung.293 Die diametrale Position, die bei Gandhi den Typus des Engels aktualisiert, lässt sich gewissermaßen als Verweigerung der Antiposition verstehen, welche in Hobbes und an diesen anschließendem Kant deutlich wird. Für Hobbes und Kant liefert eine Situation den Ausgangspunkt friedenstheoretischer und -praktischer Reflexion, die sich am besten als Gefangenendilemma294 beschreiben lässt. Jeder weiß, dass der andere weiß, das man selbst um die Gefahren weiß, die vom anderen ausgehen und um die Nutzung jedes Entgegenkommens für eigene Vorteile. Man weiß auch, dass bei Galtung (1998: 207f.) als Bestandteil einer gestuften Strategie nicht mehr paradox: Die Desintegration und sogar Konflikteskalation verschafft beiden Seiten die Chance, ein höheres Selbstständigkeitsniveau zu erreichen. Auf diesem greifen erst gewaltlose Strategien. 293 So jetzt John Patrick Diggins (2007), der in Ronald Reagan den wahren Beender des Kalten Krieges sieht. 294 Siehe dazu Kleemeier (2002: 302).
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jeder Schritt falsch ist und dass man nur zwischen falschen Schritten zu wählen hat. Die Verpflichtung auf eine gemeinsame Institution, eine Regel, einen Gesetzestext, scheint einen Ausweg zu bieten. Genau betrachtet ist dies aber kein Ausweg, weil gerade der gemeinsame Vertragsabschluss dem teuflischen Verstand – wie wir oben gesehen haben – besondere Möglichkeiten verschafft. Aus diesem Grund verwirft Gandhi diesen Ausgangspunkt des Gefangenendilemmas und behauptet im Gegenteil, nur derjenige Mensch befinde sich in einem solchen Dilemma, der sich allzu sehr an irdische Güter gebunden habe, an Sicherheit, an Wohlstand, an das Leben. Allein diese asketische Haltung zeigt sich als das reine Mittel, das aus dem Gefangenendilemma entkommen lässt, indem es ganz vom Zweck und von allem, was sich in diesem versammelt, eben Sicherheit, Wohlstand und Leben, Abstand gewinnt. Ist man einmal zu dieser Einsicht vorgedrungen, dann zeigt sich die Nähe nicht nur zum „gewaltlosen, reinen Mittel“ Walter Benjamins (1921/1971: 36), sondern auch zum Selbstmordterrorismus islamistischer Provenienz. Obgleich der Gegensatz zwischen dem Terroristen, der den Tod Anderer als Kollateralschaden in Kauf nimmt oder sogar benötigt, und dem Pazifismus Gandhis, für den das Töten als Mittel ausscheidet, nicht größer sein könnte, werden beide als destabilisierende Kräfte analog eingestuft. Die von Gandhi ins Leben gerufenen Kampagnen sind mitunter in Gewalt ausgeartet und sie hätten im Falle des Generalstreiks – der das Zusammenbrechen einer Wirtschaft zur Folge haben kann – Opfer an Menschenleben gefordert. Die Ambivalenz lässt sich aus dem Modell Gandhis ebenso wenig beseitigen wie aus dem von Kant. Damit kommen wir zum gemeinsamen Kern beider Friedensdenker. Beide setzten auf die Wahrhaftigkeit, die konsequente Treue sich selbst gegenüber, die sich im religiösen Kontext als Gewissensentscheidung zeigt. Kant will die Selbstverpflichtung auf ein Handeln nach verallgemeinerbaren Maximen zum tragenden Pfeiler der Gemeinschaftsordnung machen295 und überfordert damit den Menschen nicht minder als es Gandhi tut. Was beide voneinander entfernt, ist die Tatsache, dass Kant diese Selbstverpflichtung in Institutionengründung münden lässt, während Gandhi eben diese Verpflichtung in das bindungsfreie gewaltlose Handeln münden lässt und damit eine Unabhängigkeit von Institutionen zu erreichen sucht. Der Tod aber lauert in beiden Versionen, im Versuch der institutionellen Absicherung und im Versuch der Befreiung von allen institutionellen Zwängen und Sicherheiten. Es handelt sich um unterschiedliche Semantiken, die je für ihre Zeit das Frieden stiftende Prinzip der Wahrhaftigkeit zum Ausdruck zu bringen suchen. Bei beiden Persönlichkeiten ist der Friede ein paradoxes Phänomen und damit nicht einfach als garantierter Lebensschutz und als garantierter Sieg des Guten zu verstehen. Aufgrund 295
Es geht auch darum, alle Täuschungsmöglichkeiten auszuschließen. Insofern beruht der Friede bei Kant auf der Pflicht, nicht zu täuschen. Siehe dazu Piepmeier 1987: 18.
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dieses unterschiedliche Fokus’, der sich einmal auf die Institutionenbildung und ein anderes Mal auf die Unabhängigkeit von Institutionen richtet, mag in der heutigen Weltlage womöglich dem Projekt Gandhis eine größere Friedensstiftungsfunktion zukommen. Denn die kulturell fragmentierte Weltgemeinschaft wird die Fortentwicklung und selbst die Reformierung der bisher geschaffenen Organisationen immer nur als Machtinstrumente in den Händen des siegreichen Westens ansehen, der globale Hegemonie anstrebt und zur Legitimation die gesamte abendländische Philosophiegeschichte auffährt. Hier kann der Gandhische widerständige Fokus für jene neun Achtel der Weltbevölkerung wertvoll sein, die sich nicht vereinnahmen, die sich nicht umerziehen und im westlichen Sinne zivilisieren lassen wollen. Er könnte Wege jenseits des internationalen Terrorismus sichtbar machen, der Probleme nicht löst, sondern nur verschärft.
Schlussbetrachtung
Unter dem Aspekt einer sozialen Bewegung betrachtet, erfüllt der Pazifismus die Funktion aller „Ismen“ in modernen Gesellschaften. Der „Ismus“ markiert als Appendix zu Begriffen, die ein moralisch Vorzuziehendes oder Abzulehnendes bezeichnen, etwas ganz bestimmtes, das zu begreifen zur Voraussetzung für ein Begreifen auch des Pazifismus wird. Sind moralisch positiv oder negativ aufgeladene Begriffe wie „Sozial“, „National“, „Fundamental“, „Terror“, usw. mit einem „Ismus“ versehen, dann handelt es sich um politische Semantiken, die dazu aufrufen, für oder gegen etwas zu kämpfen, das in modernen funktional differenzierten Gesellschaft verschwunden ist, nämlich ein gemeinsames Ziel, für das sich einzusetzen die atomisierten Einzelnen zusammenschweißt. Moderne Gesellschaften verfügen über keine Einheitssemantik mehr, wie es etwa das mittelalterliche Europa im Christentum gefunden hatte oder der Mittlere Osten im Islam. Das Fehlen einer Einheitssemantik beantworten moderne Gesellschaften mit einem kollektiven Bewusstsein, das sich auf den relativen Charakter moralischer Maximen einstellt. In den Sozialwissenschaften wird dieses als „Kontingenzbewusstsein“ im Sinne eines Wissens bezeichnet, dass alles auch anders sein und anders ausgelegt werden könnte. Diese Gegenüberstellung von Einheitssemantik und Kontingenzbewusstsein ist heute dabei, sich zu einem Weltbild zu formen, das aufgeklärte und unaufgeklärte, fortschrittliche und rückständige Länder anhand dieser Unterscheidung qualifiziert, genauer, auf- und abwertet. Diese Analyse vergibt Noten, positive den hochindustrialisierten westlichen, und negative den noch nicht oder weniger industrialisierten nichtwestlichen Ländern. Damit aber mutiert wissenschaftliche zur moralischen Kommunikation, die weniger beobachtet und mehr Werte verteilt. Kritisch betrachtet, ist das moderne Kontingenzbewusstsein nicht mit überlegener Aufgeklärtheit gleichzusetzen, denn es treibt seinerseits spezifische Einheitssemantiken hervor, die unter den modernen Bedingungen des Relativismus einleuchten. Bei den mit einem „Ismus“ vervollständigten positiven oder negativen moralischen Begriffen haben wir es mit genau solchen Einheitssemantiken zu tun. Diese sind den Versprachlichungen der religiösen Tradition deshalb unvergleichbar, weil die Werte, die es zu verwirklichen gilt, ihren Vorrang aus der praktischen Bewährung beziehen. Wenn nämlich alles auch anders möglich ist und anders ausgelegt werden könnte, dann erlangt nur das Verbindlichkeit, was sich durchgesetzt hat. Dieses Denken, das sich im Historismus, in der Dialektik und in der Geschichtsphilosophie niederschlägt, steht hinter dem, was heute als „Kontingenzbewusstsein“ positiv bewertet wird. Wer sich in einer sozialen Bewegung engagiert, tut dies nicht allein, weil er von apriorischen und unwandelbaren Prinzipien des Gerechten und Guten überzeugt ist. Er schätzt vielmehr den Zeitgeist so ein, dass dieser ganz bestimmten Auslegung des
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Schlussbetrachtung
Guten und Gerechten die Zukunft gehört. Diese Verklammerung von richtig und erfolgreich ist das Credo politischer Aktivität, vor dessen Hintergrund verständlich wird, weshalb die vom Sozialismus hervorgehobenen Werte der gerechten Verteilung und der Gleichheit nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus nicht mehr Ziele einer politischen Bewegung sind. Die Globalisierungskritiker, die sich in der Organisation „Attac“ institutionalisiert haben, verfügen bislang nicht über die Einheitssemantik eines „Ismus“, sondern greifen auf Versatzstücke alter Ideologien zurück, mit dem Ergebnis einer zumindest bis heute mäßigen Schlagkraft. Da „Ismen“ mithin die Funktion gesellschaftlicher Semantik und zwar einer „Einheitssemantik“ erfüllen, duldet ein dominanter „Ismus“ keinen zweiten neben sich. Jeder andere gerät in die Rolle des Ketzerischen, Abtrünnigen. Er betreibt die Spaltung der Gesellschaft, die sich nur als eine und einige gegen Feinde zu behaupten vermag. Diese Logik bestimmt alle gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, ob sich diese nun an einem positiven oder einem negativen „Ismus“ orientieren. Die gesellschaftliche Einheit kann dieser aber nur dann verbürgen, wenn er als Zweiseitenform auftritt, anders gesagt, wenn er Vorzuziehendes von Abzulehnendem zu unterscheiden verspricht. Deshalb tritt jeder „Ismus“ in einer Doppelgestalt auf. Die Gesellschaft nach 9/11, die sich um den „Terrorismus“ als ihre spezifische Einheitssemantik schart, findet ihre Ergänzung im Antiterrorkrieg als komplementärem positiven Wert, der Abwehr von Gefahren und Sicherung des Lebens signalisiert. In der Zeitspanne zwischen 1989 und dem 11. September 2001 war es der Fundamentalismus, der sein Gegenteil in moderner Säkularität als aufgeklärtem und fortschrittlichem Guten gefunden zu haben schien und somit den Aufbruch in ein neues Zeitalter des Krieges der Kulturen oder der neuen Weltordnung markierte. Die von Aufrüstung sprich „Nachrüstung“ gezeichneten achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die noch einmal die Atomkriegsgefahr beschworen, trieben den Pazifismus als Einheitssemantik einer Friedensbewegung hervor, deren Widersacher der Bellizist und Kriegstreiber war. Unsere Abhandlung über den Pazifismus wäre nichts weiter als die historische Beschäftigung mit der Einheitssemantik einer vergangenen Zeit, wenn es nicht jene darüber hinausweisende ethische Problematik gäbe. Gemeint ist das Problem eines dem modernen Kontingenzbewusstsein unvereinbaren Festhaltens an überpositiven Werten. Dies wirkt sich in der Lockerung des Tötungsverbots aus. Hier verbirgt sich gewissermaßen die herausgehobene Stellung des Pazifismus in der säkularen Moderne, die nicht mehr hinter das Kontingenzbewusstsein zurück kann. Es geht darum, Grenzen der politischen Verfügungsgewalt aufzuzeigen und einzufordern, die ein positives Recht nicht mehr zu sichern vermag. Die Schwierigkeiten ergeben sich aus der Tatsache, dass ein Unverfügbares nicht essentialistisch verstanden werden darf, selbst nicht als Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens. Denn was aus einem Gedanken werden kann, der das Leben zum höchsten Wert erklärt, haben wir an Hobbes und an dessen Wirkungsgeschichte gesehen. Diesem großen Denker der
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politischen Philosophie wird ein hohes Maß an Missachtung des „individuellen“ menschlichen Lebens um der „abstrakten“ Überlebenschancen willen angelastet. Das Unverfügbare kann offensichtlich nicht als Wert, als Trieb oder als Bedürfnis gefasst werden, denn in all diesen „Essenzialismen“ geht es um Größen, die ihre Bedeutung einer Hierarchie verdanken, in der sie einen bestimmten Platz einnehmen. Das Leben ist der höchste Wert für einen glücklichen Menschen, der sein Glück fortsetzen möchte, selbiges aber durch „Gefahren“ bedroht sieht. Brot ist der höchste Wert für einen Hungernden, der am Leben bleiben möchte. Anerkennung ist der höchste Wert für einen Menschen, der gedemütigt wird. Liebe ist der höchste Wert für einen Menschen, der ungeliebt ist. Gerechtigkeit ist der höchste Wert für einen Menschen, der ungerecht behandelt wird. Das nichtessentialistische Unverfügbare schält sich aus eben jener Relativität heraus, die alle absoluten Werte verdächtig und nichtig macht. Ein Unverfügbares ergibt sich aus dem Legitimitätsdefizit einer Operation, die „meinen Primat“ zum universellen Primat aufbläht. Aus der Relativität und Situationsabhängigkeit primärer Bedürfnisse, Interessen und Werte folgt die Unmöglichkeit, den Primat des Anderen gering zu schätzen oder sogar zu missachten. Der Vorrang des Anderen, um den sich gegenwärtige friedensphilosophische Ansätze bemühen296, ist die Folge nicht einer positiven Werteordnung, in der dem Anderen der Primat gegenüber dem eigenen Selbst gebührt. Er ist einzig die Folge einer nicht zu begründenden Universalisierung des eigenen Primats. Indem kategorischer Imperativ und Goldene Regel zumindest von wissenschaftlicher Seite immer weniger vom gemeinsamen Positiven, sondern eher von der Einigung auf ein zu vermeidendes Übel aus gedacht werden, ist ein Weg beschritten, der die schlimmsten Auswüchse des säkularen Fundamentalismus beschneidet. Aber es muss noch weiter gegangen und in der gemeinsamen Einigung auf ein Übel die Gefahr der Sündenbockkonstruktion erkannt werden. Ein Sündenbock kristallisiert sich immer sofort heraus, wo es darum geht, das abstrakte Schlechte, auf das sich alle geeinigt haben, in der konkreten Welt wiederzuerkennen. Denn nur in diesem Fall kann ein gemeinsamer Kampf in die Gänge kommen. Vor diesem Hintergrund der Zuspitzung des Themas auf die ethische Frage nach dem Unverfügbaren wollen wir unsere zusammenfassenden und zugleich weiterführenden Schlussbetrachtungen beginnen. Diese Frage harrt einer immer neuen zeitgemäßen Antwort, welche in funktional differenzierten Gesellschaftssystemen 296
Siehe dazu die eingehenden Analysen bei Delhom (2002); Delhom/Hirsch (2005). Nach Hirsch (2004: 48) lässt sich Gewalt und Gewaltlosigkeit überhaupt nicht vom Akteur, sondern immer nur von dem betroffenen Anderen aus unterscheiden. Da nämlich Gewalt immer eine Interaktion wiedergibt, ist die Intention des Akteurs für die Bezeichnung der Aktion ungenügend. Der Einspruch von Seiten des Anderen genügt, um von Gewalt zu sprechen. Das Unterscheidungskriterium ist bei Hirsch aber anders als bei Galtung nicht die Selbstverwirklichung, sondern die Verletzungsfreiheit. Ein Gewaltverhältnis räumt dem Anderen keinen Platz ein: „Gewalt als Verletzung …vollzieht sich als Mißachtung des Anrufs dieser Andersheit“.
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Schlussbetrachtung
weder exklusiv von einer politischen noch von einer wissenschaftlichen noch einer religiösen Avantgarde noch aber auch von einer avantgardistischen sozialen Bewegung geliefert werden kann. Wir haben in der vorliegenden Abhandlung einige wesentliche Züge jener Antworten herausgearbeitet, die von einer avantgardistischen sozialen Bewegung, dem Pazifismus, gegeben worden sind. Um daraus weiterführende Gedanken formulieren zu können, müssen wir noch einmal in Kürze die Stärken und die Schwächen der vorgestellten Pazifismen skizzenhaft darstellen: 1. Eine Stärke des kriegsphilosophischen Pazifismus liegt darin, dass das Verhältnis von Zweck und Mittel als ein ethisches Problem bewusst ist und infolgedessen Aktionsformen entwickelt werden, die gewährleisten, dass der Friedenszweck nicht durch die zu dessen Verwirklichung bemühten Mittel untergraben wird. Eine bleibende Schwäche des Ansatzes ist es jedoch, dass sich die gewünschte Zweck/Mittel-Symmetrie gegenüber der Asymmetrie nicht durchhalten lässt, weil die kognitiv-formallogische Struktur des Schemas die Asymmetrie festschreibt. Kurz gesagt: so lange das Handeln als Mittel zu einem Zweck konzipiert ist, dominiert die Logik des Zweck/Mittel-Schemas, die eine asymmetrische ist. Die gut gemeinte Absicht, zur Verwirklichung des Friedens nur friedliche Mittel zu wählen, wird durch die Wertneutralität des Mittels hintertrieben. 2. Die Stärke des friedensphilosophischen Pazifismus liegt darin, dass nicht nur vom Handeln, von Handlungsmustern, von Handlungsmethoden und Aktionsformen ausgegangen wird, sondern vom Träger und Akteur dieser Aktionen. Dieser Akteur ist in komplexen Handlungssystemen, von denen gesellschaftlich relevantes Handeln heute ausgeht, nicht ein individueller, sondern ein kollektiver, ein „Handlungssystem“. Damit kann die institutionelle Verfasstheit, die Struktur und Organisation des makrosoziologischen Akteurs (Regierung, Staat, Rechtsordnung, Nation, Bündnissystem, soziale Bewegung, Nichtregierungsorganisationen) als ein das Handeln bestimmender Faktor stärker mitberücksichtigt werden. Eine Schwäche dieses Ansatzes ist darin zu sehen, dass das Handlungsresultat aus der Beschaffenheit des – kollektiven – Akteurs gefolgert wird. Dies führt zu einer Sinnverschiebung des Zweck/Mittel-Denkens: Das Mittel bezieht sich nicht mehr auf das Handeln als solches, sondern auf das Handlungssystem, das den Zweck bewirkt. Die Zweck/Mittel-Vertauschung, die der kriegsphilosophische Pazifismus als Problem ersten Ranges benennt, ist nun ihrer problematischen Züge entkleidet. Dass der Zweck die Mittel heiligt, wird nämlich nur in einem Denkkontext anrüchig, in dem beide Begriffe getrennt bleiben. Wird der Friedenszweck jedoch als Demokratie, als Rechtsstaat verstanden im Sinne des praktizierten „nichtgewaltsamen Konfliktaustrags“, dann ist der Friedenszweck die Verwirklichung des friedlichen Mittels. Damit sind alle Gewalt und alle Kriege, die als Demokratieimport, als Vorgriff auf Weltgewaltmonopol und Weltbürgerrechtsgesellschaft geführt werden, legitim und rechtens. 3. Die Stärke des postmodernen Pazifismus liegt in der nüchternen Sicht, mit der das registriert wird, was im friedensphilosophischen Pazifismus vorbereitet worden ist, nämlich die Entdifferenzierung von Zweck und Mittel. Die schwierigen e-
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thiktheoretischen Reflexionen über die Wertneutralität des Mittels, welche zum Töten um des Friedens willen motiviert, erübrigen sich nun ebenso wie die Frage, wie die Organisationen beschaffen sein müssen, die friedlichen Konfliktaustrag auf Dauer stellen. Diese Diskussionen sind gleichsam von einer neuen Wirklichkeit unterlaufen, die durch „neue Kriege“ und „privatisierte Gewalt“ gekennzeichnet ist. Die Schwäche dieses Ansatzes liegt in den falschen Konsequenzen, die aus der richtigen Lageanalyse gezogen werden. Die realitätsgerechte Beschreibung des Status quo, der so beschaffen ist, dass die Begriffe verschwimmen, wird zur Begründung für ein politisches Handeln, das weder nationalstaatliche noch rechtliche noch völkerrechtliche Grenzen respektieren muss. Weil ohnehin Frieden und Krieg, Innenpolitik und Außenpolitik, Kombattanten und Nichtkombattanten ununterscheidbar sind, muss der westliche Akteur, der eine Weltordnung nach seinem Bilde herstellen will, auch keine Unterschiede mehr achten. Er kann „seinen“ Soldaten den Titel „Weltpolizisten“ verleihen. 4. Die Stärke des paradoxen Pazifismus besteht darin, dass er einen friedensförmigen Umgang mit den paradoxieträchtigen Unterscheidungen vorschlägt, deren Handhabung im kriegs- und im friedensphilosophischen Pazifismus zur Entdifferenzierung von Krieg und Frieden führen. Das Problem der Ununterscheidbarkeit wird nicht wie beim postmodernen Pazifismus als veränderte Realität gedeutet, die eben so beschaffen ist, dass sich Krieg nicht mehr von Frieden unterscheiden lässt. Dieses Problem wird vielmehr als ein solches der Prämissen gedeutet: Der Rationalismus der Zweck/Mittel-Orientierung im Handeln führt immer in der einen oder anderen Weise zu einem Resultat, wie es der Slogan wiedergibt „Der Zweck heiligt die Mittel“. Aus diesem Grund wählt dieser Ansatz eine andere Prämisse; er denkt nicht in den Kategorien von Mittel und Zweck, sondern in den Kategorien von Weg und Ziel. Von dieser Prämisse aus wird selbst ein Handeln in hochkomplexen Strukturen denkbar, in denen die Kalkulationsmöglichkeiten aufgrund der großen Zahl vernetzter und einander überlagernder Neben- und Folgewirkungen des Handelns gering sind. Eine Schwäche besteht darin, dass vom zweckrationalen Kalkül nur Abstand genommen werden kann, indem das Axiom der Selbsterhaltung durch das Axiom der Selbstopferung ersetzt wird. Denn nur so kann verhindert werden, dass der Weg sich in ein Mittel zu einem Zweck verwandelt und damit die unvermeidliche Zweck/Mittel-Vertauschung in Gang setzt. Dieser Ansatz ist in höchstem Maße an einem kontrafaktischen in der Empirie kaum anzutreffenden Verhaltensprofil orientiert. Hinzu kommt, dass in modernen funktional differenzierten Gesellschaftssystemen die religiös-kulturelle Tiefenstruktur fehlt, die eine asketische und eine Haltung der Selbstopferung tragen könnte. Um noch kürzer zusammenzufassen, können wir sagen: Die Geschichte des Pazifismus ist philosophisch gesehen die Geschichte der Konzentration auf die Aktion (kriegsphilosophische Variante) resp. die Konzentration auf den Akteur (friedensphilosophische Variante) resp. die Entdifferenzierung von Akteur und Aktion (postmoderner Pazifismus) resp. die immanente Auflösung jeweils des Akteurs und der Akti-
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Schlussbetrachtung
on. In dieser letzten Version ist der Akteur als Sayagrahi ein Wahrheitssuchender und damit nicht mehr der bewirkende Verursacher. Und die Aktion ist als Kraft der Liebe nicht mehr die wertneutrale Aktion, die am Wert des Friedenszwecks bloß partizipiert. Damit scheinen gewissermaßen alle Variationen des Pazifismus durchgespielt, zumindest jene Kombinatoriken, die das Schema von Akteur und Aktion herzugeben scheinen. Nicht mehr mit diesem Schema zu operieren, würde bedeuten, sich von dem Thema „Pazifismus“ zu entfernen, der die bewegungstheoretische Seite der Antwort auf die Frage bildet, wie Frieden angesichts von Unfrieden möglich sein soll.
Differenztheoretischer Ausblick Nur der paradoxen Variante gelingt es, annäherungsweise gewaltfrei über den Frieden zu reflektieren, dies jedoch um den Preis einer paradoxen Praxis, deren Kern die Selbstopferung ist. Warum aber, so müssen wir fragen, soll dies überhaupt notwendig sein, gewaltfrei über den Frieden zu reflektieren? Die Antwort auf diese Frage darf, weil das Ende der Abhandlung gekommen ist, nicht mehr sehr ausführlich sein. Die groben Linien einer solchen Denkbewegung nachzuzeichnen scheint jedoch unabdingbar, wenn nicht die ganze Friedensarbeit um alle Perspektiven beraubt sein will. Zunächst ist zu fragen, was im formallogischen Sinne überhaupt in den verschiedenen Pazifismen vor sich gegangen ist. Um dies zu ermitteln, soll nach der Operation des unterscheidenden Bezeichnens gefragt werden, die zu den je spezifischen Aussagen und Ergebnissen gelangen lässt.297 Wir hatten gesehen, dass die Probleme des Pazifismus bereits mit dem kognitiven Schema beginnen, dessen sich zur Beurteilung politischen Handelns bedient wird. Die Unterscheidung von Zwecken und Mitteln infiltriert eine kausale Logik in den Bereich des Sozialen. Zwecke sind wertgeschätzte Wirkungen eines Handelns, das als Mittel diesen Zweck verursacht. Bevor Hypothesen zur Effizienz und Funktionalität bestimmter Friedensstrategien empirisch überprüft werden könnten, haben sich diese Hypothesen ihre eigene Plausibilität verschafft. Welches Mittel auch immer gewählt werden mag, um die gewünschten Wirkungen zu verursachen, das Resultat rechtfertigt stets die Wahl. Denn mögen sich die Ereignisse auch anders als erwartet und erhofft entwickeln, so kann der Stratege doch stets behaupten, das Mit297
Den methodologischen Hintergrund dieses Beobachtens bildet das Axiom der Gesetze der Form. Im Rahmen unserer weiterführenden Überlegungen kann nur auf die Denkrichtung verwiesen werden, die sich an der mathematischen Logik George Spencer Browns (1979) und der hier anschließenden Systemtheorie Niklas Luhmanns orientiert. Diese ist in ihren Konsequenzen für die Friedensproblematik noch kaum beachtet worden. Siehe zur Einführung Schönwälder/Wille/Hölscher (2004), Baecker (1993, 1993a), Reese-Schäfer (1992). Zur Relevanz für die Friedensproblematik Brücher (2002, 2003, 2007).
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tel sei nicht früh genug, oder es sei nicht ausdauernd genug angewandt worden. Das zur Diskussion stehende Mittel (Boykott, Sitzstreik, Kriegsdienstverweigerung, „humanitäre Intervention“, Non-Kooperation) bewirkt den Friedenszweck. Da die zweckrationale Logik aber das Mittel als wertneutrales Instrument der Verwirklichung des Zwecks verstehen lässt, gibt es keinen Anhaltspunkt für eine Werthierarchie innerhalb der Palette zu wählender Mittel. Das Resultat politischer Optionen bestätigt immer das strategische Kalkül, denn das wirkliche Leben bietet genau das nicht, was den Versuchsanordnungen der Labortheoretiker und -praktiker so großes Vertrauen entgegenbringen lässt, nämlich die Chance, den Ereignisverlauf noch einmal von vorn beginnen zu lassen und zwar mit alternativen strategischen Optionen – diesmal nicht mit „humanitärer Intervention“, sondern mit Boykott. Das unwiederbringliche Geschehensein ist es, das jeden Strategen – gewaltlos oder gewaltsam vorgehend – bestätigt. Dieser bekommt immer das zu sehen, was seine kognitive Vorurteilsstruktur ihn zu sehen lehrt. Jeder Gewaltausbruch verschafft dem Realisten eine Bestätigung für seine These, man hätte schon viel früher eingreifen müssen. Sie bestätigt aber auch den „radikalen“ Pazifisten, der die Versäumnisse im Abbau struktureller Gewalt hervorhebt und in jeder militärischen Intervention einen verkappten Imperialismus erblickt, der im Ergebnis nur den personellen und strukturellen Gewaltpegel hebt. Indem Mittel/Zweck und Ursache/Wirkung zur Tautologie werden, ist mithin bereits in die Wahrnehmung der und die Herangehensweise an Probleme des Friedens ein Vorurteil eingebaut, das Effizienz und Rationalität unterstellen lässt. Da die Komplexität der zwischenmenschlichen Verhältnisse einen den Naturwissenschaften entlehnten Gesetzesbegriff untauglich macht, entfernt das Aufeinanderkopieren der beiden Unterscheidungen von der Wirklichkeit. Und dennoch wirkt es. Aber es wirkt eben genau so, wie Vorurteile wirken. Ein Friedensvorschlag verschafft sich Autorität, indem er sich als rational und effizient darstellt. Dieser Vorschlag überzeugt bis zu dem Augenblick, da der Bluff der tautologischen Begründung durchschaut wird. Die Aufklärung wird zum Argument gegen die Blauäugigkeit der Non-Violence und zum Argument für gewaltsame Konfliktlösungsinstrumente. Die Aufklärung wird aber in gleicher Weise zum Argument gegen die Blauäugigkeit eines sogenannten Realismus, der dem militärischen Konfliktlösungsinstrumentarium ein größeres Vertrauen entgegen bringt. Dabei immunisiert sich letztere Richtung auf ihre Weise gegen enttäuschende, nichtgewollte und nicht vorhergesehene Wirkungen der Intervention, indem hervorgerufene Ereignisse, so katastrophal sie auch immer sein mögen, als kleineres Übel gegenüber einer Situation dargestellt werden, die im Falle der Nicht-Intervention eingetreten wäre. Diese totale Herrschaft des Konjunktivs über den Indikativ ist es letztlich, die dem Realismus im Alltagsbewusstsein einen argumentativen Vorsprung aus dem bloßen Grund verschafft, weil das militärische Gewaltinstrument als stärkstes zur Verfügung stehendes Mittel im zweckrationalen Denken codiert ist. Die Semantik beherrscht die Wirklichkeit. Sie steht im Dienste
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Schlussbetrachtung
naheliegender sehr menschlicher Allmachtsphantasien, gegen die nicht nur die christlichen, sondern die Ethiken aller Weltkulturen immer schon angekämpft haben. Als Fazit können wir festhalten: Das politische Beobachten verstrickt sich aufgrund der Tatsache, dass es sich des Zweck/Mittel-Schemas bedient, in genau das, was durch friedenspolitisches Handeln zu vermeiden gesucht wird, nämlich Gewalt und Krieg. Im postmodernen Pazifismus wird diese Krux des unterscheidenden Bezeichnens positiv gewendet, indem aus „Krieg = Frieden“ das Recht und die Pflicht abgeleitet wird, unter Umgehung bestehenden Rechts in allen Teilen der Welt mit friedensstiftenden Absichten zu intervenieren. Der paradoxe Pazifismus vermeidet all diese Konsequenzen, indem er nicht mehr mit Hilfe des Zweck/Mittel-Schemas die politisch relevante Wirklichkeit bezeichnet, sondern auf ein Denken zurückgreift, das im „Jenseits aller Unterscheidungen“ und mithin in einer abstrakten, möglicherweise religiösen Figur, seine Grundlage hat. Wenn sich dieser Pazifismus dennoch einer Unterscheidung wie derjenigen von Weg und Ziel bedient, um nicht ohne Beobachtungs- und folglich ohne Handlungsmöglichkeiten zu bleiben, so muss er alles tun, um dem starken Sog entgegenzuwirken, der vom Zweck/Mittel-Schema ausgeht und der es scheinbar unvermeidlich macht, dass der Weg als Mittel und das Ziel als Zweck uminterpretiert werden. Er muss immer wieder betonen: Der Weg = Tat als Nichttat = Gewalt des Geistes als Gewaltlosigkeit = Wahrheit als Ziel. Nun mag es zwar so sein, dass die kausale und tautologische Herangehensweise an Fragen des friedlichen Zusammenlebens dem Unvorhersehbaren und Unwägbaren sozialer Verhältnisse nicht gerecht wird, aber es wäre wieder wirklichkeitsfremd, wollte man die Kategorie des Verursachens und Bewirkens überhaupt über Bord werfen. Ein nicht kausales Verständnis von Gesetzen beginnt von der mathematischen Logik her auch in den sozialphilosophischen und -wissenschaftlichen Bereich Eingang zu finden. Was dieses gegenüber dem kausalen unterscheidet, ist die konsequente Einbeziehung jenes Dritten, des „Beobachters“, „Aktors“, der eine Unterscheidung macht. Reflektiert man nun auf die Form der Unterscheidung von Ursache und Wirkung bzw. Zweck und Mittel, dann wird ein Kalkül sichtbar, das den Akt des Unterscheidens in Gang setzt. Dieses Kalkül lautet: Immer wenn ich Frieden förderndes Handeln oder Frieden fördernde Institutionen zu bezeichnen suche, dann treffe ich eine Unterscheidung. Der Beobachter ist als Aktor, der eine Unterscheidung macht, identisch mit dem Marker, der die eine von der anderen Seite der Unterscheidung trennt. Daraus ließe sich nun leicht ein recht anstößiger Voluntarismus ableiten. Man könnte die soeben noch beklagte Unmöglichkeit, die Überlegenheit einer bestimmten Strategie über eine andere empirisch nachzuweisen, in ein Argument für eigene Präferenzen verwandeln. Damit muss keineswegs die gewaltlose Strategie aufgewertet sein, wie Olav Müller aus seiner Analyse der logischen Struktur dieser selbstbestätigenden Hypothese, der „kontrafaktischen Konditionale“ (O. Müller 2006: 252ff.) folgert. Dieser Schluss drängt sich nur unter der Voraussetzung auf, dass die christlich-abendländisch-humanistisch-aufgeklärte Moral unfragliche Geltung besitzt und
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infolgedessen dem gewaltlosen Mittel immer der Vorrang gebührt. Was jedoch zu Beginn des letzten Jahrhunderts als radikalisiertes Kontingenzbewusstsein entstanden und durch die Exzesse von Weltkriegen und Nationalsozialismus zwangsunterdrückt worden war, das drängt seit der beendeten sozialistisch-kapitalistischen Systemkonkurrenz wieder mit Macht in den Vordergrund. Freilich wiederholt sich die Geschichte nicht und man darf Parallelen nicht überstrapazieren. Was aber die Wachsamkeit gegenüber Zeitströmungen heute verlangt, ist die Einsicht, dass ein pazifistisches Votum für den nichtgewaltsamen Konfliktaustrag weiter ausholen muss, als dies in Zeiten notwendig ist, die aufgrund von Kriegstraumatierungen eine natürliche Aversion gegen Gewalt und Krieg pflegen. „Weiter ausholen“ bedeutet, nicht nur in moralphilosophische Begründungen von Gewalt- resp. Tötungsverbot vorzudringen, sondern auch in logische und erkenntnistheoretische. Wenn wir die mathematische Logik Spencer Browns in diesem Zusammenhang genannt haben, so müssen wir nun also fragen, inwieweit diese Art der Betrachtung gegenüber der kausal-tautologischen andere Konsequenzen birgt? Und zwar müssten sich diese Konsequenzen auf jenen Primat des nichtgewaltsamen Konfliktaustrags beziehen, der heute nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden darf. Kausal-tautologisch ist die Begründung in allen Varianten des Pazifismus mit Ausnahme des paradoxen darin, dass die Mittelwahl als Ursache zu bewirkender Wirkungen verstanden wird und der Zweck mit den gewünschten Wirkungen übereinstimmt. In der traditionellen sog. korrespondenztheoretischen oder subjektphilosophischen bzw. intersubjektivitäts-philosophischen Herangehensweise ist der Beobachter als Handelnder ein Akteur, der aufgrund von Diagnosen über die Beschaffenheit des Sozialen bestimmte Prognosen macht und Therapievorschläge unterbreitet, wie die Lage verbessert werden könnte. Bei der ersten Bezeichnung wird das Gewicht auf die Leistung des (rationalen) Akteurs gelegt, die Wirklichkeit angemessen erkennen zu können, wenn nur die neuesten (wissenschaftlichen) Erkenntnismethoden beachtet werden: Im Idealfall korrespondieren Wirklichkeit und Wirklichkeitskonstruktion. Wird beim überkommenen Denken das Subjektphilosophische betont, dann tritt bei der Erkenntnisrelation der Aspekt von Gegebenem und Konstruiertem in den Hintergrund und wichtig wird die Beziehung von Erkennendem (Subjekt) und Erkanntem (Objekt). Beim Topos der Intersubjektivität ist schließlich nicht an die Asymmetrie von Subjekt und Objekt gerührt; es ist lediglich darauf hingewiesen, dass das Erkenntnissubjekt, insbesondere in modernen arbeitsteilig organisierten Wissensgesellschaften, gemeinschaftlich, durch Diskurs, zustandekommt. Nicht nur für die pazifistische, sondern für die friedensethische, wenn nicht für ethische Fragen überhaupt, ist der Status des Anderen entscheidend. Und zwar muss dieser Status, der ein Recht auf Leben und auf Schonung geltend machen lässt, theoretisch gesichert sein, bevor Wege der praktischen Gewährleistung ersonnen werden können. Genau dies aber scheint heute nicht mehr zu gelingen, nämlich den Anderen auf eine Weise zu denken, die eine Grenze der Instrumentalisierbarkeit als nicht konstruierte und damit als nicht willkürliche, sondern als logische und notwendige
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anzuerkennen zwingt. Was heute kaum noch gelingt, ist die Einlösung des kategorischen Imperativs, mit dem Kant dieser Instrumentalisierbarkeit einen Riegel vorzuschieben suchte, indem er nur jene Maxime für verallgemeinerbar hält, derzufolge der Mensch niemals bloß als Mittel, sondern auch als Zweck an sich selbst behandelt werden darf.298 Indem Kant aber die Selbstzwecklichkeit des Menschen an den Subjektstatus gebunden hatte, ließ sich eine Wirkungsgeschichte nicht vermeiden, die diesen Status für herausgehobene „selbstverwirklichte“, „autonome“ Menschen reservierte. Diese mussten gewissermaßen natürliche Verfügungsrechte über jene Menschen zufallen, die den hohen Ansprüchen des autonomen Subjekts nicht genügen und deshalb (vorerst) nur Objekte – der Pazifizierung, der Überwachung, der Inhaftierung, der (Um-)Erziehung, der Zivilisierung – sein können. Dieser marginale Status des Anderen ist in allen säkularen Varianten des Pazifismus sichtbar geworden, die sich um die Verhältnisbestimmung von Akteur und Aktion bemühen. So etwas wie Tötungsverbot oder Selbstzwecklichkeit des Anderen hat keinen Platz, wieder mit Ausnahme des paradoxen Pazifismus, der das unvermeidliche Fremdopfer nur umgehen kann, wenn er das Selbstopfer an die Stelle rückt. Der Zweck ist im säkularen Pazifismus eine Setzung des autonomen Individual- oder Kollektivsubjekts. Dieses lässt den Anderen nur entweder als Subjekt und damit als Gleichen (anderes Selbst) und nicht als Anderen (Fremden) denken, oder eben als Objekt, als fremdbestimmt. Der fremdbestimmte Mensch eignet sich als Mittel zum Zweck autonomer Subjekte, aber er kann für sich keinen Selbstzweckcharakter in Anspruch nehmen, bleibt diese Wertzuschreibung doch auf Autonomie beschränkt. All dies scheinen Auswirkungen des dualistischen Denkens in den Kategorien der Zweiwertigkeit zu sein, die durch ein mehrwertiges Denken korrigiert werden könnte. Hier darf ein Dritter vorkommen, der in die beiden Kategorien nicht fällt, der weder Gleicher unter Gleichen (Subjekt) noch damit einverstanden sein muss, als Objekt zum Mittel eines politischen, wirtschaftlichen und kulturindustriellen Zwecks gemacht zu werden. Wenn aber die Asymmetrie von Subjekten und Objekten, von topdogs und underdogs aus pragmatisch-moralischen Gründen durch ein mehrwertiges Denken ersetzt wird, dann stellt sich die Frage, wie mit dem Problem umgegangen werden könnte, dass eine Argumentation, die nicht mehr mit zwei Werten (Ja/Nein, Wahr/Falsch, Sein/Nicht-Sein) rechnet, gegen die Logik verstößt. Ethische und friedensethische Reflexionen, in die sich pazifistisches Engagement verstrickt, müssen infolgedessen nicht nur moralphilosophische, sondern auch diesbezügliche Fragen der Logik und Erkenntnistheorie klären. Wir können an dieser Stelle, wo es nur um einen „Ausblick“ und damit um mögliche Wege des Weiterdenkens gehen soll, allenfalls eine Skizze dessen zu zeichnen suchen, wo Anknüpfungspunkte mög298
„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Vgl. GMS, Akademie-Ausgabe Kant Werke IV, S. 429, 10-12.
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lich sind. Jedes Denken, das die Asymmetrie (von Subjekt und Objekt) aufzuheben sucht, um den Anderen aufzuwerten, muss einen Begriff des Selbst begründen können, der den Anderen nicht entweder als anderes Selbst, als Gleichen und Freund, oder als Ungleichen, als Objekt und potenziellen Feind zu betrachten zwingt. Im ersten Fall ist der Andere nicht mehr wirklich anders, weil er wie das selbstbestimmte Subjekt autonom ist (bzw. dem Autonomie unterstellt wird). Im anderen Fall rührt das Anderssein des Anderen daraus, dass dieser nicht autonomen, und damit Objekt, wiederum also nicht wahrhaft Anderer ist. In der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Versionen des Pazifismus konnten wir Zeuge dieser logisch bedingten Ausweglosigkeit werden, die den Anderen entweder vollkommen vereinnahmen oder vollkommen entfremden lässt. Denn alle Gedanken kreisen um die Relation von Akteur und Aktion, wobei, um die Differenzpunkte zu wiederholen, im Falle des kriegsphilosophischen Pazifismus die Verhältnismäßigkeit der Aktion, im friedensphilosophischen die Friedenstauglichkeit des Akteurs, im postmodernen die Gestaltungschancen im Vordergrund stehen, die die aufgehobene Differenz bieten: Der Akteur legitimiert seine Aktionen unter Verweis auf einen antizipierten weltinnenpolitischen Raum, den es durch seine Aktionen zu gestalten gilt. Dieser Raum ist die Wirklichkeit gewordene Aktion des Akteurs, gewissermaßen ein zivilreligiöses dreifaltiges Eines. Der Andere ist in all diesen Konzeptionen außen vor. Niemand sorgt sich um ihn, denn seine Interessen scheinen in der friedensethisch gebundenen skrupulösen Mittelwahl des kriegsphilosophischen Pazifismus gewahrt. Sie scheinen auch hinreichend berücksichtigt im demokratisch-menschenrechtlichen Profil des friedensphilosophischen institutionellen und organisatorischen Projekts und selbst im forschen Pazi-Militarismus, dem die Befriedung mit oder wider Willen der Weltbevölkerung vorschwebt. All diese Konzeptionen kennen den Anderen nicht. Wie aber steht es mit dem paradoxen Pazifismus? Auch hier geht es um die Relation von Akteur und Aktion, denn andernfalls hätten wir keine politische Bewegung vor uns, sondern eine Ethik. Aber anders als in den anderen Fällen geht es hier nicht nur um die Art der Relation. Vielmehr gestaltet sich diese aus dem Grund ganz anders, weil der Beitrag zum Frieden nur durch die fundamentale Transformation sowohl des Akteurs (Satyagrahs) als auch der Aktion (Gewaltlosigkeit) möglich erscheint. Während die postmoderne Entdifferenzierung der Instrumentalisierbarkeit des Anderen (als Objekt politischer Gestaltung oder als Feind) Argumente verschafft, ist die paradoxe Auflösung der Kategorien in ihrer angestammten (gewaltgesättigten) Bedeutung, vom Anderen und seinen Lebensrechten her gedacht. Nur dieses „Denken vom Anderen her“ verschafft die Motive für eine solche Transformation. Damit entsteht jedoch ein Problem, welches die anderen pazifistischen Varianten umgehen. Indem nämlich der Andere weder anderes Selbst noch Fremder und Feind ist, kommt die Logik ins Spiel. Ein Anderer, der dem Eigenen so nah ist, dass seine Bedürfnisse als meine eigenen empfunden werden, ohne den Status seiner Andersheit zu verlieren und in die Position des Gleichen und Freundes gezwungen zu werden, markiert im zweiwertigen Schema von Selbst und Anderen nicht mehr die andere Seite des
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Selbst. Er ist ein Selber und ein Anderer, also beides und damit ein paradoxes Phänomen. Dieses aber zwingt die Logik von Russel und Whitehead aufzulösen. Anderenfalls wird ein Verstoß gegen die Logik konstatiert. Dies nehmen Religionen in Kauf und setzen sich damit der Gefahr aus, als irrational kritisiert zu werden. Wenn der Andere nicht entweder ein Selber oder ein ganz Anderer, sondern beides zugleich sein soll, dann ist dies im modernen abendländisch-säkularen Denken nur möglich, wenn Paradoxien nicht mehr als Verstoß gegen die Logik abgewehrt werden müssen. Da die mathematische Logik Georg Spencer Browns einen Kalkül entwickelt hat, der genau dies möglich macht, sind hier tatsächlich Denkwege beschritten, die den Pazifismus, friedensethische Reflexionen und womöglich sogar (in einer vorsichtig zurückhaltenden Weise, die die Andersheit fremder Kulturen achtet) eine „Ethik der internationalen Beziehungen“ revolutionieren könnte. Für unser Thema sind es zwei Paradoxien, die dieser Kalkül zulassen kann. Zum einen scheint der Widerspruch nicht mehr anstößig, in den die Einsicht gerät, dass der Akteur mit seinen Aktionen immer sich selbst, seine Zweck- und Zielvorstellungen bestätigt. Streng genommen ist die ins Erkenntnistheoretische gewendete selbsterfüllende Prophezeiung nämlich ein Verstoß gegen die Logik. Die gewählte Strategie muss wahr (erfolgreich, legal, legitim) oder unwahr (erfolglos, illegal, illegitim) sein können. Ist die gewaltsame oder gewaltlose Strategie jedoch wahr, weil sie sich in den Augen des Akteurs immer bestätigt, und ist sie zugleich unwahr, weil ihre Bestätigung nur aus einer Nichtfalsifizierbarkeit herrührt, so musste bisher diese Paradoxie aufgelöst werden. Die Vervielfältigung wissenschaftlicher Expertisen über mehr und noch mehr Konfliktverläufe, die irgendwann mit Eindeutigkeit die Effizienz nichtgewaltsamen bzw. gewaltsamen Konfliktaustrags zu liefern versprechen, oder die Therapie kranker Kulturen (Galtung), sind die prominentesten Vorschläge. Die andere von den beiden Paradoxien, die das Kalkül zulassen kann, betrifft die eingehend besprochene Paradoxie von Selbst und Anderem. Nicht die Auflösung, sondern nur die Hinnahme derselben kann eine ethische Position begründen, die jede Instrumentalisierung des Anderen unmöglich macht. Aber es sind nicht „absolute Verbote“, die dies verwehren, denn solche kann eine kontingenzbewusste Zeit nicht akzeptieren. Ausschließlich der epistemisch-logische Status des Anderen vermag denselben im pazifistischen und/oder friedensethischen Entwurf zu schützen. Dieser Schutz läuft nicht über moralische Maximen, sondern zunächst über eine Problemverschärfung. Denn wenn die Paradoxie im Kalkül akzeptiert sein sollte, dann scheinen Akteur und Aktion, Selbst und Anderer noch enger aneinanderzurücken als im sozialpsychologischen Modell, wo der Einfluss einer subjektiven Perspektive auf Diagnose, Prognose und Therapie hoch veranschlagt wird. Wer auf der Grundlage des Unterscheidens von Zwecken (Frieden, Menschenrechte) und Mitteln (Non-Violence, humanitäre Intervention) eine politische Situation in den Griff zu bekommen sucht, verstrickt sich in die Gewalt, die er vermeiden möchte. Aber dieses Verstricktsein ist überhaupt nur dann als Problem wahrgenommen, wenn der Akteur als Handlungsträger von Friedensstiftung verstanden wird. Dies ist jedoch ein abgeleitetes
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zweitrangiges Verständnis, das ein anderes zur Grundlage hat. Bevor ein Akteur zum Thema werden kann, muss dieser als Aktor zur Sprache kommen, der eine Unterscheidung macht. Als Aktor wird er nicht von den unliebsamen Konsequenzen seiner Diagnosen heimgesucht, denn er ist als Marker mit dem identisch, was er inszeniert. Damit verschärft sich das Problem und genau diese Verschärfung zeigt sich als Voraussetzung für den Umschlag ins Positive der Friedensstiftung. Diesen Gedanken gilt es in seinen wesentlichen Zügen herauszuarbeiten: In der formallogischen Konfiguration Spencer Browns haben wir es nicht mehr mit zwei Komponenten zu tun, mit dem Selbst und dem Anderen, dem Subjekt und dem Objekt, dem Akteur und der Aktion. Wir haben vielmehr eine Form vor uns, die aus vier Teilen besteht: den beiden Seiten der Unterscheidung, der Grenze zwischen ihnen und dem Kontext, der die beiden Seiten unterscheidbar macht. Zwischen die Unterscheidung von Akteur und Aktion tritt der Aktor (Beobachter, Handelnder), der diese Unterscheidung macht. Er markiert die Grenze zwischen den beiden Seiten und bestimmt damit, wer oder was selbige sind. Er bestimmt, wer als Akteur (Westen, Terrorist) zu gelten hat, genauer, wer zum „Wir“, zu den „Freunden“ und wer zu den „ganz Anderen“, den „Feinden“, gehört. Er markiert aber auch das, was als Aktion gilt. Ein und dieselbe tötende „Aktion“ erscheint als legitime und legale Gegengewalt oder als terroristische Gewalttat. Bis zu diesem Punkt sind die gewaltkritischen ethischen Konsequenzen nicht sichtbar. Sie werden deutlich, sobald der als Aktor erkannte Akteur als das thematisiert wird, was er zunächst vor allen anderen Bestimmungen ist, nämlich ein Selbst, das sich selbst von einem Anderen unterscheidet. Erst an dieser Stelle, wo der Aktor, der den Unterschied zwischen Akteur und Aktion an bestimmten Personen und bestimmten Handlungsweisen konkretisiert, als ein Selbst zur Sprache gebracht wird, das sich vom Anderen unterscheidet, entfaltet die trianguläre formallogische Figur ihre friedensethischen Implikationen. Diese kreisen um die Frage, ob es legitim sein kann, den Anderen um höherer (Friedens-) Zwecke willen zu instrumentalisieren. Dieser „Andere“ ist immer das andere des Selbst. Mithin müssen wir uns auf das kognitive Schema von Selbst und Anderem konzentrieren, das ebenso wie das ausführlich behandelte Zweck/Mittel-Schema in eine Semantik eingebettet ist, die Sinn und Bedeutung vorgibt. Um mithin die Frage beantworten zu können, ob der Andere unter manchen Bedingungen verfügbar sein kann, müssen wir bestimmen, was das Selbst ist. Wir hatten gesehen, dass der Andere (bedingt) verfügbar und instrumentalisierbar in einem traditionellen Denken ist, in dem das Selbst mit dem selbstidentischen und selbstbestimmten Subjekt übereinstimmt. Dieses strukturiert den Selbstbezug über die Abgrenzung von einem Anderen. Es liegt von diesem Modelldenken her gesehen ganz in der Kompetenz des Subjekts, darüber zu entscheiden, ob der im Objektbereich auftauchende Andere ein (geachtetes) anderes Subjekt oder ein (missachtetes) gefährliches Subjekt und mithin ein Objekt ist, das bekämpft werden muss. Das Subjektdenken – und zwar von dessen formallogischen kognitiven Determinanten her – macht den Anderen abhängig von Wahrnehmung und Achtung des als Subjekt stilisierten Selbst. Deutlicher gesagt: Der
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Schlussbetrachtung
Andere ist in seinen Lebensrechten abhängig von der Gnade jener Menschen und Gemeinschaften, deren Selbst als Subjekt (heute der Weltgestaltung) anerkannt oder in Selbstmandatierung angemaßt ist. Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass diese subjektphilosophische Semantik nicht den humanen Umgang vereitelt. Aber die moralischen Anforderungen an Einzelne und Gemeinschaften, die sich in diesem Menschenbild eingerichtet haben, sind so hoch, dass der Friede unter den Menschen außerhalb jener Bereiche, die durch positives Recht geregelt werden, von einer geradezu übermenschlichen moralischen Integrität abhängig gemacht ist. Das sollte oben deutlich geworden sein, als gezeigt wurde, dass das Friedensmodell Kants nicht nur „auch für ein Volk von Teufeln“, sondern „besonders für ein Volk von Teufeln“ attraktiv ist. Da Populationen, die sich im Ausnahmezustand einzurichten beginnen, die Rechtsbindung lockern, gewinnen moralische Fragen an Bedeutung. Jetzt macht sich der formallogische und erkenntnistheoretische Status des Anderen empfindlich bemerkbar. Denn der Andere ist immer nur die andere Seite des Selbst und damit (erkenntnislogisch) eine abgeleitete, sekundäre Größe, die von der Gnade des Selbst dann lebt, wenn sich dieses im Status eines Subjekts befindet. Der Verlust des „kommunistischen Feindes“ hat dieses Denken in eine Krise gestürzt, die nicht anders gewesen wäre im umgekehrten Fall des siegreichen planwirtschaftlichen Modells. Vor diesem Hintergrund müsste für all diejenigen, die sich am ungesicherten ephemeren Status des Anderen reiben, die sich um dessen Lebensrechte sorgen, ein formallogisches Modell höchstes Interesse wecken, das moralisch nicht überfordert, weil es den Status des Anderen auf einer der Moral vorausgehenden formallogischen Ebene so weit angehoben hat, dass bisherige Legitimationssemantiken auf den Prüfstand gehören. Wie alles Denken, das an Prämissen rührt, so wird auch dieses differenztheoretische Denken als kompliziert empfunden. Aber dieses Komplizierte ist in Wahrheit nur das Ungewohnte und ungewohnt ist ein Denken, das die weichen Federbetten allgemein geteilter Vorurteile verlässt. Sofern der Pazifismus einen alternativen Heroismus hochhält, der nicht von der Überlegenheit gegenüber dem Anderen, sondern von der Sorge um den Anderen geleitet sein möchte, so dürften sich auch in dessen Reihen Adressaten für neuartige Denkwege finden lassen. Wir können im Rahmen dieses abschließenden Ausblicks freilich nur die wichtigsten Züge der basalen Veränderung herauszustellen suchen. Diese gruppieren sich um die Frage, was das Selbst – und zwar im formallogischen – Sinne ist, das sich vom Anderen unterscheidet: Nach George Spencer Brown (1979) ist das Selbst seine eigene Markierung und damit Unterscheidung, genauer, eine dreifache Unterscheidung oder Beziehung299: eine Selbstbeziehung, eine Fremdbeziehung und eine Transferbeziehung (das Wech299
Ranulf Glanville („Das Selbst und das andere: Der Zweck der Unterscheidung“, in: Baecker (1993: 86ff.) spricht vom „Tripel formal identischer Unterscheidungen“.
Schlussbetrachtung
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seln der einen zur anderen Beziehung ist ein immer schon strukturiertes In-Beziehung-Setzen zweier Beziehungen). Nicht nur der Status des Anderen, auch die Frage der Selbst- oder Fremdopferung nimmt damit eine besondere Gestalt an. Denn jene Trennung von Selbst und Anderem, die als Grundgegebenheit dem Legitimitätsdiskurs vorauszugehen scheint, ist hier in Frage gestellt. Wenn das Selbst jedoch nun aus einer Beziehung des Selbst zum Selbst, einer Beziehung des Selbst zum Anderen und einer Beziehung dieser beiden Beziehung zueinander besteht, dann taucht das alte Problem der hierarchischen Anordnung dieser Beziehungen auf. Hat man erst einmal den Primat zwischen den drei Beziehungen festgelegt, dann scheint sich auch das Neue der Konfiguration in Nichts aufzulösen. Wir werden sehen, dass der Primat, den es tatsächlich gibt, nicht nur neuartig, sondern auch so beschaffen ist, dass er den Frieden denken lässt. Geht es um Beziehungen, so ist ein Primat im Sinne eines Vorrangs immer zweischneidig. Fehlt ein Primat vollkommen und es lässt sich infolgedessen über Selbst-, Fremd- und Transferbeziehung nichts anderes aussagen, als dass sie gleichursprünglich sind, dann gibt es auch kein Argument gegen das Töten eines anderen Menschen, wenn der eigene Lebenswille versiegt ist. Akzeptiert man jedoch einen Primat und dieser liegt bei der Selbstbeziehung, dann sind Anderer und öffentliche Allgemeinheit – Recht, Kultur, Institutionen – zum Instrument der eigenen Selbstverwirklichung degradiert. Liegt der Primat aber bei der Fremdbeziehung, dann müssen die Konsequenzen des religiösen Pazifismus akzeptiert werden: „Töten ist schlimmer als Sterben“. Wenn der Primat schließlich der Transferbeziehung oder Transferunterscheidung zugeschrieben wird, der Beziehung der Selbst- und der Fremdbeziehung zueinander, dann gewinnt eine Ideologie überragende Bedeutung: Es werden wieder Fahnen „für Gott“, „für das Vaterland“, „für die klassenlose Gesellschaft“, „für Demokratie“ usw. gehisst. Offensichtlich ist weder das eine noch das andere ratsam, weder der Verzicht noch die Festlegung eines Primats. Aber genau betrachtet, ist eben dies gar keine Alternative, Verzicht oder Festlegung, denn allein die Formulierung einer solchen Alternative beruht auf einer irrtümlichen Vergegenwärtigung der formalen Struktur der dreifachen Unterscheidung, des „Tripel“, die in ihrer Gesamtheit das Selbst bildet. Der große Irrtum besteht nämlich darin, dass das Dritte, welches Selbst und Anderen verbindet, als etwas Eigenständiges konzipiert werden könne. In Wahrheit handelt es sich nicht um eine Beziehung eigener Art, sondern nur um die reflexiv gewordene Beziehung als solche. Was ist damit gemeint? Das Selbst und den Anderen finden wir in der Welt offensichtlich nicht isoliert, sondern nur in Form einer Beziehung, eben als Beziehung des Selbst zum Selbst und des Selbst zum Anderen. Wo es um die Beziehung des Selbst zum Anderen geht, um die Frage nach Verfügungsrechten und Unverfügbarkeiten, so können wir nicht von Entitäten ausgehen, die es in ihrem Verhältnis zueinander zu klären gilt. Wir bekommen es mit Beziehungen zu tun, die immer schon in Beziehung zueinander gesetzt sind. Von dieser formallogischen Ausgangssituation her verändert sich nun aber die gesamte Konstruktion in ihrer traditionellen Gestalt. Denn wenn das verbindende Dritte die Be-
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Schlussbetrachtung
ziehung zweier Beziehungen ist, dann gibt es klare Auflagen, die erfüllt sein müssen, sobald dieses Dritte als Friedensstruktur, als Friedenskultur und als Friedenspraxis konstruiert und veranschaulicht werden soll. Eine solche Veranschaulichung ist ihrerseits notwendig, um den Pazifismus als Lehre (gewaltfreien Konfliktaustrag) und als (Friedens-)Bewegung nicht im Horizont der Zweck/Mittel-, sondern der Theorie/ Praxis-Problematik betrachten zu können. Als Friedensbewegung ist der Pazifismus nur dort erschöpfend beschrieben, wo die Gewaltfrage auf der Ebene der Theorie gelöst ist und es nur noch um die praktische Umsetzung dieser Theorie geht. Der „Pazifismus“-Begriff selbst gibt, wie wir gesehen haben, dieser Überzeugung Ausdruck, und dies seit jener Zeit des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, als von den exakten Wissenschaften eine Lösung des Gewaltproblems in absehbarer Zeit erwartet wurde. Nachdem wir heute wissen, dass das Gewaltproblem sich offensichtlich auf der Ebene der Theorie fortsetzt, sich hier einnistet und Blüten treibt, kann sich der Pazifismus als Lehre nicht bewähren, indem er sich in eine mächtige Bewegung verwandelt. Die Theorie des Pazifismus ist nicht die Praxis. Heute ist die Praxis des Pazifismus die Theorie und mithin jener Ort, wo die Lösung des Gewaltproblems im Denken geleistet wird, bevor sich dieses Denken auf die Beine macht und Massen zu mobilisieren sucht. Damit kommen wir zur theoriegestützten Bedeutung, die diesem Dritten der Friedensstruktur, -kultur und -praxis zukommt. Im klassischen Theorie/Praxis-Modell, als dessen Protagonist der friedensphilosophische Pazifismus auftritt, ist dieses Dritte die Akteur und Aktion leitende und vermittelnde Konzeption. Diese Konzeption (Gewaltmonopol, Republik, Demokratie, Rechtsstaat) ist jedoch gar nicht in der Lage den Frieden vorzubereiten, weil sie diesen nicht gewaltfrei denken lässt. Diese Konsequenz drängt sich auf, wann immer dieses Dritte, diese vermittelnde Konzeption, als etwas vom handelnden Akteur Geschiedenes, Eigenständiges vorgestellt wird. Das ist in einem nichtkausalen und damit für Handlungszusammenhänge adäquateren formallogischen Gesetzesdenken nicht der Fall. Hier kann dieses Dritte schlechterdings nur als reflexive Beziehung, als Beziehung (Selbst-Selbst) zu einer Beziehung (Selbst-Anderer), konzipiert sein. Es verliert dieses Charakteristikum einer mit Selbst und Anderem identischen Transferbeziehung aber unvermeidlich, sobald eine Person oder ein personifiziertes Konstrukt, wie beispielsweise der Leviathan, dieses Dritte symbolisiert. Was in diesem Modell repräsentiert werden kann, ist allein die Selbstbeziehung. Die Hobbessche Sozialphilosophie ist auch die Gründungsideologie des egoistischen bürgerlichen Subjekts, das sein Leben und sein Wohlleben gegen die Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen durchzusetzen sucht. Die Transferbeziehung darf aber auch nicht die Fremdbeziehung symbolisieren. Denn in diesem Fall zersetzt die Gesellschaft, die „Diskursgemeinschaft“, die „westliche Wertegemeinschaft“ den Sinn der Menschenrechte von innen her. Denn in diesem Modell sind solche Rechte ein Produkt von Diskursen. Soweit es überhaupt eine Repräsentation der Transferbeziehung geben kann, muss diese so konzipiert sein, dass sie Sorge trägt für die Unaufhebbarkeit der dreifachen Differenz, die in ihrer Gesamtheit das Selbst
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bildet. Darin besteht ihr einigendes Prinzip. Wie immer die Repräsentation der Beziehung zweier Beziehungen (Selbst- und Fremdbeziehung) gedacht, und wer immer den Repräsentanten stellen mag, entscheidend ist nun, dass es zu dessen Aufgabe gehört, weder den Selbstpol noch den Fremdpol zu verabsolutieren. Geht man von diesem formallogischen Begriff des Selbst als einer dreifachen Beziehung aus, dann wird man an den traditionellen Friedensmodellen etwas anderes herausstreichen, als allgemein üblich. Man wird erst in zweiter Linie nach der Struktur (Institutionen, Organisationen, Handlungsmodellen) fragen. In erster Linie wird man das Augenmerk auf die Frage richten, ob das friedensstrukturelle, -kulturelle und -praktische Modell den Transfer, die Vermittlung der ersten (Selbst-Selbst) und der zweiten (Selbst-Anderer) Beziehung so gestaltet, dass die Differenz erhalten oder im Gegenteil nivelliert wird. Nur wenn sie erhalten bleibt, ist der Friede als das andere der Gewalt denkbar. Gilt die Differenz als unaufhebbar, so lassen sich keine Verfügungsrechte über den Anderen rechtfertigen: Niemand kann von Anderen dazu verpflichtet werden, sich opfern zu lassen. Dieses um die dreifache Dimension des Selbst herum gruppierte Friedensdenken findet tatsächlich zu einem Primat des Anderen, aber in einem besonderen Sinne. Dieser Primat und damit das implizite Verbot der Fremdopferung folgt aus dem Legitimitätsdefizit einer Operation, die die Selbstbeziehung zur höchsten und ersten Beziehung macht, aus der die beiden anderen (Fremdbeziehung und Transferbeziehung) abgeleitet sind. Deshalb und nur deshalb kann mein Primat nicht zum universellen Primat gemacht werden. Dieses nichtessentialistische Unverfügbare lässt sich in Hirn und Herzen der Akteure aber immer nur in Form einer Kultur vergegenwärtigen und erinnern. Es handelt sich um eine Kultur, die es verwehrt, den Primat des Anderen gering zu schätzen, weil er vom eigenen abweicht – und dies nicht aus moralischen oder wertethischen, sondern einzig aus dem Grund, weil das Selbst keine interne Hierarchie zulässt, sondern nichts anderes als eine dreifache Beziehung ist. Betrachtet man die großen Kulturtraditionen unter diesem Aspekt, dann wird man entdecken, dass sich ihre Größe in genau diesem Punkt verbirgt, nämlich darin, die Unterscheidung von Selbst und Anderem als unaufhebbare sicherzustellen. Nur zwei Beispiele: Bei der scholastischen Vergegenwärtigung des Dritten steht die Unaufhebbarkeit der Differenz von Immanenz und Transzendenz an, die mittels wechselseitiger Kontrolle und Blockade von weltlicher (Kaiser) und geistlicher (Papst) Macht gesichert sein soll. Für die Moderne ist die republikanische Idee Kants wegweisend. In der Unaufhebbarkeit der Differenz von transzendentalem und empirischem Subjekt findet das Gewaltenteilungsprinzip seine ideelle Stütze. Moralische, vom Recht durchdrungene Welt auf der einen, natürliche und übernatürliche Welt auf der anderen Seite sind nur als getrennte Welten in der Lage, das bestialische und das arrogant-übergriffige Wesen des Menschen zu bändigen. Die großen religiösen und kulturellen Traditionen beginnen mit der Selbstbescheidung, der Rücknahme des Überlegenheitsbewusstseins, dem Errichten von Legitimitätsschranken, und sie enden mit der Umdeutung des Dritten von einer reflexiven Beziehung zu einer Einheit
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Schlussbetrachtung
und Gesamtheit, die Verfügungsrechte erteilt und Tötungslizenzen vergibt. In diesem Stadium beginnen zunächst einzelne und schließlich die Massen der Gedemütigten, der seelisch und körperlich Verstümmelten, der Benachteiligten und unter Großmachtambitionen Leidenden ihren Gehorsam aufzukündigen. Sie werden heute womöglich – mangels geeigneter Ideologie – nicht mehr revolutionär, aber sie werden terroristisch, sie bedienen sich des Fremdopfers, des Selbstopfers oder beider zugleich. In diesem Stadium kann eine Lehre und Bewegung sich nicht als Praxis, als praktische Umsetzung eines in der Theorie gelösten Problems profilieren. Sie muss vielmehr die Kategorie des „gewaltlosen Konfliktaustrags“ in einem Friedensbegriff verankern, der nicht schlicht ein legaler und legitimer Modus der Gewalt ist. Erst um einen solchen Friedensbegriff herum vermag sich eine Kultur aufzubauen, in der dem Anderen, und zwar dem Andersartigen und Fremden, ein Platz zukommt.
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