Jiirgen Habermas Der philosophische Diskurs cler Moderne Zw61f Vorlesungen
Suhrkamp Verlag
Inhalt Vorwort
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Ps~ 11 Br:; Erste Auflage 1985 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1985 AIle Rechte vorbehalten Druck: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen Printed in Germany CIP-KurztitelaufnalIme der Deutschen Bibliothek Habermas, ] urgen: Der philosophische Diskurs der Moderne : I2 Vorlesungen / Jiirgen Habermas.I. Aufl. - Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. ISBN 3-518-57722-0 kart. ISBN 3-518-57702-6 Gewebe
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I. Das ZeitbewuBtsein der Moderne und ihr Bediirfnis nach Selbstvergewisserung . . . II. Hegels Begriff der Moderne . . . . . . . . Exkurs zu Schillers Briefen iiber die asthetische ErziehungdesMenschen . . . . . . . . . . . . III. Drei Perspektiven: Linkshegelianer, Rechtshegelianer und Nietzsche . . . . . . . . . Exkurs zum Veralten des Produktionsparadigmas IV. Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Verschlingung von Mythos und AufkHirung: Horkheimer und Adorno . . . . . . . . . VI. Die metaphysikkritische Unterwanderung /-- . des okzidentalen Rationalismus: Heidegger ( VII.; Dberbietung der temporalisierten Ursprungs"----~ philosophie: Derridas Kritik am Phonozentrismus Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur. . . . . . . . . VIII. Zwischen Erotismus und Allgemeiner bkonomie: Bataille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Vernunftkritische Entlarvung der Humanwissenschaften: Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . .
~~lAporien einer Machttheorie
.. . . . . . . . . . . ~I. Ein anderer Ausweg aus der Subjektphilosophie: '--./Kommunikative vs. subjektzentrierte Vernunft . . , Exkurs zu Castoriadis: »Die imagina~e Institution« \. XII,) Der normative Gehalt der Moderne . . . . . . . Exkurs zu Luhmanns systemtheoretischer Aneignurig der subjekphilosophischen Erbmasse .<~
N amenregister . . . . . . . . . . . . . .
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Fur Rebekka die mir den Neostrukturalismus nahergebracht hat
Vorwort >;Die Moderne - ein unvollendetes Projekt« hieB der Titel einer Rede, die ich im September 1980 bei der Entgegennahme des Adorno-Preises gehalten habe. 1 Dieses Thema, umstritten und facettenreich, hat mich nicht mehr losgelassen. Seine philosophischen Aspekte sind im Zuge der Rezeption des franzosischen Neostrukturalismus noch starker ins offentliche BewuBtsein geriickt - so auch das Schlagwort der »Postmoderne« im AnschluB an eine Veroffentlichung von F. Lyotard. 2 Die Herausforderung durch die neostrukturalistische Vernunftkritik bildet deshalb die Perspektive, aus der ich den philosophischen Diskurs der Moderne schrittweise zu rekonstruieren suche. In diesem Diskurs ist die Moderne, seit dem spaten 18. Jahrhundert, zum philosophischen Thema erhoben worden. Der philosophische Diskurs der Moderne beriihrt und iiberschneidet sich vielfach mit dem asthetischen. Gleichwohl habe ich das Thema begrenzen miissen; die Vorlesungen behandeln nicht den Modernismus in Kunst und Literatur. 3 Nach meiner Riickkehr an die Universitat Frankfurt habe ich im Sommersemester 1983 und im Wintersemester 1983/84 Vorlesungen iiber jenen Gegenstand gehalten. Nachtraglich eingefiigt und in dies em Sinne fiktiv sind die fiinfte Vorlesung, die einen bereits veroffentlichten Text aufnimmt\ sowie die letzte, erst in dies en Tagen ausgearbeitete Vorlesung. Die ersten vier Vorlesungen habe ich im Marz 1983 zunachst am College de France in Paris vorgetragen. Mit anderen Teilen habe ich im September 1984 an der Cornell 1 J. Habermas, Kleine politische Schriften I-IV, Ffm. 1981,444-464 2 J. F. Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979 (deutsch: Wien 1982); vgl. dazu A. Honneth, Der Affekt gegen das Allgemeine, in: Merkur H. 430, Dez. 1984, 893ff.; R. Rorty, Habermas and Lyotard on Postmodernity, in: Praxis International, Vol. 4, No. I 1984; 32ff.; sowie meine Antwort: J. Habermas, Questions and Counterquestions, in: Praxis International, Vol. 4 NO.3, 1984. 3 Vgl. dazu P. Biirger, Zur Kritik der idealistischen Asthetik, Ffm. 1983; H. R. JauB, Der literarische ProzeB des Modernismus von Rousseau bis Adorno, in: L. v. Friedeburg, J. Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Ffm. 1983, 95 H.; A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Ffm. 1985. 4 Enthalten in K. H. Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne, Ffm. 1982,415-430.
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1. Das ZeitbewuBtsein der Moderne und ihr Bediirfnis nach Selbstvergewisserung
University, Ithaca N. Y., die Messenger Lectures bestritten. Die wichtigsten Thesen habe ich auch in Seminaren am Boston College behandelt. Aus den lebhaften Diskussionen, die ich bei allen dies en Gelegenheiten mit Kollegen und Studenten fiihren konnte, habe ich mehr Anregungen empfangen als sich retrospektiv in FuBnoten festhalten lieBen. In einem gleichzeitig erscheinenden Band der edition suhrkamp5 sind politisch akzentuierte Erganzungen zum philosophischen Dis:kurs der Moderne enthalten. Frankfurt/M., im Dezember 1984
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In der beriihmten Vorbemerkung zur Sammlung seiner religionssoziologischen Aufsatze entwickelt Max Weber jenes »universalgeschichtliche Problem«, dem er sein wissenschaftliches Lebenswerk gewidmet hat, die Frage namlich, warum auBerhalb Europas »weder die wissenschaftliche, noch die kiinstlerische, noch die staatliche, noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen der Rationalisierung einlenken, welche dem Okzident eigen sind.«l Fiir Max Weber war die innere, d.h. nicht nur kontingente Beziehung zwischen der Moderne und dem, was er okzidentalen Rationalismus 2 genannt hat;' noch selbstverstandlich. Als >rational< beschrieb er jenen EntzauberungsprozeB, der in Europa dazu gefiihrt hat, daB die zerfallenden religiosen Weltbilder eine profane Kultur aus sich entlieBen. Mit den modernen Erfahrungswissenschaften, mit den autonom gewordenen Kiinsten und den aus Prinzipien begriindeten 11oral- und Rechtstheorien bildete~ sich hier kulturelle Wertspharen aus, die Lernprozesse jeweils nach den inneren GesetzmaBigkeiten theoretischer, asthetischer oder moralisch-praktischer Probleme ermoglichten. Aber nicht nur die Profanisierung der westlichen Kultur, vor allem die Entwicklung moderner Gesellschaften hat Max Weber unter Gesichtspunkten der Rationalisierung beschrieben. Die neuen Gesellschaftsstrukturen sind durch die Ausdifferenzierung jener beiden funktional ineinandergreifenden Systeme gepragt, die sich urn die organisatorischen Kerne des kapitalistischen Betriebs und desbiirokratischen Staatsapparates herum kristallisiert haben. Diesen Vorgang versteht Weber als die Institutionalisierung eines zweckrationalen Wirtschafts- und Verwaltungshandelns. In dem MaBe wie der Alltag von dieser kulturellen und gesellschaftlichen
J.H.
1 M. Weber, Die protestantische Ethik, Bd. I, Hbg. 1973. 2 Vgl. dazu J. Habermas, Theorie des kornrnunikativen Handelns, Ffrn. 1981, Bd. 5
J. Habermas, Die Neue Uniibersichtlichkeit, Ffrn. 1985.
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Rationalisierung ergriffen wurde, losten sich auch die traditionalen, in der friihen Moderne vor allem berufsstandisch differenzierten Lebensformen auf. Die Modernisierung der Lebenswelt ist freilich nicht nur durch Strukturen der Zweckrationalitat bestimmt. E. Durkheim und G. H. Mead sahen vielmehr die rationalisierten Lebenswelten gepragt durch einen reflexiv gewordenen Umgang mit Traditionen, die ihre Naturwiichsigkeit eingebiiBt haben; durch die U niversalisierung von Handlungsnormen und eine Generalisierung von Werten, die kommunikatives Handeln in erweiterten Optionsspielraumen von eng umschriebenen Kontexten entbinden; schlieBlich durch Sozialisationsmuster, die auf eine Ausbildung abstrakter Ich-Identitaten angelegt sind und die Individ.uierung der Heranwachsenden forcieren. Dies ist in groben Umnssen das Bild der Moderne, wie es die Klassiker der Gesellschaftstheorie gezeichnet haben. . Heute ist Max Webers Thema in ein anderes Licht geriickt - durch die Arbeit derer, die sich auf ihn berufen, nicht weniger als durch die seiner Kritiker. Das Wort »Modernisierung« ist erst in den 50ern als Terminus eingefiihrt worden; dieser kennzeichnet seitdem einen theoretischen Ansatz, der Max Webers Fragestellung aufnimmt, aber mit den Mitteln des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus bearbeitet. Der Begriff Modernisierung bezieht sich auf ein Biindel kumulativer und sich wechselseitig verstarkender Prozesse: auf Kapitalbildung und Ressourcenmobilisierung; auf die Entwicklung der Produktivkrafte und die Steigerung der Arbeitsproduktivitat; auf die Durchsetzung politischer Zentralgewalten und die Ausbildung nationaler Identitaten; auf die Ausbreitungvon politischen Teilnahmerechten, urbanen Lebensformen, formaler Schulbildung; auf die Sakularisierung von Werten und Normen usw. Die Modernisierungstheorie nimmt an Webers Begriff der »Moderne« eine folgenreiche Abstraktion vor. Sie lost die Moderne von ihren neuzeitlich-europaischen Urspriingen ab und stilisiert sie zu einem raumzeitlich neutralisierten Muster fiir soziale Entwicklungsprozesse iiberhaupt. Sie unterbricht zudem die internen Verbindungen zwischen der Moderne und dem geschichtlichen Zusammenhang des okzidentalen Rationalismus in der W eise, daB die· Modernisierungsvorgange nicht mehr als Rationalisierung, als eine 10
geschichtliche Objektivation verniinftiger Strukturen begriffen werden konnen. James Coleman sieht darin den Vorzug, daB der evolutionstheoretisch verallgemeinerte Begriff der Modernisierung nicht Hinger mit der Vorstellung einer Vollendung der Moderne belastet wird, also eines Zielzustandes, nach dem »postmoderne« Entwicklungen einsetzen miiBten. 3 Freilich hat gerade die ModerJ;lisierungsforschung der 50er und 60er Jahre die Voraussetzungen dafiir geschaffen, daB der Ausdruck »Postmoderne« auch unter Sozialwissenschaftlern in Umlauf kommen konnte. Denn im Anblick einer evolutionar verfelbstandigten, einer selbstlaufigen Modernisierung kann der sozialwissenschaftliche Beobachter umso eher von jenem begrifflichen Horizont des westlichen Rationalismus, in dem die Moderne entstanden ist, Abschied nehmen. Wenn aber die internen Verkniipfungen zwischen dem Begriff der Moderne und dem aus dem Horizont der abendlandischen Vernunft gewonnenen Selbstverstindnis der Moderneerst einmal aufgelost sind, lassen sich die gleichsam automatisch weiterlaufenden Modernisierungsprozesse von der dis tanzierten Warte eines postmodernen Beobachters aus relativieren. Arnold Gehlen hat das auf eine einpragsame Formel gebracht: die Pramissen der Aufklarung sind tot, nur ihre Konsequenzen laufen weiter. \ Aus dieser Sicht hat sich eine selbstgeniigsam weiterlaufende gesellschaftliche Modernisierung von den Antrieben einer scheinbar obsolet gewordenen kulturelle!!: M_oderne abgehoben; sie vollstreckt nur die Funktion~ges;;t;e von Okonomie und Staat, Technik und Wissenschaft, die sich angeblich zu einem unbeeinfluBbaren System zusammeng~schlossen haben. Die unaufhaltsame Beschleunigung der gesellschaftlichen Prozesse erscheint dann als die Kehrseite einer erschopften, in kristalline Zustande iibergegangenen Kultu.!:J»Kristallisiert« nennt Gehlen die moderne Kultur, weil »die darin angelegten Moglichkeiten in ihren grundsatzlichen Bestanden alle entwickelt sind. Man hat auch die GegenJUf-~~}ie~i ten und Antithesen entdeckt und hineingenommen, sO'dill nitfi:'mehr Veranderungen in den Pramissen zunehmend unwahrscheinlich werden... Wenn Sie diese Vorstellung haben, werden Sie selbst in einem so erstaunlich bewegten und bunten Bereich wie 3 Art. Modernization, in: Encyel. Soc. Science, Vol.
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386ff., hier 397. II
dem der modernen Malerei ... Kristallisation wahrnehmen.« 4 W eil die »Ideengeschichte abgeschlossen« ist, kann Gehlen aufatmend feststellen, »daB wir im Posthistoire angekommen sind« (ebd. 323). Mit Gottfried Benn erteilt er den Rat: »Rechne mit deinen Bestanden«. Dieser neukonservative Abschied von der Moderne gilt also nicht der ungebremsten Dynamik der gesellschaftlichen Modernisierung, sondern der Hiilse eines, wie es scheint, iiberholten kulturellen Selbstverstandnisses der Moderne. 5 ~_.In einer ganz anderen politischen Gestalt, namlich anarchistisch, tritt die Idee der Postmoderne hingegen bei den Theoretikern auf, die nicht damit rechnen, daB eine Entkoppelung von Modernitat und Rationalitat eingetreten ist. Auch sie reklamieren das Ende cler Aufklarung, iiberschreiten den Horizont der Vernunfttradition, aus dem sich die europaische Moderne einmal verstanden hat - auch sie fassen FuB im Posthistoire; Aber anders als der neokonservative bezieht sich der anarchistische Abschied auf die Moderne im ganzen. Wmrend jener Kontinent von Grundbegriffen, der Max Webers okzidentalen Rationalismus tragt, ~ersinkt, gibt die Vernunft ihr wahres Gesicht zu erkennen - sie wird als unterwerfende und zugleich selbst unterjochte Subjektivitat, als Wille zur instrumentellen Bemachtigung demaskiert. Die subversive Kraft einer Kritik ala Heidegger oder Bataille, die den Schleier der Vernunft vor dem schieren Willen zur Macht wegzieht, soll gleichzeitig das stahlerne Gehause zum Wanken bringen, in dem sich der Geist der Moderne gesellschaftlich objektiviert hat. Aus dieser Sicht kann die gesellschaftliche Modernisierung das Ende der kulturellen Moderne, der sie entsprungen ist, nicht iiberleben - sie soll dem »unvordenklichen« Anarchismus, in des sen Zeichen die Postmoderne sich anbahnt, nicht standhalten konnen. Wie immer sich diese Les~rten einer Theorie der Postmoderne unterscheiden, beide nehmen von dem grundbegrifflichen Horizont Abstand, in dem sich das Selbstverstandnis der europaischen 4 A. Gehlen, Uber kulturelle Kristallisation, in: ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963,321. 5 Ich entnehrne einern Aufsatz von H. E. Holthusen, Heirnweh nach Geschichte, in: Merkur, H. 430, Dez. 1984,916, daB Gehlen den Ausdruck "Posthistoire« dern Gesinnungsfreund Hendrik de Man entlehnt haben konnte. 12
Moderne ausgebildet hat. Beide Theorien der Postmoderne beanspruchen, aus diesem Horizont herausgetreten zu sein, ihn als den Horizont einer vergangenen Epoche hinter sich gelassen zu haben. Nun war Hegel der erste Philosoph, der einen klaren Begriff der Moderne entwickelt hat; auf Hegel miissen wir deshalb zUrUckgehen, wenn wir verstehen wollen, was die bis Max Weber selbstverstandlich gebli~bene und heute in Frage gestellte inteme Beziehung zwischen Modernitat und Rationalitat bedeutet hat. Wir miissen uns des Hegelschen Begriffs der Moderne vergewissern, urn beurteilen zukonnen, ob der Anspruch derer, die ihre Analysen unter andere Pramissen stellen, zu Recht besteht. Jedenfalls konnen wir nicht a priori den Verdacht von der Hand ~eisen, daB sich das postmoderne Denken eine transzendente Stellung bloB anmaBt, wahrend es den von Hegel zur Geltung gebrachten Voraussetzungen des modernen Selbstverstandnisses tatsachlich verhaftet bleibt. Wir konnen nicht von vornherein ausschlieBen, daB der Neokonservatismus oder der asthetisch inspirierte Anarchismus im Namen eines Abschieds von der Moderne erneut den Aufstand gegen sie proben. Es konnte ja sein, daB sie ihre Komplizenschaft mit einer ehrwiirdigen Tradition der Gegenaufklarung als Nachaufklarung lediglich bemanteln. ' II
Hegel verwendet den Begriff der Moderne zunachst einmal in histo<::&schen Zusammenhangen als Epochenbegriff: die »neue Zeit« ist die »moderne Zeit«.6 Das entspricht dem zeitgenossischen englischen und franzosischen Sprachgebrauch: modern times bzw. temps modernes. bezeichnen urn 1800 die drei letzten der damals zuriickliegenden Jahrhunderte. Die Entdeckung der »Neuen Welt« sowie Renaissance und Reformation - diese drei GroBereignisse urn 15 00 - bilden die Epochenschwelle zwischen Neuzeit und Mittelalter. Mit diesen Ausdriicken grenzt auch Hegel, in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, die christlich germanische Welt ab, die ihrerseits aus der romischen und griechischen Antike 6 Zurn Folgenden vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Ffrn. 1979.
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hervorgegangen ist. Die noch heute (z. B. fur die Bezeichnung historischer Lehrstuhle) ubliche Gliederung in Neuzeit, Mittelalter und Altertum (bzw. neue, mittlere und alte Geschichte) konnte sich erst ausbilden, nachdem die Ausdrucke »neue« oder »moderne« Zeit (»neue« oder »moderne« Welt) ihren bloB chronologischen Sinn eingebuBt und die Oppositionsbedeutungeines emphatisch »neuen« Zeitalters angenommen hatten. Wahrend im christlichen , Abendland die »neue Zeit« das noch bevorstehende, erst mit dem "Jii~gsten Tag anbrechende W~ltalter der Zukunft bedeutet hatte so noch in Schellings »Philosophie der Weltalter« - driickt der profane Begriff der Neuzeit die Uberzeugung aus, daB die'Zukunft schon begonnen hat: er meint die Epoche, die auf die Zukunft hin lebt, die sich dem kunftigen Neuen geoffnet hat. Damit hat sich die Zasur des N eubeginns in die Vergangenheit, eben in den Anfang der N euzeit verschoben; erst im Laufe des 18. J ahrhunderts ist die Epochenschwelle um 1500 retrospektiv als dieser Anfang begriffen worden. Ais Test verwendet R. Koselleck die Frage, wann das »nostrum aevum«, die eigene Zeit, in »nova aetas« - die neue Zeit umbenannt wird. 7 Koselleck zeigt, wie das historische BewuBtsein, das sich im Begriff der »modernen« oder der »neuen Zeit« ausdruckt, einen geschichtsphilosophischen Blick konstituiert hat: die reflexive Vergegenwartigung des eigenen Standortes aus dem Horizont der Geschichte im ganzen. Auch der Kollektivsingular >Geschichte<, den Hegel bereits selbstverstandlich verwendet, ist eine Pragung des 18. Jahrhunderts: »Die >Neuzeit< verleiht der gesamten Vergangenheit eine weltgeschichtliche Qualitat ... Diagnose der neuen Zeit und Analyse der vergangenen Zeitalter korrespondieren einander.«8 Dem entsprechen die neue Erfahrung des Fortschreitens und der Akzeleration der geschichtlichen Ereignisse, und die Einsicht in die chronologische Gleichzeitigkeit historisch ungleichzeitiger Entwicklungen. 9 Damals bildet sich die Vorstellung von der Geschichte als eines einheitlichen, problemerzeugenden Prozesses; zugleich wird die Zeit als verknappte Ressource fur die Bewaltigung entstehender 7 R. Koselleck, Neuzeit, in ders. (1979), 314. 8 Koselleck (1979),327. 9 Koselleck (1979), 321ff.
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Probleme, namlich als Zeitdruck erfahren. Der Zeitgeist, eines der neuen, Hegel inspirierenden Worte, charakterisiert die Gegenwart als einen Ubergang, der sich im BewuBtsein der Beschleunigung und in Erwartung der Andersartigkeit der Zukunft verzehrt: »Es ist nicht schwer zu sehen«, meint Hegel in der Vorrede zur »Phanomenologie des Geistes«, »daB unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Ubergangs zu einer neuen Periode ist. Dei- Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriff, es in die Vergangenheit hinab zu iversenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung ... Der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreiBen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daB etwas Anderes im Anzug ist. Dies allmahliche Zerbrockeln ... wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.«10 Weil sich die neue, die moderne Welt von der alten dadurch unterscheidet, daB sie sich der Zukunft offnet, wiederholt und verstetigt sich der epochale Neubeginn mit jedem Moment der Gegenwart, die Neues aus sich gebiert. Zum historischen BewuBtsein der Moderne gehort daher die Abgrenzung der »neuesten Zeit« von der Neuzeit: die Gegenwart genieBt als Zeitgeschichte innerhalb des Horizonts der N euzeit einen prominenten Stellenwert. Auch Hegel versteht »unsere Zeit« als die »neueste Zeit«. Er datiert den Beginn der Gegenwart auf die Zasur, die Aufk1arung und Franzosische Revolution fur die nachdenklicheren Zeitgenossen des ausgehenden 18.l,md beginnenden 19. Jahrhunderts bedeuten. Mit diesem »herrlichen Sonnenaufgang« kommen wir, so meint noch der alte Hegel, »an das letzte Stadium der Geschichte, an unsere Welt, an unsere Tage.« 11 Eine Gegenwart, die sich aus dem Horizont der neuen Zeit als die Aktualitat der neuesten Zeit versteht, muB den Bruch, den jene mit der Vergangenheit vollzogen hat, als kontinuierliche Emeuerung nachvollziehen. Dazu passen die Bewegungsbegriffe, die im 18. Jahrhundert, zusammen mit dem Ausdruck »moderne« oder »neue« Zeit, entweder aufkommen oder ihre neue, bis heute gultige Bedeutung erhal10 G. W. F. Hegel, Suhrkamp-Werkausgabe, Bd. 3, ISf., fortan zitiert als H. 11 H. Bd. 12, 524.
»modern« folgt;15 Der AblosungsprozeB yom Vorbild der antiken Kunst wird im fruhen 18. Jahrhundert eingeleitet durch die beriihmte Querelle des Anciens et des Moderries. 16 Die Partei der Modernen lehnt sich gegen das Selbstverstandnis der franzosischen Klassik auf, indem sie den aristotelischen Begtiff der Perfektion an den des Fortschritts, wie er von der modernen Naturwissenschaft suggeriert worden war, assimiliert. Die »Modernen« stellen den Sinn der Nachahmung der antiken Vorbilder mit historisch-kritischen Argumenten in Frage, arbeiten gegenuber den Normen einer scheinbar zeitenthobenen, absoluten Schonheit die MaBstabe des zeitbedingt oder relativ Schonen heraus und artikulieren damit das Selbstverstandnis der franzosischen Aufklarung als eines epochal neuen Anfangs. Obwohl das Substantiv >modernitas< (zusammen mit dem adjektivischen Gegensatzpaar >antiqui/moderni<) bereits seit der Spatantike in einem chronologischen Sinne gebraucht worden war, wurde in den europaischen Sprachen der Neuzeit das Adjektiv >modern< erst sehr spat, etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts substantiviert, und zwar wiederum zuerst im Bereich der Schonen Kunste. Das erklart, warum die Ausdrucke >Moderne< und >Modernitat<, >modernite< bis heute eine asthetische Kernbedeutung behalten haben, die durch das Selbstverstandnis der avantgardistischen Kunst gepragt ist. 17 Fur Baudelaire verschmilzt damals die iisthetische mit der geschichtlichen Erfahrung der Modernitat. In der Grunderfahrung der asthetischen Moderne verscharft sich das Problem der Selbstbegrundung, weil hier der Horizont der Zeiterfahrung auf die dezentrierte, aus den Alltagskonventionen ausscherende Subjektivitat zusammenschrumpft. Fur Baudelaire nimmt deshalb das moderne Kunstwerk im Schnittpunkt der Achsen von Aktualitat und Ewigkeit einen merkwurdigen Platz ein: » Die Modernitat ist das Voriiberge-
ten: Revolution, Fortschritt, Emanzipation, Entwicklung, Krise, Zeitgeist USW. 12 Diese Ausdrucke sind auch zu Schlusselworten der Hegelschen Philosophie geworden. Sie werfen ein begriffsgeschichtliches Licht auf das Problem, das sich mit dem modernen, anhand des Oppositionsbegriffs »Neuzeit« erHiuterten GeschichtsbewuBtseins der westlichen Kultur stellt: die Moderne kann und will ihre orientierenden MaBstabe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie mufl ihre Normativitiit aus sich selber schopfen. Die Moderne sieht sich, ohne Moglichkeit der Aus£lucht, an sich selbst verwiesen. Das erklart die Irritierbarkeit ihres Selbstverstandnisses, die Dynamik der ruhelos bis in -unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst »festzustellen«. H. Blumenberg hat sich noch vor wenigen J ahren genotigt gesehen, mit groBem historischen Aufwand die Legitimitat oder das Eigenrecht der Neuzeit gegen Konstruktionen zu verteidigen, die eine kulturelle Schuld gegenuber den Erblassern von Christentum und Antike geltend machen: »Es ist nicht selbstverstandlich, daB sich fur eine Epoche das Problem ihrer geschichtlichen Legitimitat stellt, genausowenig wie es selbstverstandlich ist, daB sie sich uberhaupt als Epo- ' che versteht. Fur die Neuzeit ist das Problem latent in dem Anspruch, einen radikalen Bruch mit der Tradition zu vollziehen und vollziehen zu konnen, und in dem Millverstandnis dieses Anspruchs zur Realitat der Geschichte, die nie von Grund auf neu anzufangen vermag.«13 Blumenberg zieht als Beleg eine AuBerung des jungen Hegel heran: »AuBer friiheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzuglich aufbehalten, die Schatze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen, wenigstens in der Theorie, zu vindizieren; aber welches Zeitalter wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen und sich in den Besitz zu setzen?«14 Das Problem einer Begriindung der Moderne aus sich selbst kommt zunachst im Bereich der asthetischen Kritik zu BewuBtsein. Das zeigt sich, wenn man der Begriffsgeschichte des Al,lsdr~cks
15 H. U. Gumbrecht, Art. Modern, in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche GrundbegriHe, Bd. 4, 93 H. , 16 H. R. JauB, Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee in der »Querelle des Anciens et des Modernes« in: H. Kuhn, F. Wiedmann (Hg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, MiL 1964, 51 H. 171m folgenden stiitze ich mich auf H. R. JauB, Literarische Tradition und gegenwartiges BewuBtsein der Modernitat, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Ffm. 1970, llH. Vgl. auch: H. R.JauB in: Friedeburg, Habertnas (1983), 95H.
12 R. Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, in: Koselleck (1979), 349 f f. 13 H. Blumenberg, Legitimitat der Neuzeit, Ffm. 19 66,7 2 • 14 H. Bd. 1,209.
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hende, das Entschwindende, das Zufallige, ist die Hilfte der Kunst, deren andere Halfte das Ewige und Unabanderliche ist«.18 Zum Bezugspunkt der Moderne wird nun die sich selbst verzehrende Aktualitat, die die Extension einer Ubergangszeit, einer im Zentrum der Neuzeit konstituierten neuesten Zeit - von der Dauer mehrerer Jahrzehnte - einbuBt. Die aktuelle Gegenwart kann ihr SelbstbewuBtsein nicht einmal mehr aus der Opposition zu einer abgestoBenen und uberwundenen Epoche, zu einer Gestalt der Vergangenheit gewinnen. Die Aktualitat kann sich allein als Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit konstituieren. Mit dieser unmittelbaren Beriihrung von Aktualitat und Ewigkeit entreiBt sich die Moderne zwar nicht ihrer Hinfa1ligkeit, aber der Trivialitat: in Baudelaires Verstandnis ist sie darauf angelegt, daB der transitorische Augenblick als die authentische Vergangenheit einer kunftigen Gegenwart Bestatigung finden wird. 19 Sie bewahrt sich als das, was einmal klassisch sein wird; »k1assisch«ist nunmehr der »Blitz« des Aufgangs einer neuen Welt, die freilich keinen Bestand haben wird, sondern mit ihrem ersten Auftritt auch schon ihren Zerfall besiegelt. Dieses im Surrealismus noch einmal radikalisierte Zeitverstandnis begriindet die Verwandtschaft der Moderne mit der Mode. Baudelaire knupft an das Resultat des beriihmten Streites der Alten und der Modernen an, verschiebt aber die Gewichte zwischen dem absolut und dem relativ Schonen auf eine charakteristische Weise: »Das Schone wird aus einem ewigen, unveranderlichen Element gebildet ... und aus einem relativen, bedingten Element ... , das von dem Zeitabschnitt, der Mode, dem geistigen Leben, der Leidenschaft dargestellt wird. Ohne dieses zweite Element, als welches gleichsam der amusante, glanzende UberguB ist, der den gott": lichen Kuchen verdaulich macht, ware das erste Element fur die menschliche Natur unzutraglich«.20 Der Kunstkritiker Baudelaire 18 Ch. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Ges. Schriften ed. M. Bruns (Melzer), Darmstadt 1982, Bd. 4, 286; ich folge Jaug (1970), 50ff. 19 »Damit jede modernitas wiirdig sei, antiquitas zu werden, mug ihr jene geheimnisvoile Schonheit entnommen werden, die das menschliche Leben unwiilkiirlich in sie hineinlegt«. (Baudelaire, Ges. Schriften, Bd. 4, 288). 20 Baudelaire, Ges. Schriften, Bd. 4, 271.
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hebt an der modernen Malerei den Aspekt »der fluchtigen, verganglichen Schonheit des gegenwartigen LeJ;>,ens« hervor, »den Charakter dessen, was als die >Modernitat< zu bezeichnen der Leseruns verstattet hat«.21 Baudelaire setzt das Wort >Modernitat< in Anfuhrungszeichen; er ist sich der neuen, terminologisch eigenwilligen Verwendung dieses Wortes bewuBt. Ihr zufolge ist das authentische Werk radikal dem Augenblick seines Entstehens verhaftet; gerade weil es sich in Aktualitat verzehrt, kann es den gleichmaBigen FluB der Trivialitaten anhalten, die Normalitat durchbrechen und das unsterbliche Verlangen nach Schonheit fur den Augenblick einer fluchtigen Verbindung des Ewigen mit dem Aktuellen befriedigen. Nur in der Vermummung des Zeitkostums enthullt sich die ewige Schonheit - dies en Charakter hat Benjamin spater mit dem Ausdruck des dialektischen Bildes belegt. Das moderne Kunstwerk steht im Zeichen der Vereinigung des Eigentlichen mit dem Ephemeren. Dieser Gegenwartscharakter begrundet auch die Verwandtschaft der Kunst mit der Mode, mit dem Neuen, mitder Optik des MuBiggangers, des Genies wie des Kindes, denen der Reizschutz der konventionell eingeschliffenen Wahrnehmungsweisen fehlt und die deshalb schutzlos den Attacken der Schonheit, der im Alltaglichsten verborgenen transzendenten Reize ausgeliefert sind. Die Rolle des Dandys besteht dann darin, dies en Typus erlittener AuBeralltaglichkeit blasiert ins Offensive zu wenden und die AuBeralltaglichkeit mit provokativen Mitteln zu demonstrieren. 22 Der Dandy verbindet das MuBiggangerische und das Modische mit aem Vergnugen, in Erstaunen zu setzen - und doch selbst nie erstaunt Zu sein. Er ist der Experte fur das fluchtige Plasier des Augenblicks, aus dem das Neue hervorquillt: »Er sucht jenes Etwas, aas ich mit Verlaub als die >Modernitat< bezeichnen will; denn es bietet sich kein besseres Wort, urn die in Rede stehende Idee auszudrucken. Es handelt sich fur ihn darum, von der Mode das 21 Baudelaire, Ges-: Schriften, Bd. 4, 325f. 22 »Allen ist derselbe oppositioneile und revolutionare Charakter gemeinsam; aile sind sie die Reprasentanten dessen, was das beste am menschlichen Stolz und Hochmut ist: jenes heutzutage nur allzu seltenen Bediirfnisses, die Trivialitat zu bekampfen und zu zerstoren.« Baudelaire, Ges. Schriften, Bd. 4, 302.
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loszulosen, was sie im Geschichtlichen an Poetischem, im Fluchtigen an Ewigem enthalten mag.«23 Dieses Motiv nimmt Walter Benjamin auf, urn fur die paradoxe Aufgabe, wie der Kontingenz einer schlechthin transitorisch gewordenen Moderne eigene MaBstabe abzugewinnen seien, doch noch eine Losung zu finden. Wahrend sich Baudelaire bei dem Gedanken beruhigt hatte, daB sich die Konstellation von Zeit und Ewigkeit im authentischen Kunstwerk ereignet, will Benjamin diese asthetische Grunderfahrung in ein historisches Verhaltnis riickubersetzen. Er bildet den Begriff der »Jetztzeit«, in die Splitter der messianischen oder vollendeten Zeit eingesprengt sind, und zwar mit Hilfe des gleichsam hauchdunn gewordenen Nachahmungsmotivs, das in den Erscheinungen der Mode aufzuspuren sei: »Die franzosische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genauso wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung fur das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene ... Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische, als den Marx die Revolution begriffen hat.«24 Benjamin rebelliert nicht allein gegen die entlehnte Normativitat eines aus der Nachahmung von Vorbildern geschopften Geschichtsverstandnisses; er kampft ebenso gegen die beiden" Konzeptionen, die, schon auf dem Boden des modernen Geschichtsverstandnisses, die Provokation des Neuen und des absolut Unerwarteten abfangen und neutralisieren. Er wendet sich einerseits gegen die Vorstellung einer homogenen und leeren Zeit, die durch den »sturen Fortschrittsglauben« des Evolutionismus und der Geschichtsphilosophie erfullt wird, andererseits aber auch gegen jene Neutralisierung aller MaBstabe, die der Historismus betreibt, wenn er die Geschichte ins Museum sperrt und »die Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen laBt wie einen Rosenkranz:«25 Das Vorbild ist Robespierre, der sich im antiken Rom eine mit Jetztzeit aufgeladene, korrespondierende Vergangenheit zitierend herbeigerufen hat, urn das trage Kontinuum der 23 Baudelaire, Ges. Schriften, Bd. 4, 28 4. 24 W. Benjamin, tiber den Begriff der Geschichte, Ges. Schriften Bd. I, 25 Ebd.704. 20
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Geschichte aufzusprengen. Wie er versucht, den tragen Lauf der Geschichte wie mit einem surrealistisch erzeugten Chock zum Innehalten zu bewegen, so muB uberhaupt eine zur Aktualitat verfluchtigte Moderne, sobald sie die Authentizitat einer Jetztzeit erlangt, ihre Normativitat aus Spiegelbildern herbeigezogener Vergangenheiten schopfen. Diese werden nicht mehr als von Haus aus exemplarische Vergangenheiten wahrgenommen. Baudelaires Modell des Modeschopfers beleuchtet vielmehr die Kreativitat, die den Akt des hellsichtigen Aufspurens solcher Korrespondenzen in Gegensatz bringt zum asthetischen Ideal der Nachahmung klassischer Vorbilder. Exkurs zu Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen
Das ZeitbewuBtsein, das sich in Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen26 ausdriickt, ist nicht leicht einzuordnen. Unverkennbar gehen surrealistische Erfahrungen und Motive der judischen Mystik im Begriff der >Jetztzeit< eine eigentumliche Verbindung ein. Jener Gedanke, daB der authentische Augenblick einer innovativen Gegenwart das Kontinuum der Geschichte unterbricht ~ und aus deren homogenen Verlauf ausbricht, speist sich aus beiden Quellen. Die profane Erleuchtung des Choks erzwingt ebenso wie die mystische Vereinigung mit dem Erscheinen des Messias eine Stillstellung, eine Kristallisation des augenblicklichen Geschehens. Benjamin geht es dabei nicht nur urn die emphatische Erneuerung eines BewuBtseins, fur das »jede Sekunde die kleine pforte (ist), durch die der Messias treten konnte« (18. These). Benjamin dreht vielmehr die radikale, fur die Neuzeit uberhaupt charakteristische Zukunftsorientierung urn die Achse der »J etztzeit« so weit zuruck, daB sie in eine noch radikalere Vergangenheitsorientierung uberfuhrt wird. Die Erwartung des kunftigen Neuen erfullt sich allein durch das Eingedenken eines unterdriickten Vergangenen. Das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens versteht Benjamin als »revolutionare Chance im Kampf fur die unterdruckte Vergangenheit« (17. These). 26 In: Ges. Schriften, Bd. I,
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R. Koselleck hat im Rahmen seiner begriffsgeschichtlichen Untersuchungen das moderne Zeitbewu6tsein unter anderem durch die wachsende Differenz zwischen »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« gekennzeichnet: »Meine These lautet, da6 sich in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergro6ert, genauer, da6 sich die Neuzeit erst als eine neue Zeit begreifen la6t, seitdem sich die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernt haben.«27 Die spezifische Zukunftsorientierung der Neuzeit bildet sich erst in dem Ma6e heraus, wie die gesellschaftliche Modernisierung den alteuropaischen Erfahrungsraum der bauerlich-handwerklich gepragten Lebenswelten aufrei6t, mobilisiert und als erwartungssteuernde Direktive entwertet. Die Stelle dieser tradierten Erfahrungen vorangegangener Generationen nimmt dann jene Fortschrittserfahrung ein, die dem bis dahin fest in der Vergangenheit verankerten Erwartungshorizont eine »geschichtlich neue, utopisch dauernd uberziehbare Qualitat« verleiht. 28 Freilich verkennt Koselleckden Umstand, da6 der Fortschrittsbegriff nicht nur zur Verdiesseitigung eschatologischer Hoffnungen und zur utopischen bffnung des Erwartungshorizonts gedient hat, sondern auch dazu, die Zukunft als eine QueUe der Beunruhigung mit Hilfe teleologischer Geschichtskonstruktionen wiederum zu verstopfen. Benjamins Polemik gegen die sozialevolutionare Einebnung der historisch-materialistischen Geschichtsauffassung richtet sich gegen eine solche Degenerierung des zukunftsoffenen ZeitbewuKtseins der Moderne. W 0 der Fortschritt zur historischen Norm gerinnt, wird aus dem Zukunftsbezug der Gegenwart die Qualitat des Neuen, die Emphase des unvorhersehbaren Anfangs eliminiert. In dieser Hinsicht ist fur Benjamin der Historismus lediglich ein funktionales Aquivalent zur Geschichtsphilosophie. Der einfuhlende und alles verstehende Historiker versammelt die Masse der Fakten, das hei6t: den objektivierten Geschichtsverlauf iri idealer Gleichzeitigkeit, urn damit »die homo gene und leere Zeit« auszufullen. Dadurch nimmt er dem Zukunftsbezug der Gegenwart jede 27 R. Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, in: Koselleck (1979), 359· 28 Koselleck (1979) 363. 22
Relevanz furs Verstehen der Vergangenheit: »Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Dbergang ist, sondern in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben· die Gegenwart, in der" er fur seine Person Geschichte schreibt. Der Historismus stellt das >ewige< Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht.« (16. These) Wir werden sehen, daB sich das moderne Zeitbewu6tsein, soweit es sich in literarischen Zeugnissen artikuliert, immer wieder entspannt hat, und da6 seine Vitalitat immer wieder durch ein radikal geschichtliches Denken erneuert werden mu6te: von den Junghegelianern uber Nietzsche und Yorck von Warthenburg bis zu Heidegger. Der gleiche Impuls bestimmt Benjamins Thesen; sie dienen der Erneuerung des modernen Zeitbewu6tseins. Aber Benjamin ist auch noch unzufrieden mit der Variante des geschichtlichen Denkens, die bis dahin als die radikale gelten konnte. Das radikal geschichtliche Denken la6t sich durch die Idee der Wirkungsgeschichte charakterisieren. Nietzsche hat ihm den Namen der Kritischen Geschichtsbetrachtung gegeben. Der Marx des »18. Brumaire« hat diesen Typus geschichtlichen Denkens praktiziert, der Heidegger von »Sein und Zeit« hat ihn ontologisiert. Freilich ist selbst in der zum Existential der Geschichtlichkeit geronnenen Struktur eines noch deutlich zu erkennen: der zur Zukunft geoffnete Horizont gegenwartsbestimmter Erwartungen dirigiert unseren Zugriff auf Vergangenes. Indem wir uns vergangene Erfahrungen zukunftsorientiert aneignen, bewahrt sich die authentische Gegenwart als Ort von Traditionsfortsetzung und Innovation zumal- die eine ist ohne die andere nicht moglich, und beide verschmelzen zur Objektivitat eines wirkungsgeschichtlichen Zusammenhangs. Nun gibt es verschiedene Lesarten dieser Idee der Wirkungsgeschichte, je nach dem Ma6 an Kontinuitat und Diskontinuitat, das gesichert oder hergestellt werden soll - konservative (Gadamer), konservativ-revolutionare (Freyer) und revolutionare (Korsch) Lesarten. Aber stets richtet sich der zukunftsorientierte Blick aus der Gegenwart in eine Vergangenheit, die als Vorgeschichte mit jeweils unserer Gegenwart wie durch die Kette eines durchgangigen 23
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Schicksals verbunden ist. Zwei Momente sind fur dieses BewuBtsein konstitutiv: zum einen das wirkungsgeschichdiche Band eines kontinuierlichen Dberlieferungsgeschehens, in das auch noch die revolutionare Tat eingebettet ist; und zum anderen die Dominanz des Erwartungshorizonts uber ein anzueignendes Potential geschichdicher Erfahrungen. Benjamin setzt sich mit dies em wirkungsgeschichdichen BewuBtsein nicht explizit auseinander. Aber aus seinem Text geht hervor, daB er beidem miBtraut: sowohl dem Schatz der uberlieferten Kulturguter, die in den Besitz der Gegenwart ubergehen sollen, wie auch der Asymmetrie der Beziehung zwischen den aneignenden Aktivitaten einer zukunftsorientierten Gegenwart und den angeeigneten Objekten der Vergangenheit. Deshalb nimmt Benjamin eine drastische Umkehrung zwischen Erwartungshorizont und Erfahrungsraum vor. Er schreibt allen vergangenen Epochen einen Horizont unerfullter Erwartungen zu - und der zukunftsorientierten Gegenwart die Aufgabe, im Eingedenken eine jeweils korrespondierende Vergangenheit so zu erfahren, daB wir deren Erwartungen mit unserer schwachen messianischen Kraft erfullen konnen. Nach dieser U mkehrung konnen zwei Gedanken ineinandergreifen: die Dberzeugung, daB die Kontinuitat des Dberlieferungszusammenhanges ebensowohl durch Barbarei wie durch Kultur gestiftet wird29 ; und die Idee, daB die jeweils gegenwartige Generation nicht nur fur das Schicksal kunftiger Generationen Verantwortung tragt, sondern auch noch fur das unschuldig erlittene Schicksal vergangener Generationen. Diese Erlosungsbedurftigkeit vergangener Epochen, die ihre Erwartungen jeweils auf uns gerichtet halten, erinnert an jene der judischen wie der protestantischen Mystik vertraute Vorstellung von der Verantwortung der Menschen fur das Schicksal eines Gottes, der sich im Akt der Schopfung zugunsten einer ebenburtigen Freiheit des Menschen seiner Allmacht begeben hat. " Aber solche geistesgeschichtlichen Zurechnungen erkiaren nicht vieL Was Benjamin vorschwebt, ist die hochst profane Einsicht, daB der ethische Universalismus auch mit dem bereits geschehenen 29 »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der ProzeB der Dberlieferung nicht, in dem es von dem einen an den anderen gefallen ist« (7. These).
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und vordergriindig irreversiblen Unrecht ernst machen muB; daB eine Solidaritat der Nachgeborenen mit ihren Vorfahren besteht, mit allen, die durch Menschenhand in ihrer leiblichen oder personlichen Integritat je verletzt worden sind; und daB diese Solidaritat nur durch Eingedenken bezeugt und bewirkt werden kann. Hier soll die befreiende Kraft der Erinnerung nicht, wie von Hegel bis Freud, der Ablosung der Macht der Vergangenheit uber die Gegenwart gelten, sondern der Ablosung einer Schuld der Gegenwart an die Vergangenheit: »Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.« (5. These) 1m Zusammenhang dieser ersten Vorlesung soll der Exkurs zeigen, wie Benjamin Motive ganzlich verschiedener Herkunft verwebt, urn das wirkungsgeschichtliche BewuBtsein noch einmal zu radikalisieren. Die Entkoppelung des Erwartungshorizonts yom uberlieferten Erfahrungspotential ermoglicht zunachst, wie Koselleck zeigt, die Opposition einer aus eigenem Recht lebenden neuen Zeit zu jenen vergangenen Epochen, von denen sich die Neuzeit abgelost hat. Damit hatte sich die Konstellation der Gegenwart im Verhaltnis zu Vergangenheit und Zukunft spezifisch verandert. Unter dem Druck der aus der Zukunft andrangenden Probleme gewinnt eine zu geschichtlich verantwortlicher Aktivitat aufgerufene Gegenwart einerseits ein Dbergewicht uber die aus eigenem Interesse anzueignende Vergangenheit; andererseits sieht sich eine schlechthin transitorisch gewordene Gegenwart fur Interventionen und Unterlassungen vor der Zukunft zur Rechenschaft gezogen. Indem nun Benjamin diese zukunftsorientierte Verantwortlichkeit auf vergangene Epochen ausdehnt, verandert sich die Konstellation noch eipmal: die spannungsgeladene Beziehung zu den grundsatzlich offenen Alternativen der Zukunft tangiert jetzt unmittelbar die Beziehung zu einer durch Erwartungen ihrerseits mobilisierten Vergangenheit. Der Problemdruck der Zukunft multipliziert sich mit dem der vergangenen (und unerfullten) Zukunft. Zugleichwird aber durch diese Achsendrehung der heimliche NarziBmus des wirkungsgeschichdichen BewuBtseins korrigiert. Nicht mehr nur die kunftigen, auch die vergangenen Generationen erhalten einen Anspruch an die schwache messianische Kraft der gegenwartigen.
Die anamnetische Wiedergutmachung eines Unrechts, das sich zwar nicht ungeschehen machen, aber durch Eingedenken wenigstens virtuell versohnen HiBt, bindet die Gegenwart in den kommunikativen Zusammenhang einer universalen geschichtlichen Solidaritat ein. Diese Anamnese bildet das dezentrierende Gegengewicht gegen die gefahrliche Konzentration der Verantwortung, die das moderne, allein in die Zukunft gerichtete ZeitbewuBtsein einer problematischen, gleichsam zum Knoten geschurzten Gegenwart aufgeburdet hat. 30
III Hegel ist der erste, der den ProzeB der Ablosung der Moderne von den auBerhalb ihrer liegenden Normsuggestionen der Vergangenheit zum philosophischen Problem erhebt. GewiB,im Zuge einer Traditionskritik, die Erfahrungen der Reformation und der Renaissance in sich aufnimmt und auf die Anfange der modernen,Naturwissenschaft reagiert, bringt die neuzeitliche Philosophie, von der Spatscholastik bis zu Kant, das Selbstverstandnis der Moderne auch schon zum Ausdruck. Aber erst am Ende des 18. Jahrhunderts spitzt sich das Problem der Selbstvergewisserung der Moderne so zu, daB Hegel diese Frage als philosophischesJ)roblem, und zwar als das Grundproblem seiner Philosophie wahrnehmen kann. Die Beunruhigung damber, daB sich eine vorbildlose Moderne aus den von ihr selbst hervorgebrachten Entzweiungen heraus stabilisieren muB, begreift Hegel als den »Quell des Bedurfnisses der Philosophie«.31 Indem die Moderne zum BewuBtsein ihrer selbst erwacht, entspringt ein Bedurfnis nach Selbstvergewisserung, das Hegel als das Bedurfnis nach Philosophie versteht. Er sieht die Philosophie vor die Aufgabe gestellt, ihre Zeit, und das ist fur ihn die moderne 30 Vgl. H. Peukerts Untersuchung der »Aporie anamnecischer Solidaritat« in: H. Peukert, Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theologie, Diisseldorf 1976, 273 ff., auch meine Replik auf H. Ottmann in: J. Habermas, Vorstudien und Erganzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm. 1984, 514ff. 31 H. Bd. 2, 20.
Zeit, in Gedanken zu erfassen. Hegel ist uberzeugt, daB er den Begriff, den die Philosophie von sich selber ausbildet, unabhangig yom philosophischen Begriff der Moderne gar nicht gewinnen kann. Zunachst entdeckt Hegel als das Prinzip der neuen Zeit - die Subjektivitat. Aus diesem Prinzip erklart er gleichzeitig die Dberlegenheit der modernen Welt und deren Krisenhaftigkeit: diese erfahrt 'sich als die Welt des Fortschritts und des entfremdeten Geistes in einem. Deshalb ist der erste Versuch, die Moderne auf den Begriff zu bringen, gleichurspriinglich mit einer Kritik an der Moderne. Hegel sieht die moderne Zeit allgemein durch eine Struktur der Selbstbeziehung gekennzeichnet, die er Subjektivitat nennt: »Das Prinzip der neueren Welt iiberhaupt ist Freiheit der Subjektivitat, daB aIle wesentlichen Seiten, die in der geistigen Totalitat vorhanden sind, zu ihrem Recht kommend, sich entwickeln.«32 Wenn Hegel die Physiognomie der neuen Zeit (oder der modernen Welt) ke'unzeichnet, erlautert er >Subjektivitat< durch >Freiheit< und >Reflexion<: »Es ist das GroBe unserer Zeit, daB die Freiheit, das Eigentum des Geistes, daB er in sich bei sich ist, anerkannt ist.«33 In diesem Zusammenhang fuhrt der Ausdruck Subjektivitat vor allem vier Konnotationen mit sich: a) Individualismus: in der modernen Welt kann die unendlich besondere Eigentumlichkeit ihre Pratentionen geltend machen 34 ; b) Recht der Kritik: das Prinzip der modernen Welt fordert, daB, was jeder anerkennen soIl, sich ihm als ein Berechtigtes zeige35 ; c) Autonomie des Handelns: es gehort der modernen Zeit an, daB wir dafur stehen wollen, was wir tun36 ; d) schlieBlich die idealistische Philosophie selbst: Hegel betrachtet es als das Werk der modernen Zeit, daB die Philosophie die sich wissende Idee erfaBt. 37 Die histonschen Schlusselereignisse fur die Durchsetzung des Prinzips der Subjektivitat sind Reformation, Aufkliirung und franzosische Revolution. Mit Luther ist der religiose Glaube reflexiv geworden, hat sich die gottliche Welt in der Einsamkeit der Subjektivitat 32 H. Bd. 7, 439, weitere Belege in Art. >Moderne Welt<, Werkausgabe, Registerband, 417f. 33 H. Bd. 20, 329. 34 H. Bd. 7, 311. 35 H. Bd. 7, 485. 36 H. Bd. 18,493. 37 H. Bd. 20,458.
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rende Vernunft die Moglichkeit von objektiver Erkenntnis, moralischer Einsicht und asthetischer Bewertung begriindet, versichert sie sich nicht nur ihrer eigenen subjektiven Vermogen - sie macht nicht nur die Architektonik der Vernunft durchsichtig, sondern iibernimmt die Rolle eines obersten Richters auch gegeniiber der Kultur im ganzen. Die Philosophie grenzt die kulturellen Wertspharen, wie Emil Lask spater sagen wird, als Wissenschaft und Technik, Recht und Moral, Kunst und Kunstkritik unter ausschlieBlich formalen Gesichtspunkten gegeneinander ab - und legitimiert sie innerhalb dieser Grenzen. 46 Bis zum Ende des 18. J ahrhunderts hatten sich Wissenschaft, Moral und Kunst auch institutionell als Tatigkeitsbereiche ausdifferenziert, in denen Wahrheitsfragen, Gerechtigkeitsfragen und Geschmacksfragen autonom, namlich unter ihrem jeweils spezifischen Geltungsaspekt bearbeitet wurden. Und dieseSphare des Wissens hatte sich insgesamt von der Sphare des Glaubens einerseits, von der des rechtlich organisierten gesellschaftlichen Verkehrs wie des alltaglichen Zusammenlebens andererseits abgesondert. Darin erkennen wir genau die Spharen wieder, die Hegel spater als Auspragungen des Prinzips der Subjektivitat begreift. Weil die transzendentale Reflexion, in der das Prinzip der Subjektivitat gleichsam hiillenlos hervortritt, jenen Spharen gegeniiber zugleich richterliche Kompetenzen in Anspruch nimmt, sieht Hegel das Wesen der modernen Welt in der Kantischen Philosophie wie in einem Brennpunkt versammelt. IV Kant driickt die moderne Welt in einem Gedankengebaude aus. Das bedeutet freilich nur, daB sich in Kants Philosophie die wesentlichen Ziige des Zeitalters wie in einem Spiegel reflektieren, ohne daB Kant die Moderne als solche begriffen hatte. Erst aus der Retrospektive kann Hegel Kants Philosophie als die maBgebliche Selbstauslegung der Moderne verstehen; Hegel meint zu erkennen, was in dies em reflektiertesten Ausdruck der Zeit eben auch unbegriffen 46 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 779.
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bleibt: Kant empfindet die Differenzierungen innerhalb der Vernunft, die formalen Gliederungen innerhalb der Kultur, iiberhaupt die Aufspaltung jener Spharen nicht als Entzweiungen. Kant ignoriert deshalb das Bediirfnis, das mit den yom Prinzip der Subjektivitat erzwungenen Trennungen auftritt. Dieses Bediirfnis drangt sich der Philosophie auf, sobald sich die Moderne als eine geschichtliche Epoche begreift, sobald dieser die Ablosung von exemplarischen Vergangenheiten und die Notwendigkeit, alles Normative aus sich seIber zu schopfen, als ein geschichtliches Problem zu BewuBtsein kommt. Dann stellt sich namlich die Frage, ob das Prinzip der Subjektivitat und die ihr innewohnende Struktur des SelbstbewuBtseins als Quelle fiir normative Orientierungen ausreichen - ob sie ausreichen, urn nicht nur Wissenschaft, Moral und Kunst iiberhaupt zu »fundieren«, sondern eine geschichtliche Formation, die sich aus allen historischen Verbindlichkeiten gelost hat, zu stabilisieren. Die Frage ist jetzt, ob sich aus Subjektivitat und SelbstbewuBtsein MaBstabe gewinnen lassen, die der modern en Welt entnommen sind und gleichzeitig zur Orientierung in ihr, das heiBt aber auch: zur Kritik einer mit sich selbst zerfallenen Moderne taugen. Wie kann aus dem Geist der Moderne eine innere ideale Gestalt konstruiert werden, welche die vielfaltigen historischen Erscheinungsformen der Moderne weder bloB nachahmt, noch von auBen an diese bloB herangetragen wird? Sobald die Frage so gestellt wird, erweist sich die Subjektivitat als ein einseitiges Prinzip. Dieses besitzt zwar die beispiellose Kraft, eine Bildung der subjektiven Freiheit und der Reflexion hervorzubringen und die Religion, die bis dahin als die schlechthin einigende Macht aufgetreten war, zu unterminieren. Aber dasselbe Prinzip ist nicht machtig genug, urn die religiose Macht der Vereinigung im Medium der Vernunft zu regenerieren. Die stolze Reflexionskultur der Aufklarung hat sich mit der Religion »entzweit und sie neben sich oder sich neben sie gesetzt.«47 Die Herabsetzung der Religion fiihrt zu einer Spaltung von Glauben und Wissen, die die Aufklatung nicht aus eigener Kraft iiberwinden kann. Darum tritt diese in der »Phanomenologie des Geistes« unter dem Titel einer Welt des sich ~ntfremdeten Geistes auf: 48 »Je weiter die Bildung gedeiht, je 47 H. Bd. 2, 23.
48 H. Bd. 3, 362ff. 31
mannigfaltiger die Entwicklung der AuSerungen des Lebens wird, in welche die Entzweiung sich verschlingen kann, desto groSer wird die Macht der Entzweiung ... desto fremder dem Ganzen der Bildung und bedeutungsloser die (einst in der Religion aufgehobenen) Bestrebungen des Lebens, sich zur Harmonie wiederzugebaren.«49 Dieser Satz stammt aus einer Streitschrift gegen Reinhold, der sog. Differenzschrift von 1801, in der Hegel die zerrissene Harmonie des Lebens als die praktische Herausforderung und das 'Bediirfnis der Philosophie begreift. 50 Der Umstand, daB das BewuStsein der Zeit aus der T otalitat herausgetreten ist und der Geist sich seiner selbst entfremdet hat, ist fiir ihn geradezu eine Voraussetzung des zeitgenossischen Philosophierens. Ais eine weitere Voraussetzung, unter der die Philosophie ihr Geschaft erst aufnehmen kann, betrachtet Hegel den zunachst von Schelling iibernommenen Begriff des Absoluten. Mit ihm kann sich die Philosophie im vorhinein des Ziels versichern, die Vernunft als Macht der Vereinigung zu erweisen. Die Vernunft solI ja den Zustand der Entzweiung, in die das Prinzip der Subjektivitat sowohl die Vernunft selber wie »das ganze System der Lebensverhaltnisse« gestiirzt hatte, aufheben. Hegel will mit seiner Kritik, die sich unmittelbar auf die philosophischen Systeme Kants und Fichtes richtet, zugleich das Selbstverstandnis der Moderne, das in diesen sich ausspricht, treffen. Indem er die philosophischen Entgegensetzungen von Natur und Geist, Sinnlichkeit und Verstand, Verstand und Vernunft, theoretischer und praktischer Vernunft, U rteilskraft und Einbildungskraft, Ich und Nicht-Ich, Endlichem und Unendlichem, Wissen und Glauben kritisiert, will er auf die Krise der Entzweiung des Lebens seIber antworten. Andernfalls konnte die philosophische Kritik nicht in Aussicht stellen, das Bediirfnis, durch das sie objektiv her- . 49 H. Bd. 2, 22 f. 50 »Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensatze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbstandigkeit gewinnen, entsteht das Bediirfnis der Philosophie. Es ist insofern eine Zufalligkeit, aber unter der gegebenen Entzweiung der notwendige Versuch, die Entgegensetzung der fest gewordenen Subjektivitat und Objektivitat aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und der reellen Weit als ein Werden zu begreifen.« (H. Bd. 2, 22)
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vorgerufen wird, zu befriedigen. Die Kritik des subjektiven Idealismus ist zugleich Kritik einer Moderne, die sich allein auf dies em Wege ihres Begriffs vergewissern und damit aus sich selbst stabilisieren kann. Dabei kann und darf sich die Kritik keines anderen Instruments bedienen als jener Reflexion, die sie als den reinsten Ausdruck des Prinzips der neuen Zeit vorfindet. 51 Wenn sich namlich die Moderne aus sich selbst begriinden solI, muS Hegel den kritischen Begriff der Moderne aus einer dem Prinzip der Aufklarung selbst innewohnenden Dialektik entwickeln. Wir werden sehen, wie Hegel dieses Programm ausfiihren und sich dabei in ein Dilemma verstricken wird. Nachdem er die Dialektik der Aufklarung durchgefiihrt hat, wird sich namlich der Impuls zur Zeitkritik, der jene allein in Bewegung gesetzt hat, verbraucht haben. Zunachst wird zu zeigen sein, was sich in jenem »Vorhof der Philosophie«, in dem Hegel »die Voraussetzung des Absoluten« unterbringt, verbirgt. Die Motive der Vereinigungsphilosophie gehen auf Krisenerfahrungen des jungen Hegel zurUck. Sie stecken hinter der Dberzeugung, daS die Vernunft als versohnende Macht gegen die Positivitaten des zerrissenen Zeitalters aufgeboten werden muS. Die mythopoetische Version einer Versohnung der Moderne, die Hegel zunachst mit Holderlin und Schelling teilt, bleibt freilich noch den exemplarischen Vergangenheiten des Urchristentums und der Antike verhaftet. Erst im Laufe der Jenaer Zeit verschafft sich Hegel mit dem ihm eigenen Begriff des absoluten Wissens eine Position, die es ihm erlaubt, iiber die Produkte der Aufklarung - romantische Kunst, Vernunftreligion und biirgerliche Gesellschaft - hinauszugehen, ohne sich an fremden Vorbildern zu orientieren. Mit dies em Begriff des Absoluten Wlt Hegel allerdings hinter die Intuitionen seiner Jugendzeit zuriick: er denkt die Dberwindung der Subjektivitat innerhalb der Grenzen der Subjektphilosophie. Daraus ergibt sich das Dilemma, daS er dem Selbstverstandnis der Moderne am Ende die Moglichkeit einer Kritik an der Moderne bestreite,n muS. Die Kritik an der zur absoluten Gewalt aufgespreizten Subjektivitat verkehrt sich ironisch in die Schelte des Philosophen an der Beschranktheit der Subjekte, die ihn und den Gang der Geschichte noch nicht begriffen haben. 51 H. Bd. 2, 25ff.
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II. Hegels Begriff der Moderne I
Als Hegel 1802 die Systeme von Kant, Jacobi und Fichte unter dem Aspekt der Entgegensetzung von Glauben und Wissen behandelt, urn die Philosophie der Subjektivitat von innen heraus zu sprengen, verfahrt er gleichwohl nicht streng immanent. Er stiitzt sich dabei =~~tills(7hweigendauf seine Diagnose des Au£klarungszeit~rs; diese Diagnose allein berechtigt ihn zur Voraussetzung des Absolutenalso dazu, die Vernunft (anders als in der Reflexionsphilosophie) als ~Macht der Vereinigung anzusetzen:~ Dber den alten Gegensatz von Philosophie und positiver Religion hat die Kultur die letzte Zeit (!) so erhoben, daB diese Entgegensetzung von Glauben und Wissen ... innerhalb der Philosophie selbst verlegt worden ist ... Es ist aber die Frage, ob die Siegerin Vernunft nicht eben das Schicksal erfuhr, welches die siegende Starke barbarischer Nationen gegen die unterliegende Schwache gebildeter zu haben pfleOgt, der auBeren Herrschaft nach die Oberhand zu behalten, dem Geiste nach aber dem Dberwundenen zu erliegen. Der glorreiche Sieg~ welchen die aufklarende Vernunft iiber das, was sie nach dem geringen MaBe ihres religiosen Begreifens als Glauben sich entgegengesetzt betrachtete, davongetragen hat, ist beim Lichte besehen kein anderer, als daB weder das Positive, mit dem sie sich zu kampfen machte, Religion, noch daB sie, die gesiegt hat, Vernunft blieb.«l Hegel ist davon iiberzeugt, daB sich das in Kant und Fichte kulminierende ( Au~zei~ in der Vernunft bloB ein Gotzenbild errichtet I, hat; es hat den Verstand oder die Reflexion falschlich an die Stelle der Vernunft gesetzt und damit ein Endliches zum Absoluten erhoben. Das Unendliche der Reflexionsphilosophie ist in Wahrheit ein vom Verstand nur gesetztes, in der Negation des Endlichen sich erschopfendes Verniinftiges: »Indem der Verstand es (das Unendliche) fixiert, setzt er es dem Endlichen absolut entgegen, und die Reflexion, die sich zur Vernunft erhoben hatte, indem sie das Endliche aufhob, hat sich wieder zum Verstand erniedrigt, indem sie das
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Tun der Vernunft in Entgegensetzung fixierte; iiberdem macht sie nun die Pratention, auch in diesem Riickfall verniinftig zu sein.«2 Wie allerdings die umstandslose Rede vom »Riickfall« zeigt, erschleicht sich Hegel hier, was er zu beweisen trachtet: er miiBte erst zeigen, und nicht schlicht voraussetzen, daB eine Vernunft, die mehr ist als verabsolutierter Verstand, jene Gegensatze, die die Vernunft doch diskursiv auseinanderlegen mufi, ebenso zwingend auch wieder vereinigen kann. Was Hegel zur Voraussetzung einer absoluten Macht der Vereinigung ermutigt, sind denn auch weniger Argumente als vielmehr lebensgeschichtliche Erfahrungen - namlich jene zeitgeschichtlichen Krisenerfahrungen, die er in Tiibingen, Bern und Frankfurt gesammelt, verarbeitet und nach Jena mitgebracht hatte. Der junge Hegel und seine Altersgenossen im Tiibinger Stift waren, wie man weiB, Parteiganger der Freiheitsbewegungen ihrer Zeit. Sie lebten unmittelbar im Spannungsfeld der religiosen Aufklarung und setzten sich vor allem mit der von dem Theologen Gottlieb Christian Storr vertretenen protestantischen Orthodoxie auseinander. Sie orientierten sich philosophisch an der Kantischen Moral- und Religionsphilosophie, politisch an den von der Franzosischen Revolution freigesetzten Ideen. Dabei hatte die streng reglementierte Lebensordnung im Stift eine auslosende Funktion: »Storrs Theologie, die Satzung des Stifts und die Verfassung des Staates, der beiden seinen Schutz verlieh, schienen den meisten (der Stiftler) einer Revolution wert. «31m Rahmen der theologischen Studien, die Hegel und Schelling damals betrieben haben, nimmt dieser rebellische Impuls die verhaltenere Gestalt einer reformatorischen Ankniipfung an das Urchristentum an. Die Absicht, die sie Jesus unterstellen - »Moralitat in die Religiositat seiner Nation zu bringen«4 - ist ihre eigene. Dabei wenden sie sich sowohl gegen die Partei der Aufklarung wie gegen die der Orthodoxie. 5 Beide Seiten 2 H. Bd. 2, 21. 3 D. Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, in: ders., Hegel im Kontext, Ffm. 1971, 55. 4 H. Bd. I, 107. 5 Darauf spielt Hegel mit der Bemerkung an: »Die Behandlungsart der christlichen Religion, die zu unseren Zeiten im Schwange steht, die Vernunft und Moralitiit zur Basis ihrer Priifung und den Geist der Nationen und Zeiten in der ErkHirung zu Hilfe
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bedienen sich der historisch-kritischen Werkzeuge der Bibelexegese, wenngleich sie kontrare Ziele verfolgen - namlich die Vernunftreligion, wie es seit Lessing heiBt, entweder zu rechtfertigen oder gegen diese die strenge Lutherische Lehre zu verteidigen. Die Orthodoxie war in die Defensive geraten und muBte sich der kritischen Methode ihrer Gegner bedienen. Hegels Position steht quer zu dies en Fronten. Mit Kant betrachtet Hegel die Religion als »die Macht, die Rechte, die die Vernunft erteilt hat, auszuf~hren (und) geltend zu machen.«6 Aber eine solt-ehe Macht kann dle Idee Gottes nur erlangen, wenn die Religion den Geist und die Sitten eines Volkes durchdringt, wenn sie in den Institutionen des Staates und in der Praxis der Gesellschaft gegenwartig ist, wenn sie die Denkart und die Triebfedern der Menschen fiir die Gebote der praktischen Vernunft empfindlich macht und sich ins Gemiit einpragt. Nur als Element des offentlichen Lebens kann die Religion der Vernunft praktische Wirksamkeit verleihen. Hegel laBt sich von Rousseau inspirieren, wenn er fiir die echte Volksreligion drei Forderungen aufstellt: »Ihre Lehren miissen auf der allgemeinen Vernunft gegriindet sein. Phantasie, Herz, Sinnlichkeit miissen dabei nicht leer ausgehen. Sie muB so beschaffen sein, daB sich aIle Bediirfnisse des Lebens, die offentlichen Staatshandlungen daran anschlieBen.«7 Unverkennbar sind auch die Anklange an den Kultus der Vernunft aus den Tagen der Franzosischen Revolution. Aus dieser Vision erklart sich die doppelte StoBrichtung der theologischenJugendschriften gegen Orthodoxie und Vernunftreligion. Beide erschienen als komplementare und vereinseitigte Produkte einer Aufklarungsdynamik, die allerdings iiber die Schranken der Aufklarung hinaustreibt. Ein Positivism us der Sittlichkeit ist, so scheint es dem jungen Hegel, die Signatur des Zeitalters. »Positiv« nennt Hegel Religionen, die
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nimmt, wird von einem durch Kenntnis, heller Vernunft und gute Absichten sehr ehrwiirdigen Teil unserer Zeitgenossen als wohltatige Aufklarung angesehen, die zum Ziele der Menschheit, zur Wahrheit und Tugend fiihre, von dem anderen, durch gleiche Kenntnisse und gleich wohlmeinende Zwecke respektablen, noch dazu durch das Ansehen von Jahrhunderten und der i:iffentlichen Macht untersriitzten Teile fUr bare Verschlimmerungen ausgeschrien.,< (Hegel Bd. I, 104); vgl. dazu Henrich (1971), 52ff. 6 H. Bd. I, 103. 7 H. Bd. I, 33.
allein auf Autoritat griinden und den Wert des Menschen nicht in dessen Moral setzen8 ; positiv sind Vorschriften, nach denen die Glaubigen durch Werke statt durch moralisches Handeln das Wohlwollen Gottes sollen erwerben konnen; positiv ist die Hoff_ nung auf eine Entschadigung im J enseits, positiv die Scheidung einer Lehre in den Handen einiger yom Leben und Eigentum aller; positiv ist die Ablosung des Priesterwissens yom Fetischglauben der Massen, auch der Umweg, der nur iiber die Autoritat und die Wundertaten einer Person zur Sittlichkeit fiihren spll; positiv sind die Versicherungenund Drohungen, die auf bloBe Legalitat des Handelns abzwecken; positiv ist schlieBlich und vor allem die Trennung der Privatreligion yom offentlichen Leben. Wenn dies alles den positiven Glauben kennzeichnet, den die orthodoxe Partei verteidigt, sollte die philosophische Partei leichtes Spiel haben. Diese beharrt ja auf dem Grundsatz, daB Religion schlechthin nichts Positives an sich hat, sondern durch allgemeine Menschenvernunft so autorisiert ist, daB »ihre Verpflichtung jeder Mensch einsieht und fiihlt, wenn er darauf aufmerksam geworden ist«.9 Aber den Aufklarern halt Hegel wiederum entgegen, daB.die reine Vernunftreligion nicht weniger als der Fetischglauben eine Abstraktion darsteIlt; denn sie ist unfahig, das Herz zu interessieren und EinfluB auf Empfindungen und Bediirfnisse zu nehmen. Auch sie bringt es nur zu einer anderen Art von Privatreligion, weil sie von den Institutionen des offentlichen Lebens abgeschnitten ist und keinen Enthusiasmus weckt. Erst wenn sich die Vernunftreligion in Festen und Kulten offentlich darstellte, sich mit Mythen verbande, Herz und Phantasie ansprache, konnte sich die religios vermittelte Moral »in den ganzen Zusammenhang des Staates einweben.«10 Die Vernunft in der Religion gewinnt objektive Gestalt nur unter Bedingungen politischer Freiheit - die »Volksreligion, die groBe Gesinnungen erzeugt und nmrt, geht Hand in Hand mit der Freiheit«.l1 Deshalb ist die Aufklarung nur die Kehrseite der Orthodoxie. Wie diese auf der Positivitat der Lehren, so beharrt jene auf der Objekti8_ H. Bd. 1,10. Die Ausdriicke >Moral, und >Sittlichkeit< gebraucht der junge Hegel noch als Synonyme. 10 H. Bd. 1,77. 11 H. Bd. 1,41. 9 H. Bd. I, 33.
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vitat der Vernunftgebote; beide bedienen sich der gleichen Mittel der Bibelkritik, beide festigen den Zustand der Entzweiung und sind gleichermaBen unfahig, die Religion zur sittlichen Totalitat eines Volksganzen auszubilden und ein Leben in politischer Freiheit zu inspirieren. Die Vernunftreligion geht, wie die positive, von etwas Entgegengesetztem aus - »von einem, das wir nicht sind und das wir sein sollen«Y Dieselbe Art der Entzweiungkritisiert Hegel auch an politischen Verhaltnissen und staatlichen Institutionen seiner Zeit - so vor aHem an der Herrschaft des Berner Stadtregiments iiber das Waadtland, an der Wiirttembergischen Magistratsverfassung und an der Verfassung des Deutschen Reiches.13 Wie aus der positiv gewordenen Religion der zeitgenossischen Orthodoxie der lebendige Geist des Urchristentums entwichen ist, so haben auch in der Politik »die Gesetze ihr altes Leben verloren, so hat sich die jetzige Lebendigkeit nicht in Gesetze zu fassen gewuBt«.14 Die zur Positivitat erstarrten rechtlichen und politischen Formen sind zu einer fremden Gewalt geworden. In dies en Jahren urn 1800 belegt Hegel beides, Religion und Staat, mit dem Verdikt, zu etwas bloB Mechanischem, zu einem Raderwerk, zu einer Maschine herabgekommen zu sein. 15 Dies also sind die zeitgeschichdichen Motive, die Hegel bewegen, die Vernunft a priori als eine Macht zu entwerfen, welche das 12 H. Bd. I, 254. _ 13 Zu den politischen Schriften des jungen Hegel vgl. Bd. I, 255 ff.; 268 ff.; 428 ff.; 451ff. - Freilich fehlt in den politischen Schriften noch das Pendant zur Aufklarungskritik. Diese holt Hegel bekanntlich in der »Phanomenologie des Geistes« unter dem Titel »Die absolute Freiheit und der Schrecken« nacho Auch hier richtet sie sich gegen eine philosophische Partei, die mit abstrakten Forderungen einem alten, hinter seiner Positivitat verschanzten Regime entgegentritt. Andererseits findet die Krisenerfahrung in den politischen Schriften noch beredter, jedenfails unmittelbarer Ausdruck als in den theologischen. Hegel beschw6rt geradezu die Not der Zeit, das Gefiihl des Widerspruchs, das Bediirfnis nach Veranderung, den Drang, die Schranken zu durchbrechen: »Das Bild besserer, gerechterer Zeiten ist lebhaft in die Seele der Menschen gekommen, und eine Sehnsucht, ein Seufzen nach einem reineren, freieren Zustand hat aile Gemiiter bewegt und mit der Wirklichkeit entzweit.« (H. Bd. I, 268 f.) Vgl. auch mein N achwort zu: G. W. F. Hegel, Politische Schriften, Ffm. 1966, 343ff. 14 H. Bd. 1,465. 15 H. Bd. 1,219 u. 234f.
System der Lebensverhaltnisse nicht nur differenziert und auseinanderbricht, sondern auch wieder vereinigt. Das Prinzip der Subjektivitat erzeugt im Streit zwischen Orthodoxie und A~fklarung eine Positivitat, die jedenfalls das objektive Bediirfnis nach ihrer Uberwindung hervorruft. Bevor Hegel diese Dialektik der Aufklarung durchfiihren kann, muB er allerdings zeigen, wie die Aufhebung der Positivitat aus demselben Prinzip, dem jene sich doch verdankt, zu erkiaren ist.
II
Hegel operiert in seinen friihen Schriften mit der versohnenden Kraft einer Vernunft, die sich nicht bruchlos aus Subjektivitat herleiten laBt. -Die autoritare Seite des SelbstbewuBtseins betont er immer dann, wenn er die Entzweiung durch Reflexion im Auge hat. Die modernen Erscheinungen des »Positiven« entlarven das Prinzip der Subjektivitat als eines der Herrschaft. So kennzeichnet die Positivitat der zeitgenossischen Religion, die durch Aufklarung zugleich provoziert und befestigt wird, so kennzeichnet iiberhaupt der Positivismus des Sittlichen die »Not der Zeit«; und »in der Not wird entweder der Mensch zum Objekt gemacht und unterdriickt - oder er muB Natur zu einem Objekt machen und unterdriicken.«16 Dieser repressive Charakter der Vernunft ist aHgemein in der Struktur der Selbstbeziehung, d. h. der Beziehung eines sich zum Objekt machenden Subjekts begriindet. GewiB hatte schon das Christentum einen Teil der Positivitat des jiidischen Glaubens, der Protestantismus einen Teil der Positivitat des katholischen Glaubens weggearbeitet; aber selbst in der Kantischen Moral- und Religionsphilosophie kehrt noch eine Positivitat wieder - und diesmal als das etkiarte Element der Vernunft seIber. In dies em Zusammenhang sieht Hegel den Unterschied zwischen dem »wilden Mogulitzen«, der blinder Herrschaft unterworfen ist, und dem verniinftigen Sohn der Moderne, der nur seiner Pflicht gehorcht, nicht in der Differenz 16 H. Bd. 1,318.
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von Knechtschaft und Freiheit, sondern allein darin, »daB jener den . Herrn auBer sich hat, dieser den Herrn in sich tragt u~d zugleich sein eigener Knecht ist: fur das Besondere, Triebe, Neigungen, pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es nennt, ist das Allgemeine notwendig und ewig ein Fremdes, ein Objektives; es bleibt eine unzerstorbare Positivitat ubrig, die vollends dadurch emporend wird, daB der Inhalt, den das allgemeine Pflichtgebot enthalt, eine bestimmte Pflicht, den Widerspruch, eingeschrankt und allgemein zugleich zu sein, enthalt und urn der Form der Allgemeinheit willen fur ihre Einseitigkeit die hartesten Pratentionen macht.«17 In derselben Abhandlung uber den »Geist des Christentums und sein Schicksal« erarbeitet Hegel das Konzept einer versohnenden Vernunft, welche Positivitat nicht nur zum Scheine tilgt. Wie sich diese Vernunft den Subjekten als Macht der Vereinigung fuhlbar macht, erlautert er beispielsweise am Modell der als Schicksal erfahrenen Strafe. 1S Sittlich, im Unterschied zu moralisch, nennt Hegel jetzt einen gesellschaftlichen Zustand, in dem alle Glieder zu ihrem Recht kommen und ihre Bedurfnisse befriedigen, ohne die Interessen anderer zu verletzen. Ein Verbrecher nun, der solche sittlichen Verhaltnisse stort, indem er fremdes Leben beeintrachtigt und unterdruckt, erfahrt die Macht des durch seine Tat entfremdeten Lebens als feindliches Schicksal. Er muB als die historische Notwendigkeit eines Schicksals empfinden, was in Wahrheit nur die reaktive Gewalt des verdrangten und abgeschiedenen Lebens ist. Diese laBt den Schuldigen leiden, bis er in der Vernichtung des fremden Lebens den Mangel des eigenen, in der Abkehr yom fremden Leben die Entfremdung von sich selbst erkennt. In dieser Kausalitat des Schicksals bringt sich das zerrissene Band der sittlichen Totalitat zu BewuBtsein. Die entzweite Totalitat kann erst versohnt werden, wenn aus der Erfahrung der Negativitat des entzweiten die Sehnsucht nach dem verlorenen Leben aufsteigt - und wenn diese die Beteiligten dazu notigt, in der abgespaltenen Existenz des Fremden die verleugnete eigene Natur wiederzuerkennen. Dann durchschauen beide Parteien ihre verhartete Stellung gegeneinander als 17 H. Bd. 1,323.
18 H. Bd.
1,
342ff.
das Resultat der Loslosung, der Abstraktion von ihrem gemeinsamen Lebenszusammenhang - und in diesem erkennen sie den Grund ihrer Existenz. Hegel stellt also den abstrakten Gesetzen der Moral die ganz andere GesetzmaBigkeit eines konkreten Schuldzusammenhangs gegen. uber, der durch die Spaltung einer vorausgesetzten sittlichen Totalitat zustandekommt. Aber jenes Prozessieren des gerechten Schicksals laBt sich nicht, wie die Gesetze der praktischen Vernunft, uber den Begriff des autonomen Willens aus dem Prinzip der Subjektivitat herleiten. Die Dynamik des Schicksals resultiert vielmehr aus der Storung der Symmetriebedingungen und der reziproken Anerkennungsverhaltnisse eines intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs, von dem sich der eine Teil isoliert und damit auch alle anderen Teile von sich und ihrem gemeinsamen Leben entfremdet. Dieser Akt des LosreiBens von einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt erzeugt erst eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Diese wird als ein fremdes Element, jedenfalls erst nachtraglich in Verhaltnisse eingefuhrt, die von Haus aus der Struktur einer Verstandigung zwischen Subjekten - und nicht der Logik der Vergegenstandlichung durch ein Subjekt gehorchen. Auch das »Positive« nimmt dadurch eine andere Bedeutung. an. Die Verabsolutierung eines :sedingten zum U nbedingten wird nicht mehr auf eine auJgespreizte Subjektivitat zuruckgefuhrt, die ihre Anspruche uberdehnt, sondern auf die entJremdete Subjektivitat, die sich yom gemeinsamen Leben losgesagt hat. Und die Repression, die daraus resultiert, geht auf die Storung eines intersubjektiven Gleichgewichts statt auf die Unterjochungeines zum Objekt gemachten Subjekts zuruck. Hegel kann den Aspekt der Versohnung, d.h. der Wiederherstellung der zerrissenen Totalitat, nicht aus dem SelbstbewuBtsein oder der reflexiven Beziehung des erkennenden Subjekts zu sich gewinnen. Sobald er aber auf die Intersubjektivitat von Verstandigungsverhaltnissen rekurriert, verfehlt er das fur die Selbstbegrundung der Moderne wesentliche Ziel, das Positive so zu denken, daB es aus demselben Prinzip, aus dem es hervorgeht, auch uberwunden werden kann - eben aus Subjektivitat. Dieses Ergebnis ist nicht so erstaunlich, wenn man bedenkt, daB der junge Hegel die zur Positivitat geronnenen Lebensverhaltnisse
durch die Korrespondenz seiner Gegenwart mit der Verfallszeit des Hellenismus erlautert. Er spiegelt seine Gegenwart in einer Epoche der Zersetzung klassischer Vorbilder. Fur die schicksalhafte Versohnung der zerfallenen Moderne setzt er mithin eine sittliche Totalitat voraus, die nicht auf dem Boden der Moderne gewachsen, sondern der idealisierten Vergangenheit der urchristlichen Gemeindereligiositat und der griechischen Polis entlehnt ist. Hegel bietet gegen die autoritaren Verkorperungen der subjektzentrierten Vernunft die vereinigende Macht einer Intersubjektivitat auf, die unter den Titeln >Liebe< und >Leben< auftritt. Die Stelle der reflexiven Beziehung zwischen Subjekt und Objekt wird durch eine im weitesten Sinne kommunikative Vermittlung der Subjekte miteinander eingenommen. Der lebendige Geist ist das Medium, welches eine Gemeinsamkeit von der Art stiftet, daB sich ein Subjekt mit dem anderen Subjekt eins wissen und dabei doch es seIber bleiben kann. Die Vereinzelung der Subjekte setzt dann die Dynamik . einer gestorten Kommunikation in Gang, der allerdings die Wiederherstellung des sittlichen Verhaltnisses als Telos innewohnt. Diese Wendung des Gedankens hatte den AnstoB dazu geben konnen, den in der Subjektphilosophie entwickelten Reflexionsbegriff der Vernunft kommunikationstheoretisch einzuholen und umzuformen. Hegel hat diesen Weg nicht beschritten. 19 Denn bis dahin hatte er die Idee der sittlichen Totalitat nur am Leitfaden der Idee einer Volksreligion entwickelt, in der die kommunikative Vernunft die idealisierte Gestalt historischer Gemeinschaften wie der urchristlichen Gemeinde und der griechischen Polis annahm. Als Volksreligion ist sie nicht nur illustrativ, sondern unaufloslich mit den idealen Zugen dieser klassischen Epochen verwoben. Nun hatte aber die moderne Zeit ihr SelbstbewuBtsein durch eine Reflexion errungen, die den systematischen Ruckgriff auf solche exemplarischen Vergangenheiten verwehrte. Der Gegensatz von Glauben und Wissen war, wie an dem Streit zwischen Jacobi und Kant, und an Fichtes Reaktion, abzulesen war, in die Philo sophie
selbst verlegt worden. Mit dieser Dberlegung beginnt Hegel seine einschlagige Abhandlung. Sie notigt ihn, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, daB sich positive Religion und Vernunft auf dem Wege einer reformatorischen Erneuerung des urchristlichen Geistes miteinander versohnen lieBen. Zur gleichen Zeit macht sich Hegel mit der Politischen Okonomie vertraut. Auch hier muB er einsehen, daB der kapitalistische Wirtschaftsverkehr eine moderne Gesellschaft hervorgebracht hat, die unter dem Traditionsnamen der >burgerlichen Gesellschaft< eine vollkommen neue, mit den klassischen Formen der societas civilis oder der Polis unvergleichliche Realitat darstellt. Trotz gewisser Kontinuitaten der romischrechtlichen Dberlieferung kann Hegel den gesellschaftlichen Zustand des zerfallenden romischen Reiches nicht langer zum Vergleich mit dem Privatrechtsverkehr der modernen burgerlichen Gesellschaft heranziehen. Damit verliert auch die Folie, vor der das spate romische Reich erst als Zerfall sichtbar wird, also die geruhmte politische Freiheit des athenischen Stadtstaates, den Charakter eines Vorbildes fur die moderne Zeit. Kurzum - eine noch so kraftvoll interpretierte Sittlichkeit von Polis und U rchristentum kann nicht mehr den MaBstab abgeben, den sich eine mit sich entzweite Moderne zu eigen machen konnte. Das mag der Grund dafur sein, daB Hegel den Spuren einer kom.munikativen Vernunft, die in seinen J ugendschriften deutlich angelegt sind, nicht weiter gefolgt ist und in der J enaer Zeit einen Begriff des Absoluten entwickelt hat, der innerhalb der Grenzen der Subjektphilosophie eine Ablosung von den christlich-antiken Vorbildern erlaubte - freilich urn den Preis eines weiteren Dilemmas.
III
Bevorich die philosophische Losung, die Hegel fur die Selbstbegriindung der Moderne anzubieten hat, skizziere, empfiehlt sich eine Ruckblende auf jenes alteste Systemprogramm, das in Hegels Handschrift uberliefert ist und die gemeinsame Dberzeugung der in frankfurt versammelten Freunde Holderlin, Schelling und Hegel
19 Ich sehe ab von der Jenenser Realphilosophie, worin die intersubjektivitatstheoretischen Ansatze der Jugendschriften ihre Spuren hinterlassen haben. Vgl.J. Habennas, Arbeit und Interaktion, in: ders., Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Ffm. 1968, 9ff.
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wiedergibt.2° Hier wird namli~h ein weiteres Element ins Spiel gebracht: die Kunst a1s~~~ der ~_~~~~~gJ Die Vernunftreligion soll sich der Kunst iiberantworten, urn slch zur Volksreligion zu gestalten. DerMonotheismus der Vernunft und des Herzens soll sich mit dem Polytheismus der Einbildungskraft verbinden und eine M ythologie im Dienste del' Ideen schaffen: »Ehe wir die Ideen asthetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie kein Interesse fiirs Yolk; und umgekehrt, ehe die Mythologie verniinftig ist, muB sich der Philosoph ihrer schamen.«21 Die sitdiche Totalitat, die keine Kraft unterdriickt und die gleiche Ausbildung aller Krafte ermoglicht, wird inspiriert sein durch eine poetisch gestiftete Religion. Die Sinnlichkeit dieser Mythopoesie kann dann das Yolk und die Philosophen gleichermaBen erfassen. 22 Diese Programmatik erinnert an Schillers Ideen iiber die asthetische Erziehung des Menschen von 1795 23 ; sie leitet Schelling bei der Ausarbeitung seines Systems des transzendentalen Idealismus von 24 1800; und sie bewegt Holderlins Denken bis zum Ende. Hegel indessen beginnt alsbald an der as thetis chen Utopie zu zweifeln. In der Differenzschrift von 1801 raumt er ihr keine Chance mehr ein, weil in der Bildung des sich entfremdeten Geistes »die tiefere, ernste Beziehung lebendiger Kunst« keine Aufmerksamkeit mehr finden konne. 25 In J ena entsteht die Poesie der friihen Romantik gleichsam unter Hegels Augen. Hegel erkennt unmittelbar, daB dieromantische Kunst dem Zeitgeist kongenial ist - in ihrem Subjektivismus spricht sich der Geist der Moderne aus. Aber als eine Poesie der Entzweiung ist sie kaum zur »Lehrerin der Menschheit« berufen; sie bahnt nicht den Weg zu jener Religion der Kunst, die Hegel in 20 R. Bubner (Hrsg.), Das alteste Systemprogramm, Bonn 1973; zur Herkunft des Manuskripts vgl. die Beitrage zu: Chr. Jamme, H. Schneider (Hrsg.), Mythologie der Vernunft, Ffm. 1984. 21 H. Bd. 1,236. 22 "So miissen endlich Aufgeklarte und Unaufgeklarte sich die Hand reichen, die Mythologie muB philosophisch werden und das Yolk verniinftig, und die Philosophie muB mythologisch werden, urn die Philosophen sinnlich zu machen.« H. Bd. I, 23 6. 23 Vgl. den Exkurs unten S. 59ff. 24 Henrich (1971), 6Iff. 25 H. Bd. 2, 23.
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Frankfurt zusammen mit Holderlin und Schelling beschworen hatte. Ihr kann sich die Philosophie nicht unterordnen. Eher muB sich die Philosophie selbst als den Ort verstehen, an dem die Vernunft als absolute Macht der Vereinigung ihren Auftritt hat. U nd da diese in Kant und Fichte die Gestalt der Reflexionsphilosophie angenommen hat, muB Hegel, zunachst noch in den FuBstapfen Schellings, versuchen, aus dem Ansatz der Reflexionsphilosophie, d. h. aus der Selbstbeziehung des Subjekts einen Vernunftbegriff zu entwickeln, mit dem er seine Krisenerfahrungen verarbeiten und die Kritik an der entzweiten Moderne durchfiihren kann. Hegel will die Intuition seiner Jugend auf den Begriff bringen, daB sich in der modernen Welt Emanzipation in U nfreiheit verwandeln muB, weil sich die entfesselnde Kraft der Reflexion verselbstandigt hat und weil sie Vereinigung nur noch durch die Gewalt einer unterjochenden Subjektivitat zustandebringt. Die moderne Welt leidet anfalschen Identitaten, weil sie,·im Alltag wie in der Philosophie, jeweils ein Bedingtes absolut setzt. Den Positivitaten des Glaubens und der politischen Institutionen, der entzweiten Sittlichkeit iiberhaupt, entspricht der Dogmatismus der Kantischen Philosophie. Diese verabsolutiert das SelbstbewuBtsein des verstandigen Menschen, das der Mannigfaltigkeit einer in sich zerfallenen Welt »einen objektiven Zusammenhang und Halt, Substantialitat, Vielheit und sogar Wirklichkeit und Moglichkeit erhalt, - eine objektive Bestimmtheit, welche der Mensch hinsieht und hinauswirft.«26 Und was von der Einheit des Subjektiven und des Objektiven in der Erkenntnis gilt, gilt ebenso von der Identitat des Endlichen und Unendlichen, des Einzelnen und des Allgemeinen, der Freiheit und der Notwendigkeit in Religion, Staat und Moralitat; alles dies sind falsche Identitaten - »die Vereinigung ist gewaltsam, das eine bekommt das andere unter sich ... die Identitat, die eine absolute sein soll, ist eine unvollstandige.«27 Das Verlangen nach einer ungezwungenen Identitat, das Bediirfnis nach einer anderen als der bloB positiven, in Gewaltverhaltnissen fixierten Vereinigung ist fiir Hegel, wie wir gesehen haben, durch lebhafte Erfahrungen der Krise beglaubigt. Wenn aber die wahre 26 H. Bd.
2,
309.
27 H. Bd.
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Identitat ihrerseits aus dem Ansatz der Reflexionsphilosophie entwickelt werden solI, muB die Vernunft wohl als die Selbstbeziehu~g eines Subjektes gedacht werden, aber nun als eine Reflexion, die sich nicht selbst als die absolute Macht der Subjektivitat einem Anderen bloB imponiert, sondern zugleich in nichts anderem ihren Bestand und ihre Bewegung hat, als allein darin, allen Verabsolutierungen entgegenzuwirken, d. h. alles Positive, das es hervorbringt, auch wieder wegzuarbeiten. An die Stelle der abstrakten Entgegensetzung von Endlichem und U nendlichem setzt Hegel deshalb die absolute Selbstbeziehung eines aus seiner Substanz zum SelbstbewuBtsein gelangenden Subjekts, das die Einheit wie die Differenz des Endlichen und des U nendlichen in sich tragt. 1m U nterschied zu Holderlin und Schelling solI dieses absolute Subjekt eben nicht als Sein oder intellektuelle Anschauung dem WeltprozeB vorausgehen, sondern einzig im ProzeB der Beziehung des Endlichen und Unendlichen aufeinander und damit in der verzehrenden Tatigkeit des Zusichkommens selbst bestehen. Das Absolute wird weder als Substanz noch als Subjekt, sondern allein als der vermittelnde ProzeB der sich bedingungsfrei produzierenden Selbstbeziehung aufgefaBt. 28 Diese, Hegel eigentiimliche Denkfigur setzt die Mittel der Subjektphilosophie zum Zwecke einer Dberwindung der subjektzentrierten Vernunft ein. Mit ihr kann der reife Hegel die Moderne ihrer Verfehlungen iiberfiihren, ohne auf ein anderes als das ihr selbst innewohnende Prinzip der Subjektivitat zuriickzugreifen. Seine Asthetik gibt dafiir ein lehrreiches Beispiel. Auf die Versohnungskraft der Kunst hatten nicht nur die Frankfurter Freunde ihre Hoffnung gesetzt. Gerade im Streit urn die Vorbildlichkeit der klassischen Kunst war, wie zuvor in Frankreich, so auch in Deutschland das Problem der Selbstbegriindung der Moderne zu BewuBtsein gekommen. H. R. JauB hat gezeig~9, wie Friedrich Schlegel und Friedrich Schiller in ihren Arbeiten »Dber das Studium der griechischen Philosophie« (1797) und »Dber naive und sentimentalische Dichtung« (1796) die Fragestellung der fran28 D. Henrich, Hegel und Holderlin, in: Henrich (1971), 35ff. 29 H. R. JauB, Schlegels und Schillers Replik, in: ders. (1970), 67ff.
zosischen »Querelle« aktualisiert, die Eigenart der modernen Dichtung herausgearbeitet und zu dem Dilemma Stellung genommen haben, das sich ergab, wenn man die von den Klassizisten anerkannte Vorbildlichkeit der antiken Kunst mit der Dberlegenheit der Moderne in Einklang bringen muBte. Beide Autoren beschreiben den Stilunterschied in ahnlicher Weise als einen Gegensatz zwischen dem Objektiven und dem Interessanten, zwischen der natiirlichen und der kiinstlichen Bildung, dem Naiven und dem Sentimentalischen. Sie setzen der klassischen Naturnachahmung die moderne Kunst als einen Akt der Freiheit und der Reflexion entgegen. Schlegel erweitert die Grenzen des Schonen sogar schon durch Hinweise auf eine Asthetik des HaBlichen, die dem Pikanten und Abenteuerlichen, dem Frappanten und Neuen, dem Schockierenden und Ekelhaften einen Platz einraumt. Aber wahrend Schlegel zogert, sich unzweideutig yom klassizistischen Kunstideal zu losen, stellt Schiller eine geschichtsphilosophische Rangordnung zwischen Antike und Neuzeit her. Die Vollkommenheit der naiven Dichtung ist fiir den reflektierten Dichter der Moderne zwar unerreichbar geworden; stattdessen strebt aber die mod erne Kunst nach dem Ideal einer vermittelten Einheit mit der Natur - und dieses ist dem Ziel, das die antike Kunst durch die Schonheit der nachgeahmten Natur erreicht hat, »unendlich vorzuziehen«. Schiller hatte die Reflexionskunst der Romantik, noch bevor sie ins Leben trat, auf ihren Begriff gebracht. Hegel stand sie bereits vor Augen, als er Schillers geschichtsphilosophische Deutung der modernen Kunst in seinen Begriff des absoluten Geistes aufnimmt. 30 In der Kunst iiberhaupt solI der Geist seiner als des gleichzeitigen Geschehens von SelbstentauBerung und Riickkehr in sich ansichtig werden. Die Kunst ist die sinnliche Form, in der sich das Absolute anschaulich ergreift, wahrend Religion und Philosophie hohere Formen darstellen, unter denen das Absolute sich bereits vorstellt und begreift. Die Kunst findet also an der Sinnlichkeit ihres Mediums eine innere Schranke und weist am Ende iiber die Grenze ihrer Darstellungsweise des Absoluten hinaus. Es gibt ein »Nach der Kunst.«31 Aus dieser Perspektive kann Hegel jenes Ideal, das die 30 H. Bd. 13,89.
31 H. Bd. 13, 14I.
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moderne Kunst ... Schiller zufolge nur erstrebt, aber nicht erreichen kann, in eine Sphare jenseits der Kunst verlegen, wo es als Idee verwirklicht werden kann. Dann muB aber die Gegenwartskunst als eine Stufe interpretiert werden, auf der sich mit der romantischen Kunstform die Kunst als solche auflost. Auf diese Weise findet der asthetische Streit zwischen den Alten und den Neuen eine elegante Auflosung: die Romantik ist die »Vollendung« der Kunst - sowohl im Sinne des subjektivistischen Zerfalls der Kunst in Reflexion wie auch im Sinne der reflexiven Durchbrechung einer noch ans Symbolische geketteten Form der, Darstellung des Absoluten. So kann die seit Hegel immer wieder mokant erhobene Frage, »ob denn dergleichen Produktionen uberhaupt noch Kunstwerke zu nennen seien«32, mit gezielter Ambivalenz beantwortet werden. Die moderne Kunst ist in der Tat dekadent, aber eben dadurch auch fortgeschritten auf dem Wege zum absoluten Wissen, wahrend die klassische Kunst ihre Vorbildlichkeit behalt und doch mit Recht uberwunden worden ist: »Die klassische Kunstform hat (zwar) das Hochste erreicht, was die Versinnlichung der Kunst zu leisten vermag«33; gleichwohl ermangelt ihrer Naivitat die Reflexion auf die in den romantischen Auflosungstendenzen so sichtbar hervortretende Beschranktheit der Kunstsphare als solcher. Nach dem gleichen Modell verabschiedet Hegel auch die christliche Religion. Die Parallelen zwischen den Auflosungstendenzen der Kunst und der Religion sind deutlich. Die Religion hat ihre absolute Innerlichkeit im Protestantismus erreicht; schlieBlich hat sie sich in der Epoche der Aufklarung mit dem weltlichen BewuBtsein entzweit: »Es macht unserem Zeitalter keinen Kummer mehr, von Gott nichts zu erkennen, vielmehr gilt es fur die hochste Einsicht, daB diese Erkenntnis sogar nicht moglich sei.«34 Die Reflexion ist, wie in die Kunst, so auch in die Religion eingebrochen; der substantielle Glauben ist entweder der Gleichgultigkeit oder derfrommelnden Empfindsamkeit gewichen. Aus diesem Atheismus rettet die Philosophie den Inhalt des Glaubens, indem sie die religiose Form zerstort. Die Philosophie hat zwar keinen anderen Inhalt als die 32 H. Bd. 14,223.
33 H. Bd. 13,
III.
34 H. Bd. 16,43,
Religion, aber indem sie dies en in begriffliches Wissen transformiert, »ist im Glauben nichts (mehr) gerechtfertigt«.35 Wenn wir einen Moment innehalten und auf den Gang des Gedankens zuruckblicken, scheint es so, als habe Hegel sein Ziel erreicht. Mit dem Begriff eines Absoluten, das alle Verabsolutierungen uberwaltigt und allein das unendliche, alles Endliche in sich hineinschlingende Prozessieren der Selbstbeziehung als Unbedingtes zuriickbehalt, kann Hegel die Moderne aus deren eigenem Prinzip begreifen. Und indem er das tut, erweist er diePhilosophie als die Macht der Vereinigung, die alle aus der Reflexion selbst hervorgegangenen Positivitaten uberwindet - und damit die modernen Zerfallserscheinungen kuriert. Allein, dieser glatte Eindruck tauscht. Wenn man namlich das, was Hegel mit der Idee einer Volksreligion einst im Sinne hatte, mit dem vergleicht, was nach der Aufhebung von Kunst in Religion und von Glauben in Philosophie ubrigbleibt, versteht man die Resignation, die Hegel am Ende seiner Religionsphilosophie befallt. Was die philosophische Vernunft bestenfalls zu bewirken vermag, ist eine partielle Versohnung - ohne die auBere Allgemeinheit jener offentlichen Religion, die das Volk vernunftig und die Philosophen sinnlich machen sollte. Das Volk sieht sich vielmehr von seinen philosophisch gewordenen Priestern erst recht verlassen: »Die Philosophie ist in dieser Hinsicht ein abgesondertes Heiligtum«, heiBt es jetzt, »und ihre Diener bilden einen isolierten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammengehen darf ... Wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist ihr zu uberlassen, und ist nicht unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie.«36 . Die Dialektik der Aufklarung hat, an ihrem Ziele angelangt, den Impuls der Zeitkritik, der sie doch erst in Bewegung gesetzt hatte, aufgebraucht. Dieses negative Resultat zeigt sich noch deutlicher an der Konstruktion der »Aufhebung« der burgerlichen Gesellschaft im Staat.
35 H. Bd. 17,343.
36 H. Bd. 17,343£.
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IV In der Aristotelischen Tradition ist der alteuropaische Begriff der Politik als einer Staat und Gesellschaft umfassenden Sphare bis ins 19. Jahrhundert ungebrochen fortgefiihrt worden. Die bkonomie des »ganzen Hauses«, eine auf der agrarisch-handwerklichen Produktion beruhende Subsistenzwirtschaft, die durch lokale Markte erganzt wird, bildet nach dieser Vorstellung die Grundlage einer politischen Gesamtordnung. Soziale Schichtung und differentielle Teilhabe an (bzw. AusschluB von) politischer Macht gehen Hand in Hand - die Verfassung der politis chen Herrschaft integriert die Gesellschaft insgesamt. Offensichtlich paBt diese Begrifflichkeit nicht mehr auf moderne Gesellschaften, in denen sich der privatrechtlich organisierte Warenverkehr der kapitalistischen bkonomie aus der Herrschaftsordnung herausgelost hat. Dber die Medien Tauschwert und Macht haben sich zwei Handlungssysteme ausdifferenziert, die sich funktional erganzen - das Soziale hat sich vom Politischen, die entpolitisierte Wirtschaftsgesellschaft vom biirokratisierten Staat getrennt. Diese Entwicklung muBte die Fassungskraft der klassischen Lehre von der Politik iiberfordern. Diese zerfallt deshalb, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in eine politokonomisch begriindete Gesellschaftstheorie auf der einen, in eine vom modernen N aturrecht inspirierte Staatstheorie auf der anderen Seite. Hegel steht in der Mitte dieser Wissenschaftsentwicklung. Er ist der erste, der eine der modernen Gesellschaft angemessene Begrifflichkeit auch terminologisch darin zum Ausdruck bringt, daB er die politische Sphare des Staates von der »biirgerlichen Gesellschaft« trennt. Er holt gleichsam die kunsttheoretische Gegeniiberstellung von Moderne und Altertum gesellschaftstheoretisch ein: »In der biirgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen. Diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen befriedigt.«37 37 H. Bd. 7, 340.
Hegel beschreibt den Marktverkehr als einen sittlich neutralisierten Bereich fiir die strategische Verfolgung privater, »selbstsiichtiger« Interessen, wobei diese zugleich ein »System allseitiger Abhangigkeit« begriinden. Unter Hegels Beschreibung erscheint die biirgerliche Gesellschaft einerseits als eine »in ihre Extreme verlorene Sittlichkeit«, als ein »dem Verderben Angehoriges«.38 Andererseits findet sie, »die Schopfung der modernen W elt«39, auch ihre Berechtigung in der Emanzipation des Einzelnen zu formeller Freiheit; die Entfesselung der Willkiirlichkeit des Bediirfnisses und der Arbeit ist ein notwendiges Moment auf dem Wege, urn »die Subjektivitat in ihrer Besonderheit zu bilden.«40 Obwohl der neue Terminus »biirgerliche Gesellschaft« erst spater, in der »Rechtsphilosophie«, auftritt, hat sich Hegel das neue Konzept bereits in seiner J enaer Zeit erarbeitet. In der Abhandlung »Dber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts« (1802) nimmt er auf. die Politische bkonomie Bezug, urn »das System der allgemeinen gegenseitigen Abhangigkeit in Ansehung derphysischen Bediirfnisse und der Arbeit und (der) Anhaufung fUr dieselben«41 als das »System von Eigentum und Recht« zu analysieren. Schon hier stellt sich fiir ihn das Problem, wie die biirgerliche Gesellschaft nicht bloB als eine Sphare des Zerfalls substantieller Sittlichkeit, sondern in ihrer Negativitat zugleich als ein notwendiges Moment der Sittlichkeit begriffen werden kann. Hegel geht davon aus, daB das antike Staatsideal unter Bedingungen der modernen, entpolitisierten Gesellschaft nicht restituiert werden kann. Andererseits halt er an der Idee jener sittlichen T otalitat fest, die ihn zunachst unter dem Namen der Volksreligion beschaftigt hatte. Er muB also das sittliche Ideal der Alten in der Hinsicht, in der es dem Individualismus der Neuzeit iiberlegen ist, mit den Realitaten der gesellschaftlichen Moderne vermitteln. Mit der Differenzierung zwischen Staat und·Gesellschaft, die Hegel, der Sache nach, damals schon vornimmt, setzt er sich gleichermaBen von der restaurativen Staatsphilosophie wie auch vom rationalen Naturrecht abo Wahrend das restaurative Staatsrecht iiber Vorstellungen der substantiellen Sittlichkeit nicht hinausgelangt und noch den Staat als ein 38 H. Bd. 7, 340, 344· 41 H. Bd. 2,482.
39 H. Bd. 7, 340.
40 H. Bd. 7, 343.
, erweitertes Familienverhaltnis begreift, erhebt sich das individualistische Naturrecht gar nicht erst zur Idee der Sittlichkeit und identi~ fiziert den Not- und Verstandesstaat mit den Privatrechtsverhaltnissen der burgerlichen Gesellschaft. Die Eigentumlichkeit des modernen Staates kommt aber erst in den Blick, wenn das Prinzip der biirgerlichen Gesellschaft als ein Prinzip marktformiger, d. h. nichtstaatlicher Vergesellschaftung begriffen ist. Denn »das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Starke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivitat sich zum selbstandigen Extreme der personlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zuriickzufiihren und so in ihm selbst diese zu erhalten.«42 Diese Formulierung kennzeichnet das Problem der Vermittlung von Staat und Gesellschaft, aber auch schon die tendenziose Losung, die Hegel vorschlagt. Es versteht sich ja nicht von selbst, daB sich die Sphare der Sittlichkeit, die Familie, Gesellschaft, politische Willensbildung und Staatsapparat als Ganzes umfaBt, nur im Staat, genaugenommen in der Regierung und in deren monarchischer Spitze, zusammenfassen, d. h. zu sich selbst kommen solI. Zunachst kann Hegel nur plausibel machen, daB und warum im System der Bediirfnisse und der Arbeit Antagonismen aufbrechen, die durch die Selbstregulation der biirgerlichen Gesellsclj.aft allein nicht aufgefangen werden konnen; das erklart er, ganz auf der Hohe der Zeit, mit »dem Herabsinken einer groBen Masse unter das MaB einer gewissen Subsistenzweise ... , das wiederum die groBere Leichtigkeit, unverhaltnismaBige Reichtiimer in wenige Hande zu konzentrieren, mit sich fiihrt.«43 Daraus ergibt sich freilich erst die funktionale Notwendigkeit der Einbettung der antagonistischen Gesellschaft in eine Sphare lebendiger Sittlichkeit. Dieses zunachst nur geforderte Allgemeine hat die doppelte Gestalt der absoluten Sittlichkeit, die die Gesellschaft als eines ihrer Momente in sich 42 H. Bd. 7, 407. 43 Noch energischer als in der Buchfassung arbeitet Hegel die Krisenstruktur der biirgerlichen Gesellschaft in den wmrend des Wintersemesters 1819/20 gehaltenen Vorlesungen zur Rechtsphilosophie heraus. V gl. die Einleitung von D. Henrich zu: G. F. W. Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesungvon 1819/20 in einer Nachschrift, Ffm. 1983, 18ff.
befaBt, und die eines »positiv Allgemeinen«, das sich von der Gesellschaft unterscheidet, urn die Tendenzen der Selbstzerstorung aufzufangen und zugleich die Erg~bnisse der Emanzipation aufzubewahren. Hegel denkt dieses Positive als den Staat und lost das Vermittlungsproblem durch die »Aufhebung« der Gesellschaft in die konstitutionelle Monarchie. Diese Losung ergibt sich jedoch zwingend nur unter der Voraussetzung eines Absoluten, das nach dem Muster der Selbstbeziehung eines erkennenden Subjekts begriffen wird. 44 Die Figur des SelbstbewuBtseins hat Hegel schon in der Jenenser Realphilosophie den AnstoB gegeben, das sittliche Ganze als »die Einheit der Individualitat und des Allgemeinen zu denken«.45 Denn ein Subjekt, das sich erkennend auf sich bezieht, findet sich gleichzeitig vor als ein allgemeines Subjekt, das der Welt als der Gesamtheit von Gegenstanden moglicher Erkenntnis gegeniibersteht, und als ein individuelles Ich, das innerhalb dieser Welt als eine unter vielen anderen Entitaten vorkommt. Wenn nun das Absolute als unendliche Subjektivitat . gedacht wird (die sich ewig in die Objektivitat gebiert, urn sich aus ihrer Asche in die Herrlichkeit des absoluten Wissens zu erheben46 ), konnen die Momente des Allgemeinen und des Einzelnen nur im Bezugsrahmen der monologischen Selbsterkenntnis als vereinigt gedacht werden: im konkreten Allgemeinen behalt deshalb das Subjekt als allgemeines Vorrang vor dem Subjekt als einzelnem. Fur die Sphare der Sittlichkeit ergibt sich aus dieser Logik der Vorrang der hoherstufigen Subjektivitat des Staates vor der subjektiven Freiheit der Einzelnen. D. Henrich hat das den »starken Institutionalismus« der Hegelschen Rechtsphilosophie genannt: »Der einzelne Wille, den Hegel den subjektiven nennt, ist in die Ordnung der Institutionen ganz eingebunden und iiberhaupt nur insofern gerechtfertigt, als diese selbst es sind.«47 44 V gl. R. P. Horstmann, Probleme der Wandlung in Hegels J enaer Systemkonzeption, Phil. Rundsch. 9, 1972, 95 ff; ders., tiber die Rolle der biirgerlichen Gesellschaft in Hegels Politischer Philosophie, Hegel-Studien Bd. 9, 1974, 209ff. 45 Jenenser Realphilosophie, ed. Hoffmeister, Leipzig 1931, 248. 46 Mit diesen Worten kennzeichnet Hegel die T ragodie, die das ewig mit sich selbst spielende Absolute im Bereich des Sittlichen auffiihrt; H. Bd. 2,495. 47 Henrich, Einleitung zu Hegel (1983),31.
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Ein anderes Modell fur die Vermittlung des Allgemeinen und des Einzelnen bietet die hoherstufige Intersubjektivitat der ungezwungenen Willensbildung in einer unter Kooperationszwangen stehenden Kommunikationsgemeinschaft: in der Allgemeinheit eines ungezwungenen, unter Freien und Gleichen erzielten Konsenses behalten die Einzelnen eine Appellationsinstanz, die auch gegen besondere Formen der institutionellen Konkretisierung des gemeinsamen Willens angerufen werden kann. In Hegels Jugendschriften war, wie wir gesehen haben, die Option, die sittliche Totalitat als eine in intersubjektiven Lebenszusammenhangen verkorperte koinmunikative Vernunft zu explizieren, noch offengeblieben. Auf dieser Linie hatte eine demokratische Selbstorganisation der Gesellschaft an die Stelle des monarchischen Staatsapparates treten konnen. Die Logik des sich selbst begreifenden Subjekts erzwingt hingegen den Institutionalismus eines starken Staates. Wenn aber der Staat der »Rechtsphilosophie« zur »Wirklichkeit des substantiellen Willens, zum an und fur sich Vernunftigen« erhoben wird, ergibt sich die, schon von den Zeitgenossen als provokativ empfundene Konsequenz, daB politische Bewegungen, die uber die von der Philosophie gezogenen Grenzenhinausdrangen, aus Hegels Sicht gegen die Vernunft selbst verstoBen. Wie die Religionsphilosophie am Ende die unbefriedigten religiosen Bedurfnisse des Volkes beiseite schiebt48 , so zieht sich auch die Staatsphilosophie von der unbefriedeten politischen Wirklichkeit zuruck. Das Verlangen nach demokratischer Selbstbestimmung, das sich in der Pariser Julirevolution energisch, in der Vorlage des englischen Kabinetts fur eine Wahlreform vorsichtig anmeldet, ruft in Hegels Ohren einen noch schrilleren »MiBton« hervor. Diesmal ist Hegel von der Diskrepanz zwischen Vernunft und geschichtlicher Gegenwart so beunruhigt, daB er sich mit seiner Schrift »Uber die englische Reformbill« unverhohlen auf die Seite der Restauration stellt. 48 »Wenn den Armen nicht mehr das Evangelium gepredigt wird, wenn das Salz dumm geworden und aile Grundfesten stillschweigend hinweggenommen sind, dann weiB das Yolk, fiir dessen gedrungen bleibende Vernunft die Wahrheit nur in der Vorstellung sein kann, dem Drange seines Innern nicht mehr zu helfen.« (H. Bd. 17,343)·
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Kaum hatte Hegel die Entzweiung der Moderne auf den Begriff gebracht, schickte sich schon die Unruhe und die Bewegung der Moderne an, diesen Begriff zu sprengen. Das erklart sich aus dem Umstand, daB Hegel die Kritik der Subjektivitat nur innerhalb des Rahmens der Subjektphilosophie durchfuhren konnte. W 0 die Macht der Entzweiung nur tatig werden solI, damit sich das Absolute als die Macht der Vereinigung beweisen kann, dort kann es keine »falschen« Positivitaten mehr geben, sondern bloB Entzweiungen, die auch ein relatives Recht beanspruchen durfen. Der »starke« Institutionalismus hat Hegel die Feder gefuhrt, als er, in der Vorrede zur »Rechtsphilosophie«, das Wirkliche zum Vernunftigen erklarte. GewiB, in den vorangehenden Vorlesungen aus dem WS 1819120 findet sich die schwachere Formulierung: »Was vernunftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernunftig.«49 Aber auch dieser Satz eroffnet nur den Spielraum fur eine vorentschiedene, fur ejne vorverurteilte Gegenwart. Erinnern wir uns an das Ausgangsproblem. Eine vorbildlose, zukunftsoffene, neuerungssuchtige Moderne kann ihre MaBstabe nur aus sich selber schopfen. Ais einzige Quelle des Normativen bietet sich das Prinzip der Subjektivitat an, dem das ZeitbewuBtsein der Moderne selbst entspringt. Die Reflexionsphilosophie, die von der Grundtatsache des SelbstbewuBtseins ausgeht, bringt dieses Prinzip auf den Begriff. Dem auf sich selbst angewendeten Reflexionsvermogen enthullt sich freilich auch das Negative einer verselbstandigten, absolut gesetzten Subjektivitat. Deshalb soIl sich die Rationalitat des Verstandes, den die Moderne als ihr Eigentum. weiB und als einzige Verbindlichkeit anerkennt, auf den Spuren einer Dialektik der Aufklarung zur Vernunft erweitern. Aber als absolutes Wissen nimmt diese Vernunft schlieBlich eine Gestalt an, die so uberwaltigend ist, daB sie das anfangliche Problem einer Selbstvergewisserung der Moderne nicht nur lost, sondern zu gut lost: die Frage nach dem genuinen SelbstVerstandnis der Moderne geht im ironischen Gelachter der Vernunft unter. Denn die Vernunft hat nun den Platz des Schicksals eingenommen und weiB, daB 49 Hegel (19 83), 51.
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alles Geschehen von,wesentlicher Bedeutung schon entschieden ist. So befriedigt Hegels Philo sophie das Bedurfnis der Moderne nach Selbstbegriindung nur urn den Preis einer Entwertung der Aktualitat und einer Entscharfung der Kritik. Am Ende nimmt die Philosophie ihrer Gegenwart das Gewicht, zerstort das Interesse an ihr und spricht ihr die Berufung zu selbstkritischer Erneuerung abo Die Probleme der Zeit verlieren den Rang von Provokationen, weil ihnen die Philosophie, die auf der Hohe der Zeit ist, ihre Bedeutung genommen hat. Hegel hatte 1802 das »Kritische Journal der Philosophie« mit einem Aufsatz »Uber das Wesen der philosophischen Kritik« eingeleitet. Er unterscheidet dort zwei Arten der Kritik. Die eine richtet sich gegen die falschen Positivitaten des Zeitalters; sie versteht sich als eine Maeutik des unterdruckten Lebens, das aus erstarrten Formen herausdrangt: »Wenn die Kritik das Werk und die Tat nicht als Gestalt der Idee kann gelten lassen, so wird sie doch das Streben nicht verkennen; das eigentlich wissenschaftliche (!) Interesse dabei ist, die Schale aufzureiben, die das innere Aufstreben noch hindert, den Tag zu sehen.«50 Darin erkennen wir unschwer die Kritik, die der junge Hegel an den positiven Machten der Religion und des Staates geubt hat. Eine andere Art der Kritik richtet Hegel gegen den subjektiven Idealismus von Kant und Fichte. Fur diesen gilt, »daB die Idee der Philosophie deutlicher erkannt worden ist, daB aber die Subjektivitat sich der Philosophie insoweit, als urn sich selbst zu retten notig wird, zu erwehren bestrebt ist. «51 Hier geht es also darum, einer beschrankten Subjektivitat, die sich gegen eine bessere, objektiv langst zugangliche Einsicht verschlieBt, auf die Schliche zu kommen. Der Hegel der »Rechtsphilosophie« halt Kritik nur noch in dieser zweiten Version fur berechtigt. Die Philosophie kann die Welt nicht dariiber, wie sie sein solI, belehren; in ihren Begriffen reflektiert sich allein die Wirklichkeit, wie sie ist. Kritisch richtet sie sich nicht mehr gegen die Wirklichkeit, sondern gegen die truben Abstraktionen, die sich zwischen das subjektive BewuBtsein und die objektiv gestaltete Vernunft schieben. Nachdem der Geist in der Moderne »einen Ruck getan« hat, 50 H. Bd.
2,
175.
51 Ebd.
nachdem er auch noch aus den Aporien der Moderne einen Ausweg gefunden, nicht nur in die Wirklichkeit eingetreten, sondern in ihr objektiv geworden ist, sieht Hegel die Philosophie von der Aufgabe entlastet, die faule Existenz des gesellschaftlichen und politischen Lebens mit ihrem Begriff zu konfrontieren. Dieser Entscharfung der Kritik entspricht die Entwertung der Aktualitat, von der sich die Diener der Philosophie abwenden. Die auf den Begriff gebrachte Moderne erlaubt den stoischen Ruckzug von ihr. Hegel ist nicht der erste Philosoph, der der modernen Zeit angehort, aber der erste, fur den die Moderne zum Problem geworden ist. In seiner Theorie wird die begriffliche Konstellation zwischen Moderne, ZeitbewuBtsein und Rationalitat zuerst sichtbar. Hegel selbst sprengt am Ende diese Konstellation, weil die zum absoluten Geist aufgeblahte Rationalitat die Bedingungen, unter denen die Moderne ein BewuBtsein ihrer selbst erlangt hat, neutralisiert. Damit hat Hegel das Problem der Selbstvergewisserung der Moderne nicht erledigt. Fur die Zeit nach Hegel ergibt sich daraus aber die Konsequenz, daB fur die Bearbeitung dieses Themas nur der uberhaupt eine Option gewinnt, der den Begriff der Vernunft bescheidener faBt. Die Junghegelianer halten mit ei~em ermaBigten Vernunftbegriff an Hegels Projekt fest und wollen, auf dem Wege einer anderen Dialektik der Aufklarung die mit sich selbst zerfallene Moderne zugleich begreifen und kritisieren. Sie bilden freilich nur eine von mehreren Parteien. Die beiden anderen Parteien, die urn das richtige Verstandnis der Moderne streiten, machen den Versuch, den internen Zusammenhang zwischen Modernitat, ZeitbewuBtsein und Rationalitat aufzulosen; gleichwohl konn~n sie sich dem begrifflichen Zwang dieser Konstellation nicht entziehen. Die an den Rechtshegelianismus anschlieBende Partei der Neukonservatiyen uberlaBt sich unkritisch der forttreibenden Dynamik der gesellschaftlichen Moderne, indem sie das moderne ZeitbewuBtsein trivialisiert und Vernunft auf Verstand, Rationalitat auf Zweckrationalitat zuruckschneidet. Neben der szientistisch verselbstandigten Wissenschaft verliert fur sie die kulturelle Moderne jede Verbindlichkeit. Die an Nietzsche anschlieBende Partei der Jungkonservatiyen uberbietet die dialektische Zeitkritik, indem sie das moderne 57
Zeitbew-uBtsein radikalisiert und die Vernunft als verabsolutierte Zweckrationalitat, als Form depersonalisierter Machtausiibung entlarvt. Dabei verdankt sie der asthetizistisch verselbstandigten Avantgardekunst jene uneingestandenen Normen, vor denen weder die kulturelle noch die gesellschaftliche Moderne bestehen kann.
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Exkurs zu Schillers Briefen iiber die asthetische Erziehung des Menschen
Die 1795 in den »Horen« veroffentlichten »Briefe«, an denen Schiller seit dem Sommer 1793 gearbeitet hatte, bilden die erste programmatische Schrift zu einer asthetischen Kritik der Moderne. Sie nimmt die Frankfurter Vision der Tiibinger Freunde insofern vorweg, als Schiller die Analyse der mit sich entzweiten Moderne in Begriffen der Kantischen Philosophie durchfiihrt und eine asthetische Utopie entwirft, die der Kunst eine geradezu sozial-revolutionare Rolle zuschreibt. Anstelle der Religion solI die Kunst als vereinigende Macht wirksam werden konnen, weil sie als eine in die intersubjektiven Beziehungen der Menschen eingreifende »Form der Mitteilung« verstanden wird. Schiller begreift die Kunst als eine kommunikative Vernunft, die sich im »asthetischen Staat« der Zukunft verwirklichen wird. Schiller legt sich im zweiten Brief die Frage vor, ob es nicht unzeitgemaB sei, die Schonheit der Freiheit vorangehen zu lassen, »da (doch) die Angelegenheiten der moralischen (Welt) ein so viel nahe- res Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstande so nachdriicklich aufgefordert wird, sich mit dem vo11kommensten a11er Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschaftigen«.52 Die Formulierung der Frage suggeriert schon die Antwort: die Kunst selbst ist das Medium der Bildung des Menschengeschlechts zur wahren politischen Freiheit. Nicht auf das Individuum bezieht sich dieser BildungsprozeB, sondern auf den ko11ektiven Lebenszusammenhang des Volkes: »Totalitat des Charakters muB bei dem Volke gefunden werden, welches fahig und wiirdig sein solI, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen.« (Bd. 5, S. 579) Wenn die Kunst die historische Aufgabe, die mit sich zerfallene Moderne zu versohnen, solI erfiillen konnen, darf sie nicht nur die Individuen ergreifen, sie muB vielmehr die Lebensformen, die die Individuen teilen, verwandeln. Schiller setzt deshalb auf die kommunikative, gemeinsamkeitsstiftende, solidarisierende Kraft, 52 F. Schiller, Samtliche Werke, Bd. 5, 57 1f.
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auf den offentlichen Charakter der Kunst. Seine Analyse der Gegenwart Hiuft darauf hinaus, daB sich in den modernen Lebensverhaltnissen die partikularen Krafte nur urn den Preis der Zerstuckelung der T otalitat haben ausdifferenzieren und entfalten konnen. Wiederum bietet die Konkurrenz der Neuen mit den Alten den Ansatzpunkt fur eine kritische Selbstvergewisserung der Moderne. Auch die griechische Poesie und Kunst »zerlegte zwar die menschliche Natur und warf sie in ihrem herrlichen Gotterkreis vergroBert auseinander, aber nicht dadurch, daB sie sie in StUcke riB, sondern dadurch, daB sie sie verschiedentlich mischte, denn die ganze Menschheit fehlte in keinem einzelnen Gott. Wie ganz anders bei uns Neuern! Auch bei uns ist das Bild der Gattung in den Individuen vergroBert auseinandergeworfen - aber in Bruchstucken, nicht in veranderten Mischungen, daB man von Individuum zu Individuum herumfragen muB, urn die T otalitat der Gattung zusammenzulesen.« (Bd. 5, S. 582) Schiller kritisiert die burgerliche Gesellschaft als »System des Egoismus«. Die Wahl seiner Worte erinnert an den jungen Marx. Die Mechanik eines kunstreichen Uhrwerkesdient als Modell sowohl fur den versachlichten WirtschaftsprozeB, der den GenuB von der Arbeit, das Mittel yom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung scheidet (Bd. 5, S. 584), wie auch fur den verselbstandigten Staatsapparat, der sich die Burger entfremdet, als Objekte der Verwaltung »klassifiziert« und »kaltsinnigen Gesetzen subsumiert« (Bd. 5, S. 585). In einem Atemzug mit der Kritik der entfremdeten Arbeit und der Burokratie wendet sich Schiller gegen eine intellektualisierte und uberspezialisierte Wissenschaft, die sich von den Problemen des Alltags entferne: »Indem der spekulative Geist im Ideenreich nach unverlierbaren Besitzungen strebte, muBte er ein Fremdling in der Sinnenwelt werden und uber der Form die Materie verlieren. Der Geschaftsgeist, in einen einformigen Kreis von Objekten eingeschlossen und in diesem noch mehr durch Formeln eingeengt, muBte das freie Ganze sich· aus den Augen geriickt sehen und zugleich mit seiner Sphare verarmen .... Der abstrakte Denker hat daher gar oft ein kaltes Herz, weil er die Eindriicke zergliedert, die doch nur als ein Ganzes die Seele riihren; der Geschaftsmann hat gar 60
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oft ein enges Herz, weil seine Einbildungskraft, in den einformigen Kreis seines Berufs eingeschlossen, sich zu fremder Vorstellungsart nicht erweitern kann.« (Bd. 5, S. 585f.) Freilich versteht Schiller diese Entfremdungserscheinungen nur als die unvermeidlichen Nebenfolgen von Fortschritten, die die Gattung auf andere Weise nicht hatte machen konnen. Schiller teilt das Vertrauen der kritischen Geschichtsphilosophie, er bedient sich der teleologischen Denkfigur sogar ohne die Vorbehalte der Transzendentalphilosophie: »Dadurch allein, daB in dem Menschen einzelne Krafte sich isolieren und eine ausschlieBende Gesetzgebung anmaBen, geraten sie in Widerstreit mit der Wahrheit der Dinge und notigen den Gemeinsinn, der sonst mit trager Genugsamkeit auf der auBern Erscheinung ruht, in die Tiefen der Objekte zu dringen.« (Bd. 5, S. 587) Wie der Geschaftsgeist in der Sphare der Gesellschaft, so verselbstandigt sich der spekulative Geist im Reich des Geistes. In der Gesellschaft und in der Philosophie bilden sich zwei kontrare Gesetzgebungen. Und diese abstrakte Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Verstand, von Stofftrieb und Formtrieb unterwirft die aufgeklarten Subjekte einem doppelten Zwang: dem physischen Zwang der Natur wie dem moralischen Zwang der Freiheit, die sich beide urn so fuhlbarer machen, je hemmungsloser die Subjekte die Natur, die auBere ebenso wie ihre eigene innere Natur, zu beherrschen suchen. So stehen sich am Ende der naturwiichsig dynamische und der vernunftig ethische Staat fremd gegenuber; beide konvergieren nur im Effekt der Unterdruckung des Gemeinsinns - denn »der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloB moglich machen, indem er die Natur durch Natur bezahmt; der ethische Staat kann sie bloB (moralisch) notwendig machen, indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft.« (Bd. 5, S. 667) Die Verwirklichung der Vernunft stellt sich Schiller deshalb als eine Resurrektion des zerstorten Gemeinsinns vor; sie kann weder aus Natur noch aus Freiheit alleine hervorgehen, sondern allein aus einem BildungsprozeB, der, urn den Widerstreit jener beiden Gesetzgebungen zu beenden, von dem physischen Charakter der einen die Zufalligkeit der auBereit Natur, und von dem moralischen Charakter der anderen die Freiheit des Willens abstreifen muB (Bd. 5, S. 576). Das Medium dieses Bildungsprozesses ist die 61
Kunst; denn sie erregt eine »mittlere Stimmung, in welcher das Gemut weder physisch noch moralisch genotigt und doch auf beide Art tatig ist.« (Bd. 5, S. 633) Wahrend die Moderne durch die Fortschritte der Vernunft selbst immer tiefer in den Widerstreit zwischen dem entfesselten System der Bedurfnisse und den abstrakten Grundsatzen der Moral verwickelt wird, kann die Kunst dieser entzweiten Totalitat »einen geselligen Charakter erteilen«, weil sie an beiden Gesetzgebungen teilhat: »Mitten in dem furchtbaren Reich der Krafte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der asthetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, frohlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhaltnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heiBt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.« (Bd. 5, S. 667) Schiller hat mit dieser asthetischen Utopie, die fur Hegel und Marx wie uberhaupt fur die hegelmarxistische Tradition bis zu Lukacs und Marcuse ein Punkt der Orientierung geblieben ist53 , die Kunst als die genuine Verkorperung einer kommunikativen Vernunft begriffen. GewiB, Kants »Kritik der Urteilskraft« hat auch den Einstieg in einen spekulativen Idealismus ermoglicht, der sich mit den Kantischen Differenzierungen zwischen Verstand und Sinnlichkeit, Freiheit und Notwendigkeit, Geist und Natur nicht zufrieden geben konnte, weil er in eben diesen Unterscheidungen den Ausdruck der Entzweiungen moderner Lebensverhaltnisse erblickte. Aber das vermittelnde Vermogen der reflektierenden U rteilskraft diente Schelling und Hegel als Briicke zu einer intellektuellen Anschauung, die sich der absoluten Identitat versichern wollte. Schiller war bescheidener. Er hat an der eingeschrankten Bedeutung der asthetischen U rteilskraft festgehalten, urn von dieser allerdings einen geschichtsphilosophischen Gebrauch zu machen. Dabei vermischte er stillschweigend den Kantischen mit dem traditionellen Begriff der Urteilskraft, der in der aristotelischen Tradition (bis hin zu Hannah Arend~4) die Verbindung zum politischen Konzept des Gemeinsinns niemals ganz verloren hatte. So konnte er die Kunst 53 H. Marcuse, Fortschritt im Lichte der Psychoanalyse, in: Freud in der Gegenwart, Frankfurter Beitrage zur Soziologie, Bd. 6, Ffm. 1957,438. 54 H. Arendt, Lectures on Kant, Chicago 1982, dt.: MiL 1985.
primar als eine Form der Mitteilung begreifen und ihr die Aufgabe zumuten, »Harmonie in die Gesellschaft« zu bringen: »Alle anderen Formen der Vorstellung trennen die Gesellschaft, weil sie sich ausschlieBend entweder auf die Privatempfanglichkeit oder auf die Privatfertigkeit der einzelnen Glieder, also auf das U nterscheidende zwischen Menschen und Menschen beziehen; nur die schone Mitteilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht.« (Bd. 5, S. 667) Die ideale Form der Intersubjektivitat bestimmt Schiller sodann auf der Folie von Vereinzelung und Vermassung, jener beiden entgegengesetzten Deformationen der Intersubjektivitat. Die Menschen, die sich troglodytisch in Hohlen verbergen, sind in ihrer privatistischen Lebensweise der Beziehungen zur Gesellschaft, als etwas Objektivem auBerhalb ihrer, beraubt; wahrend den Menschen, die nomadisch in groBen Massen herumziehen, in ihrer entauBerten Existenz die Moglichkeit fehlt, zu sich selbst zu finden. Die richtige Balance zwischen diesen gleichermaBen identitatbedrohenden Extremen der Entfremdung und der Verschmelzung trifft Schiller mit einem romantischen Bild: die asthetisch versohnte Gesellschaft muBte eine Kommunikationsstruktur ausbilden, »wo (jeder) in eigener Hutte still mit sich selbst und, sobald er heraustritt, mit dem ganzen Geschlechte spricht.« (Bd. 5, S. 655) Schillers asthetische Utopie zielt freilich nicht auf eine AsthetisierunK der Lebensverhaltnisse, sondern auf eine Revolutionierung der Verstan
Gleichwohl darf die Kunst den surrealistischen Imperativ nicht vollziehen, sie darf nicht entsublimiert ins Leben iibertreten: »Ein >Ende der Kunst< ist nur (in einem Zustand) vorstellbar, wenn die Menschen nicht mehr imstande sind, zwischen Wahr und Falsch, Gut und Bose, Schon und HaBlich zu unterscheiden. Das ware der Zustand vollkommener Barbarei auf dem Hohepunkt der Zivilisation.«55 Der spate Marcuse wiederholt Schillers Warnung vor einer unvermittelten Asthetisierung des Lebens: versohnende Kraft entfaltet der asthetische Schein nur als Schein - »solange (der Mensch) sich im Theoretischen gewissenhaft enthalt, Existenz davon auszu-. sagen, und solange er im Praktischen darauf Verzicht tut, Existenz dadurch zu erteilen.« (Bd. 50 S. 658) Hinter der Warnung verbirgt sich schon bei Schiller jene Idee einer Eigengesetzlichkeit der kulturellen Wertspharen von Wissenschaft, Moral und Kunst, die Emil Lask und Max Weber spater energisch herausarbeiten werden. Diese Spharen sind gleichsam »losgesprochen«, sie »erfreuen sich einer absoluten Immunitat von der Willkiir der Menschen. So kann auch der politische Gesetzgeber ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht.« (Bd. 5, S. 593) Wenn man ohne Riicksicht auf den kulturellen Eigensinn versuchen wiirde, die GefaBe des as thetis chen Scheins zu zerbrechen, miiBten die Gehalte zerflieBen - yom entsublimierten Sinn und von der entstrukturierten Form konnte eine befreiende Wirkung nicht ausgehen. Eine Asthetisierung der Lebenswelt ist fiir Schiller nur in dem Sinne legitim, daB die Kunst katalysatorisch wirkt, als eine Form der Mitteilung, als ein Medium, in dem sich die abgespaltenen Momente wieder zu einer ungezwungenen Totalitat verbinden. D~r gesellige Charakter des Schonen und des Geschmacks soll sich allein darin bewahren, daB die Kunst alles, was sich in der Moderne entzweit hat - das System der entfesselten Bediirfnisse, der biirokratisierte Staat, die Abstraktionen der Vernunftmoral und die Wissenschaft der Experten - »unter den offenen Himmel des Gemeinsinns heraus(fiihrt)«.
55 H. Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Ffrn. 1973, 140f.
III. Drei Perspektiven: Linkshegelianer, Rechtshegelianer und Nietzsche I
Hegel hat den Diskurs der Moderne eroffnet. Er hat das Thema eingefiihrt - die selbstkritische Vergewisserung der Moderne; und er hat die Regeln angegeben, nach denen das Thema variiert werden kann - die Dialektik der Aufklarung. Indem er die Zeitgeschichte zu philosophischem Rang erhoben hat, hat er zugleich das Ewige mit dem Transitorischen, das Zeitlose mit dem Aktuellen in Beriihrung gebracht und damit den Charakter der Philosophie auf unerhorte Weise verandert. Hegel wollte freilich alles andere als den Bruch mit der philosophischen Tradition; dieser kommt erst der ilachsten Generation zu BewuBtsein. Arnold Ruge schreibt 1841 in den »Deutschen Jahrbiichern« (S. 594): »Die Hegelsche Philosophie zeigt schon im ersten Stadium ihres geschichtlichen Fortgangs einen von dem Verlauf aller bisherigen Systeme wesentlich verschiedenen Charakter. Sie, die zuerst ausgesprochen, daB alle Philosophie nichts Anderes sei als der Gedanke ihrer Zeit, sie ist auch die erste, welche sich selbst als diesen Gedanken der Zeit anerkannt hat. Was die friiheren Philosophien unbewuBt und nur abstrakt waren, das ist sie bewuBt und konkret; daher von jenen wohl gesagt werden konnte, daB sie nur Gedanken waren und blieben; diese aber, die Hegelsche, sich als der Gedanke darstellt, der es nicht bleiben kann, sondern ... Tat werden muB ... In diesem Sinne ist die Hegelsche Philosophie die Philosophie der Revolution und die letzte aller Philosophien iiberhaupt.« Zu dem Diskurs der Moderne, den wir bis heute ohne Unterbrechung fiihren, gehort auch das BewuBtsein, daB die Philosophie am Ende ist, gleichviel ob das als pi:oduktive Herausforderung empfunden wird oder nur als Provokation. Marx will die Philosophie aufheben, urn sie zu verwirklichen. Moses Hess verOffentlicht zur gleichen Zeit ein Buch mit dem Titel »Die letzten Philosophen«. Bruno Bauer spricht von der »Katastrophe der Meta65
physik« und ist iiberzeugt, »daB die philosophische Literatur als fiir immer geschlossen und beendigt angesehen werden kann.« GewiB, Nietzsches und Heideggers Dberwindung der Metaphysik meint etwas anderes als Aufhebung der Metaphysik; Wittgensteins oder Adornos Abschied von der Philosophie etwas anderes als Verwirklichung der Philosophie. Und doch verweisen diese Einstellungen auf jenen Bruch mit der Tradition (Lowith), der eingetreten ist, als der Zeitgeist iiber die Philo sophie Macht gewonnen, als das moderne ZeitbewuBtsein die Form des philosophischen Denkens gesprengt hat. Kant hatte einst yom »Schulbegriff« der Philosophie, als dem System der Vernunfterkenntnisse, einen »Weltbegriff« der Philosophie abgehoben; den Weltbegriff hatte er auf das, was jedermann »notwendig interessiert«, bezogen. Erst Hegel hat einen zeitdiagnostisch aufgeladenen Weltbegriff der Philosophie mit deren Schulbegriff verschmolzen. Den veranderten Aggregatzustand der Philosophie mag man auch daran ablesen, wie sich nach Hegels Tod die Wege von Schul- und Weltphilosophie wiederum trennen. Die als Fach etablierte Schulphilosophie entwickelt sich neb en einer weltlaufigen philosophischen Schriftstellerei, deren Ort institutionellnicht mehr klar definiert werden kann. Die Schulphilosophie muB fortan mit abgehalfterten Privatdozenten, Schriftstellern und Privatiers wie Feuerbach, Ruge, Marx, Bauer und Kierkegaard konkurrieren - auch mit einem Nietzsche, der seine Basler Professur aufgibt. Innerhalb der U niversitat tritt sie die Aufgabe der theoretischen Selbstverstandigung der Moderne an die Staats- und Sozialwissenschaften, auch an die Ethnologie abo Dberdies belegen Namen wie Darwin und Freud, Stromungen wie Positivismus, Historismus und Pragmatismus, daB im 19. Jahrhundert Physik, Biologie, Psychologie und die Geschichtswissenschaften weltan.., schauliche Motive freisetzen, die erstmals ohne die Vermittlung der Philosophie auf das ZeitbewuBtsein einwirken. 1 Diese Situation andert sich erst in den zwanziger J ahren unseres J ahrhunderts. Heidegger bringt den Diskurs der Moderne wieder in eine genuin philosophische Denkbewegung ein - auch das signali1 V gl. die brillante Darstellung der weitgehend verdrangten Tradition der Schulphilosophie von H. Schnadelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933 Ffm. 19 83.
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siert ja der Titel »Sein und Zeit« . .Ahnliches gilt fiir die Hegelmarxisten, fiir Lukacs, Horkheimer UIId Adorno, die »Das Kapital« mit Hilfe von Max Weber in eine Theorie der Verdinglichung rUckiibers.etzen und die unterbrochene Verbindung zwischen Okonomie und Philosophie wiederherstellen. Kompetenzen der Zeitdiagnose gewinnt die Philosophie auch auf dem Wege einer Wissenschaftskritik zurUck, der yom spaten Husserl iiber Bachelard bis zu Foucault fiihrt. Allein, ist das noch dieselbe Philosophie, die hier, wie im Falle Hegels, ihre Differenzierung in den Schul- und den Weltbegriff der Philosophie iiberwindet? Gleichviel unter welchem Namen sie jetzt auftritt, ob als Fundamentalontologie, als Kritik, als; Negative Dialektik, Dekonstruktion oder Genealogie - diese Pseudonyme sind keineswegs Verkleidungen, hinter denen die T raditionsgestalt der Philosophie zum Vorschein kame; eher schon client der Faltenwurf der philosophischen Begriffe als die Bemantelung eines nur notdiirftig verhohlenen Endes der Philosophie. Wir verharren bis heute in der BewuBtseinslage, die die Junghegelianer, indem sie sich von Hegel und der Philosophie iiberhaupt distanzierten,herbeigefiihrt haben. Seit damals sind auch jene auftmmpfenden Gesten wechselseitiger Dberbietung in Umlauf, mit denen wir uns gerne iiber die Tatsache hinwegsetzen, daB wirZeitgenossen der Junghegelianer geblieben sind. Hegel hat den Diskurs der Moderne eroffnet; erst die Junghegelianer haben ihn dauerhaft etabliert. Sie namlich haben die Denkfigur einer aus dem Geist der Moderne schopfenden Kritik d-er Moderne von der Last des Hegelschen Vernunftbegriffes' befreit. Wir haben gesehen, wie Hegel mit semem elllphatischen B.egriff der Wirklichkeit als cler Einheit von We"sen und l;xistenz gerade das b.eiseitegeschoben hatte, woraIi der Moderrte doch alles gelegen sein muBte'- das Transitorische des bedeutungsschweren Augenblicks, ~derri sich die Problemeder jeweils andrangende~ Zukunft" zum :&Ooten verschlingen. Gerade die zeitgeschichtliche Aktualitat, aus dex;das Bediitfnis der Philosophie entspringen sollte, hatte der alte Hegel als das bloB Empirische, als die »zufallige«, »voriibergehende«, »bedeutungslose«, »vergangliche« und »verkiimmerte« Existenz einer »schlechten Unendlichkeit« aus der Konstruktion des wesentlichen oder verniinftigen Geschehens ausgeschieden. 67
Gegen dies en Begriff einer vernunftigen Wirklichkeit, der sich uber Faktizitat, Kontingenz und Aktualitat der hereinbrechenden Ereignisse und der sich anbahnenden Entwicklungen erhebt, klagen die Junghegelianer (in den Spuren der Spatphilosophie Schellings und des Spatidealismus eines Immanuel Hermann Fichte) das Gewicht der Existenz ein. Feuerbach pocht auf die sinnliche Existenz der inneren und der auBeren Natur: Empfindung und Leidenschaft bezeugen die Prasenz des eigenen Leibes und die Widerstandigkeit der materiellen Welt. Kierkegaard beharrt auf der geschichtlichen Existenz des Einzelnen: die Authentizitat seines Daseins bewahrt sich in der Konkretion und Unvertretbarkeit einer absolut innerlichen, unwiderruflichen Entscheidung von unendlichem Interesse. Marx schlieBlich besteht auf dem materiel/en Sein der okonomischen Grundlagen des Zusammenlebens: die produktive Tatigkeit und Kooperation der vergesellschafteten Individuen bilden das Medium des geschichdichen Selbsterzeugungsprozesses der Gattung. Feuerbach, Kierkegaard und Marx protescieren also gegen die falschen, bloB in Gedanken vollzogenen Vermittlungen zwischen subjektiver und objektiver Natur, zwischen subjektivem und objektivem Geist, zwischen objektivem Geist und absolutem Wissen. Sie insistieren auf der Entsublimierung eines Geistes, der die jeweils aktuellen, in der Gegenwart aufbrechenden Gegensatze in den Sog seiner absoluten Selbstbeziehung nur hereinzieht, urn sie zu entwirklichen, urn sie in den Modus der schattenhaften Transparenz einer erinnerten Vergangenheit zu versetzen - und ihnen allen Ernst zu nehmen. Gleichzeitig halten die Junghegelianer aber an der Grundfigur des Hegelschen Denkens fest. Sie entwenden der Hegelschen Enzyklopadie den nun disponibel gewordenen Reichtum an Strukturen, urn Hegels Differenzierungsgewinne fur ein radikal geschichtliches Denken fruchtbar zu machen. Dieses Denken verleiht dem Relativisten, d. h. dem geschichtlichen Augenblick, absolute Relevanz, ohne sich dem Relativismus einer alsbald historistisch erneuerten Skepsis auszuliefern. Karl Lowith, der die Formierung des neuen Diskurses mit HaBliebe beschrieben hai, meint, daB sich die J unghegelianer ans geschichtliche Denken unphilosophisch ausliefern: 2 K. Liiwith, Von Hegel zu Nietzsche, Smttg. 1941.
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»Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das ware so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den W ogen festhalten wollte.«3 Man muB diese Charakterisierung richtig lesen. GewiB wollten die Junghegelianer ihre zukunftsoffene Gegenwart dem Diktat der besserwisserischen Vernunft entziehen, sie wollten die Geschichte als eine Dimension zuruckgewinnen, die der Kritik einen Bewegungsspielraum eroffnet, urn der Krise zu antworten. Aber eine Orientierung im Handeln konnten sie sich davon nur versprechen, wenn sie die Zeitgeschichte nicht dem Historismus preisgaben, sondern der Moderne einen ausgezeichneten Bezug zur Rationalitat bewahrten. 4 Aus der Pramisse, daB den geschichdichen Ablaufen ubersubjektive 3. K. Liiwith, Einleimng zu: ders. (Hrsg.), Die Hegelsche Linke, Smttg. 1962, 38.
4' Far den Diskurs der Moderne bleibt der VernunJtbezug der Geschichte konstituif~.:c im Guten wie im Biisen. Wer sich an diesem Diskurs beteiligt, und daran hat sich bis heute nichts geandert, macht von den Ausdriicken,yernunft< oder >Rationalitat< einen bestimmten Gebrauch. Er gebraucht sie weder nach ontologischen Spielregeln zur Charakterisierung Gottes oder des Seienden im ganzen, noch nach empi,ristischen Spielregeln zur Kennzeichnung der Dispositionen erkenntnis- und handiU'rigsfahiger Subjekte. Die Vernunft gilt weder als etwas Fertiges, als eine objektive -T~l~blogie, die sich in Namr oder Geschichte manifestiert, noch als ein bloB subjek6vesVermiigen. Vielmehr geben die in historischen Entwicklungen aufgesuchten Strukmrmuster verschliisselte Hinweise auf die Pfade unabgeschlossener, abgebro¢l1ener, fehlgeleiteter Bildungsprozesse, die iiber das subjektive BewuBtsein des Eini~~ep hinausgreifen. Indem sich die Subjekte zur inneren und auBeren Natur ver'li:ilten, reproduziert sich durch sie hindurch der gesellschaftliche und kulturelle Ubenszusammenhang, in dem sie stehen. Die Reproduktion der Lebensformen und Lebenslaufe hinterlaBt im weichen Medium der Geschichte Abdriicke, die sich unter dem angestrengten Blick von Spurensuchern zu Zeichnungen oder Strukmren verdichten. Dieser spezifisch moderne Blick wird Yom Interesse an Selbstvergewisse~Ilg geleitet: aus den Konfigurationen und Strukmren, die er, stets von der Gefahr clef Tauschung und der Selbsttauschung irritiert, dennoch erhascht, liest er iibersubjekiive Bildungsprozesse heraus, in denen sich Prozesse des Lernens und Verlernens v~rschlingen. So stellt-der Diskurs der Moderne gerade die Sphare des Nicht-Seien'denund des Veranderlichen unter Bestimmungen von Einsicht und Irrtum: er tragt ,y,:~n;lUnft in einen Bereich, der der griechischen Ontologie ebenso wie der neuzeitli5ht;n~ubjektphilosophie als schlechthin sinnlos und nicht theoriefahig gegolten ~~~e:Dieses riskante Unternehmen ist unter Entlehnung falscher theoretischer 'M!Jdelle 'zunachst in den Dogmatismus der Geschichtsphilosophie abgeglitten und h:1l'!; die Abwehr des Historismus auf den Plan gerufen. Aber die, die den Diskurs -~thaft fiihren, wissen, daB sie zwischen Scylla und Charybdis hindurch miissen.
und ineinander verzahnte Prozesse des Lernens und Verlernens eingeflochten sind, erklaren sich auch die anderen M erkmale des Diskurses: neben dem radikal geschichtlichen Denken die Kritik der subjektzentrierten Vernunft, die exponierte Stellung der Intellektuellen und die Verantwortung fiir geschichtliche Kontinuitat oder Diskontinuitat.
II Die Parteien, die seit den Tagen der Junghegelianer urn das richtige Selbstverstandnis der Moderne wetteifern, stimmen in einem Punkt iiberein: daB mit den Lernprozessen, die das 18. Jahrhundert auf den Begriff der Aufklarung gebracht hat, eine tiefgreifende Selbstillusionierung verkniipft ist. Ubereinstimmung besteht auch dar~ iiber, daB die autoritaren Ziige einer bornierten Aufklarung im Prinzip des SelbstbewuBtseins oder der Subjektivitat angelegt sind. Das sich auf sich beziehende Subjekt erkauft namlich SelbstbewuBtsein nur urn den Preis der Objektivierung der auBeren wie der eigenen inneren Natur. Weil sich das Subjekt im Erkennen und Handeln, nach auBen wie nach innen, stets auf Objekte beziehen muB, macht es sich noch in den Akten, die Selbsterkenntnis und Autonomie sichern sollen, zugleich undurchsichtig und abhangig. Diese in die Struktur der Selbstbeziehung eingebaute Schranke bleibt im ProzeB der BewuBtwerdung unbewuBt. Daraus entspringt die Tendenz zur Selbstverherrlichung und zur Illusionierung, d. h. zur Verabsolutierung der jeweiligen Stufe der Reflexion und der Emanzipation. 1m Diskurs der Moderne erheben die Anklager einen Vorwurf, der sich in der Substanz von Hegel und Marx bis Nietzsche und Heidegger, von Bataille und Lacan bis Foucault und Derrida nicht verandert hat. Die Anklage ist gegen eine im Prinzipder Subjektivitat griindende Vernunft gerichtet; und sie lautet dahin, daB diese Vernunft alle unkaschierten Formen der Unterdriickung und Ausbeutung, der Entwiirdigung und Entfremdung nur denunziert und unterminiert, urn an deren Stelle die unangreifbarere Herrschaft der Rationalitat selber einzusetzen. Weil dieses Regime einer zum fal70
schen Absoluten aufgespreizten Subjektivitat die Mittel der BewuBtmachung und Emanzipation in ebensoviele Instrumente der Vergegenstandlichung und Kontrolle verwandelt, verschafft es sich in den Formen gut kaschierter Herrschaft eine unheimliche Immunitat. Das Opake des stahlernen Gehauses einer positiv gewordenen Vernunft verschwindet wie im gleiBenden Schein eines vollkommen transparenten Glaspalastes. Alle Parteien sind sich einig: diese glaserne Fassade soll zersplittern. Allerdings unterscheiden sie sich in den Strategien, die sie wahlen, urn den Positivismus der Vernunft zu iiberwinden. Die ins Praktische gewendete, zur Revolution entfachte Kritik der Linkshegelianer will das geschichtlich akkumulierte, der Entbindung harrende Potential der Vernunft gegen deren Verstiimmelung, gegen die einseitige Rationalisierung der biirgerliche~ Welt mobilmachen. Die Rechtshegelianer folgen Hegel in der Uberzeugung, daB die Substanz des Staates und der Religion die Unruhe der biirgetlichen Gesellschaft kompensieren wird, sobald nur die Subjektivitat des Unruhe stiftenden revolutionaren BewuBtseins der objektiven Einsicht in die Verniinftigkeit des Bestehenden weicht. Die absolut gesetzte Verstandesrationalitat driickt sich nun in der Schwarmerei der sozialistischen Ideen aus; gegen diese falschen Kritiker muB sich nur die metakritische Einsicht der Philosophen durchsetzen. Nietzsche schlieBlich will die Dramaturgie des ganzen Stiickes entlarven, in dem beide, die revolutionare Hoffnung und die Reaktion darauf, ihren Auftritt haben. Er zieht der Kritik der auf Zweckrationalitat geschrumpften, im Subjekt zentrierten Vernunft ihren dialektischen Stachel und verhalt sich zur Vernunft im ganzen so wie die Junghegelianer zu deren Sublimierungen: die Vernunft ist nichts anderes als Macht, als der pervertierte Wille zur Macht, den sie so blend end kaschiert. Dieselben Fronten bilden sich im Hinblick auf die Rolle der Intellektuellen, die dem Vernunftbezug der Moderne ihre exponierte Stellung verdanken. Als Detektive auf den Spuren der Vernunft in der Geschichte suchen die Philosophen der Moderne den blinden Fleck, wo sich UnbewuBtes ins BewuBtsein einnistet, Vergessen in die Erinnerung einschleicht, wo sich der Riickfallals Fortschritt drapiert und das Verlernen als LernprozeB. Wiederum einig im 7I
~' I I
Ziel, die Aufklarung uber ihre Bornierungen aufzuklaren, unterscheiden sich die drei Parteien in der Bewertung des sen, was die Intellektuellen tatsachlich tun. Die kritischen Kritiker sehen sich in der Rolle einer Avantgarde, die ins unbekannte Terrain der Zukunft vorstofh und den ProzeB der Aufklarung weitertreibt. Mal tritt sie als Vorreiter des asthetischen Modernismus auf, mal als politische Fuhrung, die auf das BewuBtsein der Massen einwirkt, oder in der Gestalt verstreuter Individuen, die ihre Botschaft als Flaschenpost zurucklassen (in diesem BewuBtsein haben beispielsweiseHorkheimer und Adorno ihre »Dialektik der Aufklarung« am Ende des Krieges einem kleinen Emigrantenverlag anvertraut). Demgegenuber sehen die M etakritiker jeweils in den Anderen die Intellektuellen, von denen die Gefahr einer Neuen Priesterherrschaft ausgeht. Die Intellektuellen untergraben die Autoritat der starken Institutionen und der einfachen T raditionen; damit storen sie das Kompensationsgeschaft, das eine beunruhigte Moderne mit sich selber, die rationalisierte Gesellschaft mit den haltenden Machten des Staates und der Religion abwickeln muB. Die Theorie der Neuen Klasse, die die Neukonservativen heute gegen die subversiven Anwalte einer angeblich feindseligen Kultur aufbieten, verdankt sich eher der Logik unseres Diskurses als den zum Beleg herangezogenen Tatsachen einer Umschichtung im postindustriellen Beschaftigungssystem. Nicht weniger vehement kritisieren schlieBlich diejenigen, die sich in die Tradition der von Nietzsche geubten Vernunftkritik stellen, den Verrat der Intellektuellen; auch sie denunzieren die Verbrechen, die die Avantgarden mit gutem geschichtsphilosophischem Gewissen im Namen der allgemeinen Menschenvernunft begangen haben sollen. Freilich fehlt dies mal das projektive Element des Selbsthasses von Intellektuellen. (So beispielsweise verstehe ich die einschlagigen Bemerkungen Foucaults nicht als Denunziation von Gegnern, sondern als selbstkritisches Dementi uberzogener Anspruche.)5 Noch ein drittes Merkmal kennzeichnet den Diskurs der Moderne. Weil die Geschichte als KrisenprozeB, die Gegenwart als Aufblitzen kritischer Verzweigungen, die Zukunft als das Andrangen
ungeloster Probleme erfahren wird, entsteht ein existentiell gescharftes BewuBtsein fur die Gefahr versaumter Entscheidungen und unterlassener Eingriffe. Es entsteht eine Perspektive, aus der sich die Zeitgenossen fur den aktuellen Zustand als die Vergangenheit einer kunftigen Gegenwart zur Rechenschaft gezogen sehen. Esentsteht die Suggestion einer Verantwortlichkeit fur den AnschluB einer Situation an die nachste, fur die Fortsetzung eines Pro.zesses, der seine N aturwiichsigkeit abgestreift hat und sich weigert, das Versprechen einer selbstverstandlichen Kontinuitat zu geben. Von dieser nervosen Spannung sind keineswegs nur jene Philosophen der Tat ergriffen, fur die schon Moses Hess den Namen der »Bewegungspartei« in Anspruch genommen hatte. Dasselbe Fieber erfaBt die »Beharrungspartei«, die auf Enthaltsamkeit drangt, also die Partei derer, die angesichts einer selbstlaufig gewordenen Modernisierung die Beweislast fur jeden geplanten Eingriff den Revo'lutionaren und Bewegern, den Reformern und Veranderern zuschieben. 6 Unter dies en variieren freilich die Einstellungen zur geschichtlichen Kontinuitat uber ein breites Spektrum. Von Kautsky und den Protagonisten der Zweiten Internationale, die in der Entfaltung der Produktivkrafte einen Garanten fur den evolutionaren Dbergang von der burgerlichen Gesellschaft zum Sozialismus sahen, erstreckt es sich bis zu Karl Korsch, Walter Benjamin und den Ultralinken, die sich die Revolution nur als einen Sprung aus der ewig sich wiederholenden Barbarei der Vorgeschichte, als ein Aufsprengen des Kontinuums aller Geschichte vorstellen konnten. Diese Einstellung wiederum ist yom surrealistischen ZeitbewuBtsein inspiriert und beriihrt sich mit dem Anarchismus derer, die in cler Nachfolge Nietzsches gegen den universalen Macht- und Verblendungszusammenhang die ekstatische Souveranitat oder das vergessene Sein, die Reflexe des Leibes oder die lokalen Widerstande und unwillkurlichen Revolten der geschundenen subjektiyen Natur beschworen. Kurzum, die Junghegelianer haben von Hegel das Problem der geschichtlichen Selbstvergewisserung der Moderne ubernommen; sie haben mit der Kritik einer bodenlos subjektzentrierten Vernunft,
5 M. Foucault, Die Intellektuellen und die Macht, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Mii. 1974, 128 ff.
-6··Zur Verteidigung derkonservativen Beweislastenverteilung vgl. H. Liibbe, Fortschritt als Orientierungsproblem, Freiburg 1975.
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mit dem Streit urn die exponierte Stellung der Intellektuellen und urn die Verantwortung fur das richtige MaB zwischen Revolution und geschichtlicher Kontinuitat die Tagesordnung festgelegt. Und sie haben mit ihrer Parteinahme fur das Praktischwerden der Philosophie zwei Gegner herausgefordert, die sich an Themen und Spielregeln halten. Diese Opponenten springen nicht aus dem Diskurs heraus, urn auf die Autoritat vorbildlicher Vergangenheiten auszuweichen. Der altkonservative Ruckgriff auf religiose oder metaphysische Wahrheiten zahlt nicht mehr im philosophischen Diskurs der Moderne - Alteuropaisches ist entwertet. Der Partei der Bewegung antwortet eine Partei der Beharrung, die nichts als die Dynamik der burgerlichen Gesellschaft erhalten will. Sie verwandelt die Tendenz zur Bewahrung in die neukonservative Zustimmung zu einer Mobilisierung, die ohnehin geschieht. Mit Nietzsche und der Neuromantik tritt den beiden Kontrahenten ein dritter Diskursteilnehmer entgegen. Er will den Radikalen wie den Neukonservativen den Bodenentziehen; er streicht aus der Kritik der Vernunft den genitivus subjectivus, indem er dieses Geschaft der Vernunft, an der jene noch festhalten, aus der Hand nimmt. So will einer den anderen uberbieten. Es liegt nun nahe, daB wir uns von diesem Diskurs insgesamt distanzieren, diese Inszenierung des 19. Jahrhunderts fur obsolet erklaren. An solchen Versuchen, das Spiel der wechselseitigen Dberbietung unsererseits zu uberbieten, fehlt es nicht. Sie sind an einem Pdfix, an den mit »post« gebildeten Neologismen, leicht zu erkennen. Schon aus methodischen Grunden glaube ich jedoch nicht daran, daB wir den okzidentalen Rationalismusunter dem starren Blick einer fiktiven Ethnologie der Gegenwart zum Gegenstand neutraler Betrachtung verfremden und aus dem Diskurs der Moderne einfach aussteigen konnen. Ich werde deshalb einen trivialeren Weg einschlagen und die gewohnliche Perspektive eines Teilnehmers einnehmen, der sich des Argumentationsverlaufs in groben Zugen erinnert, urn bei jeder der drei Positionen die ihnen innewohnenden Schwierigkeiten herauszufinden. Das wird uns aus dem Diskurs der Moderne nicht herausfuhren, aber des sen Thema vielleicht etwas besser verstehen lassen. Zu dies em Zweck muB ich freilich rigorose Vereinfachungen in Kauf nehmen. Ausgehend von 74
der Marxschen Hegelkritik will ich verfolgen, wie die Umformung des Reflexionsbegriffs in den Produktionsbegriff, wie die Substitution von »SelbstbewuBtsein« durch »Arbeit« auf der Linie des westlichen Marxismus in einer Aporie endet. Die Metakritik der Rechtshegelianer beharrt mit guten Grunden darauf, daB der in modernen Gesellschaften erreichte Grad der Systemdifferenzierung nicht schlicht ruckgangig gemacht werden kann. Aus dieser Tradition geht ein Neukonservatismus hervor, der freilich seinerseits in Begrundungsschwierigkeiten gerat, wenn er erklaren solI, wie die Kosten und Instabilitaten eines selbstlaufigen Modernisierungsprozesses aufgewogen und ausgeglichen werden konnen.
III Die praxisphilosophische Fortsetzung des H egelschen Projektes
Ausvielen literarischen Zeugnissen wissen wir, wie die ersten Eisenbahnen die Raum- und Zeiterfahrung der Zeitgenossen revolutioniert haben. Die Eisenbahn hat das moderne ZeitbewuBtsein ;riicht geschaffen; aber im Laufe des 19. Jahrhunderts wird sie buchstablich zum Vehikel, mit dem das moderne ZeitbewuBtsein die Massen ergreift - die Lokomotive wird zum volkstumlichen SymhoI einer schwindelerregenden, als Fortschritt gedeuteten Mobilisierung aller Lebensverhaltnisse. Es sind nicht mehr nur die intellektuellen Eliten, die die zeitliche Entgrenzung der traditionsfesten Lebenswelterfahren; schon Marx kann im Kommunistischen Manifest an eine alltagliche Erfahrung. appellieren, wenn er »die :ununterbrochene Erschutterung aller gesellschaftlichen Zustande, die ewige Unsicherheit und Bewegung« auf die »Umwalzung der Produktions- und Verkehrsweise« zuruckfuhrt: »Alle festen eingetosteten Verhaltnisse mit ihrem Gefolge von altehrwurdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelost, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknochern konnen. Alles Standische und Ste.hende verdampft, alles Heilige· wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen 75
Beziehungen mit niichternen Augen zu sehen.«7 Diese Formulierung enthalt drei wichtige Implikationen. a) Der Richtungssinn derGeschichte lafh sich vor aller philosophischen Erorterung gleichsam empirisch, am Bewegungsmodus der geschichtlichen Ablaufe ablesen: dort, wo die Mobilisierung und Umwiilzung der Lebensverhiiltnisse ihre grofhe Beschleunigung erfahren, ist die Modernisierung am weitesten fortgeschritten. DaB die moderne Welt ihr Gravitationszentrum im Westen, in Frankreich und vor allem in England hat, ist mithin fiir Marx, der sich an dieses Akzellerationskriterium halt, eine historische T atsache. Er hat eine klare Vorstellung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Er meint, daB die deutschen Zustande von 1843 nach franzosischer Zeitreqhnung nicht einmal das Jahr 1789 erreichen. Die deutschen Zust~nde stehen »unter dem Niveau der Geschichte«, die politische Gegenwart findet sich schon »als bestaubte T atsache in der historischen Rumpelkammer der modernen Volker«.8 b) W enn aber die moderne Gesellschaft eine Dynamik entwickelt, in der alles Standische und Stehende ohnehin, d. h. ohne den selbstbewuBten Eingriff handelnder Subjekte verdampft, verandert sich auch der Charakter des Naturwiichsigen oder des »Positiven«. Z war hat sich die Perspektive des jungen Hegel fiir den jungen Marx keineswegs geandert: der Bann, den die Vergangenheit iiber die Gegenwart verhangt, muB gebrochen werden - erst in der kommunistischen Zukunft wird die Gegenwart iiber die Vergangenheit regieren. 9 Aber das Positive tritt nun nicht mehr in Gestalt des Erstarrten und Beharrenden auf; vielmehr bedarf es einer theoretischen Anstrengung, urn in der Permanenz der Veranderungen .die Positivitat des Wiederholungszwanges zu entdecken. Eine bewufltlos volIzogene Revolutionierung der Lebensverhaltnisse ist der Schein, der Tendenzen der wahrhaft revolutionaren Bewegung verhiilIt. Allein das, was man seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts eine soziale Bewegung nennt, kann die Menschen yom Fluch einer von auBen oktroyierten Beweglichkeit befreien. Marx will deshalb »den mehr oder minder versteckten Biirgerkrieg in~erhalb der 7 K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. 4, Bin. 1959,465, im folgenden zitiert als M/E. 8 M/E., Bd. I, 379. 9 M/E., Bd. 4, 476.
bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt (verfolgen), wo er in eine offene Revolution ausbricht«.10 Er postuliert eine soziale Bewegung, lange bevor diese in der europaischen Arbeiterbewegung eine historisch faBliche Gestalt annimmt. e} Nun steht hinter beidem, hinter der erzwungenen Mobilitat der auBeren Lebensumstande wie hinter der emanzipatorischen Wucht sozialer Bewegungen, die sinnfallige Entfesselung der Produktivkrafte - »die rasche Verbesserung der Produktionsinstrumente, die unendlich erleichterte Kommunikation«. Das erklart den erniichternden Charakter des beschleunigten Geschichtsprozesses - die Entweihung des H eiligen. Weil die doppelbodige Akzelleration der Geschichte letztlich auf den - im Kommunistischen Manifest geradezu hymnisch gefeierten - »Fortschritt der Industrie« zuriickgeht, nimmt die Sphare der biirgerlichen Gesellschaft den Platz ein, den cler Hegel der theologischen und politischen Jugendschriften dem »Leben des Volkes« vorbehalten hatte. In den Augen des jungen Hegel hatten sich ja religiose Orthodoxie und Aufklarung ebenso wie die politischen Institutionen des zerfallenden Deutschen Reiches gegeniiber dem Leben des Volkes verselbstandigt; fiir Marx bildet nun die Gesellschaft, »die moderne politisch-soziale Wirklichkeit« den Boden, von dem sich das religiose Leben, die Philosophie und der biirgerliche Staat als Abstraktionen abgelost haben. Di~ von Feuerbach, D. F. Strauss und B. Bauer inzwischen durchgefiihrte Kritik der Religion gilt als Vorbild fiir die Kritik des biirgerlichen Staates. . Ft:eilich wird der Positivismus des sich selbst entfremdeten Lebens inzwischen noch von einer Vereinigungsphilosophie besiegelt, die mit einer in Gedanken konstruierten Aufhebung der biirgerlichen Gesellschaft im Staat suggeriert, daB die Versohnung bereits volIzogensei. Deshalb nimmt sich Marx die Hegelsche Rechtsphilosophie vQr, urn zu zeigen, wie eine Aufhebung der biirgerlichen GeselIschaft aussehen miiBte, wenn sie Hegels eigener Idee der sittlichen Totalitat gerecht wiirdeY Die heute nicht mehr iiberraschende .1. ,~
fOM/E., Bd. 4, 473· il.Diesen Weg begriindet er iibrigens mit dem Theorem der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: »Die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen modemen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte ... Wir sind
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Pointe der Marxschen Kritik besteht bekanntlich darin, daB der Staat (der in den parlarnentarischen Systemen des Westens und nicht im monarchischen PreuBen seine wahre Ausbildung erreicht) die antagonistische Gesellschaft keineswegs in eine Sphare lebendiger Sittlichkeit einbettet; der Staat erfiillt bloB die funktionalen Imperative dieser Gesellschaft und ist selber ein Ausdruck ihrer ~er rissenen Sittlichkeit. 12 Aus dieser Kritik ergibt sich die Perspektive auf eine Art der Selbstorganisation der Gesellschaft, die die Spaltung in den offentlichen und den privaten Menschen aufhebt und die Fiktion der staatsbiirgerlichen Souveriinitat ebenso zerstort wie die entfremdete Existenz des »unter die Herrschaft unmenschlicher Verhaltnisse« subsumierten Menschen: »Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbiirger in sich zuriicknimmt ... , wenn er seine forces propres als gesellschaftliche Krafte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr als politische von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.«13 Diese Perspektive bestimmt fortan die praxisphilosophiphilosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein.« (M/E., Bd. I, 383.) 12 Der junge Marx interpretiert das Verhaltnis von Staat mid Gesellschaft noch handlungstheoretisch aus der Sicht der komplementaren Rollen von ,citoyen< und ,bourgeois<, vonStaatsbiirger und privater Rechtsperson. Der scheinbar souverane Biirger fiihrt ein Doppelleben - »einhimmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und ein Leben in der biirgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tatig ist, die anderen Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwiirdigt und zum Spielball fremder Machte wird«. (M/E Bd. I, 355.) Dabei verdeckt der Idealismus des biirgerlichen Staates nur die Vollendung des Materialismus der biirgerlichen Gesellschaft, nanilich die Verwirklichung ihres egoistischen Gehaltes. Der Sinn der biirgerlichen Revolution ist ein doppelter: sie emanzipiert die biirgerliche Gesellschaft von der Politik, auch noch Yom Schein eines allgemeinen Inhalts; zugleich instrumentalisiert sie das in idealer Unabhangigkeit konstituierte Gemeinwesen fiir »die Welt (fer Bediirfnisse,der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts«, worin der Staat seine Naturbasis findet. Aus dem sozialen Gehalt der Menschenrechte liest Marx heraus, daB »die Sphare, in welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhalt, unter die Sphare, in welcher er sich als Teilwesen verhalt, degradiert, daB nicht der Mensch als citoyen, sondern der Mensch als bourgeois fiir den eigentlichen und wahren Menschen genommen wird«. (M/E Bd. I, 366.) 13 M/E., Bd. I, 370.
sche Deutung der Moderne. 14 Die Praxisphilosophie laBt sich von der Intuition leiten, daB es auch unter den funktionalen Beschriinkungen hochkomplexer Gesellschaftssysteme aussichtsreich bleibt, die Idee der sittlichen Totalitat zu verwirklichen. Daher setzt sich Marx besonders hartnackig mit § 308 der Rechtsphilosophie auseinander, wo Hegel gegen die Vorstellung polemisiert, »daB alle einzeln an der Beratung und BeschlieBung iiber die allgemeinen Angelegenheiten Anteil haben sollten.« Gleichwohl scheitert Marx an der selbst gestellten Aufgabe, die Struktur einer Willensbildung zu explizieren, die dem »Streben der biirgerlichen Gesellschaft, sich in die politische Gesellschaft zu verwandeln oder die politische Gesellschaft zur wirklichen Gesellschaft zu machen«lS, gerecht wird. Die Parallelen zwischen Marx und Hegel sind verbliiffend. Beide halten sich in ihrer Jugend die Option offen, die ungezwungene Willensbildung in einer unter Kooperationszwangen stehenden Kommunikationsgemeinschaft als Modell fiir die Versohnung der entzweiten biirgerlichen Gesellschaft zu beniitzen; aber beide verzichten spater, und zwar aus ahnlichen Grunden darauf, diese Option zu nutzen.Marx erliegt namlich wie Hegel den grundbegrifflichen Zwangen der Subjektphilosophie. Zunachst distanziert er sich in Hegelscher Manier von der Ohnmacht des Sollens eines bloB utopischen Sozialismus. Wie Hegel stiitzt er sich dabei auf die Schubkraft einer Dialektik der Aufklarung: aus demselben Prinzip, aus dem die Errungenschaften und die Widerspriiche der modernen Gesellschaft hervorgegangen sind, solI auch die transformierende Bewegung, die Freisetzung der verniinftigen Potentiale dieser Gesellschaft erklart werden. Allerdings ~ringtMarx die Modernisierung der Gesellschaft mit einer immer effektiveren Ausschopfung natiirlicher Ressourcen und dem immer 14 Mit ,Praxisphilosophie< meine ich nicht nur die verschiedenen auf Gramsci und Lukacs zutiickgehenden Versionen des westlichen Marxismus (wie die Kritische Theorie und die Budapester Schule; den Existentialismus von Sartre, Merleau-Ponty und Castoriadis; die Phanomenologie von E. Paci und der jugoslawischen Praxisphilosophen), sondern auch die radikaldemokratischen Spielarten des amerikanischen Pragmatismus (G. H. Mead and Dewey) und der analytischen Philosophie (Ch. Taylor). Vgl. den instruktiven Vergleich von R. J. Bernstein, Praxis und Action, Philadelphia 1971. 15 M/E., Bd. I, 324.
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intensiveren Ausbau eines globalen Verkehrs- und Kommunikationsnetzes zusammen. Diese Entfesselung der Produktivkrafte muB auf ein Prinzip der Moderne zuriickgefiihrt werden, das eher in der Praxis des herstellenden als in der Reflexion eines erkennenden Subjektes begriindet ist. Zu dies em Zweck braucht Marx innerhalb des Modells der neuzeitlichen Philosophie nur die Akzente zu verschieben. Dieses zeichnet ja zwei gleichurspriingliche Subjekt-Objekt-Beziehungen aus; wie sich das erkennende Subjekt wahrheitsfahige Meinungen iiber etwas in der objektiven Welt bildet, so fiihrt das handelnde Subjekt am Erfolg kontrollierte Zwecktatigkeiten aus, urn in der objektiven Welt etwas hervorzubringen. Zwischen Erkennen und Handeln vermittelt sodann das Konzept des Bildungsprozesses; iiber das Medium von Erkennen und Handeln treten Subjekt und Objekt in immer neue Konstellationen, von denen diese selbst in ihrer Gestalt affiziert und verandert werden. Die Reflexionsphilosophie, die die Erkenntnis privilegiert, begreift den BildungsprozeB des Geistes (nach dem Modell derSelbstbeziehung) als BewuBtwerdung; die Praxisphilosophie, die die Beziehung zwischen dem handelnden Subjekt und der Welt manip\llierbarer Gegenstande privilegiert, begreift den BildungsprozeB der Gattung (nach dem Modell der SelbstentauBerung) als Selbsterzeugung. Ihr gilt nicht Selbstbewufitsein, sondern Arbeit als das Prinzip der Moderne. Aus diesem Prinzip lassen sich nun die technisch-wissenschaftlichen Produktivkrafte ohne weiteres ableiten. Marx darf das Prinzip der Arbeit freilich nicht zu eng fassen, wenn er im Begriff der Praxis auch den verniinftigen Gehalt der biirgerlichen Kultur und damit die MaBstabe unterbringen will, anhand deren sich der Riickschritt im Fortschritt identifizieren laBt. Der junge Marx assimiliert deshalb Arbeit an die schopferische Produktion des Kiinstlers, der in seinen Werken eigene Wesenskrafte aus sich heraussetzt und in der versunkenen Anschauung das Produkt auch wieder aneignet. Herder und Humboldt hatten das Ideal des sich allseitig verwirklichenden Individuums entworfen; Schiller und die Romantiker, Schelling und Hegel hatten diese expressivistische Bildungsidee dann in einer Produktionsasthetik begriindet. 16 Indem nun Marx diese 16 Vgl. Ch. Taylor, Hegel, Cambro I975, Ch. I, 3ff.
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asthetische Produktivitat auf »das werktatige Gattungsleben« iibertragt, kann er die gesellschaftliche Arbeit als kollektive Selbstverwirklichungder Produzenten begreifen. 17 Erst die Angleichung der industriellen Arbeit an ein normativ gehaltvolles Modell erlaubt ihm die entscheidende Differenzierung zwischen einer Vergegenstandlichung der Wesenskrafte und ihrer Entfremdung, zwischen einer befriedigt in sich zuriickkehrenden und einer ins Stocken geratenen, zerstiickelten Praxis. In der entfremdeten Arbeit ist der Kreislauf von EntauBerung und Aneignung der vergegenstandlichten Wesenskrafte unterbrochen. Der Produzent wird yom GenuB seiner Produkte, in denen er sich selbst wiederfinden konnte, abgeschnitten und damit auch von sich selbst entfremdet. 1m exemplarischen Fall der Lohnarbeit unterbricht die private Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums den normalen Kreislauf der Praxis. Das Lohnarbeitsverhaltnis verwandelt die konkrete Arbeitshandlung in eine abstrakte Arbeitsleistung, d. h. in einen funktionalen Beitrag zum ProzeB der Selbstverwertung des Kapitals, welcher die tote, den Produzenten entzogene Arbeit gleichsam beschlagnahmt. Der asymmetrische Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn ist der Mechanismus, der erklaren solI, warum sich die Sphare der den Lohnarbeitern entfremdeten Wesenskrafte systematisch verselbstandigt. Mit dieser werttheoretischen Annahme wird der asthetisch-expressive Gehalt des Praxisbegriffs urn ein moralisches Element erweitert. Denn nun weicht die entfremdete Arbeit nicht mehr nur yom produktionsasthetisch gefaBten Modell einer befriedigt in sich zuriicklaufenden Praxis ab, sondern auch yom naturrechtlichen Modell des Tausches von Aquivalenten. SchlieBlich solI aber der Praxisbegriff auch noch die »kritisch-revolutionare Tatigkeit« umfassen, also das selbstbewuBte politische Handeln, mit dem die assoziierten Arbeiter den kapitalistischen Bann der toten iiber die lebendige Arbeit brechen und sich ihre fetischistisch entfremdeten Wesenskrafte aneignen. Wenn namlich die 17 Vgl. meine Kritik an den Grundlagen der Praxisphilosophie in: J. Habermas, Vorstudien und Erganzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm. I984, 482 ff. .
zerrissene sittliche Totalitat als entfremdete Arbeit gedacht wird und wenn diese ihre Entzweiung aus sich heraus iiberwinden soll, dann muB auch die emanzipatorische Praxis aus der Arbeit selbst hervorgehen konnen. An dieser Stelle verwickelt sich Marx in ahnliche grundbegriffliche Schwierigkeiten wie Hegel. Die Praxisphilosophie bietet namlich nicht die Mittel, urn die tote Arbeit als mediatisierte und gelahmte Intersubjektivitat zu denken. Sie bleibt eine Variante der Subjektphilosophie, die die Vernunft zwar nicht in der Reflexion des erkennenden, aber doch in der Zweckrationalitat des handelnden Subjekts ansiedelt. In den Beziehungen zwischen einem Aktor und einer Welt wahrnehmbarer und manipulierbarer Gegenstande kann sich allein eine kognitiv-instrumentelle Rationalitat zur Geltung bringen; und in dieser Zweckrationalitat geht die vereinigende Macht der Vernunft, die jetzt als emanzipatorische Praxis vorgestellt wird, nicht auf. Die Geschichte des westlichen Marxismus hat die grundbegrifflichen Schwierigkeiten der Praxisphilosophie und ihres Vernunftbegriffs ans Licht gebracht. Diese resultieren allemal aus Unklarheiten iiber die normativen Grundlageneder Kritik. Ich will an drei dieser Schwierigkeiten wenigstens erinnern. a) Die Angleichung der gesellschaftlichen Arbeit ans Modell der »Selbsttatigkeit« im Sinne schopferischer Selbstverwirklichung konnte eine gewisse Plausibilitat allenfalls aus dem roman tisch verklarten Vorbild handwerklicher Tatigkeit ziehen. Daran orientierte sich beispielsweise die zeitgenossische Reformbewegung von John Ruskin und William Morris, die das Kunsthandwerk propagierten. Die Entwicklung der industriellen Arbeit entfernte sich indessen immer weiter yom Modell eines ganzheitlichen Herstellungsprozesses. Auch Marx hat schlieBlich jede Orientierung an der zum Vorbild erhobenen Vergangenheit der Handwerkspraxis aufgegeben. Er nimmt allerdings die fragwiirdigen normativen Gehalte dieses Praxisbegriffs unauffallig in die Pramissen der Arbeitswerttheorie auf und macht sie zugleich unkenntlich. Das erklart, warum in der marxistischen Tradition der Begriff der Arbeit ebenso zweideutig geblieben ist wie die ihr innewohnende Zweckrationalitat. Entsprechend schwankt die Einschatzung der ProduktivkraJte von
einem Extrem zum anderen. Die einen begriiBen die Entfaltung der Produktivkrafte, vor allem den wissenschaftlich-technischen Fortsehritt, als Antriebskraft der gesellschaftlichen Rationalisierung. Si"e erwarten, daB die Institutionen, die die Verteilung sozialer Macht und den differentiellen Zugang zu den Produktionsmitteln regeln, unter dem rationalisierenden Druck der Produktivkrafte ihrerseits revolutioniert werden. Die anderen miBtrauen einer Rationalitat der Naturbeherrschung, die mit der Irrationalitat der Klassenherrsehaft verschmilzt. Wissenschaft und T echnik, fiir Marx noch ein unzweideutig emanzipatorisches Potential, verkehren sich fiir Lukacs, Bloch oder Marcuse in einnur urn so wirksameres Medium gesellschaftlicher Repression. Derart gegensatzliche Interpretationen konnen sich ergeben, weil sich Marx keine Rechenschaft dariiber ablegt, wie sich die greifbare Rationalitat der Zwecktatigkeit zu der intuitiv in Anspruch genommenen Rationalitat der Selbsttatigkeit verhalt - einer gesellschaftlichen Praxis also, die im Bilde der Assoziation freier Produzenten bloB vorschwebt. b) Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der abstrakten Entgegensetzung von toter und lebendiger Arbeit. Wenn man yom Begriff der entfremdeten Arbeit ausgeht, erscheint der von Gebrauchswertorientierungen losgerissene ProduktionsprozeB als die gespenstische Gestalt der enteigneten, anonym gewordenen Wesenskrafte der Produzenten. Der praxisphilosophische Ansatz suggeriert, daB der systemische Zusammenhang der kapitalistisch organisierten Wirtschaft und ihres staatlichen Komplements bloBer Schein ist, der sich mit der Abschaffung der Produktionsverhaltnisse in nichts auflosen wird. Aus dieser Sicht verlieren alle strukturellen Differenzierungen, die nicht in den Orientierungshorizont der handelnden Subjekte eingeholt werden konnen, mit einem Schlag ihre Berechtigung. Es stellt sich gar nicht erst die Frage, ob die mediengesteuerten Subsysteme Eigenschaften aufweisen, die einen funktionalen, von der Klassenstruktur unabhangigen Eigenwert besitzen. Die Revolutionstheorie weckt vielmehr die Erwartung,. daB im Prinzip alle versachlichten, alle systemisch verselbstandigten sozialen Beziehungen in den Horizont der Lebenswelt eingeholt werden konnen: der zerronnene Schein des Kapitals wird 83
einer unter dem Diktat des Wertgesetzes erstarrten Lebenswelt ihre Spontaneitat zuruckgegeben. Wenn aber Emanzipation und Versohnung nur im Modus der Entdifferenzierung uberkomplexer Lebensverhaltnisse vorgestellt werden, hat die Systemtheorie leichtes Spiel, urn angesichts hartnackiger Komplexitaten die vereinigende Macht der Vernunft nun ihrerseits als schiere Illusion abzutun. c) Beide Schwierigkeiten hangen damit zusammen, daB die normativen Grundlagen der Praxisphilosophie, vor allem die Leistungsfahigkeit des Praxisbegriffs fur Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie niemals befriedigend geklart worden sind. Die produktionsasthetische Aufwertung und die moralisch-praktische Ausdehnung des Begriffs der gesellschaftlichen Arbeit verlangen nach einer Begrundung, die durch methodisch fragwiirdige, sei esanthropologische oder existentialphanomenologische Untersuchungen nicht beigebracht werden kann. Konsequenter verfahren diejenigen, die in den Begriff Praxis nichtmehr Vernunft hineinlegen, als sie der Zweckrationalitat des zielgerichteten Handelns und der Selbstbehauptung entnehmen kOfinen. 18 GewiB, das Prinzip der Arbeit sichert der Moderne einen ausgezeichneten Bezug zur Rationalitat. Aber die Praxisphilosophie steht vor derselben Aufgabe wie seinerzeit die Reflexionsphilosophie. Auch in der Struktur der SelbstentauBerung ist - wie in der Struktur der Selbstbeziehung- die Notwendigkeit zur Selbstobjektivierung angelegt; deshalb ist der BildungsprozeB der Gattung von der Tendenz bestimmt, daB die arbeitenden Individuen im MaBe der Beherrschung der auBeren N atur ihre Identitat nur urn den Preis der Unterdruckung ihrer eigenen inneren Natur gewinnen. Urn diese Selbstverstrickung einer subjektzentrierten Vernunft aufzulosen, hatte Hegel einst der Verabsolutierung des SelbstbewuBtseins die absolute Selbstvermittlung des Geistes entgegengesetzt. Der Praxisphilosophie, die diesen idealistischen Weg mit guten Grunden verlassen hat, bleibt ein entsprechendes Problem nicht erspart; fur sie spitzt es sich sogar zu. Denn was kann sie der instrumentellen Vernunft einer zur gesellschaftlichen T otalitat aufgespreizten Zweckrationalitat entgegensetzen, wenn sie sich selbst materiali18 Zum Veralten des Produktionsparadigmas vgl. den Exkurs unten S. 95 ff.
stisch als Bestandteil und Resultat dieses verdinglichten Zusammenhangs verstehen muB - wenn der Zwang zur Objektivierung ins Innerste der kritisierenden Vernunft selbst eingreift? In ihrer »Dialektik der Aufklarung« wollten Horkheimer und Adorno diese Aporie nur noch entfalten, nicht mehr aus ihr herausfiihren. Wohl begegnen sie der instrumentellen Vernunft mit einem »Eingedenken«, das den Regungen einer revoltierenden, gegen ihre Instrumentalisierung aufbegehrenden Natur nachspurt. Sie haben auch einen Namen fur diesen Widerstand: Mimesis. Der Name ruft Assoziationen hervor, die beabsichtigt sind: Einfuhlung und Imitation. Das erinnert an ein Verhaltnis zwischen Personen, in dem die anschmiegend identifizierende EntauBerung des einen an das Vorbild des Anderen nicht die Preisgabe der eigenen Identitat erfordert, sondern Abhangigkeit und Autonomie in einem gewahrt: »Derversohnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hattesein Gluck daran, daB es in der gewahrten Nahe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.«19 Aber dieses mimetische Vermogen entzieht sich einer Begrifflichkeit, die einzig auf SubjektObjekt-Beziehungen zugeschnitten ist; so tritt Mimesis als bloBer Impuls, als das schlichte Gegenteil von Vernunft in Erscheinung. Die Kritik der instrumentellen Vernunft kann als Makel nur denunzieren, was sie in seiner Makelhaftigkeit doch nicht zu erklaren vermag. Denn sie ist in Begriffen gefangen, die einem Subjekt die Verfiigung uber auBere und innere Natur ermoglichen, die aber nicht dazu taugen, einer objektivierten Natur die Sprache zu leihen, damit diese sagen kann, was ihr von den Subjekten angetan wird. 20 Adorno versucht auf dem Wege seiner »Negativen Dialektik« einzukreisen, was sich diskursiv nicht darstellen laBt; und mit seiner »Asthetischen Theorie« besiegelt er die Abtretung der Erkenntniskompetenz an die Kunst. Die der romantischen Kunst entspringende asthetische Erfahrung, die der junge Marx in den Praxis begriff eingeschmuggelt hatte, ist in der avantgardistischen Kunst radikalisiert worden; diese benennt Adorno nun zum einzigen Zeugen gegen eine Praxis, die inzwischen alles unter ihren Trummern 19 T. W. Adorno, Negative Dialekcik, Werke Bd. 6, Ffm. 1973, 192. 20 Vgl. die V. Vorlesung unten S. 130ff.
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begraben hat, was mit Vernunft einmal intendiert war. Die Kritik kann nur noch in der Art eines Exerzitiums vorfiihren, warum jenes mimetische Vermogen dem theoretischen Zugriff entgleitet .und einstweilen in den avanciertesten Werken der modernen Kunst Unterschlupf findet.
IV Die neokonservative Antwort auf die Praxisphilosophie Der Neukonservatismus, der heute, vornehmlich in den Sozialwissenschaften, eine yom Marxismus enttauschte Szene beherrschrl, speist sich aus Motiven des Rechtshegelianismus. Hegels offizielle Schiiler - ich werde mich vor allem auf Rosenkranz, Hinrichs und Oppenheim beziehen - sind die urn einige Jahre alteren Zeitgenossen von Marx. Sie reagieren nicht unmittelbar auf Marx, aber auf die Herausforderung der friihsozialistischen Lehren und Bewegungen in Frankreich und England, die in Deutschland vor allem dU17ch Lorenz v. Stein bekannt gemacht worden waren. 22 Diese Hegelianer der ersten Generation verstanden sich als Anwalte des vormarzlichen Liberalismus. Sie waren bemiiht, der Hegelschen Rechtsphilosophie den Spielraum fiir die politische Durchsetzung des liberalen Rechtsstaates und gewisser sozialstaatlicher Reformen abzugewinnen. Sie haben die Akzente zwischen einer Vernunft, die dem Begriffe nach das allein Wirkliche ist, und den endlichen Formen ihres historischen Auftretens verschoben. Die empirischen Verhaltnisse bediirfen der Vervollkommnung, weil sich inihnen immer noch Vergangenheiten reproduzieren, die an sich schon iiberwunden sind. Die rechten Hegelianer sind wie die linken davon iiber21 H. Steinfels, The Neoconservatives, N. Y. 1979; R. Saage, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik, in: ders., Riickkehr zum starken Staat? Ffm. 19 83, 228ff.; H. Dubiel, Die Buchstabierung des Fortschritts, Ffm. 19 85. 22 Lorenz v. Steins 1849 erschienene dreibandige »Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich« (Darmstadt 1959) ist eine Fortsetzung seines Werkes iiber »Sozialismus und Communismus des heutigen Frankreich«.
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zeugt, daB »die in Gedanken zusammengefaBte Gegenwart ... nicht bloB theoretisch im Gedanken ist, sondern die Wirklichkeit praktisch zu durchdringen strebt.«23 Auch sie verstehen die Gegenwart als privilegierten Ort der Verwirklichung der Philosophie: die Ideen miissen mit den vorhandenen Interessen eine Verbindung eingehen. Auch sie sehen die politische Substanz des Staates in eine radikal verzeitlichte Willensbildung hereingezogen. 24 Ebensowenig verschlieBt die Hegelsche Rechte die Augen vor dem Konfliktpotential der biirgerlichen Gesellschaft. 25 Aber den kommunistischen Weg lehnt sie entschieden abo Zwischen den liberalen und den sozialistischen Schiilern Hegels besteht Dissens iiber jene Entdifferenzierung von Staat und Gesellschaft, welche die einen 23 H. F. W. Hinrichs, Politische Vorlesungen, in: H. Liibbe (Hrsg.), Die Hegelsche Rechte, Stuttg. 1962, 89. 24 Rosenkranz' Abhandlungen iiber die Begriffe der politischen Partei und der offentlichen Meinung spiegeln auf dramatische Weise den Einbruch des modernen Zeitbewulhseins in die Welt der Hegelschen Rechtsphilosophie (Liibbe (1962), 59ff., 65ff.). In dem ProzeB, den die Zukunft gegen die Vergangenheit anstrengt, zersetzt sich das geschichtliche Kontinuum in eine Folge von Aktualitaten. Die stets in Umbildung begriffene offentliche Meinung ist das Medium dieses Streites, cler-nicht nur zwischen den Parteien des Fortschritts und der Beharrung entbrennt, sondern in das Innere der Parteien selbst eindringt, der jede einzelne Partei in den Strudel der Polarisierung zwischen Zukunft und Vergangenheit hineinreillt und in Fraktionen, Fliigel, Cliquen aufspaltet. Sogar die Vorstellung einer Avantgarde, die in der gegenwartigen Bewegung die Zukunft verkorpert, ist den Liberalen nicht ftemd - sie findet im Kommunistischen Manifest nur ihre entschiedenste Formulierung; 25 Oppenheim polemisiert gegen »die blinde Herrschaft von Konkurrenz, Angebot und Nachfrage«, gegen »die Tyrannei des Kapitals und des groBen Grundeigenturns«, welche, sich selbst iiberlassen, »stets eine Oligarchie von Besitzern hervorrufen wiirden«. (H. B. Oppenheim, in: Liibbe 1962, 18M.). Der Staat soll in das vermeintliche »Heiligtum der industriellen Zustande« eingreifen: »Die Verwaltung ... hat unbewegt zugesehen, wie die groBen Capitalisten einen Abzugskanal gruben, in welchem unter dem tausehenden Schutz der freien Conkurrenz alIes Nationalvermogen, alIer Reichtum und alIes Gliick abflieBen muBten.« (Oppenheim, in: Liibbe .1962, 193.) Hinrichs sieht, daB das System der Arbeit und der Bediirfnisse nur dann das Versprechen der subjektiven Freiheit einlosen kann, wenn auch »dem Arbeiter soviel gewahrt (wird), daB er sein Leben erhalten und intelligent werden kann, daB er in Stand gesetztwird, sich Eigentum zu erwerben«. (Hinrichs, in: Liibbe 1962, 131.) Und Rosenkranz erwartet eine »neue, blutige Revolution«, wenn die »drangenden s!Jzialen Fragen« nicht gelost werden. (Rosenkranz, in: Liibbe 1962, 150.)
fiirchten und die anderen wollen. Marx war iiberzeugt, daB die Selbstorganisation der Gesellschaft, die der offentlichen Gewalt den politischen Charakter abstreift, eben den Zustand beenden muB, der nach Auffassung seiner Kontrahenten dadurch gerade herbeigefiihrt wiirde - namlich die restlose Auf10sung substantieller Sittlichkeit in die unvermittelte Konkurrenz natiirlicher Interessen. Beide Seiten beurteilen also die biirgerliche Gesellschaft kritisch als den Not- und Verstandesstaat, der einzig das Wohl und die Subsistenz des Einzelnen zum Zweck, Arbeit und GenuB der Privatperson zum Inhalt, den natiirlichen Willen zum Prinzip, die Vervielfaltigung der Bediirfnisse zur Konsequenz hat. Die rechten Hegelianer sehen freilich in der biirgerlichen Gesellschaft das Prinzip des Sozialen iiberhaupt verwirklicht und behaupten, daB dieses zu absoluter Herrschaft gelangen miiBte, sobald der Unterschied zwischen dem Politischen und dem Sozialen eingezogen wiirde. 26 Die Gesellschaft erscheint von Haus aus als eine Sphare der Ungleichheit natiirlicher Bediirfnisse, Anlagen und Fertigkeiten; sie bildet einen objektiven Zusammenhang, dessen funktionale Imperative unvermeidlich durch die subjektiven Handlungsorientierungen hindurchgreifen. An dieser Struktur und Komplexitat miissen alle Versuche scheitern, die das staatsbiirgerliche Prinzip der Gleichheit in die Gesellschaft einfiihren und diese der demokratischen Willensbildung der assoziierten Produzenten unterwerfen wollen. 27 Spater hat Max Weber diese Kritik aufgenommen und verscharft; er hat mit seiner ProgJ:?ose, daB die Abschaffung des Privatkapitalismus keineswegs ein Zerbrechen des stahlernen Gehauses der modernen gewerblichen Arbeit bedeuten wiirde, recht behalten. 1m »real existierenden Sozialismus« hat der Versuch, die biirgerliche in die politische Gesellschaft aufzulosen, tatsachlich nur deren Biirokratisierung zur Folge gehabt, er hat den okonomischen Zwang zu einer alle Lebensbereiche durchdringenden administrativen Kontrolle our erweitert. 26 Dlese Position vertritt unverandert H. Liibbe, Aspekte der politischen Philosophie des Biirgers, in: ders., Philosophie nach der Aufklarung, Diisseldf. I980, 2I I ff. 27 »Wie kann man gemeinschaftlich verwalten, was kein abgeschlossenes Ganzes bildet und sich taglich in der unendlichen und unendlich mannigfaltigen Produktion der Individuen neu erzeugt und neu gestaltet?« (Oppenheim, in Liibbe I962, I96.)
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Auf der anderen Seite hat die Hegelsche Rechte mit dem Vertrauen in die regerierativen Fahigkeiten eines starken Staates ihrerseits Schiffbruch erlitten. Rosenkranz verteidigte noch die Monarchie, weil nur sie die N eutralitat einer iiber den Parteien stehenden Regierung sichern, den Antagonismus der Interessen zahmen, die Einheit des Besonderen mit dem Allgemeinen garantieren konne. Aus seiner Sicht muB die Regierung auch insofern letzte Instanz bleiben, als nur sie »aus dem Buche der offentlichen Meinung das, was Not tut, herauslesen kann. «28 Von hier fiihrt eine geistesgeschichtliche Linie iiber Carl Schmitt zu jenen Staatsrechtslehrern, die im Riickblick auf die Unregierbarkeit der Weimarer Republik glaubten, den totalen Staat rechtfertigen zu sollen. 29 Auf dies em Traditionsstrang hat siGh der Begriff des substantiellen Staates in den eines nackt autoritaren verwandeln konnen, weil inzwischen die von den Rechtshegelianern immer noch in Anspruch genommene Stufenordnung des subjektiven, des objektiven und des absoluten Geistes griindlich zerstort worden war. 30 Nach dem Ende des Faschismus machen die Rechtshegelianer einen neuen Anfang, indem sie zwei Revisionen vornehmen. Zum einen arrangieren sie sich mit einer Wissenschaftstheorie, die der Vernunft auBerhalb der etablierten Verstandeskultur der Natur- und Geisteswissenschaft kein Recht belaBt; und zum anderen akzeptieren sie das Ergebnis der soziologischen Aufklarung, daB der (mit der kapitalistischen Wirtschaft funktional verschrankte) Staat die 28 Rosenlqanz, in: Liibbe (I962) 72. 29Zu ·den ·einschlagigen Publikationen von E. Forsthoff, E. R. Huber, K. Larenz \lSW, vgl, bereits B. Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitiiren Staat~auf~assung, in: Zeitschr. f. Sozialforschg., Jg. 3, I934, I6I ff. 3,0 Diese Dekomposition war von der linken Hegelschule eingeleitet worden. Die methodologischen Reflexionen auf die rasch voranschreitenden Natur- und Geistes';issenschaften, also Positivismus und Historismus, hatten dann bald alles diskreditiert, was iiber »bloBes Verstandesdenken« hinausgreifen wollte. Rosenkranz hatte noch von der unverganglichen Majestat des in der Geschichte waltenden Geistes gesprochen - mit dieser Art von Geschichtsphilosophie war es am Ende des I9. Jahrhunderts vorbei. Wer nun noch an der Denkfigur einer Aufhebung der biirgerlichen Gesellschaft im Staat festhalten wollte, hatte nur den norninalistischen Begriff ·der politischen Macht zur Verfiigung, dem Max Weber alle Vernunftkonnotationen genommen hatte. Der Staat lieB sich allenfalls existentialistisch mit Bedeutungen aus dem Freund-Feind-VerhaItnis aufladen.
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private und berufliche Existenz des Einzelnen in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft allenfalls absichert, aber keinesfalls sittlich iiberhoht. Unter diesen Pramissen erneuern Autoren wie Hans Freyer und Joachim Ritte2 1 die Denkfiguren der Hegelschen Rechten. Dabei fallt den Geisteswissenschaften die theoretische Erbschaft der verabschiedeten Philosophie zu - und den Traditionsmachten von Sittlichkeit, Religion und Kunst die kompensatorische Rolle, die dem Staat nicht mehr zugetraut werden kann. Diese veranderte Argumentation schafft die Grundlage fiir die Verbindung der affirmativen Einstellung zur gesellschaftlichen Moderne mit einer gleichzeitigen Abwertung der kulturellen Moderne. Dieses Bewertungsmuster pragt heute die neukonservativen Zeitdiagnosen ebenso in den USA wie in der Bundesrepublik. 32 Das will ich " anhand der bei uns einfluBreichen Arbeiten von Joachim Ritter erlautern. In einem ersten Interpretationsschritt trennt Ritter die Moderne von jenem ZeitbewuBtsein ab, aus dem diese ihr Selbstverstandnis gewonnen hatte. Weil die moderne Gesellschaft den Menschen auf seine subjektive Natur, auf GenuB und Arbeit reduziert, und weil sie sich selbst iiber die industrielle Nutzung und Ausbeutung der auBeren Natur reproduziert, sieht Ritter das geschichtliche Wesen der Moderne durch ein geschichtsloses Naturverhaltnis charakterisiert. Die moderne Welt »lost die geschichtlichen Ordnungen yom gesellschaftlichen Sein des Menschen ab«33; und die Entzweiung der gesellschaftlichen Existenz ist in dieser Geschichtslosigkeit begriindet: »Was mit der neuen Zeit heraufkommt, ist ... das Ende der bisherigen Geschichte; die Zukunft ist ohne Beziehung zur Herkunft.«34 Diese Beschreibung legt zwei Konsequenzen nahe. Zum einen kann die gesellschaftliche Moderne eine eigene evolutionare, yom Dberlieferungsgeschehen der Geschichte abgehobene Dynamik entfal31 H. Freyer, Weltgeschichte Europas, 2 Bde., Wiesbaden 1948; ders., Theorie des gegenwartigen Zeitalters, Stuttg. 1955; J. Ritter, Metaphysik und Politik, Ffrn. 19 69.
32 J. Habermas, Neokonservative Kulturkritikin den USA und in der Bundesrepublik, in: ders., Die Neue Uniibersichtlichkeit, Ffrn. 1985. 33 J. Ritter, Hegel und die franzosische Revolution, Ffrn. 1965, 62. 34 Ritter (1965), 45.
/ten, die ihr die Stabilitat einer zweiten Natur verleiht. Daran schlieBt sich die technokratische Vorstellung an, daB der ModernisierungsprozeB von unbeeinfluBbaren Sachzwangen gesteuert wird. Zum anderen verdanken die Biirger der modernen Welt ihre subjektive Freiheit gerade der Abstraktion von den geschichtlichen Lebensordnungen; ohne die Bremswirkung der durchgescheuerten Traditionspolster waren sie freilich den funktionalen Imperativen von Wirtschaft und Verwaltung schutzlos ausgeliefert. Daran schlieBt sich die historistische Vorstellung an, daB die subjektive Freiheit, die im Modus der Entzweiung auftritt, gegen Gefahren einer totalen Vergesellschaftung und Biirokratisierung nur geschiitzt werden kann, wenn die entwerteten Machte der Tradition gleichwohl eine kompensatorische Rolle iibernehmen. Gebrochen sind sie in ihrer objektiven Geltung; bekraftigt werden sollen sie als die privatisierten Glaubensmachte »des personlichen Lebens, der Subjektivitat und der Herkunft«;35 Die in der modernen Gesellschaft aufierlich unterbrochene Kontinuitat der Geschichte solI in der Sphare innerer Freiheit erhalten bleiben: »Die Subjektivitat hat es iibernommen, religios das Wissen urn Gott, asthetisch das Schone, als Moralitat das Sittliche zu bewahren und gegenwartig zu halten, das auf dem Boden der Gesellschaft in der Versachlichung der Welt zu einem bloB Subjektiven wird. Das ist ihre GroBe und ihr weltgeschichtliches Amt.«36 Ritter hat die Schwierigkeit dieser Kompensationstheorie wohl gefiihlt, aber die Paradoxie seines verzweifelten, weil historistisch aufgeklarten Traditionalismus nicht wirklich begriffen. Wie sollen Traditionen, denen mit dem Zerfall religioser und metaphysischer Weltbilder die einleuchtenden Griinde verlorengehen, als subjektive Glaubensmachte fortleben konnen, wenn nur noch die Wissensehaft die Autoritat hat, ein Fiir-Wahr-Halten zu begriinden? Ritter meint, daB sie ihre Glaubwiirdigkeit durch das geisteswissenllchaftliche Medium ihrer Vergegenwartigung zuriickgewinnen konnen. Die modernen Wissenschaften haben sich yom Vernunftanspruch 35 Ritter (1965),70. 36J; Ritter, Subjektivitat und industrielle Gesellschaft, in: ders., Subjektivitat, Ffrn. 1974, 138.
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der philosophischen Tradition losgesagt. Mit ihnen verkehrt sich das klassische Verhaltnis von Theorie und Praxis. Die N aturwissenschaften, die technisch verwertbares Wissen erzeugen, sind zu einer Reflexionsform von Praxis, zur ersten Produktivkraft geworden. Sie gehoren in den Funktionszusammenhang der modernen Gesellschaft. In einem anderen Sinne gilt das auch von den Geisteswissenschaften. Diese dienen zwar nicht der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, wohl aber der Kompensation der gesellschaftlichen Defizite. Die moderne Gesellschaft bedarf »eines Organs, das ihre Geschichtslosigkeit kompensiert und die geschichtliche . und geistige Welt offen und gegenwartig halt, die sie auBer sich setzen muB«.37 Allein, mit dem Hinweis auf die Funktion der Geisteswissenschaften laBt sich schwerlich die theoretische Geltung ihrer Inhalte begriinden. Gerade wenn wir, mit Ritter, yom objektivistischen Selbstverstandnis der .Geisteswissenschaften ausgehen, ist nicht zu sehen, warum sich die Autoritat der wissenschaftlichen Methode den Inhalten, die auf diese Weise historisch vergegenwartigt werden, mitteilen sollte. Der Historismus ist selber Ausdruck des Problems, das er in Ritters Augen lost: die geisteswissenschaftliche Musealisierung gibt den entwerteten Traditionsmachten ihre bindende Kraft nicht zuriick. Die historische Steigerungsform der Aufklarung kann den Distanzierungseffekt, der mit der unhistorischen Aufklarung im 18. J ahrhundert eingetreten ist, nicht neutralisieren. 38 Joachim Ritter verbindet eine technokratische Deutung der modernen Gesellschaft mit der funktionalistischen Aufwertung der traditionellen Kultur. Seine neukonservativen Schiiler haben daraus die Konsequenz gezogen, daB alle unliebsamen Erscheinungen, die sich dem Bild einer kompensatorisch befriedeten Moderne nicht einfiigen, der kulturrevolutionaren Tatigkeit von »Sinnvermittlern« zugerechnet werden miissen. Sie wiederholen die Kritik des alten Hegel an den Abstraktionen, die sich zwischen die verniinftige Wirklichkeit und das BewuBtsein ihrer Kritiker schieben - freilich 37 J. Ritter, D.ie Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in: ders. (1974), 131. 38 H. Schnadelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg 1974.
auf eine ironische Weise. Denn die Subjektivitat der Kritiker solI jetzt nicht mehr darin bestehen, daB diese eine zur Objektivitat gestaltete Vernunft nicht zu fassen vermogen. Den Kritikern wird vielmehr als FeWer angekreidet, daB sie immer noch von der Erwartung ausgehen, die Realitat konne iiberhaupt verniinftige Gestalt annehmen. Die Kritiker miissen sich von ihren Kontrahenten dariiber belehren lassen, daB der wissenschaftliche Fortschritt »ideenpolitisch uninteressant« geworden ist. Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse fiihren zu technischen N euerungen oder sozialtechnischen Empfehlungen, geisteswissenschaftliche Interpretationen sichern geschichtliche Kontinuitaten. Wer weiterreichende theoretische Anspriiche stellt, wer in den FuBtapfen der Meisterdenker Philosophie und Gesellschaftstheorie betreibt, der verrat sich als Intellektueller - ein Verfiihrer im Gewande des Aufklarers, der sich an der Priesterherrschaft der Neuen Klasse beteiligt. Aus der Kompensationsbediirftigkeit einer instabilen gesellschaftlichen Moderne ziehen die Neukonservativen die weitere Konsequenz, daB die explosiven Gehalte der modernen Kultur entscharft werden miissen. Sie blenden den Scheinwerfer des zukunftsorientierten ZeitbewuBtseins ab und holen alles Kulturelle, was nicht . unmittelbar in den Sog der Modernisierungsdynamik hineingerat, in die Perspektive des erinnernden Bewahrens ein. Dieser Traditionalismus entzieht den konstrnktiven und den kritischen Gesichtspunkten des moralischen Universalismus ebenso ihr Recht wie den kreativen und subversiven Kdften der avantgardistischen Kunst. Eine riickwartsgewandte Asthetik39 verharmlost insbesondere jene zuerst in der Friihromantik auftauchenden Motive, aus denen sich Nietzsches asthetisch inspirierte Vernunftkritik gespeist hat. Nietzsche will den Rahmen des okzidentalen Rationalismus, in 4em sich die Kontrahenten des linken wie des rechten Hegelianismus immer noch bewegen, sprengen. Dieser Antihumanismus, der von Heidegger und von Bataille in zwei Varianten fortgesetzt wird, ist fiir den Diskurs der Moderne die eigentliche Herausforderung. An Nietzsche will ich zunachst untersuchen, was sich hinter der 39 J. Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Asthetischen in der modernen Gesellschaft, in: ders. (1974) 141ff.
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radikalen Geste dieser Herausforderung verbirgt. Wenn sich am Ende herausstellen sollte, daB auch dieser Weg nicht ernstlich aus der Subjektphilosophie herausfiihrt, miiBten wir zu jener Alternative zuriickkehren, die Hegel in Jena links liegen gelassen hatte - zu einem Begriff der kommunikativen Vernunft, der die Dialektik der AufkHirung in ein anderes Licht riickt. Vielleicht hat der Diskurs der Moderne an jener ersten Wegkreuzung, vor der der junge Marx, als er Hegel kritisierte, noch einmal gestanden hat, die falsche Richtung genommen. 40
40 Vgl. Vorlesung XI, unten S. 344ff.
Exkurs zum Veralten des Produktionsparadigmas Solange die Theorie der Moderne an den Grundbegriffen der Reflexionsphilosophie, an Begriffen der Erkenntnis, der BewuBtwerdung rind des SelbstbewuBtseins orientiert ist, liegt der interne Zusammenhang mit dem Begriff der Vernunft oder der Rationalitat auf der Hand. Das gilt nicht ohne weiteres fiir Grundbegriffe der Praxisphilosophie wie Handeln, Selbsterzeugung und Arbeit. Zwar sind die normativen Gehalte der Begriffe Praxis und Vernunft, produktive Tatigkeit und Rationalitat in der Marxschen Arbeitswerttheorie, auf eine freilich nicht leicht zu durchschauende Weise, noch verschrankt. Aber diese Verklammerung lost sich spatestens in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts auf, als Theoretiker wi~ Gramsci, Lukacs, Korsch, Horkheimer und Marcuse gegen den Okonomisroris und den Geschichtsobjektivismus der Zweiten Internationale den urspriinglich praktischen Sinn einer Kritik der Verdinglichung zur Geltung bringen. Innerhalb des westlichen Marxismus trennen sich zwei Traditionslinien, die auf der einen Seite durch die Rezeption Max Webers und auf der anderen Seite durch eine Rezeption Husserls und Heideggers bestimmt sind. Der jiingere Lukacs und die Kritische Theorie begreifen Verdinglichung als Rationalisierung und gewinnen aus der materialistischen Aneignung Hegels einen kritischen Begriff von Rationalitat, ohne dafiir das Produktionsparadigma in Anspruch zu nehmen. 41 Hingegen erneuern der junge Marcuse und spater Sartre das inzwischen ausgelaugte Produktionsparadigma, indem sie den Marx der Friihschriften im Lichte der Husserlschen Phanomenologie lesen und einen normativ gehaltvollen Begriff der Praxis entwickeln, ohne dafiir ein Rationalitatskonzept in Anspruch zu nehmen. Erst der Paradigmenwechsel von der produktiven Tatigkeit zum kommunikativen H:indeln und die dadurch moglich gewordene kommunikationstheoretische Umformulierung des Lebensweltbegriffs, der seit Marcuses Abhandlung iiber den philosophischen Arbeitsbegriff immer neue Legierungen mit dem MarxschenPraxisbegriff i 41 Vgl. dazu H. Brunkhorst, Paradigrnakern und Theoriendynarnik der Kritischen , 'Theorie der Gesellschaft, in: Soziale Welt 1983, 25 ff.
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eingegangen ist, fiihrt jene beiden Traditionen wieder zusammen. Die Theorie des kommunikativen Handelns stellt namlich eine innere Beziehung zwischen Praxis und Rationalitat her. Sie untersucht die Rationalitatsunterstellungen der kommunikativen Alltagspraxis und bringt den normativen Gehalt verstandigungsorientierten Handelns auf den Begriff der kommunikativen RationalitatY Dieser Paradigmenwechsel ist u. a. dadurch motiviert, daB die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie weder auf der einen, noch auf der anderen T raditionslinie ausgewiesen werden konnten. Die Aporien des W eber-Marxismus habe ich an einem anderen Orte analysiert. Die Schwierigkeiten eines Marxismus, der das Produktionsparadigma mit Anleihen aus der Phanomenologie erneuert, mochte ich an zwei aus der Budapester Schule hervorgegangenen Arbeiten diskutieren. Ironischerweise hat noch der spate Lukacs die Weichen zu einer anthropologischen Wende und zu einer Rehabilitierung des Begriffs der Praxis als »Alltagswelt« gestelltY Den Konstitutionsbegriff der Praxis hat Husserl im Kontext seiner Lebensweltanalysen eingefiihrt. Er ist freilich nicht von Haus aus auf genuin Marxsche Fragestellungen zugeschnitten. Das zeigt sich beispielsweise daran, daB die unabhangig voneinander entstandenen Theorien der Alltagswelt, die Berger und Luckmann im AnschluB an Alfred Schiitz und A. Heller im AnschluB an Lukacs entwickeln, verbliiffende Ahnlichkeiten aufweisen. Zentral ist in beiden Fallen der Begriff der Objektivation: »Das menschliche Ausdrucksvermogen besitzt die Kraft der Objektivation, d.h. es manifestiert sich in Erzeugnissen menschlicher Tatigkeit, welche sowohl dem Erzeuger als auch anderen Menschen als Elemente ihrer gemeinsamen Welt begreiflich sind«.44 Der im englischen Original verwendete Ausdruck »human expressivity« verweist auf das von Ch. Taylor auf Herder zuriickgefiihrte expressivistische Modell eines Erzeugungs- und Bildungsprozesses, das Marx iiber Hegel, die Romantik und natiirlich Feuerbach 42 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm. 19 8I. 43 G. Lukacs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 3 Bde., Neuwied 197 1 ff. 44 P. Berger, Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Ffm. 1966, 36.
vermittelt worden ist. 45 Das Modell der EntauBerung und Aneignung von Wesenskraften verdankt ~ich einerseit~ ?er Dynamisierung des Aristotelischen Formbegnffs: ~as I~~~vld~um entfaltet seine Wesenskrafte durch eigene produktlve Tatlgkelt; und andererseits der reflexionsphilosophischen Vermittlung des Aristote~i schen mit dem asthetischen Formbegriff: die Objektivationen, m denen die Subjektivitat auBere Gestalt annimmt, sind gleichzeitig der symbolische Ausdruck eines bewu~ten Schop.f~~~saktes.. und eines unbewuBten Bildungsprozesses. DIe Produktlvltat des kunstlerischen Genies ist deshalb prototypisch fiir eine Tatigkeit, in der sich Autonomie und Selbstverwirklichungso vereinigen, daB die Objektivation der menschlichen Wesenskrafte den .Chara~ter der Gewaltsamkeit, sowohl gegeniiber der auBeren Wle der mneren Natur, verliert. Berger und Luckmann verbinden nun diese Idee mit der weltbildenden Produktivitat von Husserls transzendentalem BewuBtsein und begreifen den ProzeB der gesellschaftliche.n Reproduktion nach diesem Muster: »Der Vorgang, ~ur~h den dIe Produkte tatiger menschlicher SelbstentauBerung obJektlven Cha··dlirakter gewinnen, ist ... Objektivation.« 46bV A er ergegenstan chung bezeichnet nur eine Phase in dem Kreispro~eB von Ent~uBe rung, Objektivation, Aneignung und Reprodukt~on mens.chlicher Wesenskrafte, in dem die schopferischen Akte mIt dem BlldungsprozeB der vergesellschafteten Subjekte zusammengeschloss~n sind: »Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft 1st eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.«47 Da diese lebensweltliche Praxis noch bewuBtseinsphilosophisch als die Leistung einer transzendental zugrundeliegenden Subj.ekt~vitat gedeutet wird, wohnt ihr die Nor~ati:itat der Sel~.st~eflexl.on mne. 1m ProzeB der BewuBtwerdung 1st eme Fehlermoglichkelt strukturell eingebaut: die Hypostasierung eigener Leistungen ~u ei~em An-Sich. Dieser Denkfigur bedient sich der spate Husserl m semer . Kritik der Wissenschaften ebenso wie Feuerbach in seiner Religionskritik und Kant in seiner Kritik des transzendentalen S~heins. So konnen Berger und Luckmann zwanglos Husserls Begnff des 45 Ch. Taylor, Hegel, Cambro 1975, 76ff. 46 Berger, Luckmann, 1966,65.
47 Ebda.
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Objektivismus mit dem der Verdinglichung verbinden: »Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produkten, als waren sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarungen eines gottlichen Willens. Verdinglichung impliziert, daB der Mensch fahig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Welt zu vergessen, und weiter, daB die Dialektik zwischen dem menschlichen Produzenten und seinen Produkten fur das Bewufitsein verloren ist. Eine verdinglichte Welt ist per definitionem eine enthumanisierte Welt. Der Mensch erlebt sie als fremde Faktizitat, ein opus alienum, iiber das er keine Kontrolle hat, nicht als das opus proprium seiner eigenen produktiven Leistung.«48 1m Begriff der Verdinglichung spiegelt sich der normative Gehalt des expressivistischen Modells: was nicht mehr als das eigene Produkt zu BewuBtsein kommen kann, schrankt die eigene Produktivitat ein, hemmt zugleich Autonomie und Selbstverwirklichung und entfremdet das Subjekt sowohl von der Welt wie von sich selber. Diese reflexionsphilosophischen Bestimmungen konnen von der Praxisphilosophie unmittelbar naturalistisch umgesetzt werden, sobald die idealistische Denkfigur der Erzeugung oder Konstituierung einer Welt materialistisch, d.h. buchstablich als Produktionsvorgang begriffen wird. In diesem Sinne definiert A. Heller das Alltagsleben als »die Gesamtheit der Tatigkeiten der Individuen zu ihrer Reproduktion, welche jeweils die Moglichkeiten zur gesellschaftlichen Reproduktion schaffen«.49 Mit der materialistischen Deutung des idealistischen, zuletzt von Husserl entfalteten Konstitutionsbegriffs der Praxis verwandelt sichdie »Produktion« in die Verausgabung von Arbeitskraft, »Objektivation« in die Vergegenstandlichung von Arbeitskraft, die »Aneignung« des »Produzierten« in die Befriedigung materieller Bediirfnisse, d. h. in Konsumtion. U nd die» Verdinglichung«, die den Produzenten ihre entauBerten Wesenskrafte als etwas Fremdes, ihrer Kontrolle Entzogenes vorenthalt, wird zur materiellen Ausbeutung, die durch die privilegierte Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reich48 Berger, Luckmann, 1966,95. 49 A. Heller, Das Alltagsleben, Ffm. 1978; vgl. auch dies., Alltag und Geschichte, Neuwied 1970.
turns, letztlich durch das private Eigentum an Produktionsmitteln verursacht ist. Diese Uminterpretation hat gewiB den Vorzug, das Konzept der Alltagspraxis von jenen Begriindungspflichten und methodischen Schwierigkeiten einer fundamentalistischen BewuBtseinsphilosophie zu entlasten, die Berger und Luckmann iibernehmen, indem sie den Praxisbegriff des jungen Marx an den des spaten Husserl assimilieren. Das von seinen reflexionsphilosophischen Wurzeln abgeschnittene Produktionsparadigma bringt aber, wenn es mnliche gesellschaftstheoretische Dienste tun soll, mindestens drei neue Probleme mit sich: (I) das Prod uktionsparadigma grenzt den Begriff der Praxis so ein, daB sich die Frage stellt, wie sich der paradigmatische Tatigkeitstypus der Arbeit oder der Herstellung von Produkten zur Gesamtheit aller iibrigen kulturellen AuBerungsformen sprachund handlungsfahiger Subjekte verhalt. Agnes Heller rechnet ja Institutionen und sprachliche Ausdrucksformen nicht weniger zu den »gattungsmaBigen Objektivationen« als die Arbeitsprodukte im engeren Sinne. 50 (2) Das Produktionsparadigma bestimmt den Begriff der Praxis derart in einem naturalistischen Sinne, daB sich die Frage stellt, ob sich aus dem StoffwechselprozeB zwischen Gesellschaft und Natur iiberhaupt noch normative Gehalte gewinnen lassen. A. Heller bezieht sich mit groBer Unbefangenheit auf die produktive Tatigkeit von Kiinstlern und Wissenschaftlern als das nach wie vor giiltige Modell fiir eine schopferische Durchbrechung der Routinen des entfremdeten Alltagslebens. 51 (3) Das Produktionsparadigma gibt dem Praxisbegriff eine so klare empirische Bedeutung, daB sich die Frage stellt, ob es mit dem historisch absehbaren Ende der Arbeitsgesellschaft seine Plausibilitat verliert. Mit dieser Frage hat C. Offe den letzten deutschen Soziologentag eroffnet. 52 Ich beschranke mich auf die beiden ersten Schwierigkeiten, mit denen sich G. Markus auseinandergesetzt hat .53 50 A. Heller, 1978, 182ff. 51 A. Heller, 1970, 25ff. 52 C. Offe, Arbeit als soziologische Schliisselkategorie? in: J. Matthes (Hg.), Krise ~er Arbeitsgesellschaft, Ffm. 1983, 38ff. 53 G. Markus, Die Welt menschlicher Objekte, in: A. Honneth, U. Jaeggi (Hg.), Arbeit, Handlung, Normativitat, Ffm. 1980, 12ff.; erw. Fassung: G. Markus, Langage et production, Paris 1982.
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ad I). Markus will erkHiren, in welchem Sinne sich nicht nur Fabrikate, also die Mittel und Produkte von Arbeitsprozessen, sondern aile Bestandteile einer sozialen Lebenswelt, und sogar der lebensweltliche Kontext selber, als Vergegenstandlichungen oder Objektivationen menschlicher Arbeit verstehen lassen. Er entwickelt sein Argument in drei Schritten. Erstens zeigt Markus, daB die gegenstandlichen Elemente der Lebenswelt ihre Bedeutung nicht nur technischen Regeln der Herstellung, sondern auch Konventionen des Gebrauchs verdanken. Der Gebrauchswert eines Gutes reprasentiert nicht nur die fur den HerstellungsprozeB verbrauchte Arbeitskraft und die dabei genutzte Fertigkeit, sondern auch den Verwendungszusammenhang und die Bedudnisse, fur deren Befriedigung das Gut dienen kann. Ahnlich wie Heidegger den Zeugcharakter der Gebrauchsgegenstande analysiert, hebt Markus den gesellschaftlichen Charakter hervor, der dem fur einen bestimmten Gebrauch produzierten Gegenstand wie eine »naturliche« Eigenschaft anhaftet: »Ein Produkt ist nur im Verhaltnis zu einem AneignungsprozeB eine Vergegenstandlichung, also nur im Verhaltnis zu solchen Tatigkeiten eines Individuums, in denen die wesentlichen Gebrauchskonventionen befolgt und interiorisiert werden - in denen die gesellschaftlichen Bedurfnisse und Fahigkeiten, die es (in der Qualitat seines Gebrauchswertes) verkorpert, wieder in lebendige Wunsche und Fertigkeiten transformiert werden.«54 In den Gegenstanden objektivieren sich also nicht nur die produktiv verausgabten Arbeitskrafte, sondern auch die gesellschaftlich determinierten Moglichkeiten konsumtiver Aneignung. Diese Praxis, die sich sowohl nach technischen Regeln der Herstellung wie nach utilitaren Regeln des Gebrauchs richtet, ist nun aber zweitens vermittelt durch Normen fur die Verteilung der Produktionsmittel und des produzierten Reichtums. Diese Handlungsnormen begriinden differentielle Rechte und Pflichten und sichern Motivationen fur die Ausubung differenziell verteilter sozialer Rollen, die ihrerseits Tatigkeiten, Fertigkeiten und Bedudnisbefriedigungen festlegen. Die gesellschaftliche Praxis erscheint mithin 54 Markus, 1980, 28. 100
unter einem doppelten Aspekt: einerseits als Herstellungs- und Aneignungsprozej1, der sich nach technisch-utilitaren Regeln vollzieht und das jeweilige Niveau des Austauschs zwischen Gesellschaft und Natur, also den Stand der Produktivkrafte anzeigt; andererseits als Interaktionsprozej1, der nach sozialen Normen geregelt ist und den selektiven Zugang zu Macht und Reichtum, also die Produktionsverhaltnisse zum Ausdruck bringt. Diese gieBen den materiellen Inhalt, namlich die jeweils gegebenen Fertigkeiten und Bedudnisse, in die spezifische Form einer Privilegienstruktur, die die Verteilung von Positionen festlegt. Den entscheidenden Vorzug des Produktionsparadigmas sieht Markus schliej1lich darin, daB es erlaube, »die Einheit dieses dualen Prozesses« zu denken, namlich die gesellschaftliche Praxis zugleich »als Arbeit und als Reproduktion gesellschaftlicher Beziehungen« zu verstehen. 55 Vnter dem Gesichtspunkt der Produktion sei »die Einheit von Interaktionsprozessen zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch«56 begreiflich zu machen. Diese Behauptung ist erstaunlich, weil Markus selbst mit aller wunschenswerten Klarheit zwischen technisch-utilitaren Regeln der Produktion und der Verwendung von Produkten einerseits, Regeln der sozialen Interaktion, also gesellschaftlichen, auf intersubjektive .Anerkennung und Sanktionierung angewiesenen Handlungsnormen andererseits unterscheidet. Entsprechend nimmt er eine klare analytische Trennung zwischen »technischer« und »gesellschaftlicher Sphare« vor. Er laBt auch keinen Zweifel daran, daB Praxis im Sinne der Hervorbringung und der nutzlichen Verwendung von Produkten allein fur den StoffwechselprozeB zwischen Mensch und N atur strukturbildende Effekte hat. Praxis im Sinne normengeleitetednteraktion laBt sich hingegen nicht nach dem Muster der produktiven Verausgabung von Arbeitskraft und der Konsumtion von Gebrauchswerten analysieren. Die Produktion bildet lediglich einen Gegenstand oder einen Inhalt fur normative Regelungen. Freilich sollen sich Markus zufolge Technisches und Gesellschaftli. ches im Laufe der bisherigen Geschichte nur analytisch trennen lassell'; empirisch bleiben diese Spharen unaufloslich miteinander ver55 Markus, 1980, 36.
56 Markus, 1980,74. 101
quickt, solange sich Produktivkrafte und Produktionsverhaltnisse wechselseitig determinieren. So macht sich Markus den Umstand, daB sich das Produktionsparadigma allein fiir die Erklarung von Arbeit und nicht von Interaktion eignet, zunutze, urn diejenige Gesellschaftsformation zu bestimmen, die eine institutionelle Scheidung zwischen technischer und gesellschaftlicher Sphare herbeigefiihrt haben wird. Er sieht namlich den Sozialismus gerade dadurch gekennzeichnet, daB er »die materiell-produktiven Tatigkeiten auf das reduziert, was sie ihrer Bestimmung nach sind und immer waren (im Original gesperrt), namlich aktiv-rationaler Stoffwechsel mit der Natur, rein >technische< Tatigkeit jenseits sowohl von Konventionen wie von sozialer Herrschaft«.57 ad 2). Damit beriihren wir die Frage nach dem normativen Gehalt des produktivistisch ausgelegten Praxisbegriffs. Wenn man sich den StoffwechselprozeB zwischen Mensch und N atur als einen KreisprozeB vorstellt, in dem sichProduktion und Konsumtion gegenseitig stimulieren und erweitern, bieten sich zwei Kriterien fiir die Bewertung der gesellschaftlichen Evolution an: die Steigerung des technisch verwertbaren Wissens und die Differenzierung sowie Universalisierung von Bediirfnissen. Beide lassen sich unter dem funktionalistischen Gesichtspunkt der Komplexitatssteigerung subsumieren. Heute wird aber niemand mehr behaupten wollen, daB sich die Qualitat des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit wachsender Komplexitat gesellschaftlicher Systeme verbessern miisse. Das yom Produktionsparadigma nahegelegte Modell des Stoffwechselprozesses hat so wenig einen normativen Gehalt wie das System-Umwelt-Modell, das inzwischen an dessen Stelle getreten ist. Wie verhalt es sich aber mit Autonomie und Selbstverwirklichung, die ja im reflexionsphilosophischen Begriff des Bildungsprozesses angelegt waren - lassen sich diese normativen Gehalte nicht doch praxisphilosophisch einholen? Markus macht, wie wir gesehen haben, einen normativen Gebrauch von der Unterscheidung zwischen einer Praxis, die sich unter Zwangen der auBeren N atur iiber technisch-utilitare Regeln reguliert, und einer unter Handlungsnormen stehenden Praxis, in denen sich Interessen, Wertorientie57 Markus; 1980, 51. 102
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rungen und Ziele als Ausdrucksformen der subjektiven Natur niederschlagen. Er faBt als praktisches Ziel die institutionelle Trennung zwischen Technischem und Gesellschaftlichem ins Auge, die Scheidung zwischen einer Sphare auBerer Notwendigkeit und einer Sphare, in der alle »Notwendigkeiten« letztlich selbstverschuldet sind: »Die Kategorie der Arbeit, die die kritische Gesellschaftstheorie im Unterschied zur biirgerlichen bkonomie >an die Spitze stellt<, erlangt praktische Wahrheit allein in der sozialistischen Gesellschaft; denn nur hier ... ereignet sich das Werden der Menschen durch eigenes, zielbewuBtes Handeln, das allein durch jene gesellschaftliche Objektivitat determiniert wird, die die Menschen fix und fertig vorfinden und die als Natur ihrem Handeln Grenzen auferlegt.«58 Diese Formulierung bringt noch nicht klar genug zum Ausdruck, daB die Emanzipationsperspektive gerade nicht aus dem Produktionsparadigma, sondern aus dem Paradigma verstandigungsorientierten Handelns hervorgeht. Es ist die Form der Interaktionsprozesse, die geandert werden muB, wenn man praktisch herausfinden will, was die Mitglieder einer Gesellschaft in der jeweiligen Situation wollen konnten und was sie im gemeinsamen Interesse tun sollten. Klarer ist die folgende Stelle: »Wenn die Menschen im BewuBtsein der Zwange und Beschrankungen ihrer Lebenssituation und durch Artikulation wie dialogische Konfrontation ihrer Bediirfnisse die gesellschaftlich kollektiven Ziele und Werte ihres Tuns bestimmen, (erst) dann ist ihr Leben verniinftig.«59 Wie freilich diese Idee der Vernunft als eine in den Kommunikationsverhaltnissen faktisch angelegte und praktisch zu ergreifende Idee begriindet werden konnte, dazu wird eine aufs Produktionsparadigma eingeschworene Theorie nichts sagen konnen.
58 Markus, 1980, 50.
59 Markus, 1980, II4. 10 3
IV. Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe I
Weder Hegel noch seine unmittelbaren Schuler auf der Linken oder auf der Rechten.haben je die Errungenschaften der Moderne - das, woraus die moderne Zeitihren Stolz und ihr SelbstbewuBtsein zog - in Frage stellen wollen. Das moderne Zeitalter steht vor allem im Zeichen subjektiver Freiheit. Diese verwirklicht sich in der Gesellschaft als privatrechtlich gesicherter Spielraum fur die rationale Verfolgung eigener Interessen, im Staat als prinzipiell gleichberechtigte Teilnahme an der politischen Willensbildung, im Privaten als sittliche Autonomie und Selbstverwirklichung, in der auf diese Privatsphare bezogenen bffentlichkeit schlieBlich als BildungsprozeB, der sich uber die Aneignung der reflexiv gewordenen Kultur vollzieht. Auch die Gestalten des absoluten und des objektiven Geistes haben, aus der Perspektive des Einzelnen, eine Struktur angenommen, in der sich der subjektive Geist von der Naturwuchsigkeit traditionaler Lebensformen emanzipieren kann. Dabei treten die Sphiiren, in denen der Einzelne als bourgeois, citoyen und homme sein Leben fuhrt, immer weiter auseinander und werden selbstandig. Dieselben Trennungen und Verselbstandigungen, die, geschichtsphilosophisch betrachtet, der Emanzipation von uralten Abhangigkeiten den Weg bahnen, werden aber zugleich als Abstraktion, als Entfremdung von der Totalitat eines sittlichen Lebenszusammenhangs erfahren. Einst war die Religion das unverbriichliche Siegel auf diese Totalitat. Dieses Siegel ist nicht zufallig zerbrochen. Die ,religiosen Krafte der sozialen Integration sind infolge eines Aufklarungsprozesses erlahmt, der so wenig ruckgangig gemacht werden kann, wie er willkurlich produziert worden ist. Der Aufklarung ist die Irreversibilitat von Lernprozessen eigen, die darin begriindet ist, daB Einsichten nicht nach Belieben vergessen, sondern nur verdrangt oder durch bessere Einsichten korrigiertwerden konnen. Deshalb kann die Aufklarung ihre Defizite nur durch radi104
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kalisierte Aufklarung wettmachen; deshalb miissen Hegel und seine Schuler ihre Hoffnung auf eine Dialektik der Aufklarung setzen, in der sich die Vernunft als ein Aquivalent fiir die vereinigende Macht der Religion zur Geltung bringt. Sie haben Vernunftkonzepte entwickelt, die ein solches Programm erfiillen sollten. Wir haben gesehen, wie und warum diese Versuche gescheitert sind. Hegel konzipiert die Vernunft als versohnende Selbsterkenntnis eines absoluten Geistes, die Hegelsche Linke als befreiende Aneignung produktiv entauBerter, aber vorenthaltener Wesenskrafte, die Hegelsche Rechte als erinnernde Kompensation des Schmerzes unvermeidlicher Entzweiungen. Hegels Konzept erwies sich als zu stark; der absolute Geist setzt sich ungeriihrt iiber den zukunftsoffenen ProzeB der Geschichte und den unversohnten Charakter der Gegenwart hinweg. Gegen den quietistischen Riickzug des Priesterstandes der Philosophen von einer unversohnten Realitat klagen deshalb die J unghegelianer das profane Recht einer Gegenwart ein, die der Verwirklichung des philosophischen Gedankens noch harrt. Dabei bringen sie freilich einen Begriff der Praxis ins Spiel, der zu kurz greift. Dieser Begriff potenziert nur jene Gewalt verabsolutierter Zweckrationalitat, die er doch iiberwinden solI. Die Neukonservativen konnen der Praxisphilosophie die gesellschaftliche Komplexitat vorrechnen, die sich hartnackig gegen alle revolutionaren Hoffnungen behauptet. Sie wandeln ihrerseits Hegels Konzept der Vernunft so ab, daB gleichzeitig mit der Rationalitat auch der Entschadigungsbedarf der gesellschaftlichen Moderne hervortritt. Aber dieses Konzept reicht wiederum nicht hin, urn die Kompensationsleistung eines Historismus verstandlich zu machen, der die Traditionsmachte durchs Medium der Geisteswissenschaften am Leben erhalten solI. Gegen diese kompensatorische, aus den Quellen antiquarischer Geschichtsschreibung gespeiste Bildung bringt F. Nietzsche das moderne ZeitbewuBtsein auf eine ahnliche Weise zur Geltung wie . einst die Junghegelianer gegen den Objektivismus der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Nietzsche analysiert in seiner Zweiten UnzeitgemaBen Betrachtung iiber »Nutzen und Nachteil der Historie fiir das Leben« die Folgenlosigkeit einer yom Handeln abgekoppelten, in die Sphare der Innerlichkeit abgeschobenen Bildungstra-
dition: »Das Wissen, das im DbermaBe ohne Hunger, ja wider das Bediirfnis aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach auBen treibendes Motiv und bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen ... Und so ist die ganze moderne Bildung wesentlich innerlich - ein Handbuch innerlicher Bildung fiir auBerliche Barbaren.«l Das mit historischem Wissen iiberladene moderne BewuBtsein hat die »plastische Kraft des Lebens« verloren, die den Menschen instandsetzt, mit dem Blick auf die Zukunft und »aus der h6chsten Kraft der Gegenwart die Vergangenheit (zu) deuten«. 2 W eil die methodisch verfahrenden Geisteswissenschaften einem falschen, namlich unerreichbaren Objektivitatsideal anhangen, neutralisieren sie die zum Leben notwendigen MaBstabe und verbreiten einen lahmenden Relativismus: »in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du (selbst) bist.«3 Sie blockieren die Fahigkeit, von Zeit zu Zeit »eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzul6sen, urn (in der Gegenwart) leben zu k6nnen.«4 Wie die Junghegelianer wittert Nietzsche in der historistischen Bewunderung der »Macht der Geschichte« eine Tendenz, die nur zu leicht in die realpolitische Bewunderung des nackten Erfolges umschlagt. Mit Nietzsches Eintritt in den Diskurs der Moderne verandert sich die Argumentation von Grund auf. Erst war die Vernunft als vers6hnende Selbsterkenntnis; dann als befreiende Aneignung, schlieBlich als entschadigende Erinnerung konzipiert worden, damit sie als Aquivalent fiir die vereinigende Macht der Religion auftreten und die Entzweiungen der Moderne aus deren eigenen Antriebskraften iiberwinden k6nne. Dreimal ist dieser Versuch, den Vernunftbegriff auf das Programm einer in sich dialektischen Aufklarung zuzuschneiden, miBlungen. In dieser KonsteHation hatte Nietzsche nur die Wahl, entweder die subjektzentrierte Vernunft noch einmal einer immanenten Kritik zu unterziehen - oder aber das Programm im ganzen aufzugeben. Nietzsche entscheidet sich fiir die zweite Alternative - er verzichtet auf eine erneute Revision des Vernunftbegriffs und verabschiedet die Dialektik der Auf1 F. Nietzsche, Samtliche Werke in 15 Banden, hg. v. G. Colli, M. Montinari, Bin. 1967ff., Bd. I, 273 f., im folgenden zitiert als N. 2 N. Bd. I, 293f. 3 N. Bd. I, 299f. 4 N. Bd. 1,269, 106
klarung. Insbesondere die historisti~che Verformung des modernen BewuBtseins, die Dberflutung mit beliebigen Inhalten und die Entleerung von aHem Wesentlichen laBt ihn daran zweifeln, daB die Moderne ihre MaBstabe noch aus sich selber sch6pfen k6nnte »denn aus uns haben wir Modernen gar nichts«.5 Wohl wendet Nietzsche die Denkfigur der Dialektik der Aufklarung noch einmal auf die historistische Aufklarung an, aber mit dem Ziel, die Vernunfthiilse der Moderne als solche aufzusprengen. Nietzsche beniitzt die Leiter der historischen Vernunft, urn sie am Ende wegzuwerfen und im M ythos, als dem Anderen der Vernunft, FuB zu fassen: »Denn der U rsprung der historischen Bildung - und ihres innerlich ganz und gar radikalen Widerspruchs gegen den Geist der >neuen Zeit<, eines >modernen BewuBtseins< - dieser .Ursprung muB selber wieder historisch erkannt werden; die Historie muB das Problem der Historie selbst aufl6sen; das Wissen muB einen Stachel gegen sich selbst kehren - dieses dreifache >MuB< ist der Imperativ des Geistes der >neuen Zeit<, falls in ihr wirklich etwas Neues, Machtiges, LebenverheiBendes und Urspriingliches ist.«6 Dabei hat Nietzsche natiirlich seine »Geburt der Trag6die« im Sinn, eine mit historisch-philologischen Mitteln durchgefiihrte Untersuchung, die ihn hinter die alexandrinische und hinter die romisch-christliche Welt in die Anfange, in die »altgriechische Urwelt des GroBen, Natiirlichen und Menschlichen« zuriickfiihrt. Auf diesem Wege soHen sich iiberhaupt die antiquarisch denkenden »Spatlinge« der Moderne in die »Erstlinge« einer postmodernen Zeit verwandeln - ein Programm, das Heidegger in »Sein und Zeit« wieder aufnehmen wird. Fiir Nietzsche ist die Ausgangssituation klar. Einerseits verstarkt die historische Aufklarung nur die in den Errungenschaften der Moderne fiihlbar gewordenen Entzweiungen; die in Gestalt einer Bildungsreligion auftretende Vernunft entfaltet keine synthetische Kraft mehr, welche die vereinigende Macht der iiberlieferten Religion erneuern k6nnte. Andererseits ist der Moderne der Weg zuriick in die Restauration verlegt. Die religiosmetaphysis chen Weltbilder der alten Zivilisationen sind seIber schon ein Produkt der Aufklarung, zu vernunftig also, urn der radi5 N. Bd. 1,273.
6 N. Bd.
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kalisierten Aufklarung der Moderne noch etwas entgegensetzen zu konnen. Nietzsche nimmt, wie aIle, die aus der Dialektik der Aufklarung herausspringen, eine auffallige Nivellierung vor. Die Moderne verliert ihre ausgezeichnete Stellung; sie bildet nur noch eine letzte Epoche in der weit ausgreifenden Geschichte einer Rationalisierung, die mit der Auflosung des archaischen Lebens und dem Zerfall des Mythos einsetzt. 7 In Europa kennzeichnen Sokrates und Christus, die Stifter des philosophischen Denkens und des kirchlichen Monotheismus diesen Einschnitt: »Worauf weist das unge.;. heure historische Bediirfnis der unbefriedeten modernen Kultur, das U msichsammeln zahlloser anderer Kulturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythos, auf den Verlust der mythis chen Heimat?«8 Das moderne ZeitbewuBtsein verbietet freilich jeden Gedanken an Regression, an die unvermittelte Riickkehr zu den mythischen Urspriingen. Allein die Zukunft bildet den Horizont fiir die Erweckung mythischer Vergangenheiten, >tder Spruch def Vergangenh.eit ist immer~in Ora~:~B!9~h: nur als Baumeister der Zukunft, alsjYjss~4;jer(~·ege~~;t _we~ ~et Ihr ihn verstehen!«9Diese utopische Einstellung, die sich auf den . . .kommenden Gott richtet, unterscheidet Nietzsches Unternehmen yom reaktionaren Ruf >Zuriick zu den Urspriingen<. Uberhaupt verliert das teleologische Denken, das Ursprung und Ziel miteinander kontrastiert, seine Kraft. Und weil Nietzsche das moderne ZeitbewuBtsein nicht negiert, sondern zuspitzt, kann er die moderne Kunst, die in ihren subjektivsten Ausdrucksformen dieses ZeitbewuBtsein auf die Spitze treibt, als das Medium vorstellen, in dem sich die Moderne mit dem Archaischen beriihrt. Wahrend der Historismus die Welt als Ausstellung inszeniert und die genieBenden Zeitgenossen in blasierte Zuschauer verwandelt, kann einzig die iiberhistorische Macht einer in Aktualitat sich verzehrenden Kunst die Rettung fiir die »wahre Not und das innere £lend der modernen Menschen«10 bringen. ... Dabei steht dem jungen Nietzsche das Programm Richard Wagners 7 Das gilt auch rur Horkheimer und Adorno, die sich in dieser Hinsicht Nietzsche,
Bataille und Heidegger nahern. Siehe aber S. 153 ff. 8 N. Bd. I, 146. 9 N. Bd. 1,294. 108
10 N. Bd. 1,281,330.
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.. vo, Augen, d", ,einen Emy iib", Roligion und Kun" mit dem Sa.. \e ;;. eroffnet hatte: »Man konnte sagen, daB da, wo die Religion kiinstle-
risch wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythis chen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfaBt, urn durch die ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.«l1 Eine zum Kunstwerk gewordene religiose Feier solI mit der kultisch erneuerten Offentlichkeit die Innerlichkeit der privat angeeigneten historischen Bildung iiberwinden. Eine asthetisch erneuerte Mythologie solI die in der Konkurrenzgesellschaft eEstarrt~!l_ !£.~J!Z der sozialen Integrati<mlosen. Sie wird das moderne B~sein dezent;ie;en und fiir archaische Erfahrungen offnen. Diese Kunst der Zukunft dementiert sich als die Hervorbringung eines individuellen Kiinstlers und setzt »das Yolk selbst als den Kiinstler der Zukunft« ein. 12 Nietzsche feiert deshalb Wagner als »Revolutionar der Gesellschaft« und als Uberwinder der alexandrinischen Kultur. Ererwartet, daB von Bayreuth die Wirkungen der dionysischen Tragodien ausgehen werden - »daB der Staat und die Gesellschaft, iiberhaup_t die Kliifte zwischen Mensch und Mensch einem iibermachtigen Einheitsgefiihl weichen, welches an das Herz der Natur zuriickfiihrt«.B Spater hat sich Nietzsche bekanntlich mit Abscheu von der Wagnerschen Opernwelt abgewendet. Interessanter als die personlichen, politischen und asthetischen Griinde fiir diesen Abfall ist der philosophische Beweggrund, der hinter der Frage steht: »Wie miiBte eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr (wie die Wagners) romantischen Ursprungs ware - sondern dionysischen?«14 Romantischen Ursprungs ist die Idee einer neuenMythologie, romantisch ist auch der Riickgriff auf Dionysos als den kommenden Gott. Gleichwohl distanziert sich Nietzsche yom romantischen Gebrauch dieser Ideen und proklamiert eine offenbar radika11 R. Wagner, Samtliche Schriften und Dichtungen Bd. 10,211. 12 ebb. 172. 13 N. Bd. I, 56. 141m »Versuch einer Selbstkritik«, dem Vorwon zur zweiten Auflage der »Geburt der Tragiidie« N. Bd. 1,20; vgl. den NachlaB N. Bd. 12, 117. 109
lere, iiber Wagner hinausweisende Version. Worin aber unterscheidet sich das Dionysische vom Romantischen?
II 1m Ntesten Systemprogramm von 1796/97 ist uns die Erwartung einer neuen Mythologie, welche die Poesie als Lehrerin der Menschheit einsetzt, schon begegnet. Bereits hier ist ein, Motiv erkennbar, das spater Wagner und Nietzsche hervorheben werden: in den Formen einer erneuerten M ythologie solI die Kunst den Charakter einer offentlichen Institution zuriickgewinnen und die Kraft zur Regenerierung der sittlichen Totalitat des Volkes entfaltenY 1m gleichen Sinne spricht Schelling am Ende seines »Systems des transzendentalen Idealismus« davon, daB die neue Mythologie »nicht Erfindung eines einzelnen Dichters, sondern eines neuen, nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechtes sein kann«.16 Ahnlich F. Schlegel in seiner »Rede iiber die Mythologie«: »Es fehlt unserer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie fiir die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, laBt sich in die Worte zusammenfassen: wir haben keine Mythologie. Aber ... wir sind nahe daran, eine zu erhalten.«17 Beide Publikationen stammen iibrigens aus dem] ahre 1800 und spinnen die Idee einer neuen Mythologie in verschiedenen Varianten fort. Als ein wei teres Motiv enthalt das alteste Systemprogramm die Vorstellung, daB mit der neuen Mythologie die Kunst die Philosophie ablosen wird, weil die asthetische Anschauung »der hochste Aktder Vernunft« ist: »Wahrheit und Giite (sind) nur in der Schonheitverschwistert.«18 Dieser Satz konnte als Motto iiber Schellings »System« von 1800 stehen. In der asthetischen Anschauung findet 15 M. Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen iiber die neue Mytbologie. Ffm., 1982, I80ff. 16 Schellings Werke, hg. v. M. Schroter, Bd. II, 629. 17 F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II, 3 It. 18 H. Bd. 1,235. IIO
Schelling die Auflosung des Ratsels, wie dem Ich die Identitat von Freiheit und Notwendigkeit, Geist und Natur, bewuBter und bewuBtloser Tatigkeit in einem von ihm selbst hervorgebrachten Produkt zu BewuBtsein gebracht werden konne: »Die Kunst ist ebeiil deswegen dem Philosophen das Hochste, weil sie ihm das Allerhei- ! ligste offnet, wo in ewiger und urspriinglicher Vereinigung gleiCh-il sam in einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muB.«19 Unter den modernen Bedingungen einer ins Extrem getriebenen Reflexion hiitet die Kuns~ und nicht die Philosophie, die Flamme jener ~bsoluten Iden.!kat, die sich einst in den festlichen Kulten von religiosen, Glaubensgemeinschaften entziindet hatte. Die Kunst, die in Gestalt einer neuen M ythologie ihren offentlichen Charakter zuriickgewanne, ware nicht mehr nur Organon, sondern Ziel und Zukunft der Philosophie. Diese konnte nach ihrer Vollendung in den Ozean der Poesie, von dem sie einst ihren Ausgang genommen hat, zuriickflieBen: »Welches das Mittelglied der Riickkehr der Wissenschaft zur Poesie sein werde, ist im Allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches in der Mythologie existiert hat ... Wie aber eine neue Mythologie ... entstehen konne, dies ist ein Problem, dessen Aufklarung allein von den kiinftigen Schicksalen der Welt zu erwarten ist.«20 Die Differenz zu Hegel ist augenfallig - nicht die spekulative Vernunft, allein die Poesie kann, sobald sie in der Form einer neuen Mythologie offentlich wlirksam wird, die vereinigende Macht der Religion ersetzen. Allerdings stellt Schelling ein ganzes philosophisches System auf, urn zu dieser Konsequenz zu gelangen. Es ist die spekulative Vernunft selber, die sich durch das Programm einer neuen Mythologie iiberbietet. Anders Schlegel, der dem Philosophen empfiehlt, sich »vom kriegerischen Schmuck des Systems (zu entkleiden) und mit Homer die Wohnung im Tempel der neuen Poesie (zu teilen).«21 In Schlegels Handen verwandelt sich die neue Mythologie aus einer philosophisch begriindeten Erwartung in eine messianische Hoffnung, die sich von historischen Anzeichen befliigeln laBt - von Anzeichen, die dafiir sprechen, »da~ die Menschheit 19 Schelling Bd. II, 628. 20 Schelling Bd. II, 629 . .21 Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II, 317. III
aus allen Kdften ringt, ihr Zentrum zu finden. Sie ~uB untergehen ... oder sich verjiingen ... Das graue Altertum wird wieder lebendig werden und die fernste Zukunft der Bildung sich schon in Vor.bedeut~ngen melden.«22 Die messianische Verzeitlichung dessen, was bei Sc&elling eine begriindete historische Erwartung war, ergibt sich aus dem veranderten Stellenwert, den Schlegel der spekulativen Vernunft zuweist. Diese hatte, gewiB, schon bei Schelling ihr Gravitationszentrum verlagert; die Vernunft konnte ihrer selbst nicht mehr im eigenen Medium der Selbstreflexion habhaft werden, konnte sich nur im vorgangigen Medium der Kunst wiederfinden. Aber was Schelling zufolge in den Produkten cler Kunst angeschaut werden kann, ist doch noch die objektiv gjewordene Vernunft-die Verschwisterung des Wahren und Guten im Schonen. Eben diese Einheit stellt Schlegel in Frage. Er beharrt auf der Autonomie des Schonen in dem Sinne, »daB es yom Wahren und Sittlichen getrennt ist, und daB es mit diesen gleiche Rechte (hat).«23 Die neue Mythologie solI ihre bindende Kraft gerade nicht einer Kunst verdanken, in der sich aile Momente der Vernunft verschwistern, sondern der divinatorischen Gabe der Poesie, die sich von Philosophie und Wissenschaft, Moral und Sittlichkeit gerade unterscheidet: »Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der verniinftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schone Verwirrung der Fantasie, in das urspriingliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, fiir das ich kein schoneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Gotter.«24 Schlegel versteht die neue ~ythologie nicht mehr als Versinnlichung der Vernunft, als ein Asthetischwerden der Ideen, die sich auf dies em Wege mit den Interessen des Volkes verbinden sollen. Nur eine autonom gewordene, von Beimengungen der theoretischen und praktischen Vernunft gereinigte Poesie offnet vielmehr das Tor zur Welt der mythischen Ursprungsmachte. Allein die moderne Kunst kann mit den 22 Schlegel, Bd. II, 314. 23 Athenaum Fragment Nr. 2p, Schlegel Bd. II, 207; vgl. dazu K. H. Bohrer, Friedrich Schlegels Rede tiber die Mythologie, in: ders. (Hrsg.), Mythos und Moderne, Ffm. 1983, pff. 24 Schlegel, Bd. II, 319. II2
archaischen Quellen sozialer Integration, die in der Moderne versiegt sind, kommunizieren. Nach dieser Lesart mutet die neue Mythologie der entzweiten Moderne zu, sich auf das »urspriingliche Chaos« als das Andere der Vernunft zu beziehen. Wenn aber der Erzeugung des neuen Mythos die Schubkraft der' Dialektik der Aufklarung fehlt, wenn die Erwartung »jenes groBen Prozesses allgemeiner Verjiingung« nicht mehr geschichtsphilosophisch begriindet werden kann, bedarf der romantische Messianismus 25 einer anderen Denkfigur. In dies em Zusammenhang verdient der Umstand Interesse, daB Dionysos, der umtriebige Gott des Rausches, des Wahnsinns und der ruhelosen Verwandlungen, in der Friihromantik eine iiberraschende Aufwertung erfahrt. Der Dionysos-Kult konnte fiir eine an sich selbst irre werdende Zeit der Aufklarung attraktiv werden, weil er im Griechenland.des Euripides und der sophistischen Kritik alte religiose Dberlieferungeri. wachgehalten hatte. Als das entscheidende Motiv nennt M. Frank aber den Umstand, daB Dionysos als der kommende Gott Erlosungshoffnungen auf sich ziehen konnte. 26 Zeus hat mit Semele, einer sterblichen Frau, den Dionysos gezeugt, der von Hera, der Gattin des Zeus, mit gottlichem Zorn verfolgt und schlieBlich in den Wahnsinn getrieben wird. Seither wandert Dionysos mit einer wilden Schar von Satyrn und Bacchantinnen durch N ordafrika und Kleinasien, ein »auslandischer Gott«, wie Holderlin sagt, der das Abendland in die »Gotternacht« stiirzt und allein die Gaben des Rausches zuriicklaBt. Aber Dionysos solI einst, durch die Mysterien wiedergeboren und yom Wahnsinn befreit, zuriickkehren. Von allen iibrigen griechischen Gottern unterscheidet sich Dionysos als der abwesende Gott, dessen Wiederkehr noch bevorsteht. Die Parallele zu Christus bot sich an: auch dieser ist gestorben und hinterlaBt, bis zum Tage seiner Wiederkehr, Brot und Wein. 27 Dionysos freilich hat das Besondere, daB er in seinen kultischen Exzes25 Zu diesem Ausdruck vgl. W. Lange, Tod ist bei G6ttern immer ein Vorteil, in: Bohrer (1983), 127. 26 Frank (1982), 12ff. 27 Die Gleichsetzung von Dionysos mit Christus urttersucht M. Frank (1982), 257H2, am Beispiel der H6lderlinschen Elegie »Brod und Wein«. Vgl. auch P. Szondi, H61derlin-Studien, Ffm. 1970, 95ff. II3
sen auch jenen Fundus an gesellschaftlicher Solidaritat gleichsam verwahrt, der dem christlichen Abendland, zusammen mit den archaischen Formen der Religiositat, verloren gegangen ist. So verknupft Holderlin mit dem Dionysosmythos jene eigentumliche Figur der Geschichtsdeutung, die eine messianische Erwartung tragen konnte und die bis zu Heidegger wirksam geblieben ist. Das Abendland verharrt, seit seinen Anfangen, in der N acht der Gotterferne oder der Seinsvergessenheit; der Gott der Zukunft wird die verlorenen Krafte des Ursprungs erneuern; und seine Ankunft macht der nahende Gott durch seine schmerzhaft zu BewuBtsein gebrachte Abwesenheit, durch »groBte Entfernung« fuhlbar; indem er die Verlassenen immer dringlicher empfinden laBt, was ihnen entzogen worden ist, verheiBt er seine Ruckkehr nur umso uberzeugender: in der groBten Gefahr wachst das Rettende auch. 28 Originell ist Nietzsche gerade nicht in seiner dionysischen Geschichtsbetrachtung. Die historische These uber den Ursprung des Chors der griechischen Tragodie aus dem altgriechischen Dionysoskult gewinnt ihre modernitatskritische Pointe aus einem Kontext, der in der Friihromantik bereits wohl ausgebildet worden ist. \1/ Umso mehr bedarf es der Erklarung, warum sich Nietzsche von dies em romantischen Hintergrund distanziert. Den Schlussel bietet J die Gleichung zwischen Dionysos und Christus, die ja nicht nur Holderlin vornimmt, sondern bei Novalis, Schelling, Creuzer, in I der Mythenrezeption der friihen Romantik insgesamt vorgenom,! men wird. Diese Identifizierung des taumelnden Weingottes mit \ dem christlichen Erlosergott ist nur moglich, weil der romantische Messianismus auf eine Verjiingung, aber nicht auf eine VerabschieVung des Abendlandes abzielt. Die neue Mythologie sollte eine ver, lorengegangene Solidaritat zuriickbringen, aber nicht die Emanzipation verleugnen, die die Ablosung von den mythis chen U rsprungsgewalten fur die im Angesicht des Einen Gottes individuierten Einzelnen auch herbeigefuhrt hat. 29 In der Romantik soUte
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28 Vgl. den Anfang des Gesangs »Patmos«: »Wo aber Gefahr ist, wachst das Rettende auch«, in: H61derlin, Samtliche Werke Bd. II, hg. v. F. Beissner, S. 173. 29 Jacob Taubes macht in diesem Zusammenhang die Beobachtung, daB Schelling im Hinblick auf diese Schwelle zwischen archaischem und geschichtlichem BewuBt-
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der Ruckgriff auf Dionysos mlr jene Dimension der offentlichen Freiheit erschlieBen, in der sich die christlichen VerheiBungen diesseitig erfuUen mussen, damit das durch Reformation und Aufklarung zugleich vertiefte und autoritar zur Herrschaft gebrachte Prinzip der Subjektivitat seine Beschranktheit verlieren kann.
III Der reife Nietzsche erkennt, daB der Wagner, in dem sich die Modernitat geradezu »resumiert«, die Perspektive auf die noch ausstehende Erfiillung des modernen Zeitalters mit den Romantikern teilte. Gerade Wagner treibt Nietzsche zur »Enttauschung uber Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung ubrig blieb«, weil er, ein verzweifelnder Dekadent, »plotzlich ... vor dem christlichen Kreuze nieder(sank)«. 30 Wagner bleibt also der romantischen Verbindung des Dionysischen mit dem Christlichen verhaftet. Sowenig wie die Romantiker wiirdigt er in Dionysos den Halbgott, der radikal yom Fluch der Identitat erlost, der das Prinzip der Individuierung auBer Kraft setzt, das Polymorphe gegen die Einheit des transzendenten Gottes, die Anomie gegen die Satzung zur Geltung bringt. In Apollo haben die Griechen die Individuation, die Einhaltungder Grenzen des Individuums, vergottlicht. Aber apollinische Schonheit und MaBigung verhullten nur den Untergrund des Titanischen und Barbarischen, der im ekstatischen Ton der Dionysosfeiern aufbrach: »Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und MaBen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustande unter und vergaB die apollinischen Satzungen.«31 Nietzsche erinnert an Schopenhauers Hinweis auf jenes »Grausen, welsein, zwischen der Philosophie der Mythologie und der der Offenbarung prononciert unterschieden hat: "Nicht ,Sein und Zeit< heiBt also das Programm des spaten Schelling, sondem ,Sein und Zeiten<. Mythische Zeit und Zeit der Offenbarung sind :qualitativ verschieden.« G. Taubes, Zur Konjunktur des Polytheismus, in: Bohrer (19 83),463 ·30 N. Bd. 6, 431 f. 31 N. Bd. 1,41.
ches den Menschen ergreift, wenn er plotzlich an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz yom Grunde ... eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu dies em Grausen die wonnevolle Verziickung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen«.32 Aber Nietzsche war nicht nur der Schiiler Schopenhauers, er war Zeitgenosse Mallarmes und der Symbolisten, ein Verfechter des l'art pour l'art. So geht in die Beschreibung des Dionysischen - als der Steigerung des Subjektiven bis zur volligen Selbstvergessenheit - auch die (gegeniiber der Romantik noch einmal radikalisierte) Erfahrung der zeitgenossischen Kunst ein. Was Nietzsche das »asthetische Phanomen« nennt, enthiillt sich im konzentrierten Umgang einer dezentrierten, von den Alltagskonventionen der Wahrnehmung und des Handelns freigesetzten Subjektivitat mit sich selbst. Erst wenn das Subjekt sich verliert, wenn es aus den pragmatischen Raum-Zeit-Erfahrungen ausschert, yom Schock des Plotzlichen beriihrt wird, »die Sehnsucht nach der wahren Prasenz« (Octavio Paz) erfiillt sieht und selbstverloren im Augenblick aufgeht; erst wenn die Kategorien des verstandigen Tuns und Denkens eingestiirzt, die Normen des taglichen Lebens zerbrochen, die Illusionen der eingeiibten Normalitat zerfallen sind - erst dann offnet sich die Welt des Unvorhergesehenen und schlechthin Uberraschenden, der Bereich des asthetischen Scheins, der weder verhiillt noch offenbart, weder Erscheinung noch Wesen ist, sondern nichts als Oberflache. Nietzsche setzt die romantische Reinigung des as thetis chen Phanomens von allen theoretischen und moralischen Beimengungen fort. 33 In der asthetischen Erfahrung wird die dio32 N. Bd. I, 28. 33 Er stilisiert Sokrates, der dem Irrtum verfaIlt, daB das Denken bis in die tiefsten Abgriinde des Seins hineinreicht, zum theoretischen Gegentyp des Kunstlers: »W enn namIich der Kiinstler bei jeder Enthiillung der Wahrheit immer nur mit verzuckten Blicken an dem hangen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthiillung, Bulle bleibt, genieBt und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Bulle.« (N. Bd. I, 88) Ebenso energisch wehrt sich Nietzsche gegen die von Aristoteles bis Schiller reichende moralische Erklarung des Asthetischen: »Pur die Erkla-
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nysische Wirklichkeit durch »eine Kluft des Vergessens« gegen die Welt der theoretischen Erkenntnis und des moralischen Handelns, gegen den Alltag abgeschottet. Die Kunst offnet den Zutritt zum Dionysischen nur um den Preis der Ekstase - um den Preis der schmerzhaften Entdifferenzierung, der Entgrenzung des Individuums, der Verschmelzung mit der amorphen Natur innen wie auBen. Deshalb kann der mythenlose Mensch der Moderne von der neuen Mythologie nur eine Art der Erlosung erwarten, die aIle Vermittlungen aufhebt. Diese Schopenhauersche Fassung des dionysischen Prinzips gibt dem Programm der neuen Mythologie eine Wendung, die dem romantischen Messianismus fremd gewesen war - es geht nun um eine totale Abkehr von der nihilistisch entleerten Moderne. Mit Nietzsche verzichtet die Kritik der Moderne zum ersten Mal auf die Einbehaltung ihres emanzipatorischen Gehaltes. Die subjektzentrierte Vernunft wird mit dem schlechthin Anderen der Vernunft konfrontiert. Und als Gegeninstanz zur Vernunft beschwort Nietzsche die ins Archaische zuriickverlegten Erfahrungen der Selbstenthiillung einer dezentrierten, von allen Beschrankungen derKognition und der Zwecktatigkeit, allen Imperativen der Niitzlichkeit und der Moral befreiten Subjektivitat. Zum Fluchtweg aus der Moderne wird jene »ZerreiBung des Prinzips der Individuation«. Diese kann freilich, wenn sie mehr sein solI als ein Schopenhauer-Zitat, allein durch die avancierteste Kunst der Moderne ihre Beglaubigung erhalten. Uber dies en Widerspruch kann sich Nietzsche hinwegtauschen, weil er das Vernunftmoment, das sich im Eigensinn des radikal ausdifferenzierten Bereichs der avantgardistischen Kunst zur Geltung bringt, aus dem Zusammenhang mit theoretischer und praktischer Vernunft herausbricht und ins metaphysisch verklarte Irtationale abdrangt. Bereits in der »Geburt der Tragodie« steht hinter der Kunst das Leben. Schon hier findet sich die eigentiimliche Theodizee, derzurung des tragischen Mythos ist es gerade die erste Porderung, die ihm eigentiimliche Lust in der rein asthetischen Sphare zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids, der Purcht, des Sittlich-Erhabenen uberzugreifen. Wie kann das BaBliche und das Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythos, eine asthetische Lust erregen?« (N. Bd. I, 152).
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folge die Welt allein als asthetisches Phanomen gerechtfertigt werden kann. 34 Die tiefe Grausamkeit und der Schmerz gelten wie die Lust als Projektionen eines schopferischen Geistes, der sich bedenkenlos dem zerstreuten GenuB an der Macht und Willkiirlichkeit seiner Scheingebilde liingibt. Die Welt erscheint als ein Gewebe aus Verstellungen und Interpretationen, denen keine Absicht und kein Text zugrundeliegen. Die sinnschopferische Potenz bildet zusammen mit einer Sensibilitat, die sich auf moglichst vielfaltige Weise affizieren laBt, den asthetischen Kern des Willens zur Macht. Dieser ist zugleich ein Wille zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zur Oberflache; und die Kunst dad als die eigentlich metaphysische Tatigkeit des Menschen gelten, weil dasLeben selbst auf Schein, Tauschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums beruht.35 Zu einer »Artistenmetaphysik« kann Nietzsche diesen Gedanken freilich nur ausgestalten, wenn er alles, was ist und was sein soll, aufs .Asthetische zuriickfiihrt. Es darf weder ontische, noch moralische Phiinomene geben, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem Nietzsche von asthetischen Phanomenen spricht. Diesem Beweisziel dienen die bekannten Entwiirfe zu einer pragmatistischen Erkenntnistheorie und zu einer N aturgeschichte der Moral, welche die Unterscheidung zwischen >wahr< und >falsch<, >gut< und >bose< auf Praferenzen fiir das Lebensdienliche und das Vornehme zuriickfiihren. 36 Nach dieser Analyse verbergen sich hinter den scheinbar universalen Geltungsanspriichen die subjektiven Machtanspriiche von Wertschatzungen. Auch in dies en Machtanspriichen kommt nicht der strategische Wille einzelner Subjekte zur Geltung. Der iibersubjektive Wille zur ) Macht manifestiert sich vielmehr im Hin- und Herfluten anonymer Dberwaltigungsprozesse. Die Theorie eines in allem Geschehen sich abspielenden Machtwillens bietet den Rahmen, in dem Nietzsche erklart, wie die Fiktionen einer Welt des Seienden und des Guten sowie die scheinhaften Iden34 Diese Lehre faBt Nietzsche in dem Satz zusammen: »Jedes Ubel ist gerechtfertigt, an dessen Anblick ein Gott sich erbaut.« (N. Bd. 5, 304). 35 N. Bd. I, 17f.; Bd. 5, 168; Bd. 12, 140. 36 J. Habermas, Zu Nietzsches Erkenntnistheorie, in: ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, Ffm. 1982, 505 ff.
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titaten erkennender und moralisch handelnder Subjekte entstehen, wie sich mit Seele und SelbstbewuBtsein eine Sphare der Innerlichkeit konstituiert, wie die Metaphysik, die Wissenschaft und das asketische Ideal zur Herrschaft gelangen - und schlieBlich: wie die subjektzentrierte Vernunft dieses ganze Inventar dem Ereignis einer unheilvoll masochistischen Verkehrung im Innersten des Willens zur Macht verdankt. Die nihilistische Herrschaft der subjektzentrierten Vernunft wird als Resultat und Ausdruck einer Pervertierung des Willens zur Macht begriffen. Da nun der unverdorbene Wille zur Macht nur die metaphysische Fassung des dionysischen Prinzips ist, kann Nietzsche den Nihilismus der Gegenwart als die Nacht der Gotterferne begreifen, in der sich das N ahen des abwesenden Gottes ankiindigt. Dessen »Abseits« und »J enseits« wird yom Yolk miBverstanden als eine Flucht vor der Wirklichkeit - »wahrend (es) nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlosung dieser Wirklichkeit heimbringe«.37 Nietzsche bestimmt den Zeitpunkt der Wiederkehr des Antichristen als »Glockenschlag des Mittags« - in merkwiirdiger Dbereinstimmung mit Baudelaires asthetischem ZeitbewuBtsein. In; der Stunde des Pan halt der Tag den Atem an, steht die Zeit stillvermahlt sich de'r transitorische Augenblick mit der Ewigkeit. Nietzsche verdankt seinen machttheoretisch entwickelten Begriff der Moderne einer demaskierenden Vernunftkritik, die sich selbst auBerhalb des Horizonts der Vernunft stellt. Diese Kritik verfiigt iiber eine gewisse Suggestivitat, weil sie mindestens implizit an MaBstabe appelliert, die den Grunderfahrungen der asthetischen Moderne entlehnt sind. Nietzsche inthronisiert ja den Geschmack, »dasJa und Nein des Gaumens«, als Organ einer Erkenntnis jenseits von Wahr und Falsch, jenseits von Gut und Bose. Aber er kann die zuriickbehaltenen MaBstabe des asthetischen Urteils nicht legitimieren, weil er die asthetischen Erfahrungen ins Archaische transponiert, weil er das im Umgang mit moderner Kunst gescharfte kritische Vermogen der Wertschatzung nicht als ein Moment der Vernunft anerkannt, das wenigstens prozedural, im Verfahren 37 N. Bd. 5,336.
argumentativer Begriindung, mit objektivierender ~rkenntnis und moralischer Einsicht noch zusammenhangt. Das Asthetische, als das Tor zum Dionysischen, wird vielmehr zum Anderen der Vernunft hypostasiert. So verfangen sich die machttheoretischen Enthiillu~gen im Dilemma einer selbstbeziiglichen, total gewordenen Kritik der Vernunft. 1m Riickblick auf die »Geburt der Tragodie« gesteht sich Nietzsche die jugendliche Naivitat seines Versuches ein, die Wissenschaft »auf den Boden der Kunst zu stellen, die Wissenschaft unter der Optik des Kiinstlers zu sehen«.38 Aber auch im Alter konnte er sich keine Klarheit dariiber verschaffen, was es heillt, eine Ideologiekritik zu treiben, die ihre eigenen Grundlagen angreift. 39 Er schwankt am Ende zwischen zwei Strategien. Auf der einen Seite suggeriert sich Nietzsche die Moglichkeit einer attistischen Weltbetrachtung, die mit wissenschaftlichen Mitteln, aber in antimetaphysischer, antiromantischer, pessimistischer und skeptischer Einstellung durchgefiihrt wird. Eine historische Wissenschaft dieser Art solI, weil sie im Dienste der Philosophie des Willens zur Macht steht, der Illusion des Wahrheitsglaubens entgehen konnen. 40 Dann miiBte freilich die Geltung dieser Philosophie vorausgesetzt werden diirfen. Deshalb muB Nietzsche auf der anderen Seite die Moglichkeit einer Kritik der Metaphysik behaupten, die die Wurzeln des metaphysis chen Denkens ausgrabt, ohne sich aber selbst als Philosophie aufzugeben. Er erklart Dionysos zum Philosophen und sich selbst zum letzten Jiinger und Eingeweihten dieses philosophierenden Gottes. 41 Auf beiden Pfaden ist Nietzsches Kritik der Moderne fortgesetzt worden. Der skeptische Wissenschaftler, der die Pervertierung des Willens zur Macht, den Aufstand der reaktiven Krafte und die Entstehung der subjektzentrierten Vernunft mit anthropologischen, psychologischen und historischen Methoden enthiillen mochte, findet Nachfolger in Bataille, Lacan und Foucault; der eingeweihte Kritiker der Metaphysik, der ein Sonderwissen in Anspruch nimmt und die Entstehung der Subjektphilosophie bis in die vorsokratischen Anfange hinein verfolgt, in Heidegger und Derrida. 38 N. Bd. I, 13f. 39 Vgl. Genealogie der Moral, N. Bd. 5,398-4°5. 40 N. Bd. 12, 159f. 41 N. Bd. 5,238. 120
IV Heidegger mochte die wesentlichen Motive von Nietzsches dionysischem Messianismus aufnehmen, aber den Aporien einer selbstbeziiglichen Kritik cler Vernunft entgehen. Der »wissenschaftlich« operierende Nietzsche wollte das moderne Denken auf den Bahnen einer Genealogie des Wahrheitsglaubens und des asketischen Ideals iiber sich hinaus schleudern; Heidegger, der in dieser machttheoretischen Entlarvungsstrategie einen nicht getilgten Rest von Aufklarung wittert, halt sich lieber an den »Philosophen« Nietzsche. Das Ziel, das Nietzsche mit einer totalisierten, sich selbst verzehrenden Ideologiekritik verfolgte, will Heidegger mit einer immanent ansetienden Destruktion der abendlandischen Metaphysik erreichen. Nietzsche hatte den Bogen des dionysischen Geschehens ausgespannt zwischen altgriechischer Tragodie und neuer Mythologie. Heideggers Spatphilosophie laBt sich als der Versuch verstehen, dleses Geschehen yom Schauplatz der asthetisch erneuerten Mythologie auf den der Philosophie zu verlegen. 42 Heidegger steht zunachst vor der Aufgabe, die Philosophie an den Platz zu setzen, den bei Nietzsche die Kunst (als Gegenbewegung zum Nihilismus) einnimmt, um dann das philosophische Denken so zu transformieren, daB es zum Schauplatz fiir die Erstarrung und die Erneuerung der dionysischen Krafte werden kann. Heraufkunft und Dberwindung des Nihilismus will er als Anfang und Ende der Metaphysik beschreiben. Heideggers erste Nietzsche-Vorlesung steht unter dem Titel »Der Wille zur Macht als Kunst«. Sie stiitzt sich vor allem auf die NachlaBfragmente, die in der Kompilation der Elisabeth Foerster-Nietzsche zum ungeschriebenen Hauptwerk »Der Wille zur Macht« auf42 Heidegger hat sich in demJahrzehntzwischen 1935 und 1945, also zwischen der • },Einfiihrung in die Metaphysik«, die noch Spuren des faschistischen Heidegger zeigt, und dem »Brief iiber den Humanismus«, der die Nachkriegsphilosophie einleitet, kontinuierlich mit Nietzsche beschaftigt. Die Idee der Seinsgeschichte hat sich in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Philosophen Nietzsche formiert. Das erkennt Heidegger 1961 in dem Vorwort zu den beiden Banden, die diesen Abschnitt seines Denkweges dokumentieren, ausdriicklich an: M. Heidegger, Nietzsche, pfulIingen 1961, Bd. I, 9f. 121
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gebauscht worden sind. 43 Heidegger versucht die These zu belegen, »daB Nietzsche in der Bahn des Fragens der abendlandischen Philosophie steht«.44 Er nennt zwar den Denker, der »mit seiner Metaphysik an den Anfang der abendliindischen Philosophie zuriickkommt«45 und die Gegenbewegung zum Nihilismus anfiihrt, einen »Kiinstler-Philosophen«, aber Nietzsches Gedanken iiber die rettende Kraft der Kunst sollen nur »dem nachsten Anschein nach asthetisch, (ihrem) innersten Willen nach metaphysisch (S~in).«46 Heideggers klassizistisches Kunstverstandnis fordert diese Interpretation; Heidegger ist wie Hegel davon iiberzeugt, daB die Kunst mit der Romantik an ihr wesentliches Ende gelangt ist. Ein Vergleich mit Walter Benjamin konnte zeigen, wie wenig Heidegger von den genuinen Erfahrungen der avantgardistischen Kunst je beriihrt worden ist. Darum hat er auch nicht begreifen konnen, warum sich nur eine subjektivistisch zugespitzte und radikal ausdifferenzierte Kunst, die aus der Selbsterfahrung einer dezentrierten Subjektivitat beharrIich den Eigensinn des Asthetischen entwickelt, als Inaugurator einer neuen Mythologie empfiehitY Urn so leichter fallt ihm die Einebnung des »asthetischen Phiinomens« und die Angleichung von Kunst an Metaphysik. Das Schone laBt das Sein aufleuchten: »Schonheit und Wahrheit sind beide auf das Sein bezogen, und zwar beide in der Weise der Enthiillung des Seins des Seienden.«48 Spater wird es heiBen, daB der Dichter das Heilige verkiindet, welches sich dem Denker offenbart. Das Dichten und das Denken sind 43 Diese Fiktion ist durch die Ausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari restlos zerstort worden, vgl. deren Kommentare zum Spatwerk N. Bd. 14, 383ff. und die Chronik zu Nietzsches Leben, N. Bd. 15. 44 Heidegger (1961), Bd. I, 12. 45 Heidegger (1961), Bd. 1,27. 46 Heidegger (1961), Bd. I, 154. 47 In dieser Hinsicht beweist eine unvergleichlich groG ere Sensibilitat Oskar Becker mit seinem dualistischen Gegenentwurf zu Heideggers Fundamentalontologie: o. Becker, Von der Hinfalligkeit des Schonen und der Abenteuerlichkeit des Kiinstlers; ders., Von der Abenteuerlichkeit des Kiinsders und der vorsichtigen Verwegenheit des Philosophen, in: ders., Dasein und Dawesen, Gesammelte philosophische Aufsatze, Pfullingen 1963, I I ff. und 103 ff. 48 Heidegger (1961), Nd. I, 23 I. 122
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zwar aufeinander verwiesen, aber am Ende soll doch das Dichten dem anfanglichen Denken entspringen. 49 N achdem die Kunst auf diese Weise ontologisiert worden ist50, muB die Philosophie wiederum eine Aufgabe iibernehmen, die sie in der Romantik an die Kunst abgetreten hatte - niimlich ein .Aquivalent fur die vereinigende Macht der Religion zu schaffen, urn den Entzweiungen der Moderne entgegenzuwirken. Nietzsche hatte dem asthetisch erneuerten Dionysos-Mythos die Uberwindung des NihiIismus anvertraut. Heidegger projiziert dieses dionysische Geschehen auf die Leinwand einer Metaphysikkritik, der dadurch weltgeschichtIiche Bedeutung zuwachst. Es ist nun das Sein, das sich yom Seienden zuriickgezogen hat und das seine unbestimmte Ankunft durch die fiihlbar gemachte Abwesenheit und den wachsenden Schmerz der Entbehrung ankiindigt. Das Denken, das diesem iiber die abendlahdische Philosophie verhangten Schicksal der Seinsvergessenheit nachgeht, hat eine katalysatorische Funktion. Das gleichzeitig aus der Metaphysik hervorgehende; in die Anfange der Metaphysik zuriickfragende, die Schranken der Metaphysik von innen iibersteigende Denken teilt nicht mehr das Selbstvertrauen einer auf ihre Autonomie pochenden Vernunft. GewiB, die Schichten, unter denen das Sein verschiittet ist, miissen abgetragen werden. Aber die Arbeit der Destruktion dient, anders als die Kraft der Reflexion, der Einiibung in eine neue Heteronomie. Sie richtet ihre Energie einzig auf die Selbstiiberwindung und Selbstentsagung einer Subjektivitat, die das Ausharren lernen muB und in Demut zergehen soll. Die Vernunft selbst kann nur in der unheilvollen Aktivitat des Vergessens und Vertreibens tatig sein. Auch der Erinnerung fehlt die Kraft, das Exilierte zur Riickkehr zu bewegen. So kann sich denn das Sein nur als ein Geschick ereignen, fiir das sich die, die seiner bediirfen, allenfalls offnen und bereithalten. Heideggers Vernunftkritik endet in der Distanz hei. schenden Radikalitat einer alles durchdringenden, aber inhaltslee49 Nachwort zu: Was ist Metaphysik? in: M. Heidegger, Wegmarken, Ffm. 1978, 30 9. 50 Heidegger resiimiert seine erste Nietzschevorlesung mit den Worten: »Vom W esen des Seins aus muG die Kunst als das Grundgeschehen des Seienden, als das eigentlich Schaffende begriffen werden.« 12 3
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ren Einstellungsanderung - weg von der Autonomie und hin zu einer Hingabe ans Sein, die den Gegensatz von Autonomje und Heteronomie angeblich hinter sich laBt. Eine andere Richtung nimmt die durch Nietzsche inspirierte Vernunftkritik bei Bataille. Auch dieser verwendet den Begriff des Heiligen fur jene dezentrierenden Erfahrungen eines ambivalenten Entzuckens, in denen die verhartete Subjektivitat sich ihrer selbst entauBert. Exemplarisch sind Handlungen des religiosen Opfers und der erotischen Verschmelzung, in denen das Subjekt »von seiner Ichbezogenheit loskommen« und einer wiederhergestellten »Kontinuitat des Seins« Platz machen mochte. 51 Auch Bataille spurt einer urspriinglichen Gewalt nach, die den Bruch zwischen der vernunftig disziplinierten Welt der Arbeit und dem verfemten Anderen der Vernunft heilen konnte. Die uberwaltigende Ruckkehr in eine verlorene Kontinuitat des Seins stellt sich Bataille als Eruption der vernunftwidrigen Elemente dar, als hinreiBenden Akt der Entgrenzung des Selbst. In diesem AuflosungsprozeB wird die monadisch abgeschlossene Subjektivitat der sich gegeneinander behauptenden Individuen enteignet und in den Abgrund gesturzt. Freilich nahert sich Bataille dieser dionysischen, gegen das Prinzip der Individuation gerichteten Gewalt nicht auf dem verhaltenen Wege einer als Exerzitium vorgefuhrten Selbstuberwindung des metaphysisch befangenen Denkens, sondern im direkt beschreibenden und analysierenden Zugriff auf Phanomene der Selbstuberschreitung und Selbstausloschung des zweckrational handelnden Subjekts. Offensichtlich sind es die bacchantischen Zuge eines orgiastischen Willens zur Macht, die Bataille interessieren - die schopferische und schenkende Aktivitat eines Machtwillens, der sich in Spiel, Tanz, Dberschwang und Taumel ebenso manifestiert wie in jenen Erregungen, die durch Destruktion, durch den Grauen und Lust erregenden Anblick des Schmerzes und des gewaltsamen T odes ausgelost werden. Der neugierige Blick, mit dem Bataille die Grenzerfahrungen der' rituellen Opferhandlung und des sexuellen Liebesaktes geduldig seziert, ist durch eine Asthetik des Schreckens gelenkt und informiert. Der langjahrige Parteiganger und spatere Kontrahent von Andre Breton geht nicht, 51 G. Bataille, Der heilige Eros, Ffrn. 1982, Einfiihrung S. loff. 124
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wie Heidegger, an der asthetischen Grunderfahrung Nietzsches vorbei, sondern folgt der Radikalisierung dieser Erfahrung im Surrealismus. Wie besessen untersucht Bataille jene ambivalenten, aus der Bahn werfenden Gefuhlsreaktionen von Scham, Ekel, Entsetzen und sadistischer Genugtuung, die durch plotzliche, verletzende, anstoBige, gewaltsam hereinbrechende Eindriicke ausgelost werden. In dies en explosiven Erregungen vereinigen sich die gegenlaufigen Tendenzen des Verlangens und des erschreckenden Zuriickweichens zur lahmenden Faszination. Ekel, Widerwille und Abscheu verschmelzen mit Wollust, Entzucken und Gier. Das BewuBtsein, das diesen zerreiBenden Ambivalenzen ausgesetzt ist, gerat auBer Fassung. Die Surrealisten wollten diesen Schockzustand mit aggressiv eingesetzten, asthetischen Mitteln auslosen. Bataille verfolgt die Spuren dieser »profanen Erleuchtung« (Benjamin) zuruck bis zu den Tabus des menschlichen Leichnams, des Kannibalismus, des nackten Korpers, des Menstrualblutes, des Inzestes usw. Diese anthropologischen Untersuchungen, die uns noch beschaftigen werden, bieten den Ansatzpunkt fur eine Theorie der Souveranitat. Wie Nietzsche in der »Genealogie der Moral« so untersucht Bataille die Ausgrenzung und immervollstandigere Ausrottung alles Heterogenen, wodurch sich die moderne Welt zweckrationaler Arbeit, Konsumtion und Machtausubung erst konstituiert. Bataille scheut sich nicht, eineGeschichte der abendlandischen Vernunft zu konstruieren, die, wie Heideggers Kritik der Metaphysik, die Neuzeit als eine Epoche der Auszehrung beschreibt. Aber bei Bataille erscheinen die heterogenen, verstoBenen Elemente nicht in der Gestalt eines mystisch herbeigedachten apokalyptischen Geschicks, sondern als subversive Kdfte, die sich nur dann konvulsivisch entladen mussen, wenn sie nicht doch noch in einer libertar sozialistischen Gesellschaft entfesselt werden. Fur dieses Recht des erneuerten Sakralen ficht Bataille auf paradoxe Weise mit den Mitteln der wissenschaftlichen Analyse. Er macht das methodische Denken keineswegs vedchtlich. »Niemand (kann) das Problem der Religion stellen, wenn er von willkurlichen Losungen ausgeht, die der gegenwartige Geist der Genauigkeit nicht zulaBt. Insofern, als ich von innerer Erfahrung und nicht von 12
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Objekten spreche, bin ich kein Mann der Wissenschaft, aber in dem Augenblick, in dem ich von Objekten spreche, tue ich es mit der unvermeidlichen Strenge der Wissenschaftler.«52 Bataille trennt von Heidegger sowohl sein Zugang zu einer genuin asthetischen Erfahrung, aus der er den Begriff des Heiligen schopft, wie auch der Respekt vor dem wissenschaftlichen Charakter einer Erkenntnis, die Bataille fiir die Analyse des Heiligen in Dienst nehmen mochte. Gleichwohl ergeben sich Parallelen zwischen beiden Denkern, wenn man ihre Beitrage zum philosophischen Diskurs der Moderne betrachtet. Die strukturellen Ahnlichkeiten erklaren sich daraus, daB Heidegger und Bataille in der Nachfolge Nietzsches dieselbe Aufgabe losen wollen. Beide wollen eine radikale Vernunftkritik durchfiihren - eine, die die Wurzeln der Kritik selbst angreift. Aus dieser iibereinstimmenden Problemstellung ergeben sich formal ahnliche Argumentationszwange. Zunachst muB der Gegenstand der Kritik so scharf bestimmt werden, daB wir darin die subjektzentrierte Vernunft als das Prinzip der Moderne wiedererkennen konnen. Heidegger wahlt das objektivierende Denken der modernen Wissenschaften, Bataille das zweckrationale Handeln des kapitalistischen Betriebs und des biirokratisierten Staatsapparates zum Ausgangspunkt. Der eine, Heidegger, untersucht die ontologischen Grundbegriffe der BewuBtseinsphilosophie, urn den Willen zur technischen Verfiigung iiber vergegenstandlichte Prozesse als den Impuls bloBzulegen, der das Denken von Descartes bis zu Nietzsche beherrscht. Subjektivitat und Verdinglichung verstellen den Blick auf das Unverfiigbare. Der andere, Bataille, untersucht jene Imperative der Wirtschaftli~hkeit und der Effizienz, denen Arbeit und Konsum immer ausschlieBlicher unterworfen worden sind, urn im industriellen Produktivismus eine allen modernen Gesellschaften innewohnende T endenz zur Selbstzerstorung dingfest zu machen. Die durchrationalisierte Gesellschaft verhindert namlich die unproduktive Verausgabung und generose Verschwendung des akkumulierten Reichtums. Da die totalisierte Vernunftkritik die Hoffnung auf eine Dialektik der Aufkiarung preisgegeben hat, muB, was dieser Kritik verfant, 52 Ebd.,29.
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so umfassend sein, daB sich das Andere der Vernunft, die Gegenkrafte des Seins oder der Souveranitat, nicht am Ende doch nur als verdrangte und unterdriickte Momente der Vernunft selber zu erkennen geben. Deshalb greifen Heidegger und Bataille mit Nietzsche hinter die Anfange der abendlandischen Geschichte auf archaische Friihzeiten zuriick, urn die Spuren des Dionysischen sei es im Denken der Vorsokratiker oder in den Erregungszustanden sakraler Opferrituale wiederzufinden. Hier miissen sich jene verschiitteten, wegrationalisierten Erfahrungen identifizieren lassen, die die Ausdriicke des »Seins« und der »Souveranitat« mit Leben erfiillen konnen. Beides sind zunachst nur Namen. Sie miissen derart als Kontrastbegriffe zur Vernunft eingefiihrt werden, daB sie gegeniiber allen rationalen Einverleibungsversuchen resistent bleiben. Das »Sein« wird definiert als dasjenige, was sich von der gegenstandlich gedachten Totalitat des Seienden zuruckgezogen hat, die »Souveranitat« als dasjenige, was von der Welt des Niitzlichen und Berechenbaren ausgeschlossen worden ist. Diese Ursprungsmachte erscheinen in Bildern einer zu verschenkenden, abervorenthaltenen und entbehrten Fiille - eines Reichtums, der der Verschwendung harrt. Wahrend die Vernunft durch kalkulierende Verfiigbarmachung und Verwertung bestimmt ist, laBt sich ihr Anderes nur negativ als das schlechthin Unverfiigbare und Nichtverwertbare kennzeichnen - als ein Medium, in welches das Subjekt nur eintauchen kann, wenn es sich als Subjekt aufgibt und iiberschreitet. Beide Momente, die Vernunft und ihr Anderes, stehen nicht in einer auf dialektische Aufhebung verweisenden Opposition, sondern in einem Spannungsverhaltnis der gegenseitigen AbstoBung und Exklusion. Ihre Beziehung wird nicht durch die Dynamik einer Verddngung konstituiert, die durch gegenlaufige Prozesse der Selbstreflexion oder der aufgeklarten Praxis riickgangig gemacht werden konnte. Vielmehr ist die Vernunft der Dynamik des Riickzugs und des Zuriicklassens, des Ausgrenzens und der Verfemung so ohnmachtig ausgeliefert, daB die bornierte Subjektivitat an das, . was sich ihr entzieht oder was sie von sich fernhalt, mit den ihr eigenen Kraften der Anamnese und der Analyse nicht heranreicht. . Der Selbstreflexion bleibt das Andere der Reflexion verschlossen. Es regiert ein Spiel von Kdften metageschichtlicher oder kosmisch12 7
naturhafter Art, welches eine Anstrengung anderer Observanz erfordert. Dieparadoxe Anstrengung einer sich selbst iiberschreitenden Vernunft nimmt bei Heidegger freilich die chiliastische Form eines instandigen, das Seinsgeschick beschworenden Andenkens an, wahrend sich Bataille von einer heterologisch angelegten Soziologie des Heiligen zwar Aufkiarung iiber, aber schlieBlich doch keine EinfluBnahme auf das transzendente Spiel der Kr1ifte verspricht. Beide Autoren fiihren ihre Theorie auf dem Wege einer erzahlenden Rekonstruktion der Geschichte der aberidlandischen Vernunft durch. Heidegger, der die Vernunft am Leitfaden der Subjektphilosophie als SelbstbewuBtsein auslegt, begreift den Nihilismus als Ausdruck einer totalitar entfesselten technischen Weltbemachtigung. Darin soll sich das Verhangnis eines metaphysischen Denkens vollenden, welches von der Frage nach dem Sein in Gang gesetzt worden ist und gleichwohl dieses Wesentliche vor dem Ganzen des reifizierten Seienden immer weiter aus den Augen verliert. Bataille, der die Vernunft am Leitfaden der Praxisphilosophie als Arbeit auslegt, begreift den Nihilismus als Folge eines totalitar verselbstandigten Akkumulationszwangs. Darin vollendet sich das Verhangnis einer DberschuBproduktion, die zunachst noch der festlich-souveranen EntauBerung diente, die dann aber immer mehr Ressourcen fiir den Zweck der Produktionssteigerung verbraucht, Verschwendung in Konsum verwandelt und der schopferisch-hingebungsvollen Souveranitat den Boden entzieht. Seinsvergessenheit und AusstoBung des verfeinten Teils sind die beiden dialektischen Bilder, die bis heute all jene Versuche inspirieren, welche die Vernunftkritik von den Denkfiguren einer in sich dialektischen Aufkiarung losen und das Andere der Vernunft zu einer Instanz erheben wollen, vor der die Moderne zur Ordnung gerufen werden kann. Deshalb werde ich einerseits an Heideggers Spatphilosophie (und der produktiven Fortfiihrung dieser philosophischen Mystik durch Derrida), andererseits an Batailles allgemeiner Okonomie (und Foucaults machttheoretisch begriindeter Genealogie des Wissens) priifen, ob diese beiden Wege, die Nietzsche gewiesen hat, tatsachlich ausder Subjektphilosophie herausfiihren. 128
Heidegger hat die Kunst entschlossen ontologisiert und alles auf die Karte einer destruierend freisetzenden Denkbewegung gesetzt, die die Metaphysik aus sich selbst heraus iiberwinden soll. Dadurch entgeht er den Aporien einer selbstbeziiglichen Vernunftkritik, die ihre eigenen Grundlagen zerstoren muB. Mit der ontologischen Wendung des dionysischen Messianismus bindet er sich freilich derart an Ausgangsfrage, Denkstil und Begriindungsmodus der Ursprungsphilosophie, daB er den Fundamentalismus der Husserlschen Phanomenologie nur urn den Preis einer ins Leere laufenden Fundamentalisierung der Geschichte iiberwinden kann. Heidegger versucht, aus dem Bannkreis der Subjektphilosophie dadurch, daB er deren Grundlagen temporal verfliissigt, auszubrechen. Aber der Superfundamentalismus der von aller konkreten Geschichte abstrahierenden Seinsgeschichte verrat, daB er an das negierte Denken fixiert bleibt. Demgegeniiber bleibt Bataille einer unverfalschten asthetischen Grunderfahrung des Dionysischen treu und erschlieBt sich einen Phanomenbereich, an dem sich die subjektzentrierte Vernunft als ihrem Anderen spiegeln kann. Freilich darf er sich die moderne Herkunft dieser. Erfahrung aus dem Surrealismus nicht eingestehen, er muB diese mit Hilfe anthropologischer Erkenntnisse ins Archaische verpflanzen. So verfolgt Bataille das Projekt einer wissenschaftlichen Analyse des Heiligen und einer allgemeinen Okonomie, die den weltgeschichtlichen RationalisierungsprozeB und die Moglichkeit einer letzten Umkehr erkiaren sollen. Dabei gerat er in dasselbe Dilemma wie Nietzsche: die Theorie der Macht kann nicht dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivitat geniigen und gleichzeitig das Programm einer totalen und damit selbstbeziiglichen, auch die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen affizierenden Vernunftkritik einlosen. Bevor ich den beiden von Nietzsche gebahnten, von Heidegger und Bataille beschrittenen Wegen in die Postmoderne folge, mochte ich bei einem, von hier aus gesehen, retardierenden Gedankengang verweilen: bei Horkheimers und Adornos zweideutigem Versuch einer Dialektik der Aufkiarung, die Nietzsches radikaler Vernunftkritik Genugtuung widerfahren laBt.
V. Die Verschlingung von Mythos und Aufk.l:irung: Horkheimer und Adorno Die dunklen Schriftsteller des Biirgertums wie Machiavelli, Hobbes, Mandeville, hatten es dem von Schopenhauer eingenommenen Horkheimer schon immer angetan. Auch sie dachten freilich noch konstruktiv, von ihren Disharmonien fiihrten noch Linien zur Marxschen Gesellschaftstheorie. Die schwarzen Schriftsteller des Biirgertums, allen voran der Marquis de Sade und Nietzsche, haben diese Verbindungen unterbrochen. An sie kniipfen Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklarung, ihrem schwarzesten Buch an, urn den SelbstzerstorungsprozeB der Aufklarung auf den Begriff zu bringen. Auf dessen l6sende Kraft durften sie, ihrenAnalysen zufolge, nicht mehr hoffen. Geleitet von Benjamins ironisch gewordener Hoffnung der Hoffnungslosen, wollten sie von der paradox gewordenen Arbeit des Begriffs gleichwohl nicht lassen. Diese Stimmung, diese Einstellung ist nicht mehr die unsere. Dennoch breiten sich, im Zeichen eines poststrukturalistisch erneuerten Nietzsche, Stimmungen und Einstellungen aus, die jener zum Verwechseln ahnlich sind. Dieser Verwechslung m6chte ich vorbeugen. Die Dialektik der Aufklarung ist ein merkwiirdiges Buch. In wesentlichen Teilen ist es aus Notizen entstanden, die Gretel Adorno bei Diskussionen zwischen Horkheimer und Adorno in Santa Monica aufgenommen hat. Der Text istl 944 abgeschlossen worden und drei Jahre spater im Querido-Verlag in Amsterdam erschienen. Exemplare dieser ersten Auflage waren fast zwanzig Jahre lang erhaltlich. Die Wirkungsgeschichte des Buches, mit dem Horkheimer und Adorno auf die intellektuelle Entwicklung der Bundesrepublik vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten EinfluB genommen haben, steht in einem kuriosen Verhaltnis zur Zahl seiner Kaufer. Merkwiirdig ist auch die Komposition des Buches. Es besteht aus einem Aufsatz von etwas mehr als fiinfzig Seiten, zwei Exkursen und drei Anhangen. Diese nehmen mehr als die Halfte des Textes ein. Die eher uniibersichtliche Form der Darstellung laBt 13°
die klare Struktur der Gedankenfiihrung nicht auf den ersten Blick erkennen. Ich werde deshalb zunachst die beiden zentralen Thesen erklaren (I). Aus der Einschatzung der Moderne ergibt sich das Problem, das mich im Hinblick auf die heutige Situation interessiert: warum Horkheimer und Adorno die Aufklarung radikal iiber sich aufklaren wollen (II). Das groBe Vorbild fiir eine totalisierende Selbstiiberbietung der Ideologiekritik war Nietzsche. Der Vergleich von Horkheimer und Adorno mit Nietzsche belehrt nicht nur iiber die kontraren Richtungen, in die beide Seiten ihre Kulturkritik vorantreiben (III), er weckt auch Zweifel an dem wiederholten Reflexivwerden der Aufklarung selber (IV). I
In der Tradition der Aufklarung ist das aufklarende Denken zugleich als Gegensatz und als Gegenkraft zum Mythos verstanden worden. Ais Gegensatz, weil es der autoritaren Verbindlichkeit einer in der Kette der Geschlechter verzahnten Uberlieferung den zwanglosen Zwang des besseren Arguments entgegenstellt; als entgegenwirkende Kraft, weil es den Bann kollektiver Machte durch individuell erworbene, in Motive umgesetzte Einsichten brechen solI. Die Aufklarung widerspricht dem Mythos und entzieht sich dadurch seiner Gewalt. 1 Diesem Kontrast, dessen sich das aufgeklarte Denken so sicher ist, setzen Horkheimer und Adorno die ( These ei?er heimlichen Komplizenschaft entgegen: »Schon der Mythos 1st Aufklarung und: Aufklarung schlagt in Mythologie zuriick.«2 Diese im Vorwort angekiindigte These wird im Titelaufsatz entwickelt und in der Form einer Interpretation der Odyssee helegt. Aus dem vorweggenommenen philologischen Einwand, daB die Autoren mit der Wahl der spaten epischen Verarbeitung einer aus der Sicht Homers schon auf Distanz gebrachten mythischen Uberlieferung eine petitio principii begehen, wird ein methodischer VorbK. Heinrich, Versuch tiber die Schwierigkeit Nein zu sagen, Ffrn. 19 64. 2.,Dialektik der Aufklarung, Amsterdam 1947,10; irn folgenden zitiert als DA. Vgl. auch rnein Nachwort zur Neuauflage, Ffrn. 19 85.
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zug abgeleitet: »In den Stoffschichten Homers haben die Mythen sich niedergeschlagen; der Bericht von ihnen aber, die Einheii, die den diffusen Sagen abgezwungen ward, ist zugleich die Beschreibung der Fluchtbahn des Subjekts vor den mythischen Machten« (DA, 61). In den Abenteuern des im doppelten Sinne verschlagenen Odysseus spiegelt sich die Urgeschichte einer Subjektivitat, die sich der Gewalt der mythischen Machte entwindet. Die mythische Welt ist nicht die Heimat, sondern das Labyrinth, dem es urn der eigenen Identitat willen zu entrinnen gilt: »Heimweh ist es, das die Abenteuer entbindet, durch welche Subjektivitat, deren Urgeschichte die Odyssee gibt, der Vorwelt entrinnt. DaB der Begriff der Heimat dem Mythos entgegensteht, den die Faschisten zur Heimat umlugen mochten, darin ist die innerste Paradoxie der Epopoe beschlossen« (DA, 96f.). GewiB rufen die mythischen Erzahlungen den Einzelnen zu den genealogisch, durch die Kette der Geschlechter vermittelten U rsprungen zuriick; aber die rituellen Veranstaltungen, die die schuldhafte Entfernung von den Urspriingen uberbriicken und heilen sollen, vertiefen zugleich die Kluft. 3 Der Ursprungsmythos halt den Doppelsinn des »Entspringens« fest: den Schauder vor der Entwurzelung und das Aufatmen uber das Entkommen. Deshalb verfolgen Horkheimer und Adorno die List des Odysseus bis ins Innerste der Opferhandlungen; dies en wohnt ein Moment des Betrugs insoweit inne, wie sich die Menschen yom Fluch der rachenden Gewalten durch die Darbietung symbolisch aufgewerteter Stellvertreter 10skaufen.4 Diese Schicht des Mythos kennzeichnet die Ambivalenz einer BewuBtseinsstellung, fur die die rituelle Praxis beides ist, real und scheinhaft. Lebensnotwendig fur das kollektive BewuBtsein ist die regenerierende Kraft einer rituel~en Ruckkehr zu den Urspriingen, die den sozialen Zusammenhalt, wie Durkheim gezeigt hat, garantiert; aber ebenso notwendig ist der 3 K. Heinrich, Dahlemer Vorlesungen, Basel/Frankfurt 1981, 122f. 4 »Uralt muB die Erfahrung sein, daB die symbolische Kommunikation mit der Gottheit durchs Opfer nicht real ist. Die im Opfer gelegene Stellvertretung, verherrlicht von neumodischen Irrationalisten, ist nicht zu trennen von der Vergottung des Geopferten, dem Trug, der priesterlichen Rationalisierung des Mordes durch Apotheose des Erwahlten« (DA, 66).
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bloB scheinhafte Charakter der Ruckkehr zu den Urspriingen, denen das Mitglied des stammesgesellschaftlichen Kollektivs, indem es sich zum Ich formiert, zugleich entkommen muB. So besetzen die Ursprungsmachte, die gleichzeitig geheiligt und uberlistet werden, in der Urgeschichte der Subjektivitat bereits eine erste Stufe der Aufkiarung (DA, 60). Gelingende Aufkiarung ware es, wenn die Entfernung von den Urspriingen Befreiung bedeutete. Die mythische Gewalt erweist sich aber als das retardierende Moment, das die erstrebte Emanzipacion anhalt, eine auch als Gefangenschaft erfahrene Bindung an die Ursprunge immer wieder prolongiert. Aufkiarung nennen deshalb Horkheimer und Adorno den ProzeB im ganzen, der zwischen den Parteien anhangig ist. Und dieser ProzeB, die Bezwingung mythischer Gewalten, soll nun auf jeder neuen Stufe die Wiederkehr des Mythos schicksalhaft hervorrufen. Aufkiarung soll in Mythologie zuruckschlagen. Auch diese These versuchen die Autoren an der odysseeischen Stufe des BewuBtseins zu bestatigen. Sie gehen die Odyssee Episode fur Episode durch, urn den Preis herauszufinden, den der erfahrene Odysseus dafur zahlt, daB sein Ich aus den bestandenen Abenteuern in ahnlicher Weise erstarkt und gefestigt hervorgeht wie der Geist aus jenen Erfahrungen des BewuBtseins, von denen der Phanomenologe Hegel in derselben Absicht berichtet wie Homer, der Epiker, von den Abenteuern. Die Episoden berichten von Gefahr, List und Entrinnen, und von der selbstauferlegten Entsagung, durch die das Ich, das die Gefahr beherrschen lernt, seine eigene Identitat erringt und zugleich yom Gluck des archaischen Einsseins mit der Natur, der auBeren wie der inneren, Abschied nimmt. Der Gesang der Sirenen erinnert an ein Gluck, das einst »der fluktuierende Zusammenhang mit der Natur« gewahrte; Odysseus uberlaBt sich den Verlockungen als einer, der sich bereits gefesselt weiB: »Die Herrschaft des Menschen uber sich selbst, die sein Selbst begriindet, ist virtu ell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdruckte und durch Selbsterhaltung aufgeloste Substanz ist gar nichtsanderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigentlich gerade das, was erhalten werden sol1.« (DA, 71) Diese Figur, daB die Men133
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schen ihre Identitat ausbilden, indem sie urn den Preis der Repression ihrer inneren Natur die auBere beherrschen lernen, liefert das Muster fiir eine Beschreibung, unter der der ProzeB der Aufklarung sein Janusgesicht enthiillt: der Preis der Entsagung, der Selbstverborgenheit, der unterbrochenen Kommunikation des Ich mit seiner eigenen, als Es anonym gewordenen Natur, wird als Folge einer Introversion des Opfers gedeutet. Das Ich, das einst im Opfer das mythische Schicksal iiberlistet hatte, wird von diesem, sobald es sich zur Introjektion des Opfers gezwungen sieht, wieder ereilt: »Das identisch beharrende Selbst, das in der Dberwindung des Opfers entspringt, ist unmittelbar doch wieder ein hartes, steinern festgehaltenes Opferritual, das der Mensch, indem er dem Naturzusammenhang sein BewuBtsein entgegensetzt, sich selber zelebriert« (DA, 70). Die Menschengattung hat sich also im weltgeschichtlichen ProzeB der Aufklarung von den Urspriingen immer weiter entfernt und doch yom mythischen Wiederholungszwang nicht gelost. Die moderne, die vollends rationalisierte Welt ist nur zum Scheine entzaubert; auf ihr ruht der Fluch der damonischen Versachlichung und der todlichen Isolierung. In den Lahmungserscheinungen einer leerlaufenden Emanzipation auBert sich die Rache der Ursprungsmachte an denen, die sich emanzipieren muBten und doch nicht entkommen konnten. Der Zwang zur rationalen Bewaltigung der von auBen eindringenden Naturkrafte hat die Subjekte auf die Bahn eines Bildungsprozesses gesetzt, der die Produktivkrafte urn der schieren Selbsterhaltung willen ins UnermeBliche steigert, aber die Kdfte der Versohnung, die bloBe Selbsterhaltung transzendieren, verkiimmern lassen. Herrschaft iiber eine objektivierte auBere und die reprimierte innere Natur ist das bleibende Signum der Aufklarung. Damit variieren Horkheimer und Adorno das bekannte Thema Max Webers, der in der modernen Welt die alten Gotter entzaubert, in Gestalt unpersonlicher Machte ihren Grabern entsteigen sieht, urn den unversohnlichen Kampf der Damonen zu erneuern. 5 Der Leser, der sich von der rhetorischen Darstellung nicht iiberS M. Weber, Wissenschaft als Bernf, in: Ges. Aufs. zur Wissenschaftslehre, Tiibingen 1968, 604.
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mannen laBt, einen Schritt zuriicktritt und den Anspruch des durchaus philosophisch gemeinten T extes ernstnimmt, kann den Eindruck gewinnen: .-daB die These, die hier verhandelt wird, nicht weniger riskant ist als die von Nietzsche in ahnlicher Weise gestellte Diagnose des Nihilismus; -daB sich die Verfasser dieses Risikos bewuBt sind und, entgegen dem ersten Anschein, einen konsequenten Versuch machen, ihre Kulturkritik zu begriinden; -;;-f dabei aber Abstraktionen und Einebnungen in Kauf nehmen, die diePlausibilitat ihrer Sache in Frage stellen. Ichwill zunachst priifen, ob dieser Eindruck stimmt. Die Vernunft seIber zerstort die Humanitat, die sie ermoglicht hatdiese weitreichende These wird im ersten Exkurs, wie wir gesehen hilben, damit begriindet, daB sich der ProzeB der Aufklarung von alfem Anfang an dem Antrieb einer Selbsterhaltung verdankt, der die Vernunft verstiimmelt, weil er diese nur in Formen zweckrationaler Natur- und Triebbeherrschung, eben als instrumentelle Vernunft, beansprucht. Damit ist noch nicht gezeigt, daB die Vernunft bis in ihre spatesten Produkte, bis in die mod erne Wissenschaft, die universalistischen Rechts- und Moralvorstellungen und die autonome Kunst hinein dem Diktat der Zweckrationalitat unterworfen bleibt. Diesem Nachweis dienen der Titelaufsatz zum Begriff der Aufklarung, der Exkurs zu Aufklarung und Moral sowie der Anhang zur Kulturindustrie. Adorno und Horkheimer sind iiberzeugt, daB die moderne Wissenschaft im logischen Positivismus zu sich selbst gekommen ist und dem empathischen Anspruch auf theoretische Erkenntnis zugunsten technischer Verwertbarkeit entsagt hat: »Das Vorfindliche als solchc:!S zu begreifen, den Gegebenheiten nicht bloB ihre abstrakten raumzeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im Gegenteil als die Oberfiache, als vermittelte Begriffsmomente zu denken, die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes erfiillen "'- der ganze Anspruch der Erkenntnis wird preisgegeben« (DA, 39). Die friiher geiibte Kritik am positivistischen Wissenschaftsverstandnis verscharft sich zu dem globalen Vorwurf, daB die Wissen135
schaften selbst von der instrumentellen Vernunft aufgesogen wereden. Am Leitfaden der Histoire de Juliette und der Genealogie der Moral wollen Horkheimer und Adorno ferner zeigen, daB die Vernunft aus Moral und Recht ausgetrieben worden ist, weil mit dem Zerfall religios-metaphysischer Weltbilder alle normativen MaBstabe ihren Kredit vor der einzig verbliebenen Autoritat der Wissenschaft verloren hatten: »Die Unmoglichkeit, aus der Vernunft ein grundsatzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben, hat den HaB entziindet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen« (DA, 142). Und weiter: »Sie haben nicht vorgegeben, daB die formalistische Vernunft in einem engeren Zusammenhang mit der Moral als mit der Unmoral stiinde~< (DA, 141). Die friiher geiibte Kritik an den meta-ethischen Umdetitungen der Moral schlagt in sarkastische Zustimmung zum ethischen Skeptizismus urn. Mit ihrer Analyse der Massenkultur wollen Horkheimer und Adorno schlieBlich nachweis en, daB die mit Unterhaltung fusionierte Kunst in ihrer innovativen Kraft gelahmt, von allen kritischen und utopischen Gehalten entleert werde: »Das Moment am Kunstwerk, durch das es iiber die Wirklichkeit hinausgeht, ist in der Tat yom Stil nicht abzulosen: doch es besteht nicht in der geleisteten Harmonie, der fragwiirdigen Einheit von Form und Inhalt, Innen und AuBen, Individuumund Gesellschaft, sondern in jenen Ziigen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identitat. Anstattdiesem Scheiternsich auszusetzen, in dem der Stil des groBen Kunstwerks seit je sich negierte, hat das schwache immer an die Ahnlichkeit mit anderen sich gehalten, an das Surrogat der Identitat. Kulturindustrie endlich setzt die Imitation absolut« (DA, 156). Die friiher geiibte Kritik an dem bloB Affirmativen der biirgerlichen Kultur steigert sich zur ohnmachtigen Wut iiber die ironische Gerechtigkeit jenes angeblich nicht-revidierbaren Urteils, das die Massenkultur an einer immer auch schon ideologisch gewesenen Kunst vollzieht. Die Argumentation folgtalso in Ansehung der Wissenschaft, der Moral und der Kunst derselben Figur: bereits die Trennung der kul13 6
turellen Bereiche, der Zerfall der in Religion und Metaphysik noch verkorperten substantiellen Vernunft, entmachtigt die isolierten, ihres Zusammenhalts beraubten Vernunftmomente so sehr, daB diese zur Rationalitat im Dienste wildgewordener Selbsterhaltung regredieren. Vernunft wird in der kulturellen Moderne endgiiltig ihres Geltungsanspruchs entkleidet und an schiere Macht as similiert. Die kritische Fahigkeit, mit »Ja« oder »Nein« Stellung zu nehmen, zwischen giiltigen und ungiiltigen AussageI!. zu unterscheiden, wird unterlaufen, indem Macht- und Geltungsanspriiche eine triibe Fusion eingehen. Wenn man die Kritik der instrumentellen Vernunft auf dies en Kern reduziert, wird klar, warum die Dialektik der Aufklarung das Bild cler Moderne auf erstaunliche Weise einebnen muB. Die der kulturellen Moderne eigene Wiird'e besteht in dem, was Max Weber die eigensinnige Ausdifferenzierung der Wertspharen genannt hat. Mit \ ihr wird aber die Kraft der Negation, die Fahigkeit, zwischen »Ja« und »Nein« zu diskriminieren, nicht etwa gelahmt, sondern eher potenziert. Denn nun konIlen Wahrheitsfragen, Fragen der Gerechtigkeit und des Geschmacks nach ihrer jeweils eigenen Logik bearbeitet und entfaltet werden. Wohl verstarkt sich mit kapitalistischer Wittschaft und modernem Staat auch die Tendenz, alle Gel:tungsfragen in den beschrankten Horizont der Zweckrationalitat sich selbst erhaltender Subjekte oder bestanderhaltender Systeme einzuziehe",. Mit dieser Neigung zur gesellschaftlichen Regression der Vernunft konkurriert aber der unverachtliche, durch die Rationalisierung von Weltbildern und Lebenswelten induzierte Zwang zur fortschreitenden Differenzierung einer Vernunft, die dariiber eine prozedurale Gestalt annimmt. Mit der naturalistischen Angleichung von Geltungs- an Machtanspriiche, mit der Zerstorung des kritischen Vermogens, konkurriert die Ausgestaltung von Expertenkulturen, in denen eine artikulierte Geltungssphare den Anspriichen auf propositionale Wahrh~it, normative Richtigkeit und Authentizitat zu Eigensinn, freilich auch zu einem esoterischen, und durch die Abspaltung yonder kommunikativen Alltagspraxis wiederum gefahrdeten Eigenleben verhilft. Die Dialektik der Aufklarung wird dem verniinftigen Gehalt der kulturellen Moderne, der in den biirgerlichen Idealen festgehalten 137
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(und mit ihnen auch instrumentalisiert) worden ist, nicht gerecht. Ich meine die theoretische Eigendynamik, die die Wissenschaften, auch die Selbstreflexion der Wissenschaften, uber die Erzeugung technisch verwertbaren Wissens immer wieder hinaustreibt; ich meine ferner' die universalistischen Grundlagen von Recht und Moral, die in den Institutionen der Verfassungsstaaten, in Formen demokratischer Willensbildung, in individualistischen Mustern der Identitatsbildung auch eine (wie immer verzerrte und unvollkommene) Verkorperung gefunden haben; ich meine schlieBlich die Produktivitat und die sprengende Kraft asthetischer Grunderfahrungen, die eine von Imperativen der Zwecktatigkeit und von Konventionen der alltaglichen Wahrnehmung freigesetzte Subjektivitat ihrer eigenen Dezentrierung abgewinnt - Erfahrungen, die in den Werken der avantgardistischen Kunst zur Darstellung, in den Diskursen der Kunstkritik zur Sprache' und in den innovativ obereicherten Wertregistern der Selbstverwirklichung auch zu einer gewissen illuminierenden Wirkung gelangen - wenigstens zu lehrreichen Kontrasteffekten. Wenn diese Stichworte fur den Zweck meines Argumentes hinreichend erganzt wurden, konnten sie den intuitiven Eindruck, sagen wir vorsichtig: der U nvollstandigkeit und Einseitigkeit stutzen, den die Lekture dieses Buches auf den ersten Blick hinterlaBt. Der Leser gewinnt mit Recht das Gefuhl, daB die nivellierende Darstellung wesentliche Zuge der kulturellen Moderne nicht berucksichtigt. Dann drangt sich aber die Frage nach den Motiven auf, die Horkheimer und Adorno dazu bewegt habenkonnen, ihre Kritik der Aufklarung so tief anzusetzen, daB das Projekt der Aufklarung selbst in Gefahr gerat; fur ein Entrinnen aus dem zur sachlichen Gewalt geronnenen Mythos der Zweckrationalitat laBt ja die Dialektik der Aufklarung kaum noch eine Aussicht. Urn diese Frage zu klaren, mochte ich zunachst den Platz identifizieren, den die Marxsche Ideologiekritik im gesamten ProzeB der Aufklarung einnimmt, urn dann herauszufinden, warum Horkheimer und Adorno glaubten, die Kritik dieses Typs zugleich aufgeben und uberbieten zu mussen.
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Die mythische Denkweise haben wir bisher nur unter dem Aspekt des zweideutigen Verhaltens der Subjekte ~u den Ursprungsmachten, also unter dem fur die Identitatsbildung zentralen Gesichtspunkt der Emanzipation kennengelernt. Horkheimer und Adorno begreifen Aufklarung als den miBlingenden Versuch, den Schicksalsmachten zu ent-springen. Die trostlose Leere der Emanzipation ist die Gestalt, in der der Fluch der my this chen Gewalten die Entfliehenden doch noch ereilt. Eine andere Dimension der Beschreibung des my this chen wie des aufgeklarten Denkens kommt nur an ·wenigen Stellen zur Sprache, wo die Bahn der Entmythologisierung als Verwandlung und DifJerenzierung von Grundbegriffen bestimmt wird. Der Mythos verdankt die totalisierende Kraft, mit der er aIle auf der Oberflache wahrgenommenen Phanomene' in ein Netz von Korrespondenzen, Ahnlichkeits- und Kontrastbeziehungen einordnet, Grundbegriffen, in denen kategorial zusammenhangt, was das moderne Weltverstandnis nicht mehr zusammenbringt. Beispielsweise ist Sprache, das Medium der Darstellung, noch nicht soweit von der Realitat abgehoben, daB das konventionelle Zeichen yom semantischen Gehalt und yom Referenten durchgangig getrennt wird; das sprachliche Weltbild bleibt mit der Weltordnung verwoben. Mythische Dberlieferungen konnen nicht revidiert werden ohne Gefahr fur die Ordnung der Dinge und fur die Identitat des Stammes, die darin eingelassen ist. Kategorien der Geltung, wie »wahr« und »falsch«, »gut« und »bose«, sind mit empirischen Begriffen wie Tausch, Kausalitat, Gesundheit, Substanz und Vermogen noch legiert. Magisches Denken erlaubt keine grundbegriffliche Unterscheidung zwischen Dingen und Personen, Unbeseeltem und Beseeltem, zwischen Gegenstanden, die manipuliert werden konnen, und Agenten, denen wir Handlungen und sprachliche AuBerungen zurechnen. Erst die Entmythologisierung lost jenen Zauber, der uns als eine Konfusion zwischen Natur und ,Kultur erscheint. Der ProzeB der Aufklarung fUhrt zur Desozialisierung der Natur und zur Denaturalisierung der Menschenwelt; mit Piaget laBt er sich als eine Dezentrierung des Weltbildes begreifen. 139
Das tradierte Weltbild wird schlieBlich verzeitlicht und kann als wandelbare Interpretation von der Welt selbst unterschieden werden. Diese AuBenwelt differenziert sich in die objektive Welt des Seienden und in die so:ziale Welt der Normen (oder der normativ geregelten interpersonalen Beziehungen); beide heben sich ab von der jeweiligen Innenwelt der subjektiven Erlebnisse. Dieser ProzeB setzt sich, wie Max Weber gezeigt hat, in der Rationalisierung von Weltbildern fort, die sich, als Religion und Metaphysik, ihrerseits der Entmythologisierung verdanken. Wo die Rationalisierung, wie auf der abendlandischen Traditionslinie, auch vor den theologischen und metaphysischen Grundbegriffen nicht Halt macht, wird die Sphare der Geltungszusammenhange nicht nur von den empirischen Beimengungen gereinigt, sondern auch intern differenziert unter Gesichtspunkten von Wahrheit, normativer Richtigkeit und subjektiver Wahrhaftigkeit oder Authentizitat. 6 Wenn man in dieser Weise den zwischen Mythos und Aufklarung anhangigen ProzeB als Herausbildung eines dezentrierten Weltverstandnisses beschreibt, laBt sich in dem Drama auch der Ort angeben, wo das ideologiekritische Verfahren auftreten kann. Erst wenn Sinn- und Sachzusammenhange, wenn interne und externe Beziehungen entmischt sind; erst wenn Wissenschaft, Moral und Kunst jeweils auf einen Geltungsanspruch spezialisiert sind, ihrer jeweils eigenen Logik folgen und von kosmologischen, theologischen, kultischen Schlacken gereinigt sind; erst dann kann der Verdacht entstehen, daB die Autonomie der Geltung, die eine Theorie, sei sie nun empirisch oder normativ, beansprucht, Schein ist, weil sich in ihre Poren verschwiegene Interessen und Machtanspriiche eingeschlichen haben. Die Kritik, die von einem solchen Verdacht inspiriert ist, will den Nachweis fiihren, daB die verdachtige Theorie in den Aussagen, fiir die sie frontal Geltung beansprucht, a tergo Abhangigkeiten zum Ausdruck bringt, die sie ohne Verlust der Glaubwiirdigkeit nicht eingestehen darf. Kritik wird zur Ideologiekritik, wenn sie zeigen will, daB sich die Geltung der Theorie yom Entstehungszusammenhang nicht hinreichend gelost hat, d~ sich hinter dem Riicken der Theorie eine unzulassige Vermischung von 6
J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm. 1981, Bd. I, Kap. II.
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Macht und Geltung verbirgt und daB sie dieser auch noch ihre Reputation verdankt. Die Ideologiekritik will zeigen, wie sich auf einem Niyeau, fiir das die peinliche Unterscheidung zwischen Sinnund Sachzusammenhangen konstitutiv ist, genau diese internen und externen Beziehungen verwirren - und daB sie sich verwirren, weil Geltungsanspriiche durch Machtverhaltnisse determiniert werden. Die Ideologiekritik ist nicht selbst eine Theorie, die mit einer anderen konkurriert; sie bedient sich nur bestimmter theoretischer Annahmen. Auf diese gestiitzt, bestreitet sie die Wahrheit einer verdachtigen Theorie, indem sie deren Unwahrhaftigkeit enthiillt. Sie setzt den ProzeB der Aufklarung fort, indem sie einer Theorie, die ein entmythologisiertes Weltverstandnis voraussetzt, Befangenheit im Mythos nachweist, einen vermeintlich iiberwundenen Katego:rienfehler aufspiirt. Mit dieser Art der Kritik wird die Aufklarung zum ersten Mal reflexiv; sie vollzieht sich nun an ihren eigenen Produkten - an Theorien. Allerdings erreicht das Aufklarungsdrama erst seine Peripetie, wenn die Ideologiekritik selbst in Verdacht gerat, keine Wahrheiten (mehr) zu produzieren - und die Aufklarung zum zweiten Mal reflexiv wird. Der Zweifel erstreckt sich dann auch auf die Vernunft, deren MaBstabe die Ideologiekritik in den biirgerlichen Idealen vorgefunden und nur beim Wort genommen hatte. Diesen Schritt vollzieht die Dialektik der Aufklarung - sie verselbstandigt die Kritik noch gegeniiber den eigenen Grundlagen.Warum sehen sich Horkheimer und Adorno zu diesem Schritt genotigt? Die Kritische Theorie war in dem Kreis urn Horkheimer zunachst entwickelt worden, urn die politischen Enttauschungen iiber die ausgebliebene Revolution im Westen, iiber die stalinistische Entwicklung in SowjetruBland und iiber den Sieg des Faschismus in Deutschland zu verarbeiten; sie sollte das Fehlschlagen der marxistischen Prognosen erklaren, ohne allerdings mit den marxistischen Intentionen zu brechen. Vor diesem Hintergrund wird verstandlich, wie sich in den dunkelstenJahren des Zweiten Weltkrieges erst recht der Eindruck verfestigen konnte, daB der letzte Funken von Vernunft aus dieser Realitat entwichen sei und die T riimmer einer in sich zerfallenden Zivilisation trostlos zuriickgelassen habe. Die Idee der Naturgeschichte, die der junge Adorno von Benjamin auf-
genommen hatte 7 , schien sich auf unvorhergesehene Weise realisiert zu haben. Die Geschichte war, im Augenblick ihrer auBersten Beschleunigung, zu Natur erstarrt, zur Schadelstatte~ einer unkenntlich gewordenen Hoffnung verb lichen. Allerdings konnen solche zeitgeschichtlichen und psychologischen Erklarungen in theoretischen Zusammenhangen nur insoweit Interesse beanspruchen, wie sie Hinweise auf ein systematisches Motiv enthalten. Tatsachlich muBten die politischen Erfahrungen die historisch-materialistischen Grundannahmen, auf die sich der Frankfurter Kreis in den dreiBiger J ahren noch gestiitzt hatte, beriihren. In einer der unsystematisch hinzugefiigten »Aufzeichnungen« iiber Philosophie und (wissenschaftliche) Arbeitsteilung findet sich eine Stelle, die sich wie ein Einsprengsel aus der klassischen Zeit der Kritischen Theorie liest. Die Philosophie, heiBt es da, »erkennt keine abstrakten N ormen oder Ziele an, die im Gegensatz zu den geltenden praktikabel waren. Ihre Freiheit von der Suggestion des Bestehenden liegt gerade darin, daB sie die burgerlichen Ideale, ohne ein Einsehen zu haben, akzeptiert, seien es die, welche seine Vertreter, wenn auch entstellt, noch verkiindigen, oder die, welche als objektiver Sinn der Institutionen, technischer wie kultureller, trotz aller Manipulierung noch erkennbar sind« (DA, 292). Damit erinnern Horkheimer und Adorno an die Figur der Marxschen Ideologiekritik, die davon ausging, daB das in den »biirgerlichen Idealen« ausgesprochene und im »objektiven Sinn der Institutionen« angelegte Vernunftpotential ein doppeltes Gesicht zeigt: einerseits verleiht es den Ideologien der herrschenden Klasse das triigerische Aussehen von iiberzeugenden Theorien, andererseits bietet es den Ansatzpunkt fiir eine immanent ansetzende Kritik an diesen Gebilden, die zum allgemeinen Interesse erheben, was tatsachlich nur dem dominierenden Teil der Gesellschaft dient. Die Ideologiekritik entzifferte in den miBbrauchten Ideen ein sich sf;lbst verborgenes Stiick existierender Vernunft, las diese Ideen wie eine Anweisung, die in dem MaBe durch soziale Bewegungen eingelost werden wiirde, wie sich iiberschiissige Produktivkrafte entwikkelten. 7 T. W. Adorno, Ges. Schriften, Bd. I, Ffm. 1973, 345ff.
Die kritischen Theoretiker hatten sich in den dreiBiger J ahren einen Teil des geschichtsphilosophischen Vertrauens in das Vernunftpotential der biirgerlichen Kultur, das unter dem Druck der entwikkelten Produktivkrafte freigesetzt werden sollte, bewahrt; darauf hatte sich auch jenes interdisziplinare Forschungsprogramm gegriindet, das sich in den Banden der Zeitschrift fur SoziaLJorschung (1932-1941) niederschlagt. Helmut Dubiel hat an der Entwicklung der friihen Kritischen Theorie dargestellt, warum dieses Vertrauenskapital Anfang der vierziger Jahre soweit aufgezehrt war8, daB Horkheimer und Adorno die Marxsche Ideologiekritik fiir erschopft hielten und nicht langer glaubten, das Versprechen einer kritischen Gesellschaftstheorie mit den Mitteln der Sozialwissenschaften einlosen zu konnen. Statt dessen betreiben sie eine Radikalisierung und Selbstiiberbietung der Ideologiekritik, die die Aufklarung iiber sich aufklaren soll. Das Vorwort zur Dialektik der Aufklarung beginnt mit dem Gestandnis: »Hatten wir auch seit vielen Jahren bemerkt, daB im modernen Wissenschaftsbetrieb die groBen Erfindungen mit wachsendem Zerfall theoretischer Bildung bezahlt werden, so glaubten wir immerhin dem Betrieb soweit folgen zu diirfen, daB sich unsere Leistung vornehmlich auf Kritik oder Fortfiihrung fachlicher Lehren beschrankte. Sie sollte sich wenigstens thematisch an die traditionellen Disziplinen halten, an Soziologie, Psychologie und Erkenntnistheorie. Die Fragmente, die wir hier vereinigt haben, zeigen jedoch, daB wir jenes Vertrauen aufgeben muBten.« (DA, 5) Wenn das zynisch gewordene BewuBtsein der schwarzen Schriftsteller die Wahrheit iiber die biirgerliche Kultur ausspricht, behalt die Ideologiekritik nichts zuriick, woran sie appellieren konnte; und wenn die Produktivkrafte mit den Produktionsverhaltnissen, diesie einmal sprengen sollten, eine unheilvolle Symbiose eingehen, gibt es auch keine Dynamik mehr, auf die die Kritik ihre Hoffnung setzen konnte. Horkheimer und Adorno sehen die Grundlagen der Ideologiekritik erschiittert - und mochten doch an der Grundfigur der Aufklarung festhalten. So wenden sie, was Aufklarung am Mythos vollstreckt hat, noch einmal auf den ProzeB der Aufklarung 8 H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, Ffm. 1978, TeilA. 143
im ganzen an. Die Kritik wird, indem sie sich gegen Vernunft als die Grundlage ihrer eigenen Geltung wendet, total. Wie ist diese T otalisierung und Verselbstandigung der Kritik zu verstehen?
III Der Ideologieverdacht wird total, aber ohne die Richtung zu fudern. Er wendet sich nicht nur gegen die unverniinftige Funktion der biirgerlichen Ideale, sondern gegen das Vernunftpotential der biirgerlichen Kultur selber und erstreckt sich damit auf die Grundlage einer immanent verfahrenden Ideologiekritik; aber die Absicht bleibt, einen Enthiillungseffekt zu erzielen. Unverandert ist die Denkfigur, in die die Vernunftskepsis eingearbeitet wird: nun wird die Vernunft selbst der heillosen Konfusion von Macht- und Geltungsanspriichen verdachtigt, aber noch in aufklarerischer Absicht. Mit dem Begriff der »instrumentellen Vernunft« wollen Horkheimer und Adorno einem kalkulierenden Verstand, der den Platz der Vernunft usurpiert hat, die Rechnung aufmachen. 9 Dieser Begriff soll gleichzeitig daran erinnern, daB die zur T otalitat aufgespreizte Zweckrationalitat die Unterscheidung zwischen dem, was Giiltigkeit beansprucht, und dem, was der Selbsterhaltung niitzt, einzieht und damit jene Barriere zwischen Geltung und Macht einreiBt, jene grundbegriffliche Differenzierung riickgangig macht, die das moderne Weltverstandnis einer definitiven Dberwindung des Mythos zu verdanken glaubte. Vernunft hat sich, als instrumentelle, an Macht assimiliert und dadurch ihrer kritischen Kraft begeben - das ist die letzte Enthiillung einer auf sich selbst angewandten Ideologiekritik. Diese beschreibt allerdings die Selbstzerstorung des kritischen Vermogens auf paradoxe Weise, weil sie im Augenblick derBeschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen muB. Das Totalitarwerden der Aufklarung denunziert sie mit deren eigenen Mitteln. Adorno war sich dieses performativen Widerspruchs der totalisierten Kritik wohl bewuBt. 9 Vor allem: M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947), Ffm. 19 67.
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Adornos Negative Dialektik liest sich wie die fortgesetzte Erklarung dafiir, warum wir in dies em performativen Widerspruch kreisen miissen, ja verharren sollen, warum allein die insistierende, ruhelose Entfaltung des Paradoxes die Aussicht auf jenes beinahe magisch beschworene »Eingedenken der Natur im Subjekt« offnet, »in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt« (DA, 55). Adorno ist in den fiinfundzwanzig Jahren seit AbschluB der Dialektik der Aufklarung dem philosophischen Impuls treu geblieben und der paradoxen Struktur eines Denkens der totalisierten Kritik nicht ausgewichen. Die GroBartigkeit dieser Konsequenz zeigt sich beim Vergleich mit Nietzsche, des sen Genealogie der Moral fiir das zweite Reflexivwerden der Aufklarung das groBe Vorbild gewesen war. Nietzsche hat die paradoxe Struktur verdrangt, hat die in der Moderne vollendete Assimilation von Vernunft an Macht mit einer Theorie der Macht erklart, die sich aus freien Stiicken remythologisiert und anstelle des Wahrheitsanspruchs nur noch den rhetorischen Anspruch des as thetis chen Fragments zuriickbehalt. Nietzsche hatte vorgemacht, wie man die Kritiktotalisiert; aber am Ende kommt nur heraus, daB ihm die Verquic~ung von Geltung und Macht darum als Skandal gilt, weil sie einen glorifizierten Willen zur Macht behindert, der mit Konnotationen kiinstlerischer Produktivitat besetzt wird. Der Vergleich mit Nietzsche zeigt, daB der total gewordenen Kritik die Richtung nicht eingeschrieben ist. Nietzsche ist unter den unentwegten Enthiillungstheoretikern derjenige, der die Gegenaufklarung radikalisiert. 10 Horkheimers und Adornos Stellung zu Nietzsche ist zwiespaltig. Einerseits attestieren sie ihm, daB er »wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklarung erkannt« habe (DA, 59). Sie akzeptieren natiirlich »die mitleidlose Lehre der Identitat von Herrschaft und Vernunft« (DA, 143), also den Ansatz zu einer totalisierenden Selbstiiberbietung der Ideologiekritik. Andererseits konnen sie nicht iibersehen, daB Hegel auch NietzschesgroBer Antipode ist. Nietzsche wendet die Vernunftkritik soweit ins Affirmative, daB 10 Wie seine neukonservativen Nachfolger gebardet schon er sich als »Antisoziologe«, vgl. H. Baier, Die Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes, in: Nietzsche-Studien, Bd. IO/II, Berlin 1982, 6ff.
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noch die bestimmte Negation, jenes Verfahren also, das Horkheimer und Adorno, da die Vernunft selbst ins Schwanken geraten ist, als einziges Exerzitium zuriickbehalten wollen, ihren Stachel verliert. Nietzsches Kritik verzehrt den kritischen 1mpuls seIber: »AIs Einspruch gegen die Zivilisation vertrat die Herrenmoral verkehrt die Unterdriickten: der Ha£ gegen die verkiimmerten 1nstinkte denunziert objektiv die wahre Natur der Zuchtmeister, die an ihren Opfern nur zum Vorschein kommt. Als GroBmacht aber und Staats religion verschreibt sich die Herrenmoral vollends den zivilisatorischen powers that be, der kompakten Majoritat, dem Ressentiment und allem, wogegen sie einmal stand. Nietzsche wird durch seine Verwirklichung widerlegt und zugleich die Wahrheit an ihm freigesetzt, die trotz allem J asagen zum Leben dem Geist der Wirklichkeit feind war« (DA, 122). Die zwiespaltige Einstellung zu Nietzsche ist lehrreich. Sie gibt auch einen Hinweis darauf, daB die Dialektik der Aufklarung Nietzsche mehr verdankt als nur die Strategie einer gegen sich selbst gewendeten 1deologiekritik. Ungeklart ist ja nach wie vor die gewisse Unbekiimmertheit im Umgang mit den, sagen wir es ruhig plakativ: Errungenschaften des okzidentalen Rationalismus. Wie k6nnen die beiden Aufklarer, die sie immer noch sind, den verniinftigen Gehalt der kulturellen Moderne so unterschatzen, daB sie in allem nur eine Legierung von Vernunft und Herrschaft, Macht und Geltung wahrnehmen? Lassen sie sich auch darin von Nietzsche inspirieren, daB sie ihre kulturkritischen Ma£stabe aus einer verselbstandigten Grunderfahrung der asthetischen Moderne gewinnen? Verbluffend sind zunachst die inhaltlichen Ubereinstimmungen. 11 Zu jener Konstruktion, die Horkheimer und Adorno ihrer »Urgeschichte der Subjektivitat« zugrundelegen, finden sich Punkt fiir Punkt Entsprechungen bei Nietzsche. Sobald die Menschen, meint Nietzsche, ihrer »ausgehangten« 1nstinkte beraubt waren, muBten sie sich auf ihr »BewuBtsein« verlassen, namlich auf den Apparat der Vergegenstandlichung und Verfiigbarmachung der auBeren Natur: »sie waren auf Denken, SchlieBen, Berechnen, Kombinie11 Vgl. auch P. Piitz, Nietzsche im Lichte der Kritischen Theorie, in: Nietzschestudien Bd. 3, Berlin 1974, 175 ff.
ren von Ursachen und Wirkungen reduziert, diese Ungliicklichen.«12 1m selben Zuge muBten aber die alten 1nstinkte gezahmt, muBte die Bediirfnisnatur, die keinen spontanen Auslauf mehr fand, unterdriickt werden. Bei dies em ProzeB der Umkehr der Antriebsrichtung und der Verinnerlichung bildete sich, im Zeichen der Entsagung oder des »schlechten Gewissens«, die Subjektivitat einer inneren Natur: »Alle 1nstinkte, welche sich nicht nach auBen entladen, wenden sich nach innen - dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wachst erst das an den Menschen heran, was man spater seine >Seele< nennt. Die ganze innere Welt, urspriinglich diinn wie zwischen zwei Haute eingespannt, ist in dem MaBe auseinander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, H6he bekommen, als die Entladung des Menschen nach auBen gehemmt worden ist.«13 SchlieBlich verbinden und verfestigen sich die beiden Elemente einer Herrschaft iiber die auBere und die inn ere Natur in der institutionalisierten Herrschaft von Menschen iiber Menschen: »Der Bann des Friedens und der Gesellschaft« ruht auf allen 1nstitutionen, weil sie den Menschen zur Entsagung zwingen: »Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten 1nstinkte der Freiheit schiitzte - die Strafen geh6ren vor allem zu diesen Bollwerken - brachten zuwege, daB alle jene 1nstinkte des wilden, freien, schweifenden Menschen sich riickwarts, sich gegen den Menschen selbst wandten.«14 Ebenso nimmt Nietzsches Kritik der Erkenntnis und der Moral einen Gedanken vorweg, den Horkheimer und Adorno in Form einer Kritik der instrumentellen Vernunft entwickeln: hinter den Objektivitatsidealen und den Wahrheitsanspriichen des Positivismus, hinter den asketischen 1dealen und den Richtigkeitsanspriichen der universalistischen Moral verbergen sich Selbsterhaltungsund Herrschaftsimperative. Eine pragmatische Erkenntnistheorie und eine Affektenlehre der Moral entlarven die theoretische und die praktische Vernunft als pure Fiktionen, in denen sich Machtanspriiche ein wirkungsvolles Alibi verschaffen - und dies mit Hilfe der Einbildungskraft, des »Triebes zur Metaphernbildung«, fiir den externe Reize bloB den AnlaB zu projektiven Antworten bieten, zu 12 N. Bd. 5, 322.
13 Ebd.
14 Ebd. 147
einem Gespinst von Interpretationen, hinter dem der Text verschwindet. 15 Anders freilich als die Dialektik der Aufkliirung kehrt Nietzsche die Perspektive hervor, aus der er die Moderne betrachtet. Und erst dieser Blickwinkel erklart, warum objektivierte Natur und moralisierte Gesellschaft zu korrespondierenden Erscheinungsformen derselben mythischen Gewalt, sei es nun des pervertierten Willens zur Macht oder der instrumentellen Vernunft, herabsinken. Diese Perspektive hat sich mit der asthetischen Moderne geoffnet, mit jener hartnackigen, in der avantgardistischen Kunst forcierten Selbstenthiillung einer dezentrierten, von allen Beschrankungen d€r Kognition und Zwecktatigkeit, allen Imperativen der Arbeit und der Niitzlichkeit befreiten Subjektividit. Nietzsche ist nicht nur Zeitgenosse und Geistesverwandter Mallarmes 16 ; er hat nicht nur den spatromantischen Geist Richard Wagners in sich aufgenommen; er bringt als erster die Gesinnung der asthetischen Moderne auf den Begriff, bevor noch das avantgardistische BewuBtsein in der Literatur, der Malerei und der Musik des 20. Jahrhupderts objektive Gestalt annehmen - und von Adorno zur .Asthetischen Theorie verarbeitet werden kann. In der Aufwertung des Transitorischen, in der Feier des Dynamismus, in der Verherrlichung der Aktualitat und des Neuen spricht sich ein asthetisch motiviertes ZeitbewuBtsein, die Sehnsucht nach einer unbefleckten, irinehaltenden Gegenwart aus. Die anarchistische Absicht der Surrealisten, das Kontinuum der Verfallsgeschichte aufzusprengen, ist schon in Nietzsche wirksam. Die subversive Kraft eines asthetischen Widerstandes, die spater die Reflexionen von Benjamin, noch von Peter Weiss speisen wird, entspringt schon bei Nietzsche der Erfahrung der Rebellion gegen alles Normative. Es ist diesselbe Kraft, die das moralisch Gute wie das praktisch Niitzliche neutralisiert, die '~ich in der Dialektik von Geheimnis und Skandal, in der Lust am Schrecken der Profanierung auBert. Nietzsche baut Sokrates und Christus, jene Anwalte eines Glaubens an die Wahrheitund 15 J. Habermas, N achwort zu F .. Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Ffm. 1968, 237ff. 16 Worauf G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Miinchen 1976, 38ff. hinweist.
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ans asketische Ideal, als die groBen Gegenspieler auf: sie sind es, die die asthetischen Werte negieren! Allein der Kunst, »in der gerade die Liige sich heiligt, der Wille zur Tauschung
18 N. Bd. 5, 158.
19 N. Bd. 5, 15.
daB er Werturteilen den kognitiven Status nimmt und nachweist, daB sich in den Ja-/Nein-Stellungnahmen von Wertschatzungen keine Geltungsanspriiche mehr, sondern pure Machtanspriiche auBern. Sprachanalytisch gesehen, hat deshalb der nachste Argumentationsschritt das Ziel, Geschmacksurteile an Imperative, Wertschatzungen an WillensauBerungen zu assimilieren. Nietzsche setzt sich mit Kants Analyse des Geschmacksurteils auseinander o, urn die These zu begriinden, daB Bewertungen notwendig subjektiv sind und mit einem Anspruch auf intersubjektive Giiltigkeit nicht verkniipft werden konnen. Der Schein des interesselosen W ohlgefallens sowie der Unpersonlichkeit und Allgemeinheit des asthetischen Urteils soIl sich nur aus der Perspektive des Zuschauers ergeben konnen; aus der Sicht des produzierenden Kiinstlers erkennen wir aber, daB Wertschatzungen von innovativen Wertsetzungen induziert sind. Die Produktionsasthetik entfaltet die Erfahrung des genialen Kiinstlers, der Werte schafft: aus seiner Sicht sind Wertschatzungen von einem »wertesetzenden Blick«21 diktiert. Die wertesetzende Produktivitat schreibt der Wertschatzung das Gesetz vor. So driickt sich in der Geltung, die das Geschmacksurteil beansprucht, nur »die Erregung des Willens durch das Schone« aus. Ein Wille antwortet einem anderen Willen, eine Kraft bemachtigt sich der anderen. Dies ist der Weg, auf dem Nietzsche von den Ja-/Nein-Ste11ungnahmen der Wertschatzungen, nachdem er sie von allen kognitiven Anspriichen gereinigt hat, zum Konzept des Willens zur Macht gelangt. Das Schone ist »das Stimulans des Willens zur Macht«. Der asthetische Kern des Willens zur Macht ist das Vermogen einer Sensibilitat, die sich auf moglichst vielfaltige Weise affizieren laBt. 22 20 N. Bd. 5> 346f· 2! N. Bd. 5,271. 22 Die vermittelnde Funktion des Geschmacksurteils bei der Reduktion der Ja-I Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsanspriichen auf das ,>Ja« und das "Nein« zu irnperativischen WillensauBerungen zeigt sich auch in der Art un4 Weise, wie Nietzsche, zusammen mit dem Begriff der Aussagenwahrheit, den in unsere Grammatik eingebauten Begriff der Welt revidiert: "Was zwingt uns iiberhaupt zur Annahme, daB es einen wesenhaften Gegensatz von >wahr< und ,falsch< gibt? Geniigt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere
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Wenn sich aber das Denken nichtmehr im Element der Wahrheit, der Geltungsanspriiche iiberhaupt bewegen kann23 , verlieren Widerspruch und Kritikihren Sinn. Widersprechen, Neinsagen behaltnurmehr den Sinn von »anders sein wollen«. Damit kann sich Nietzsche bei der Durchfiihrung seiner Kulturkritik schlecht begniigen. Diese soIl sich ja nicht in Agitation erschopfen, sondern zeigen, warum es falsch oder unrichtig oder schlecht ist, die Herrschaft der lebensfeindlichen Ideale von Wissenschaft und universalistischer Moral anzuerkennen. Nachdem aber alle Geltungspradikate entwertet sind, nachdem sich in den Wertschatzungen Macht- und keine Geltungsanspriiche ausdriicken - nach welchem MaBstab solI die Kritik Unterscheidungen dann noch vornehmen konnen? Sie muB mindestens diskriminieren konnen zwischen einer Macht, die es verdient, geschatzt, und einer, die es verdient, abgewertet zu werden. Aus dieser Aporie solI nun eine Theorie der Macht heraushelfen, die zwischen »aktiven« und bloB »reaktiven« Kraften unterscheidet. Aber Nietzsche darf diese Theorie der Macht nicht als Theorie, die wahr oder falsch sein kann, zulassen. Er seIber bewegt sich, der eigenen Analyse zufolge, in einer Welt des Scheins, in der sich hellere von dunkleren Schatten unterscheiden lassen, nich~ aber Vernunft von Unvernunft. Das ist die gleichsam an den Mythos zuriickgefallene Welt, in der Machte aufeinander einwirken und kein Element zuriickgeblieben ist, das den Kampf der Machte transzendieren konnte. Vielleicht ist es ohnehin typisch fiir die unhistorische Wahrnehmungsweise der asthetischen Moderne, daB die einzelnen Epochen ihr Gesicht verlieren zugunsten einer hero is chen Affinitat der Gegenwart mit dem Fernsten und dem Urspriinglichsten: das Dekadente will sich mit einem Sprung in Beziehung setzen zum Barbarischen, Wilden, Primitiven. Jedenfalls paBt Nietzsches Erneuerung des ursprungsmythischen Rahmens zu dieser MentaliSchatten und Gesamttone des Scheins - verschiedene valeurs, urn die Sprache der Maler zu reden? Warum diirfte die Welt, die uns etwas angeht - nicht eine Fiktion sem.? Und wer da fragt: >aber zur Fiktion gehort ein Urheber?< - diirfte dem nicht rund geantwortet werden: Warum? Gehort dieses >Gehort< nicht vielleicht mit zur Fiktion? 1st es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Pradikat und Objekt, nachgerade ein wenig ironisch zu sein? Diirfte sich der Philosoph nicht iiber die GHiubigkeit an die Grarnmatik erheben?« (N. Bd. 5, 53£.) 23 G. Deleuze, a.a.O., II4ff.
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tat: die eigentliche Kultur ist schon seit langem untergegangen; auf der Gegenwart liegt der Fluch der Entfernung von den U rspriingen; deshalb denkt Nietzsche das Heraufziehen der Kultur, die noch aussteht, antiutopisch, als Riickkehr und Wiederkehr. Dieser Rahmen hat nicht etwa einen bloB metaphorischen Stellenwert; er hat den systematischen Sinn, Platz zu machen fiir das paradoxe Geschaft einer von den Hypotheken aufgeklarten Denkens entlasteten Kritik. Bei Nietzsche schlagt namlich die total gewordene Ideologiekritik urn in das, was er »genealogische Kritik« nennt. Nachdem der kritische Sinn des Neinsagens suspendiert, das Verfahren der Negation auBer Kraft gesetzt worden ist, geht Nietzsche. auf diejenige Dimension des Ursprungsmythos zuriick, die eine aile anderen Dimensionen iibergreifende Unterscheidung erlaubt: das Altere ist das in der Kette der Geschlechter Friihere, dem Ursprung Nahere. Das Urspriinglichere gilt als das Ehrwiirdigere, Vornehmere, Unverdorbenere, Reinere; kurz: es gilt als das Bessere. Abstammung und H erkunft dienen als Kriterium des Ranges gleichzeitig im sozialen wie im logischen Sinne. In diesem Sinne stiitzt Nietzsche seine Kritik der Moral auf Genealogie. Er fiihrt die moralische Wertschatzung, die einer Person oder einer Handlungsweise einen Platz in einer nach Geltungskriterien gebildeten Rangordnung zuweist, auf die Herkunft und damit den sozialen Rang des moralisch Urteilenden zuriick: »Den Fingerzeig zum rechten Wege gab mir die Frage, was eigentlich die von den verschiedenen Sprachen ausgepragten Bezeichnungen des >Guten< in etymologischer Hinsicht zu bedeuten haben: da fand ich, daB sie allesamt auf die gleiche Begriffs-Verwandlung zuriickleiten - daB iiberall >vornehm<, >edel< im standischen Sinne der Grundbegriff ist, aus dem sich >gut< im Sinne von >seelisch-vornehm<, >edel< von >seelisch-hochgeartet<, >seelisch-privilegiert< mit Notwendigkeit herausentwickelt: eine Entwicklung, die immer parallel mit jener anderen lauft, welche >gemein<, >p6belhaft<, >niedrig<, schlieBlich in den Begriff >schlecht< iibergehn macht.«24 So erhalt die genealogische Lokalisierung der Machte einen kritischen Sinn: die der Abstammung nach friiheren und vornehmeren Krafte sind die aktiven, sch6pferischen, wahrend sich In den der Herkunft nach spateren, 24 N. Bd. 5, 261.
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niederen, reaktiven Kraften em pervertierter Wille zur Macht auBert. Damit halt Nietzsche die konzeptuellen Mittel in der Hand, mit denen er die Durchsetzung von Vernunftglauben und asketischem Ideal, 'von Wissenschaft und Moral als einen bloB faktischen, freilich das Schicksal der Moderne entscheidenden Sieg der niederen und reaktiven Krafte denunzieren kann. Bekanntlich sollen sie aus dem Ressentiment der Schwacheren, »dem Schutz- und HeilInstinkt eines degenerierenden Lebens«25 hervorgehen. 26
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Wir sind der totalisierenden, auf sich selbst bezogenen Kritik in . zwei Varianten gefolgt. Horkheimer und Adorno befinden sich in derselben Verlegenheit wie Nietzsche: wenn sie auf den Effekt einer letzten Enthiillung nicht verzichten und Kritik fortsetzen wollen, miissen sie fiir ihre Erklarung der Korruption ailer verniinftigen MaBstabe doch noch einen unversehrt zuriickbehalten. Angesichts dieser Paradoxie verliert die sich iiberschlagende Kritik die Richtung. Sie hat zwei Optionen. Nietzsche sucht Zuflucht bei einer Theorie der Macht, was konsequent ist, weil jene Fusion von Vernunft und Macht, die die Kritik enthiillt, die Welt, als sei es die mythische, dem unvers6hnlichen Kampf der Machte iiberlaBt. Mit Recht ist Nietzsche, vermittelt iiber Gilles Deleuze, im strukturalistischen Frankreich als Machttheoretiker wirksam geworden. Auch Foucault hat in seinen jiingeren Arbeiten das von Marx und Freud in der Tradition der Aufkla25 N. Bd. 5, 366. 26' Mich interessiert an dieser Stelle die Struktur des Argumentes. Nietzsche bewahrt sich nur durch den Riickgriff auf eine Figur des ursprungsmythischen Denkens die Position des enthiillenden Kritikers, nachdem er die Grundlagen der Ideologiekritik durch einen selbstbeziiglichen Gebrauch dieser Kritik zerst6rt hat. Auf ~inem anderen Blatt steht der ideologische Gehalt der »Genealogie der Moral«, iiberhaupt Nietzsches Kampf gegen die modemen Ideen, fUr den die Gebildeten unter den Verachtem der Demokratie nach wie vor ein auffalliges Interesse zeigen: R. Maurer, Nietzsche und die Kritische Theorie; G. Rohrmoser, Nietzsches Kritik der Moral, in: Nietzsches Studien, Bd. IO/II, Berlin 1982, 34ff. und 328ff.
rung entwickelte Repressionsmodell der Herrschaft durch einen Pluralismus von Machtstrategien ersetzt, die einander durchkreuzen, aufeinander folgen, die sich nach der Art der Diskursformation und dem Grad ihrer Intensitat unterscheiden, die sich aber nicht unter Geltungsaspekten, wie es mit bewuBten gegenuberunbewuBten Konfliktverarbeitungen der Fall war, beurteilen lassen. 27 Einen Ausweg aus der Verlegenheit einer Kritik, die die Voraussetzungen ihrer eigenen Geltung angreift, bietet freilich die Lehre von den aktiven und den bloB reaktiven Kriiften auch nicht - sie bahnt allenfalls den Weg fur einen Ausbruch aus dem Horizont der Moderne. Ais Theorie ist sie bodenlos, wenn denn die kategoriale Unterscheidung zwischen Macht- und Geltungsanspruchen der Boden ist, auf dem sich jede theoretische Arbeit vollziehen muB. Deshalb verwandelt sich auch der Effekt der Enthullung: nicht die blitzartige Einsicht in eine identitatsbedrohende Konfusion verursacht den Schock, wie beim Witz das Begreifen der Pointe das befreiende Lachen; den Schock versetzt die bejahte Entdifferenzierung, der bejahte Einsturz jener Kategorien, die ein Versehen, ein Vergessen oder Versprechen doch erst zum identitatsbedrohenden Kategorienfehler - oder die Kunst zum Schein - machen konnen. Diese regressive Wendung stellt noch die Kriifte der Emanzipation in den Dienst der Gegenaufklarung. Horkheimer und Adorno treffen eine andere Option, indem sie den performativen Widerspruch einer sich selbst uberbietenden Ideologiekritik schuren und offenhalten, nicht mehr theoretisch ubeiwinden wollen. Nachdem, auf dem erreichten Niveau der Reflexion, jeder Versuch, eine Theorie aufzustellen, ins Bodenlose gleiten muBte, verzichten sie auf Theorie und praktizieren ad hoc die bestimmte Negation, stemmen sich damit jener Fusion von Vernunft und Macht, die alle Ritzen verstopft, entgegen: »Die bestimmte Negation verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des Absoluten, die Gotzen, nicht wie der Rigorismus, indem sie ihnen die Idee entgegenhalt, der sie nicht genugen konnen. Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zugen das Ein27 H. Fink-Eitel, Michel Foucaults Analytik der Macht, in: F. A. Kittler (Hg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn 1980, 38ff.; A. Honneth, H. Joas, Soziales Handeln und rnenschliche Natur, Ffrn. 1980, 123ff.
gestandnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreiBt und sie der Wahrheit zueignet. Damit wird die Sprache mehr als ein bloBes Zeichensystem. Mit dem Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben, das Aufklarung von dem positivistischen Zerfall unterscheidet, dem er sie zurechnet« (DA, 36). Der praktizierte Widerspruchsgeist ist, was yom »Geist der unnachgiebigen Theorie« ubrigbleibt. Und diese Praxis ist wie eine Beschworung, urn den Ungeist des erbarmungslosen Fortschritts doch noch »an seinem Ziel umzuwenden« (DA, 57). Wer an einem art, den die Philosophie einst mit ihren Letztbegriindungen besetzt hielt, in einer Paradoxie verharrt, nimmt nicht nur eine unbequeme Stellung ein; er kann die Stellung nur halten, wenn mindestens plausibel zu machen ist, daB es keinen Ausweg gibt. Auch der Ruckzug aus einer aporetischen Situation muB verlegt sein, sonst gibt es einen Weg, eben den zuriick. Dies, meine ich, ist aber der Fall. Lehrreich ist der Vergleich mit Nietzsche insofern, als er auf den asthetischen Erfahrungshorizont aufmerksam macht, der den zeitdiagnostischen Blick lenkt und motiviert. Ich habe gezeigt, wie Nietzsche jenes Moment der Vernunft, das sich im Eigensinn der asthetisch-expressiven Wertsphare, insbesondere in der avantgardistischen Kunstund Kunstkritikzur Geltung bringt, aus demZusammenhang mit theoretischer und praktischer Vernunft herausbricht und wie er die asthetische Urteilskraft am Leitfaden der ins Irrationale verstoBenen »Wertschatzung« zu einem Unterscheidungsvermogen jenseits von Wahr und Falsch, Gut und Bose stilisiert. Auf diesem Wege gewinnt Nietzsche MaBstabe fur eine Kulturkritik, die Wissenschaft und Moral in ahnlicher Weise als ideologische Ausdrucksformen eines pervertierten Willens zur Macht entlarvt, wie die Dialektik der Aufklarung diese Gebilde als Verkorperungen der instrumentellen Vernunft denunziert. Dieser U mstand legt die Vermutung nahe, daB Horkheimer und Adorno die kulturelle Moderne aus einem ahnlichen Erfahrungshorizont wahrnehmen, mit derselben gesteigerten Sensibilitat, auch mit derselben eingeengten Optik, die gegenuber den Spuren und den existierenden Formen kommunikativer Rationalitat unempfindlich macht. Dafur spricht auch die Architektonik der Adornoschen Spatphilosophie, in der Negative 155
Dialektik undAsthetische Theorie sich gegenseitig stiitzen - die eine, die den paradoxen Begriff des Nicht-Identischen entfaltet, verweist auf die andere, die den in den avancierten Kunstwerken vermummten mimetischen Gehalt dechiffriert. Hat die Problemlage, der sich Horkheimer und Adorno Anfang der vierziger Jahre konfrontiert sahen, keinen Ausweg gelassen? GewiB, die Theorie, auf die sie sich bis dahin gestiitzt hatten, und das ideologiekritische Verfahren trugen nicht mehr - weil die Produktivkrafte keine sprengende Kraft mehr entwickelten; weil Krisen und Klassenkonflikte kein revolutionares, iiberhaupt kein einheitliches, sondern ein fragmentiertes BewuBtsein forderten; weil schlieBlich die biirgerlichen Ideale eingezogen wurden, jedenfalls Formen annahmen, die einer immanent ansetzenden Kritik Angriffsflachen entzogen. Andererseits haben Horkheimer und Adorno .damals auf die sozialwissenschaftliche Revision der Theorie keine Miihe mehr verwendet, weil die Skepsis gegen den Wahrheitsgehalt der biirgerlichen Ideen die MaBstabe der Ideologiekritik selbst in Frage zu stellen schien. Angesichts dieses zweiten Elements haben Horkheimer und Adorno den eigentlich problematischen Zug getan; sie haben sich, wie der Historismus28 , einer hemmungslosen Vernunftskepsis iiberlassen, statt die Griinde zu erwagen, die an dieser Skepsis selber zweifeln lassen. Auf diesem Wege hatten sich die normativen Grundlagen der kritischen Gesellschaftstheorie vielleicht so tieflegen lassen29 , daB sie von einer Dekomposition der biirgerlichen Kultur, wie sie sich damals in Deutschland vor aller Augen vollzogen hat, nicht beriihrt worden ware. T atsachlich hat die Ideologiekritik in einer Hinsicht die undialektische Aufklarung des ontologischen Denkens auch fortgesetzt. Sie blieb in der puristischen Vorstellung befangen, als stecke in den internen Beziehungen zwischen Genesis und Geltung der Teufel, der auszutreiben sei, damit sich die Theorie, von allen empirischen Beimengungen gereinigt, in ihrem eigenen Elemente bewegen konne. Dieses Erbes hat sich die total gewordene Kritik nicht entle28 H. Schnadelbach, Uber historische Aufklarung, in: Allgemeine Zeitschr. f. Philos. 1979, 17ff. 29 Vgl. meine Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Ffm. 1981.
digt. Denn erst recht verrat sich in der Intention einer »letzten Enthiillung«, die den Schleier iiber der Konfusion von Vernunft und Macht mit einem Ruck wegziehen soIl, ein puristisches Vorhabenahnlich dem Vorhaben der Ontologie, Sein und Schein kategorial, d.h. mit einem Schlage zu trennen. Beide Spharen sind aber, wie in der Kommunikationsgemeinschaft der Forscher der context of discovery und der context of justification, so miteinander verwoben, daB sie prozedural, durch vermittelndes Denken, und das heiBt: immer von neuem, geschieden werden miissen. In der Argumentation verschranken sich stets Kritik und Theorie, Aufklarung und Begriindung, auch wenn die Diskursteilnehmer unterstellen miissen, daB unter den unausweichlichen Kommunikationsvoraussetzungen der argumentativen Rede nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommt. Aber sie wissen, oder konnen es wissen, daB auch diese Idealisierung nur notig ist, weil sich Dberzeugungen in einem Medium bilden und bewahren, das nicht »rein« ist, nicht nach Art der platonischen Ideen der Welt der Erscheinungen enthoben ist. Allein eine Rede, die sich das eingesteht, mag den Bann des my this chen Denkens doch noch losen, ohne des Lichts der im Mythos auch aufbewahrten semantischen Potentiale verlustig zu gehen.
VI. Die metaphysikkritische Unterwanderung des okzidentalen Rationalismus: Heidegger
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Horkheimer und Adorno kampfen noch mit Nietzsche, Heidegger und Bataille versammeln sich unter Nietzsches Banner zum letzten Gefecht. Anhand der Nietzschevorlesungen aus den dreiBiger und friihen vierziger J ahren mochte ich zunachst verfolgen, wie Heidegger schrittweise den dionysischen Messianismus in das Unternehmen aufnimmt, das darauf abzielt, die Schwelle zum postmodernen Denken auf dem Wege einer intern ansetzenden Uberwindung der .r Metaphysik zu uberschreiten. Auf diesem Wege gelangt Heidegger ,,( ~.? eineJ:_~_e..mp..m:a.lj~i~n_e.n_Urspr-u.ngsphilQ~?phie. Was ich da.Dlllter '-----'''verstehe, will ich vorweg durch vier Operationen kennzeichnen, die Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche vornimmt. I) Als erstes setzt Heidegger die Philosophie wieder in die Herrschaftsposition ein, aus der sie durch die Kritik der Junghegelianer vertrieben worden war. Damals war die Entsublimierung des Geistes noch in Hegels eigenen Begriffen vollzogen worden - als eine Rehabilitierung des AuBeren gegenuber dem Inneren, des Materiellen gegenuber dem Spirituellen, des Seins gegenuber dem BewuBtsein, des Objektiven gegenuber dem Subjektiven, der Sinnlichkeit gegenuber dem Verstand und der Empirie gegenuber der Reflexion. Aus dieser Kritik des Idealismus hatte sich eine Entmachtigung der Philosophie ergeben - nicht nur gegenuber dem eigensinnigen Gang von Wissenschaft, Moral und Kunst, sondern auch gegenuber dem Eigenrecht der politisch-sozialen Welt. 1m Gegenzug gibt Heidegger der Philosophie die verlorene Machtfiille wieder zuruck. Nach seiner Auffassung sind namlich die historischen Schicksale einer Kultur oder einer Gesellschaft jeweils in ihrem Sinn festgelegt durch ein kollektiv verbindliches Vorverstandnis von allem, was sich in der Welt ereignen kann. Dieses ontologische Vorverstandnis hangt von horizontbildenden Grundbegriffen ab, die den Sinn des Seien-
den gewissermaBen prajudizieren: »Wie auch immer das Seiende ausgekgt werden mag, ob als Geist im Sinne des Spiritualismus, ob als Stoff und Kraft im Sinne des Materialismus, ob als Werden und Leben, ob als Wille, als Substanz oder Subjekt, ob als Energeia, ob . als Ewige Wiederkehr des Gleichen, jedesmal erscheint das Seiende als Seiendes im Lichte des Sein.«l 1m Abendland ist nun die Metaphysik der Ort, an dem sich dieses Vorverstandnis am klarsten artikuliert. Die epochalen Wandlungen des Seinsverstandnisses spiegeln sich in der Geschichte der Metaphysik. Schon fur Hegel war die Geschichte der Philosophie zum Schlussel fur die Philosophie der Geschichte geworden. Einen vergleichbaren Rang erhalt die Geschichte der Metaphysik fur Heidegger; mit ihr bemachtigt sich der Philosoph der Quellen, von denen jede. Epoche schicksalhaft ihr eigenes Licht empfangt. 2) Diese idealistische Optik hat Folgen fur Heideggers Kritik der Moderne. Zu Beginn der 40er Jahre - zur gleichen Zeit, als Horkheimer und Adorno in Kalifornien jene verzweifelten Fragmente niederschrieben, die spater als »Dialektik der Aufklarung« verOffentlicht wurden - sieht Heidegger in den politischen und militarischen Erscheinungsformen des T otalitaren die »Vollendung der europaisch-neuzeitlichen Weltherrschaft«. Er spricht yom »Kampf urn die Erdherrschaft«, yom »Kampf urn die unbeschrankte Ausnutzung der Erde als Rohstoffgebiet und urn die illusionslose Verwendung des Menschenmaterials im Dienste der unbedingten Ermachtigung des >Willens zur Macht<.«2 In einem Ton, der immer noch nic~t ganz frei ist von Bewunderung, charakterisiert Heidegger den Ubermenschen nach dem Bilde eines idealtypischen SAMannes: »Der Ubermensch ist der Schlag jenes Menschentums, das sich erstmals als Schlag will und selbst zu dies em Schlag sich schlagt ... Dieser Menschenschlag setzt innerhalb des sinnlosen Ganzen den Willen zur Macht als den >Sinn der Erde<. Die letzte Periode des europaischen Nihilismus ist die >Katastrophe< im Sinne der bejahenden Umwendung.«3 Heidegger sieht das totalitare Wesen seiner Epoche gekennzeichnet durch die global ausgreifenden Techniken der Naturbeherrschung, der Kriegfuhrung und der Rassenzuch1 Einleitung zu: Was ist Metaphysik, in Heidegger (1967), 36rf. 2 Heidegger (1961), Bd. 2, 333. 3 Heidegger (1961), Bd.
2,
313.
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tung. In ihnen kommt die verabsolutierte Zweckrationalitat der »Durchrechnung alles Handelns und Planens« zum Ausdruck. Aber diese griindet wiederum in dem spezifisch neuzeitlichen Seinsverstandnis, das sich von Descartes bis Nietzsche radikalisierthat: »Das Zeitalter, das wir die Neuzeit nennen, ... bestimmt sich dadurch, daB der Mensch MaB und Mitte des Seienden wird. Der Mensch ist das allem Seienden, d. h. neuzeitlich aller Vergegenstandlichung und Vorstellbarkeit Zugrundeliegende, das subiectum.«4 Heideggers Originalitat besteht in der metaphysikgeschichtlichen Einordnung der neuzeitlichen Herrschaft des Subjekts. Descartes steht gleichsam in der Mitte zwischen Protagoras und Nietzsche. Er begreift die Subjektivitat des SelbstbewuBtseins als die absolut gewisse Grundlage des Vorstellens; damit verwandelt sich das Seiende im ganzen in die subjektive Welt vorgestellter Objekte, und die Wahrheit in subjektive GewiBheit. 5 Mit dieser Kritik des neuzeitlichen Subjektivismus nimmt Heidegger ein Motiv auf, das seit Hegel zum Themenbestand des Diskurses der Moderne gehort. Interessant ist weniger die ontologische Wendung, die Heidegger dem Thema gibt, als die Unzweideutigkeit, -{.. . I mit der er der subjektzentrierten Vernunft den ProzeB macht. Heidegger achtet kaum auf jene Differenz zwischen Vernunft und Verstand, aus der Hegel noch die Dialektik der .t...ufkl~g entwickeln ~-l' wolIte; d-em SelbstbewuBts€ln-vermag er auBer cler autoritaren Seite ; eine versohnende nicht mehr abzugewinnen. Heidegger selbst, nifjJ.t_die?()~~ie~~:~ufkl~~n~, nivelli.ert die Vernu!:~t_~um Ver~ i ~~d. Dasselbe Semsvefstahdms, das dIe Moderne zur unbegrenzten Ausdehnung ihrer Verfiigungsgewalt iiber vergegenstandlichte \ " Prozesse der N atur und der Gesellschaft anstachelt, zwingt namlich die losgelassene Subjektivitat auch zu Bindungen, die der Absicherung ihres imperativen Vorgehens dienen. Dabei bleiben die selbst geschaffenen normativen Verbindlichkeiten hohle Idole. Aus dieser Sicht kann Heidegger die neuzeitliche Vernunft so griindlich destruieren, daB er nicht mehr unterscheidet zwischen den universalistischen Gehalten von Humanismus, Aufklarung und selbst Positivismus auf der einen Seite, den partikularistischen Selbs~be-
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4 Heidegger (1961), Bd. 2, 61. 5 Heidegger (1961), Bd. 2, 141ff., 195ff.
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hauptungsvorstellungen von Rassismus und Nationalismus oder von riickwartsgewandten Typenlehren im Stile Spenglers undJiingers auf der anderen Seite. 6 Gleichviel, ob die modernen Ideen im Namen der Vernunft oder der Zerstorung der Vernunft auftreten, das Prisma des neuzeitlichen Seinsverstandnisses zerlegt aile normativen Orientierungen in Machtanspriiche einer auf Selbststeigerung versessenen Subjektivitat. Allerdings kann die kritische Rekonstruktion der Geschichte der Metaphysik nicht ohne eigenen MaBstab auskommen. Diesen entlehnt sie dem implizit normativen Begriff der »Vollendung« der Metaphysik. 3) Die Idee von Ursprung und Ende der Metaphysik verdankt ihr kritisches Potential dem Umstand, daB sich Heidegger nicht weniger als Nietzsche innerhalb des modernen ZeitbewuBtseins bewegt. Fiir ihn ist der Beginn der N euzeit durch den epochalen Einschnitt der mit Descartes anhebenden BewuBtseinsphilosophie gekennzeichnet; und Nietzsches. Radikalisierung dieses Seinsverstandnisses markiert die neueste Zeit, welche die Konstellation der Gegenwart bestimmt. 7 Diese wiederum erscheint als Zeitpunkt der Krise; die Gegenwart steht unter dem Druck der Entscheidung, »ob diese Endzeit der AbschluB der abendlandischen Geschichte sei oder das Gegenspiel zu einem anderen Anfang.«8 Es handelt sich urn die Entscheidung, »ob das Abendland sich noch zutraut, ein Ziel iiber sich und der Geschichte zu schaffen, oder ob es vorzieht, in die Wahrung und Steigerung von Handels- und Lebensinteressen abzusinken und sich mit der Berufung auf das Bisherige, als sei dies das Absolute, zu begniigen.«9 Die Notwendigkeit eines anderen AnfangslO zieht den Blick in den Sog der Zukunft. Das Zuriickkehren zu den Urspriingen, zur »Wesensherkunft«, ist nur im Modus des Voranschreitens in die »Wesenszukunft« denkbar. Diese Zukunft tritt unter die Kategorie des schlechthin N euen: »Die VolIendung eiqes Zeitalters ... 1st die erstmals unbedingte und im Voraus vollstandige Anlage des Nichterwarteten und nie zu Erwartenden ... das Neue.«l1 Allerdings verkehrt sich Nietzsches Messianis6 Heidegger (1961), Bd. 2, 145f. 8 Heidegger (1961), Bd. 1,480. 10 Heidegger (1961), Bd. 2, 656.
7 Heidegger (1961), Bd. 2, 149. 9 Heidegger (1961), Bd. 1,579. 11 Heidegger (1961), Bd. 2,479.
~ mus, der noch Spielraum lief~, urn (wie es in der jiidischen Mystik heiBt) »das Heil zu bedrangen«, bei Heidegger in die apokalyptische Erwartung des katastrophischen Eintritts des N euen. Gleichzeitig entlehnt Heidegger den romantischen Vorbildern, insbesondere Holderlin, die Denkfigur des abwesenden Gottes, urn das Ende der Metaphysik als »Vollendung« und damit als untriigliches Anzeichen eines »anderen Anfangs« begreifen zu konnen. 4 e sich Nietzsche einst von der Wagnerschen Oper den Tigersprung in die zukiinftige Vergangenheit der altgriechischen Tragodie erhoffte, so mochte sich Heidegger von Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht zu den vorsokratischen Urspriingen der Metaphysik zuriickfedern lassen. Bevor aber Heidegger die Geschichte des Abendlandes, zwischen den Anfangen der Metaphysik und ihrem Bnde, als die Nacht der Gotterferne, bevor er die Vollendung der Metaphysik als die Riickkehr des entwichenen Gottes beschreiben kann, muB er eine Korrespondenz herstellen zwischen Dionysos und dem Anliegen der Metaphysik, die es mit dem Sein des Seienden zu tun hat. Der Halbgott Dionysos hatte sich den Romantikern sowohl wie Nietzsche als der abwesende Gott angeboten, der einer gottverlassenen Moderne durch seine »groBte Entfernung« zu verstehen gibt, was ihr im Zuge ihres eigenen Fortschrittes an sozialen Bindungsenergien entzogen worden ist. Als \- Briicke zwischen dies em Dionysosgedanken und der Grundfrage \ der Metaphysik dient nun der Gedanke der ontologischen DiffeI renz. Heidegger trennt das Sein, das immer als das Sein des Seienden ',," verstanden worden war, yom Seienden abo DasSein kann namlich nur dann als Trager des dionysischen Geschehens fungieren, wenn es - als der geschichtliche Horizont, innerhalb des sen Seiendes allererst zur Erscheinung gelangt - gewissermaBen autonom wird. Erst das yom Seienden hypostasierend unterschiedeneSein kann die Rolle des Dionysos iibernehmen: »Das Seiende ist yom Sein selbst verlassen. Die Seinsverlassenheit geht das Seiende im ganzen an, nicht nur das Seiende von der Art des Menschen, der das Seiende als solches vorstellt, in welchem Vorstellen sich ihm das Sein selbst in seiner Wahrheit entzieht.«12 12 Heielegger (1961), Bd. 162
2,
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Heid'gg'" ...hei", unmnudlich di, po,itiv< G,w.!, di"" Entzug, von Sein als ein Geschehen der Verweigerung heraus. »Das Ausbleiben des Seins ist das Sein selbst als dieses Ausbleiben.«13 In der totalen Seinsvergessenheit der Moderne wird das Negative der Seinsverlassenheit nicht einmal mehr empfunden. Daraus erklart sich die zentrale Bedeutung einer Anamnese der Seinsgeschichte, die sich jetzt als die Destruktion der Selbstvergessenheit der Metaphysik zu erkennen gibt. 14 Heideggers ganze Anstrengung geht dahin, »das Ausbleiben der Unverborgenheit des Seins als eine Ankunft des Seins selbst zu erfahren und das so Erfahrene zu bedenken.«15 4) Heidegger kann allerdings die Destruktion der Geschichte der Metaphysik nicht als entlarvende Kritik, die Uberwindung der Metaphysik nicht als einen letzten Akt der Enthiillung verstehen. Denn die Selbstreflexion, die das leistet, gehort ja noch in die Epo- ~ che der neuzeitlichen Subjektivitat. Also muB das Denken, das die ontologische Diffe.!~z als !-~!!fa4(!n beniitzt, eine Erkenntniskom- . ~ petenz ·ense.i!! der S - --e' on .enseits des diskursiven Denkens ~ .. erhaupt in Anspruch ne~en. ietzsche konnte sich-nocll-,r;:r--auf berufen, die Philosophie »auf den Boden der Kunst zu stellen«; Heidegger bleibt nur der versichernde Gestus, daB es fiir Eingeweihte »ein Denken gibt, das strenger ist als das begriffliche«.16 Das ~. szientifische Denken und die methodisch betriebene Forschung verfallen der pauschalen Abwertung, weil sie sich innerhalb des durch die Subjektphilosophie vorgezeichneten Seinsverstandnisses der Moderne bewegen. Selbst die Philosophie verharrt, solange sie auf Argumentation nicht verzichtet, im Bannkreis des Objektivismus. Auch sie muB sich vorhalten lassen, daB »alles Widerlegen im .>\ Felde des wesentlichen Denkens toricht (ist).«17 Urn die Notwendigkeit, Sonderwissen, d.h. einen privilegierten Zugang zur Wahrheit in Anspruch zu nehmen, auch nur oberflachlich plausibel zu machen, muB Heidegger freilich die differenzier-
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13 Heidegger (1961), Bd. 2, 353. 14 Schon in "Sein und Zeit«, Tiibingen 1949, § 6, spricht Heidegger von der »Destruktion der Geschichte der Ontologie«. 15 Heidegger (1961), Bd. 2, 367. 16 Heidegger (1967),353. 17 Heidegger (1967),333.
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ten Entwicklungen der Wissenschaften und der Philosophie nach Hegel auf verbliiffende Weise einebnen. In der 1939 gehaltenen Nietzsche-Vorlesung findet sich ein interessantes Kapitel, das die Uberschrift tragt: »Verstandigung und Berechnung«. Darin wendet sich Heidegger wie stets gegen den monologischel!._A!!.~~g___
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580.
Ausflucht in die Unmittelbarkeit mystischer Versenkung offenlaBt. \ /-- i Esgibt andere W %e, die a~r Su~ektphi.!9.§QP~ hex~sfiiJll:en.,--~~
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Hegel und Marx hatten sich beim Versuch, die Subjektphilosophie zu iiberwinden, in deren eigenen Grundbegriffen verfangen. Dieser Vorwurf laBt sich gegen Heidegger nicht erheben, wohl aber ein ahnlich schwerwiegender Einwand. Heidegger lost sich so wenig von den Problemvorgaben des transzendentalen BewuBtseins, daB er das grundbegriffliche Gehause der BewuBtseinsphilosophie nicht ~~ sprengen kann als auf dem W ege abstrakterJ,,'kgatiQP,J'~:oeh-- im »Brief iiber den Humanismus«, der das Resultat einer zehnJ ahre wahrenden Nietzscheinterpretation zusammenfaBt, kennzeichnet Heidegger das eigene Vorgehen durch implizite Bezugnahmen auf Husserl. Er wolle, heiBt es dort, »die wesentliche Hilfe des phanomenologischen Sehens festhalten und gleichwohl die Absicht auf >Wissenschaft< und >Forschung< fallen lassen.«19 Husserl verstand die transzendentale Reduktion als ein Verfahren, das dem Phanomenologen erlauben sollte, einen klaren Schnitt zu legen zwischen der in natiirlicher Einstellung gegebenen Welt des Seienden und der Sphare des reinen, konstituierenden BewuBtseins, x das dem Seienden erst seinen Sinn verleiht. Am Intuitionismus dieses Verfahrens hat Heidegger zeitlebens festgehalten; in der Spatphilosophie wird das Vorgehen lediglich yom Anspruch des Methodischen entlastet und zum privilegierten »Innestehen inmitten der Wahrheit des Seins« .entgrenzt. Auch Husserls Problemstellung 19 Heidegger (1967),353.
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bleibt fiir Heidegger insoweit maBgebend, wie dieser die erkennt.. losophie genannt hatte, wandelte sich von Schlegel bis Nietzsche I zum vernunftkritischen Bediirfnis der neuen Mythologie. Aber erst nistheoretische Grundfrage bloB /ir1s Ontologische wendet. In beiden Fallen richtet sich der phanomenologische Blick auf die Welt als . Heidegger hat dieses konkrete Bediirfnis ontologisierend und funKorrelat des erkennenden Subjekts. Anders als z. B. Humboldt, damentalisierend zu einem Sein, das sich dem Seienden entzieht, George Herbert Mead oder der spate Wittgenstein lost sich Heidegverfliichtigt. Durch diese Verschiebung macht Heidegger beides unkenntlich: sowohl die Herkunft jenes Bediirfnisses aus den ger nicht von der traditionellen Auszeichnung des theoretischen Pathologien einer zweideutig rationalisierten Lebenswelt wie auch Verhaltens, des konstativen Sprachgebraucbs und des Geltungsandie entschlossen subjektivist" ,uB-&t-afs..E-l'fahr-ua-gshinter-gruruL--\ _ spruchs propositional':EJY~hrheit.Inn~g~.JjverW~ise. .bleibt Heidegger SClilieBIiCli_auch.. an den Fundamentalismif,s.. dec Be~Bt': einer ~alisierten ernunftkritik. Heidegger chiffriert die hand.'A --seinsphilosophie gebund;~.- til: der Einleitung;~ »Wasi~~-Meta. ,.... greiflichenEntstellungen der kommunikativen Alltagspraxis in physik« vergleicht er die Philo sophie mit einem Baum, der sich in einem ungreifbaren, von Philosophen verwalteten Seinsgeschick. Zugleich schneidet er die Moglichkeit der Dechiffrierung dadurch den Wissenschaften verzweigt und selbst dem Wurzelboden der ab, daB er die defizitare·Verstandigungspraxis des Alltags als seins- a t Metaphysik entwachst. Das propagierte Andenken des Seins stellt den fundamentalistischen Ansatz nicht in Frage - »es reiBt, urn im vergessene, JUlgare, auf Berechnung eingestellte Praxis der Bestandssicherung beiseiteschiebt und der entzweiten sittlichen TotaBild zu sprechen, die Wurzel der Philosophie nicht aus. Es grabt ihr \J'\ clen Grund und pfliigt ihr den Boden.«20 W eil Heidegger den Hierlit~t der Lebenswelt jedes wesentliche Interesse abspricht. 21 b~ Aus Heideggers Spatphilosophie ergibt sich als weitere Konsearchisierungen einer auf Selbstbegriindung erpichten Philosophie quenz, daB sichdie Kritik der Moderne von wissenschaftlichen nicht widerspricht, kann er dem Fundamentalismus nur mit der Ausgrabung einer noch tiefer gelegenen - und nunmehr schwanAnalysen unabhangig macht. Das »wesentliche Denken« verweigert sich allen empirischen und normativen Fragen, die mit sozialkenden Schicht - begegnen. Die Idee des Seinsgeschicks bleibt in wissenschaftlichen und historischen Mitteln bearbeitet oder iiberdieser Hinsicht an ihr abstrakt verneintes Gegenteil gekettet. Heidegger iiberschreitet den Horizont der BewuBtseinsphilosophie haupt in argumentativer Form behandelt werden konnen. Urn so nur, urn in deren Schatten zu verharren. Bevor ich anhand von »Sein unbefangener Breiten sich die abstrakten Wesenseinsichten im und Zeit« diese zwielichtige Position deutlicher herausarbeite,- '. undurchschauten Vorurteilshorizont der biirgerlichen Kulturkritik mochte ich auf drei miBliche Konsequenzen hinweisen. . aus. Heideggers zeitkritische Urteile tiber das Man, iiber die Diktarur der Offentlichkeit und die Ohnmacht des Privaten, iiber Techa) Der.Diskurs der Moderne hatte seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts unter immer wieder neuen Titeln ein einziges Thema: das nokratie und Massenzivilisation entbehren jeder Originalitat, weil Erlahmen der sozialen Bindungskrafte, Privatisierung und Entsie zum generationstypischen Meinungsrepertoire der deutschen zweiung, kurz: jene Deformationen einer einseitig rationalisierten Mandarine gehoren. 22 In der Heideggerschule sind gewiB ernstAlltagspraxis, die das Bediirfnis nach einem Aquivalent fiir die verhaftere Versuche gemacht worden, die ontologischen Begriffe der einigende Macht der Religion hervorrufen. Die einen setzten ihre Technik, des Totalitaren, des Politischen iiberhaupt genauer auf Hoffnung auf die reflexive Kraft der Vernunft - oder wenigstens auf Zwecke der Gegenwartsanalyse einzustellen; aber gerade an diesen j eine Mythologie der Vernunft; die anderen beschworen die mythoBemiihungen zeigt sich die Ironie, daB das Seinsdenken urn so eher poetische Kraft einer Kunst, die den Mittelpunkt des regenerierten 21 Heidegger (1961), Bd. 1,580. offentlichen Lebens bilden sollte. Was Hegel das Bediirfnis der Phi22 F. K. Ringer, The Decline of the German Mandarins, Cambro Mass. 1969; dazu
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meine Rezension in: 45 8ff. 166
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Habermas, Philosophisch-politische Profile, Ffm. 1981,
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aktuellen Wissenschaftsmoden bloB auf den Leim geht, je mehr es sich dem Wissenschaftsbetrieb enthoben glaubt. Problematisch ist schlieBlich die U nbestimmtheit des Schicksals, das Heidegger als Ergebnis der Dberwindung der Metaphysik in Aussicht stellt. Weil sich das Sein dem assertorischen Zugriff deskriptiver Satze entzieht, weil es nur in indirekter Rede eingekreist und »erschwiegen« werden kann, bleiben die Geschicke des Seins unerfindlich. Die propositional gehaltlose Rede yom Sein hat gleichwohl den illokutionaren Sinn, Schicksalsergebenheit zu fordern. lhre praktisch-politische Seite bestehtim perlokutionaren Effekt der innaltlich diffusen Gehorsamsbereitschaft gegenuber einer auratischen, aber unbestimmten Autoritat. Die Rhetorik des spaten Heidegger entschadigt fur die propositionalen Gehalte, die der Text selbst verweigert: sie stimmt die Adressaten in den Umgangmit pseudo-sakralen Machten ein. ) Der Mensch ist der »Hirte des Seins«. Denken ist ein andachtiges »Sichinanspruchnehmenlassen«. Es »gehort« dem Sein. Das Andenken des Seins untersteht »Gesetzen der Schicklichkeit«. Das Denken »achtet« auf das Geschick des Seins. Der demutige Hirt wird yom Sein selbst in die Wahrnis seiner Wahrheit »gerufen«. So »gewahrt« das Sein dem Heilen Aufgang in Huld und Andrang zu Unheil dem Grimm. Das sind bekannte Formeln aus dem Brief uber den Humanismus, die sich seitdem stereotyp wiederholen. Die Sprache von »Sein und Zeit« hatte den Dezisionismus leerer Entschiedenheit suggeriert; die Spatphilosophie legt die Submissivitat einer ebenso leeren Unterwerfungsbereitschaft nahe. GewiB, die Leerformel des »Andenkens« kann auch mit einem anderen Einstellungssyndrom besetzt werden, beispielsweise mit dem anarchistischen Ansinnen einer subversiven Verweigerungshaltung, die gegenwartigen Stimmungslagen eher entspricht als die blinde Submission unters Hohere. 23 Aber irritierend bleibt die Beliebigkeit,
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23 Reiner Schiirmann sieht das Ende der Metaphysik darin, daB die Folge von Epochen, in denen das ontologische Verstandnis durch die Herrschaft einzelner Prinzipien bestimmt war, abgeschlossen ist. Die Postmoderne steht im Zeichen des Absterbens jeder Form von vereinheitlichender, prinzipiengeleiteter Weltauslegung; sie tragt die anarchistischen Ziige einer polyzentrischen Welt, die ihre bisherigen kategorialen Differenzierungen einbiiBt. Mit der bekannten Konstellation von
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mit der dieselbe Denkfigur zeitgeschichtlich aktualisiert werden kann. Wenn man diese Konsequenzen bedenkt, wird man Zweifel daran hegen durfen, daB sich Heideggers Spatphilosophie, die Nietzsches Metaphysikkritik uberbietet, dem Diskurs der Moderne tatsachlich entzieht. Sie verdankt sich einer Kehre, die aus der Sackgasse von »Sein und Zeit« herausfuhren sollte. Als eine Sackgasse laBt sich diese argumentativ strengste Untersuchung des Philosophen Heidegger freilich nur verstehen, wenn man sie in einen anderen denkgeschichtlichen Kontext einordnet als den, den sich Heidegger retrospektiv zurechtlegt.
III Heidegger hat immer wieder betont, daB er schon die Existentialanalyse des Daseins einzig mit dem Ziel durchgefuhrt habe, die seit den Anfangen der Metaphysik verschuttete Frage nach dem Sinn von Sein zu erneuern. Er will den exponierten Ort besetzen, an dem sichdie Geschichte der Metaphysik in ihrem einheitsstiftenden Sinn zu erkennen gibt und gleichzeitig vollendet. 24 Dieser herrische Anspruch des spateren Heidegger verdeckt den naherliegenden Kontext, in dem »Sein und Zeit« tatsachlich entstanden ist. leh meine nicht nur den Nachidealismus des 19. Jahrhunderts, sondern speziell jene neuontologische Wende, die die deutsche Philosophie nach dem ersten Weltkrieg von Rickert uber Scheler bis N. HartErkennen und Handeln verandert sich auch der Begriff des Politischen. Schiirmann kennzeichnet den Strukturwandel durch die folgenden Merkmale: (1) Abolishing the primacy of teleology in action. (2) Abolishing the primacy of responsibility in the legitimation of action. (3) Change into action as a protest against the administered world. (4) Disinterest in the future of Mankind. (5) Anarchy as the essence of what is »Doable«. Vgl. R. Schiirmann, Questioning the Foundation of Practical Philosophy, Human Studies, Vol. I, 1980, 357ff.; ders., Political Thinking in Heidegger, Social Research, Vol. 45,1978, 191ff.; ders., Le principe d'anarchie. Heidegger etla question de l'agir, Paris 1982. 24 Aus dieser Sicht bestimmt W. Schulz den »Philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers« in: Phil. Rundsch., 1953, 65ff. und 2IIff., abgedr. in: O. Poggeler (Hg.), Heidegger, Ki.iln 1969, 95ff.
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mann erfaBt hat. Philosophiegeschichtlich betrachtet, handelt es sich in dieser Ara des zerfallenden Neukantianismus, der ja damals die einzige Philosophie von Weltgeltung gewesen ist, nicht urn eine Rtickkehr zur vorkantischen Ontologie. Vielmehr dienten ontologische Denkformen dazu, die transzendentale Subjektivitat tiber den Bereich der Kognition hinaus zu erweitern und zu »konkretisieren«. Bereits der Historismus und die Lebensphilosophie hatten alltagliche und auBeralltagliche Erfahrungsbereiche der Traditionsvermittlung, der asthetischen Kreativitat, der leiblichen, sozialen und geschichtlichen Existenz erschlossen und zu philosophischem Interesse erhoben - Erfahrungsbereiche, die die konstitutiven Leistungen des transzendentalen Ich tiberforderten, jedenfalls den klassischen Begriff des transzendentalen Subjekts sprengten. Dilthey, Bergson und Simmel hatten die Erzeugungsleistungen der transzendentalen Synthesis durch die unkiare, vitalistisch gefarbte Produktivitat des Lebens oder des BewuBtseins ersetzt; allerdings hatten sie sich dabei noch nicht von dem expressivistischen Modell der BewuBtseinsphilosophie gelost. MaBgeblich blieb auch ftir sie die Vorstellung einer Subjektivitat, die sich entauBert, urn diese Objektivationen wiederum ins Erleben einzuschmelzen.25 Heidegger nimmt diese Impulse auf, erkennt aber die Unangemessenheit der mitgeschleppten bewuBtseinsphilosophischen Grundbegriffe. Er steht vor dem Problem, den seit Kant in Ftihrung gegangenen Begriff der transzendentalen Subjektivitat abzulosen, ohne den Reichtum an Differenzierungen einzuebnen, den die Subjektphilosophie zuletzt in Husserls Phanomenologie erarbeitet hatte. Den Problemkontext, in dem »Sein und Zeit« entstanden ist, erwahnt Heidegger selbst in § 10, woer auf Husserl und Scheler Bezug nimmt: »Die Person ist kein Ding, keine Substanz, kein Gegenstand. Damit ist dasselbe betont, was Husserl andeutet, wenn er ftir die Einheit der Person eine wesentlich andere Konstitution fordert als ftir Naturdinge ... Zum Wesen der Person gehort, daB sie nur existiert im Vollzug intentionaler Akte ... Psychisches Sein hat also mit Personsein nichts zu tun. Akte werden vollzogen, 25 G. Simmel, Zur Philosophie der Kultur, in: Philosophische Kultur, Bin. 19 83' Vgl. auch mein Nachwort: Simmel als Zeitdiagnostiker, ebd. S. 243- 2 53.
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Person ist Aktvollzieher.«26 Heidegger gibt sich mit diesem Ansatz nicht zufrieden und fragt: »Aber welches ist der ontologische Sinn von >vollziehen<, wie ist positiv ontologisch die Seinsart der Person zu bestimmen?« Heidegger bedient sich des Vokabulars der neu-
~~~~~~,J.l~_4i~~~QSllng_de~_~~gt:~fk4.~;r~ns~e.n:_l >< dentalen SubJekuvltat welterzutrelben; aber bel dleser RadlkallSle- ( rung halt er an der transzendentalen Einstellung einer reflexiven " Aufklarung der Bedingungen der Moglichkeit des Personseins al§...des In-der-Welt-Seins fest. Andernfalls mtiBte die artikulierte Ftille der Strukturen im entdifferenzierenden Sog des lebensphilosophischen Begriffsbreis versacken. Die Subjektphilosophie soll durch die ebenso scharfe und systematische, aber eben tiefergreifende Begrifflichkeit einer transzendental verfahrenden Existentialontologie tiberwunden werden. Unter dies em Titel zwingt Heidegger auf originelle Weise theoretische Ansatze zusammen, die bis dahin unvereinbar waren und die nun im Hinblick auf das Zieleiner systematischen Ersetzung der subjektphilosophischen Grundbegriffe eine sinnvolle Forschungsperspektive anzeigen. 1m Einleitungskapitel von »Sein und Zeit« nimmt Heidegger jene drei wuchtigen begriffsstrategischen Entscheidungen vor, die den Weg zur Fundamentalontologie freimachen. Erstens verleiht er der transzendentalen Fragestellung einen ontologischen Sinn. Die positiven Wissenschaften befassen sich mit ontischen Fragen, sie machen Aussagen tiber Natur und Kultur, tiber etwas in der Welt. Die in transzendentaler Einstellung vorgenommene Analyse der Bedingungen dieser ontischen Erkenntnisarten klart dann die kategoriale Verfassung von Objektbereichen als Seingebieten. In diesem Sinne versteht Heidegger Kants Kritik der reinen Vernunft nicht primar als Erkenntnistheorie, sondern als »apriorische Sachlogik des Seingebiets N atur« (I I). Diese ontologisierende Einfarbung der Transzendentalphilosophie wird verstandlich, wenn man in Betracht zieht, daB die Wissenschaften selbst nicht, wie es der Neukantianismus behauptet hatte, auf freischwebende kognitive Leistungen zurtickgehen, sondern in konkreten Lebenszusammenhangen angesiedelt sind: »Wissenschaften sind Seinsweisen des Daseins« (13). Husserl hatte das die Fundierung der Wissenschaften 26 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tbg. 1949, 47f.
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:r Lebenswelt genannt. Der Sinn der kategorialen Verfassung v:issenschaftlichen Objektbereiche oder Seinsgebiete erschlieBt erst im Ruckgang auf das Seinsverstandnis derer, die sich schon in ihrer alltaglichen Existenz zu Seiendem in der Welt verhalten und diesen naiven Umgang zur Prazisionsform des Wissenschaftstreibens stilisieren konnen. Zur situierten, leiblich-geschichtlichen Existenz gehort das wie immer diffuse Verstandnis einer Welt, aus deren Horizont auch der Sinn des Seienden, das dann durch die Wissenschaften objektiviert werden kann, immer schon ausgelegt worden ist. Auf dieses vorontologische Seinsverstandnis stoBen wir, wenn wir in transzendentaler Einstellung hinter die von der Transzendentalphilosophie am Leitfaden der Wissenschaften freigelegte kategoriale Verfassung des Seienden zurUckfragen. Die Analyse des vorgangigen Weltverstandnisses erfaBt jene Strukturen der Lebenswelt oder des »In-der-Welt-Seins«, die Heidegger Existentialien nennt. Weil diese den Kategorien des Seienden im ganzen und speziell der Seinsgebiete, zu denen sich die Wissenschaftler in objektivierender Weise verhalten, vorgeordnet sind, verdient die existentiale Analytik des In-der-Welt-Seins den Namen einer fundamentalen Ontologie. Diese macht namlich erst die lebensweltlichen oder existentialen Grundlagen der ihrerseits in transzendentaler Einstellung ausgearbeiteten regionalen Ontologien durchsichtig. In einem zweiten Schritt verleiht Heidegger der phanomenologischen Methode den Sinn einer ontologischen H ermeneutik. Phanomen ist im Sinne Husserls alles, was sich von sich aus als es selbst zeigt. Indem Heidegger das Evidente als »das Offenbare« ubersetzt, spielt er auf die Oppositionsbegriffe des Verborgenen, Verhull ten, Verdeckten an. Phanomene kommen nur indirekt zur Erscheinung. Das Erscheinende ist das Seiende, das das Wie des Gegebenseins dieses Seienden gerade verdeckt. Die Phanomene entziehen sich dem direkten Zugriff, weil sie sich in ihren ontischen Erscheinungen gerade nicht zeigen als das, was sie von sich aus sind. Die Phanomenologie unterscheidet sich deshalb von den Wissenschaften dadurch, daB sie es nicht mit einer besonderen Art von Erscheinungen zu tun hat, sondern mit der Explikation dessen, was sich in allen Erscheinungen verbirgt, nur durch sie hindurch zu
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Wort meldet. Der Bereich der Phanomenologie ist das yom Seienden verstellte Sein. Deshalb bedarf es einer besonderen apophantischen Anstrengung, urn Phanomene zu vergegenwartigen. Ais Modell fur diese Anstrengung dient aber nicht mehr, wie bei Husserl, die Anschauung, sondern die Auslegung eines Textes. Nicht die intuitive Vergegenwartigung idealer Wesenheiten bringt die Phanomene zur Selbstgegebenheit, sondern das hermeneutische Verstehen eines komplexen Sinnzusammenhangs entbirgt das Sein. Damit bereitet Heidegger einen apophantischen Wahrheitsbegriff vor und verkehrt den methodischen Sinn der Phanomenologie der Wesensschau ins existenzialhermeneutische Gegenteil: an die Stelle der Beschreibung des unvermittelt Angeschauten tritt die Interpretation eines Sinnes, der sich jeder Evidenz entzieht. In einem letzten Schritt verknupft Heidegger die zugleich transzendental und hermeneutisch verfahrende Analytik des Daseins mit einem existenzphilosophischen Motiv. Das menschliche Dasein versteht sich selbst aus der Moglichkeit, es selbst oder nicht es selbst zu sein. Es steht vor der unausweichlichen Alternative von Uneigentlichkeitund Eigentlichkeit. Es ist ein Seiendes von der Art, das sein Sein »zu sein hat«. Das menschliche Dasein muB sich aus dem Horizont seiner Moglichkeiten ergreifen und seine Existenz selbst in die Hand nehmen. Wer dieser Alternative auszuweichen versucht, hat sich schon fur ein Leben im Modus des Dahintreibenlassens und der Verfallenheit entschieden. Dieses durch Kierkegaard existentialistisch zugespitzte Motiv der Verantwortung fur das eigene Heil ubersetzt Heidegger in die Formel von der Sorge urn die eigene Existenz: »Das Dasein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein urn dieses Selbst geht« (191). Dieses sakularisierte Heilsmotiv V'.erwendet nun Heidegger inhaltlich so, daB die zur Angst verscharfte Sorge urn das eigene Sein den Leitfaden fur die Analyse der zeitlichen Verfassung der menschlichen Existenz an die Hand gibt. Ebenso wichtig ist aber der methodische Gebrauch, den Heidegger von diesem Motiv macht. Nicht nur der Philosoph sieht sich bei der Frage nach dem Sinn von Sein an das vorontologische Welt- und Seinsverstandnis des Menschen in seiner leiblich-geschichtlichen Existenz verwiesen; vielmehr ist es eine Bestimmung dieser Existenz selbst, sich urn sein Sein zu kum173
mern, sich hermeneutisch der existentiellen Moglichkeiten seines »eigensten Seinkonnens« zu versichern. Insofern ist der Mensch von Haus aus ein ontologisches Wesen, dem die Seinsfrage existentiell aufgenotigt ist. Die existentiale Analytik entspringt dem tiefsten Antrieb der menschlichen Existenz selber. Heidegger nennt das die ontische Verwurzelung der existentialen Analytik: »Wenn die Interpretation des Sinnes von Sein Aufgabe wird, ist das Dasein nicht nur das primar zu befragende Seiende, es ist iiberdies das Seiende, das sich je schon in seinem Sein zu dem verhalt, wanach in dieser Frage gefragt wird. Die Seinsfrage ist dann aber nichts anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein selbst wesenhaft gehorenden Seinstendenz« (I 5). Die drei begriffsstrategischen Entscheidungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, daB Heidegger zunachst die Transzendentalphilosophie mit der Ontologie verklammert, urn die Existentialanalytik als Fundamentalontologie auszeichnen zu konnen; daB er fernet die Phanomenologie zur ontologischen Hermeneutik umdeutet, urn die Fundamentalontologie als Existentialhermeneutik durchfiihren zu konnen; und daB er schlieBlich die Existentialhermeneutik mit existenzphilosophischen Motiven besetzt, urn das Unternehmen der Fundamentalontologie doch noch in die ansonsten als bloB ontisch abgewerteten Interessenzusammenhange einbetten zu konnen. An dieser einzigen Stelle wird die ontologische Differenz iiberspielt und die strenge methodische Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen der transzendental zuganglichen Existentialien und dem Besonderen der konkret erfahrenen Existenzprobleme durchbrochen. ~urch diese Verklammerung scheint es Heidegger zu gelingen, der Subjekt-Objekt-Beziehung ihre paradigmatische Bedeutung zu nehmen. Mit der Wendung zur Ontologie sprengt er den Primat der Erkenntnistheorie, ohne dabei die transzendentale Fragestellung preiszugeben. Weil das Sein des Seienden intern auf das Seinsverstandnis bezogen bleibt, weil das Sein nur im Horizont des menschlichen Daseins zur Geltung kommt, bedeutet die Fundamentalontologie~ keinen Riickfall hinter die Transzendentalphilosophie, sondern sogar deren Radikalisierung. Die Wendung zur Existenzialhermeneutik beendet jedoch gleichzeitig die methodische Aus174
zeichnung der Selbstreflexion, die noch Husser! zum Verfahren der transzendentalen Reduktion genotigt hatte. An die Stelle der Selbstbeziehu~K£les ~.~~E2!.c:.~~~~,.?~~!>j~~!S, also .~~~..~,~!!>!tk~:Wllihs.ejn~" ..' ··x ~ Auslegung eines vorontologlschen Seinsverstandnisses, und damit die Explikation von Sinnzusammenhangen, in denen sich die alltagliche Existenz immer schon vorfindet. SchlieBlich·arbeitet Heidegger die existentialistischen Motive so ein, daB sich die Aufklarung iiber Strukturen des In-der-W elt-Seins (die an die Stelle der Bedingungen der Objektivitat der Erfahrung getreten sind) zugleich ali Antwort auf die praktische Frage nach dem richtigen Leben anbietet. Ein emphatischer Offenbarungsbegriff der Wahrheit fundiert die Geltung von Urteilen in der Authentizitat einer menschlichen Existenz, die sich vor aller Wissenschaft zu Seiendem verhalt. Dieser Wahrheitsbegriff dient als Leitfaden, anhand des sen Heidegger den Schliisselbegriff der Fundamentalontologie einfiihrt - den Begriff der Welt. Die Welt bildet den sinnerschlieBenden Horizont, innerhalb dessen sich Seiendes dem existentiell urn sein Sein besorgten Dasein zugleich entzieht und offenbart. Die Welt ist dem Subjekt, das sich handelnd oder erkennend auf Objekte bezieht, immer schon voraus. Denn nicht das Subjekt nimmt Beziehungen zu etwas .in der Welt auf, sondern die Welt stiftet allererst den Kontext, aus dessen Vorverstandnis Seiendes begegnen kann. Durch dieses vorontologische Seinsverstandnis ist der Mensch von Haus aus in Weltbeziige eingelassen und gegeniiber allem iibrigen innerweltlich Seienden privilegiert. Er ist dasjenige Seiende, das nicht nur in der Welt angetroffen werden kann; dank seiner besonderen Weise, in der Welt zu sein, ist der Mensch so mit den kontextbildenden, raumgebenden und zeitigenden Prozessen der WelterschlieBung verwoben, daB Heidegger seine Existenz als Da-sein charakterisiert, welches alles Seiende, indem es sich zu dies em verhalt, »sein laBt«. Das Da des Dasein ist der Ort, an dem sich die Lichtung des Seins offnet. Der begriffsstrategische Gewinn gegeniiber der Subjektphilosophie liegt auf der Hand: Erkennen und Handeln brauchen nicht mehr als Subjekt-Objekt-Beziehungen konzipiert zu werden. »Das Erkennen schafft weder allererst ein commercium des Subjekts mit einer
Welt (vorstellbarer oder manipulierbarer Gegenstande), noch entsteht dieses aus einer Einwirkung der Welt auf ein Subjekt. Erkennen ist ein im In-der-W elt-Sein fundierter Modus des Daseins« (62f.). An die Stelle des Subjekts, das der objektiven Welt als der Gesamtheit existierender Sachverhalte erkennend oder handelnd gegeniibertritt, konnen die in objektivierender Einstellung vollzogenen Akte des Erkennens und Handelns nun als Derivate von zugrundeliegenden Modis des Innestehens in einer Lebenswelt, einer als Kontext und Hintergrund intuitiv verstandenen Welt begriffen werden. Diese Weisen des lebensweltlichen In-Seins charakterisiert Heidegger im Hinblick auf ihre zeitliche Struktur
macht. Dieses Unternehmen gerat aber alsbald ins Stocken. Das zeigt sich bei der »Frage nach dem Wer des Daseins« (§ 25), die Heidegger zunachst dahingehend beantwortet, daB Dasein das Seiende ist, das je ich selbst bin: »Das Wer beantwortet sich aus dem Ich selbst, dem Subjekt, dem Selbst. Das Wer ist das, was sich im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnisse als Identisches durchhalt und dabei auf diese Mannigfaltigkeit bezieht« (114). Natiirlich wiirde diese Antwort geradewegs in die Subjektphilosophie zuriickfiihren. Deswegen dehnt Heidegger seine Analyse der ZeugweIt, wie sie sich aus der Sicht des einsam hantierenden Aktors als Bewandtniszusammenhang dargestellt hatte, auf die Welt der sozialen Beziehungen zwischen mehreren Aktoren aus: »Die Klarung des In-der-W elt-Seins zeigte, daB ... zunachst nie gegeben ist ein bloBes Subjekt ohne Welt. Und so ist ebensowenig zunachst ein . isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen« (116). Heidegger erweitert seine Welt-Analyse aus dem Blickwinkel der intersubjektiven Beziehungen, die Ich mit Anderen eingehe. Wie wir in anderem Zusammenhang sehen werden, verspricht der Wechsel der Perspektive von der einsamen Zwecktatigkeit zur sozialen Interaktion tatsachlich AufschluB iiber diejenigen Prozesse der Verstandigung - und nicht nur des Verstehens -, die die Welt als intersubjektiv geteilten lebensweltlichen Hintergrund prasent halX ten. An der kommunikativ verwendeten Sprache lassen sich die ..:+Strukturen ablesen, die erklaren, wie sich die Lebenswelt, seIber subjektlos, gleichwohl durch die Subjekte und deren verstandigungsorientiertes Handeln hindurch reproduziert. Damit wiirde sich die Frage nach dem »Wer« des Daseins, die Heidegger doch wieder auf ein Subjekt zuriickfiihrt, das die Welt des In-der-WeltSeins durch den authentischen Entwurf seiner Daseinsmoglichkeiten konstituiert, erledigen. Die Lebenswelt, in die die menschliche Existenz eingelassen ist, wird namlich keineswegs durch die existentialen Anstrengungen eines Daseins, das stillschweigend den Platz der transzendentalen Subjektivitat angenommen hat, erzeugt. Sie ist gleichsam in den Strukturen der sprachlichen Intersubjektivi-l tat aufgehangt und erhalt sich iiber dasselbe Medium, in dem sich f )( sprach- und handlungsfahige Subjekte miteinander iiber etwas in \ der Welt verstandigen. . 177
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l-" Den W eg zu einer solchen kommunikationstheoretischen Antwort
beschreitet Heidegger freilich nicht. Er entwertet namlichvon vornherein die Strukturen des lebensweltlichen Hintergrundes, die . -uber das vereinzelte Dasein hinausreichen, als Strukturen einer \ durchschnittlichen Alltagsexistenz, d. h. des uneigentlichen Daseins. Das Mit-Dasein der Anderen erscheint wohl zunachst als ein konstitutiver Zug des In-der-Welt-Seins. Aber die Vorgangigkeit der Intersubjektivitat der Lebenswelt vor der Je-meinigkeit des Daseins entzieht sich einer Begrifflichkeit, die dem Solipsismus der Husserlschen Phanomenologie verhaftet bleibt. In dieser laBt sich der Gedanke, daB Subjekte im gleichen Zuge individuiert und veresellschaftet werden, nicht unterbringen. Heideggerkonstruiert in '. ,- »Sein und Zeit« Intersubjektivitat nicht anders als Husserl in den »Cartesianischen Meditationen«. Das je-meinige Dasein konstitu'>K".L--fert das Mitsein so wie das transzendentale Ich die Intersubjektivitat der von mir und anderen geteilten Welt. Deshalb kann er die Analyse des »Mitseins« fur die Frage, wie sich die Welt selbst konstituiert und erhalt, nicht fruchtbar machen. Mit dem Thema Sprache befaBt er sich erst, nachdem er seine Analysen in eine andere Richtung gelenkt hat (§ 34). Die kommunikative Alltagspraxis solI nur ein Selbstsein im Modus der »Herrschaft der Anderen« ermoglichen: »Man selbst gehort zu den Anderen und verfestigt ihre Macht ... Das >W er< ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summer Aller. Das >Wer< ist das Neutrum, das Man« (126). Das »Man« dient nun als die Folie, vor der die Kierkegaardsche, im Angesicht des Todes radikal vereinzelte Existenz des heilsbedurftigen Menschen in seiner Eigentlichkeit als das Wer des Daseins identifiziert werden kann. Nur als »je meines« ist das Seinkonnen frei fur Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit. Anders als Kierkegaard will Heidegger freilich das Ganze des endlichen Daseins nicht mehr »ontotheologisch« aus einem ermachtigenden Bezug zu einem hochsten Seienden oder zum Seienden im ganzen denken, sondern nur noch aus sich selbst - d. h. als paradoxe, weilbodenlose Selbstbehauptung. W. Schulz charakterisiert das Selbstverstandnis von »Sein und Zeit« mit Recht als den heroischen Nihilismus einer
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Selbstbehauptung in der Ohnmacht und Endlichk~i.~,_~~_ D~ "'\ • 27 -.,.-~. sems. Obwohl Heidegger in einem ersten Schritt die Subjektphilosophie zugunsten eines Subjekt-Objekt-Beziehungen ermoglichenden Verweisungszusammenhanges destruiert, fallt er beim zweiten Schritt, als es darum geht, die Welt als ProzeB eines Weltgeschehens aus sich seIber begreiflich zu machen, in die subjektphilosophischen Begriffszwange zuruck. Denn das solipsistisch angesetzte Dasein besetzt wiederum den Platz der transzendentalen Subjektivitat. Diese erscheint zwar nicht mehr als omnipotentes Ur-Ich, aber doch noch als »die Urhandlung der menschlichen Existenz, in der aHes Existieren inmitten des Seienden gewurzelt sein muB.«28 Dem Dasein wird die Autorschaft fur das Entwerfen der Welt zugemutet. Das eigentliche Ganzseinkonnen des Daseins oder jene Freiheit, deren zeitlichen Strukturen Heidegger im zweiten Abschnitt von »Sein und Zeit« nachgeht, vollzieht sich im transzendierenden ErschlieBen des Seienden: »Die Selbstheit des aller Spontaneitat schon zugrundeliegenden Selbst liegt in der Transzendenz. Das entwerfend-uberwerfende Waltenlassen von Welt ist die Freiheit« (41). Die klassische Forderung der Ursprungsphilosophie nach Selbst- und Letztbegrundung wird nicht etwa abgewiesen, sondern im Sinne einer zum Weltentwurf modifizierten Fichteschen Tathandlung beantwortet. Das Dasein begrundet sich aus sich selbst: »Das Dasein stiftet Welt nur als sich griindend inmitten von Seiendem« (43). Heidegger begreift die Welt als ProzeB wiederum aus der Subjektivitat des Selbstbehauptungswillens. Das belegen die beiden auf »Sein und Zeit« unmittelbar folgenden Schriften »Was ist Metaphysik« und »Vom Wesen des Grundes«. Warum sich die Fundamentalontologie in der Sackgasse der Subjektphilosophie, aus der sie herausfuhren sollte, verrennen muBte, ist leicht zu sehen. Die transzendental gewendete Ontologie macht sich namlich desselben Fehlers schuldig, den sie der klassischen Erkenntnistheorie vorrechnet. Ob nun der Seinsfrage oder der Erkenntnisfrage der Primat eingeraumt wird, in beiden Fallen gelten das kognitive Weltverhaltnis und die tatsachenkonstatierende 27 tIber den philosophiegeschichtlichen Ort , a. a. O. I I 5. 28 M. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, Ffm. 1949,37. 179
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Rede, gelten Theorie und Aussagenwahrheit als die eigentlich menschlichen, der Erklarung bedlirftigen Monopole. Dieser ontologisch/epistemologische Vorrang des Seienden als des Erkennbaren ebnet die Komplexitat der Weltbezlige, die sich in der Mannigfaltigkeit der illokutionaren Krafte natlirlicher Sprachen niederschlagen, zugunsten des einen privilegierten Bezuges Zur objektiven Welt ein. Dieser Bezug bleibt auch flir die Praxis maBgebend; die monologische Ausflihrung von Absichten, d. h. Zwecktatigkeit, gilt als primare Form des Handelns. 29 Die objektive Welt, obschon als Derivat von Bewandtniszusammenhangen begriffen, bleibt unter dem Titel des Seienden im ganzen auch flir die Fundamentalontologie der Bezugspunkt. Die Analytik des Daseins folgt der Architektonik der Husserlschen Phanomenologie darin, daB sie das Sich-Verhalten zum Seienden nach dem Modell der Erkenntnisbeziehung begreift - so wie die Phanomenologie aIle intentionalen Akte nach dem Muster der Wahrnehmung elementarer Eigenschaften von Gegenstanden analysiert. Nun entsteht in dieser Architektonik notwendig ein Platz flir das Subjekt, das auf dem Wege liber transzendentale Erkenntnisbedingungen Gegenstandsbereiche konstituiert. Heidegger flillt dies en Platz mit einer Instanz aus, die auf andere Weise, namlich durch welterschlieBende Sinnschopfung produktiv wird. Wie !(ant und Husserl das Transzendentale yom Empirischen abheben, so unterscheidet Heidegger das Ontologische yom Ontischen oder das Existentiale yom Existentiellen. Heidegger bemerkt das Scheitern seines Versuchs, aus dem Bannkreis der Subjektphilosophie auszubrechen; er bemerkt aber nicht, daB dies eine Konsequenz jener Seinsfrage ist, die sich allein im Horizont einer wie immer transzendental gewendeten Ursprungsphilosophie stellen"kann. Als Ausweg bietet sich ihm eine Operation an, die er an Nietzsches »Umdrehung des Platonismus« oft genug gerligt hat: er stellt die Ursprungsphilosophie auf den Kopf, ohne sich von deren Problemvorgaben zu losen. Wir haben die Rhetorik, in der sich die Kehre anklindigt, bereits
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29 Das zeigt sich iibrigens auch an der Form der Satze, mit deren Hilfe Tugendhat eine semantische Rekonstruktion des Gehalts des zweiten Abschnitts von "Sein und Zeit" vomimmt, vgl. E. Tugendhat, SelbstbewuBtsein und Selbstbestimmung, Ffm. 1979,8.-10. Vorlesung. 180
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kennengelom,,A)or Men«h is, nich, mohr Platzh"", do. Nich", sondern Hliter des Seins, das Hinausgehaltensein in die Angst weicht der Freude und dem Dank flir die Huld des Seins, der Schick$alstrotz der Ergebung ins Seinsgeschick, die Selbstbehauptu'ng der Hingabe. Der PositionswechsellaBt sich unter drei Aspekten beschreiben: (a) Heideggerverzichtet auf den nun der Metaphysik zugeschriebenen Anspruch auf Selbst- und Letztbegrlindung. Das Fundament, das einst die Fundamentalontologie in der Form einer transzendental durchgeflihrten Analyse der Grundverfassung des Daseins legen sollte, verliert seine Bedeutung zugunsten eines kontmgenten Geschehens, dem das Dasein ausgeliefert ist. Das Ereignis des Seins kann nur andachtig erfahren und narrativ darge- ) stellt, nicht argumentativ eingeholt und erklart werden. (b) Heidegger verwirft den existentialontologischen Begriff der Freiheit. Das Dasein gilt nicht langer als der Autor der Weltentwlirfe, in deren Licht sich das Seiende in einem zeigt und entzieht; vielmehr geht die Produktivitat der welterschlieBenden Sinnschopfung auf das Sein seIbst liber. Das Dasein fligt sich der Autoritat des unverfligbaren Seinssinnes und entledigt sich des der Subjektivitat verdachtigen Selbstbehauptungswillens. (c) Heidegger negiert schlieBlich den Frindamentalismus des auf ein Erstes zurlickgehenden Denkens, gleichviel ob er in den Traditionsgestalten der Metaphysik oder in den transzendentalphilosophischen Gestalten von Kant bis Husserl auftritt. Die Ablehnung bezieht sich freilich nicht auf die Hierar"Chie von ErkenntnisstuJen, die auf einem nicht-hintergehbaren fundament aufruhen, sondern nur auf den zeitenthobenen Charakter dieses Ursprungs. Heidegger temporalisiert die Anfange, die in der Gestalt eines unvordenklichen Schicksals die Souveranitat eines Ersten durchaus behalten. Die Zeitlichkeit des Daseins ist nun nur hoth der Kranz eines sich zeitigenden Seinsgeschicks. Verzeitlicht wird das ursprungsphilosophisch Erste. Das verrat sich in der l.lndialektischen N atur des Seins: das Heilige, als welches das Sein iril Dichterwort zur Sprache kommen solI, gilt wie in der Metaphy- X sik als das schlechthin Unmittelbare. Eine Folge des umgekehrten Fundamentalismus ist die Umdeutung des Vorhabens, das Heidegger flir den ungeschrieben bleibenden Zweiten Teil von »Sein und Zeit« angeklindigt hatte. Nach dem
Selbstverstandnis von »Sein und Zeit« sollte es einer phanomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie vorbehalten bleiben, verhartete Traditionen aufzulockern und das ProblembewuBtsein der Zeitgenossen fiir die verschiitteten Erfahrungen der antiken Ontologie zu wecken. Nicht anders hatten sich Aristoteles oder Hegel zur Geschichte der Philosophie als einer Vorgeschichte ihres Systems verhalten. N ach der Kehre wachst dieser zunachst propadeutisch gemeinten Aufgabe eine geradezu welthistorische Bedeutung zu, denn die Geschichte der Metaphysik - und des auf ihrem Hintergrund entschliisselten Dichterwortes - avanciert zum I... einzig greifbaren Medium der Geschicke des Seins selber. Unter diesem Aspekt greift Heidegger Nietzsches metaphysikkritische Uberlegungen auf, urn Nietzsche in die Geschichte der Metaphysik als deren zweideutigen Vollender einzuordnen und das Erbe seines dionysischen Messianismus anzutreten. - Allerdings hatte Heidegger Nietzsches radikale Vernunftkritik nicht in eine Destruktion der Geschichte der Ontologie umfunktionieren, er hatte Nietzsches dionysischen Messianismus nicht apokalyptisch auf das Sein projizieren k6nnen, wenn mit der Historisierung des Seins nicht auch eine Entwurzelung der propositionalen Wahrheit und die Entwertung des diskursiven Denkens Hand in Hand gegangen ware. Nur aus diesem Grunde kann die seinsgeschichtliche Kritik der Vernunft trotz ihrer Radikalitat den Anschein erwecken, als entginge sie den Paradoxien jeder selbstbeziiglichen Vernunftkritik. Den Titel der Wahrheit reserviert sie fiir ein sogenanntes Wahrheitsgeschehen, das mit einem raumzeitliche Grenzen transzendierenden Geltungsanspruch nichts mehr zu tun hat. Die im Plural auftretenden Wahrheiten der temporalisierten Ursprungsphilosophie sind jeweils provinziell und doch to'" tal; sie gleichen eher den imperativen AuBerungen einer sakralen Macht, die sich mit der Aura von Wahrheit versehen hat. E. Tugendhat weist schon fiir den in »Sein und Zeit« (§ 44) entwickelten apophantischen Wahrheitsbegriff nach, wie Heidegger »dadurch, daB er das Wort Wahrheit zu einem Grundbegriff macht, das Wahrheitsproblem gerade iibergeht.«30 Schon hier erhebt sich 30 E. Tugendhat, Heideggers Idee von Wahrheit, in: O. P6ggeler (1969),296; ders., Der Wahrheitsbegriff bei Hussed und Heidegger, Bln. 1967.
der sinnerschlieBende Weltentwurf, der (wie bei Humboldt) der Totalitat eines sprachlichen Weltbildes oder (wie bei Wittgenstein) der Grammatik eines Sprachspiels eingeschrieben ist, iiber jede kritische Instanz. Die Leuchtkraft der welterschlieBenden Sprache wird hypostasiert. Sie braucht sich nicht mehr daran zu bewahren, ob sie das Seiende in der Welt faktisch erhellen kann. Heidegger geht davon aus, daB sich das Seiende in seinem Sein von beliebigen Zugriffen gleichermaBen widerstandslos 6ffnen laBt. Er verkennt, daB der ans Seiende herangetragene Horizont des Sinnverstehens derWahrheitsfrage nicht vorausliegt, sondern seinerseits untersteht. 31 GewiB andern sich mit dem Regelsystem einer Sprache auch die Giiltigkeitsbedingungen der in der Sprache formulierten Satze. Ob aber die Giiltigkeitsbedingungen faktisch so weit erfiillt werden, daB die Satze auch funktionieren k6nnen, hangt nicht von der welterschlieBenden Kraft der Sprache ab, sondern yom innerweltlichen Erfolg der Praxis, den diese erm6glicht. Der Heidegger von »Sein und Zeit« war freilich noch Phanomenologe genug, urn den Gedanken abzuwehren, daB seine argumentativ durchgefiihrte Existentialhermeneutik allen Begriindungsanspriichen enthoben sei. Daran hinderte ihn schon die stark normativ aufgeladene Idee des eigentlichen Seink6nnens, die er mit einer existentialen Deutung des individuellen Gewissens (§§ 54-60) verband. Selbst diese Kontrollinstanz einer gewiB fragwiirdigen, weilleerformelhaft dezisionistischen Entschlossenheit wird durch die Kehre auBer Kraft gesetzt. Jene, der propositionalen Wahrheit vorgangige Dimension der Unverborgenheit geht namlich yom gewissenhaften Entwurf des urn seine Existenz besorgten Einzelnen auf ein anonymes, Unterwerfung heischendes, kontingentes, den Verlauf der konkreten Geschichte prajudizierendes Seinsgeschick iiber. Die Kehre besteht im Kern darin, daB Heidegger die metageschichtliche Instanz einer zeitlich verfliissigten Ursprungsmacht irrefiihrenderweise mit dem Attribut des Wahrheitsgeschehens ausstattet.
31 Vgl. den Exkurs zu Castoriadis unten S. 380ff.
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v Dieser Schritt entbehrt so sehr der Plausibilitat, daB er aus den bisher genannten internen Motiven nicht hinreichend erktirt werden kann. Ich vermute, daB Heidegger nur iiber seine voriibergehende Identifikation mit der Bewegung des N ationalsozialismus, der er noch 1935 innere Wahrheit und GroBe attestiert hat, den Weg zur temporalisierten Ursprungsphilosophie der Spatzeit finden konnte. Nicht Heideggers »Bekenntnis zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat« (unter diesem Titel wurde Heideggers Ansprache auf der Leipziger Wahlkundgebung der deutschen Wissenschaft am 1I. November 1933 verbreitet) fordert das Urteil des Nachgeborenen heraus, der nicht wissen kann, ob er in ahnlicher Situation nicht ebenso gefehlt hatte. Irritierend ist allein die Unwilligkeit und Unfahigkeit des Philosophen, nach dem Ende des N. S.Regimes mit einem Satz seinen politisch folgenreichen Irrtum einzugestehen. Stattdessen huldigt Heidegger der Maxime, daB nicht die Tater, sondern die Opfer selber schuld sind: »GewiB - es ist immer vermessen, wenn Menschen den Menschen die Schuld vorund zurechnen. Aber wenn man schon Schuldige sucht und nach Schuld bemiBt: Gibt es nicht auch eine Schuld der wesentlichen Versaumnis? Diejenigen, die damals schon so prophetisch begabt waren, daB sie alles kommen sahen wie es kam - so weise war ich nicht -, warum haben sie fast zehn Jahre gewartet, urn gegen das Unheil anzugehen? Warum haben 1933 nicht die, die es zu wissen meinten, warum haben damals nicht gerade sie sich aufgemacht, urn alles und von Grund auf ins Gute zu lenken?«32 Irritierend ist allein die Schuldverdrangung eines Mannes, der sich, als alles voriiber war, einen Persilschein ausschrieb, urn seine Option fiir den Faschismus auch noch aus der Kammerdienerperspektive kleinlicher Universitatsintrigen zu rechtfertigen. Wie Heidegger seine 32 M. Heideggers Niederschrift aus dem Jahre 1945 ist von dessen Sohn 1983 erstmals veroffentlicht worden: ders., Die Selbstbehauptung der deutschen Universitat. Das Rektorat 1933/34, Ffm. 1983, 26. Im Zusammenhang mit dieser Publikation berichtet M. Schreiber in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 20. Juli 1984 iiber »Neue Einzelheiten einer kiinftigen Heidegger-Biographie«, die sich aus jiingsten Untersuchen des Freiburger Historikers Hugo Ott ergeben haben.
Rektoratsiibernahme und die darauf folgenden Querelen sogleich dem »metaphysischen Wesenszustand der Wissenschaft« (a.a.O. S. 39) in die Schuhe schiebt, so lost er iiberhaupt seine Handlungen und Aussagen von sich als empirischer Person ab und attribuiert sie einem nicht zu verantwortenden Schicksal. Aus dieser Perspektive hat er auch die eigene theoretische Entwicklung betrachtet; auch die sogenannte Kehre hat er nicht als Ergebnis einer problemlosenden Denkanstrengung, eines Forschungsprozesses verstanden, sondern stets als das objektive Ereignis einer anonym yom Sein selbst inszenierten Uberwindung der Metaphysik. Ich habe bisher den Ubergang von der Fundamentalontologie zum andachtigen Seinsdenken als einen intern motivierten Ausweg aus der Sackgasse der Subjektphilosophie, d. h. als Problemlosung rekonstruiert; dem wiirde Heidegger emphatisch widersprechen. Ich will zeigen, daB in diesem Protest auch ein StUck Wahrheit steckt. Die Kehre ist wohl tatsachlich das Resultat der Erfahrung mit dem N ationalsozialismus, der Erfahrung mit einem historischen Ereignis also, das Heidegger gewissermaBen widerfahren ist. Erst dieses Moment Wahrheit im metaphysisch verhimmelten Selbstverstandnis kann plausibel machen, was aus der internalistischen Sicht einer problemgesteuerten Theorieentwicklung unverstandlich bleiben miiBte: wieso Heidegger die Seinsgeschichte als Wahrheitsgeschehen verstehen und gegeniiber einem schlichten Historismus von Weltbildern oder epochalen Weltauslegungen immun halten konnte. Mich interessiert also die Frage, wie der Faschismus in Heideggers Theorieentwicklung selbst hineingespielt hat. Heidegger hat die in »Sein und Zeit« ausgearbeitete und in den folgenden Jahren mehrfach erlauterte Position bis 1933 sowenig als problematisch empfunden, daB er nach der Machtiibernahme gerade von den subjektphilosophischen Implikationen des sich in seiner Endlichkeit behauptenden Daseins einen originellen Gebrauch gemacht hat - freilich einen, der die Konnotationen und den urspriinglichen Sinn der Existentialanalytik erheblich verschiebt. Heidegger hat 1933 die unverandert beibehaltenen Grundbegriffe der Fundamentalontologie mit einem neuen Inhalt besetzt. Hatte er bis dahin »Dasein« unmiBverstandlich als Namen fiir das im Vorlaufen zum Tode existentiell vereinzelte Individuum verwendet, so
substituiert er nun dieses »je-meinige« Dasein durch das kollektive Dasein »je-unseres« schicksalhaft existierenden Volkes. 33 Alle Exi'Stentialien bleiben dieselben und verandern doch mit einem Schlage ihren Sinn, keineswegs nur ihren expressiven Bedeutungshorizont. Die Konnotationen, die sie ihrer christlichen Herkunft, speziell Kierkegaard verdanken, verwandeln sich im Licht eines damals grassierenden Neuen Heidentums. 34 Die obszone Verfarbung der Semantik kann man sich durch Zitate vor Augen fuhren, die seit langem bekannt sind. In einem Wahlaufruf schreibt der Rektor Heidegger am 10. November 1933 in derFreiburger Studentenzeitung: »Das deutsche Yolk ist yom Fiihrer zur Wahl gerufen. Der Fuhrer aber erbittet nichts yom Yolk. Er gibt vielmehr dem Yolk die unmittelbarste Moglichkeit der hochsten freien Entscheidung: ob es - das ganze Yolk - sein eigenes Dasein will, oder ob es dieses nicht will. Diese Wahl bleibt mit allen bisherigen Wahlvorgangen schlechthin unvergleichbar. Das Einzigartige dieser Wahl ist die einfache GroBe der in ihr zu vollziehenden Entscheidung ... Diese letzte Entscheidung greift hinaus an die auBerste Grenze des Daseins unseres Volkes ... Die Wahl, die jetzt das deutsche Yolk vollzieht, ist schon allein das Geschehnis und - noch unabhangig yom Ergebnis - die starkste Bezeugung der neuen Deutschen Wirklichkeit des nationalsozialistischen Staates. Unser Wille zur volkischen Selbstverantwortung will, daB jedes Yolk die GroBe und Wahrheit seiner Bestimmung finde ... Es gibt nur den einen Willen zum vollen Dasein des Staates. Diesen Willen hat der Fuhrer im ganzen Yolk zum Erwachen gebracht und zum einzigen EntschluB zusammengeschweiBt.«35 Wahrend die Ontologie fruher in der lebensgeschichtlichen Existenz des Einzelnen ontisch verwurzelt 33 Darauf hat mich bereits wahrend meiner Studienzeit Oskar Becker aufmerksam gemacht. Ich danke Victor Farias fiir Einsicht in seine noch unveroffentlichte Untersuchung tiber Heideggers nationalrevolutionare Phase. 34 Dazu paBt iibrigens Heideggers Reaktion auf die Wiederzulassung einer katholischen Studentenverbindung. In einem Brief an den Reichsfiihrer der Studentenschaft spricht er von einem »offentlichen Sieg des Katholizismus«. Er warnt: ;>Man kennt katholische Taktik immer noch nicht. Und eines Tages wird sich das schwer rachen.« (G. Schneeberger, Nachlese zu Heidegger, Bern 1962, 206) Zum »Neuen Heidentum« vgl. W. Brocker, Dialektik, Positivismus, Mythologie, Ffm. 1958, Kap. 2 u. 3. 35 Schneeberger (1962), 145 f.
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zeichnet Heidegger nun die geschichtliche Existenz des yom Fuhrer zum kollektiven Willen zusammengeschweiBten Volkes als den Ort aus, an dem sich das eigentliche Ganzseinkonnen des Daseins entscheiden soli. Die ersten Reichstagswahlen, die im Schatten der mit Kommunisten und Sozialdemokraten gefullten KZ's stattfinden, rocken in die Aura einer letzten existentiellen Entscheidung. Was tatsachlich zur leeren Akklamation verkommen ist, stilisiert Heidegger zu einer Entscheidung, die im Lichte der Begrifflichkeit von »Sein und Zeit« den Charakter des Entwurfs einer neuen authentischen Lebensform des Volkes erhalt. Auf der erwahnten Kundgebung der Wissenschaft fur den Fuhrer liefert wiederum »Sein und Zeit« das Skript fur eine Rede, die nicht mehr die individuelle Existenz, sondern das Volk aufrutteln und in eine heroische Wahrheit stoBen soli: »Das Yolk gewinnt die Wahrheit seines Daseinswillens zuruck, denn Wahrheit ist die Offenbarkeit dessen, was ein Yolk in seinem Handeln und Wissen sicher, hell und stark macht.« Die formale Bestimmung der vorlaufenden Entschlossenheit, die die Studenten seit 1927 im Ohr haben, wird zum nationalrevolutionaren Aufbruch konkretisiert - und zum Bruch mit der Welt des okzidentalen Rationalismus: »Wir haben uns losgesagt von der Vergotzung eines boden- und machtlosen Denkens. Wir sehen das Ende der ihm dienstbaren Philosophie. Wir sind dessen gewiB, daB die klare Harte und die werkgerechte Sicherheit des unnachgiebigen einfachen Fragens nach dem Wesen des Seins wie36 Bereits in »Sein und Zeit« fUhrt Heidegger in § 74 seine Analysen tiber die Grundverfassung der Geschichtlichkeit bis zu dem Punkt, an dem die Dimension der Verwicklung des Schicksals des Einzelnen mit dem Schicksal des Volkes sichtbar wird: »Wenn das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.« (S. 384) Es ist gewill fUr die Bedeutung des spateren Terminus »Seinsgeschick« nicht ganz zufallig, daB Heidegger den Ausdruck »Geschick« in diesem »volkischen« Zusammenhang einfiihrt. Der existentiale Vorrang des individuellen Daseins vor dem kollektiven der Gemeinschaft, den die nationalrevolutionare Umdeutung spater ins Gegenteil verkehren wird, geht aber unzweideutig aus dem Kontext hervor. Die Sorgestruktur wird an »je meinem« Dasein entwickelt. Die »Entschlossenheit« zum »eigensten Seinkonnen« ist Sache des Individuums, das erst entschlossen sein muB, urn dann auch noch »in und mit seiner Generation« ein »schicksalhaftes Geschick« erfahren zu konnen. Der Unentschlossene kann namlich kein »Schicksal haben«.
derkehren. Der ursprungliche Mut, in der Auseinandersetzung mit dem Seienden an diesem entweder zu wachs en oder zu zerbrechen, ist der innerste Beweggrund einer volkischen Wissenschaft ... Fragen heiBt uns: sich nicht verschlieBen dem Schrecken des U ngebandigten und der Wirrnis des Dunkels ... Und so bekennen wir, denen die Bewahrung des Wissenswo11ens unseres Volkes kunftig anvertraut sein sol1: Die nationalsozialistische Revolution ist nicht bloB die Ubernahme einer vorhandenen Macht im Staat durch eine andere dazu hinreichend angewachsene Partei, sondern diese Revolution bringt die vo11ige Umwalzung unseres deutschen Daseins.«37 Wie die Vorlesungen yom Sommer 1935 belegen, hat Heidegger an dies em Bekenntnis uber die Zeitspanne seines kurzen Rektorats hinaus festgehalten. Als er sich endlich uber den wahren Charakter des N. S.-Regimes nicht langer tauschte, hatte er sich philosophisch in eine schwierige Situation hineinmanovriert. Weil er »Dasein« mit dem Dasein des Volkes, das eigentliche Seinkonnen mit der Machtergreifung, die Freiheit mit dem Fuhrerwillen identifiziert und in die Seinsfrage die nationalsozialistische Revolution samt Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst hineingelesen hatte, war zwischen seiner Philosophie und den zeitgeschichtlichen Ereignissen ein interner, nicht leicht zu retuschierender Zusammenhang hergeste11t. Eine schlichte politisch-moralische Umwertung des Nationalsozialismus hatte die Grundlagen der erneuerten Ontologie angreifen und den theoretischen Ansatz in Frage ste11en mussen. Wenn sich hingegen die Enttauschung am Nationalsozialismus uber die vordergriindige Sphare verantwortlichen Urteilens J.llld Handelns erheben und zu einem objektiven 1rrtum, zu einem fatal sich enthu11enden 1rrtum stilisieren lieB, muBte die Kontinuitat mit den Ausgangspositionen von »Sein und Zeit« nicht gefahrdet werden. Heidegger verarbeitet seine historische Erfahrung mit dem N ationalsozialismus auf eine Weise, die den elitaren Anspruch auf einen privilegierten Zugang des Philosophen zur Wahrheit nicht in Frage ste11t. Er interpretiert die Unwahrheit der Bewegung, von der er sich hatte mitreiBen lassen, nicht in den Begriffen einer subjektiv zu verantwortenden existentie11en Verfa11enheit an das Man, son37 Schneeberger (1962), 159f.
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dern als ein objektives Ausbleiben der Wahrheit. DaB dem entscWossensten Philosophen uber die Natur des Regimes erst nach und nach die Augen aufgingen - fur diese verzogerte Lektion der Weltgeschichte sol1 eben der Weltlauf selbst das U rheberrecht ubernehmen, nicht zwar die konkrete Geschichte, sondern eine sublimierte, auf die Augenhohe der Ontologie beforderte Geschichte. Damit ist das Konzept der Seinsgeschichte geboren. 1m Rahmen dieses Konzepts erhalt Heideggers faschistischer 1rrtum eine metaphysikgeschichtliche Bedeutung. 38 N och 1935 sah Heidegger »die innere Wahrheit und GroBe« der nationalsozialistischen Bewegung in der »Begegnung der planetarisch bestimmten Technik mit dem neuzeitlichen Menschen«.39 Damals traute er der nationalsozialistischen Revolution noch zu, das Potential der Technik fur den Entwurf des neuen deutschen Daseins in Dienst zu nehmen. Erst im spateren Verlaufe der Auseinandersetzung mit Nietzsches Machttheorie entwickelt Heidegger den ontologiegeschichtlichen Begriff der Technik als des »Geste11s«. Seitdem konnte er den Faschismus seinerseits als Symptom betrachten und, eintrachtig mit dem Amerikanismus und Kommunismus, als Ausdruck der metaphysischen Herrschaft der Technik einordnen. Erst nach dieser Wendung gehort der Faschismus, wie Nietzsches Philosophie, zur objektiv zweideutigen Phase der Uberwindung der Metaphysik. 40 Mit dieser Umdeutung verlieren auch der Aktivis~ mus und der Dezisionismus des sich selbst behauptenden Daseins in 38 William Richardson hat mich auf den Ankniipfungspunkt hingewiesen, den dieses Konzept bereits in der Schrift »Vom Wesen der Wahrheit« findet. Der 7. Abschnitt handelt von der » Un-wahrheit als Irre«. Die Irre gehort wie die Wahrheit zur Verfassung des Daseins: »Die Irre ist die offene Statte des Irrtums. Nicht vereinzelte Fehler, sondern das Konigtum (die Herrschaft) der Geschichte jener in sich verwobenen Verstrickungen aller Weisen des Irrens ist der Irrtum.« (Vom Wesen der Wahrheit, Ffm. 1949, 22) Mehr als einen Ankniipfungspunkt bietet freilich dieser Begriff der Irre als eines objektiven Spielraums nicht; denn noch Irrtum und Wahrheit verhalten sich zueinander in gleicher Weise wie Entbergung und Verbergung des Seienden als solchen (ebd. S. 23). Ich meine, da£ der zuerst 1943 veroffentlichte Text, dem ein "mehrfach iiberpriifter« Vortragstext aus demJahre 1930 als Vorlage dient, keine eindeutige Intepretation im Sinne der Spatphilosophie erlaubt. 39 M. Heidegger, Einfiihrung in die Metaphysik, Tbg. 1953, 152. 40 Vgl. die prazise Darstellung bei R. Schiirmann, Political Thinking in Heidegger, Soc. Research, Vol. 45, 1978, 191.
heiden Version en, der existentialistischen wie der nationalrevolutionaren, ihre seinserschlieBende Funktion; erst jetzt wird das Pathos der Selbstbehauptung zumGrundzug einer die Moderne beherrschenden Subjektivitat. In der Spatphilosophie tritt das Pathos des Seinlassens und der Horigkeit an seine Stelle. Der Nachvollzug der zeitgeschichtlichen Motivation fur die Kehre bestatigt das Ergebnis unserer Rekonstruktion der inneren Theorieentwicklung. Indem er die bloBe Umkehrung der subjektphilosop his chen Denkmuster propagiert, bleibt Heidegger den Problemstellungen der Subjektphilosophie verhaftet.
VII. Dberbietung der temporalisierten U rsprungsphilosophie: Derridas Kritik am Phonozentrismus I
Soweit Heidegger als Autor des »Briefes uber den Humanismus« im Frankreich der Nachkriegszeit rezipiert worden ist, reklamiert Derrida mit Recht die Rolle des authentischen Schulers, der die Lehre des Meisters kritisch aufnimmt und produktiv weiterfuhrt. Nicht ohne Sinn fur den Kairos der zeitgeschichtlichen Situation macht Derrida diesen Anspruch im Mai 68 geltend, als die Revolte ihren Hohepunkt soeben erreicht hatte. 1 Derrida nimmt wie Heidegger »das Ganze des Okzidents« in den Blick und konfrontiert es mit seinem Anderen, das sich durch »radikale Erschutterungen« anmeldet - okonomisch und politisch, d. h. vordergriindig durch die neue Konstellation zwischen Europa und der Dritten Welt, metaphysisch durch das Ende des anthropozentrischen Denkens. Der Mensch, als das Sein zum Tode, hat immer schon im Bezug zu seinem naturlichen Ende gelebt. Aber nun geht es urn das Ende seines humanistischen Selbstverstandnisses: in der Heimatlosigkeit des Nihilismus irrt nicht der Mensch, sondern das Wesen des Menschen blind umher. U nd dieses Ende solI sich eben in dem von Heidegger initiierten Denken des Seins enthullen. Heidegger. bereitet die Vollendung einer Epoche vor, die vielleicht im historisch-ontischen Sinne niemals enden wird. 2 Die bekannte Melodie der Selbstuberwindung der Metaphysik gibt auch fur Derridas Unternehmen den Ton an; die Destruktion wird in Dekonstruktion umbenannt: »Mit versteckten, stets gefahrlichen Bewegungen, die immer wieder dem zu verfallen drohen, was sie dekonstruieren mochten, muss en, im Rahmen der Vollendung, die kritischen Begriffe in einen vorsichtigen und minuziosen Diskurseingebettet werden ... , muB mit auBerster Sorgfalt ihre Zugehorigkeit zu jener Maschine bezeichnet werden, die mit ihrer Hilfe zerlegt werden kann. Zugleich gilt es, 1 2
J. Derrida, Fines Horninis, in: ders., Randgange der Philosophie, Ffm. 1976, 88 H. J. Derrida, Grarnrnatologie, Ffrn. 1974,28.
die Spalte ausfindig zu machen, durch die, noch unnennbar, durchschimmert, was nach der Vollendung (unserer Epoche) kommt.«3 Soweit also nichts Neues. Freilich setzt sich Derrida von Heideggers Spatphilosophie auch ab, und zwar zunachst von deren Metaphorik. Er wehrt sich gegen die regressiv verharmlosende »Metaphorik der Nahe, der einfacpen und unmittelbaren Prasenz, die mit der Nahe des Seins die W~rte von Nachbarschaft, Behausung, Haus, Dienst, Bewahrung, Stimme und Gehor verkniipft«.4 Wahrend Heidegger seinen seinsgeschichtlichen Fatalismus im Stil von Schultze-Naumburg mit den sentimental-anheimelnden Bildern einer vorindustriell bauerlicnen Gegenwelt ausstaffiertS, bewegt sich Derrida eher in der subversiyen Welt des Partisanenkampfes - auch das Haus des Seins mochte er noch auseinandernehmen und im Freien »jenes grausame Fest tanzen, von der die >Genealogie der Moral< spricht«.6 Wir wollen zusehen, ob sich mit dem Tenor auch der Begriff der Seinsgeschichte andert, oder ob dieselbe Idee unter Derridas Handen nur eine andere Farbung annimmt. Heidegger erkauft die T emporalisierung der U rsprungsphilosophie mit einem geschichtlich dynamisierten, aber entwurzelten Wahrheitsbegriff. Wenn man sich von zeitgeschichtlichen Umstanden so affizieren laBt wie Heidegger und gleichwohl in der Dimension von Wesensbegriffen gravitatisch weiterschreitet, erstarrt der Wahrheitsanspruch des umgekehrten Fundamentalismus zur seherischen Gebarde. Zumindestens bleibt unklar, wie in der Mobilitat des unverfiigbaren Wahrheitsgeschehens der normative Kern eines Zeit und Raum doch auch transzendierenden W ahrheitsanspruches festgehalten werden konnte. Nietzsche hat mit dem Begriff des Dionysischen immerhin auf eine Sphare maBgeblicher Erfahrungen ver,. wiesen; auch der existentialistische Heidegger konnte sich noch am normativen Gehalt eines authentischen Daseins orientieren. Hingegen fehlt der Huld des unvordenklichen Seins jede Struktur; der Begriff des Heiligen ist am Ende nicht weniger diffus als der des Lebens. Unterscheidungen, mit denen wir einen Geltungssinn ver3 J. Derrida, (1974), 28f. 4 J. Derrida, (1976), II5· 5 P. Bourdieu, Die politische Ontologie M. Heideggers, Ffm. 1976, 17ff. 6 J. Derrida, (1976), 123.
binden, finden in einem der Bewahrung entzogenen Seinsgeschick keinen Anhalt. Anhaltspunkte bieten nur noch religiose Konnotationen, die aber sogleich als onto-theologische Uberreste dementiert werden. Auch Derrida empfindet diese Situation als unbefriedigend; der Strukturalismus scheint einen Ausweg zu bieten. Fiir Heidegger bildet ja die Sprache das Medium der Seinsgeschichte; die Grammatik der sprachlichen Weltbilder dirigiert das jeweils waltende vorontologische Seinsverstandnis. Heidegger begniigt sich Freilich damit, die Sprache global als Haus des Seins auszuzeichnen; trotz der ihr zugewiesenen privilegierten Stellung hat er die Sprache niemals systematisch untersucht. Hier setzt Derrida an. Ein durch den Strukturalismus Saussures bestimmtes Wissenschaftsklima ermutigt ihn, die Linguistik auch fiir Zwecke der Metaphysikkritik in Dienst zu nehmen. Er holt nun auch methodisch den Schritt von der BewuBtseins- zur Sprachphilosophie nach und erschlieBt sich mit der Grammatologie ein Untersuchungsfeld fiir Analysen, die es fiir Heidegger auf dem Niveau der Seinsgeschichte nicht mehr geben diirfte. Aus Griinden, die wir. noch erortern werden, macht sich Derrida aber nicht die im angelsachsischen Bereich durchgefiihrte Analyse der Umgangssprache zunutze; er befaBt sich nicht mit der Grammatik der Sprache oder mit der Logik ihrer Verwendung. Vielmehr versucht er im Gegenzug zur strukturalistischen Phonetik die Grundlagen der Grammatologie zu klaren, d. h. der Wissenschaft von der Schrift. Er zitiert aus dem Littre die lexikalische Eintragung fiir Grammatologie: »Lehre von den Buchstaben, yom Alphabet, der Syllabierung; dem Lesen und dem Schreiben« und nennt als eine einschlagige Untersuchung das Buch von I. J. Gelb. 7 Die Grammatologie empfiehlt sich als wissenschaftlicher Leitfaden fiir die Metaphysikkritik, weil sie der phonetischen, also dem Wortlaut nachgebildeten Schrift an die Wurzeln greift; diese ist namlich nicht nur koextensiv, sondern gleichurspriinglich mit metaphysis chern Denken. Derrida ist davon iiberzeugt, »daB die phonetische Schrift, das Zentrum des graBen metaphysis chen, wis7 I. J. Gelb, Von der Keilschrift zum Alphabet. Grundlagen einer Schriftwissenschaft, Stuttg. 1958. 193
senschaftlichen, technischen und okonomischen Abenteuers des Abendlandes, zeitlich begrenzt ist«- und heute an ihre Grenzen stoBt. 8 Der friihe Derrida will das U nternehmen der Selbstiiberwindung der Metaphysik in der Form einer grammatologischen Untersuchung durchfiihren, die hinter die Anfange der phonetischen Schrift zuruckgreift. Sie fragt hinter jede Schrift zuruck, die. als bloBe Fixierung von Lautgebilden im Bannkreis des Phonetischen bleibt. Die Grammatologie soll vielmehr erklaren, warum das Wesentliche der Sprache nach dem Modell der Schrift und nicht der Rede begriffen werden muB. »Die Rationalitat - aber vielleicht miiBte auf dieses Wort aus dem Grunde, der am Ende dieses Satzes sichtbar wird, verzichtet werden - die Rationalitat, die eine derart erweiterte und radikalisierte Schrift beherrscht, stammt nicht mehr aus einem Logos. Vielmehr beginnt sie mit der Destruierung und, wenn nicht Zerschlagung, so doch De-sedimentierung,. Dekonstruktion aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegt. Das gilt besonders fiir (den Begriff der) Wahrheit. Alle metaphysischen Bestimmungen der Wahrheit, selbst jene, an die uns Heidegger iiber die Onto-Theologie hinaus erinnert, sind nicht zu trennen von der Instanz eines Logos.«9 Da der Logos, wie wir sehen werden, stets dem gesprochenen Wort innewohnt, will Derrida den Logozentrismus des Abendlandes in der Gestalt des Phono zen trismus treffen. Urn diese iiberraschende Wendung zur Grammatologie zu verstehen, ist es niitzlich, sich an die Metapher yom Buch derNatur oder yom Buch der Welt zu erinnern, die auf die schwer lesbare, aber miihsam zu dechiffrierende Handschrift Gottes verweist. Derrida zitiert ein Wort von Jaspers: »Die Welt ist die Handschrift einer anderen, niemals vollig lesbaren Welt; allein die Existenz entziffert sie.« Es gibt Biicher im Plural nur deshalb, weil der ursprungliche Text verlorengegangen ist. Allerdings nimmt Derrida diesem Bild jede optimistische Note dadurch, daB er den Gedanken des verlorenen Buches kafkaesk radikalisiert. Es hat dieses in der Handschrift Gottes geschriebene Buch niemals gegeben, sondern immer nur Spuren davon, undselbst die sind verweht. Dieses BewuBtsein 8 9
J. Derrida (1974),23. J. Derrida (1974), 23 f.
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pragt das Selbstverstandnis der Moderne, jedenfalls seit dem 19- Jahrhundert: »Das bedeutet nicht nur, daB man die theologischeUberzeugung, nach der sich jede Buchseite von selbst in den unvergleichlichen Text der Wahrheit einband, verloren hat ... genealogische Sammlung, Buch der Vernunft diesmal, unendliches Manuskript, das ein Gott lesen wiirde, der auf mehr oder weniger hinhaltende Weise uns seine Feder geborgt hatte. Der Verlust dieser GewiBheit, die Abwesenheit der gottlichen Schrift, d. h. zunachst des jiidischen Gottes (der gelegentlich selbst schrieb), definiert nicht nur, in unklarer Weise, so etwas wie die Modernitat. Als Abwesenheit des gottlichen Zeichens, und als Heimsuchung durch das gottliche Zeichen, bestimmt (diese GewiBheit) die gesamte Asthetik und moderne Kritik.«10 Die Moderne ist auf der Suche nach den Spuren einer Schrift, die nicht mehr, wie das Buch der Natur oder die Heilige Schrift, die Totalitat eines Sinnzusammenhangs in Aussicht stellt. 1m katastrophischen Uberlieferungszusammenhang ist das Substrat der schriftlichen Zeichen das einzige, was der Korruption standhalt. Der geschriebene Text sichert dem Wort, das im weichen Medium der Stimme verfliegt, Dauer; der Interpretation muB die Entzifferung vorausgehen. Oft ist der Text so beschadigt und fragmentiert, daB er dem nachgeborenen Interpreten jeden Zutritt zum Inhalt verweigert. Aber auch yom unverstandlichen Text bleibt die Aufzeichnung, bleiben die Zeichen ~ iiberlebt die Materie als die Spur eines entwichenen Geistes. Offensichtlich ist Derrida, im AnschluB an Levinas, von jenem jiidischen Traditionsverstandnis inspiriert, das sich weiter als das christliche von der Idee des Buches entfernt hat und gerade darum der Schriftgelehrsamkeit strenger verpflichtet bleibt. Das ~ \ gramm einer Schriftwiss~nsc~f~~i!.._f!!et'1:phy~i~ritisch€m.-A..Q=-:7' sp~ch ist a1:!:5_£~~!L~ell~!!..g~~~~?pf(G[e1chwohl will Derrida nicht theologisch denken; als Heideg-gerianer verbietet er sich jeden Gedanken an ein hochstes Seiendes. :Q(!r~4a,sieht vielmehr, ahnlich wie Heidegger, den ·Zustand der Moderne durch Entzugserscheinungen konstituiert, die innerhalb des Horizontes der Vernunftgeschichte und der gottlichen Offenbarung nicht zu begreifen 10
J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Ffm. 1972, 21 f. 195
sind. Wie er am Beginn seines programmatischen Aufsatzes iiber die »Differenz« versichert, will er keine Theologie betreiben, auch keine negative. Ebensowenig mochte er sich aber das, was sich da entzieht, bloB als Fluidum einer in sich paradoxen Seinsgeschichte durch die Finger gleiten lassen. Auch aus diesem Grunde bietet sich das Medium der Schrift~ als Modell an, das dem Wahrheitsgeschehen, jenen yom Seienden im ganzen und auch yom hochsten Seienden unterschiedenen Sein die Aura nehmen und eine gewisse spielerische Konsistenz verleihen solI. Dabei hat Derrida nicht einmal die »solide Permanenz des Geschriebenen« im Auge, sondern vor allem den Umstand, daB die schriftliche Form den jeweiligen Text aus seinem Entstehungskontext lost. Die Schrift macht das Gesagte yom Geist des Autors und yom Atem des Adressaten ebenso wie von der Prasenz der besprochenen Gegenstande unabhangig. Das Medium der Schrift verleiht dem Text eine steinerne Autonomie gegeniiber allen lebendigen Kontexten. Sie loscht die konkreten Beziige zu einzelnen Subjekten und bestimmten Situationen und erhalt dem Text gleichwohl seine Lesbarkeit. Die Schrift garantiert, daB ein Text in beliebig wechselnden Kontexten immer wieder gelesen werden kann. Was Derrida fasziniert, ist die Vorstellung einer absoluten Lesbarkeit selbst in Abwesenheit aller moglichen Adressaten, nach dem Tod aller intelligiblen Wesen, halt die Schrift in heroischer Abstraktion die alles Innerweltliche transzendierende Moglichkeit der wiederholbaren Lektiire offen. Weil die Schriftdie lebendigen Beziige des gesprochenen Wortes mortifiziert, verspricht sie seinem semantischen Gehalt Rettung noch iiber den Tag hinaus, an dem aIle, die sprechen und horen konnten, dem Holocaust verfallenll : »Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch«.12 Natiirlich variiert dieser Gedanke bloB das Motiv der Abhangigkeit der lebendigen Rede von den selbstgeniigsamen Strukturen der Sprache. Indem Derrida die Grammatologie, die Wissenschaft von der Schrift, an den Platz der Grammatik als der Sprachwissenschaft riickt, will er die Grundeinsicht des Strukturalismus noch zuspit11 J. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders. (1976), 124ff., bes. S. 133 und 14 I. 12 J. Derrida (1974), 120.
"zen. Heidegger hat das Konzept eines aus sich selbst stabilisierten sprachlichen Mediums gefehlt; deshalb muBte er in »Sein und Zeit« ,die Konstitution und die Erhaltung der Welt zunachst auf die Pro'duktivitat des weltentwerfenden und sich selbst griindenden Daseins, d. h. auf ein Aquivalent fiir die Erzeugungstatigkeit der :tianszendentalen Subjektivitat zuriickfiihren. Derrida erspart sich den Umweg iiber »Sein undZeit«. Den Strukturalismus im Riicken, kann er den direkten Weg von Husserls friiher BewuBtseinsphi-;; losophie zu Heideggers 'spfuer-Sprachpirtios6phieeillschlagen. teh ~iifea;--ob" seine grammatologisch vertr~mdete Fassung der Seinsgeschichte jenem Einwand entgeht, den Heidegger gegen ,Nietzsche erhoben hat und der auf Heidegger selbst zuriickfallt: »daB die von Nietzsche eingeleitete Zerschlagung dogmatisch ist und, wie aIle (bloB en) Umkehrungen, imGebaude der Metaphysik, welches sie gerade niederreiBen mochte, gefangen (bleibt).« 13 Um meine These vorwegzunehmen: auch Der ida entwindet sich den ~gen-d~ubjektphilosophische_l!..:p~iGh. 'n Ver.such, Heidegger--zu-iiberbieten, entgeht nicht der aporetischen .5truktur des von aller Wahrheitsgeltung entkernten Wahrheitsge·schehens. Derrida iiberholt Heideggers umgekehrten Fundamentalismus, bleibt aber in dessen Bahnen. Dabei gewinnt der Flucht.,. punkt der temporalisierten Ursprungsphilosophie freilich klarere 'Konturen.. Die Erinnerung an den Messianismus der jiidischen -------.~ Mystik imd an jenen verlassenen, aber wohlumschriebenen Ort, dender alttestamentarische Gott einst eingepommen hatte, bewahrt Derrida gleichermaBen vor der polltis~h-moralischen Unempfindlichkeit wie vor der asthetischen Geschmacklosigkeit eines mit Holderlin angereicherten Neuen Heidentums.
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Der Text, an dem sich Derridas Ausbruchsversuch aus der Subjektphilo sophie Schritt fiir Schritt iiberpriifen laBt, ist die I967, gleich~eitig mit der »Grammatologie« erschienene Kritik an Husserls 13
J. Derrida (1974), 37. 197
Bedeutungstheorie. 14 U nter dem strategischen Gesichtspunkt einer Dekonstruktion der BewuBtseinsphilosophie hatte Derrida kaum einen geeigneteren Gegenstand wahlen konnen als den Abschnitt iiber »Ausdruck und Bedeutung« aus dem zweiten Band der »Logischen Untersuchungen«.15 Denn hier verteidigt Husserl die Sphare des reinen BewuBtseins energisch gegen das Zwischenreich sprachlicher Kommunikation; hier schlagt Husserl die Bedeutung emphatisch der Seite der idealen Wesenheit und des Intelligiblen zu, urn sie von den empirischen,Beimengungen des sprachlichen Ausdrucks, ohne den wir der Bedeutung nicht habhaft werden konnen, zu reimgen. Husserl unterscheidet bekanntlich das Zeichen, das eine sprachliche Bedeutung ausdriickt, yom bloB en Anzeichen. Fossile Knochen zeigen die Existenz vorsintfludicher Tiere an, Flaggen oder Abzei-· chen bezeugen die nationale Herkunft des Tragers, der Knoten im Taschentuch erinnert an eine nicht ausgefiihrte Absicht. In allen diesen Fallen ruft das Signal einen Sachverhalt ins BewuBtsein. Dabei ist es unwichtig, ob das Anzeichen mit der Existenz des angezeigten Sachverhaltes durch kausale, logische, ikonische oder rein konventionelle Zusammenhange verkniipft ist; als Anzeichen funktioniert es, wie der Knoten im Taschentuch, wenn die Zeichenwahrnehmung kraft psychisch wirksamer Assoziation die Vorstellung eines nicht prasenten Sachverhaltes hervorruft. Auf andere Weise reprasentiert der sprachliche Ausdruck seine Bedeutung (bzw. den Gegenstand, auf den er sich, wenn er in kennzeichnender Funktion auftritt, bezieht). Anders als das Signal hat der sprachliche Ausdruck Bedeutung aufgrund eines idealen Zusammenhanges und nicht kraft Assoziation. Mienenspiel und Gestik rechnet Husserl interessanterweise zu den Anzeichen, weil er bei diesen spontanen, leibgebundenen Expressionen den Willen oder die kommunikative Absicht, kurz: die Intentionalitat des Sprechers vermiBt. Eine Bedeutung iibernehmen sie freilich, wenn sie sprachliche Aus14 J. Derrida, Die Stimme und das Phanomen, Ffm. 1979; vgl. auch den zugehorigen Aufsatz: La Forme et Ie voulour-dire. Note sur la phenomenologie du langage, Rev. into philos. LXXXI (1967), der in die englische Ausgabe: Speech and Phenomenon, Evanston 1973, mit aufgenommen worden ist. 15 E. Husserl, Logische Untersuchungen Bd. II, I, Tbg. 19131r980, 23ff.
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driicke ersetzen. Ausdriicke lassen sich durch die genuin sprachliche Struktur von Anzeichen abgrenzen: ein »Ausdruck hat nicht nur seine Bedeutung, sondern er bezieht sich auch auf irgendwelche Gegenstande«.16 Mit anderen Worten: ein Ausdruck kann stets zu einem Satz erganzt werden, der den Inhalt des Gesagten auf etwas bezieht, wovon etwas ausgesagt wird. Dem Anzeichen fehlt hingegen diese Differenzierung in Gegenstandsbezug und pradizierten Inhalt - und damit auch jene Situationsunabhangigkeit, die den sprachlichen Ausdruck spezifisch auszeichnet. Husserls Bedeutungstheorie setzt freilich - wie auch die von Saussure - semiotisch an und nicht semantisch. Er erweitert die semiotiscne Unterscheidung zwischen den Zeichentypen (Anzeichen vs. Ausdruck) nicht zur grammatischen Unterscheidung zwischen Signalsprache und propositional ausdifferenzierter Sprache. 17 Auch Derridas Kritik beschrankt sich auf semiotische Dberlegungen. Diese bezieht sich vor allem auf den eigenartigen Gebrauch, den Husserl von seiner Unterscheidung zwischen Zeichen und Anzeichen macht, urn die kommunikativ verwendeten Ausdriicke gegenuber den strictu sensu sprachlichen Ausdriicken abzuwerten. Husserlstellt namlich die These auf, daB sprachliche Ausdriicke, die foro interno, »im einsamen Seelenleben«, gleichsam rein auftreten, zusatzlich die Funktion von Anzeichen iibernehmen miissen, sobald sie dem pragmatischen Zweck der Mitteilung dienen und in die. auBere Sphare der Rede iibertreten sollen. In der mitteilenden Rede seien die Ausdriicke mit Anzeichen »verflochten«. Auch in &r analytischen Philosophie ist es ja iiblich, von den pragmatischen Aspekten der Verwendung von Ausdriicken in AuBerungen abzusehen und allein die semantische Struktur der Satze und der Bestandteile von Satzen ins Auge zu fassen. Dieser konzeptuelle Schnitt laBt sich anhand des Dbergangs von der intersubjektiven Rede zum inneren Monolog verdeutlichen - die semantische Betrachtungsweise begniigt sich eben mit den Aspekten, die fiir eine rnonologische Verwendung sprachlicher Ausdriicke konstitutiv 16 E. Husserl (1913), 46. 17E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einfiihrung in die sprachanalytische Philosophie, Ffm. 1976, 2I2ff.;J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm. 1981, Bd. II, 15 ff.
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sind. Aus dieser Entscheidung fur die analytische Ebene der formalen Semantik ergibt sich noch nicht zwingend jene semantizistische Position, die den inneren Bezug der seman tisch charakterisierten Sprache zur Rede leugnet und so tut, als seien die pragmatischen Funktionen der Sprache auBerlich. 1m Rahmen der Phanomenologie vertritt Husserl genau diese Position; unter Pramissen der BewuBtseinsphilosophie hat er freilich auch keine andere WahI.18 Der monadologische Einsatz beim transzendentalen Ich zwingt Husserl, die in der Kommunikation hergeste11ten intersubjektiven Beziehungen aus der Perspektive des einzelnen, auf intentionale Gegenstande gerichteten BewuBtseins zu rekonstruieren. Der VerstandigungsprozeB zerfa11t in die »Kundgabe« eines Sprechers, der Laute produziert und mit diesen sinnverleihende Akte verknupft, und in die »Kundnahme« des Horers, fur den die wahrgenommenen Laute die »kundgegebenen« psychischen Erlebnisse anzeigen: »Was den geistigen Verkehr aHererst moglich und die Rede zur Rede macht, liegt in dieser durch die physische Seite der Rede vermittelten Korrelation zwischen den zusammengehorigen physischen und psychischen Erlebnissen der miteinander verkehrenden Personen.«19 Da die Subjekte zunachst unvermittelt einander gegenuberstehen und sich von auBen, wie Objekte, wahrnehmen, wird die Kommunikation zwischen ihnen nach dem Muster der Signalisierung von Erlebnisgehalten, also expressivistisch vorgestellt. Die vermittelnden Zeichen funktionieren als Anzeichen fur die Akte, die der Andere zunachst im einsamen Seelenleben vo11zieht: »Wenn man dies en Zusammenhang uberschaut, erkennt man sofort, daB alle Ausdriicke in der kommunikativen Rede als Anzeichen fungieren. Sie dienen dem Horenden als Zeichen fur die Gedanken des Redenden, d. h. fur die sinngebenden psychischen Erlebnisse desselben. «20 Weil Husserl die Subjektivitat der sinnverleihenden Akte gegenuber der sprachlich erzeugten Intersubjektivitat der Verstandigung als originar ansetzt, muB der ProzeB der Verstandigung zwischen 18 Von hier aus sieht man iibrigens, daB auch der sprachanalytisch aufgekHirte Semantizismus noch unter bewuBtseinsphilosophischen Voraussetzungen steht. 19 E. Husser! (1913),33. 20 E. Husser! (1913),33. 200
Subjekten nach dem Muster der Dbertragung und Dechiffrierung von Erlebnissignalen vorgeste11t werden. Mit Rekurs auf die U nterscheidung zwischen Ausdruck und Anzeichen beschreibt er die kommunikative Verwendung von Zeichen in der Weise, daB diese die Funktion der auBeren Anzeige fur die innerlich vollzogenen Akte des Sprechers ubernehmen. Wenn sich aber sprachliche Ausdriicke erst in der Kommunikation, und d. h. nachtraglich mit Anzeichen verbinden, miissen die Ausdriicke als solche der Sphare des einsamen Seelenlebens zugerechnet werden; erst nachdem sie die Sphare der Innerlichkeit verlassen, treten sie ja unter Bestimmungen der Anzeige. Damit wird aber das physische Zeichensubstrat gegenuber der Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks abgewertetund in einen virtue11en Zustand versetzt, in seiner Existenz gleichsam durchgestrichen. Alles Externe wird dem Anzeichen zugerechnet. Da der aus der kommunikativen Funktion entiassene, von aHem Korperlichen entschlackte Ausdruck zur rein en Bedeutung sublimiert wird, weiB man nicht so recht, wozu denn Bedeutungen uberhaupt noch mit Hilfe von Wort- und Satzzeichen so11ten ausgedruckt werden mussen. 1m inneren Monolog entfa11t die Notwendigkeit, daB das nur mit sich verkehrende Subjekt sich selbst etwas von seinem Inneren kundgibt: »Sollen wir sagen, der einsam Sprechende spreche zu sich selbst, es dienten auch ihm die Worte als Zeichen, namlich als Anzeichen seiner eigenen psychischen Erlebnisse? Ich glaube nicht, daB eine solche Auffassung zu vertreten ware.«21 1m inneren Monolog verfluchtigt sich das Zeichensubstrat der ausgedruckten Bedeutung zu einem »an sich Gleichgiiltigen«. Hier scheint »der Ausdruck das Interesse von sich ab und auf den Sinn hinzulenken, auf diesen hinzuzeigen. Aber dieses Hinzeigen ist nicht das Anzeigen in dem von uns erorterten Sinne ... Was uns als Anzeichen (Kennzeichen) dient, muB von uns als daseiend wahrgenommen werden. Dies trifft auch zu fur die Ausdrucke in der mitteilenden Rede, aber nicht fur die in der ¢insamen Rede ... In der Phantasie schwebt uns ein gesprochenes oder gedrucktes Wortzeichen vor, in Wahrheit existiert es gar nicht.«22 21 E. Husser! (1913),35.
22 E. Husser! (1913),36. 201
Die Virtualisierung des verinnerlichten Zeichens, die sich aus dem subjektphilosophischen Ansatz ergibt, hat eine wichtige Implikation. Husserl sieht sich namlich nun genotigt, die Identitat der Bedeutung in etwas anderem als in Regeln des Zeichengebrauchs zu verankern; diese, spater von Wittgenstein entwi~kelte Auffassung wiirde namlich einen internen Zusammenhang zwischen der Identitat der Bedeutungen und der intersubjektiven Geltung von Bedeutungsregeln voraussetzen. Auch Husserl vergleicht die Zeichen, die wir bei Rechenoperationen verwenden, mit den Figuren, die wir nach Regeln des Schachspiels bewegen. Aber im Gegensatz zu Wittgenstein muB Husserl den Primat reiner Bedeutungen postulieren; erst in Kenntnis dieser originaren Bedeutungen konnen wir wissen, wie wir mit Schachfiguren verfahren: »So besitzen auch die arithmetischen Zeichen neben ihrer originaren Bedeutung sozusagen ihre Spielbedeutung ... Nimmt man die arithmetischen Zeichen rein als Spielmarken im· Sinne dieser Regeln, so fiihrt die Losung der Aufgaben des rechnerischen Spiels zu Zahlzeichen bzw. Zahlformeln, deren Interpretation im Sinne der originaren und eigentlich arithmetischen Bedeutungen zugleich die Losung entsprechender arithmetischer Aufgaben darstellen.«23 Die Bedeutung eines Ausdrucks ist in den Akten der Bedeutungsintention und der anschaulichen Erfiillung dieser Intention begriindet - dies freilich nicht psychologisch, sondern im Sinne einer trans zendentalen Fundierung. Der Bedeutungsinhalt ist ein ideales Ansich, das Husserl aus dem intentionalen Wesen des bedeutungsverleihenden Aktes, letztlich aus dem Wesen des bedeutungserfiillenden Aktes einer entsprechenden idealen Anschauung gewinnen mochte. Kein notwendiger Zusammenhang besteht aber »zwischen den idealen Einheiten, die faktisch als Bedeutungen fungieren, und den Zeichen, an welche sie gebunden sind, d. h. mittels welcher sie sich im menschlichen Seelenleben realisieren«.24 Dieser Bedeutungsplatonismus, der Husserl mit Frege verbindet, erlaubt am Ende jene Unterscheidung zwischen Bedeutungen »an sich« und den bloB »ausgedriickten« Bedeutungen, die an Poppers aquivalente Unterscheidung zwischen dritter und zweiter Welt erinnert. Der im innefen Monolog als »Zeichenphantasma« auftretende Ausdruck dient 23 E. Husserl (1913),69. 202
24 E. Husserl (1913), 104.
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der kognitiven Aneignung der idealen Einheiten, die nur als ausgedriickte fiir ein erkennendes Subjekt habhaft sind: »Jeder Fall einer neuen Begriffsbildung belehrt uns, wie sich eine Bedeutung realisiert, die vorher noch nie realisiert war.«25 Ich habe Husserls Bedeutungstheorie schrittweise nachvollzogen, urn genau den Punkt zu zeigen, an dem Derridas Kritik einsetzt. Derrida will gegen die Platonisierung der Bedeutung und gegen die entkorperlichende Interiorisierung ihres sprachlichen Ausdrucks die unauflosliche Verflechtung des Intelligiblen mit dem Zeichensubstrat seines Ausdrucks, sogar den transzendentalen Primat des Zeichens gegeniiber der Bedeutung zur Geltung bringen. Interessanterweise richten sich seine Bedenken aber nicht gegen jene Pramissen der BewuBtseinsphilosophie, die es unmoglich machen, die Sprache als ein intersubjektiv konstituiertes Zwischenreich zu identifizieren, das an beidem teilhat: sowohl am transzendentalen Charakter der WelterschlieBung wie am empirischen Charakter des innerweltlich Erfahrbaren. Derrida setzt nicht an jenem Knotenpunkt an, wo sich Sprach- und BewuBtseinsphilosophie verzweigen, also dort, wo sich das Paradigma der Sprachphilosophie von dem der BewuBtseinsphilosophie lost und die Identitat der Bedeutung von der intersubjektiven Praxis der Verwendung von Bedeutungsregeln abhangig macht. Derrida folgt vielmehr Husserl auf dem Pfad der transzendentalphilosophischen Abscheidung alles Innerweltlichen von den weltkonstituierenden Leistungen der Subjektivitat, urn erst in deren innersten Hofen den Kampf gegen die Herrschaft der ideal angeschauten Wesenheiten aufzunehmen.
III Derridas Kritik setzt in ahnlicher Weise an Husserls Evidenzbegriff der Wahrheit an wie einst Heideggers Kritik an Husserls Begriff des Phanomens. Urn den Status von >an sich< existierenden Bedeutungen jenseits aller Verkorperungen zu sichern, muB Husserl auf eine Anschauung rekurrieren, in der sich diese Wesenheiten »von sich 25 E. Husserl (1913), 104. 20 3
selbst her« zeigen, als reine Phanomene zur Gegebenheit gelangen. Diese Anschauung konstruiert er als Erfullung einer Bedeutungsintention, als Selbstgegebenheit des »Gegenstandes«, der mit einem sprachlichen Ausdruck intendiert ist. Der bedeutungsintendierende verhalt sich zum bedeutungserfullenden Akt wie die Vorstellung zur aktuellen Wahrnehmung eines Gegenstandes. Die Anschauung lost den Wechsel ein, den die ausgedriickte Bedeutung ausstellt. Mit dieser Auffassung schneidet freilich Husserl a priori alle sprachlich ausdruckbaren Bedeutungen auf die kognitive Dimension zu. Derrida nimmt nun mit Recht AnstoB daran, daB damit die Sprache auf diejenigen Anteile reduziert wird, die fur die Erkenntnis oder fur die tatsachenfeststellende Rede brauchbar sind. Die Logik behalt Vorrang vor der Grammatik, die Erkenntnisfunktion vor der Verstandigungsfunktion. Fur Husserl ist das selbstverstandlich: »Bei der Frage, wasein Ausdruck bedeutet, werden wir naturgemaB auf die Falle zuriickgehen, in welchen er eine aktuelle Erkenntnisfunktion ubt.«26 Husserl bemerkt selbst, daB sich z.B. die Bedeutung singularer Termini nicht ohne weiteres nach dies em Modell erklaren lassen - es gibt »subjektive Ausdriicke«, deren Bedeutung mit der Sprechsituation wechseln. Aber Husserl begegnet dieser Schwierigkeit mit der Behauptung, daB »jeder subjektive Ausdruck, bei identischer Festhaltung der ihm augenblicklich zukommenden Bedeutungsintention, durch objektive Ausdrucke ersetzbar ist«.27 Individuennamen sollen durch Kennzeichnungen, die Orts- und Zeitdeixis durch Raumzeitpunkte usw. substituiert werden konnen. Wie Tugendhat gezeigt hat, ist dieses Programm der Umstellung subjektiver Ausdrucke auf situationsunabhangige objektive Ausdriicke undurchfuhrbar; singulare Termini sind ebenso wie performative Ausdriicke Beispiele fur genuin pragmatische Bedeutungen, die sich nicht unabhangig von einer intersubjektiv ausgeubten Praxis der Regelanwendung erklaren lassen. Derrida deutet diesen Sachverhalt freilich ganz anders. DaB Husserl alle sprachlichen Bedeutungen wahrheitsbezogenen objektiven Ausdriicken, die auf eine Erfullung durch aktuelle Anschauung an26 E. Husserl (1913), 56. 204
27 E. Husserl (1913), 90.
gelegt und damit auf die Erkenntnisfunktion zugeschnitten sind, verkoppeln muB, begreift Derrida als Symptom eines von weit herkommenden und keineswegs sprachanalytisch zu heilenden Logozentrismus: »In derTat ist es klar, daB die Behauptung, es lieBe sich jeder subjektive Ausdruck durch einen objektiven ersetzen, im Grunde nichts anderes besagt als die Schrankenlosigkeit der objektiven Vernunft.«28 Es ist diese vorgangige metaphysische Begrenzung der Sprache durch Vernunft, der Bedeutung durch das Wissen, die Derridas Widerstand auf den Plan ruft. Er sieht in Husserls Evidenzbegriff der Wahrheit eine Metaphysik am Werk, die das Sein als Prasenz, als Vergegenwartigung oder Anwesenheit zu denken notigt. Dies ist die Stelle, an der Derrida die in Husserls Argumentation als unwesentlich beiseitegeschobene Exterioritat des Zeichens ins Spiel bringt - eine semiotische, keineswegs eine sprachpragmatische Einsicht. Fur Derrida enthullt sich im Gedanken der durch Prasenz beglaubigten Identitat eines Erlebnisses der metaphysische Kern der Phanomenologie - metaphysisch insofern, als das Modell der anschaulich erfullten Bedeutungsintention genau die zeitliche Differenz und Andersheit zum Verschwinden bringt, die beide fur den Akt der anschaulichen Vergegenwartigung desselben Gegenstandes und damit auch fur die Identitat der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks konstitutiv sind. In Husserls Suggestion der einfachen Prasenz eines von sich aus Gegebenen geht jene Struktur der Wiederholung verloren, ohne die nichts dem FluB der Zeit und dem Strom der Erlebnisse entrissen und als dasselbe prasent gemacht, eben reprasentiert werdeh kann. 1m zentralen 5. Kapitel von» La Voix et Ie Phenomene« greift Derrida auf Husserls Analysen zum inneren ZeitbewuBtsein zuruck, urn mit Husserl gegen Husserl die differentielle Struktur der durch Vor- und Ruckgriffe erst ermoglichten Anschauung eines aktuell Gegebenen herauszuarbeiten. Die einfache Prasenz eines ungeschiedenen, mit sich identischen Gegenstandes zerfallt, sobald das Netz von Protentionen und Retentionen zu BewuBtsein kommt, in das jedes aktuelle Erleben eingebettet ist. Das »im Augenblick« gegenwartige Erleben verdankt sich einem Akt der Vergegenwarti28
J. Derrida (1979), 90.
gung, die Wahrnehmung einem reproduzierenden Wiedererkennen in der Weise, daB der Spontaneitat des lebendigen Augenblicks die Differenz eines zeitlichen Intervalls und damit auch ein Moment der Andersheit innewohnt. Die innig verschmolzene Einheit des intuitiv Gegebenen erweist sich tatsachlich als ein Zusammengesetztes und Produziertes. Weil der Husserl der »Logischen Untersuchungen« diesen ursprunglichen ProzeB der Zeitigung und der Veranderung im Herzen der transzendentalen Subjektivitat verkennt, kann er sich auch uber die Rolle des Zeichens bei der Konstituierung von mit sich identischen Gegenstanden und Bedeutungen tauschen. Fur eine jede, Vergangenheit und Gegenwart auf einander beziehende Reprasentation ist das Zeichen unerlaBlich: »Ein Phon em oder ein Graphem ist bis zu einem gewissen Grade jeweils notwendig anders, je nach der Operation oder Wahrnehmung, in der es sich reprasentiert; dennoch kann es als Zeichen (und als Sprache uberhaupt) nur insofern fungieren, als seine formale Identitat gestattet, es wieder zu gebrauchen und wiederzuerkennen. Diese Identitat ist notwendig eine ideale.«29 Anstelle der Idealitat von Bedeutungen an sich, die Husserl ebenso streng von den Akten des Meinens und der Kommunikation wie yom Zeichensubstrat des Ausdrucks und dem Referenten abtrennt, rekurriert Derrida auf die »Idealitat der sinnlichen Form des Signifikanten«.30 Diese erklart er indessen nicht pragmatisch aus dem Regelgebrauch, sondern in Abgrenzung von dem, was er die Prasenzmetaphysik Husserls nennt. Husserl hat sich, so heiBt Derridas zentraler Einwand, von der Grundvorstellung der abendlandischen Metaphysik blenden lassen, daB die Idealitat der mit sich identischen Bedeutung allein verburgt ist durch die lebendige Prasenz des unvermittelten, intuitiv zuganglichen aktuellen Erlebens in der Innerlichkeit der transzendental von allen empirischen Beimengungen gereinigten Subjektivitat; sonst hatte er sich nicht damber tauschen konnen, daB sich im Quellpunkt dieser scheinbar absoluten Gegenwart eine zeitliche Differenz und Andersheit auftut, die Derrida zugleich als passiven Unterschied und als differenzerzeugenden Aufschub charakteri29
J. Derrida (1979), 103.
206
30
J. Derrida (1979), 106.
siert. Dieses Noch-Nicht einer einstweilen vorenthaltenen, potentiellen, noch ausstehenden Gegenwart bildet die Folie von Verweisungen, ohne die uberhaupt nichts als Gegenwartiges erfahren werden konnte. Derrida bestreitet, daB eine Bedeutungsintention jemals in der erfullenden Intuition aufgehen, mit ihr zur Deckung gelangen, in ihr zerschmelzen kann. Eine Intuition kann niemals jenen mit dem Ausdruck ausgestellten Wechsel der Bedeutungsintention einlosen. Vielmehr sind zeitliches Ge£a1le und Andersheit fur beides konstitutiv - sowohl fur die Bedeutungsfunktion eines sprachlichen Ausdrucks, der ja gerade in Absenz dessen, worauf sich das jeweils Gemeinte und das Gesagte beziehen, verstandlich bleiben muB; wie auch fur die Struktur der Gegenstandserfahrung, die nur im Vorgriff eines interpretierenden, namlich das aktuelle Erleben uberschreitenden und insofern nicht prasenten Ausdrucks als etwas gegenwartig Wahrgenommenes identifiziert und festgehalten werden kann. Jeder Wahrnehmung liegt eine von Husserl selbst in Begriffen der Protention und Retention untersuchte Struktur der Wiederholung zugrunde. Husserl hat nicht erkannt, daBdiese Struktur der Vergegenwartigungdurch die symbolisierende Kraft oder die Stellvertreterfunktion des Zeichens erst ermoglicht wird. A1lein der Ausdruck in seiner substrathaften, nicht-sublimierbaren AuBerlichkeit des Zeichencharakters zeitigt die unaufhebbare Differenz einerseits zwischen sich und dem, wofur er steht - seiner Bedeutung; und andererseits zwischen der Sphare der sprachlich artikulierten Bedeutungen und der innerweltlichen Sphare, der die Sprecher und Horer mit ihren Erlebnissen, der aber auch die Rede und vor allem deren Gegenstande angehoren. Derrida interpretiert das in sich differenzierte Verhaltnis von Ausdruck, Bedeutung und Erleben als den Spalt, durch den jenes Licht der Sprache fallt, in dem erst etwas als etwas in der Welt prasent oder anwesend sein kann. Nur Ausdruck und Bedeutung zusammengenommen, konnen etwas reprasentieren - und diese symbolische Reprasentation begreift Derrida als einen ProzeB der Zeitigung, als jenes Aufschieben, jenes aktive Abwesend- und Vorenthaltensein, das sich in der Struktur der Vergegenwartigung und des Zu-T age-T retens im Akt der Anschauung zur Geltung bringt.
Husserl hat den internen Zusammenhang zwischen dieser Wiederholungsstruktur und der Stellvertreterfunktion des Sprachzeichens verkannt; urn das zu erkHiren, bezieht sich Derrida nun auf die beiHiufige Bemerkung Husserls, »daB ich in den, mein stilles Denken begleitenden und stiitzenden Wortvorstellungen jeweils von meiner Stimme gesprochene Worte phantasiere«.31 Derrida ist iiberzeugt, daB Husserl den Substratcharakter des Sprachzeichens nur darum als unwesentliches Moment vernachHissigen konnte, weil in der abendlandischen Tradition die Lautgestalt vor der Schriftgestalt, die phonetische Verkorperung vor der graphischen Einschreibung einen fragwiirdigen Primat genieBt. Die fliichtige Transparel'lz der Stimme leistet einer Assimilation des W ortes an die ausgedriickte Bedeutung Vorschub. Schon Herder hatte ja auf das einzigartige Selbstverhaltnis hingewiesen, das im Sich-Sprechen-Horen vorliegt. Wie Herder (und Gehlen) betont Derrida die Intimitat und Durchsichtigkeit, die absolute Nahe des durch meinen Atem und meine Bedeutungsintention gleichzeitig belebten Ausdrucks. Indem sich der Sprecher vernimmt, vollzieht er drei Akte fast ununterscheidbar in einem: er produziert Lautgestalten; er nimmt, indem er sich selbst affiziert, die sinnliche Form der Phoneme wahr; und er versteht zugleich die intendierte Bedeutung: »jede andere Form der Selbstaffektion muB entweder den Bereich des Fremden durchqueren oder auf den Anspruch, universal zu sein, verzichten.«32 Diese Eigenschaft erklart nicht nur den Primat des gesprochenen Wortes, sondern auch die Suggestion, das Sein des IntelligibIen sei gleichsam korperlos gegenwartig und beglaubigt durch das in unmittelbarer Evidenz erlebte Anwesende. Insofern sind Phonozentrismus und Logozentrismus miteinander verschwistert: »Die Stimme vermag den idealen Gegenstand oder die ideale Bedeutung zu zeigen, ... ohne sich in Abenteuer auBerhalb der Idealitat oder auBerhalb der Innerlichkeit des selbstprasenten Lebens zu verlie- , ren.«33 Dies wird dann zur metaphysikkritischen Ausgangsthese der Grammatologie: »In der Geschlossenheit dieser Erfahrung wird das Wort als elementare und unzerlegbare Einheit des Signifikats 31 E. Husser! (1913), 97. 33 J. Derrida (1979), 134. 208
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und der Stimme, des Begriffs und einer transparenten Ausdruckssubstanz erlebt.«34 Wenn aber der Phonozentrismus der Grund ist fiir eine metaphysische Privilegierung der Gegenwart, und wenn diese Metaphysik der Prasenz ihrerseits erklart, warum Husserl die semiotische Grundeinsicht in ,die Stellvertreterfunktion des Zeichens und dessen welterschlieBende Kraft verschlossen bleibt, dann empfiehlt es sich, den Zeichencharakter des sprachlichen Ausdrucks und seine Stellvertreterfunktion nicht langer aus dem Horizont des Sich-SprechenHorens zu explizieren, sondern die Schrift zum Ausgangspunkt der Analyse zu wahlen. Der schriftliche Ausdruck erinnert namlich mit groBter Hartnackigkeit daran, daB die Sprachzeichen »trotz der volligen Abwesenheit eines Subjekts und iiber seinen Tod hinaus« die Entiifferbarkeit eines Textes ermoglichen und seine Verstandlichkeit wenn nicht garantieren, so doch in Aussicht stellen. Die Schrift ist die testamentarische VerheiBung des Verstehens. Derridas Kritik an Husserls Bedeutungstheorie zielt auf dies en strategischen Punkt: bis zu Husserl (und selbst Heidegger) hat die Metaphysik das Sein als Prasenz gedacht - das Sein ist die »Produktion und Sammlung des Seienden in der Prasenz als Wissen und als Herrschaft«.35 So kulminiert die Geschichte der Metaphysik in einem phanomenologischen Intuitionismus, der jene urspriingliche, die Identitat von Gegenstanden und Bedeutungen erst ermoglichende Differenz des zeitlichen Gefalles und der Andersheit in der suggestiven Selbstaffektion durch die eigene differanzlose Stimme vernichtet: »Eine differanzlose Stimme, eine Stimme ohne Schrift, ist zugleich absolut lebendig und absolut tot.« Der Dbersetzer verwendet in dies em Satz das Kunstwort »Differanz«, urn Derridas W ortspiel mit den homophonen Ausdriicken »difference« und »differance« einzufangen. Die der Wiederholungsstruktur des Erlebens zugrundeliegende Zeichenstruktur verbindet sich mit dem temporalen Sinn des Aufschiebens, des umweghaften Verzogerns, des kalkulierenden Zuriickhaltens, des Reservierens, des Hinweisens auf ein spater Einzulosendes. Dadurch gewinnt die Verweisungsstruktur der Stellvertretung, der Repra-
J. Derrida (1979),135. 34
J. Derrida (1974),39.
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J. Derrida (1979), 163. 20 9
sentation oder der Ersetzung des Einen durch das Andere die Dimension der Zeitigung und des diJferenzierenden Einraumens: »Differer in diesem Sinne heillt temporalisieren, heillt bewuBt oder unbewuBt auf die zeitliche und verzogernde Vermittlung eines Umweges rekurrieren, welcher die Ausfiihrung oder Erfiillung des >Wunsches< oder >Willens< suspendiert«.36 Mit Hilfe die~es zeitdynamisch aufgeladenen Begriffs der »Differenz« will Derrida Husserls Versuch, den von allen empirischen Beimengungen gereinigten idealen Sinn von Bedeutungen »an sich« herauszuarbeiten, durch Radikalisierung unterlaufen. Derrida folgt Husserls Idealisierungen bis ins Innerste der transzendentalen Subjektivitat, urn hier, im Ursprung der Spontaneitat des sich selbst prasenten Erlebens, jene nicht zu tilgende Differenz dingfest zu machen, die, wenn sie nach dem Modell der Verweisungsstruktur eines schriftlichen Textes vorgestellt wird, als eine von der leistenden Subjektivitat losgeloste Operation, eben als subjektloses Geschehen gedacht werden kann. Die Schrift gilt als das aus allen pragmatischen Zusammenhangen der Kommunikation herausgeloste, von sprechenden und horenden Subjekten unabhangig gewordene, schlechthin originare Zeichen. Diese Schrift, die jeder nachtraglichen Fixierung von Lautgestalten vorausliegt, die »Urschrift«, ermoglicht - sozusagen ohne Zutun des transzendentalen Subjekts und den Leistungen dieses Subjekts vorauseilend - die welterschlieBenden Differenzierungen zwischen dem Intelligiblen der Bedeutungen und dem innerhalb seines Horizonts zur Erscheinung gelangenden Empirischen, zwischen Welt und Innerweltlichem. Diese Ermoglichung ist ein ProzeB des Aufschiebens im Unterscheiden. Ausdieser Sicht erscheint das vom Sinnlichen unterschiedene Intelligible zugleich als das aufgeschobene Sinnliche, der von der Intuition unterschiedene Begriff zugleich als aufgeschobene Intuition, die von der N atur unterschiedene Kultur als aufgeschobene Natur. So gelangt Derrida zu einer Umkehrung des Husserlschen Fundamentalismus insofern, als nun die transzendentale Ursprungskraft von der erzeugenden Subjektivitat iibergeht auf die anonyme, geschichtsstiftende Produktivitat der Schrift. Die Prasenz dessen, was sich in aktueller Anschauung 36
J. Derrida, Die Differance, in: ders. (1972), 12.
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von sich aus zeigt, wird schlechthin abhangig von der reprasentierenden Kraft des Zeichens. Es ist nun wichtig zu sehen, daB Derrida im Verlauf dieser Denkbewegung keineswegs mit der fundamentalistischen Beharrlichkeit der Subjektphilosophie bricht - er macht nur, was dieser als das Fundamentale gegolten hatte, von dem noch tiefer liegenden, ins Schwanken geratenen oder in Schwingung versetzten Boden einer temporal verfliissigten Ursprungsmacht abhangig. Auf diese Urschrift, die subjektlos und anonym ihre Spuren hinterlaBt, greift Derrida unbefangen im Stile der Ursprungsphilosophie zurUck: »Es bediirfte anderer Namen als der des Zeichens und der Re-prasentation, urn dieses Alter denken und von ihm sprechen zu konnen, urn als >normal< und >vor-urspriinglich< denken zu konnen, was Husserl als eine partikulare, zufallige, abhangige sekundare Erfahrung glaubte isolieren zu konnen: die Erfahrung der unendlichen Derivation der Zeichen, die umherirren und die Schauplatze wechseln und wechselseitig'--ohne Anfang und Ende ihre Vergegenwartigung verzaubern.«37 Nicht die Geschichte des Seins ist das Erste und Letzte, sondern ein Vexierbild: die labyrinthischen Spiegeleffekte alter Texte, von denen ein jeder fortgesetzt auf noch altere Texte verweist, ohne die Hoffnung zu erwecken, je der Urschrift habhaft zu werden. Wie einst Schelling in seiner Spekulation iiber die zeitloszeitigende Verschachtelung der Weltalter von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beharrt Derrida auf dem schwindelerregenden Gedanken einer Vergangenheit, die nie gegenwartig gewesen ist. IV Urn dies en Gedanken einer Urschrift, die allen identifizierbaren Einschreibungen vorausgeht, nachvollziehbar zu machen, erlautert Derrida am Leitfaden von Saussures »Grundlagen der Sprachwissenschaft« (Berlin, 1967) seine These, daB die Schrift in gewisser Hinsicht das primare Ausdrucksmedium der Sprache sei. In immer neuen Anlaufen rennt er gegen die, wie es scheint, triviale Auffassung an, daB die Sprache ihrer Struktur nach auf das gesprochene 37
J. Derrida (1979), 164£. 211
Wort angewiesen ist und daB die Schrift die Phoneme bloB nachbildet. Natiirlich vertritt Derrida nicht die empirische Behauptung, daB die Schrift chronologisch friiher aufgetreten sei als die Rede. Er stiitzt sein Argument sogar auf die iibliche Vorstellung, daB die Schrift das reflexiv gewordene Zeichen par excellence ist. Gleichwohl ist die Schrift nichts Parasitares; vielmehr ist das gesprochene Wort von Haus aus auf das Supplement des geschriebenen W ortes angelegt, so daB sich das Wesen der Sprache, n1imlich die konventionelle Festlegung und »Institutionalisierung« von Bedeutungen im Zeichensubstrat anhand der konstitutiven Eigenschaften der Schrift erkiaren laBt. Alle Ausdrucksmedien sind wesentlich »Schrift«. Alle sprachlichen Zeichen sind arbitrar, stehen in einem konventionellen Verhaltnis zur Bedeutung, die sie symbolisieren; und »die Idee der Vereinbarung ... kann vor der Moglichkeit der Schrift und auBerhalb ihres Horizonts nicht gedacht werden«.38 Derrida macht sich die Grundvorstellung der strukturalistischen Phonetik zunutze, daB die definierenden Merkmale jedes einzelnen Phonems allein durch die systematisch festgelegte Beziehung eines Phonems zu allen iibrigen Phonemen bestimmt sind. Dann wird aber die einzelne Lautgestalt nicht durch die phonetische Substanz, sondern durch ein Biindel systembezogener, abstrakter Merkmale konstituiert. Mit Genugtuung zitiert Derrida die folgende Stelle aus Saussures »Grundlegung«: »Seinem Wesen nach ist der sprachliche Signifikant keineswegs lautlich, er ist unkorperlich, er ist gebildet nicht durch seine stoffliche Substanz, sondern einzig durch die Differenzen, welche sein Lautbild von allen anderen trennen.«39 Derrida rechnet mit Struktureigenschaften des Zeichens, die sich ebensogut in der Substanz der Tinte wie in der Substanz der Luft realisieren konnen; in diesen abstrakten Ausdrucksformen, die sich gegeniiber den verschiedenen Ausdrucksmedien von Laut- und Schriftgestalt gleichgiiltig verhalten, erkennt er den Schriftcharakter der Sprache. Diese Urschrift liegt beidem zugrunde: dem gesprochenen wie dem geschriebenen Wort. Die Urschrift nimmt den Platz eines subjektlosen Erzeugers von 38 J. Derrida (1974), 78; vgl. auch die vorziigliche Darstellung von J. Culler, On Deconstruction, London 1983, 89-109. 39 F. d. Saussure (1967), 14d. 212
Strukturen ein, die dem Strukturalismus zufolge jedes Autors entbehren. Sie stiftet die Differenzen zwischen den in einer abstrakten Ordnung wechselseitig aufeinander bezogenen Zeichenelementen. Diese »Differenzen« im Sinne des Strukturalismus fiigt Derrida nicht ohne Gewaltsamkeit mit jener, anhand von Husserls Bedeutungstheorie herausgearbeiteten Differanz zusammen, die Heideggers ontologische Differenz iiberbieten soll: »Sie (die Differanz) ermoglicht die Artikulation des gesprochenen Wortes und der Schrift - im gelaufigen Sinne -, wie sie auch den metaphysischen Gegensatz zwischen Sinnlichem und Intelligiblem und, driiber hinaus, zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat, zwischen Ausdruck und Bedeutung fundiert.«40 Alle sprachlichen Ausdriicke, ob sie nun in der Gestalt von Phonemen oder Graphemen auftreten, sind gewissermaBen von einer selbst nicht prasenten U rschrift ins Werk gesetzt. Diese erfiillt, indem sie allen Kommunikationsvorgangen und allen beteiligten Subjekten vorauseilt, die Funktion der WelterschlieBung, freilich so, daB sie sich selbst zuriickhalt, der Parusie widersteht und nur in der Verweisungsstruktur der erzeugten Texte, im »allgemeinen T ext«, ihre Spur hinterlaBt. Das dionysische Motiv des Gottes, der den Sohnen und Tochtern des Okzidents seine in Aussicht gestellte Prasenz durch zehrende Abwesenheit nur urn so fiihlbarer macht, kehrt in der Metapher von der Urschrift und ihrer Spur wieder: »Aber die Bewegung der Spur ist notwendig verborgen, sie entsteht als Verbergung ihrer selbst. Wenn das Andere als solches sich ankiindigt, gegenwartigt es sich in der Verstellung seiner selbst.«41 Derridas Dekonstruktionen folgen getreulich der Heideggerschen Denkbewegung. Unfreiwillig stellt er den umgekehrten Fundamentalismus dieses Denkens bloB, indem er die ontologische Differenz und das Sein noch einmal durch die Differanz einer Schrift iiberbietet, die einen schon in Bewegung gesetzten U rsprung wiederum eine Etage tiefer legt. So bleibt der Gewinn, den sich Derrida von der Grammatologie und einer scheinbar konkretisierenden Vertextung der Seinsgeschichte erhofft haben mag, unbetrachtlich. Als Teilnehmer am philosophischen Diskurs der Moderne erbt 40
J. Derrida (1974), 110.
41
J. Derrida (1974),82. 21 3
Derrida die Schwachen einer Metaphysikkritik, die von der Intention der Ursprungsphilosophie nicht loskommt. Trotz des veranderten Gestus betreibt auch er am Ende nur eine Mystifizierung handgreiflicher gesellschaftlicher Pathologien; auch er entkoppelt das wesentliche, -niimlich dekonstruierende Denken von der wissenschaftlichen Analyse und landet bei der leerformelhaften Beschworung einer unbestimmten Autoritat. Dies allerdings ist nicht die Autoritat eines vom Seienden verstellten Seins, sondern die Autoritat einer nicht mehr Heiligen Schrift, einer exilierten, umherirrenden, ihres eigenen Sinnes entfremdeten, die Abwesenheit des Heiligen testamentarisch bezeugenden Schrift. Derrida unterscheidet sich von Heidegger zunachst durch einen dem Anschein nach szientifischen Anspruch; aber dann setzt er sich mit seiner Neuen Wissenschaft doch nur iiber die beklagte Inkompetenz der Wissenschaften im allgemeinen und der Linguistik im besonderen hinweg. 42 Derrida entwickelt die schriftlich verkodete Seinsgeschichte in einer anderen Variante als Heidegger. Wohl schiebt er wie dieser Politik und Zeitgeschichte ins Ontisch-Vordergriindige ab, urn sich des to ungebundener und assoziationsreicher im Ontologisch-U rschriftlichen tummeln zu konnen. Aber die Rhetorik, die bei Heidegger der Einiibung ins Fatum des Seins dient, leistet bei Derrida einer anderen, eher subversiven Einstellung Vorschub. Derida steht dem anarchistischen Wunsch, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, naher als der autoritaren Weisung, sich dem Schicksal zu fiigenY Diese kontrare Haltung mag damit zusammenhangen, daB Derrida, trotz aller Dementis, der jiidischen Mystik nahebleibt. Er will nicht neuheidnisch zurUck hinter die Anfange des Monotheismus, hinter den Begriff einer Tradition, die sich an die Spuren der verlorenen gottlichen Schrift heftet und sich durch die haretische Exegese der 42 J. Derrida (1974),169, vgl. auch das Interview mit Julia Kristeva in: J. Derrida, Positions, Chicago 1981, 35f. 43 Derida sagt von der »differance«: »Sie beherrscht nichts, waltet iiber nichts, iibt nirgends eine Autoritat aus. Sie kiindigt sich durch keine Majuskel an. Nicht nur gibt es kein Reich der differance, sondern diese stiftet zur Subversion jeden Reiches an« (Derrida, 1976, 29). 214
Schriften fortzeugt. Derrida zitiert zustimmend einen von E:. Levinas iiberlieferten Ausspruch des Rabbi Eliezer: »Waren alle Meere voller Tinte, alle Teiche mit Schreibrohren bep£lanzt, waren Himmel und Erde aus Pergament und iibten alle Menschen die Schreibkunst aus, sie vermochten die Thora nicht auszuschopfen, die ich studiert habe; wird doch die Thora selbst dadurch nur urn so vieles weniger als das Meer weniger wird, in das eine Federspitze getaucht ward.«44 Die Kabbalisten hatten immer schon ein Interesse daran, die miindliche Thora, die auf das Wort der Menschen zuriickgeht, gegeniiber dem prasumptiv gottlichen Wort der Bibel aufzuwerten. Sie verliehen den Kommentaren, mit denen sich jede Generation von neuem die Offenbarung aneignet, einen hohen Rang. Denn die Wahrheit ist nicht fixiert, nicht in einer wohlumschriebenen Menge von Aussagen ein fiir alle Mal positiv geworden. Diese kabbalistische Auffassung ist spater noch einmal radikalisiert worden. Nun gilt sogar die schriftliche Thora als eine problematische Ubersetzung des gottlichen Wortes in die Sprache der Menschen - als eine bloBe, eben bestreitbare Interpretation. Alles ist miindliche Thora, keine Silbe ist authentisch, gleichsam in Urschrift iiberliefert. Die Thora vom Baume der Erkenntnis ist eine von Anbeginn verhiillte Thora. Sie wechselt permanent ihreKleider, und diese Kleider sind die Tradition. G. Scholem berichtet von Diskussionen, die iiber die Frage entbrannt sind, ob alle zehn Gebote dem Volke Israel durch Moses unverfalscht iiberbracht worden seien. Einige Kabbalisten waren der Auffassung, daB nur die ersten beiden, den Monotheismus gleichsam konstituierenden Gebote, von Gott selbst stammen; andere bezweifelten sogar die Authentizitat der ersten von Moses iiberlieferten Worte. Rabbi Mendel von Rymanow spitzt einen Gedanken des Maimonides noch weiter zu: »Ihm zufolge stammen nicht einmal die ersten beiden Gebote aus einer unmittelbaren Offenbarung an die ganze Gemeinde Israel. Alles, was Israel horte, war nichts als jenes Aleph, mit dem im hebraischen Text der Bibel das erste Gebot beginnt ... Dies scheint mir,« so fiigt Scholem hinzu, »in der Tat ein iiberaus bemerkenswerter und nachdenklich 44
J. Derrida (1974),31. 21
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stimmender Satz. Der Konsonant Aleph stellt namlich im Hebraischen nichts anderes dar als den laryngalen Stimmeinsatz, der einem Vokal am Wortanfang vorausgeht. Das Aleph stellt also gleichsam das Element dar, aus dem jeder artikulierte Laut stammt ... Das Aleph zu horen, ist eigentlich so gut wie nichts, es stellt den Dbergang zu allen vernehmbaren Sprachen dar, und gewiB laBt sich nicht von ihm sagen, daB es in sich einen spezifischen Sinn vermittelt. Mit seinem kiihnen Satz ... reduzierte also Rabbi Mendel die Offenbarung zu einer mystischen, d. h. zu einer Offenbarung, die in sich selbst zwar unendlich sinnerfiillt, aber doch ohne spezifischen Sinn war. Sie stellte etwas dar, das, urn religiose Autoritat zu begriinden, in menschliche Sprachen iibersetzt werden muBte; und das ist es, was im Sinne dieses Ausspruchs Moses tat. Jede Aussage, die Autoritat begriindet, ware eine, wenn auch noch so giiltige und hochrangige, aber immer noch menschliche Deutung von etwas, was sie transzendiert.«45 Das Aleph des Rabbi Mendel ist dem tonlosen, nur schriftlich diskriminierten »a« der »differance« darin verwandt, daB in der Unbestimmtheit dieses gebrechlichen und vieldeutigen Zeichens die ganze Fiille der VerheiBung konzentriert ist. Derridas grammatologisch eingekreistes Konzept einer Urschrift, deren Spuren nur urn so mehr Interpretationen hervorrufen, je unkenntlicher sie werden, erneuert den mystischen Begriff der Tradition als eines hinhaltenden Offenbarungsgeschehens. Die religiose Autoritat behalt nur solange ihre Kraft, wie sie ihr wahres Antlitz verhiillt und dadurch die Entzifferungswut der Interpreten anstachelt. Die instandig betriebene Dekonstruktion ist die paradoxe Arbeit einer Traditionsfortsetzung, in der sich die Heilsenergie einzig durch Verausgabung erneuert. Die Arbeit der Dekonstruktion laBt die Schutthalde der Interpretationen, die sie abtragen will, urn die verschiitteten Fundamente freizulegen, immer weiter anwachsen. CDerrida meint, iiber Heidegger hinauszugehen; gliicklicherweise geht er hinter ihn zurUck.Mystische Erfahrungen konnten in jiidi~chen und christlichen Dberlieferungen ihre Sprengkraft, ihre die Institutionen und Dogmen bedrohende Kraft der Liquidierung nur entfalten, weil sie in dies en Kontexten auf den einen, verborgenen, 45 G. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Ffm. 1973, 47f. 216
die Welt transzendierenden Gott bezogen blieben. Erleuchtungen, die von dieser konzentrierenden Lichtquelle abgeschnitten sind, werden eigentiimlich diffus. Der Weg ihrer konsequenten Profanierung weist in jenen Bereich radikaler Erfahrungen, den die avantgardistische Kunst geoffnet hat. Aus dem reinen as thetis chen Entziicken der ekstatischen, auBer sich geratenen Subjektivitat hat Nietzsche seine Orientierungen geschopft. Heidegger blieb auf halbern Wege stehen; er wollte die Kraft einer richtungslos gewordenen Illumination einbehalten, ohne den Preis fiir deren Profanierung zu entrichten. So spielt er mit einer Aura, der das Heiligtum abhanden gekommen ist. Seinsmystisch bilden sich die Erleuchtungen ins Magische zuriick. In der neuheidnischen Mystik geht von dem entgrenzenden Charisma des AuBeralltaglichen weder, wie im Asthetischen, etwas Befreiendes aus, noch, wie im Religiosen, etwas Erneuerndes - allenfalls der Reiz der Scharlatanerie. Von diesem Reiz nun reinigt Derrida die in den Traditionszusammenhang des Monotheismus zUrUckgefiihrte Seinsmystik. 46 46 Ich sehe mich in dieser Interpretation durch einen Anikel von Susan Handelman bestatigt, den ich erst nachtraglich (dank eines Hinweises vonJ. Culler) kennengelernt habe: Jacques Derrida and the Heretic Hermeneutic, in: M. Krapnick (Ed.), Displacement, Derrida and Mter, Bloomington, Indiana, 1983,98 ff. S. Handelman erinnen an ein interessantes Zitat von Levinas, das sich Derrida (in seinem Essay iiber Levinas) zu eigen macht: »Die Thora mehr als Gott zu lieben, bedeutet Schutz gegen den Wahnsinn des direkten Kontaktes mit dem Heiligen«, und betont die Verwandtschaft Derridas mit der rabbinischen Tradition und insbesondere mit deren kabbalistischen und haretischen Radikalisierungen: »The statement (of Levinas) is striking and eminently Rabbinic - the Thora, the Law, Scripture, God, he says, are even more imponant than He. We might say that Derrida and the Jewish heretic hermeneutic do precisely that: foresake God but perpemate a Thora, Scripmre or Law in their own displaced and ambivalent way« (II5)' S. Handelman bezieht sich ebenfalls auf die Entwertung der originalen Uberlieferung des gottlichen Wortes zugunsten der miindlichen Thora, die im Laufe der Geschichte des Exils eine wachsende, schlieBlich sogar eine iiberwiegende Autoritat beanspruchte: »That is, all later Rabbinic interpretation shared the same divine origin as the Thora of Moses; interpretation, in Derridean terms, was >always already there<. Human interpretation and commentary thus become pan of the Divine Revelation. The boundaries between text and commentary are fluid in a way that is difficult to imagine for a sacred text, but this fluidity is a central tenet of contemporary critical theory, especially in Derrida.« (101) 1m iibrigen stellt S. Handelman Derridas Denunzierung des abendlandischen Logozentrismus als Phonozentrismus einleuchtend in den reli21 7
Wenn diese Vermutung nicht ganz falsch ist, kehrt freilich Der-rida an jenen historischen Ort zuriick, wo einst Mystik in Aufklarung umgeschlagen ist. Scholem hat zeitlebens diesem im 18. Jahrhundert vollzogenen Umschwung nachgespiirt. Unter den Bedingungen des 20. J ahrhunderts haben sich, wie Adorno bemerkt, bei Benjamin »ein letztes Mal« Mystik und Aufklarung zusammenge:' funden, und dies mit den begrifflichen Mitteln des Historischen Materialismus. Ob sich diese einzigartige Denkbewegung mit den Mitteln eines negativen Fundamentalismus wiederholenlaBt, scheint mir zweifelhaft zu sein; jedenfalls miiBte sie uns nur tiefer in die Moderne hineinfiihren, die doch Nietzsche und seine Nachfolger iiberwinden wollten.
gionsgeschichtlichen Kontext einer immer wieder geiibten Verteidigung des Buchstab ens gegen den Geist. Derrida erhalt so einen Platz innerhalb der jiidischen Apologetik. Das paulinische Christentum hatte die Interpretationsgeschichte der miindlichen Thora als »toten Buchstaben« (2. Korinther> 3,6) gegeniiber dem »Iebendigen Geist« der unmittelbaren Gegenwart Christi diskreditiert. Paulus wendet sich gegen die Juden, ~ie sich an den Buchstaben klammern und die »Schrift« nicht zugunsten des »Logos« der christlichen Offeribarung preisgeben wollen: »Derrida's choice of writing to oppose to Western logocentrism is a re-emergence of Rabbinic hermeneutics in a displaced way. Derrida will undo Greco-Christian theology and move us back from ontology to grammatology, from Being to Text, from Logos to EcritureScripture.« (I I I) In diesem Zusammenhang ist es von groBer Wichtigkeit, daB Derrida das Motiv des durch Abwesenheit und Entzug wirksamen Gottes nicht wie Heidegger iiber Holderlin aus der romantischen Dionysosrezeption bezieht und als ein archaisches Motiv gegen den Monotheismus wenden kann. Vielmehr ist die aktive Abwesenheit Gottes ein Motiv, das Derrida iiber Levinas aus der jiidischen Uberlieferung seiber bezieht: »The absent God of the Holocaust, the God who obscures his face, paradoxically becomes for Levinas the condition of Jewish belief ... Judaism is then defined as this trust in an absent God«. (II5) Dadurch gewinnt freilich die Metaphysikkritik bei Derrida eine andere Bedeutung als bei Heidegger. Die Arbeit der Dekonstruktion dient dann der uneingestandenen Erneuerung eines Diskurses mit Gott, der unter den modernen Bedingungen einer unverbindlich gewordenen Ontotheologie abgerissen ist. Nicht die Uberwindung der Moderne unter Riickgriff auf archaische Quellen ware dann die Intention, sondern eine spezifische Beriicksichtigung der Bedingungen des modernen nachmetaphysischen Denkens, unter denen der ontotheologisch abgeschirmte Diskurs mit Gott nicht fortgefiihrt werden kann.
Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur I Adornos »Negative Dialektik« und Derridas »Dekonstruktion« lassen sich als verschiedene Antworten auf dasselbe Problem verstehen. Die totalisierende Selbstkritik der Vernunft verstrickt sich in den performativen Widerspruch, die subjektzentrierte Vernunft nur unter Riickgriff auf deren eigene Mittel ihrer autoritaren N atur iiberfiihren zu konnen. Die Denkmittel, die das »Nicht-Identische« verfehlen und der »Prasenzmetaphysik« verhaftet bleiben, sind gleichwohl die einzig verfiigbaren Mittel, urn deren eigene Insuffizienz aufzudecken. Heidegger fliichtet aus dieser Paradoxie in die lichten Hohen eines esoterischen Sonderdiskurses, der sich generell von den Beschrankungen diskursiver Rede lossagt und sich durch Unbestimmtheit gegen jeden spezifischen Einwand immunisiert. Heidegger bedient sich der metaphysis chen Begriffe metaphysikkritisch als der Leiter, die er, nachdem er die Sprossen heraufgestiegen ist, wegwirft. Oben angelangt, zieht sich freilich der spate Heidegger nicht wie der friihe Wittgenstein in die schweigende Anschauung des Mystikers zuriick, mit seherischer Gebarde nimmt er vielmehr wortreich die Autoritat des Eingeweihten in Anspruch. Anders Adorno. Er schleicht sich nicht aus der Paradoxie der selbstbeziiglichen Vernunftkritik hinaus; er macht den als unausweichlich anerkannten performativen Widerspruch, in dem sich dieses Denken seit Nietzsche bewegt, zur Organisationsform indirekter Mitteilung. Das gegen sich gekehrte identifizierende Denken wird zum fortgesetzten Selbstdementi genotigt. Es laBt die Wunden sehen, die es sich und den Gegenstanden schlagt. Dieses Exerzitium tragt den N amen einer N egativen Dialektik zu Recht; denn Adorno praktiziert die bestimmte Negation, obwohl sie jeden Halt im kategorialen Gefiige der Hegelschen Logik verloren hat, unbeirrt gleichsam als Fetischismus der Entzauberung. Das Festhalten an 21 9
einem kritischen Verfahren, das sich seiner Grundlagen nicht mehr sicher sein kann, erklart sich daraus, daB Adorno, im Gegensatz zu Heidegger, das diskursive Denken nicht elitar verachtet. Wir irren im Diskursiven, gewiB, wie im Exil umher; und doch wahrt einzig die instandige, gegen sich selbst aufgebotene Kraft einer bodenlosen Reflexion die Verbindung mit der Utopie einer langst verschollenen, der Vorvergangenheit angehorenden, zwanglos-intuitiven Erkenntnis. 47 Als deren Verfallsform kann sich das diskursive Denken freilich nicht von sich aus identifizieren; dazu verhilft ihm erst die asthetische, im Umgang mit avantgardistischer Kunst erworbene Erfahrung. Die VerheiBung,deren eine iiberlebte philosophische Tradition nicht mehr machtig ist, hat sich in die Spiegelschrift des esoterischen Kunstwerks zuriickgezogen und bedarf der negativistischen Entratselung. Aus dieser Arbeit der Dechiffrierung saugt die Philosophie jenen Rest paradoxen Vernunftvertrauens, mit dem die Negative Dialektik hartnackig ihre performativen Widerspriiche im doppelten Sinne des Wortes exekutiert. Derrida vermag Adornos asthetisch beglaubigtes, residuales Vertrauen in eine ver-riickte, aus Bezirken der Philosophie vertriebene, eben utopisch gewordene Vernunft nicht zu teilen. Ebensowenig glaubt er freilich, daB sich Heidegger, der die metaphysis chen Begriffe gebraucht, urn sie »durchzustreichen«, den Begriffszwangen der Subjektphilosophie tatsachlich entwunden hat. GewiB, den eingeschlagenen Weg der Metaphysikkritik will Derrida fortsetzen; auch er will aus der Paradoxie lieber ausbrechen als diese briitend einzukreisen. Aber wie Adorno sperrt er sich gegen den Gestus der Tiefe, den Heidegger an seinem Gegeniiber, der Ursprungsphilosophie, unbedenklich imitiert. Deshalb bestehen Parallelen auch zwischen Derrida und Adorno. Diese Verwandtschaft im Denkgestus bediirfte einer genaueren Analyse. Adorno und Derrida sind in gleicher Weise sensibilisiert gegen abschluBhafte, totalisierende, sich alles einverleibende Modelle, insbesondere gegen das Organische im Kunstwerk. So betonen beide den Vorrang des Allegorischen vor dem Symbolischen, der Metynomie vor der Metapher, des Romantischen vor dem Klas47 H. Schnadelbach, Dialektik als Vernunftkritik, in: L. v. Friedeburg, J. Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Ffm. 1983, 66ff. 220
sischen. Beide benutzen das Fragment als Form der Darstellung, stellen jedes System unter Verdacht. Beide entschliisseln einfallsreich den N ormalfall von seinen Grenzfallen her; sie treffen sich in einem negativen Extremismus, entdecken das Wesentliche im Marginalen, Nebensachlichen, das Recht auf seiten des Subversiven und VerstoBenen, die Wahrheit an der Peripherie und im Uneigentlichen. Einem Milltrauen gegen alles Unmittelbare und Substantielle entspricht das intransigente Aufspiiren von Vermittlungen, von verborgenen Prasuppositionen und Abhangigkeiten. Der Kritik an Urspriingen, Originalen, Erstheiten entspricht ein gewisser Fanatismus, in allem das bloB Produzierte, Nachgemachte, Sekundare nachzuweisen. Was sich als materialistisches Motiv durch Adornos Werk hindurchzieht, die Entlarvung idealistischer Setzungen, die Umkehrung falscher Konstitutionszusammenhange, die These yom Vorrang des Objekts - auch dazu findet sich eine Parallele in Derridas Logik der Supplementaritat. Die revoltierende Arbeit der Dekonstruktion zielt ja auf die Zerstorung eingeschliffener grundbegrifflicher Hierarchien, auf den Umsturz der Fundierungszusammenhange und konzeptuellen Herrschaftsverhaltnisse, so z. B. zwischen Rede und Schrift, zwischen Intelligiblem und Sinnlichem, Natur und Kultur, Innerem und AuBerem, Geist und Materie, Mann und Frau. Eines dieser Begriffspaare bilden Logik und Rhetorik. Derrida hat ein besonderes Interesse daran, den schon von Aristoteles kanonisierten Vorrang der Logik vor der Rhetorik auf den Kopf zu stellen. Nicht als hatte sich Derrida mit dieser kontroversen Frage unter naheliegenden philosophiegeschichtlichen Gesichtspunkten beschaftigt. Sonst hatte er den Stellenwert seines eigenen Projektes an der von Dante bis Vico ausgebildeten, iiber Hamann, Humboldt und Droysen bis zu Dilthey und Gadamer wachgehaltenen Dberlieferung relativieren miissen. In dieser Tradition ist namlich jener Protest gegen den platonisch-aristotelischen Vorrang des Logischen vor dem Rhetorischen lautgeworden, den Derrida von neuem erhebt. Derrida will die Souveranitat der Rhetorik iiber das Gebiet des Logischen ausdehnen, urn jenes Problem' zu losen, vor dem die totalisierende Vernunftkritik steht. Er will sich, wie gezeigt, weder mit Adornos Negativer Dialektik noch mit Heideggers Metaphy221
sikkritik zufriedengeben - die eine bleibt der Vernunftseligkeit der Dialektik, die andere der Ursprungshuberei der Metaphysik trotz allem verhaftet. Heidegger entgeht der Paradoxie selbstbeziiglicher Vernunftkritik nur dadurch, daB er fiirs Andenken einen Sonderstatus, namlich die Entbindung von diskursiven Verpflichtungen reklamiert. Uber den privilegierten Zugang zur Wahrheit schweigt sich Heidegger aus. Derrida erstrebt im Ergebnis denselben esoterischen Zutritt zur Wahrheit, aber er mochte sich diesen nicht als Privileg einraumen lassen - von welcher Instanz auch immer. Er setzt sich iiber den Einwand der pragmatischen Inkonsistenz nicht herrisch hinweg, sondern macht ihn gegenstandslos. Von »Widerspruch« kann nur im Lichte von Konsistenzforderungen die Rede sein, die ihre Autoritat verlieren, jedenfalls anderen Forderungen, z. B. solchen asthetischer Art, nachgeordnet werden, wenn die Logik gegeniiber der Rhetorik ihren herkommlichen Vorrang verliert. Dann kann der Dekonstruktivist die Werke der Philosophie wie Werke der Literatur behandeln und die Metaphysikkritik an die MaBstabe einer Literaturkritik angleichen, die sich nicht szientistisch miBversteht. Sobald wir den literarischen Charakter von Nietzsches Schriften ernstnehmen, muB die Triftigkeit seiner Vernunftkritik nach MaBstaben des rhetorischen Gelingens und nicht der logischen Konsistenz beurteilt werden. Eine solche, ihrem Gegenstand angemessene Kritik richtet sich nicht unmittelbar auf das Netz diskursiver Beziehungen, aus denen sich Argumente aufbauen, sondern auf die stilbildenden Figuren, die iiber die literarisch erhellende und rhetorisch aufschlieBende Kraft eines Textes entscheiden. So wenig wie eine Literaturkritik, die in gewisser Weise den literarischen ProzeB ihrer Gegenstande bloBJortsetzt, in Wissenschaft aufgeht, so wenig gehorcht eine im weiteren Sinne literaturkritisch verfahrende Dekonstruktion groBer philosophischer Texte den MaBstaben problemlosender, rein kognitiver U nternehmungen. Derrida unterlauft also jenes Problem, das Adorno als unausweichlich anerkennt und zum Ausgangspunkt des sich reflexiv selbst iiberfiihrenden Identitatsdenkens macht. Fiir Derrida wird das Problem gegenstandslos, weil sich das dekonstruktive Geschaft nicht auf die diskursiven Verpflichtungen von Philosophie und Wissen222
schaft festlegen laBt. Dekonstruktion nennt Derrida sein Verfahren, weil es die ontologischen Geruste, die die Philosophie im Laufe ihrer subjektzentrierten Vernunftgeschichte errichtet hat, abraumen solI. Bei diesem Geschaft der Dekonstruktion verfahrt Derrida . aber nicht analytisch im Sinne derIdentifizierung verborgener Voraussetzungen oder Implikationen. So hat ja jede nachfolgende Generation die Werke der vorangegangenen gemustert. Derrida verfahrt vielmehr stilkritisch, indem er aus dem rhetorischen BedeutungsiiberschuB der literarischen Schichten eines nicht-literarisch auftretenden T extes so etwas wie indirekte Mitteilungen herausliest, mit denen der Text seIber seine manifesten Gehalte dementiert. Auf diese Weise notigt Derrida Texte von Husserl, Saussure oder Rousseau dazu, gegen die explizite Meinung ihrer Autoren gestandig zu werden. Die gegen den Strich gekammten Texte selbst widersprechen, dank ihres rhetorischen Gehaltes dem, was sie aussagen, z. B. dem explizit behaupteten Primat der Bedeutung gegeniiber dem Zeichen, der Stimme gegeniiber der Schrift, des anschaulich Gegebenen und unvermittelt Gegenwartigen gegeniiber dem Stellvertretenden und Aufgeschoben-Aufschiebenden. In einem philosophischen Text laBt sich der blinde Fleck so wenig wie in einem literarischen auf der Ebene manifester Gehalte identifizieren. »Blindness and Insight« sind miteinander rhetorisch verflochten. So werden einem Interpreten jene fiir die Erkenntnis konstitutiven Beschrankungen eines philosophischen T extes erst zuganglich, wenn er den Text als das behandelt, was er nicht sein mochte - als literarischen Text. Wenn allerdings dabei der philosophische (oder wissenschaftliche) Text zum scheinbar literarischen nur verfremdet wiirde, bliebe das Dekonstruieren ein willkiirlicher Akt. Heideggers Ziel, die metaphysischen Denkformen von innen aufzusprengen, kann Derrida mit Hilfe eines wesentlich rhetorischen Verfahrens nur erreichen, wenn der philosophische Text in Wahrheit ein literarischer ist _ wenn man zeigen kann, daB sich der Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Literatur bei naherem Hinsehen auflost. Dieser Nachweis solI sich auf dem Wege der Dekonstruktion seIber fiihren lassen; an jedem Fall erweist sich von neuem die Unmoglichkeit, die Sprachen der Philosophie und der Wissenschaft so auf kognitive 223
Zwecke zu spezialisieren, daB sie von allem Metaphorischen und bloB Rhetorischem gereinigt, von literarischen Beimischungen freigehalten wiirden. In der dekonstruktiven Praxis erweist sich die Hinfalligkeit des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur; am Ende gehen aile Gattungsunterschiede in einem umfassenden, alles einbegreifenden Textzusammenhang unter. Hypostasierend spricht Derrida yom »allgemeinen Text«. Ubrig bleibt die sich selbst schreibende Schrift als das Medium, in dem jederText mit allen iibrigen verwoben ist. Jeder einzelne Text, jede besondere Gattung haben ihre Autonomie an einen alles verschlingenden Kontext und ans unkontrollierbare Geschehen spontaner Texterzeugung schon verloren, bevor sie in Erscheinung treten. Darin griindet der Vorrang der Rhetorik, die es mit den Qualitaten von T exten iiberhaupt zu tun hat, vor der Logik als einem Regelsystem, dem nur bestimmte, auf Argumentation verpflichtete Diskurstypen in ausschlieBender Weise unterworfen sind. II 'Die zunachst unauffallige Abwandlung der »Destruktion« in die »Dekonstruktion« der philosophischen Tradition versetzt also die radikale Vernunftkritik in den Bereich der Rhetorik und weist ihr damit einen Weg aus der Aporie der Selbstbeziiglichkeit heraus: wer der Metaphysikkritik nach diesem Formwandel immer noch Paradoxien vorrechnen mochte, hatte sie szientistisch miBverstanden. Dieses Argument sticht freilich nur, wenn folgende Annah.; men zutreffen: I) die Literaturkritik ist kein primar wissenschaftliches Unternehmen, sondern gehorcht denselben rhetorischen MaBstaben wie ihre literarischen Gegenstande; 2) zwischen Philosophie und Literatur besteht so wenig ein Gattungsunterschied, daB sich philosophische Texte in ihren wesentlichen Gehalten literaturkritisch erschlieBen lassen; 3) der Vorrang der Rhetorik vor der Logik bedeutet die Generalzustandigkeit der Rhetorik fiir die allgemeinen Qualitaten eines alles einbegreifenden T extzusammenhanges, in dem sic;h letztlich alle Gattungsunterschiede auflosen: so wenig wie Philosophie und Wis224
senschaft eigene Universen bilden, so wenig bilden Kunst und Literatur ein Reich der Fiktion, das seine Autonomie gegeniiber dem allgemeinen Text behaupten konnte. . Satz (3) erlautert die Satze (2) und (I) insofern, als er den Sinn von »Literaturkritik« entspezifiziert. Zwar dient die Literaturkritik als ein durch lange Tradition sich selbst erklarender Modellfall; aber er gilt eben als Modellfall fiir etwas Allgemeineres, namlich fiir eine Kritik, die auf rhetorische Qualitaten alltaglicher wie nicht-alltaglicher Diskurse geeicht ist. Das Verfahren der Dekonstruktion macht sichdiese verallgemeinerte Kritik fiir den Zweck zunutze, den verdrangten rhetorischen BedeutungsiiberschuB philosophischer und wissenschaftlicher T exte gegen deren manifesten Sinn zur Geltung zu bringen. Derridas Anspruch, daB »Dekonstruktion« ein Mittel ist, urn Nietzsches radikale Vernunftkritik aus der Sackgasse ihrer paradoxen Selbstbeziiglichkeit herauszufiihren, steht also - und fallt - mit der unter (3) genannten These. Genau diese These steht auch im Mittelpunkt des Interesses der lebhaften Rezeption, die Derridas Werk in literaturwissenschaftlichen Fachbereichen prominenter amerikanischer Universitaten erfahrt. 48 In den USA ist Literaturkritik seit langem als eine akademische Disziplin, also im Wissenschaftsbetrieb, institutionalisiert. Mitinstitutionalisiert ist von Anbeginn die selbstqualerische Frage nach der Wissenschaftlichkeit des literaturkritischen Geschafts. Den Hintergrund fiir die Derrida-Rezeption bildet gewiB dieser endemische Selbstzweifel, aber auch die Ablosung yom jahrzehnte- • lang herrschenden New Criticism, der von der Autonomie des sprachlichen Kunstwerkes iiberzeugt gewesen war und yom strukturalistischen Wissenschaftspathos gezehrt hatte. In dieser Konstellation konnte die Idee der »Dekonstruktion« einschlagen, weil sie der Literaturkritik unter genau entgegengesetzten Pramissen eine Aufgabe von unzweifelhafter Bedeutung eroffnete: Derrida bestreitet die Autonomie des sprachlichen Kunstwerkes und den Eigen48 Das gilt vor allem fur die Y ale-Kritiker Paul de Man, Geoffrey Hartmann, Hillis Miller und Harold Bloom, vgl. J. Arac, W. Godzich, W. Martin (Eds.), The Yale Critics: Deconstruction in America, Univ. of Minnesota Press, Minneapolis, 1983. Wichtige Zentren des Dekonstruktivismus sind neben der Yale-University u. a. die University of Maryland, Baltimore, sowie die Cornell-University, Ithaca N. Y.
sinn des asthetischen Scheins ebenso energisch wie die Moglichkeit, daB die Kritik je einen wissenschaftlichen Status erreichen konne. Gleichzeitig dient ihm die Literaturkritik als Vorbild fur ein Verfahren, das, mit der Dberwindung des prasenzmetaphysischen Denkens und des logozentrischen Zeitalters, eine geradezu weltgeschichtliche Mission ubernimmt. Die Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Literaturkritik und Literatur befreit das kritische Geschaft vom miBlichen Zwang, sich pseudowissenschaftlichen Standards zu unterwerfen; gleichzeitig hebt sie es uber Wissenschaft hinaus und empor auf das Niveau schopferischer Tatigkeit. Die Kritik braucht sich nicht langer als etwas Sekundares zu verstehen, sie gewinnt literarischen Rang. An Millers, Hartmanns und de Mans Texten laBt sich das neue SelbstbewuBtsein belegen, »that critics are no more parasites than the texts they interprete, since both inhabit a host-text of pre-existing language which itself parasitically feeds on their hostlike willingness to receive it«. Die Dekonstruktivisten brechen mit der uberlieferten Arnoldschen Auffassung von der bloB dienenden Funktion der Kritik: »Criticism is now crossing over into literature, rejecting its subservient, Arnoldian stance and taking on the freedom of interpretative style with a matchless gustO.«49 So traktiert Paul de Man in seinem vielleicht glanzvollsten Buch kritische T exte von Lukacs, Barthes, Blanchot und Jakobson nach derselben Methode und mit der gleichen Finesse, wie sie sonst nur literarischen Texten zukommt: »Since they are not scientific, critical texts have to be read with the same awareness of ambivalence that is brought to the study of non-critical literary texts.«50 Ebenso;wichtig wie die Angleichung der Literaturkritik an die schopferische literarische Produktion ist allerdings der Bedeutungszuwachs, den die Literaturkritik als Teilhaber am Geschaft der Metaphysikkritik erfahrt. Diese metaphysikkritische Aufwertung verlangt eine gegenlaufige Erganzung zu Derridas Interpretation der Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur. Jonathan Culler erinnert an Derridas 49 Ch. Norris, Deconstruction. Theory and Practice, London u. N. Y. 1982, 93 u·9 8. 50 P. de Man, Blindness and Insight, 2nd ed., Minniapolis, 1983, IIO.
strategischen Sinn einer literaturkritischen Behandlung philosophischer Texte mit dem Ziel, der Literaturkritik zu empfehlen, ihrerseits literarische Texte doch auch als philosophische zu behandeln. Die zugleich aufrechterhaltene und entschieden relativierte Unterscheidung zwischen beiden Gattungen »is essential to the demonstration, that the most truly philosophical reading of a philosophical text ... is one that treats the work as literature, as a fictive, rhetorical construct whose elements and order are determinded by various textual exigiencies«. Dann fahrt er fort: »Conversely, the most powerful and apposite readings of literary works may be those that treat them as philosophical gestures by teasing out the implications of their dealings with the philosophical oppositions that support them.«51 Satz (2) wird also in folgendem Sinne variiert: (2') Zwischen Philosophie und Literatur besteht so wenig ein Gattungsunterschied, daB sich literarische Texte in ihrem wesentlichen Gehalt metaphysikkritisch erschlieBen lassen. Allerdings verweisen beide, Satz (2) und Satz (2') auf den mit Satz (3) behaupteten Vorrang der Rhetorik vor der Logik. Deshalb ist den amerikanischen Literaturkritikern daran gelegen, einen mit Rhetorik uberhaupt umfangsgleichen Begriff von allgemeiner Literatur zu entwickeln, der Derridas »allgemeinem T ext« entsprechen . wlirde. Gleichzeitig mit dem herkommlichen Begriff von Philosophie, der die metaphorischen Grundlagen des philosophischen Denkens verleugnet, wird auch der aufs Fiktive eingeschrankte Literaturbegriff dekonstruiert: »The notion of literature or literary discourse is involved in several of hierarchical oppositions on which deconstruction has focussed: serious/non-serious, literal/metaphorical, truthlfiction ... Deconstructions demonstration that these hierarchies are undone by the working of the texts that propose them alters the standing of literary language.« Und nun folgt in Form eines Konditionalsatzes die These, von der alles abhangtsowohl das neue metaphysikkritisch aufgewertete Selbstverstandnis der Literaturkritik wie auch die dekonstruktivistische Auflosung des performativen Widerspruchs einer selbstreferentiellen Vernunftkritik: »If serious language is a special case of non-serious: \ 51
J. Culler, On Deconstruction, London 1983, 150. 227
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if truths are fictions whose fictionality has been forgotten, than lite, rature is not a deviant, parasitical instance of language. On the coni trary, other discourses can be seen as cases of a generalized literature, or archi-literature.«52 Da Derrida nicht zu den argumentationsfreudigen Philosophen gehort, ist es ratsam, seinen im angelsachsischen Argumentationsklima aufgewachsenen literaturkritischen Schulern zu folgen, urn zu sehen, ob sich diese These wirklich halten ~Bt. J. Culler~rekonstruiert sehr klar die etwas undurchsichtige Diskussion zwischen Jacques Derrida und John Searle, urn am Beispiel von Austins sprechakttheoretischem Ansatz zu zeigen, daB jeder Versuch, den alltaglichen Bereich der normalen Sprache gegen einen »ungewohnlichen«, von Standardfallen »abweichenden« Sprachgebrauch abzugrenzen, scheitert. Erganzt und indirekt bestatigt wird Cullers These durch eine sprechakttheoretische Untersuchung von , Mary Louise Pratt, die am Beispiel der strukturalistischen Poetiktheorie nachweisen mochte, daB auch der Versuch, den auBeralltaglichen Bereich der fiktiven Rede von Alltagsdiskursen abzugrenzen, fehlschlagt (siehe Abschnitt III). Doch zunachst zum Streit zwischen Derrida und Searle. 53 Aus dieser komplexen Diskussion hebt J. Culler als zentralen Streitpunkt die Frage hervor, ob es Austin gelingt, einen, wie es· scheint, ganz unverfanglichen, provisorischen und rein methodischen Schritt zu tun. Austin will die von kompetenten Sprechern intuitiv beherrschten Regeln analysieren, nach denen typische Sprechhandlungen erfolgreich ausgefuhrt werden konnen. Er nimmt diese Analyse an ernsthaft geauBerten, moglichst einfachen und wortlich verwendeten Satzen der normalen Alltagspraxis auf. Diese Analyseeinheit der Standardsprechhandlung verdankt sich also gewissen Abstraktionen. Der Sprechakttheoretiker richtet sein, Augenmerk auf ein Sample von normalsprachlichen AuBerungen, 52 J. Culler (1983), 181. 53 In seinem Aufsatz »Signatur, Ereignis, Kontext« widmet Derrida den letzten Abschnitt einer Auseinandersetzung mit der Austinschen Theorie: J. Derrida, Randgange der Philosophie, Bin. 1976, I42ff. Darauf bezieht sichJ. Searle, Reiterating the Differences: A Reply to Derrida, Glyph, No. I, 1977, I98ff. De.rridas Antwort erschien in Glyph NO.2, 1977, 202ff. unter dem Titel: Limited Inc.
aus dem alle komplexen, abgeleiteten, parasitaren und abweichenden Falle ausgesondert sind. Der Abgrenzung liegt ein Konzept der »gewohnlichen« oder normalen Sprachpraxis zugrunde, ein Begriff von »ordinary language«, dessen Harmlosigkeit und Konsistenz Derrida in Zweifel zieht. Austins Absicht ist klar: er mochte die allgemeinen Eigenschaften, sagen wir von» Versprechen «, an Fallen analysieren, wo die AuBerung entsprechender Satze tatsachlich als ein Versprechen funktioniert. Nun gibt es Kontexte, in denen die gleichen Satze die illokutionare Kraft eines Versprechens verlieren. Von einem Schauspieler auf der Buhne ausgesprochen, als Bestandteil eines Gedichtes oder auch nur innerhalb eines Monologs, wird ein Versprechen, wie Austin meint, »auf eine eigentumliche Weise hohl und nichtig«. Das gleiche gilt fur das in einemZitat auftretende oder bloB erwahnte Versprechen. In diesen Kontexten liegt kein ernsthafter und verbindlicher, zuweilen nicht einmal ein wortlicher Gebrauch des entsprechenden performativen Satzes vor - sondern ein abgeleiteter oder parasitarer Gebrauch. Die fiktiven oder simulierten oder indirekten Weisen des Gebrauchs sind, wie Searle beharrlich wiederholt, »parasitar« in dem Sinne, daB sie logisch die Moglichkeit des ernsthaften, wortlichen und verbindlichen Gebrauchs der fur ein Versprechen grammatisch geeigneten Satze voraussetzen. Culler lost aus Derridas T exten im wesentlichen drei Einwande heraus, die auf die Unmoglichkeit einer solchen Operationabzielen und zeigen sollen, daB die gelaufigen Unterscheidungen zwischen ernster und simulierter, wortlicher und metaphorischer, alltaglicher und fiktiver, gewohnlicher und parasitarer Redeweise zusammenbrechen. a) Mit seinem ersten Argument stellt Derrida eine wenig einleuchtende Verbindung zwischen Zitierbarkeit und Wiederholbarkeit auf der einen, Fiktionalitat auf der anderen Seite her. Das Zitat eines Versprechens sei gegenuber dem direkt gegebenen Versprechen nur scheinbar etwas Sekundares; denn die indirekte Wiedergabe einer performativen AuBerung im Zitat sei eine Form der Wiederholung; und da Zitierbarkeit die Moglichkeit der Wiederholung nach einer Regel, also Konventionalitat voraussetzte, gehore es zum Wesen jeder konventionell erzeugten, also auch der performativen AuBerung, daB sie zitiert - und im weiteren Sinne fiktiv nachgebildet 229
werden kann: »1£ it were not possible for a character in a play to make a promise, there could be no promise in real life, for what makes it possible to promise, as Austin tells us, is the existence of a conventional procedure, of formulas one can repeat. For me to be able to make a promise in real life, there must be iterable procedures or formulas such as are used on stage. Serious behavior is a case of role-playing. «54 Offensichtlich setzt Derrida im Argument schon voraus, was er beweisen mochte: daB jede Konvention, die die Wiederholung exemplarischer Handlungen erlaubt, nicht nur symbolischen, sondern von Haus aus fiktiven Charakter besitzt. DaB sich Spielkonventionen von Handlungsnormen letztlich nicht unterscheiden lassen, muBte erst noch gezeigt werden. Austin zieht ja das Zitat eines Versprechens als Beispiel fur eine abgeleitete oder parasitare Form heran, weil dem zitierten Versprechen durch die Form der indirekten Wiedergabe die illokutionare Kraft genommen wird: es wird dadurch aus einem Kontext herausgenommen, in dem es »funktioniert«, also Handlungen verschiedener Interaktionsteilnehmer koordiniert und handlungsrelevante Folgen auslOst. Handlungswirksam ist nur der jeweils aktuell vollzogene Sprechakt, von dem das zitatweise erwahnte oder berichtete Versprechen grammatisch abhangt. Diese illokutionar entkraftende Einrahmung bildet auch die Briicke zwischen zitierender Wiedergabe und fiktiver Darstellung. Auch eine Buhnenhandlung stutzt sich naturlich auf eine Basis von Alltagshandlungen (der Schauspieler, des Regisseurs, der Buhnenarbeiter und Theaterangestellten); und in dies em RahmenkQntext konnen Versprechen auf eine andere Weise, namlich mit handlungsfolgenrelevanten Verbindlichkeiten, funktionieren als »auf der Buhne«. Derrida unternimmt keinen Versuch, dies en ausgezeichneten Funktionsmodus der Alltagssprache im kommunikativen Handeln zu »dekonstruieren«. Austin hat in der illokutionaren Bindungskraft sprachlicher AuBerungen einen Mechanismus der Handlungskoordinierung entdeckt, der die normale, in die Alltagspraxis eingelassene Rede anderen Beschrankungen unterwirft als die fiktive Rede, die Simulation und den inneren Monolog. Die Beschrankungen, unter denen illokutionare Akte eine handlungs54 J. Culler (1983), II9.
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koordinierende Kraft entfalten und handlungsrelevante Folgen auslosen, definieren den Bereich der »normalen« Sprache. Sie lassen sich als diejenigen idealisierenden Unterstellungen analysieren, die wir im kommunikativen Handeln vornehmen mussen. b) Auf solche Idealisierungen bezieht sich das zweite Argument, das Culler mit Derrida gegen Austin und Searle vorbringt. Jede verallgemeinernde Analyse von Sprechhandlungen muB allgemeine Kontextbedingungen fur den illokutionaren Erfolg standardisierter Sprechhandlungen spezifizieren konnen. Diese Aufgabe hat insbesondere Searle in Angriff genommen. 55 Nun verandern aber sprachliche Ausdrucke in Abhangigkeit von wechselnden Kontexten ihre Bedeutung; zudem sind Kontexte so beschaffen, daB sie fur immer weiter reichende_Spezifizierungen offenstehen. Es gehort zu den Eigentumlichkeiten unserer Sprache, daB wir AuBerungen aus ihren urspriinglichen Kontexten herauslosen und in andere Kontexte verpflanzen konnen - Derrida spricht yom »Aufpfropfen«. Auf diese Weise konnen wir uns zu einem Sprechakt wie »Heiratsversprechen« immer neue undimmer unwahrscheinlichere Kontexte hinzudenken; die Spezifizierung allgemeiner Kontextbedingungen stoBt an keine naturlichen Grenzen: »Suppose that the requirements for a marriage ceremony were met but that one of the parties were under hypnosis, or that the ceremony were impeccable in all respects but had been called a >rehearsal<, or finally, that while the speaker was a minister licensed to perform weddings and the couple hat obtained a license, that three of them were on this occasion acting in a play that, coincidentally, included a wedding ceremony.«56 Diese bedeutungsverandernde Kontextvariation kann grundsatzlich nicht stillgestellt oder kontrolliert werden, weil Kontexte nicht ausgeschopft, d. h. theoretisch nicht ein fur allemal beherrscht werden konnen. Culler zeigt einleuchtend, daB Austin dieser Schwierigkeit auch nicht dadurch entgehen kann, daB er zu Sprecher- und Horerintentionen Zuflucht nimmt. Nicht die Gedanken von Braut, Brautigam oder Priester entscheiden uber die Gultigkeit der Zeremonie, sondern ihre Handlungen und die 55 John Searle, Speech Acts, Cambro 1969 (dt. 1971); ders., Expression and Meaning, Cambro 1979 (dt. 1982). 56 J. Culler (1983), I2rf.
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Umstande, unter denen sie ausgefiihrt werden: »What counts is the plausibility of the description: whether or not the features of the context adduced create a frame that alters the illocutionary force of the utterances.«57 Searle hat auf diese Schwierigkeit mit der Einschrankung reagiert, daB die wortliche Bedeutung eines Satzes die Giiltigkeitsbedingungen des Sprechakts, in dem er verwendet wird, nicht vollstandig festgelegt, sondern auf die stillschweigende Erganzung durch ein System von Hintergrundannahmen iiber die Normalitat allgemeiner Weltzustande angewiesen ist. Diese prareflexiven HintergrundgewiBheiten sind holistischer Natur; sie konnen nicht durch eine abzahlbar endliche Menge von Spezifizierungen erschopft werden. Noch so gut analysierte Satzbedeutungen gelten mithin nur relativ auf ein geteiltes Hintergrundwissen, das fiir die Lebenswelt einer Sprac,hgemeinschaft konstitutiv ist. Searle macht aber klar, daB mit dieser Relationierung keineswegs der Bedeutungsrelativismus eingefiihrt wird, auf den Derrida hinauswill. Solange Sprachspiele funktionieren und das lebensweltkonstitutive Vorverstandnis nicht zusammenbricht, rechnen die Beteiligten offenbar zu Recht mit den Weltzustanden, die in ihrer Sprachgemeinschaft als »normal« unterstellt werden. Und fiir den Fall, daB einzelne Hintergrundiiberzeugungen problematisch werden, gehen sie iiberdies davon aus, daB sie grundsatzlich zu einem rational motivierten Einverstandnis gelangen konnten. Beides sind starke, ni:imlich idealisierende Unterstellungen; aber diese Idealisierungen sind keine logozentrischen Willkiirakte, die der Theoretiker an unzahmbare Kontexte herantragt, urn sie dem Anschein nach zu beherrschen, sonden} Prasuppositionen, die die Beteiligten selbst vornehmen miissen, wenn kommunikatives Handeln iiberhaupt moglich sein solI. c) Die Rolle idealisierender U nterstellungen kann man sich auch an anderen Konsequenzen desselben Tatbestandes klarmachen. Weil die Kontexte veranderlich sind und sich in beliebige Richtungen expandieren lassen, kann sich derselbe Text verschiedenen Lesarten offnen; es ist der Text selbst, der seine unkontrollierbare Wirkungsgeschichte ermoglicht. Aus dieser ehrwiirdigen hermeneutischen Einsicht folgt jedoch nicht Derridas vorsatzlich paradoxe Aussage, 57
J. Culler (1983), 123.
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daB jede Interpretation unvermeidlich eine Fehlinterpretation, jedes Verstehen ein MiBverstehen sei. J. Culler rechtfertigt den Satz »every reading is a misreading« folgendermaBen: »If a text can be understood, it can in principle be understood repeatedly, by different readers ~n different circumstances. These acts of reading or understanding are not, of course, identical. They involve modifications and differences, but differences which are deemed not to - matter. We can thus say, that understanding is a special case of misunderstanding, a particular deviation or determination of misunderstanding. It is misunderstanding whose misses do not matter.«58 Culler laBt freilich einen Umstand auBer Betracht. Die Produktivitat des Verstehensprozesses bleibt nur solange unproblematisch, wie alle Beteiligten am Bezugspunkt einer mogliche-n aktuellen Verstandigung festhalten, in der sie denselben .AuBerungen dieselbe Bedeutung beimessen. Auch die hermeneutische Anstrengung, die zeitliche und kulturelle Abstande iiberbriicken will, bleibt, wie Gadamer gezeigt hat, an der Idee eines moglichen, aktuell herheigefiihrten Einverstandnisses orientiert. U nter dem Entscheidungsdruck der kommunikativen Alltagspraxis sind die Beteiligten auf ein handlungskoordinierendes Einverstandnis angewiesen. Je weiter sich Interpretationen von dies em »Ernstfall« entfernen, urn so eher konnen sie sich von der idealisierenden U nterstellung eines erreichbaren Konsenses tatsachlich freimachen. Aber niemals konnen sie sich ganz von der Idee losen, daB sich Fehlinterpretationen anhand eines idealerweise zu erzielenden Einverstandnisses grundsatzlich miiBten kritisieren lassen. Diese Idee tragt der Interpret nicht an seinen Gegenstand heran; er iibernimmt sie vielmehr, mit der performativen Einstellung eines teilnehmenden Beobachters, von den unmittelbar Beteiligten, die allein unter der Voraussetzung intersubjektiv identischer Bedeutungszuschreibungen iiberhaupt kommunikativ handeln konnen. Gegen Derridas These mochte ich also nicht einen Wittgensteinschen Sprachspielpositivismus ins Feld fiihren. Nicht die jeweils eingespielte Sprachpraxis entscheidet dariiber, welche Bedeutung einem Text oder einer .AuBerung gerade zukommt. 59 Vielmehr funktionieren 58 J. Culler (1983), 176. 59 Vgl. J. Culler (1983), 130f.
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'W'. !
Sprachspiele nur, weil sie sprachspielubergreifende Idealisierungen voraussehen, welche - als eine notwendige Bedingung moglicher Verstandigung - die Perspektive eines an Geltungsanspriichen kritisierbaren Einverstandnisses entstehen lassen. Eine unter solchen Beschrankungen operierende Sprache ist einem Dauertest unterworfen. Die kommunikative Alltagspraxis, in der sich Aktoren uber etwas in der Welt verstandigen mussen, steht unter Bewahrungszwang, wobei idealisierende Unterstellungen eine solche Bewahrung erst moglich machen. Und anhand dieses alltagspraktischen Bewahrungszwangs laBt sich mit Austin und Searle der »gewohnliche« yom »parasitaren« Sprachgebrauch unterscheiden.
III Bisher habe ich Derridas dritte und fundamentale Annahme nur insofern kritisiert, als ich (gegen Cullers Rekonstruktion Derridascher Argumente) die Moglichkeit einer Abgrenzung der Normalsprache gegenuber abgeleiteten Formen verteidigt habe. Ich habe noch nicht gezeigt, wie sich die fiktive Rede yom normalen, d. h. alltaglichen Sprachgebrauch abgrenzen laBt. Fur Derrida ist dieser Aspekt der wichtigste. Wenn »Literatur« und »Schreiben« das Modell fur einen allgemeinen, nicht hintergehbaren Textzusammenhang bildet, in dem sich letztlich alle Gattungsunterschiede auflosen, durfen sie sich nichtals ein autonomes Reich der Fiktion von den anderen Diskursen absondern. Fur die literaturkritischen Anhanger Derridas in den USA ist die These von der Autonomie des sprachlichen Kunstwerks, wie gesagt, auch deshalb unannehmbar, weil sie sich gegen den Formalismus des New Criticism und der strukturalistischen Asthetik absetzen mochten. Urspriinglich hatten die Prager Strukturalisten versucht, die poetische von der gewohnlichen Sprache im Hinblick auf das Verhaltnis zur auBersprachlichenRealitat zu unterscheiden. Soweit die Sprache in kommunikativen Funktionen auftritt, muB sie Beziehungen zwischen sprachlichem Ausdruck und Sprecher, Horer sowie dargestelltem Sachverhalt herstellen; das hatte Buhler in seinem 234
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semiotischen Schema als die Zeichenfunktionen von Ausdruck, Appell und Darstellung begriffen. 60 Soweit die Sprache aber eine poetische Funktion erfullt, verwirklicht sie diese im reflexiven Verhaltnis des sprachlichen Ausdrucks zu sich seIber. Infolgedessen sind Gegenstandsbezug, Informationsgehalt und Wahrheitswert, Gultigkeitsbedingungen uberhaupt, der poetischen Sprache auBerlich - poetisch kann eine AuBerung insoweit sein, wie sie sich aufs sprachliche Medium seIber, auf ihre eigene sprachliche Form richtet. Roman Jakobson hat diese Bestimmung in ein erweitertes Funktionenschema aufgenommen; er schreibt allen sprachlichen AuBerungen (neb en den auf Buhler zuriickgehenden Grundfunktionen des Ausdrucks von Sprecherintentionen, der Herstellung interpersonaler Beziehungen und der Darstellung von Sachverhalten sowie zwei weiteren, auf Kontaktaufnahme und Kode bezogenen Funktionen) eine poetische Funktion zu, die »die Einstellung auf die Botschaft als solche« lenkt. 61 Die nahere Kennzeichnung der poetischen Funktion (derzufolge das Prinzip der Aquivalenz von der Achse der Selektion auf die ...\chse der Kombination ubertragen wird) soll uns hier weniger interessieren als eine interessante, fur unser Abgrenzungsproblem wichtige Konsequenz: »Jeder Versuch, die Sphare der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poetische Funktion einzuschranken, ware eine triigerische Vereinfachung. Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vofherrschende und strukturbestimmende, wahrend sie in allen anderen sprachlichen Tatigkeiten eine untergeordnete, zusatzliche Rolle spielt. Indem sie das Augenmerk auf die Spiirbarkeit der Zeichen richtet, vertieft diese Funktion die fundamentale Dichotomie zwischen Zeichen und Objekten. Aus diesem Grunde darf sich die Linguistik, wenn sie die poetische Funktion untersucht, nicht nur auf das Gebiet der Dichtung beschranken.«62 Die poetische Rede soll also nur durch den Vorrang und die strukturbildende Kraft einer bestimmten Funktion, die stets gemeinsam mit anderen Sprachfunktionen erfullt wird, ausgezeichnet sein. 60 K. Buhler, Sprachtheorie (1934), Stung. 1965, 24ff. 61 R. Jakobson, Linguistik und Poetik (1960), in: ders., Poecik, Ffm. 1979,92. 62 R. Jakobson (1979), 92f.
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Richard Ohmann macht sich nun Austins Ansatz zunutze, urn die poetische Sprache in diesem Sinne zu spezifizieren. Fiir ihn ist die Fiktionalitat des sprachlichen Kunstwerks das erklarungsbediirftige Phanomen, also die Erzeugung des as thetis chen Scheins, mit dem sich auf der Basis der fortgesetzten Alltagspraxis eine zweite, spezifisch entwirklichte Arena eroffnet. Was die poetische Sprache auszeichnet, ist die »welterzeugende« Kapazitat: »a literary work creates a world ... by providing the reader with impaired and incomplete speechacts which he completes by supplying the appropriate circumstances«.63 Die eigentiimliche, Fiktionen erzeugende Entmachtigung der Sprechakte besteht darin, daB diese ihrer illokutionaren Kraft beraubt sind, illokutionare Bedeutungen nur noch wie in der Brechung einer indirekten Wiedergabe, eines Zitats, beibehalten: »A literary work is a discourse whose sentences lack the illocutionary forces that would normally attach to them. Its illocutionary force is mimetic ... Specifically, a literary work purportedly imitates a series of speechacts, which in fact have no other existence. By so doing, it leads the reader to imagine a speaker, a situation, a set of ancillary events, and so on.«64 Die Einklammerung der illokutionaren Kraft virtualisiert die Weltbeziige, in die die Sprechhandlungen dank ihrer illokutionaren Kraft eingelassen sind, und entbindet die Interaktionsteilnehmer davon, sich auf der Grundlage idealisierender Unterstellungen iiber etwas in der Welt derart zu verstandigen, daB sie ihre Handlungsplane koordinieren und damit handlungsfolgenrelevante Verbindlichkeiten eingehen konnen: »Since the quasi-speech-acts of literature are not carrying on the world's business - describing, urging, contracting etc. - the reader may well attend to them in a non-pragmatic way.«65 Die Neutralisierung der Bindungskrafte entlastet die entkrafteten illokutionaren Akte yom Entscheidungsdruck der kommunikativen Alltagspraxis, enthebt sie der Sphare gewohnlicher Rede und ermachtigt sie damit zur spielerischen Kreation neuer Welten - oder vielmehr: zur rein en Demonstration der welterschlieBenden Kraft innovativer sprachlicher Ausdriicke. Diese Spezialisierung auf die
welterschlieBende Funktion der Sprache erklart die eigentiimliche Selbstbeziiglichkeit der poetischen Sprache, auf die Jakobson hinweist und die G. Hartmann zu der rhetorischen Frage veranlaBt: »Is not literary language the name we give to a diction whose frame of reference is such that the words stand out as words (even as sounds) rather than being, at once, assimilable meanings?«66 Mary L. Pratt bezieht sich auf Ohmanns Untersuchungen 67, urn die These von der Eigenstandigkeit des literarischen Kunstwerkes im Sinne Derridas, freilich mit sprechakttheoretischen Mitteln, zu widerlegen. Sie laBt Fiktionalitat, die Einklammerung der illokutionaren Kraft und die Entkoppelung der poetischen Sprache von der kommunikativen Alltagspraxis, nicht als trennscharfe Kriterien gelten, weil sich fiktive Sprachelemente wie Witz, Ironie, Wunschphantasien, Erzahlungen und Parabeln durch unsere Alltagsdiskurse hindurchziehen und keineswegs ein autonomes, von den »Geschaften der Welt« abgehobenes Universum bilden. Umgekehrt erzeugen Sachbiicher, Memoiren, Reiseberichte, historische Romane, auch Schliisselromane oder Thriller, die sich wie Truman Capotes »Mit kaltem Blut« eines dokumentarisch belegten Falles annehmen, keineswegs eine unzweideutig fiktive Welt, obwohl wir diese Produktionen oft, jedenfalls iiberwiegend, der »Literatur« zurechnen. Mary L. Pratt beniitzt die Ergebnisse der soziolinguistischen Untersuchungen von W. Labov68 , urn nachzuweisen, daB die natiirlichen Narrative, d.h. die im Alltag spontan oder auf Wunsch erzahlten »Geschichten«, den gleichen rhetorischen Aufbaugesetzen gehorchen und ahnliche strukturelle Merkmale aufweisen wie literarische Erzahlungen: »Labov's data make it necessary to account for narrative rhetoric in terms that are not exclusively literary; the fact that fictive or mimetically organized utterances can occur in almost any realm of extraliterary discourse requires that we do the same for fictivity or mimesis. In other words, the relation between a work's fictivity and its literariness is indirect.«69 Allerdings spricht der Umstand, daB die normale Sprache mit fikti-
63 R. Ohmann, Speech-Acts and the Definition of Literature, Philosophy and Rhetoric,4, 1971, 17. 64 R. Ohmann (1971), 14. 65 R. Ohmann (1971), 17.
66 G. Hartmann, Saving the Text, Baltimore 1981, XXI. 67 Vgl. auch R. Ohmann, Speech, Literature and the Space between, New Literary History 5, 1974, 34 f£' 68 W. Labov, Language in the Inner City, Philadelphia 1972.
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yen, narrativen, metaphorischen, iiberhaupt mit rhetorischen Elemen ten durchsetzt ist, noch nicht gegen den Versuch, die Autonomie des sprachlichen Kunstwerkes mit der Einklammerung der illokutionaren Krafte zu erklaren. Denn das Merkmal der Fiktionalitat eignet sich nach Jakobson zur Abgrenzung der Literatur von alltaglichen Diskursen nur in dem MaBe, wie die welterschlieBende Funktion der Sprache gegeniiber den anderen Sprachfunktionen zur Vorherrschaft gelangt und die Struktur des sprachlichen Gebildes bestimmt. In gewisser Hinsicht ist es die Brechung und partielle Aufhebung illokutionarer Geltungsanspriiche, die die Story von der Zeugenaussage, das Foppen von der Beleidigung, die Ironie von der Irrefiihrung, die Hypothese von der Behauptung, die Wunsch- , phantasie von der Wahrnehmung, das Manover von der Kriegshandlung und das Szenario yom Bericht iiber eine tatsachliche Katastrophe unterscheidet. Aber in keinem dieser Fal1e verlieren die illokutionaren Akte ihre handlungskoordinierende Bindungskraft. Auch in den zum Vergleich herangezogenen Fallen bleiben die kommunikativen Funktionen der Sprechhandlung so weit intakt, daB sich die fiktiven Elemente nicht aus den lebenspraktischen Zusammenhangen losen konnen. Die sprachliche Funktion der WelterschlieBung gewinnt gegeniiber den expressiven, regulativen, informativen Sprachfunktionen keine Selbstandigkeit. Genau das mag hingegen bei Truman Capotes literarischer Verarbeitung eines gerichtsnotorischen und sorgfaltig recherchierten Vorgangs der Fall sein. Was den Vorrang und die. strukturbildende Kraft der poetischen Funktion begriindet, ist niimlich nicht die Abweichung einer fiktiven Darstellung von der dokumentarischen Wiedergabe eines Vorgangs, sondern die exemplarische Bearbeitung, die den Fall aus seinem Kontext herauslost und zum AnlaB einer innovativen, weltaufschlieBenden, augenoffnenden Darstellung macht, wobei die rhetorischen Mittel der Darstellung aus den kommunikativen Routinen hera~streten und ein Eigenleben gewinnen. Es ist interessant zu sehen, wie Mary L. Pratt diese poetische Funktion gegen ihren Willen herauszuarbeiten genotigt ist. Ihr soziolin69 M. L. Pratt, Speech Act Theory of Literary Discourse, Bloomington 1977; ich danke J. Culler fur seinen Hinweis auf dieses interessante Buch.
guistischer Gegenentwurf beginnt mit der Analyse der Sprechsituation, die die poetische Rede mit anderen Diskursen teilt: jenes Arrangement, bei dem sich ein Erzahler oder ein Vortragender an ein Publikum wendet und dessen Aufmerksamkeit fiir einen Text beansprucht. Der Text unterliegt bestimmten Prozeduren der Vorbereitung und der Auswahl, bevor er vortragsreif ist. Damit ein Text Anspruch auf die Geduld und die Urteilskraft der Zuhorer erheben darf, muB er schlieBlich bestimmte Relevanzkriterien erfiillen: er muB es wert sein, erzahlt zu werden. Die Erzahlwiirdigkeit (tellability) soll sich an der Manifestation einer wichtigen, exemplarischen Erfahrung bemessen. Ein erzahlwiirdiger Text reicht in seinem Gehalt iiber den lokalen Kontext der Sprechsituation hinaus, ist einer weiteren Elaborierung fahig: »As might be expected, these two features - contextual detachability and susceptibility to elaboration - are equally important characteristics of literature.« Allerdings teilen literarische Texte diese Eigenschaften noch mit ;>display texts« im allgemeinen. Diese werden im Hinblick auf ihre speziellen kommunikativen Funktionen gekennzeichnet: »they are designed to serve a purpose I have described as that of verbally representing states of affaires and experiences which are held to be unusual or problematic in such a way that the addressee will respond affectivily in the intended way, adopt the intended evaluation and interpretation, take pleasure in doing so, and generally find the whole undertaking worth it«.70 Man sieht, wie sich die pragmatische Sprachanalytikerin gleichsam von auBen an literarische Texte heranpirscht. Diese miissen freilich einer letzten Bedingung geniigen; im Falle literarischer Texte muB die Erzahlwiirdigkeit ein Vbergewicht iiber andere Funktionseigenschaften gewinnen: »in the end, tellability can take precedence over assertibility itself.«71 Nur in dies em Falle treten die funktionalen Erfordernisse und strukturellen Beschrankungen der kommunikativen Alltagspraxis (die M. L. Pratt mit Hilfe der Griceschen Konversationspostulate bestimmt) auBer Kraft. DaB sich jeder darum bemiiht, seinen Beitrag informativ zu gestalten, Relevantes zu sagen, aufrichtig zu sein und obskure, zweideutige und weitschwei70 Mary L. Pratt (1977),148.
71 Pratt (1977), 147.
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fige AuBerungen zu unterlassen, sind idealisierende Voraussetzungen des normalsprachlichen kommunikativen Handelns, aber eben nicht der poetischen Rede: »Our tolerance, indeed propensity, for elaboration when dealing with the tellable suggests, that, in Gricean terms, the standards of quantity, quality and manner for display texts differ from those Grice suggests for declarative speech in his maXlms.« Am Ende Hiuft die Analyse auf eine Bestatigung der These hinaus, die sie bestreiten machte. In dem MaBe wie die poetische, welterschlieBende Funktion der Sprache Vorrang und strukturbildende Kraft gewinnt, entwindet sich die Sprache namlich den strukturellen Beschrankungen und kommunikativen Funktionen des Alltags. Der Raum der Fiktion, der sich mit dem Reflexivwerden der sprachlichen Ausdrucksformen affnet, resultiert aus dem U nwirksamwerden der illokutionaren Bindungskrafte und jener Idealisierungen, die einen verstandigungsorientierten Sprachgebrauch maglich machen - und damit eine iiber die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsanspriiche laufende Koordinierung von Handlungsplanen. Man kann Derridas Auseinandersetzung mit Austin auch als eine Verleugnung dieses eigensinnig strukturierten Bereichs der kommunikativen Alltagspraxis lesen; ihr entspricht die Verleugnung eines autonomen Reichs der Fiktion.
IV Weil Derrida beides verleugnet, kann er beliebige Diskurse nach dem Muster der poetischen Sprache analysieren und so tun, als sei Sprache iiberhaupt durch den poetischen, auf WelterschlieBung spezialisierten Sprachgebrauch determiniert. Aus dieser Sicht konvergiert Sprache als solche mit Literatur oder eben mit »Schreiben«. Die Asthetisierung der Sprache, die mit der dopPf!lten Verleugnung des Eigensinns von normaler und poetischer Rede erkauft wird, erklart auch Derridas Unempfindlichkeit gegeniiber der spannungsreichen Polaritat zwischen der poetisch-welterschlieBenden Funktion der Sprache und den prosaischen innerweltlichen Sprach-
funktionen, denen ein r;nodifiziertes Biihlersches Funktionsschema Rechnung tragt. 72 Sprachlich vermittelte Prozesse wie Wissenserwerb und kulturelle Uberlieferung, Identitatsbildung, Sozialisation und gesellschaftliche Integration bewaltigen Probleme, die sich in der Welt stellen; dem Eigensinn dieser Probleme und dem auf diese Probleme zugeschnittenen sprachlichen Medium verdanken sie die Selbstandigkeit von Lernprozessen, die Derrida nicht erkennen kann. Fiir ihn sind die sprachvermittelten Prozesse in der Welt in einen alles prajudizierenden weltbildenden Kontext eingebettet; sie sind dem unverfiigbaren Geschehen der T exterzeugung fatalistisch ausgeliefert, sind yom poetisch-kreativen Wandel des urschriftlich inszenierten Hintergrundes iiberwaltigt und zur Provinzialitat verurteilt. Ein asthetischer Kontextualismus macht Derrida blind fiir den Umstand, daB die kommunikative Alltagspraxis dank der ins kommunikative Handeln eingebauten Idealisierungen Lernprozesse in der Welt ermaglichen, an denen sich die welterschlieBende Kraft der interpretierenden Sprache ihrerseits bewahren muK Diese entfalten einen alle lokalen Schranken transzendierenden Eigensinn, weil sich Erfahrungen und Urteile nur im Lichte kritisierbarer Geltungsanspriiche bilden. Derrida vernachlassigt das Negationspotential der Geltungsbasis verstandigungsorientierten Handelns; er laBt hinter der welterzeugenden Kapazitat der Sprache die Problemlasungskapazitat verschwinden, die die Sprache als das Medium besitzt, iiber das die kommunikativ Handelnden in Weltbeziige eingelassen sind, wenn sie sich miteinander iiber etwas in der objektiven Welt, in ihrer gemeinsamen sozialen Welt oder in einer jeweils privilegiert zuganglichen subjektiven Welt verstandigen. Eine ahnliche Nivellierung nimmt Richard Rorty vor, der sich von Derrida freilich darin unterscheidet, daB er nicht idealistisch an die Geschichte der Metaphysik als ein alles Innerweltliche determinierendes Ubergeschehen fixiert bleibt. Rorty zufolge sind Wissenschaft und Moral, Wirtschaft und Politik in der gleichen Weise wie Kunst und Philosophie einem ProzeB sprachschapferischer Protuberanzen ausgeliefert. Der FluB der Interpretationen pulst wie die 72 Vgl. J. Habermas (1981), Bd. I, 374ff.
Kuhnsche Wissenschaftsgeschichte rhythmisch zwischen Sprachrevolutionierung und Sprachnormalisierung. In allen Bereichen des kulturellen Lebens beobachtet Rorty dieses Auf und Ab zwischen zwei Situationen: »One is the sort of situation encountered when people pretty much agree on what is wanted, and are talking about how best to get it. In such a situation there is no need to say anything terribly unfamiliar, for argument is typically about the truth of assertions rather than about the utility of vocabularies. The contrasting situation is one in which everything is up for grabs at once - in which the motives and the terms of discussions are a central subject of argument ... In such periods people begin to toss around old words in new senses, to throw in the occasional neologism, and thus to hammer out a new idiom which initially attracts attention to itself and only later gets put to work.«73 Man sieht, wie das Nietzscheanische Pathos einer ins Linguistische gewendeten Lebensphilosophie die nuchternen Einsichten des Pragmatismus vernebelt: in dem Bild, das Rorty entwirft, hat der erneuernde ProzeB der sprachlichen WelterschlieBung keinen Gegenhalt mehr im bewahrenden ProzeB der innerweltlichen Praxis. Das »J a« und »Nein« der kommunikativ handelnden Aktoren wird so sehr von den sprachlichen Kontexten voreingenommen und rhetorisch uberstimmt, daB sich die Anomalien, die in den Erschopfungsphasen auftreten, nur noch als Symptome schwindender Vitalitat darstellen, als Prozesse des Alterns, als naturanaloge Vorgange - und nicht als die Folge verfehlter Problemlosungen und ungiiltiger Antworten. Ihre Negationskraft zieht die innerweltliche Sprachpraxis aus Geltungsanspruchen, die uber die Horizonte des jeweils bestehenden Kontextes hinauszielen. Aber das lebensphilosophisch aufgeladene kontextualistische Sprachk~nzept ist unempfindlich fur die faktische Kraft des Kontrafaktischen, die sich in den idealisierenden Voraussetzungen kommunikativen Handelns zur Geltung bringt. Deshalb verkennen Derrida und Rorty auch den eigentumlichen Stellenwert der Diskurse, die aus der Alltagskommunikation aus73 R. Rorty, Decons~ruction and Circumvention, MS. 1983; vgl. auch: ders., Consequences of Pragmatism, Minneapolis 1982, bes. Introduction und Chapters 6, 7 und9·
differenziert und auf jeweils eine Geltungsdimension (der Wahrheit oder der normativen Richtigkeit), auf jeweils einen Problemkomplex (Wahrheitsfragen oder Gerechtigkeitsfragen) zugeschnitten sind. Urn diese Argumentationsformen kristallisieren sich in modernen Gesellschaften die Spharen von Wissenschaft, Moral und Recht. Die entsprechenden kulturellen Handlungssysteme verwalten Problemlosungskapazitaten in ahnlicher Weise wie der Kunstund Literaturbetrieb Kapazitaten der Welterschliefiung. Weil Derrida diese eine, eben die »poetische« Sprachfunktion uberverallgemeinert, hat er keinen Blick mehr fur das komplexe Verhaltnis einer normalsprachlichen Alltagspraxis zu den beiden, gleichsam in entgegengesetzten Richtungen ausdifferenzierten auBeralltaglichen Spharen. Wahrend die polare Spannung zwischen WelterschlieBung und Problemlosung im Funktionsbundel der Alltagssprache zusammengehalten wird, spezialisieren sich Kunst und Literatur einerseits, Wissenschaft, Moral und Recht andererseits auf Erfahrungen und Wissensarten, die sich jeweils im Einzugsbereich einer Sprachfunktion und einer Geltungsdimension herausbilden und verarbeiten lassen. Derrida ebnet diese komplizierten Beziehungen holistisch ein, urn Philosophie an Literatur und Kritik anzugleichen. Er verkennt den besonderen Status, den beide, Philosophie und Literaturkritik, je auf ihre Weise als Vermittler zwischen den Expertenkulturen und der Alltagswelt einnehmen. Die in Europa seit dem 18. Jahrhundert als Institution ausgebildete Literaturkritik hat einerseits teil an der Ausdifferenzierung der Kunst. Sie reagiert auf die Autonomisierung des sprachlichen Kunstwerkes mit einem Diskurs, der sich auf Geschmacksfragen spezialisiert. Darin werden die Anspruche gepruft, mit denen literarische Texte auftreten; die Anspriiche auf »Kunstwahrheit«, auf asthetische Stimmigkeit, exemplarische Geltung, Innovationskraft und Authentizitat werden darin einer Prufung unterzogen. Die asthetische Kritik ahnelt in dieser Hinsicht den auf propositionale Wahrheit und normative Richtigkeit spezialisierten Formen der Argumentation, d. h. dem theoretischen und dem praktischen Diskurs. Sie ist jedoch nicht nur esoterischer Bestandteil einer Expertenkultur, sondern hat daruber hinaus die Aufgabe, zwischen Expertenkultur und Alltagswelt zu vermitteln. 243
Diese Bruckenfunktion der Kunstkritik tritt im Hinblick auf Musik und bildende Kunst noch deutlicher hervor als im Hinblick auf literarische Werke, die ja bereits im Medium der Sprache, wenn auch einer poetisch selbstbeziiglichen, formuliert sind. I~ dieser zweiten, exoterischen Hinsicht vollbringt die Kritik eine Ubersetzungsleistung eigener Art. Sie holt den Erfahrungsgehalt des Kunstwerkes in die normale Sprache ein; nur auf diesem maeutischen Wege kann das Innovationspotential von Kunst und Literatur fiir Lebensform en und Lebensgeschichten, die sich iibers kommunikative AlItagshandeln reproduzieren, entbunden werden. Das schlagt sich dann in der veranderten Zusammensetzung des evaluativen Vokabulars nieder, in einer Renovation von Wertorientierungen und Bediirfnisinterpretationen, die iiber die Weisen der Wahrnehmung die Tinktur der Lebensweisen verandert. Eine ahnlich zwieschlachtige Stellung wie die Literaturkritik nimmt auch die Philosophie ein - jedenfalls die moderne Philosophie, die nicht mehr Anspriiche der Religion im Namen von Theorie einzulosen verspricht. Sie richtet ihr Interesse einerseits auf die Grundlagen von Wissenschaft, Moral und Recht und verkniipft mit ihren Aussagen theoretische Anspriiche. Indem sie sich durch universalistische Fragestellungen und starke. Theoriestrategien auszeichnet, unterhalt sie ein intimes Verhaltnis zu den Wissenschaften. U nd doch ist die Philosophie nicht nur ein esoterischer Bestandteil einer Expertenkultur. Sie unterhalt ein ebenso intimes Verhaltnis zur T otalitat der Lebenswelt und zum gesunden Menschenverstand, auch wenn sie riickhaltlos subversiv die GewiBheiten der Alltagspraxis erschiittert. Gegeniiber den nach einzelnen Geltungsdimensionen ausdifferenzierten Wissenssystemen vertritt das philosophische Denken das lebensweltliche Interesse am Ganzen der Funktionen und der Strukturen, die im kommunikativen Handeln gebiindelt und zusammengefiigt sind. Allerdings halt es dies en Totalitatsbezug mit einer Reflexivitat aufrecht, die dem nur intuitiv prasenten Hintergrund der Lebenswelt fehlt. Wenn man sich diese, hier nur skizzierte Stellung von Kritik und Philosophie zum Alltag einerseits, zu den Sonderkulturen von Kunst und Literatur, Wissenschaft und Moral andererseits vor Augen fiihrt, wird klar, was die Einebnung des Gattungsunter244
schiedes zwischen Philosophie und Literatur, und was die mit den Thesen (2) und (2') behauptete Angleichung von Philosophie an Literatur, von Literatur an Philosophie bedeutet. Sie bringt die Konstellationen durcheinander, in denen die rhetorischen Elemente der Sprache ganz verschiedene Rollen iibernehmen. In reiner Form tritt das Rhetorische nur in der Selbstbeziiglichkeit des poetischen Ausdrucks, d.h. in der auf WelterschlieBung spezialisierten Sprache der Fiktion auf. Auch die normale Sprache des Alltags ist unausrottbar rhetorisch; aber im Biindel vielfaltiger Sprachfunktionen treten hier die rhetorischen Elemente zuriick. In den Routinen der Alltagspraxis ist der weltkonstituierende sprachliche Rahmen beinahe erstarrt. Ahnliches gilt fiir die Spezialsprachen von Wissenschaft und Technik, Recht und Moral, Wirtschaft, Politik usw. Auch sie leben von der Leuchtkraft metaphorischer Redewendungen, aber die keineswegs getilgten rhetorischen Elemente sind gleichsam gezahmt und in Dienst genommen fiir spezielle Zwecke der Problemlosung. Eine andere und gewichtigere Rolle spielt das Rhetorische in der Sprache der Literaturkritik und der Philosophie. Beide sind mit einer ahnlich paradoxen Aufgabe konfrontiert. Sie sollen die Gehalte von Expertenkulturen, in denen jeweils unter einzelnen Geltungsaspekten Wissen akkumuliert wird, einer Alltagspraxis zufiihren, in der alle Sprachfunktionen und Geltungsaspekte noch ineinandergreifen und ein Syndrom bilden. Diese Vermittlungsaufgabe sollen Literaturkritik und Philosophie gleichwohl mit Ausdrucksmitteln bewaltigen, die speziellen, auf Geschmacks- bzw. Wahrheitsfragen spezialisierten Sprachen entnommen sind. Dieses Paradox konnen sie nur dadurch losen, daB sie ihre Spezialsprachen in dem MaBe rhetorisch erweitern und anreichern, wie es notig ist, urn mit manifesten Aussageinhalten indirekte Mitteilungen gezielt zu verkniipfen. Das erklart den starken rhetorischen Zug, der die Untersuchungen von Literaturkritikern und Philosophen gleichermaBen auszeichnet. Bedeutende Kritiker und groBe Philosophen sind auch Schriftsteller von Rang. In ihren rhetorischen Leistungen sind Literaturkritik und Philosophie mit der Literatur - und insofern auch miteinander - verschwistert. Aber darin erschopft sich ihre Verwandtschaft. Denn die rhetorischen Mittel werden in bei245
den Unternehmungen der Disziplin einer jeweils anderen Argumentationsform untergordnet. Das philosophische Denken wird, wenn es gemiill Derridas Empfehlungen von der Pflicht, Probleme zu 16sen, entbunden und literaturkritisch umfunktioniert wird, nicht nur seines Ernstes, sondern seiner Produktivitat und LeistungsHihigkeit beraubt. Umgekehrt biifh auch die literaturkritische Urteilskraft ihre Potenz ein, wenn sie, wie es Derridas Gefolgschaft in den literary departments vorschwebt, von der Aneignung asthetischer Erfahrungsgehalte auf Metaphysikkritik umgestellt wird. Die falsche Assimilation der einen Unternehmung an die andere raubt beiden ihre Substanz. Damit kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zuriick. Wer die radikale Vernunftkritik in den Bereich der Rhetorik versetzt, urn die Paradoxie ihrer Selbstbeziiglichkeit zu entscharfen, laBt die Klirige der Vernunftkritik seIber stumpf werden. Die falsche Pratention, den Gattungsunterschied zwischen Philo sophie und Literatur aufzuheben, kann aus der Aporie nicht herausfiihren. 74 74 Immerhin hat unsere Uberlegung zu einem Punkt gefUhrt, von wo aus zu sehen ist, warum Heidegger, Adorno und Derrida in diese Aporie iiberhaupt hineingeraten. Sie aile wehren sich noch so, als lebten sie, wie die erste Generation der Hegelschiiler, im Schatten des »letzten« Philosophen; sie streiten noch gegen jene »starken« Begriffe von Theorie, Wahrheit und System, die doch seit mehr als hundertfUnfzig Jahren der Vergangenheit angehoren. Sie glauben noch, die Philosophie von dem erwecken zu miissen, was Derrida den» Traum ihres Herzens« nennt. Sie meinen, die Philosophie aus dem Wahne reiBen zu miissen, eine Theorie aufzustellen, die das letzte Wort behalt. Ein solches umfassendes, geschlossenes und endgiiltiges System von Aussagen miiBte in einer Sprache fortnuliert sein, die sich selbst erlautert, keinen weiteren Kommentar erfordert oder zulaBt und damit die Wirkungsgeschichte, in der sich Interpretationen endlos auf Interpretationen haufen, zum Stillstand bringt. Rorty spricht in diesem Zusammenhang von dem Verlangen nach einer Sprache, »which can receive no gloss, requires no interpretation, cannot be distanced, cannot be sneered atby later generations. It is the hope for a vocabulary which is intrinsically and self-evidently final, not only the most comprehensive und fruitful vocabulary we have come up with so far.« (R. Rorty 1982, 93 f.). Ware die Vernunft gehalten, bei Strafe ihres Untergangs, an diesen klassischen, von Parmenides bis Hegel verfolgten Zielen der Metaphysik festzuhalten; stiinde die Vernunft als solche, auch nach Hegel noch, vor der Alternative, auf den starken Begriffen von Theorie, Wahrheit und System, wie sie in der groBen Tradition iiblich waren, zu bestehen - oder aber sich seIber aufzugeben; dann miiBte eine angemessene Vernunftkritik tatsachlich so tief an die Wurzel greifen, daB sie der Paradoxie
der Selbstbeziiglichkeit kaum diirfte entgehen konnen. So hat es sich Nietzsche dargestellt. Und ungliicklicherweise scheinen auch noch Heidegger, Adorno und Derrida die in der Philosophie beibehaltenen universalistischen Fragestellungen mit jenen langst preisgegebenen Statusanspruchen zu verwechseln, die die Philosophie fUr ihre Antworten einmal reklamiert hat. Heute liegt es aber auf der Hand, daB sich die Reichweite universalistischer Fragen - beispielsweise der Frage nach den notwendigen Bedingungen der Rationalitat von AuBerungen, nach den ailgemeinen pragmatischen Voraussetzungen des kommunikativen Handelns und der Argumentation - zwar in der grammatischen Fortn universeller Aussagen spiegeln muB, nicht aber in der Unbedingtheit der Gelmng oder der »Letztbegriindung«, die fUr sie und ihren theoretischen Rahmen beansprucht wiirde. Das fallibilistische BewuBtsein der Wissenschaften hat langst auch die Philosophie ereilt. Mit diesem Fallibilismus verzichten wir, Philosophen und Nichtphilosophen zumal, keineswegs auf Wahrheitsanspriiche. Diese lassen sich in der perfortnativen Einstellung der ersten Person gar nicht anders als in der Weise erheben, daB sie- als Anspriiche - Raum und Zeit transzendieren. Wir wissen aber auch, daB es keinen NullKontext fUr Wahrheitsanspriiche gibt. Diese werden hier und jetzt erhoben und sind auf Kritik angelegt. Deshalb rechnen wir mit der trivialen Moglichkeit, daB sie morgen oder an anderelJl Orte revidiert werden. Die Philosophie versteht sich nach wie vor als Hiiterin der Rationalitat im Sinne eines unserer Lebensfortn endogenen Vernunftanspruchs. Bei der Arbeit bevorzugt sie aber eine Kombination von starken Aussagen mit schwachen Statusanspriichen, die so wenig totalitar ist, daB gegen sie eine totalisierende Vernunftkritik nicht aufgeboten werden muE. Vgl. dazu J. Habertnas, Die Philosophie als Platzhalter und Interpret, in: ders., MoralbewuBtsein und kommunikatives Handeln, Ffm. 1983, 7ff. 247
VIII. Zwischen Erotismus und Allgemeiner bkonomie: Bataille I
Nach dem Tode Batailles im Jahre 1962 beschrieb der langjahrige Weggenosse Michel Leiris seinen Freund mit den Worten: »Nachdem er der U nmogliche gewesen war, fasziniert von allem, was er an wirklich Inakzeptablem entdecken konnte, ... erweiterte er seinen Gesichtskreis (seiner alten Idee gemaB, das >Nein< des wutstampfenden Kindes zu iiberwinden) und machte sich im BewuBtsein, daB der Mensch erst dann wirklich Mensch ist, wenn er in dieser MaBlosigkeit sein eigenes MaB sucht, zum Mann des Unmoglichen, begierig, den Punkt zu erreichen, wo im dionysischen Schwindel das aben und Unten ineinander verschwimmen und wo die Entfernung zwischen dem Ganzen und dem Nichts sich aufhebt.«l Das anerkennende Attribut des »Unmoglichen« bezieht sich vordergriindig auf den Autor des »obszonen W erkes«, der die schwarze Schriftstellerei des Marquis de Sade fortfiihrt, aber auch auf den Philosophen und Wissenschaftler, der das unmogliche Erbe des ideologiekritischen Nietzsche anzutreten versucht. Bataille hat Nietzsche relativ friih (1923) gelesen, ein J ahr bevor ihn Leiris in den Kreis urn Andre Masson einfiihrte und mit den fiihrenden Surrealisten bekannt machte. Zwar gibt Bataille dem philosophischen Diskurs der Moderne eine ahnliche Richtung wie Heidegger; fiir seinen Abschied von der Moderne wahlt er aber einen ganz anderen Weg. Seinen Begriff des Heiligen entwickelt Bataille aus einer anthropologisch begriindeten Kritik des Christentums, die ein Gegenstiick zu Nietzsches »Genealogie der Moral« bildet; auf eine immanent ansetzende Metaphysikkritik laBt er sich gar nicht erst ein. Schon ein erster Blick auf das Doppelleben des Archivars an der Bibliotheque Nationale und des schriftstellernden Bohemiens inmitten der Pariser Intellektuellenszene offenbart, daB 1 M. Leiris, Von dem unmoglichen Bataille zu den unmoglichen Documents (19 6 3), in: ders., Das Auge des Ethnologen, Ffm. 1981,75.
Bataille und der Philosophieprofessor aus Marburg und Freiburg auf verschiedenen Sternen leben. Was die beiden trennt sind vor allem zwei zentrale Erfahrungen - die asthetische Erfahrung im Umkreis des Surrealismus und die politische im Umgang mit dem Linksradikalism us. Ende der zwanziger Jahre zerfallt die Gruppe urn die Zeitschrift» La Revolution surrealiste«. Breton erhebt in seinem Zweiten Surrealistischen Manifest schwere Vorwiirfe gegen die Abgefallenen, die mit einer massiven Gegenattacke antworten. Von nun an befehden sich Bretons »Association« und Batailles »Cercle Communiste Democratique«. Zur gleichen Zeit griindet Bataille zusammen mit Michel Leiris und Carl Einstein die beriihmte Zeitschrift »Documents«, in der wichtige Studien des Herausgebers erscheinen. Darin entwickelt Bataille zuerst den Begriff des »Heterogenen«; so nennt er alle Elemente, die sich der Assimilation an biirgerliche Lebensformen und an die Routinen des Alltags ebenso widersetzen, wie sie sich dem methodischen Zugriff der Wissenschaften entziehen. In dies em Begriff kondensiert Bataille die Grunderfahrung der surrealistischen Schriftsteller und Kiinstler, die darauf aus sind, gegen die Imperative des Niitzlichen,der Normalitat und der Niichternheit die ekstatischen Krafte des Rausches, des Traumlebens, des Triebhaften iiberhaupt schockierend aufzubieten, urn die konventionell eingeschliffenen Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen zu erschiittern. Das Reich des Heterogenen offnet sich nur in jenen explosiven Augenblicken faszinierten Erschreckens, wenn die Kategorien zusammenstiirzen, die den vertrauten Umgang des Subjekts mit sich und der Welt garantieren. Freilich hat Bataille den Begriff des Heterogenen von vornherein auch auf soziale Gruppen angewendet, auf die Ausgeschlossenen oder Marginalisierten, auf die seit Baudelaire vertraute. Gegenwelt jener Elemente, die aus der gesellschaftlichen Normalitat ausgegrenzt werden - seien es die Parias und die Unberiihrbaren, die Prostituierten oder die Lumpenproletarier, die Verriickten, die Aufriihrer und Revolutionare, die Dichter oder die Boheme. So wird jener asthetisch inspirierte Begriff auch zum Instrument der Analyse des italienischen und des deutschen Faschismus: Bataille schreibt den faschistischen Fiihrern eine heterogene Existenz zu. 249
Die kontraren lebensgeschichtlichen Orientierungen, die gegensatzlichen politischen Optionen und die augenfalligen Unterschiede zwischen erotischer Schriftstellerei und wissenschaftlicher Essayistik auf der einen, philosophischer Untersuchung und Seinsmystik auf der anderen Seite - diese Kontraste machen es auf den ersten Blick schwer, das gemeinsame, Bataille mit Heidegger verbindende Projekt zu sehen. Dem einen wie dem anderen geht es darum, aus der Gefangenschaft der Moderne, aus dem geschlossenen U niversum der welthistorisch siegreichen Vernunft des Abendlandes auszubrechen. Beide wollen den Subjektivismus uberwinden, der die Welt mit seiner reifizierenden Gewalt uberzieht und zur Gesamtheit technisch verfugbarer und okonomisch verwertbarer Objekte erstarren Who Beide Denker stimmen in diesem Projekt so sehr uberein, daB das, was Foucault uber Batailles Idee der Grenzuberschreitung sagt, genausogut uber den Begriff der Transzendenz beim spaten Heidegger gesagt werden konnte: »Das Spiel von Grenze und Dberschreitung ist heute wohl der wesentliche Priifstein eines Denkens des>U rsprungs<, dem uns Nietzsche von Anbeginn seines Werkes anuberantwortet hat - eines Denkens, das Kritik und Ontologie in einem ist, eines Denkens, das die Endlichkeit und das Sein denkt.«2 In dem dann folgendem Satz lieBe sich der Name Bataille unauffallig durch den Namen Heidegger ersetzen: »Allen, denen es darum geht, die Einheit der grammatischen Funktion des >Philosophen< ... zu erhalten, konnte man das exemplarische Unternehmen Batailles entgegensetzen, der unablassig und verbissen daran gearbeitet hat, die Souveranitat des philosophischen Subjekts in sich zu brechen. Insofern waren seine Sprache und seine Erfahrung eine Marter: eine bedachte Vierteilung dessen, der in der philosophischen Sprache spricht; eine Streuung von Sternen, die urn Mitternacht leuchten und darin unhorbare Worter entstehen lassen.«3 Gleichwohl ergeben sich gravierende Unterschiede daraus, daB Bataille die Vernunft nicht an den Grundlagen der kognitiven Rationalisierung, an den ontologischen Voraussetzungen von objektivie2 M. Foucault, Vorrede zur Uberschreitung, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Mii. 1974,40. 3 Foucault (1974), 44·
render Wissenschaft und T echnik angreift; Bataille konzentriert sich vielmehr auf die Grundlagen einer ethischen Rationalisierung, die Weber zufolge das kapitalistische Wirtschaftssystem ermoglicht und damit,das gesellschaftliche Leben insgesamt den Imperativen der entfremdeten Arbeit und des Akkumulationsprozesses unterworfen hat. Bataille macht das Prinzip der Moderne nicht an einem autoritar aufgespreizten, bodenlos autonomen SelbstbewuBtsein fest, sondern an cler Erfolgsorientierung eines nutzenoptimierenden Handelns, das der Verwirklichung jeweils subjektiver Zwecke dient. Zwar haben Heidegger und Bataille dieselben Tendenzen im Auge, in denen das objektivierende Denken und das zweckrationale Handeln ihre historische Macht entfalten; aber die Kritik, die das Dbel an der Wurzel fassen soll, nimmt jeweils eine andere Richtung. Der metaphysikkritisch verfahrende Heidegger treibt in den festgefrorenen Boden der transzendentalen Subjektivitat einen Stollen, urn am anderen Ende die wahren Fundamente eine's zeitlich verflussigten Ursprungs freizulegen; hingegen geht es dem moralkritisch ansetzenden Bataille nicht urn noch einmal vertiefte Grundlagen der Subjektivitat, sondern urn deren Entgrenzung - urn die Form von EntauBerung, die das monadisch in sich verkapselte Subjekt wieder zuriickfuhrt in die Intimitat eines fremd gewordenen, ausgegrenzten, abgeschnittenen und auseinandergerissenen Lebenszusammenhangs. Fur Bataille offnet sich mit dieser Idee der Entgrenzung eine ganz andere Perspektive als fur Heidegger: die sich selbst uberschreitende Subjektivitat wird nicht zugunsten eines superfundamentalistischen Seinsgeschicks entthront und entmachtet, sondern der Spontaneitat ihrer verfemten Antriebe zuruckgeben. Die Offnung zum sakralen Bereich bedeutet nicht Unterwerfung unter die Autoritat eines unbestimmten, in seiner Aura nur angedeuteten Schicksals; die Grenzuberschreitung zum Sakralen bedeutet nicht die demutige Selbstaufgabe der Subjektivitat, sondern ihre Befreiung zur wahren Souveranitat. DaB nicht das Sein, sondern die Souveranitat das letzte Wort behalt, ist kein Zufall- darin zeigt sich vielmehr eine fur Heidegger undenkbare Nahe zu Nietzsches asthetisch inspiriertem Begriff von Freiheit und ubermenschlicher Selbstbehauptung. Fur Bataille wie fur Nietzsche besteht ja eine Konvergenz zwischen dem sich selbst
steigernden und sinnerfullenden Willen zur Macht mit der kosmisch verankerten Fatalitat der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Mit Nietzsche verbindet Bataille ein anarchistischer Grundzug; weil dieses Denken gegen jede Autoritat gerichtet ist, auch gegen das Heilige als Autoritat, ist die Lehre yom Tode Gottes strikt atheistisch gemeint. Bei Heidegger, der diese These in vornehmem Tone wiederholt, verliert sie hingegen jede Radikalitat. GewiB, Gott als ein Ontisches wird geleugnet, aber das ontologisch zurechtgestutzte Offenbarungsgeschehen umkreist vielsagend den grammatischen Ort, den die zerstorte Gottesprojektion unbesetzt zuruckgelassen hat- so als fehlte uns einstweilen nur die Sprache, den zu nennen, dessen N amen unaussprechlich ist. So trifft Foucaults Frage: »Was bedeutet es, Gott zu toten, wenn er nicht existiert, Gott zu toten, der nicht existiert?«4 nur Bataille, nicht Heidegger. Foucault erkennt, daB Bataille den ExzeB der sich selbst uberschreitenden Subjektivitat im Erfahrungsbereich des Erotischen aufsuchen muB, weil er das Heilige streng atheistisch denkt. Wohl ist die Profanierung des Heiligen das Modell der Uberschreitung, aber Bataille tauscht sich nicht damber, daB es in der Moderne nichts mehr zu profanieren gibt - und daB es nicht die Aufgabe der Philosophie sein kann, dafur einen seinsmystischen Ersatz zu schaffen. Bataille stellt eine innere Verbindung zwischen dem sexuellen Erfahrungshorizont und dem Tode Gottes her- »nicht urn uralten Gesten neue Inhalte zu verleihen, sondern urn eine Profanierung ohne Gegenstand zu ermoglichen, eine leere, auf sich zuruckgewendete Profanierung, deren Instrumente sich nur an sich selbst richten.«5 Ich will nun zunachst zeigen, welche Bedeutung die Faschismusanalyse, die Bataille in Begriffen der homogenen und der heterogenen Elemente der Gesellschaft vornimmt, fur die Konstruktion der Moderne hat. Bataille sieht die Moderne eingebettet in eine Geschichte der Vernunft, worin die Krafte der Souveranitat und der Arbeit einander widerstreiten. Die Vernunftgeschichte reicht von den archaischen Anfangen der sakralen Gesellschaft bis zur total verdinglichten Welt der okonomischen Sowjetmacht, aus der die 4 Foucault (1974),35.
letzten feudalen Spuren der Souveranitat getilgt sind. Diese vollstandige Entmischung der homogenen und der heterogenen Bestandteile offnet aber die Perspektive auf eine Gesellschaftsformation, die die soziale Gleichheit mit der Souveranitat des Einzelnen versohnt. Batailles anthropologische Erklarung des Heterogenen als des ausgegrenzten und verfemten T eils bricht freilich mit allen dialektischen Denkfiguren. Deshalb stellt sich die Frage, wie Bataille den revolutionaren Ubergang von der erkalteten, total verdinglichten Gesellschaft zur Erneuerung der Souveranitat erklaren will. Der Entwurf zu einer allgemeinen, auf den Energiehaushalt der Natur im ganzen erweiterten bkonomie laBt sich als Antwort auf diese Frage verstehen. Dieses Unternehmen verfangt sich jedoch in den Paradoxien einer selbstbezuglichen Vernunftkritik. So schwankt Bataille am Ende zwischen einer inkonsequenten Wiederanknupfung an das Hegelsche Projekt einer Aufklarungsdialektik einerseits, und andererseits einem unvermittelten Nebeneinander von wissenschaftlicher Analyse und sprachlicher Mystik.
II
Der Sieg der faschistischen Bewegung in Italien und die Machtergreifung des Nationalsozialismus im Deutschen Reich waren, lange vor Ausschwitz, das Phanomen, von dem Wellen nicht nur cler Irritation, sondern auch der faszinierenden Erregung ausgegangen sind. Es gab keine Theorie von zeitgeschichtlicher Sensibilitat, die von der Durchschlagskraft des Faschismus nicht bis ins Innerste getroffen worden ware. Das gilt vor allem fur Theorien, die sich Ende der 2oer, Anfang der 30er Jahre in ihrer Formationsperiode befunden haben - fur Heideggers Fundamentalontologie, wie wir gesehen haben, nicht weniger als fur Batailles Heterologie oder Horkheimers Kritische Theorie. 6 1m November 1933, als Heidegger gerade seine Wahlreden fur den »Fuhrer« halt, publiziert G. Bataille eine Untersuchung uber »Die psychologische Struktur des 6 Vgl. H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, Ffm. 197 8, ders., Die Aktualitat der Gesellschaftstheorie Adornos, in: L. v. Friedeburg, J. Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz, Ffm. 1983, 293 ff.
5 Foucault (1974), 33.
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Faschismus«. 1m Gegensatz zu den marxistischen Erklarungsversuchen richtet er sein Augenmerk nicht auf die nur theoretisch zuganglichen okonomischen und sozialstrukturellen Ursachen, sondern auf die Phanomene, insbesondere auf die greifbaren sozialpsychologischen Erscheinungsformen der neuen politischen Bewegungen. Vor allem interessiert ihn die Bindung plebiszitar mobilisierter Massen an charismatische Fuhrerfiguren, uberhaupt die (von Fests Hitler-Film in Erinnerung gerufene) Show-Seite der faschistischen Herrschaft - die kultische Verehrung der Fuhrer als sakraler Personen, die kunstvoll inszenierten Massenrituale, auch das manifest Gewaltsame, Hypnotische, die Durchbrechung der Legalitat, der Verzicht selbst auf den Schein von Demokratie und Bruderlichkeit: »Der affektive Strom, der den Fuhrer mit seiner Gefolgschaft verbindet in der Form der moralischen Identifizierung ... ist Funktion eines gemeinsamen BewuBtseins von sich steigernden, gewaltsam ins Mafilose anwachsenden Energien, die sich in der Person des Fuhrers akkumulieren und ihr unbegrenzt verfugbar werden. Bataille war damals Marxist genug, urn die objektiven Bedingungen einer Krise nicht zu verkennen, von der der Faschismus nur der NutznieBer gewesen ist. Erst muBte sich die kapitalistische Wirtschaft und ihr Produktionsapparat »aufgrund innerer Widerspriiche zersetzen», bevor eine Art von Gewalt in die Funktionslucken einschieBen konnte, die mit der Struktur der bestehenden Gesellschaft keinerlei Affinitat besaB. In den demokratisch verfaBten Industriekapitalismus war das Prinzip der Wahlfreiheit eingebaut, eine subjektive Freiheit der Wahl sowohl fur den privaten Unternehmer und den Produzenten wie fur den (vor der Wahlurne vereinzelten) Staatsburger: »Die Bewegung und der schlieBliche Triumph des Nationalsozialismus verdanken sich nicht zuletzt der Tatsache, daB einigen deutschen Kapitalisten zu BewuBtsein kam, wie gefahrlich ihnen dieses Prinzip der individuellen Freiheit in einer Krise werden konnte.«8 Freilich bleibt das funktionale Erfordernis einer totalitaren Abschaffung dieses Prinzips, fur sich
genommen, »ein leerer Wunsch«; funktionalistisch lassen sich die Ressourcen, von denen der Faschismus zehrt, nicht erklaren - namlich der »unerschopfliche Reichtum der Formen affektiven Lebens«. DaB diese Krafte, die der Fuhrerstaat in Regie nimmt, offensichtlich aus einem der bestehenden Gesellschaft heterogenen Bereich stammen, gibt Bataille den AnstoB zur Erforschung dieses heterogenen Elements. Mit den psychoanalytischen Erklarungsversuchen im AnschluB an Freuds Studie uber »Massenpsychologie und Ich-Analyse« ist Bataille nicht zufrieden9 ; vielmehr ist er davon uberzeugt, daB die Wurzeln des Faschismus tiefer reichen als das UnbewuBte, zu dem die analytische Kraft der Selbstreflexion Zugang hat. Das Modell, nach dem Bataille die Abspaltung des Heterogenen denkt, ist nicht das Freudsche Modell der Verdrangung, sondern der AusschluB und die Stabilisierung von Grenzen, die nur im ExzeB, also gewaltsam durchbrochen werden konnen . Bataille sucht nach einer Okonomie des gesamtgesellschaftlichen Triebhaushaltes, die erklaren soll, warum die Moderne ihre lebensgefahrlichen Ausgrenzungen alternativenlos vollzieht und warum die Hoffnung auf eine Dialektik der Aufklarung, die das Projekt der Moderne bis in den westlichen Marxismus begleitet hat, vergeblich ist: »Die homogene Gesellschaft ist unfahig, in sich selbst einen Sinn und Zweck des Handelns zu finden. Dadurch gerat sie in Abhangigkeit von den imperativen Kr1iften, die sie ausschlieBt.«10 Bataille steht in der Tradition der Durkheimschule; er fuhrt die heterogenen Aspekte des gesellschaftlichen wie des psychischen und geistigen Lebens auf jenes Sakrale zuriick, das Durkheim durch den Kontrast zur Welt des Profanen bestimmt hatte: sakrale Gegenstande sind mit einer auratischen Kraft besetzt, die die Menschen zugleich verlockt und anzieht, in Schrecken versetzt und abstoBt. Sie los en, wenn sie beruhrt werden, schockartige Wirkungen aus und reprasentieren eine andere, hohere Ebene der Realitat - sie sind mit den profanen Dingen inkommensurabel, entziehen sich einer homogenisierenden Betrachtungsweise, die Fremdes an Bekanntes angleicht, Unvorhergesehenes mit Hilfe von Vertrautem erklart.
7 Bataille Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveranitat, Mii. 1978, 19· 8 Bataille (1978), 38.
9 Vgl. A. Mitscherlich, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ders., Ges. Schriften Bd. V, Ffm. 1983, 83ff. 10 Bataille (1978), 23.
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Bataille fugt noch die Bestimmung der unproduktiven Verausgabung hinzu. Die heterogene verhalt sich zur profanen Welt wie das Uberflussige - von Abfallen und Exkrementen uber Traume, erotische Verzuckungen und Perversionen bis zu ansteckenden subversiven Vorstellungen, yom handgreiflichen Luxus bis zu den uberschwanglich-elektrisierenden Hoffnungen und heilig gesprochenen Transzendenzen. Demgegenuber ist das Homogene und Gleichformige des normalen Alltagslebens Resultat des Stoffwechsels mit der widerstandigen, auBeren Natur. In der kapitalistischen Gesellschaft wirkt vor allem die in Zeit und Geld abstrakt gemessene Arbeit, also die Lohnarbeit als homogenisierende Kraft; diese steigert sich in der Kombination mit Wissenschaft und Technik. Die Technik ist das Bindeglied zwischen Wissenschaft und Produktion; und ahnlich wie bei Adorno heiBt es, daB »die Gesetze, die die Wissenschaft geschaffen hat, zwischen den verschiedenen Elementen einer produzierten und meBbaren Welt Identitatsbeziehungen hers tellen«.l1 In diese rationalisierte Welt brechen nun die faschistischen Fuhrer und ihre in Trance versetzten Massen ein. Bataille spricht von deren heterogenen Existenz nicht ohne Bewunderung. Hitler und Mussolini erscheinen ihm vor dem Hintergrund der interessenorientierten Massendemokratie als »das ganz Andere«. Er ist fasziniert von der Gewalt, »die sie, Hitler und Mussolini, uber die Menschen, die Parteien und selbst die Gesetze erhebt: »eine Gewalt, die den normalen Lauf der Dinge durchbricht, die friedliche, aber langweilige Homogeneitat, die ohnmachtig ist, sich aus eigener Kraft zu erhalten.«12 In der faschistischen Herrschaft verschmelzen homo gene und heterogene Elemente auf neuartige Weise - jene Eigenschaften, die, wie Leistungsbereitschaft, Disziplin, Ordnungsliebe, zu den funktionalen Erfordernissen der homogenen Gesellschaft gehoren, einerseits und andererseits die Massenekstase und die Fuhrerautoritat, die einen Abglanz wahrer Souveranitat offenbaren. Der faschistische Staat ermoglicht die totale Einheit der heterogenen mit den homogenen Elementen, er ist die verstaatlichte Souveranitat. Er tritt das Erbe jener Souveranitat an, die in traditionalen Gesellschaften religiose und militiirische Gestalt angenommen hatte; diese bei11 Bataille (1978), 10.
12 Bataille (1978), 18.
den Elemente sind freilich in der Souveranitat des Fuhrers entdifferenziert. Das Wesensmoment der Herrschaft von Menschen uber Menschen ist im Faschismus sozusagen rein ausgebildet. Die Aura des Fuhrers sichert eine Massenloyalitat, die von jedem Legitimationszwang entkoppelt ist. Ah.nlich wie Carl Schmitt erklart Bataille dieses grundlose Akzeptieren damit, daB die Gewalt eines Herrn im Kern charismatischer Natur ist - eben im Heterogenen wurzelt: »Die einfache T atsache der Herrschaft von Menschen uber Menschen impliziert die Heterogenitat des Herrn, wenigstens insoweit er Herr ist: in dem MaBe, wie er sich zur Rechtfertigung seiner Autoritat auf seine Natur, auf seine personliche Qualitat beruft, bezeichnet er diese Natur als das ganz Andere, ohne rational Rechenschaft davon ablegen zu konnen.«13 Gerade das bannende, die Sinne beschlagnahmende Moment in der Gewaltausubung faschistischer Fuhrer fuhrt Bataille auf eine Souveranitat zuruck, der er Authentizitat zuschreibt - hier wird die Differenz zur ahnlich ansetzenden Faschismustheorie Horkheimers und Adornos deutlich. Diese konzentrieren sich, wie Bataille, auf die psychologische Vorderansicht des Faschismus - jedenfalls in den »Elementen des Antisemitismus«.14 1m Arrangement der hochritualisierten Massendemonstrationen entziffern Horkheimer und Adorno »das falsche Konterfei der schreckhaften Mimesis«, also die Erweckung und Manipulation eines uralten Reaktionsmusters. Der Faschismus setzt das zivilisatorisch erledigte mimetische Verhalten fur eigene Zwecke ein. Die Unterdriickung der archaischen Ambivalenz von Fiucht und Hingabe, Grauen und Entzucken wird auf ironische Weise reflexiv: »Im modernen Faschismus hat die Rationalitat eine Stufe erreicht, auf der sie sich nicht mehr begnugt, einfach die N atur zu unterdriicken; die Rationalitat beutet jetzt die Natur aus, indem sie ihrem eigenen System die gegen die Unterdriickung rebellieren13 Bataille (1978), 22.
14 M. Horkheimer, T. W. Adorno, Dialektik der Aufklarung, Amsterdam 1949, 199ff.; zur politokonomischen Kennzeichnung des Faschismus als »Staatskapitalismus« vgl. H. Dubiel, A. Sollner (Hg.), Wirtschaft, Rechfund Staat im Nationalsozialismus, Analysen des Instituts fUr Sozialforschung 1939-1942, Ffm. 1981; M. Wilson, Das Institut fUr Sozialforschung und seine Faschismusanalysen, Ffm. 1982.
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den Potentialitaten der Natur einverleibt.«15 Soweit lieBe sich noch Batailles Analyse in die Begriffe der Kritischen Theorie iibersetzen: am Ende dient der Faschismus nur dazu, die Revolte der inneren N atur gegen instrumentelle Vernunft deren Imperativen gefiigig zu machen. Die entscheidende Differenz liegt aber darin, wie die unterdriickten oder verfemten Teile der subjektiven Natur bestimmt werden. Fiir Horkheimer und Adorno fiihrt der mimetische Impuls das Versprechen eines »Gliick(s) ohne Macht« mit sich16 , wahrend fiir Bataille im Heterogenen Gliick und Gewalt unaufloslich verbunden sind: Bataille feiert im Erotischen wie im Heiligen eine »elementare Gewalttatigkeit«.17 Mit Hilfe derselben Denkfigur rechtfertigt er am Faschismus auch noch jenes Carl Schmittsche Element der grundlosen oder »reinen« Herrschaft, dem Horkheimer und Adorno die Kraft des Mimetischen aufs Entschiedenste entgegensetzen. Selbst Benjamin, der in einem friihen Aufsatz mit Berufung auf Sorels Mythos yom Generalstreik Batailles Konzeption der unbefleckten souveranen Gewalt vorwegzunehmen scheint, halt den Bezugspunkt einer gewaltlosen Intersubjektivitat der Verstandigung fest. Die schicksalhafte Gewalt revolutionarer, rechtsetzender Akte, die ihrem Wesen nach anarchistisch sind und doch allen Institutionen der Freiheit zugrundeliegen (und in ihnen priisent gehalten werden miissen), befliigeltBenjamin zum Entwurf einer Politik der »reinen Mittel«. Diese ist nur urn Haaresbreite von dem, was faschistische Gewalt sein mochte, getrennt. Aber jene selbstzweckhafte, Gerechtigkeit nicht instrumentell vermittelnde, sondern manifestierende und vollziehende Gewalt bleibt Benjamin zufolge stets bezogen auf die Sphare gewaltloser. Einigung. Diese Sphare menschlicher Dbereinkunft, die der Gewalt »vollstandig unzuganglich ist«, bleibt fiir Benjamin »die Sprache - die eigentliche Sphare der Verstandigung«.18 Dieser Idee ist Benjamin durch sein Unternehmen einer rettenden Kritik derart verpflichtet, daB er 15 M. Horkheimer, Kritik der instrumentellen Vernunft, Ffm. 1967, 1I8. 16 Horkheimer, Adorno (1947), 204· 17 Bataille (1982), 89. 18 W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Angelus Novus, Ausgew. Schriften 2, Ffm. 1966, 55.
sogar am Beispiel des proletarischen Generalstreiks die Gewaltlosigkeit der »reinen Mittel« exemplifizieren mochte. Ohne einen solchen, die Gewalt transzendierenden Bezugspunkt muB Bataille Schwierigkeiten haben, jenen Unterschied plausibel zu machen, an dem ihm doch alles gelegen ist - den Unterschied zwischen der sozialistischen Revolution und der faschistischen Machtergreifung, die jener bloB ahnlich sieht. Was Benjamin fiir das Unternehmen des Surrealismus im ganzen behauptet, daB er »die Krafte des Rausches fiir die Revolution gewinnen« wollte 19 , schwebt auch Bataille vor: es ist der Traum einer asthetisierten, dichterischen, von allen moralischen Elementen gereinigten Politik. Das ist es ja, was ihn am Faschismus besticht: »Das Beispiel des Faschismus, der heute sogar die Existenz der Arbeiterbewegung in Frage stellt, reicht aus, urn zu zeigen, was von einem giinstigen Riickgriff auf erneuerte affektive Krafte zu erwarten ware«.20 Dann stellt sich aber die Frage, worin sich die subversiv-spontane AuBerung und die faschistische Kanalisierung dieser Kriifte letztlich unterscheiden. Unangenehm ist die Frage jedenfalls dann, wenn man mit Bataille davon ausgeht, daB sich der Unterschied schon an den Formen der Politik - und nicht erst an deren Konsequenzen solI zeigen konnen. In seiner Schrift von 1933 macht Bataille den Versuch, in der Welt des Heterogenen seIber eine Grenze zwischen hoheren und niederen Elementen zu ziehen. Dieser Versuch gelingt so wenig, daB sich Bataille am Ende mit dem Vorschlag einer Umfunktionierung der bekampften faschistischen Politik begniigt. Er empfiehlt die Ausarbeitung einer heterologischen Wissenschaft, »die es erlaubt, die affektiven sozialen Reaktionen, die den Dberbau durchzucken, vorauszusehen - vielleicht sogar, bis zu einem gewissen Grad, frei iiber sie zu verfiigen ... Ein systematisches Wissen von den sozialen Bewegungen der Anziehung und der AbstoBung (d. h .. der yom Heterogenen ausgelosten Gefiihlsambivalenzen, Zllsatz J. H.) erweist sich schlicht als Waffe in einem Augenblick, da nicht so sehr der Faschismus dem Kommunismus als vielmehr raclikal imperative Formen ... der Subversion gegeniiberstehen.«21 In den folgenden drei Jahrzehnten hat Bataille die Grundziige der 19 W. Benjamin, Der Surrealismus, in: Benjamin (1966), 212. 20 B~taille (1978), 42. . 21 Bataille (1978), 42f.
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damals postulierten Wissenschaft ausgefiihrt. Ich will zunachst den geschichtsphilosophischen Abschied von der Moderne behandeln, urn dann auf die Allgemeine bkonomie einzugehen, von der sich Bataille eine Antwort auf die offen gebliebene Frage erhoffte, wie der U mschlag von Verdinglichung in Souveranitat zu denken sei.
III Bereits zu Beginn des Jahres 1933 hatte Bataille eine Abhandlung iiber den Begriff der Verschwendung publizier~, der die Umrisse einer manichaisch angelegten Geschichtsphilosophie erkennen lieB. Ais Kommunist bewegte sich Bataille in den praxisphilosophischen Denkfiguren der Marxschen Theorie. Arbeit, d. h. die gesellschaftliche Produktion ist die gattungsspezifische Form der Reproduktion. Zunachst beschreibt Bataille den modernen Klassenantagonismus ganz im Sinne der philosophisch-okonomischen Manuskripte des jungen Marx: »Es ist das Ziel der Arbeiter, zu produzieren, urn zu leben, das der Unternehmer aber, zu produzieren, urn die arbeitenden Produzenten einer abscheulichen Erniedrigung auszuliefern.«23 Aber Bataille dementiert sogleich die naheliegende Konsequenz, daB das »Leben«, urn dessentwillen produziert wird, der Arbeit selbst als verniinftiges Telos innewohnt. Das Ziel der Produktion, das Bataille im Auge hat, transzendiert vielmehr den Kreislauf der produktiven Verausgabung der Arbeitskraft und der konsumptiven Aneignung jener Gebrauchswerte, in denen sich der ArbeitsprozeB vergegenstandlicht. Bataille gibt dem expressivistischen Modell der menschlichen Tatigkeit, von dem er ausgeht, eine W endung, die dessen praxisphilosophische Grundlage negiert. Er sieht narnlich in der Konsumtion selbst einen tiefen Zwiespalt angelegt zwischen der unmittelbar lebensnotwendigen Reproduktion der Arbeitskraft und einem Luxuskonsum, der die Arbeitsprodukte verschwenderisch der Sphare des Lebensnotwendigen und damit 22 In: La Critique Sociale, 7, 1933, deutsch: G. Bataille, Das theoretische Werk, Bd. I, Mii. 1975, 9ff. 23 Bataille (1975), 25· 260
iiberhaupt dem Diktat des Stoffwechselprozesses entzieht. Allein diese unproduktive Form der Verausgabung, die aus der betriebswirtschaftlichen Perspektive des einzelnen Warenbesitzers einen Verlust darstellt, kann die Souveranitat des Menschen, seine authentische Existenz zugleich ermoglichen und bestatigen. GewiB, auch Marx spricht von einer Sphare der Freiheit jenseits der Sphare der Notwendigkeit, jenseits des durch den Stoffwechsel mit cler Natur determinierten Bereichs der Produktion; aber Marx subsumiert auch noch die schopferische Verwendung der arbeitsfreien Zeit unter das Modell der EntauBerung und Wiederaneignung der individuellen Wesenskrafte -'- der Bezugspunkt bleibt das totale, sich selbst universell verwirklichende Individuum. Durchaus realistisch wittert Bataille darin aber die Gefahr, daB sich die habitualisierten Notwendigkeiten der Arbeit unter dem Deckmantel einer scheinbar autonomen Freiheit nur fortsetzen; er befiirchtet, daB die wahre Souveranitat auch im DberfluB unterdriickt wiirde, solange die rationale - nach »dem Prinzip des Zahlungsausgleichs« vorgenommene Verwendung materieller und geistiger Giiter nicht einer radikal anderen Form der Konsumtion Platz macht, eben einer Verschwendung, in der sich das konsumierende Subjekt seiner selbst entauBert. Diese unproduktive Form der Verausgabung riickt Bataille in die Nahe der toxischen Zustande der Selbstaufgabe, des Sichverstromens, der Raserei. Diese Selbstentgrenzung hinterlaBt noch ihre okonomischen Spuren im Luxuskonsum: »Die menschliche Tatigkeit ist nicht vollstandig zu reduzieren auf Prozesse der Produktion und Reproduktion, und die Konsumtion muB in zwei verschiedene Bereiche aufgeteilt werden. Der erste, der reduzierbar ist, umfaBt den fiir die Individuen einer Gesellschaft notwendigen Minimalverbrauch zur Erhaltung des Lebens und zur Fortsetzung der produktiven Tatigkeit ... Der zweite Bereich umfaBt die sogenannten unproduktiven Ausgaben: Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten, Spiele, Theater, Kiinste, die perverse (d. h. von der Genitalitat geloste) Sexualitat stellen ebensoviele Tatigkeiten dar, die, zumindest urspriinglich, ihren Zweck in sich selbst haben.«24 Die aristotelisch bestimmte sich selbst geniigende, zum Selbstzweck gewordene Tatigkeit luxu~ 24 Bataille (1975), 12. 261
rierender Oberschichten verrat noch etwas von urspriinglicher Souveranitat. Nun ist aber der Kapitalismus dadurch gekennzeichnet, daB alle Uberschiisse wiederum produktiv verausgabt werden; der AkkumulationsprozeB ist durch Imperative der Selbstverwertung des Kapitals gesteuert. Marx hatte daran die Verselbstandigung der Produktion von Tauschwerten gegeniiber der Produktion von Gebrauchswerten kritisiert; Bataille beklagt die Verselbstandigung der produktiven Anlage der Gewinne gegeniiber dem unproduktiyen Verbrauch der produzierten Uberschiisse. Die Kapitalisten haben »mit dem Reichtum die Verpflichtung zur funktionellen Verausgabung erhalten«; deshalb entbehrt die moderne Gesellschaft des offentlich zur Schau gestellten Luxus - »das Zurschaustellen von Reichtiimern geschieht jetzt hinter den (privaten) Wanden nach langweiligen und bedriickenden Konventionen«25. Verschwunden ist das Generose, Orgiastische, MaBlose, das die feudale Verschwendung immerhin ausgezeichnet hatte. Am Leitfaden dieses Begriffs der Verausgabung entwickelt Bataille sein theoretisches Hauptwerk, dessen erster Teil 1949, nach achtzehnjahriger Vorarbeit, unter dem Titel »Der verfemte Teil« erscheint. Ein Stiick aus dem dritten Teil publiziert Bataille 1956 unter dem Titel »Die Souveranitat«. Der Abstand iu Problems tellung undBegrifflichkeit der Praxisphilosophie ist inzwischen noch groBer geworden. In gewisser Weise laBt sich Batailles Theorie als ein Gegenstiick zur Theorie der Verdinglichung verstehen, die Lukacs, Horkheimer und Adorno auf der Linie eines Webermarxismus entwickelt haben. Die Souveranitat steht im Gegensatz zum Prinzip der verdinglichenden, instrumentellen Vernunft, das aus der Sphare der gesellschaftlichen Arbeit hervorgeht und in der modernen Welt zur Herrschaft gelangt. Souveran sein heiBt, sich nicht wie in der Arbeit, auf den Zustand eines Dinges reduzieren zu lassen, sondern die Subjektivitat zu entfesseln: das der Arbeit entzogene, yom Augenblick erfiillte Subjekt geht in der Verzehrung seiner selbst auf. Das Wesen der Souveranitat besteht in der nutzlosen Verzehrung, in dem, »was mir gefallt«. Allein, diese Souverani-
tat verfallt dem Urteil eines weltgeschichtlichen Prozesses der Entzauberung und der Versachlichung. Das souverane Wesen wird in modernen Gesellschaften spiritualisiert und aus einem Universum ausgeschlossen, das alles unter die Gegenstandsform des Verwertbaren und Verfiigbaren, des ptivaten Eigentums also, subsumiert, das nur noch aus Dingen besteht:»Am Beginn der Industriegesellschaft, die auf dem Prim at und der Autonomie der Ware - des Dinges - beruht, steht der entgegengesetzte Wille, das Wesentliche was uns vor Erschrecken und Entziicken erzittern laBt - auBerhalb der Welt der Aktivitat, der Welt der Dinge.«26 Die Parallelen mit dem friihen Lukacs sind verbliiffend. Denn zunachst sieht es so aus, als sei dieser ProzeB der AusschlieBung eines entweltlichten Sakralen nur die Folge der kapitalistischen Produktionsweise: »Aufgrund der Akkumulation der Reichtiimer zum Zweck einer industriellen Produktion wachsenden AusmaBes ist die biirgerliche Gesellschaft die Gesellschaft der Dinge. Sie ist, im Vergleich mit dem Bild der feudalen Gesellschaft, keine Gesellschaft der Personen ... Das in Geld umsetzbare Objekt gilt mehr als das Subjekt, das, seit es in Abhangigkeit von den Objekten ist (sofern es diese besitzt), nicht mehr fiir sich selbst existiert und keine wirkliche Wiirde mehr besitzt.«27 Tatsachlich dient aber der Fetischismus der Warenform nur der universellen Ausbreitung der Herrschaft der in den Strukturen der Arbeit bereits anthropologisch verankerten kalkulierenden Vernunft. Die Tendenz zur Verdinglichung der Gesellschaft geht auf archaische Zeiten zuriick und reicht iiber den Kapitalismus hinaus in die Zukunft des biirokratischen Sozialismus, der erst das Testament des welthistorischen Entzauberungsprozesses vollstrecken wird. Das erinnert schon eher an die spatere Kritische Theorie als an den friihen Lukacs; aber beide Vergleiche greifen zu kurz. Was Bataille im Sinne hat, ist iiberhaupt keine Theorie der Verdinglichung, sondern eine Geschichtsphilosophie der Verfemung, d. h. der fortschreitenden Exterritorialisierung des Heiligen. Er will das welthistorische Schicksal der Souveranitat darstellen, jener abgriindigen Freiheit, die darin besteht, »profitlos zu verzehren,
25 Bataille (1975), 22f.
26 Bataille (1975), 164.
27 Bataille (1978), 57.
was der Verkettung der niitzlichen Werke hatte verhaftet bleiben konnen.«28 Die reinste, empirisch noch greifbare Form dieser Souveranitat findet Bataille im rituellen Opfer, das er anhand der Berichte iiber die asztekischen Menschenopfer sorgfaltig analysiert: »Das Opfer zerstort, was es weiht. Es braucht nicht zu zerstoren wie das Feuer; nur das Band, das die Opfergabe an die Welt der niitzlichen Aktivitat bindet, wird zerschnitten, aber diese Trennung hat die Bedeutung einer endgiiltigen Verzehrung; diegeweihte Opfergabe kannder realen Ordnung nicht zuriickgegeben werden. Dieses Prinzip offnet die Bahn fiir die Entfesselung, es setzt die Gewalt frei, indem es ihr einen Bereich einraumt, in der sie ungeteilt herrschen kann«.29 Freilich verrat der Sinn des Opfers wie der aller Religion, daB auch der rituelle Kern des Sakralen nichts Urspriingliches ist, sondern bereits Reaktion auf den Verlust einer intimen Einheit des Menschen mit der Natur. Auf diese konnen wir nur schlieBen, wenn wir uns erinnern, was einst dem Universum der unschuldigen Dinge durch der Menschen Hande Arbeit, also 'mit dem ersten Akt einer zwecktatigen Objektivierung, angetan worden ist. Batailles Version der Vertreibung aus dem Paradies liest sich so: »Durch die Einfiihrung der Arbeit trat an die Stelle der Intimitat, der Tiefe der Begierde und ihrer freien Entfesselung, von Anfang an die rationale Verkettung, bei der es nicht mehr auf die Wahrheit des Augenblicks ankommt, sondern auf das Endergebnis der Operationen - die erste Arbeit begriindet die Welt der Dinge ... Seit der Setzung der Welt der Dinge wurde der Mensch selbst zu einem der Dinge dieser Welt, zumindest fiir die Zeit, da er arbeitet. Diesem Scrucksal versuchte der Mensch zu allen Zeiten zu entkommen. In seinen eigenartigen Mythen, seinen grausamen Riten ist der Mensch seither auf der Suche nach seiner verlorenen Intimitat ... Immer geht es darum, der realen Ordnung, der Armseligkeit der Dinge etwas zu entreiBen und der gottlichen Ordnung etwas zuriickzugeben.«30 Wie die Religion bereits unter dem Fluch der Arbeit steht, nur fiir die Augenblicke der rituellen SelbstentauBerung des Subjekts die zerstorte Ordnung der Dinge restituiert und eine wortlose Kommunikation 28 Bataille (1975), 88.
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29 Bataille (1975),88.
mit ihr ermoglicht, so ist auch die reine Souveranitat nur in den Augenblicken der Ekstase zuriickzugewinnen. Was als souverane Gewalt in der Geschichte wirksam wird, was zuerst in der sakralen Macht der Priester, dann in der militarischen Macht. des Adels, schlieBlich in der absolutistischen, schon auf einen Staatsapparat gestiitzten Macht des Monarchen und seines Hofes dauerhafte Gestalt gewinnt, ist eine abgeleitete, durch die Verbindung mit profaner Macht verunreinigte Souveranitat. Alle rustorischen Formen der Souveranitat sind an ihrer differenzierenden, Rangunterschiede stiftenden Kraft zu erkennen. Der soziale Rang des Herrschers und derer, die an der Herrschaft partizipieren, ist ein Mischphanomen, an dem beides abzulesen ist: die Herkunft aus einer Sphare jenseits der Arbeit und der Dinge, wie auch die repressive und ausbeuterische Funktion der Herrschaft innerhalb des Systems der gesellschaftlichen Arbeit. Der weltgeschichtliche Formwandel der Souveranitat zeigt allerdings eine T endenz zur Entdifferenzierung der Rangunterschiede: »In der archaischen Gesellschaft halt der Rang an der geheiligten Gegenwart eines Subjekts fest, dessen Souveranitat nicht von den Dingen abhangt, sondern die Dinge in ihre Bewegung einbezieht. In der biirgerlichen Gesellschaft hangt er nur nochvon dem Eigentum an Dingen ab, die weder souveran noch sakral sind.«31 Das bedeutet nun nicht, daB die Souveranitat aus der biirgerlichen Welt ganz verschwindet. Dagegen spricht schon der Umstand, daB die private Verfiigung iiber die Produktionsmittel die Gesellschaft nicht nur objektiv in Klassen spaltet, sondern auch ein System von Privilegien begriindet, das die Lebenschancen einschlieBlich der Chancen, Anerkennun~ zu find en, differentiell verteilt. Die Rangunterschiede verlieren ihren politischen Charakter, aber alssolche verschwinden sie nicht schon dadurch, daB sie sich nicht mehr ausder Teilnahme an politischer Herrschaft, sondern aus der Stellung im ProduktionsprozeB herleiten. Auch der Politiker der westlichen Demokratien behalt, in Form eines durch Offentlichkeitsarbeit stabilisierten personlichen Ansehens, noch etwas yom Abglanz des souveranen Wesens, obwohl sich dieses Image allein aus der Verfiigung iiber eine medial verfliis31 Bataille (1979), 60.
sigte biirokratisierte Macht herleitet und nicht aus charismatischen Qualitaten. Der demokratische Politiker steht zwischen der Subjektivitat des Seins, wie sie im souveranen Herm' und noch im. faschistischen Fiihrer prasent ist, einerseits und der Objektivitatdei Macht andererseits: »Einzig der Emst eines kommunistischen Staatsmannes erlaubt uns zu erkennen, was in der biirgerlichen Gesellschaft nur eine Moglichkeit ist, die dauemd durchkreuzt wird: die Macht, die das Wachs tum cler Dinge fordert, unabhangig von dem Streb en nach dem Rang, fiir· den die Menschen sie zu verschwenden suchen.«32 Nach dem einigermaBen realitatsfremden Bild, das sich Bataille Anfang der 50er Jahre yom Stalinismus zurechtlegt, soll sich in dies em biirokratischen Sozialismus sowjetischer Pragung die soziale Entdifferenzierung vollenden; mit der Abscha,ffung sozialer Range wird erst hier die Souveranitat endgiiltig yom T erritorium der gesellschaftlichen Arbeit vertrieben. In allen historischen Gestalten der Herrschaft blieb die Souveranitat mit der Macht legiert. Nun erst, im Sowjetregime, tritt eine von allen Beimengungen der Souveranitat gereinigte, sozusagen entmischte, in diesem Sinne »objektiv« gewordene Macht auf, die sich der letzten religiosen Attribute entledigt hat. Diese objektive Macht ist, ohne Beglaubigung durch die Authentizitat eines Charismas, ausschlieBlich funktional, durch das System der gesellschaftlichen Arbeit, kurz: das Ziel der Entwicklung der Produktivkrafte definiert: »Wer die hochste Macht in ihrer Objektivitat ausiibt, hat die Verhinderung der Herrschaft der Souveranitat iiber die Dinge zum Zweck: er muB die Dinge von aller partikularen Unterordnung befreien; sie diirfen nur noch dem undifferenzierten Menschen subordiniert sein« - also dem Kollektivwillen einer streng egalitaren Gesellschaft.33 Die objektive Macht, die die Hiille der entzauberten Souveranitat abgeworfen hat, schlieBt sich in das Universum einer vollstandig verdinglichten, wir konnen auch sagen: zum System geronnenen Gesellschaft ein. Das fiktive Bild der versachlichten Sowjetherrschaft bildet das Aquivalent zu jener Idee, die Engels von St. Simon iibemommen hatte: an die Stelle der Herrschaft von Menschen iiber Menschen tritt die Verwaltung von Sachen. Diese 33 Bataille (1979), 68.
Pointe iiberrascht urn so mehr, als sich Batailles Klagen iiber die biirgerliche Negation von Glanz, Prunk und Verschwendung der feudalen Welt wie eine glatte Umkehrung von St. Simons beriihmter Parabel anhoren. 34 Saint-Simon behalt freilich bei Bataille nicht das letzte Wort. Die Feier eines militanten Kommunismus, der jede menschliche Regung dem gesellschaftspolitischen Ziel der Industrialisierung unterordnetund einen heroischen Materialismus auch in der Hinsicht bejaht, »daB das Werk der Befreiung (den Menschen) vollends auf ein Ding reduzieren wird«35 - diese paradoxe Wendung wird erst verstandlich, wenn man Batailles abschatziges Urteil iiber die zivilisationskritischen Potentiale der biirgerlichen Gesellschaft beriicksichtigt. Der Protest gegen die Verdinglichung der modernen Welt und die romantische Verklarung der traditionellen Formen von Souveranitat widersprechen zutiefst dem subversiven Impuls, von dem doch gerade die heterogenen Existenzen getragen werden - namlich jener, der asthetischen Avantgarde eigentiimlichen Radikalitat, »in jeder Richtung bis ans Ende der Moglichkeiten der Welt zu gehen.«36 Der Faschismus hat nur das Geheimnis des Kapitalismus ausgeplaudert: dieser konnte namlich von Anbeginn sein rationales Gehause der Horigkeit alleine auf dem unterirdischen Fundament der Uberreste sakraler und militarischer Herrschaft errichten. Diese verheimlichten, aber funktional notwendigen Relikte vorbiirgerlicher Souveranitat werden erst durch die yom Sowjetmarxismus vollzogene totale Angleichung der Menschen an ihre Produkte beseitigt: »Die Vollendung der Dinge kann nur dann eine befreiende Wirkung haben, wenn die alten Werte, die an unproduktive Ausgaben gebunden waren, verurteilt und abgebaut werden wie die katholischen Werte in der Reformation.«37 Bataille betrachtet also den Stalinismus als letzte Stufe eines Prozesses, in dem sich die beiden Spharen einer verdinglichten Praxis und einer reinen, eben erst am Ende von allen praktischen Funktionen gereinigten Souveranitat schrittweise voneinander trennen. Stalin folgt, ob nun. bewuBt oder nicht, der esoterischen Botschaft, die 34 Saint-Simons Gleichnis, in: J. Dautry (Hg.), Saint-Simon, Ausgewahlte Texte, BIn. 1957, 141 ff. 35 Bataille (1975), 179. 36 Bataille (1975), 169. 37 Bataille (1975), 177.
IV
Bataille aus Marxens exoterischer Lehre heraushort: »Indem Marx das Handeln der Veranderung der materiellen Uinstande vorbehalten (d. h. Praxis auf Arbeit, auf die Struktur zweckrationalen Handelns reduziert J. H.) hat, hat er ausdrucklichbehauptet, was der Calvinismus nur angedeutet hatte, namlich die radikale Unabhangigkeit der Dinge (der Okonomie) von anderen Bestrebungen (religioser oder ganz allgemein affektiver Art); umgekehrt hat er aber damit implizit die U nabhangigkeit der Ruckkehr des Menschen zu sich selbst (zur Tiefe, zur Intimitat seines Wesens) yom Handeln behauptet. Diese Ruckkehr ist jedoch erst moglich, wenn die Befreiung vollendet ist; sie kann erst beginnen, wenn das Handeln abgeschlossen ist«38 - und damit das von der Praxis philo sophie auf den Weg gebrachte Projekt einer in sich zur Totalitat ausgebildeten Arbeitsgesellschaft. Dieser welthistorische, zwischen Verdinglichung und Souveranitat anhangige ProzeB, der mit dem Vergleich einer Spharentrennung, der Entmischung von homogenen und heterogenen Elementen, Arbeit und Opfer enden soll, kann freilich nicht mehr dialektisch gedacht werden - jedenfalls nicht mehr nach dem subjektphilosophischen Muster einer Dialektik der Aufklarung, die auf die Konstellation von Vernunftmomenten vertraut. Die Souveranitat ist als das Andere der Vernunft konzipiert. Bataille kann seine Konstruktion der Moderne nicht dadurch, daB er ihr den Schein einer dialektischen gibt, plausibel machen. Er muB vor allem zwei Dinge erklaren: zum. einen die Dynamik des welthistorischen Prozesses der gesellschaftlichen Rationalisierung, zum anderen die eschatologische Erwartung, daB die totale Verdinglichung in Freiheit umschlagen wird. In die Beantwortung dieser Fragen setzt Bataille seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz.
Bataille hat sich seit den Anfangen seiner anthropologischen Studien immer wieder mit dem Phanomen des Potlatsch beschaftigt, mit jenem Verschwendungsfest, bei dem nordamerikanische Indianer ihre Rivalen mit Geschenken uberhaufen, urn diese durch die ostentative Vergeudung des eigenen Reichtums herauszufordern, zu demutigen und sich zu verpflichten. 39 Freilich interessieren ihn nicht eigentlich die sozialintegrativen Funktionen des Austauschs von Geschenken, also die Herstellung reziproker Verpflichtungen; er vernachHissigt dies en Aspekt zugunsten des auffalligeren Aspekts der Verausgabung, der Vernichtung und des intendierten Verlustes von Eigentum, das als Geschenk ohne direkte Gegengabe vergeudet wird. Der Potlatsch ist ein Beispiel fur den unproduktiven Konsum in Stammesgesellschaften. Allerdings ist nicht zu verkennen, daB der Schenkende seinen Reichtum keineswegs selbstlos verschwendet. Indem er Rivalen, die ihrerseits mit Geschenken konkurrieren ubertrumpft, sichert er sichPrestige und Macht, erwirbt ode; festigt er seinen sozialen Rang innerhalb des Kollektives. Die souverane Verachtung von Gebrauchswerten wird schon auf dieser Stufe durch kalkulierten Machterwerb gleichsam eingeholt. Diese Praxis tragt in sich den Widerspruch zwischen Souveranitat und Zweckrationalitat: sie legt »Wert, Prestige und Wahrheit des Lebens in die Negation des zweckdienlichen Gebrauchs der Guter, macht aber zugleich von eben dieser Negation einen zweckdienlichen Gebrauch.«40 Weil genau dieser Widerspruch strukturell in allen Forrnen historisch verkorperter Souveranitat angelegt ist, mochte Bataille mit seiner Hilfe erklaren, warum die in Akten der Verschwendung sich auBernde Souveranitat immer starker fur die Exploitation der Arbeitskraft genutzt wird und warum diese Quelle wahrer Autoritat schlieBlich zu »einer schandlichen Profitquelle« zusammenschrumpft. Nun erklart aber die Tatsache, daB sich Souveranitat und Macht von Anfang an amalgarniert haben und daB dieses Amalgam fur den 39 Bataille bezieht sich auf die klassische Untersuchung von M. Mauss, Essai sur Ie Don, in: Annee Sociologique, 1923124, 30ff., deutsch: Die Gabe, Ffm. 1968. 40 Bataille (1975), 105.
38 Bataille (1975), Ill.
268
II
1.
Zweck der Aneignung von Mehrwert genutzt werden kann, keineswegs schon, warum sich die geschichtlichen Tendenzen zur Erweiterung und Verdinglichung des Profanbereichs und zur Exterritorialisierung des Heiligen tatsachlich durchgesetzt haben. Auf eine politokonomische Erklarung im Stile des Historischen Materialismus kann sich Bataille nicht einlassen, weil diese sich auf Veranderungen innerhalb des Systems der gesellschaftlichen Arbeit beziehen, nicht aber auf das Zusammenspiel der Okonomie mit einer Gewalt, die nicht im Okonomischen, iiberhaupt nicht in Bereichen der kalkulierenden Vernunft verwurzelt ist, sondern als das Andere der Vernunft den StoffwechselprozeB des Menschen mit der auBeren Natur von Anbeginn transzendiert. Deshalb ist es nur konsequent, wenn Bataille an Max Webers religionsethische Erklarung des Kapitalismus ankniipft und diesen anhand des religionsgeschichtlichen Leitfadens bis injene Anfange der moralischen Triebregulierung zuriickverfolgt, die allen historischen Forme? der Souveranitat und der Ausbeutung vorausliegen. Ich will die Uberlegung in drei Schritten zusammenfassen. Der erste Gedanke ist von biblischer Einfachheit. 1m ProzeB der Menschwerdung konstituieren sich die aus dem animalischen Lebenszusammenhang heraustretenden Wesen als Subjekte nicht allein durch Arbeit, sondern zugleich durch Verbote. Die Menschen unterscheiden sich von den Tieren auch dadurch, daB ihr Triebleben Einschrankungen unterworfen wird. Gleichurspriinglich mit der Arbeit entsteht die sexuelle Scham und das BewuBtsein der Sterblichkeit. Die Begrabnisriten, die Tatsache der Bekleidung, das Inzesttabu zeigen, daB die altesten Tabus dem menschlichen Leichnam und der Sexualitat gelten - dem toten und dem nackten Korper. Beriicksichtigt man auch noch das Verbot des Mordes, tritt der allgemeinere Aspekt hervor: tabuisiert wird die Gewaltsamkeit von Tod und Sexualitat - eine Gewalt, die sich auch in den rituellen Hohepunkten des Festes und des religiosen Opfers auBert. Der ExzeB, aus dem die Zeugung hervorgeht, und der ExzeB des erlittenen oder gewaltsam herbeigefiihrten Todes sind mit den kultischen Exzessen verwandt, wobei Bataille »ExzeB« wortlich versteht: als Dberschreitung jener Grenzen, die durch die Individuierung gezogen sind. Die altesten N ormen sind wie Damme gegen den Sog einer
luxurierenden, iiberschwanglichen N atur, die die Lebensfiille und Kontinuitat ihres Seins sichert, indem sie die vereinzelten Existenzenverschlingt: »Wenn wir in den wesentlichen Verboten die Weigerung erblicken, die das Individuum der Natur als einer Verschwendung von Lebensenergie und einer Vernichtungs-Orgie entgegensetzt, konnen wir keinen Unterschied mehrmachen zwischen Tod und Sexualitat. Sexualitat und Tod sind nur die Hohepunkte eines Festes, das die Natur mit der unerschopflichen Masse feiert. Beide bedeuten eine grenzenlose Vergeudung, die sich die N atur im Widerspruch zu dem tiefen Wunsch jedes (individuierten J. H.) Wesens nach eigener Fortdauer leistet.«41 Die Sphare der Arbeit muB durch Normen eingegrenzt werden, die die Gewalttatigkeit einer exuberanten Natur »aus dem gewohnlichen Lauf der Dinge verbannt« (51). In einem zweiten Schritt macht Bataille indessen klar, daB die normativen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens unverstandlich bleiben, wenn man sie nur unter dem Gesichtspunkt interpretiert, was sie fiir die Bestandssicherung des Systems der gesellschaftlichen Arbeit leisten. Aus diesem funktionalistischen Blickwinkel kann nicht erklart werden, woraus denn die Verbote ihre obligatorische Kraft iiberhaupt ziehen. Schon Durkheim hatte gesehen, daB die Normgeltung nicht empiristisch auf die mit den Verboten konventionell, d. h. auBerlich verkniipften Sanktionen zuriickgefiihrt werden kann. Vielmehr verdanken Normen ihre bindende Kraft der Autoritat eines Heiligen, dem wir uns mit der Ambivalenz von Schrecken und Entziicken nahern, ohne es je zu beriihren. Diesen Sachverhalt deutet Bataille aus seinem asthetischen Erfahrungshorizont so, daB fiir die altesten Normen eine tiefe Zweideutigkeit konstitutiv ist: der Geltungsanspruch von Normen ist in der Erfahrung der verbotenen und gerade darum verlockenden Normiiberschreitung fundiert, d. h. in der Erfahrung des Sakrilegs, in dem die Gefiihle der Angst,.des Ekels und des Entsetzens mit Entziickung und betaubendem Gliick verschmelzen. Bataille spricht von der tiefreichenden Verschwisterung von Gesetz und Gesetzesverletzung. Die verniinftige Welt der Arbeit wird durch Verbote begrenzt und begriindet, jedoch sind die Verbote selbst keineswegs 41 Bataille (19 82), 57.
Gesetze der Vernunft. Sie offnen vielmehr der profanen Welt das Tor zur heiligen und beziehen aus dieser die Leuchtkraft der Faszination: »Am Anfang hatte eine ruhige Opposition (der Verbote) gegen die Gewalt (der inneren Natur J. H.) nicht geniigt, um die beiden Welten zu scheiden. Hatte die Opposition nicht selbst an der Gewalttatigkeit teil gehabt ... , die Vernunft allein hatte nicht geniigend Autoritat besessen, die Grenze des Ubergangs zu bestimmen. Nur uniiberlegte Furcht und Entsetzen konnten angesichts maBloser Entfesselungen Widerstand leisten. Das ist die Natur des Tabus; es ermoglicht eine Welt der Ruhe und der Vernunft, ist aber selbst in seinem Prinzip ein Zittern, das nicht die Intelligenz, sondern das Gemiit befallt.«42 Die erotische Erfahrung ist der religiosen darin verwandt, daB sie das Einverstandnis mit den altesten Verboten an die Ekstase des iiberwundenen, auf die Profanierung folgenden Schreckens bindet: »Die innere Erfahrung der Erotik verlangt von dem, der sie macht, eine nicht weniger groBe Sensibilitat gegeniiber der Angst, die das Verbot begriindet, als fiir das Verlangen, das zu seiner Ubertretung fiihrt. Es ist die religiose Sensibilitat, die Verlangen und Schrecken, intensive Lust und Angst stets eng miteinander verbindet«(3 5). An anderer Stelle beschreibt Bataille die Phasen des schwindelertegenden Exzesses als Ekel, dann die Uberwindung des Ekels, auf die der Taumel folgt. 43 42 Bataille (1982), 59. 43 Was Bataille die innere Erfahrung des Erotischen nennt, hatte M. Leiris 1931 in den von Bataille herausgegebenen ,Documents< anhand einer Photographie beschrieben, die eine nackte Frau mit Ledermaske darstellt; diese Maske war nach einem Enrwurf vonW. Seabrook, der lange Zeit an der Elfenbeinkiiste Studien getrieben hatte, hergestellt worden. Der Text von Leiriszeigt, wie damals anthropologische Feldforschung, Exotismus in der Kunst und Erotismus sowohl in der personlichen Erfahrung wie in der Literatur ein Biindnis eingehen. Leiris stellt sich die sakrilegische Freude und die satanische Lust vor, die der Fetiscrust im Anblick des Korpers der maskierten und damit zum Gattungswesen entindividuierten Frau empfindet: ,>Vollbewuih wird so die Liebe - da das Gerurn symbolisch durch die Maske erdriickt wird - auf einen naturhaften und bestialischen ProzeB reduziert, die Fatalitat, die uns niederzwingt, ist endlich gebandigt. SchlieBlich ist diese Frau dank der Maske in unseren Handen nur noch die N atur selbst, von blinden Gesetzen gestaltet, cihne Seele oder Personlichkeit, eine Natur, die allerdIDgs dies eine Mal vollstandig an uns gefesselt ist, wie auch diese Frau gefesselt ist. Dei Blick, die Quintessenz des menschlichen Ausdrucks, ist eine zeitlang geblendet, was der Frau eine noch holli-
Mit einem dritten Schritt gelangt schlieBlich Bataille zu der Moralkritik, die die Briicke zu Max Webers Religionssoziologie schlagt. Er betrachtet die Religionsentwicklung von den archaischen Riten zu den Weltreligionen, von den jiidischen Anfangen des Monotheismus bis zum Protestantismus als einen Weg der ethischen Rationalisierung. Luther und Calvin bilden den Fluchtpunkt einer Entwicklungslinie, auf der die religiosen Grundbegriffe moralisiert und ineins damit die religiosen Erfahrungen spiritualisiert werden. Das ambivalente, Entsetzen und Entziicken·. auslosende Heilige wird domestiziert und zugleich aufgespalten. Der Erzengel Luzifer wird aus dem Himmel verstoBen. Dem Segen des Himmels steht das profane· Bose gegeniiber; zusammen mit dem diabolischen Teil des Heiligen wird auch das Erotische der Welt zugeschlagen und als Siinde des Fleisches verurteilt. Mit dieser Disambiguierung des H eiligen gewinnt das SiindenbewuBtsein einen rein moralischen Charakter. Wenn aber der religiose wie der sinnliche ExzeB nicht langer den Zugang zum Sakralen bahnen kann, lost sich die normative Geltung der Gesetze yom autorisierenden Erfahrungshintergrund des Exzesses, d. h. der gewagten, experimentellen Gesetzesiiberschreitung abo In der jiidisch-christlichen Tradition kann sich eine autonome Moral nur herausbilden, weil die Dialektik von Verbot und Uberschreitung sistiert wird, weil das Heilige die profane Welt nicht mehr mit sei,nen Blitzen durchzuckt. Batailles Moralkritik richtet sich nicht gegen die Moral als solche - diese ist erst das ,Ergebnis einer Rationalisierung religioser Weltbilder, die den schere und unterirdischere Bedeutung verleiht. Und der Mund ist, dank des schmalen Spalts, der allein ihn erkennen laBt, auf die anirnalische Rolle einer Wunde reduziert. Die gelaufige Anordnung der Schmuckelemente schlieBlich ist ganzlich auf den Kopf gestellt; der Korper ist nackt und der Kopf maskiert. All dies sind Elemente, die aus den Lederstiicken (einer Materie, aus der die Stiefel und Peitschen sind) unerhorte Werkzeuge machen, die dem wunderbar entsprechen, was die Erotik in Wahrheit ist: ein Mittel, aus sich herauszugehen, die Bande zu zerreiBen, die die Moral, der Verstand und die Sitten einem auferlegen, eine Weise zugleich, die bosen Krafte zu bannen, Gott und den ihn vertretenden Hollenhunden der Welt die Stirn zu bieten, indem man ihr Eigentum, das gesamte Universum, in einem seiner besonders bedeutsamen, aber ruer nicht mehr unterschiedenen Teilen in Besitz nimmt und seinem Zwang unterwirft.« M. Leiris, Das »caput mortuum« oder die Frau des Alchernisten, in: ders., (1981), 260-262. 273
Zugang zu einem seiner Komplexitat beraubten, spiritualisierten und vereindeutigten, individuierten und als Gott in einemJenseits konzentrierten Heiligen lizensiert. Der Glaubige entwickelt in dem MaBe ein nur noch moralisches BewuBtsein, wie er von den religiosen und sexuellen Erfahrungen ekstatischer Selbstiiberschreitung abgeschnitten wird. Insofern erklart die Moralentwicklung die Tendenz zur fortschreitenden Differenzierung zwischen den Bereichen der Religion und der Okonomie, des Opfers und der Arbeitsie erklart die Expansion und Verdinglichung des profanen Lebensbereichs unter einer immer diinner werdenden Decke souveraner, den Quellen der Souveranitat immer weiter entriickten Gewalten. In diese Perspektive fiigt sich Webers Deutung der protestantischen Ethik zwanglos ein: »Religion und Okonomie werden in ein und derselben Bewegung von dem befreit, was sie jeweils belastet, namlich die Religion von der profanen Berechnung und die Okonomie von auBerokonomischen Schranken.«44 Auch wenn wir diese Erklarungsstrategie im Hinblick auf den Kapitalismus fiir aussichtsreich halten wiirden, ist freilich nicht zu sehen, wie sie fiir die Analyse des vollstandig sakularisierten Unternehmens der autoritar gesteuerten sowjetischen Industrialisierung fruchtbar gemacht werden konnte. So bleibt die Frage offen, warum die prognostizierte Entmischung, die radikal durchgefiihrte Trennung der Spharen einer durchrationalisierten Arbeitsgesellschaft auf der einen, und der vollstandig exterritorialen, abgeschnittenen und unzuganglich gewordenen Souveranitat auf der anderen Seite in einen Zustand umschlagen solI, der unter Bedingungen der entwickelten Industriegesellschaft die Energien der urspriinglichen Souveranitat wieder freisetzt: »Ware die vollstandige Ausbildung, die Stalin dem vollendeten Menschen des Kommunismus geben wollte, ihres Namens einigermaBen wiirdig, dann kame dieser Mensch in einer Zeit, in der die Werke der materiellen Zivilisation nicht aufgegeben werden konnen, jener Art Souveranitat am nachsten, die, verkniipft mit der freiwilligen Achtung der Souveranitat des anderen, die vorzeitlichen Hirten und Jager auszeichnete. Wenn freilich die letzteren die Souveranitat des anderen achteten,
so taten sie es nur faktisch«45 - wmrend die befreite Menschheit, so muB man wohl erganzen, die reziproke Achtung der Souveranitat eines jeden durch alle zur moralischen Grundlage ihres Zusammenlebens machen wiirde. Bataille muB den abenteuerlichen Umschlag des Stalinismus in einen libertaren Sozialismus erklaren, ohne auf die Denkfigur einer in sich dialektischen Vernunftbewegung zuriickgreifen zu konnen. Dieser Herausforderung begegnet er mit seinem Projekt einer Allgemeinen Okonomie. Bisher ist die Okonomie, einschlieBlich der Politischen Okonomie und ihrer Kritik, unter dem beschrankten Gesichtspunkt durchgefiihrt worden, wie knappe Ressourcen innerhalb des Energiekreislaufes der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens effektiv genutzt werden konnen. Diesem partikularen Gesichtspunkt stellt Bataille nun den allgemeinen der Betrachtung eines kosmisch erweiterten Energiehaushaltes gegeniiber. Aufgrund dieses Perspektivenwechsels, den er in Analogie zur Umstellung von der betriebswirtschaftlichen Aktor- zur volkswirtschaftlichen Systemperspektive vollzieht, verkehrt sich auch die okonomische Grundfrage: nicht mehr die Nutzung knapper Ressourcen, sondern die uneigenniitzige Verausgabung iiberfliissiger Ressourcen wird zum Schliisselproblem. Bataille g~ht namlich von der biologischen Annahme aus, daB der lebende Organismus mehr Energie ansammelt, als er zur Reproduktion seines Lebens verbraucht. Die iiberschiissige Energie wird zum Wachstum verwendet. Wenn dieses zum Stillstand gekommen ist, muB der nicht absorbierte UberschuB an Energie unproduktiv verausgabt werden - die Energie muB ohne Gewinn verloren gehen. Das kann grundsatzlich in »glorioser« oder in »katastrophischer« Form geschehen. Auch das soziokulturelle Leben steht unter dem Druck iiberschiissiger Energie. Diese kann nun in verschiedener Weise kanalisiert werden, z. B. in der demographischen, raumlichen oder sozialen Ausdehnung von Kollektiven oder in der Steigerung von Produktion und Lebensstandard, allgemein: in der Zunahme von Komplexitat. Darin findet das organische Wachstum ein gesellschaftliches Aquivalent. Auffalliger ist die Absorption der iiberschiissigen Lebensenergien durch Tod und Fortpflanzung, durch Vernichtung individueller
44 Bataille (1975), 164.
45 Bataille (1975),282.
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Existenzen und die Erzeugung neuer Generationen, die wiederum der Vernichtung anheimfallen. Diesem Luxus der Natur entspricht der Luxus der herrschenden sozialen Schichten. Die souverane Verschwendung, ob nun in den okonomischen Formen des unproduktiven Konsums oder in den erotischen und religiosen Formen des Exzesses, erhalt so einen zentralen Platz in der lebensphilosophisch gedeuteten Okonomie des Weltalls. Hingegen verstarken die Entfesselung der Produktivkrafte und das kapitalistische Wachstum, iiberhaupt die industrielle Entwicklung die Dberschiisse, die durch produktiven Verbrauch allein nicht absorbiert werden konnen. In der gleichen Richtung wirken die disziplinierenden Krafte der Moral, die Verabscheuung des Luxus, die Verfemung der souveranen Gewalten, die AusschlieBung des Heterogenen. Wenn aber der iiberschieBende Reichtum nicht auf gloriose, also lebenssteigernde, exaltierende Weise vergeudet werden kann, bieten sich die katastrophischen Formen der Vergeudung als einziges Aquivalent - imperialistische Abenteuer, globale Kriege; heute konnten wir die okologische Verseuchung und die atomare Zerstorung hinzufiigen. Spekulationen iiber das Gleichgewicht im Energiehaushalt des Kosmos und der Weltgesellschaft sind es nun, die Bataille fiir seine Erwartung ins Feld fiihrt, daB die totale Verdinglichung in eine Resurrektion der reinen souveranen Gewalt umschlagen miisse. Denn die universal gewordene Arbeitsgesellschaft wird die nicht absorbierten Dberschiisse so immens steigern, daB die Inszenierung von Verschwendungsorgien, von Verausgabungen groBen Stils unvermeidlich wird - sei es in Form absehbarer Katastrophen oder eben in der Form einer libertaren Gesellschaft, die ihren Reichtum zur souveranen Verschwendung freigibt, was bedeutet: zu Exzessen, zur Selbstiiberschreitung der Subjekte, zur Entgrenzung der Subjektivitat iiberhaupt. Auf den Gehalt dieses im schlechten Sinne metaphysis chen Weltbildes, das in der anthropologisch motivierten Form einer Aufhebung der Okonomie vorgefiihrt wird, brauche ich nicht einzugehen. Ob nun aber Wissenschaft oder bloB Metaphysikersatz - in beiden Fallen sieht sich Bataille mit derselben Schwierigkeit konfrontiert, vor der der wissenschaftlich-ideologiekritisch verfahrende Nietzsche gestanden hatte. Wenn die Souveranitat und deren Quelle, das
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46 Bataille (1975), 106.
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Sakrale, sich zur Welt des zweckrationalen Handelns schlechthin heterogen verhalten; wenn sich das Subjekt und die Vernunft allein dadurch konstituieren, daB sie jene Gewalten ausgrenzen; wenn das Andere der Vernunft mehr ist als das Irrationale oder das Unerkannte, namlich das Inkommensurable, das von der Vernunft nicht beriihrt werden kann - es sei denn, urn den Preis der Explosion des verniinftigen Subjektes -, dann gibt es keine Bedingungen, unter denen sinnvollerweise eine Theorie als moglich vorgestellt werden konnte, welche iiber den Horizont des der Vernunft Zuganglichen hinausgreift und die Interaktion der Vernunft mit einer transzendenten Ursprungsmacht thematisiert, geschweige denn analysiert. Bataille hat dieses Dilemma wohl gespiirt, aber nicht aufgelost. Er hat die Moglichkeiten nicht-objektivierender Wissenschaft bis zu dem Extrem durchdacht, wo das erkennende Subjekt nicht nur an der Konstitution des Gegenstandsbereiches beteiligt ist, nicht nur durch vorgangige Strukturen mit diesem zusammenhangt und kommuniziert, nicht nur intervenierend in ihn einbezogen ist, sondern wo das erkennende Subjekt »auf seinem Siedepunkt« die eigene Identitat aufgeben muB, urn jene Erfahrungen, denen es in der Ekstase ausgesetzt war, wie einen Fischzug aus dem entfesselten Ozean der Gefiihle doch noch einzuholen. Andererseits nimmt er hartnackig Objektivitat der Erkenntnis, selbst Unpersonlichkeit der Methode sogar fiir diese Wissenschaft »von innen«, fiir eine Analyse der »inneren Erfahrung« in Anspruch. So bleibt es in dieser zentralen Frage bei einem unschliissigen Hin und Her. An manchen Stellen gleitet Bataille unmerklich in den Sog einer Dialektik der AuWarung zuriick - immer dann, wenn er seine philosophische und wissenschaftliche Bemiihung unter das Ziel stellt, reflexive Einsichten zu gewinnen, welche iiber die Verwandlung der dumpf Betroffenen in selbstbewuBt Beteiligte praktische Gewalt erlangen sollen. Dann wieder wird er der Paradoxie einer totalisierten, selbstbeziiglichen Kritik der Vernunft inne: »Wir konnen zum letzten Gegenstand der Erkenntnis nicht vordringen, bhne daB sich die Erkenntnis, die den Menschen auf untergeordnete und nutzbare Dinge reduzieren will, selbst auflost ... Niemand kann erkennen und sich zugleich vor der Vernichtung bewahren.« 46
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Am Ende seines Lebens scheint Bataille die Moglichkeit, die ihm seine Doppelexistenz als Schriftsteller und Philosoph einraumt, zu einem Ruckzug von Philosophie und Wissenschaft nutzen zu wollen. Der Erotismus fuhrt ihn zu der Einsicht, daB die Erkenntnis des Wesentlichen einer mystischen Erfahrung, dem augenschlieBenden Schweigen vorbehalten ist. Das diskursive Erkennen bleibt hoffnungslos in den Kreis sprachlicher Sequenzen eingeschlossen: »Die Sprache sammelt die Totalitat dessen, was fur uns Bedeutung hat, aber zerstreut sie zugleich ... Unsere Aufmerksamkeit bleibt auf jenes Ganze gerichtet, das uns in der Folge der Satze entgleitet, aber wir konnen nicht erreichen, daB das Aufblitzen der sukzessiven Satze der groBen Erleuchtung weicht.«47 Der erotische Schriftsteller kann die Sprache immerhin so verwenden, daB der Leser von der Obszonitat uberfallen, vom Schock des Nicht-Erwartbaren und Un-Vorstellbaren erfaBt, in die Ambivalenz von Ekel und Lust hineingesturzt wird. Aber die Philosophie kann nicht in gleicher Weise aus dem Universum der Sprache ausbrechen: »sie verwendet die Sprache auf eine solche Weise, daB auf sie niemals das Schweigen folgt. So daB der hochste Augenblick notwendigerweise die philosophische Fragestellung uberragt.«48 Mit diesem Satz dementiert aber Bataille seine eigenen Anstrengungen, die radikale Vernunftkritik mit Mitteln der Theorie durchzufuhren.
48 Ebd.
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IX. Vernunftkritische Entlarvung der Humanwissenschaften: Foucault I
Foucault steht zu Bataille nicht, wie Derrida zu Heidegger, in einem Verhaltnis der Schulerschaft und der Nachfolge. Es fehlt schon das auBere Band eines Faches, in dessen Tradition beide gemeinsam aufgewachsen waren. Bataille hat sich mit Ethnologie und Soziologie befaBt, ohne jemals ein akademisches Amt innezuhaben; Foucault war Professor fur die Geschichte der Denksysteme am College de France. Dennoch nennt Foucault Bataille als einen seiner Lehrmeister. Naturlich fasziniert ihn Bataille als derjenige, der sich gegen den denaturierenden Sog unserer aufgeklarten Diskurse uber Sexualitat stemmt und der der Ekstase, der sexuellen wie der religiosen, ihren eigenen, spezifisch erotischen Sinn zUrUckgeben will. Vor allem bewundert aber Foucault in Bataille denjenigen, derfiktive und analytische Texte, Romane und Reflexionen neb eneinanderstellt, der die Sprache mit Gesten der Verausgabung, des Exzesses und der Grenzuberschreitung bereichert, urn aus der Sprache der triumphierenden Subjektivitat auszubrechen. Auf die Frage nach seinen Lehrmeistern gibt Foucault die instruktive Antwort: »Lange Zeit herrschte in mir ein schlecht geloster Konflikt zwischen der Leidenschaft fur Blanchot und Bataille einerseits, dem Interesse fur gewisse positive Studien wie die von Dumeziel und Levi-Strauss andererseits. Aber eigentlich haben diese beiden Richtungen, deren einzigen gemeinsamen Nennervielleicht das religiose Problem bildet, in gleicher Weise dazu beigetragen, mich zum Gedanken des Verschwindens des Subjekts zu fuhren.«l Die strukturalistische Revolution hat Foucault ebenso ergriffen wie andere Generationsgenossen; sie hat ihn wie Derrida zum Kritiker des von Kojeve bis Sartre herrschenden phanomenologisch-anthropologischen Denkens gemacht und zunachst auch in der Wahl seiner Methoden bestimmt. Diesen von Levi-Strauss angefuhrten »negati1 Foucault (1974), 24.
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yen Diskurs uber das Subjekt« versteht er zugleich als Kritik an der Moderne. Nietzsches Motive der Vernunftkritik gelangen zu Foucault nicht uber Heidegger, sondern uber Bataille. SchlieBlich verarbeitet er diese AnstoBe auch nicht als Philosoph, sondern als Schuler von Bachelard, und zwar als ein Wissenschaftshistoriker, der sich, anders als in dem Fache ublich, eher fur die Human- als fur die Naturwissenschaften interessiert. Diese drei Traditionslinien, die mit den Namen Levi-Strauss, Bataille und Bachelard gekennzeichnet werden konnen, verbinden sich in dem ersten Buch, das Foucault uber den engeren Kreis von Fachgenossen hinaus bekannt gemacht hat. »Wahnsinn und Gesellschaft« (1961) ist eine Studie zur Vor- und Urgeschichte der Psychiatrie. In den diskursanalytischen Mitteln und in der methodischen Verfremdung der eigenen Kultur macht sich das Vorbild der strukturalistischen Ethnologie bemerkbar, Den vernunftkritischen Anspruch erhebt bereits der Untertitel, der eine »Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft« verheiBt. Foucault will zeigen, wie sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das Phanomen des Wahnsinns als einer Geisteskrankheit konstituiert. Mit diesem Ziel rekonstruiert er die Entstehungsgeschichte des Diskurses, in der die Psychiater des 19. und 20. Jahrhunderts uber den Wahnsinn sprechen. Was dieses Buch uber die kulturgeschichtlich angelegte Studie eines Wissenschaftshistorikers hinaushebt, ist ein philosophisches Interesse am Wahnsinn als einem Komplementarphanomen zur Vernunft: den Wahnsinn halt sich eine monologisch gewordene Vernunft yom Leibe, urn sich seiner gefahrlos als eines von vernunftiger Subjektivitat gereinigten Gegenstandes bemachtigen zu konnen. Die Klinifizierung, die die Geisteskrankheit als medizinisches Phanomen erst. herstellt, analysiert Foucault als Beispiel fur jene Prozesse der AusschlieBung, Verfemung und Ausgrenzung, aus deren Spuren Bataille die Geschichte der abendlandischen Rationalitat herausgelesen hatte. Die Wissenschaftsgeschichte erweiwrt sich unterFoucaults Handen zur Rationalitatsgeschichte, weil sie die Konstituierung des Wahnsinns spiegelbildlich zur Konstituierung der Vernunft verfolgt. Foucault erklart programmatisch, daB er »die Geschichte der Grenzen schreiben (will), ... mit denen eine Kultur etwas zuriick280
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weist, was fur sie aufierhalb liegt.«2 Er reiht den Irrsinn in die Reihe jener Grenzerfahrungen ein, in denen sich der abendlandische Logos auf hochst ambivalente Weise einem Heterogenen gegenuber sieht. Zu den grenzuberschreitenden Erfahrungen gehoren die Beruhrung mit und das Eintauchen in die orientalische Welt (Schopenhauer), die Wiederentdeckung des Tragischen, uberhaupt des Archaischen (Nietzsche); das Eindringen in die Sphare der Tr1iume (Freud) und der archaischen Verbote (Bataille), auch der von anthropologischen Berichten genahrte Exotismus. Dabei spart Foucault, abgesehen von einem Hinweis auf Holderlin, die Romantik aus. 3 2 M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Ffm. 1969,9. 3 Bereits Schelling und die romantische Naturphilosophie hatten ja den Wahnsinn als das durch Exkommunikation erzeugte Andere der Vernunft begriffen, freilich in einer Perspektive der Versohnung , die Foucault fremd ist. Indem das kommunikative Band zwischen dem Wahnsinnigen Coder dem Verbrecher) und der verniinftig gebildeten Totalitat des offentlichen Lebenszusammenhangs zerschnitten wird, erleiden beide Teile eine Deformation - entstellt sind diejenigen, die nun auf die zwanghafte Normalitat einer nur noch subjektiven Vernunft zumckgeworfen sind, nicht weniger als die aus der Normalitat VerstoBenen. Der Wahnsinn und das Bose verneinen die Normalitat, indem sie ihr auf doppelte Weise gefahrlich werden - als das, was die Normalitat stort, deren Ordnung in Frage stellt, aber auch als das, was der Normalitat, indem es sich ihr entzieht, den eigenen Mangel vor Augen fiihrt. Diese Kraft aktiver Verneinung konnen Irre und Verbrecher freilich nur als verkehrte Vernunft, also dank der von der kommunikativen Vernunft abgespaltenen Momente entfalten. Diese idealistische Denkfigur, die eine der Vernunft selber innewohnende Dialektik erfassen soil, hat Foucault mit Bataille und Nietzsche verabschiedet. Verniinftige Diskurse wurzeln stets in Schichten, die die monologische Vernunft begrenzen. Diese stummen, der okzidentalen Rationalitat zugrunde liegenden Sinnesfundamente sind seIber sinnlos; sie miissen wie die sprachlosen Monumente einer Vorzeit exhumiert werden, wenn die Vernunft im Austausch mit, und in Opposition zu ihrem Anderen ans Licht kommen soil. In diesem Sinne ist der Archaologe das Vorbild fUr den vernunftgeschichtlich operierenden Wissenschaftshistoriker, der sich von Nietzsche damber hat belehren lassen, daB Vernunft ihre Struktur allein auf dem Wege des AusschlieBens heterogener Elemente, allein auf dem Wege der monadischen Zentrierung in sich selbst ausbildet. Es gibt keine Vernunft vor der monologi. schen. Deshalb erscheint der Wahnsinn nicht als Resultat eines Spaltungsvorgangs, in dessen Verlauf sich die kommunikative Vernunft zur subjektzentrierten erst verhartet hatte. Sein BildungsprozeB ist zugleich der der Vernunft, die in keiner anderen als der okzidentalen Gestalt einer sich auf sich beziehenden Subjektivitat auftritt.
Gleichwohl schlagt in »Wahnsinn und Gesellschaft« noch ein romantisches Motiv durch, das Foucault spater preisgeben wird. Wie Bataille in den paradigmatischen Erfahrungen ekstatischer Selbstentgrenzung und orgiastischer Selbstauflosung den Einbruch heterogener Gewalten in die homogene Welt eines zwanghaft normalisierten Alltags entdeckt, so vermutet Foucault hinter dem psychiatrisch erzeugten Phanomen der Geisteskrankheit, iiberhaupt hinter den verschiedenen Masken des Wahnsinns, damals noch ein Authentisches, dem nur der versiegelte Mund geoffnet werden muB: »Man miiBte mit aufmerksamem Ohr sich jenem Geraune der Welt zuneigen und versuchen, die vielen Bilder, die nie in der Poesie ihren Niederschlag gefunden haben, die vielen Phantasmen wahrzunehmen, die nie die Farben des Wachzustandes erlangt haben.«4 GewiB erkennt Foucault sogleich die Paradoxie der Aufgabe, die Wahrheit des Wahnsinns »in seinem Aufwallen noch vor jedem ErfaBtwerden durch die Gelehrsamkeit« zu erhaschen: »Die Wahrnehmung, die diese Worte in ungebandigtem Zustande zu erfassen sucht, gehort notwendig zu einer Welt, die sie bereits in den Griff genommen hat.« Gleichwohl schwebt dem Autor hier noch eine Diskursanalyse vor, die sich tiefenhermeneutisch an die Ursprungsorte jener anfanglichen Verzweigung von Wahnsinn und Vernunft zuriicktastet, urn im Gesprochenen das Ungesagte zu dechiffrieren. s Diese Absicht weist in die Richtung einer Negativen DialekJene "Vemunft« des deutschen Idealismus, die urspriinglicher sein will als das, was sich in der europaischen Kultur verkorpert hat, erscheint nun als genau jene Fiktion, mit der sich der Okzident in seiner Besonderheit zu erkennen gibt, mit der ersich eine schimansche Allgemeinheit anmaBt und seinen globalen Herrschaftsanspruch zugleich verschleiert und durchsetzt. 4 M. Foucault (1969), 13· 5 »Da uns die urspriingliche Reinheit fehlt, muB die Struktu1'lll1,tersuchung zu jener Entscheidung zuriickfiihren, die Vemunft und Wahnsinn gleichzeitig trennt und verbindet. Sie muB versuchen, den standigen Austausch, die dunkle gemeinsame Wurzel und die urspriingliche Gegeneinanderstellung zu entdecken, die ebensosehr der Einheit wie der Opposition von Sinn und Irrsinn einen Sinn verleiht. So wird die blitzartige Entscheidung wieder erscheinen konnen, die innerhalb der geschichtlichen Zeit heterogen, aber auBerhalb dieser ungreifbar ist, die jenes Gemurmel dunkler Insekten von der Sprache der Vemunft und den Versprechungen der Zeit trennt.« (Foucault, 1969, 13)
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tik, die mit den Mitteln des identifizierenden Denkens aus dessen Bannkreis auszubrechen versucht, urn in der Entstehungsgeschichte der instrumentellen Vernunft an den Ort der urspriinglichen Usurpation und der Abspaltung einer sich monadisch verfestigenden Vernunft von Mimesis zu gelangen, und diesen wenigstens aporetisch einzukreisen. Ware das seine Absicht, miiBte Foucault archaologisch herumklettern in der Triimmerlandschaft einer zerstorten objektiven Vernunft, aus deren stummen Zeugen sich retrospektiv immer noch die Perspektive einer (wenn auch langst widerrufenen) Versohnungshoffnung formen laBt. Das ist Adornos, nicht Foucaults Perspektive. Wer nichts als die nackte Gestalt der subjektzentrierten Vernunft entlarven will, darf sich nicht den Traumen iiberlassen, die diese Vernunft in ihrem »anthropologischen Schlummer« iiberfallt. Drei Jahre spater, im Vorwort zur »Geburt der Klinik«, ruft sich Foucault selbst zur Ordnung. Er will kiinftig auf den kommentierenden Umgang mit dem Wort, auf jede noch so tief unter die Oberflache des Textes dringende Hermeneutik verzichten. Er sucht nun hinter dem Diskurs iiber den Wahnsinn nicht mehr den Wahnsinn selbst, hinter der Archaologie des arztlichen Blicks nicht mehr jenen stummen Kontakt des Korpers mit dem Auge, der jedem Diskurs vorherzugehen schien. Er verzichtet, anders als Bataille, auf den evokativen Zugang zum Ausgeschlossenen und Verfemten - die heterogenen Elemente versprechen nichts mehr. Eine wie immer auch entlarvende Hermeneutik verbindet mit ihrer Kritik immer noch VerheiBung; davon soll sich eine erniichterte Archaologie freimachen: »Ware nicht eine Diskursanalyse moglich, die in dem, was gesagt worden ist, keinen Rest und keinen UberschuB (von Bedeutung), sondern nur noch das Faktum seines historischen Erscheinens voraussetzt? Man miiBte dann eben die diskursiven Tatsachen nicht als autonome Kerne vielfaltiger Bedeutungen behandeln, sondern als Ereignisse und funktionelle Elemente, die ein sich allmahlith aufbauendes System bilden. Der Sinn einer AuBerung ware nicht definiert durch den Schatz der in ihr enthaltenen Intentionen, durch die sie zugleich enthiillt und zuriickgehalten wird,· sondern durch die Differenz, die sie an andere, wirkliche und mogliche, gleichzeitige oder in der Zeit entgegengesetzte AuBerungen anfiigt. 28 3
So kame der systematische Gehalt der Diskurse zum Vorschein.«6 Hier deutet sich schon die Konzeption einer Geschichtsschreibung an, die Foucault, unter dem EinfluB Nietzsches, seit dem Ende der 60er Jahre als eine Art Antiwissenschaft den in die Vernunftgeschichte eingeordneten und damit abgewerteten Humanwissenschaften entgegensetzt. 1m Lichte dieser Konzeption wird Foucault seine friiheren Arbeiten uber den Wahnsinn (und das Entstehen der klinischen Psychologie) sowie uber die Krankheit (und die Entwicklung einer klinischen Medizin) als zum Teil »blinde Versuche« einschatzen. Zunachst will ich aber auf Themen hinweisen, die zwischen den fruhen und den spateren Arbeiten eine sachliche Kontinuitat herstellen. II
Schon in »Wahnsinn und Gesellschaft« untersucht Foucault die eigentumliche Verbindung von Diskursen und Praktiken. Dabei handelt es sich nicht urn den bekannten Versuch, eine intern nachkonstruierte Wissenschaftsentwicklung aus wissenschaftsexternen Bedingungen zu erklaren. An die Stelle der lnnenansicht einer problemgesteuerten Theoriegeschichte tritt von vornherein die strukturelle Beschreibung hoch selegierter, auffalliger Diskurse, die an jenen von der geistes- und problemgeschichtlichen Betrachtung eher verdeckten Bruchstellen einsetzt, also dort, wo ein neues Paradigma gegenein altes sich du~chzusetzen beginnt. 1m ubrigen sind die Diskurse der Wissenschaftler anderen Diskursen benachbart, sowohl den philosophischen Diskursen wie denen der akademischen Berufe, d.h. der A.rzte, Juristen, Verwaltungsbeamten, Theologen, Erzieher usw. Freilich stehen die Humanwissenschaften, die den hartnackig festgehaltenen Bezugspunkt der Foucaultschen Studien bilden, nicht nur im Kontext anderer Diskurse; noch wichtiger fur ihre Entstehungsgeschichte sind die stummen Praktiken, in die sie eingelassen sind. Darunter versteht Foucault die institutionell verfestigten, oft auch architektonisch verkorperten, rituell verdichteten Regulationen von Handlungsweisen und Gewohnheiten. In den Begriff der »Praktik« hat Foucault das Moment von 6 M. Foucault, Die Geburt der Klinik, Mii. 1973, 15.
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gewaltsamer, asymmetrischer EinfluBnahme auf die Bewegungsfreiheit anderer lnteraktionsteilnehmer aufgenommen. Juristische Urteile, polizeiliche MaBnahmen, padagogische Unterweisungen, lnternierungen, Zuchtigungen, Kontrollen, Formen des korperlichen und intellektuellen Drills sind exemplarisch fur das Eingreifen der vergesellschaftenden, organisierenden Krafte in das naturwuchsige Substrat leibhaftiger Kreaturen. Foucault erlaubt sich einen ganz und gar unsoziologischen Begriff des Sozialen. Und die Humanwissenschaften interessieren ihn von Anbeginn nur als Medien, die in der Moderne den unheimlichen ProzeB dieser Vergesellschaftung, namlich die Vermachtung konkreter, leibvermittelter lnteraktionen verstarken und vorantreiben. Ungeklart bleibt allerdings zunachst das Problem, wie sich Diskurse, wissenschaftliche und andere, zu Praktiken verhalten - ob die einen die anderen steuern; ob ihr Verhaltnis als Basis und Dberbau oder eher nach dem Modell kreisformiger Kausalitat oder als Zusammenspiel von Struktur und Ereignis gedacht werden sollte. Auch an den epochalen Einschnitten, die die Geschichte des Wahnsinns gliedern, hat Foucault bis zuletzt festgehalten. Vor dem diffusen, nicht deutlich gekennzeichneten Hintergrund des hohen Mittelalters, das wiederum auf die Anfange des griechischen Logos verweise, heben sich etwas klarer die Konturen der Renaissance ab, die ihrerseits als Folie fur das deutlich und mit Sympathie gekennzeichnete klassische Zeitalter (von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts) dient. Das Ende des 18. Jahrhunderts markiert sodann diePeripetie im vernunftgeschichtlichen Drama, jene Schwelle zur Moderne, die durch die Kantische Philosophie und die neuen Humanwissenschaften gebildet wird. Diesen Epochen, die ihre konventionellen N amen eher kultur- und sozialgeschichtlichen Zasuren verdanken, gibt Foucault, nach MaBgabe der wechselnden Konstellationen von Vernunft und Wahnsinn, eine tiefere Bedeutung. Dem 16. Jahrhundert schreibt er eine gewisse selbstkritische Unruhe und Offenheit im Umgang mit den Phanomenen des lrreseins zu. Noch hat die Vernunft eine osmotische Durchlassigkeitder Wahnsinn steht noch in Verbindung mit dem Tragischen und 7 M. Foucault (1969), 8f. Ich habe die soeben publizierten Bande II und III der »Geschichte der Sexualitat« nicht mehr beriicksichtigen konnen.
dem Seherischen, ist ein Ort apokrypher Wahrheiten; er hat die Funktion eines Spiegels, der die Schwachen der Vernunft ironisch entlarvt. Die Anfalligkeit fiir Illusionen gehort zum Charakter der Vernunft selbst. Wahrend der Renaissance ist aus der Beziehung der Vernunft zu ihrem Anderen noch nicht alle Reversibilitat getilgt. Vor diesem Hintergrund nehmen zwei Vorgange die Bedeutung von vernunftgeschichtlichen Schwellenereignissen an: die groBe Internierungswelle urn die Mitte des 17. Jahrhunderts, als z.B. in Paris, innerhalb weniger Monate des Jahres 1656, jeder hundertste Bewohner festgenommen und in Anstalten untergebracht wurde; sodann, am Ende des 18. Jahrhunderts, die Umwandlung dieser Internierungslager und Asyle in geschlossene Anstalten mit arztlicher Betreuung fiir medizinisch diagnostizierte Geisteskranke also die Geburt jener psychiatrischen Einrichtungen, die heute noch bestehen und deren Abschaffung von der antipsychiatrischen Bewegung propagiert wird. Beide Ereignisse, zunachst die wahllose Kasernierung von Wahnsinnigen, Kriminellen, NichtseBhaften, Libertins, Armen, Exzentrikern aller Art und spater dann die Einrichtung von Kliniken fiir die Behandlung geisteskranker Patienten, signalisieren zwei Arten von Praktiken; beide dienen der Ausgrenzung heterogener Elemente aus jenem sich schrittweise verfestigenden Monolog, den das am Ende zur allgemeinen Menschenvernunft erhobene Subjekt mit sich selber fiihrt, indem es rings urn sich herum alles zum Objekt macht. Wie in spateren Untersuchungen steht der Vergleich des klassischen Zeitalters mit der Moderne im Mittelpunkt. Beide Sorten von AusschluBpraktiken stimmen darin iiberein, daB sie eine Trennung erzwingen und rigoros jene Ziige aus dem Bilde des Wahnsinns tilgen, die der Vernunft ahnlich sind. Allein, die unterschiedslose Internierung alles Abweichenden bedeutet erst eine raumliche Segmentierung des sich selbst iiberlassenen Wiisten und Phantastischen, noch keine zahmende Konfrontation mit einem angsteinfloBenden Chaotischen, das als Leiden und als Pathologie der Ordnung der Natur wie der Menschen integriert werden muB: » W as die Klassik eingeschlossen hatte, war nicht nur eine abstrakte Unvernunft, in der sich Irre und Freigeister, Kranke und Verbrecher vermischten, sondern auch eine gewaltige Reserve an Phanta-
stischem, eine Welt von Monstern, die man in jener Nacht von Hieronymos Bosch ... verschlungen glaubte.«8 Erst im spaten 18. Jahrhundert wachst die Furcht vor einem Wahnsinn, der durch die Ritzen der Asyle nach auBen dringen konnte, wachst auch das Mitleid mit den Nervenkranken und ein Gefiihl der Schuld dafiir, daB man sie mit schmutzigen Verbrechern assoziiert und ihrem Schicksal iiberlassen hatte. Die klinische Reinigung der von nun an den Kranken vorbehaltenen Asyle geht Hand in Hand mit der wissenschaftlichen Objektivierung des Irreseins und der psychiatrischen Behandlung der Irren. Diese Klinifizierung bedeutet zugleich eine Humanisierung des Leidens und eine Naturalisierung der Krankheit. 9 Damit ist ein weiteres Thema beriihrt, das Foucault mit immer groBerer Intensitat verfolgen wird: der konstitutive Zusammenhang der Humanwissenschaften mit Praktiken einer iiberwachenden Isolierung. Die Geburt der psychiatrischen Anstalt, der Klinik iiberhaupt, ist beispielhaft fiir eine Form der Disziplinierung, die Foucault spater als die modeine Herrschaftstechnologie schlechthin beschreiben wird. Der Archetypus der geschlossenen Anstalt, den Foucault zunachst in der klinisch umfunktionierten Welt des Asyls entdeckt, kehrt in den Gestalten der Fabrik, des Gefangnisses, der Kaserne, der Schule und der Kadettenanstalt wieder. In diesen totalen Institutionen, welche die naturwiichsigen Differenzierungen des alteuropaischen Lebens ausloschen und den Ausnahmefall der Internierung zu einer Art Normalform des Internats erheben, sieht 8 M. Foucault (1969),367. 9 Foucault beschreibt eindrucksvoll ein Asyl, das in der Reformara des ausgehenden 18. Jahrhunderts, sozusagen unter den Blicken der Psychiater, sein Gesicht und seine Funktion tiefgreifend verandert: »Dieses Dorf bedeutete einst, daB die Wahnsinnigen untergebracht waren und daB so der Mensch der Vernunft vor ihnen geschiitzt war. J etzt manifestiert es, daB der (aussortierte) Irre befreit ist und sich in dieser Freiheit, die ihn mit Naturgesetzen auf eine Ebene stellt, wieder an den Vernunftmenschen anpaBt... Obwohl sich in den Institutionen noch nichts wirklich geandert hat, beginnt der Sinn der Internierung und des Ausschlusses sich zu verandern. Er nimmt langsam positive Werte an, und der neutrale, leere, nachtliche Raum, in dem man einst die Unvernunft wieder in ihr Nichts verwandelt hatte, beginnt, sich mit einer (medizinisch beherrschten) Natur zu bev6ikern, der der befreite Wahnsinn sich (als Pathologie) unterwerfen muB.« (Foucault (1969), 343. Zusatze in Klammern von mir.)
Foucault die Monumente des Sieges der reglementierenden Vernunft. Diese unterwirft sich nicht mehr nur den Wahnsinn, sondern sowohl die Bediirfnisnatur des einzelnen Organismus wie auch den gesellschaftlichen Korper einer Population im ganzen. Fiir die Anstalten gewinnt der objektivierende und priifende, der analytisch zerlegende, kontrollierende und alles durchdringende Blick eine strukturbildende Kraft; es ist der Blick des verniinftigen Subjektes, das alle bloB intuitiven Verbindungen mit seiner Umwelt verloren, alle Briicken intersubjektiver Verstandigung abgerissen hat, und dem in seiner monologischen Vereinsamung andere Subjekte nur mehr in der Stellung von Objekten teilnahmsloser Beobachtung zuganglich sind. In dem von Bentham entworfenen Panop10 ticon ist dieser Blick gleichsam architektonisch geronnen. Dieselbe Struktur steht an der Wiege der Humanwissenschaften. Es ist kein Zufall, daB diese Wissenschaften, allen voran die klinische Psychologie, aber auch Padagogik, Soziologie, Politologie und Kulturanthropologie, in die Machttechnologie, die in der geschlossenen Anstalt ihren architektonischen Ausdruck findet, gleichsam reibungslos einklinken konnen. Sie werden in Therapien und Sozialtechniken umgesetzt und bilden so das wirkungsvollste Medium der neuen, die Moderne beherrschenden Disziplinarge10 "An der Peripherie ein ringformiges Gebaude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes offnen; das Ringgebaude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebaudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach auBen, so daB die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genugt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Strafling, einen Arbeiter oder einen SchUler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen. Jeder Kafig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und standig sichtbar.« (M. Foucault, Uberwachen und Strafen, Ffm. 197 8, 25 6f.) Von den Funktionen des alten Kerkers - Einsperrung, Verdunkeln, Verbergen - bleibt nur die erste erhalten: die Einschrankung der Bewegungsfreiheit ist notig, urn die gleichsam experimentellen Bedingungen fur die Installierung des verdinglichenden Blicks zu erfiillen: "Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden: im AuBenring wird man vollstandig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralraum sieht man alles, ohne je gesehen zu werden« (ebd. 259).
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walt. Das verdanken sie dem U mstand, daB der penetrante Blick des Humanwissenschaftlers jenen Zentralraum des Panoptikons einnehmen kann, von dem aus man sieht, ohne gesehen zu werden. Schon in der Studie iiber die Geburt der Klinik hat Foucault den am menschlichen Leichnam geschulten Blick des Anatomen als das »konkrete Apriori« der Wissenschaften yom Menschen begriffen. Bereits in der Geschichte des Wahnsinns ist er dieser urspriinglichen Affinitat zwischen der Anlage des Asyls und der Arzt-Patienten-Beziehung auf der Spur. In beidem, in der Organisation der iiberwachten Anstalt wie in der klinischen Beobachtung des Patienten, ist jene Scheidung zwischen Sehen und Gesehenwerden vollzogen, die den Gedanken derKlinik mit dem Gedanken einer Wissen.,. schaft yom Menschen verbindet. Es ist der Gedanke, der gleichurspriinglich mit der subjektzentrierten Vernunft zur Herrschaft gelangt: daB die Abtotung dialogischer Beziehungen die monologisch in sich gekehrten Subjekte fiireinander zu Objekten, und nur zu Objekten macht. Am Beispiel der Reformbestrebungen, aus denen die psychiatrische Anstalt und die klinische Psychologie hervorgehen, entwickelt Foucault schlieBlich jene innere Verwandtschaft von Humanismus und Terror, die seiner Modernitatskritik ihre Scharfe und Unbarmherzigkeit verleiht. An cler Geburt der psychiatrischen Anstalt aus den humanitaren Ideen der Aufklarung demonstriert Foucault zum ersten Mal jene »Doppelbewegung von Befreiung und Versklavung«, die er spater in den Reformen von Strafvollzug, Erziehungssystem, Gesundheitswesen, Sozialfiirsorge usw. auf breiter Front wiedererkennt. Die humanitar begriindete Befreiung der Irren aus der Verwahrlosung der Internierungslager, die Schaffung von hygienischen Kliniken mit arztlichen Zielsetzungen, die psychiatrische Behandlung der Geisteskranken, das Anrecht, das diese auf psychologisches Verstandnis und therapeutische Fiirsorge erwerben - dies alles wird durch eine Anstaltsordnung ermoglicht, die den Patienten zum Gegenstand von kontinuierlicher Dberwachung, Manipulation, Vereinzelung und Reglementierung, vor allem zum Gegenstand der medizinischen Forschung zurichtet. Die Praktiken, die sich in der inneren Organisation des Anstaltslebens institutionell verfestigen, sind die Basis fiir eine Erkenntnis des
Wahnsinns, die dies em erst die Objektivitat einer auf den Begriff gebrachten Pathologie verleiht und damit dem Universum der Vernunft einordnet. Eine im Sinne von Emanzipation und Elimination zweideutige Befreiung bedeutet die psychiatrische Erkenntnis freilich nicht nur fur den Patienten, sondern auch fur den Arzt, den praktizierenden Positivisten: »Die Erkenntnis des Wahnsinns setzt bei demjenigen, der sie besitzt, eine bestimmte Art voraus, sich yom Wahnsinn freizumachen, sich von vornherein von seinen Gefahren und seinem Zauber zu losen ... Urspriinglich liegt darin die Fixierung einer besonderen Art, nicht wahnsinnig zu sein.«l1 Ich werde diese vier Themen nicht im einzelnen behandeln, vielmehr der Frage nachgehen, ob es Foucault gelingt, in der Form einer archaologisch ansetzenden, zur Genealogie erweiterten Geschichtsschreibung der Humanwissenschaften eine radikale Vernunftkritik durchzufuhren, ohne sich in den Aporien dieses selbstbezuglichen Unternehmens zu verfangen. Ebenso ungeklart wie das Verhaltnis von Diskursen zu Praktiken blieb namlich in den friihen Arbeiten das methodische Problem, wie eine Geschichte der Konstellationen von Vernunft und Wahnsinn uberhaupt geschrieben werden kann, wenn sich die Arbeit des Historikers doch ihrerseits im Horizont der Vernunft bewegen muB. In den Vorworten zu den Anfang der 60er Jahre erscheinenden Studien stellt sich Foucault diese Frage, ohne sie zu beantworten; sie scheint aber, als er 1970 seine Antrittsvorlesung am College de France halt, inzwischen gelost worden zu sein. Die Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn kehrt hier als einer von drei AusschlieBungsmechanismen wieder, kraft deren sich die vernunftige Rede konstituiert. Die Eliminierung des Wahnsinns steht in der Mitte zwischen einerseits der auffalligeren Operation, widerspenstige Sprecher yom Diskurs fernzuhalten, miBliebige Themen zu unterdrucken, Ausdriicke zu zensieren usw., und andererseits der ganz und gar unauffalligen Operation, innerhalb eines eingespielten Diskurses zwischen gultigen und ungultigen Aussagen zu unterscheiden. Foucault gibt zu, daB es auf den ersten Blick unplausibel ist, die Regeln fur die Eliminierung falscher Aussagen nach dem Modell der Ausgrenzung des Wahnsinns und der Verfemung des Heterogenen zu begreifen: 11 M. Foucault (1969), 4 80.
»Wie sollte man vernunftigerweise den Zwang der Wahrheit mit solchen Grenzziehungen vergleichen konnen, die von vornherein willkurlich sind oder sich zumindest urn geschichtliche Zufalligkeiten herum organisieren, mit Grenzziehungen, ... die sich standig verschieben, die von einem ganzen Netz von Institutionen getragen sind, welche die Grenzen aufzwingen und absichern, und die sich zwangsweise, ja zum Teil gewaltsam durchsetzen?«12 Naturlich laBt sich Foucault von dem Hinweis auf die ostentative Zwanglosigkeit des zwingenden Arguments, mit dem sich Wahrheitsanspruche, Geltungsanspriiche uberhaupt durchsetzen, nicht beeindrucken. Der Schein der Gewaltlosigkeit des besseren Arguments verschwindet, sobald man sich »auf eine andere Ebene begibt« und die Einstellung des Archaologen einnimmt, der seinen Blick auf die verschutteten Sinnesfundamente richtet, auf die muhsam freizulegenden Infrastrukturen, die doch erst festlegen, was innerhalb eines Diskurses jeweils als wahr und falsch zu gelten hat. Wahrheit ist ein heimtuckischer AusschlieBungsmechanismus, weil . er nur unter der Bedingung des Verborgenbleibens des in ihm sich jeweils durchsetzenden Willens zur Wahrheit funk~ioniert: »Es ist, als wiirde der Wille zur Wahrheit fur uns gerade von der Wahrheit und ihrem notwendigen Ablauf verdeckt ... Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form yom Begehren ablost und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringt, nicht anerkennen; und der Wille zur Wahrheit, der sich uns seit langem aufzwingt, ist so beschaffen, daB die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern.«13 Die Geltungskriterien, nach denen innerhalb des jeweiligen Diskurses Wahres von Falschem geschieden wird, verharren in eigentiimlicher Transparenz und Ursprungslosigkeit - die Geltung muB alles bloB Genetische von sich abstreifen, auch die Herkunft aus den zugrundeliegenden diskurskonstitutiven Regeln, die der Archaologe freilegt. Die wahrheitsermoglichenden Strukturen konnen selbst so wenig wahr oder falsch sein, daB einzig nach der Funktion des in ihnen zum Ausdruck gelangenden Willens gefragt werden kann, sowie nach der Genealogie dieses Willens aus einem Geflecht 12 M. Foucault, Die Ordnung der Diskurse, Mii. 1974, lof. (Zitate 1974b). 13 Ebd.14f.
von Praktiken der Macht. Seit Anfang der 70er Jahre unterscheidet Foucault namlich die Archaologie des Wissens, die die wahrheitskonstitutiven AusschluBregeln der Diskurse aufdeckt, von der genealogischen Untersuchung der zugehorigen Praktiken. Die Genealogie untersucht, wie sich Diskurse formieren, warum sie auftreten und wieder verschwinden, indem sie die Genesis der geschichtlich variablen Geltungsbedingungen bis in die institutionellen Wurzeln hinein verfolgt. Wahrend die Archaologie dem Stil gelehrter Ungeniertheit folgt, huldigt die Genealogie einem »glucklichen Positivismus«.14 Wenn aber die Archaologie gelehrsam und die Genealogie unschuldig positivistisch verfahren konnte, ware das methodische Paradox einer Wissenschaft, welche die Geschichte der Humanwissenschaften mit dem Ziel einer radikalen Vernunftkritik schreibt, gelost.
III Foucault verdankt das Konzept einer als Antiwissenschaft auftretenden, gelehrsam-positivistischen Geschichtsschreibung der Nietzscherezeption, die sich in der Einleitung zur »Archaologie des Wissens« (1969) und in dem Aufsatz uber »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« (1971) niederschlagt. Philosophisch betrachtet, bietet dieses Konzept, so scheint es, eine aussichtsreiche Alternative zu jener Vernunftkritik, die bei Heidegger und Derrida die Gestalt einer temporalisierten Ursprungsphilosophie angenommen hatte. Das ganze Gewicht der Problematik fallt nun freilich auf den Grundbegriff der Macht, der den archaologischen Schurfarbeiten ebenso wie den genealogischen Enthullungen erst ihre modernitatskritische Ausrichtung gibt .. Die Autoritat Nietzsches, dem dieser ganz und gar unsoziologische Begriff der Macht entlehnt ist, genugt naturlich nicht, urn seinen systematischen Gebrauch zu rechtfertigen. Der politische Kontext der Nietzscherezeption - die Enttauschung uber die fehlgeschlagene Revolte von 1968 - macht das Konzept einer vernunftkritischen Geschichtsschreibung der Humanwissenschaften zwar biographisch verstandlich; aber auch 14 M. Foucault (I974b), 48.
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er kann den spezifischen Gebrauch des Machtbegriffs, dem Foucault sein paradoxes Unternehmen aufladt, nicht begriinden. Die Wendung zur Machttheorie muB vielmehr als eine intern motivierte Bewaltigung von Problemen verstanden werden, denen sich Foucault gegenubersieht, nachdem er, in der »Ordnung der Dinge«, e~e Entla~ung der Humanwissenschaften allein mit diskursanalytlschen Mltteln durchgefuhrt hatte. Zunachst aber zu Foucaults Aneignung des Begriffs »Genealogie«. Die genealogische Geschichtsschreibung kann die vernunftkritische Rolle einer Antiwissenschaft nur ubernehmen, wenn sie aus dem Horizont eben jener geschichtlich orientierten Wissenschaften yom Menschen heraustritt, deren hohlen Humanismus Foucault machttheoretisch entlarven mochte. Die neue Historie muB alle jene Voraussetzungen negieren, die fur das historische BewuBtsein der Moderne, das geschichtsphilosophische Denken und die historische Aufklarung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts konstitutiv gewesen sind. Das erkiart, warum Nietzsches Zweite UnzeitgemaBe Betrachtung fur Foucault eine Fundgrube ist. Nietzsche hatte ja in ahnlicher Absicht den Historismus seiner Zeit einer unnachsichtigen Kritik unterzogen. Foucault will (a) das prasentistische Zeitbewujltsein der Moderne hinter sich lassen. Er will mit der Privilegierung einer Gegenwart brechen, die unter dem Problemdruck der verantwortlich uberno~en~n ~ukunft ausgezeichnet ist und auf die die Vergangenhelt narzlBusch bezogen wird. Foucault rechnet mit dem Prasentismus einer Geschichtsschreibung ab, die ihre hermeneutische Ausgangssituation nicht uberspringt und sich fur die stabilisierende Vergewisserung einer doch langst zersplitterten Identitat in Dienst nehmen laBt. Deshalb soll die Genealogie nicht nach einem Ursprung fahnden, sondern die kontigenten An/ange der Diskursformationen aufdecken, die Vielfalt der faktischen Herkunftsgeschichten analysieren und den Schein von Identitat, erst recht die vermeintliche Identitat des geschichtsschreibenden Subjekts selber und die seiner Zeitgenossen auflosen: »Wo sich die Seele zu einen behauptet, wo sich das Ich eine Identitat oder Koharenz erfindet geht die Genealogie auf die Suche nach dem Anfang ... Die Analys; der Herkunft fuhrt zur Auflosung des Ich und laBt an den Orten 293
II und Platzen seiner leeren Synthese tausend verlorene Ereignisse wimmeln.«15 Daraus ergibt sich (b) die methodische Konsequenz eines Abschiedes von der Hermeneutik. Die neue Historie dient nicht dem Verstehen, sondern der Destruktion und dem Zerstreuen jenes wirkungsgeschichtlichen Zusammenhangs, der den Historiker vermeintlich mit einem Gegenstand verbindet, mit dem er nur in Kommunikation tritt, urn sich selbst darin wiederzufinden: »Man muB die Geschichte von dem Bild los en, ... wodurch sie ihre anthropologische Rechtfertigung fand: dem eines tausendjahrigen und kollektiven Gedachtnisses, das sich auf ... Dokumente stiitzt, urn die Frische seiner Eririnerung wiederzufinden.«16 Die hermeneutische Anstrengung zielt auf die Aneignung von Sinn, wittert in jedem Dokument eine zum Schweigen gebrachte Stimme, die wieder zum Leben erweckt werden solI. Diese Idee des sinntrachtigen Dokumentes muB ebenso radikal in Frage gestellt werden wie das Geschaft des Interpretierens selber. Denn der »Kommentar« und die zugehorigen Fiktionen des »Werkes« und des »Autors« als eines Urhebers von Texten, auch die Zuriickfiihrung von sekundaren auf primare T exte, iiberhaupt die Herstellung geistesgeschichtlicher Kausalitaten - dies alles sind Werkzeuge einer unzulassigen Komplexitatsreduktion, sind Verfahren der Eindammung des spontanen Uberquillens von Diskursen, die der nachgeborene Interpret lediglich auf sich selbst zuschneiden, seinem provinziellen Verstehenshorizont gefiigig machen will. Der Archaologe wird hingegen die gesprachigen Dokumente in stumme M onumente zuriickverwandeln, in Gegenstande, die von ihrem Kontext befreit werden miissen, urn einer strukturalistischen Beschreibung zuganglich zu werden. Der Genealoge tritt von auBen an die archaologisch ausgegrabenen Monumente heran, urn ihre Herkunft aus dem kontingenten Auf und Ab von Kampfen, Siegen und Niederlagen zu erklaren. Erst der Historiker, der alles, was sich dem Sinnverstehen erschlieBt, souveran verachtet, kann die Stifterfunktion des erkennenden Subjekts unterlaufen. Er dUi"chschaut als bloB en Trug jene »Garantie, daB alles, was ihm ent15 M. Foucault, F. Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Foucault (1974),89· 16 M. Foucault (1973), 14f.
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gangen ist, ihm auch wiedergegeben werden kann; ... das Versprechen, daB alle diese in der Ferne durch den Unterschied aufrechterhaltenen Dinge eines Tages in der Form des historischen BewuBtseins erneut angeeignet werden konnen.«17 Die Grundbegriffe der Subjektphilosophie beherrschen nicht nur die Art des Zugangs zum Objektbereich, sondern auch die Geschichte selber. Deshalb will Foucault vor allem (c) Schlufi machen mit einer globalen Geschichtsschreibung, die die Geschichte insgeheim als ein MakrobewuBtsein konzipiert. Die Geschichte im Singular muB wieder aufgelost werden, nicht zwar in die Mannigfaltigkeit der narrativen Geschichten, aber in einen Pluralismus von regellos auftauchenden und wieder versinkenden Diskursinseln. . Der kritische Historiker wird als erstes die falschen Kontinuitaten auflosen und auf Briiche, Schwellen, Richtungsanderungen achten. Er stellt keine teleologischen Zusammenhange her; er interessiert sich nicht fiir die groBen Kausalitaten; er rechnet nicht mit Synthesen, verzichtet auf Gliederungsprinzipien wie Fortschritt und Evolution, er teilt die Geschichte nicht nach Epochen ein: »Das Vorhaben einer globalen Geschichte ist das, was die Gesamtform einer Kultur, das materielle oder geistige Prinzip einer Gesellschaft, die allen Phanomenen einer Periode gemeinsame Bedeutung, das Gesetz, das iiber ihre Kohasion Rechenschaft ablegt, das, was man metaphorisch >das Gesicht< einer Epoche nennt, wiederherzustellen versucht.«18 Stattdessen entlehnt Foucault der »seriellen Geschichte« der Annaleschule die programmatisch gewendeten Vorstellungen eines strukturalistischen Vorgehens, das mit einer Pluralitat nichtgleichzeitiger Systemgeschichten rechnet und ihre analytischen Einheiten anhand bewuBtseinsferner Indikatoren bildet, jedenfalls auf die begrifflichen Mittel der synthetischen Leistungen eines supponierten BewuBtseins, also auf die Bildung von Totalitaten verzichtet. 19 Ausgeschieden wird damit auch die Idee der Versohnung, ein Erbe der Geschichtsphilosophie, aus dem die an Hegel anschlieBende· Kritik der Moderne noch unbefangen geschopft hatte. Eine schroffe Absage erhalt jede Historie, »welche 17 M. Foucault (1973),23. 18 M. Foucault (1973), 19. 19 C. Honegger, M. Foucault und die serielle Geschichte, in: Merkur, 36, 1982, 50lff•
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die Vielfalt der Zeiten in eine geschlossene Totalitat einbringen ... will; eine Historie, die ... in allen Verschiebungen Versohnungen sieht; die alles hinter ihr Liegende yom Blickpunkt des Weltendes ansieht.«20 Aus dieser Destruktion einer Geschichtsschreibung, die anthropologischem Denken und humanistischen Grundiiberzeugungen verhaftet bleibt, ergeben sich die Umrisse eines gleichsamtranszendentalen Historismus, der Nietzsches Historismuskritik zugleich beerbt und iiberbietet. »Transzendental« in einem schwachen Sinne bleibt Foucaults radikale Geschichtsschreibung insofern, als sie die Gegenstande des historisch-hermeneutischen Sinnverstehens als konstituiert begreift - als Objektivationen einer jeweils zugrundeliegenden, strukturalistisch zu erfassenden Diskurspraxis. Die alte Historie hatte sich mit Sinntotalitaten befaBt, die sie aus der Innenperspektive der Beteiligten erschloB; aus dieser Sicht kommt das, was eine solche Diskurswelt jeweils konstituiert, nicht in den Blick. Erst einer Archaologie, die eine Diskurspraxis mit ihren Wurzeln ausgrabt, gibt sich, was sich nach innen als Totalitat behauptet, von auBen als ein Partikulares zu erkennen, das auch anders sein konnte. Wahrend sich die Beteiligten als Subjekte verstehen, die sich nach universalen Geltungskritierien auf Gegenstande iiberhaupt beziehen, ohne je den durchlassigen Horizont ihrer Welt transzendieren zu konnen, klammert der von auBen herantretende Archaologe dieses Selbstverstandnis ein. Indem er auf die diskurskonstitutiven Regeln zUrUckgeht, vergewissert er sich der Grenzen des jeweiligen Diskursuniversums; des sen Gestalt wird namlich begrenzt durch diejenigen Elemente, die es unbewuBt als Heterogenes ausschliefltinsofern haben die diskurskonstitutiven Regeln auch die Funktion eines AusschluBmechanismus. Was aus dem jeweiligen Diskurs ausgegrenzt wird, macht erst die spezifischen, aber innerhalb des Diskurses allgemeingiiltigen, d. h. alternativlosen Subjekt-Objektbeziehungen moglich. Insofern tritt Foucault mit seiner Archaologie des Wissens das Erbe von Batailles Heterologie an. Was ihn von Bataille unterscheidet, ist der gnadenlose Historismus, vor dem sich auch der pradiskursive Bezugspunkt der Souveranitat aufiost. Sowenig der Terminus »Wahnsinn« von der Renaissance bis zur 20 M. Foucault (1974), 96.
positivistischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts ein authentisches Erfahrungspotential diesseits aller Diskurse iiber die Irren anzeigt, sowenig behalt das Andere der Vernunft, das ausgeschlossene Heterogene, die Rolle eines pradiskursiven Referenten, der auf die bevorstehende Ankunft eines verlorenen Urspriinglichen hinweisen konnte. 21 Vielmehr wird der Raum der Geschichte, so stellt es sich jetzt dar, fugenlos ausgefiillt von dem schlechthin kontingenten Geschehen des ungeordneten Aufblitzens und Vergehens neuer Diskursformationen; in dieser chaotischen Mannigfaltigkeit verganglicher Diskursuniversen bleibt fiir irgendeinen iibergreifenden Sinn kein Platz mehr. Der transzendentale Historist sieht wie in ein Kaleidoskop: »Dieses Kaleidoskop erinnert kaum .an sukzessive Gestalten einer dialektischen Entwicklung; es erklart sie nicht durch ein Fortschreiten des BewuBtseins, iibrigens auch nicht durch einen Abstieg, noch durch den Kampf zweier Prinzipien: Wunsch und Repression - jeder Schnorkel verdankt seine bizarre Gestalt dem Raum, den ihm die angrenzenden Praktiken gelassen haben.«22 Die Geschichte erstarrt unter dem stoischen Blick des Archaologen zu einem Eisberg, der von den kristallinen Formen willkiirlicher Diskursformationen iiberzogen ist. Da aber jeder einzelnen von . ihnen die Autonomie eines ursprunglosen Universums zukommt, bleibt dem Historiker nur noch das Geschaft des Genealogen, der die zufallige Herkunft dieser bizarren Gebilde aus den Hohlformen angrenzender Formationen, d. h. aus den nachstliegenden Umstanden erklart. Unter dem zynischen Blick des Genealogen gerat der Eisberg in Bewegung: die Diskursformationen verschieben und vermengen sich, wogen auf und abo Der Genealoge erklart dieses Auf und Ab mit Hilfe unzahliger Ereignisse und einer einzigen Hypothese - daB das einzige, was wahrt, die Macht ist, die im 21 Vgl. die Selbstkritik in Foucault (1973), 29: »Auf allgemeine Art raumt die >Histoire de la folie< einen viel zu betrachtlichen und iibrigens ziemlich ratselhaften Teil dem ein, was darin als eine >Erfahrung< bezeichnet wurde, wodurch das Buch zeigte, in welchem MaBe man noch bereit war, ein anonymes und allgemeines Subjekt der Geschichte zuzugestehen.« 22P. Veyne, Der Eisberg der Geschichte, Bin. 1981,42. Veynes Metapher beriihrt sich mit Gehlens Bild der »Kristallisation«.
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Wechsel anonymer Dberwaltigungsprozesse unter immer neuen Masken auftritt: »Mit >Ereignis< ist nicht eine Entscheidung, ein Vertrag, eine Regierungszeit oder eine Schlacht gemeint, sondern die Umkehrung eines Krafteverhaltnisses, der Sturz einer Macht, die Umfunktionierung einer Sprache und ihrer Verwendung gegen die bisherigen Sprecher, die Schwachung, die Vergiftung einer Herrschaft durch sich selbst, das maskierte Auftreten einer anderen Herrschaft.«23 Was bisher die synthetische Kraft des transzendentalen Bewufhseins fiir das eine und allgemeine Universum von Gegenstanden moglicher Erfahrung leisten sollte, diese Synthesis zersetzt sich nun in den subjektlosen Willen einer im kontingenten und ungeordneten Auf und Ab der Diskursformationen wirksamen Macht.
IV Wie einst bei Bergson, Dilthey und Simmel »Leben« zum transzendentalen Grundbegriff einer Philosophie erhoben worden ist, die noch den Hintergrund fiir Heideggers Daseinsanalytik bildete, so erhebt nun Foucault »Macht« zum transzendental-historistischen Grundbegriff einer vernunftkritischen Geschichtsschreibung. Dieser Zug ist keineswegs trivial und gewiB nicht allein mit der Autoritat Nietzsches zu begriinden. Vor dem kontrastierenden Hintergrund des Konzepts der Seinsgeschichte will ich zunachst die Rolle untersuchen, die dieser irritierende Grundbegriff in Foucaults Vernunftkritik iibernimmt. Heidegger und Derrida wollten Nietzsches Programm der Vernunftkritik auf dem Wege einer Destruktion der Metaphysik, Foucault will es mit einer Destruktion der Historik fortfiihren. Wahrend jene die Philosophie durch ein beschworend evozierendes Denken jenseits der Philosophie iiberboten haben, iiberschreitet Foucault die Humanwissenschaften durch eine als Antiwissenschaft auftretende Geschichtsschreibung. Beide Seiten neutralisieren die geradehin erhobenen Geltungsanspriiche jener philosophischen und wissenschaftlichen Diskurse, die sie untersuchen, indem 23 M. Foucault (I974), 98.
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sie jeweils auf ein epochales Seinsverstandnis oder auf Formierungsregeln eines Diskurses zuriickgehen. Eins wie das andere soll den Sinn von Seiendem und die Geltung von Aussagen innerhalb des Horizonts einer gegebenen Welt oder eines eingespielten Diskurses allererst ermoglichen. Be"lde Seiten stimmen auch darin iiberein, daB sich die Horizonte der Welt oder die Diskursformationen wandeln, aber in dies en Wandlungen ihre transzendentale Macht iiber das behalten, was sich innerhalb des von ihnen jeweils gebildeten Universums abspielt; so wird eine dialektische oder kreisformige Riickwirkung des ontischen Geschehens bzw. der Referenten auf die Geschichte der ontologischen bzw. diskursformierenden Ermoglichungsbedingungen ausgeschlossen. Die Geschichte der Transzendentalien und der Wandel der welterschlieBenden Horizonte verlangen nach anderen Begriffen als denen, die sich fiirs Ontische und fiirs Historische eignen. Erst an dieser Stelle verzweigen sich die Wege. Heidegger radikalisiert die Denkfiguren der Ursprungsphiloso- phie, der er einen Rest an Vertrauen bewahrt. Er iibertragt die epistemische Autoritat der Wahrheitsgeltung auf den ProzeB der Bildung und Umbildung welterschlieBender Horizonte. Die wahrheitsermoglichenden Bedingungen konnen selber weder wahr noch falsch sein; denribch wird dem ProzeB ihrer Veranderung eine Parageltung zugesprochen, die nach dem Modell der Wahrheitsgeltung von Aussagen als eine historisierte Steigerungsform von Wahrheit gedacht werden soIL Bei Licht betrachtet, stellt Heidegger mit dem Konzept der Seinsgeschichte als eines Wahrheitsgeschehens folgende merkwiirdige Legierung her. Die Autoritat der Seinsgeschichte verdankt sich einer Bedeutungsfusion aus zwanglosem Geltungs- und gebieterischem Machtanspruch; dieser verleiht der subversiven Kraft des Einsichtigen das Imperatorische einer in die Kniee zwingenden Erleuchtung. Einer solchen pseudoreligiosen Wendung entgeht Foucault dadurch, daB er, mit einem kleinen Rest an Vertrauen auf die Humanwissenschaften, Batailles heterologische Denkfigur der Ausgrenzung fiir seine Zwecke reaktiviert. Er entkleidet die Geschichte der diskurskonstituierenden Regeln jeder Geltungsautoritat und betrachtet die Wandlungen der transzendental machthabenden Diskursformationen so, wie man in der konven299
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tionellen Geschichtsschreibung das Auf und Ab von Regimen betrachtet hat. Wahrend die Archaologie des Wissens (darin der Destruktion der Geschichte der Metaphysik ahnlich) die Schicht der diskurskonstituierenden Regeln rekonstruiert, versucht die Genealogie »die diskontinuierliche Abfolge an sich unbegriindeter Zeichenordnungen, die den Menschen in den semantischen Rahmen einer bestimmten Weltauslegung zwangen «24, zu erklaren und zwar erklart sie die Herkunft der Diskursformationen aus Machtpraktiken, die sich in einem »Hasardspiel der Dberwaltigungen« rniteinander verflechten. In seinen spateren Untersuchungen wird Foucault diesen abstrakten Machtbegriff anschaulich ausgestalten; er wird Macht als die Interaktion kriegfiihrender Parteien, als das dezentrierte N etzwerk von leibhaftigen Konfrontationen von Angesicht zu Angesicht, schlieBlich als die produktive Durchdringung und sui?jektivierende Unterwerfung eines leibhaften Gegeniibers verstehen. In unserem Zusammenhang ist aber wichtig, wie Foucault diese handgreiflichen Bedeutungen der Macht zusammendenkt mit dem transzendentalen Sinn von synthetischen Leistungen, die Kant noch einem Subjekt zugeschrieben hatte und die der Strukturalismus als anonymes Geschehen, namlich als reines dezentriertes, regelgeleitetes Operieren mit geordneten Elementen eines iibersubjektiv aufgebauten Systems versteht. 25 In der Genealogie Foucaults ist »Macht« zunachst ein Synonym fiir diese reine strukturalistische Tlitigkeit; sie nimmt denselben Platz ein wie bei Derrida die »Differanz«. Aber diese diskurskonstitutive Macht solI gleichzeitig transzendentale Erzeugungs- und empirische Selbstbehauptungsmacht sein. Wie Heidegger nimmt auch Foucault eine Fusion von entgegengesetzten Bedeutungen vor. Allerdings entsteht bei ihm ein Amalgam, das es Foucault erlaubt, in den FuBstapfen Batailles an den ideologiekritischen Nietzsche anzuschlieBen. Heidegger wollte im Begriff des Seins als der temporalisierten Ursprungsmacht den geltungsbegriindenden Sinn transzendentaler WelterschlieBung festhalten, aber gleichzeitig die im Begriff des Transzendentalen doch auch 24 A. Honneth, Kritik der Macht, Ffm. 1985, 142f. 25 H. Fink-Eitel, Foucaults Analytik der Macht, in: F. A. Kittler (Hg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn 1980, 55.
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enthaltene idealistische Bedeutungskomponente des iiber alles Geschichtliche, bloB Ereignishafte Hinausweisenden, Invarianten tilgen. Foucault verdankt seinen transzendental-historistischen Grundbegriff der Macht nicht nur dieser einen paradoxen Operation, die die synthetischen Leistungen a priori ins Reich historischer Ereignisse zuriickholt; er nimmt drei weitere, gleichermaBen paradoxe Operationen vor. Einerseits muB Foucault dem Begriff einer Macht, die sich im Diskurs als Wille zur Wahrheit ironisch versteckt und zugleich zur Geltung bringt, den transzendentalen Sinn wahrheitsermoglichender Bedingungen erhalten. Andererseits erzwingt er gegen den Idealismus des Kantischen Begriffs nicht nur eine Verzeitlichung des Apriori - so daB neue Diskursformationen, die alte verdrangen, wie Ereignisse auftauchen konnen; Foucault streift vielmehr der transzendentalen Macht auch noch die Konnotationen ab, die Heidegger einer auratischen Seinsgeschichte wohlweislich belaBt. Foucault historisiert nicht nur, er denkt zugleich nominalistisch, materialistisch und empiristisch, indem er die transzendentalen Machtpraktiken als das Besondere denkt, das sich gegen alle U niversalien straubt, ferner als das Niedere, Korperlich-Sinnliche, das alles Intelligible unterlauft, und schlieBlich als das Kontingente, das auch anders sein konnte, weil es keiner regierenden Ordnung untersteht. In Heideggers Spatphilosophie sind die paradoxen Folgen eines aus kontraren Bedeutungen kontaminierten Grundbegriffs nicht leicht dingfest zu machen, weil sich das Andenken ans unvordenkliche Sein einer Beurteilung anhand nachpriifbarer Kriterien entzieht. Demgegeniiber ,exponiert sich Foucault handfesten Einwanden, weil seine Geschichtsschreibung trotz ihres antiwissenschaftlichen Gestus zugleich »gelehrt« und »positivistisch« verfahren mochte. Die genealogische Geschichtsschreibung kann deshalb, wie wir sehen werden, die paradoxen Folgen eines derart kontaminierten Grundbegriffs der Macht kaum verheimlichen. U m so mehr bedarf es einer Erklarung, warum Foucault sich entschlieBt, seine vernunftkritisch angelegte Wissenschaftstheorie iiberhaupt auf die Bahnen der Machttheorie zu lenken. Bei Foucault haben sich, biographisch gesehen, fiir eine Rezeption von Nietzsches Machttheorie andere Motive bilden konnen als bei 30r
Bataille.Beide haben ihren Weg gewiB auf der politischen Linken begonnen, und beide entfernen sich immer weiter von der marxistischen Orthodoxie. Aber nur Foucault erfahrt die plotzliche Enttauschung eines politischen Engagements. Foucault gibt in den fruhen siebziger Jahren Interviews, die die Heftigkeit des Bruchs mit friiheren Dberzeugungen erkennen lassen. Jedenfalls verstarkt Foucault damals den Chor der enttauschten Maoisten von 1968 und ist von jenen Stimmungen eingenommen, auf die man rekurrieren muB, wenn man den merkwiirdigen Erfolg der Neuen Philosophen in Frankreich erklaren wilp6 Man wurde freilich die Originalitat 26 In einer enthusiastischen Rezension iiber A. Glucksmanns »Meisterdenker« schreibt Foucault beispielsweise: »Mit dem Gulag sah man nicht die Folgen eines ungliickseligen Irrtums, sondern die Wirkungen der »wahrsten« Theorie in der Ordnung der Politik. Diejenigen, die sich zu retten suchten, indem sie Marxens wahrem Bart Stalins falsche Nase aufsetzten, waren nicht begeistert.« (M. Foucault, Dispositive der Macht, Bin. 1978, 220) Die Machttheorien des biirgerlichen Pessimismus . von Hobbes bis Nietzsche haben immer auch als Auffangstellungen fUr enttauschte Uberlaufer gedient, die iiber dem Geschaft der politischen Verwirklichung ihrer Ideale erfahren hatten, wie sich der humanistische Gehalt von Aufklarung und Marxismus ins barbarische Gegenteil verkehrte. Auch wenn das Jahr 1968 nur eine Revolte anzeigt, keine Revolution wie 1789 oder 1917, die Syndrome des link en Renegatentums mneln sich doch und erklaren vielleicht auch den iiberraschenden Umstand, daB die Neuen Philosophen in Frankreich ahnliche Topoi behandelt haben wie zu gleicher Zeit die neokonservativen Schiiler einer aIteren Generation enttauschter Kommunisten. Beiderseits des Atlantiks trifft man auf dieselben Topoi der Gegenaufklarung, auf die Kritik an den schein bar unvermeidlich terroristischen Folgen globaler Geschichtsdeutungen, auf die Kritik an der Rolle des generellen, im Namen der Menschenvernunft auftretenden Intellektuellen, auch auf die Kritik an der Umsetzung theoretisch anspruchsvoller Humanwissenschaften in eine sozialtechnisch oder therapeutisch menschenverachtende Praxis. Die Denkfigur ist immer die gleiche: im Universalismus der Aufklarung, im Humanismus der Befreiungsideale, im Vernunftanspruch des Systemdenkens selbst ist ein bornierter Wille zur Macht angelegt, der, sobald die Theorie sich anschickt, praktisch zu werden, die Maske abwirft - hinter der der Machrwille der philosophischen Meisterdenker, der Intellektuellen, der Sinnvermittler, kurz: der Neuen Klasse hervorkommt. Foucault scheint diese bekannten Motive der Gegenaufklarung nicht nur mit einem radikalen Gestus zu vertreten, sondern tatsachlich vernunftkritisch zuzuspitzen und machttheoretisch zu verallgemeinern. Hinter dem emanzipatorischen Selbstverstandnis der humanwissenschaftlichen Diskurse lauert die Taktik und die Technologie eines schieren Selbstbehauptungswillens, den der Genealoge unter dem exhumierteil Sinnesfundament selbstbetriigerischer Diskurse so hervorzieht wie Solschenyzin den Gulag unter der Rhetorik des scheinheiligen Sowjetmarxismus. V gl. Ph. Rippel,
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Foucaults unterschatzen, wenn man seinen zentralen Gedanken auf diesen Kontext glaubte reduzieren zu k6nnen. J edenfalls hatten diese von auBen kommenden politischen Anst6Be im Innersten der Theorie nichts in Bewegung setzen k6nnen, wenn nicht die Theoriedynamik selbst, lange vor den Erfahrungen mit der gescheiterten Revolte von 1968, den Gedanken motiviert hatte, daB sich in den diskursiven ~usschlieBungsmechanismen nicht nur selbstgenusame Diskursstrukturen spiegeln, sondern Imperative der Machtsteigerung durchsetzen. Dieser Gedanke entsteht in einer Problemsituation, der sich Foucault nach AbschluB seines Werkes uber die Archaologie der Humanwissenschaften konfrontiert sah. In der »Ordnung der Dinge« (1966) untersucht Foucault die neuzeitlichen Wissensformen (oder Epistemen), die fur die Wissenschaften den jeweils unubersteigbaren Horizont von Grundbegriffen, man .k6nnte auch sagen: das geschichtliche Apriori des Seinsverstandnisses festlegen. Wie in der Geschichte des Wahnsinns stehen auch hier, in der Geschichte des neuzeitlichen Denkens, die beiden historischen Schwellen des Dbergangs von der Renaissance zur Klassik und vom klassischen Zeitalter zur Moderne im Mittelpunkt des Interesses. Die inneren Beweggrunde fur den Dbergang zu einerTheorie der Macht erklaren sich aus Schwierigkeiten, die aus dieser genialen Untersuchung selbst hervorgehen.
v Wahrend das Denken der Renaissance noch durch ein kosmologisches Weltbild dirigiert wird, in dem die Dinge nach Relationen der Ahnlichkeit gleichsam physiognomisch geordnet werden k6nnen, weil im groBen Buch der Natur jede Signatur auf andere Signaturen verweist, bringt der Rationalismus des 17. Jahrhunderts eine ganz andere Ordnung in die-Dinge. Strukturbildend ist die Logik von Port Royal, die eine Semiotik und eine allgemeine Kombinatorik entwirft. Fur Descartes, Hobbes und Leibniz verwandelt sich die Natur in die Gesamtheit dessen, was im doppelten Sinne »reprasenH. Miinkler, Der Diskurs und die Macht, in: Pol. Vierteljahresschrift, 23, 19 82, II5 ff.; zum Konvertitentum der Franz6sischen Intellektuellen W. v. Rossum, Triumph der Leere, in: Merkur, April 19850 275 ff.
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tiert«, d.h. vorgestellt und als Vorstellung auch mittels konventioneller Zeichen dargestellt werden kann. Foucault halt weder die Mathematisierung der Natur noch den Mechanismus fur das entscheidende Paradigma, sondern das System geordneter Zeichen. Dieses ist nicht mehr in einer vorgangigen Ordnung der Dinge selbst begriindet, sondern stellt auf dem Wege der Reprasentation der Dinge eine taxonomische Ordnung erst her. Die kombinierten Zeichen, oder die Sprache, bilden ein vollkommen durchsichtiges Medium, durch welches die Vorstellung mit dem Vorgestellten verknupft werden kann. Der Signifikant tritt hinter dem bezeichneten Signifikat zuriick; er funktioniert wie ein glasernes Werkzeug der Reprasentation ohne Eigenleben: »Die tiefe Bestimmung der klassischen Sprache ist es stets gewesen, ein Tableau zu ergeben: gleichviel ob das als natiirliche Rede, Sammlung der Wahrheiten, Beschreibung der Dinge, als Korpus genauer Kenntnisse oder als enzyklopadisches Worterbuch geschah. Sie existiert nur, urn transparent zu sein ... Die Moglichkeit, die Dinge und ihre Ordnung zu erkennen, lauft in der klassischen Erfahrung durch die Souveranitat der Worter. Diese sind weder zu entschlusselnde Markierungen (wie in der Epoche der Renaissance), noch ... beherrschbare Instrumente (wie in der Zeit des Positivismus). Sie bilden eher den farblosen Raster, von dem ausdie ... Reprasentationen sich ordnen.«27 Dank seiner Autonomie dient das Zeichen selbstlos der Reprasentation der Dinge: in ihm treffen sich die Vorstellung des Subjekts mit dem vorgestellten Objekt und bilden, in der Kette der Reprasentationen, eine Ordnung. Die Sprache geht in ihrer tatsachenabbildenden Funktion, wie wir heute sagen wiirden, auf, und sie gibt alles, was sich uberhaupt reprasentieren laBt, auf derselben Ebene wieder- die Natur dervorstellenden Subjekte nicht anders als die der vorgestellten Objekte. Auf ihrem Tableau genieBt also die Natur des Menschen kein Privileg vor der Natur der Dinge. Innere und auBere Natur werden auf die gleiche Weise klassifiziert, analysiert, kombiniert - die Worter der Sprache in der allgemeinen Grammatik, die Reichtumer und Bedurfnisse in der Politischen Okonomie nicht anders als die Arten der Pflanzen und Tiere im Linneschen System. Genau dies kenn27 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Ffm. 1971,376.
zeichnet freilich auch die Grenze der nichtreflexiven Wissensform des klassischen Zeitalters; das Wissen istvollstandig abhangig von der Reprasentationsfunktion der Sprache, ohne den Vorgang der Reprasentation selber, die synthetisierende Leistung des vorstellenden Subjekts als solche, einbeziehen zu konnen. Diese Grenze arbeitet Foucault in der uberraschenden Interpretation eines beriihmten Bildes von Velazquez, der »Hofdamen«, heraus. 28 Dieses Bild stellt den Maler vor einer dem Zuschauer nicht einsichtigen Leinwand dar; der Maler blickt, wie die neben ihm plazierten Hofdamen, offensichtlich in die Richtung seiner beiden Modelle, des Konigs Philipp IV. und seiner Frau. Diese beiden Modell stehenden Personen befinden sich auBerhalb des Bildraums; yom Zuschauer konnen sie nur mit Hilfe eines im Hintergrund wiedergegebenen Spiegels identifiziert werden. Der Witz, auf den es Velazquez offenbar ankam, ist der verwirrende U mstand, des sen sich der Zuschauer schluBfolgernd bewuBt wird: der Zuschauer kann nicht umhin, den Platz und die Blickrichtung des konterfeiten, aber abwesenden Konigspaares, auf das der im Bild festgehaltene Maler blickt, wie auch den Platz und die Blickrichtung von Velazquez seIber, also des Malers, der dieses Bild tatsachlich hergestellt hat, einzunehmen. Fur Foucault wiederum liegt die Pointe darin, daB der klassische Bildraum zu begrenzt ist, urn die Reprasentation des Darstellungsaktes als solchen zuzulassen - eben das mache Velazquez deutlich, indem er die Lucken zeige, die das Fehlen der Reflexion auf den Darstellungsvorgang selbst im klassischen Bildraum hinterlaBt. 29 Keine der Personen, die an der klassischen 28 Vgl. H. L. Dreyfus, P. Rabinow, Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicaco 1983, 21 ff. 29 Foucault konstruiert zwei Reihen von Abwesenheiten. Dem dargestellten Maler fehlt sein Modell, das auBerhalb des Bildrandes stehende Konigspaar; diesem wiederum ist der Blick auf sein im Entstehen begriffenes Bild verwehrt - es sieht die Leinwand nur von hinten; dem Zuschauer schlieBlich fehlt das Zentrum der Szene, eben das Modell stehende Paar, auf das ihn die Blicke des Malers-und der Hofdamen bloB verweisen. N och entlarvender ais die Abwesenheit der vorgestellten Objekte ist die der vorstellenden Subjekte, riamIich die dreifache Abwesenheit des Maiers, des Modells und des Zuschauers, der, vor dem Bild postiert, die Perspektive der beiden anderen einnimmt. Der Maier, Velazquez, taucht zwar im Bildraum auf, aber dargestellt wird,er gerade nicht im Akt des Malens - man sieht ihn wmrend einer Maipause
Szene ein.er bildlichen Reprasentation des Konigspaares (des Menschen als Souvedins) beteiligt sind, erscheint in der Abbildung als das souverane, der Selbstreprasentation fahige Subjekt, namlich gleichzeitig als Subjekt und Objekt, zugleich als Vorstellendes und Vorgestelltes, als ein sich im Reprasentationsvorgang selbst Prasentes: » W er sich im klassischen Denken ... reprasentiert, sich als Bild oder Reflex erkennt, der wird sich darin nie selbst prasent finden. Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts existierte der Mensch nicht ... GewiB wird man sagen konnen, daB die allgemeine Grammatik, die N aturgeschichte, die Analyse der Reichtiimer Weisen waren, den Menschen zu erkennen ... Aber es gab kein erkenntnistheoretisches BewuBtsein yom Menschen als solchen.«30 Mit Kant wird das Zeitalter der Moderne eroffnet. Sobald das metaphysische Siegel auf die Korrespondenz zwischen Sprache und Welt zerbricht, wird die Reprasentationsfunktion der Sprache selbst zum Problem: das vorstellende Subjekt muB sich zum Objekt machen, um sich iiber den problematischen Vorgang der Reprasentation selbst Klarheit zu verschaffen. Der Begriff der Selbstreflexion geht in Fiihrung, und die Beziehung des vorstellenden Subjekts zu sich selber wird zum einzigen Fundament letzter GewiBheiten. Das Ende der Metaphysik ist das Ende einer objektiven, von der Sprache gleichsam lautlos vollzogenen, deshalb unproblematisch bleibenden Koordinierung der Dinge und der Vorstellungen. Der sich im SelbstbewuBtsein prasent gewordene Mensch muB die iibermenschliche Aufgabe, eine Ordnung der Dinge herzustellen, in dem Augenblick iibernehmen, als er sich seiner als einer zugleich autonomen und endlichen Existenz bewuBt wird. Deshalb sieht Foucault die moderne Wissensform von Anbeginn durch die Aporie gekennzeichnet, daB sich das erkennende Subjekt aus den Triimmern der Metaphysik erhebt, um im BewuBtsein seiner endlichen Krafte eine Aufgabe zu losen, die doch unendliche Kraft erfordert. und weiB, daB er hinter der Leinwand verschwinden wird, sobald er seine Arbeit wieder aufnimmt. Die Gesichter der beiden Modelle sind zwar unscharf in einem Spiegelbild zu erkennen, aber wahrend des Aktes der Abbildung sind sie nicht direkt zu beobachten. Ebensowenig ist schlieBlich der Akt des Zuschauens reprasentiert der gemalte Zuschauer, der von rechts hinten in den Bildraum eintritt, kann diese Funktion nicht iibernehmen. (Vgl. Foucault (1971),31-45,372-377) 30 M. Foucault (1971),373.
Diese Aporie macht Kant geradewegs zum Konstrukticmsprinzip seiner Erkenntnistheorie, indem er die Beschrankungen eines endlichen Erkenntnisvermogens zu transzendentalen Bedingungen einer ins U nendliche fortschreitenden Erkenntnis umdeutet: » Modernity begins with the incredible and ultimately unworkable idea of a being who is souvereign precisely of being enslaved, a being whose very finitude allow him to take the place of GOd.«31 Foucault entwickelt in einem groBen Bogen, der von Kant und Fichte bis zu Husserl und Heidegger reicht, seinen Grundgedanken, daB die Moderne durch die selbstwiderspriichliche und anthropozentrische Wissensform eines strukturell iiberforderten Subjekts, eines sich ins Unendliche transzendierenden endlichen Subjekts ausgezeichnet ist. Die BewuBtseinsphilosophie gehorcht begriffsstrategischen Zwangen, unter denen sie das Subjekt verdoppeln und unter zwei jeweils kontraren, miteinander unvertraglichen Aspekten betrachten muB. Der Drang, aus diesem instabilen Hin und Her zwischen ebenso unvereinbaren wie unvermeidlichen Aspekten der Selbstthematisierung auszubrechen, macht sich dann als der unbandige Wille zum Wissen und zu immer mehr Wissen bemerkbar. Dieser Wille schieBt pratentios iiber alles hinaus, was das strukturell iiberforderte und iiberanstrengte Subjekt zu leisten imstande ist. Auf diese Weise ist die moderne Wissensform durch die eigentiimliche Dynamik eines Willens zur Wahrheit bestimmt, fiir den jede Frustration nur der Stachel zu erneuter Wissensproduktion ist. Dieser Wille zur Wahrheit ist nun fiir Foucault der Schliissel zum inneren Zusammenhang von Wissen und Macht. Die Humanwissenschaften besetzen das Terrain, das durch die aporetische Selbstthematisierung des erkennenden Subjekts erschlossen worden ist. Sie errichten mit ihren pratentiosen und niemals eingelosten Anspriichen die Fassade eines allgemeingiiltigen Wissens, hinter der sich die Faktizitat des schieren Willens wissender Selbstbemachtigung verbirgt - eines Willens zur bodenlos produktiven Wissenssteigerung, in deren Sog sich Subjektivitat und SelbstbewuBtsein allererst bilden. Foucault verfolgt den Zwang zur aporetischen Verdoppelung des selbstbeziiglichen Subjekts anhand von drei Gegensatzen: am 31 Dreyfus, Rabinow (1982),30.
Gegensatz zwischen dem Transzendentalen und dem Empirischen, am Gegensatz zwischen dem reflexiven Akt des BewuBtmachens und dem reflexiv Uneinholbaren, Unvordenklichen, schlieBlich am Gegensatz zwischen dem apriorischen Perfekt eines immer schon vorausliegenden Ursprungs - und dem adventistischen Futur der noch ausstehenden Wiederkehr des Ursprungs. Foucault hatte diese Gegensatze im AnschluB an Fichtes Wissenschaftslehre exponieren konnen; es handelt sich namlich urn jene Begriffszwange der BewuBtseinsphilosophie, die sich in der Tathandlung des absoluten Ich exemplarisch verdichten. Das Ich kann seiner selbst nur habhaft werden, sich selbst »setzen«, indem es, gleichsam bewuBtlos, ein Nicht-Ich setzt und dieses als das yom Ich Gesetzte schrittweise einzuholen versucht. Dieser Akt des vermittelten Sich-Setzens laBt sich unter drei verschiedenen Aspekten verstehen, als ein ProzeB der Selbsterkenntnis, als ein Vorgang der BewuBtwerdung und als BildungsprozeB. In jeder dieser Dimensionen schlingert das europaische Denken des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen theoretischen Ansatzen, die einander ausschlieBen - und jedesmal endet der Versuch, den miBlichen Alternativen zu entkommen, in den Verstrickungen eines sich vergottenden, in Akten vergeblicher Selbsttranszendenz verzehrenden Subjekts. Seit Kant nimmt das Ich gleichzeitig die Stellung eines empirischen Subjekts in der Welt ein, wo es sich als Objekt unter anderen Objekten vorfindet, und die Ste11ung eines transzendentalen Subjekts gegeniiber der Welt im ganzen, die es als die Gesamtheit der Objekte moglicher Erfahrung selber konstituiert. Durch diese Doppelste11ung32 sieht sich das erkennende Subjekt freilich dazu provoziert, dieselben Leistungen, die einmal reflexiv als Leistungen einer transzendentalen Synthesis erfaBt werden, ein andermal empirisch als einen Vorgang unter Naturgesetzen zu analysieren, gleichviel ob nun der Apparat unserer Erkenntnis psychologisch oder kulturanthropologisch, biologisch oder historisch erklart wird. Natiirlich kann sich das Denken mit diesen unvereinbaren Alternativen nicht abfinden. Von Hegel bis Merleau-Ponty reichen die Versuche, dieses Dilemma in einer beide Aspekte vereinigenden Disziplin zu iiberwinden und die konkrete Geschichte der apriori32 Dieter Henrich, Fluchtlinien, Ffm. 1982, 125ff.
schen Formen als einen ProzeB der Selbsterzeugung des Geistes oder der Gattung zu begreifen. Weil diese hybriden Unternehmen der Utopie vollstandiger Selbsterkenntnis nachjagen, miissen sie immer wieder in Positivismus umschlagen. 33 Die gleiche Dialektik entdeckt Foucault in der zweiten Dimension des Sich-Setzens. Seit Fichte macht das Ich als reflektierendes Subjekt die doppelte Erfahrung, daB es sich einerseits in der Weltimmer schon als ein kontingent Gewordenes, Opakes antrifft, daB es sich aber andererseits durcheben diese Reflexion auch anschickt, jenes An-sich transparent zu machen und fiir-sich ins BewuBtsein zu heben. Von Hegel iiber Freud bis Husserl reichen die Versuche, dies en ProzeB des Sich-BewuBtmachens von Vorgegebenheiten weiterzutreiben und einen methodischen Standpunkt zu finden, von wo aus das, was sich prima facie als ein hartnackig Exterritoriales dem BewuBtsein verweigert: sei es der Leib, die Bediirfnisnatur, die Arbeit oder die Sprache, doch noch in die Reflexion eingeholt, vertraut gemacht und in ein Transparentes verwandelt werden konnte. Freud stellt den Imperativ auf, daB aus Es Ich werden sol1, Husserl setzt der reinen Phanomenologie das Ziel, alles bloB Implizite, Vorpradikative, bereits Sedimentierte, nicht Aktuelle, mit einem Wort: das ungedachte und verdeckte Fundament der leistenden Subjektivitat aufzuklaren und unter bewuBte Kontro11e zu bringen. Auch diese hybriden Versuche einer Emanzipation yom BewuBtlos-Hintergriindigen sind der Utopie vo11standiger Selbstdurchsichtigkeit verfallen und schlagen darum in nihilistische Verzweiflung und radikale Skepsis urn. Auf dieselbe Dialektik lauft schlieBlich der Wunsch hinaus, sich der dritten Verdoppelung des Subjekts als eines urspriinglich schopferischen und zugleich dieses Ursprungs entfremdeten Autors zu entziehen. Der Mensch erkennt sich als das entfernte Produkt einer ins Archaische zuriickreichenden Geschichte, deren er nicht machtig ist, obgleich diese ihrerseits auf die Urheberschaft des produzierenden Menschen verWeist. Die U rspriinge weichen vor dem modernen Denken urn so weiter zuriick, je energischer es ihnen nachsetzt: 33 Daraus mag sich auch erklaren, warum sich in der analytischen Philosophie der Materialismus, und zwar anhand der Korper/Geist-Problematik so erfolgreich am Leben erhalten kann.
»es nimmt sich paradoxerweise vor, in die Richtung vorzugehen, in der sich dieses Zuriickweichen vollzieht und unaufh6rlich vertieft.« Darauf antwortet einerseits die Geschichtsphilosophie von Schelling iiber Marx bis Lukacs mit der Denkfigur einer bereichernden Riickkehr aus der Fremde, der Odyssee des Geistes, andererseits das dionysische Denken von H6lderlin iiber Nietzsche bis Heidegger mit der Idee des sich entziehenden Gottes, »der den Ursprung im MaBe seines Riickzuges freisetzt.«34 Aber diese hybriden Geschichtsvorstellungen k6nnen, da sie aus einem falschen eschatologischen Antrieb leben, nur in der Gestalt von Terror, Selbstmanipulation und Versklavung praktisch werden. Diesem von Kant in Bewegung gesetzten anthropozentrischen Denken, das sich mit seinen Utopien der Befreiung in die Praxis der Versklavung verstrickt, ordnet Foucault auch die Humanwissenschaften ein. Den experimentellen Naturwissenschaften belaBt er vorsichtigerweise eine Sonderstellung; sie haben sich offensichtlich dem Geflecht der Praktiken, aus dem sie hervorgehen (in erster Linie den Praktiken des gerichtlichen Verh6rs) entwinden und eine gewisse Autonomie erlangen k6nnen. Anders die Humanwissenschaften. Von der anthtopologischen Wende werden zunachst Grammatik, Naturgeschichte und Okonomie erfaBt, jene Wissenschaften, die noch wahrend des klassischen Zeitalters als taxonomische entstanden sind. Die allgemeine Grammatik weicht der Geschichte nationaler Sprachen, die Tableaus der N aturgeschichte der Evolution der Arten, die Analyse der Reichtiimer einer Theorie, die Gebrauchs- und Tauschwerte auf die Verausgabung von Arbeitskraft zuriickfiihrt. Damit entsteht eine Perspektive, aus der der Mensch als sprechendes und arbeitendes Lebewesen wahrgenommen wird. Die Humanwissenschaften machen sich diese Perspektive zunutze; sie analysieren den Menschen als das Wesen, das sich zu den von ihm, dem sprechenden und arbeitenden Lebewesen selbst erzeugten Objektivationen verhalt. Indem sich Psychologie, Soziologie und Politologie, aber auch die Kultur- und Geisteswissenschaften auf Objektbereiche einlassen, fiir die die Subjektivitat im Sinne der Selbstbeziehung erlebender, handelnder und sprechender Menschen konstitutiv ist, geraten sie in den Sog des Willens
zum Wissen, auf die Fluchtbahn bodenlos produktiver Wissenssteigerung. Sie sind der Dialektik von Befreiung und Versklavung schutzloser ausgeliefert als die Ges.chichtswissenschaft, die wenigstens iiber das skeptische Potential historischer Relativierung verfiigt, vor allem aber schutzloser als Ethnologie und Psychoanalysedenn diese bewegen sich (mit Levi-Strauss und Lacan) immerhin reflexiv im Dschungel des strukturellen und des individuellen UnbewuBten. Weil sich die Humanwissenschaften, allen voran Psychologie und Soziologie, mit entliehenen Modellen und fremden Objektivitatsidealen auf einen Menschen einlassen, der durch die moderne Wissensform allererst als Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen fixiert wird, kann sich in ihnen hinterriicks ein Antrieb durchsetzen, den sie sich ohne Gefahrdung ihres Wahrheitsanspruchs nicht eingestehen diirfen: eben jener rastlose Drang zum Wissen, zu Selbstbemachtigung und Selbststeigerung, mit dem das metaphysisch vereinsamte und strukturell iiberforderte, das gottverlassene und sich selbst vergottende Subjekt des nachklassischen Zeitalters den Aporien seiner Selbstthematisierungen zu entkommen sucht: »Man glaubt leicht, daB der Mensch sich von sich selbst befreit hat, seit er entdeckt hat, daB er weder im Zentrum der Sch6pfung, noch in der Mitte des Raums, noch vielleicht auf dem Gipfel oder am Ende des Lebens sich befindet. Wenn der Mensch aber nicht mehr souveran in der Welt steht, wenn er nicht im Zentrum des Seins herrscht, sind die Humanwissenschaften gefahrliche Mittelglieder.«35 BloB Mittelglieder, weil sie nicht, wie die Reflexionswissenschaften und die Philosophie, jene selbstzerst6rerische Dynamik des sich selbst setzenden Subjekts unmittelbar f6rdern, sondern bewuBtlos fiir diese instrumentalisiert werden. Die Humanwissenschaften sind imd bleiben Pseudowissenschaften, weil sie den Zwang zur aporetischen Verdoppelung des selbstbeziiglichen Subjektes nicht durchschauen und den strukturell erzeugten Willen zu Selbsterkenntnis und Selbstverdinglichung nicht wahrhaben diirfen - und die sich deshalb von der Macht, die sie treibt, auch nicht losmachen k6nnen. Das hatte Foucault schon in »Wahnsinn und
34 M. Foucault (1971), 403.
35 M. Foucault (1971), 418.
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X. Aporien einer Machttheorie
Gesellschaft« am Beispiel des psychiatrischen Positivismus vorgefuhrt. Welche Griinde sind es dann aber, die Foucault bestimmen, diesen spezifischen Willen zum Wissen und zur Wahrheit, der fur die moderne Wissensform im allgemeinen und fur die Humanwissenschaften im besonderen konstitutiv ist, diesen Willen zum Wissen und zur Selbstbemachtigung generalisierend in einen Machtwillen per se umzudeuten und zu postulieren, daB allen Diskursen, keineswegs nur den modernen, ein verhohlener Machtcharakter und die Herkunft aus Praktiken der Macht nachzuweisen ist? Diese Annahme markiert ja erst die Wendung von einer Archaologie des Wissens zur genealogischen Erklarung von Herkunft, Aufstieg und Fall jener Diskursformationen, die den Raum der Geschichte lukkenlos und sinnlos ausfullen.
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Die Archaologie der Humanwissenschaften liefert mit der Dynamik der wissensproduktiven Selbstbemachtigung nicht nur den Ansatzpunkt fur eine interne Verschrankung des Wissens mit dem Willen zum Wissen; die »Ordnung der Dinge« wirft auch die Fragen auf, die Foucault einige Jahre spater damit beantwortet, daB er aus dem Willen zum Wissen jenen Grundbegriff der Macht entwickelt, auf den sich seine genealogische Geschichtsschreibung stutzt. Lassen Sie mich auf drei Schwierigkeiten hinweisen. a) Zunachst muBte Foucault irritiert sein uber die Verwandtschaft, die zwischen seiner Archaologie der Humanwissenschaften und Heideggers Kritik der Metaphysik der Neuzeit offensichtlich bestand. Die Epistemen oder Wissensformen von Renaissance, Klassik und Moderne bezeichnen epochale Einschnitte und zugleich Stadien in der Ausbildung desselben subjektzentrierten Seinsverstandnisses, das Heidegger in ahnlichen Begriffen von Descartes uber Kant bis zu Nietzsche analysiert hat. Foucault darf aber den Weg der metaphysikkritischen Dberwindung der Subjektphilosophie nicht einschlagen; er hatte ja nachgewiesen, daB auch das Konzept der Seinsgeschichte nicht aus dem Zirkel der dritten Selbstthematisierung des selbstbezuglichen Subjekts, d. h. seiner Anstrengung, sich eines immer weiter zuriickweichenden Ursprungs zu bemachtigen, hinausfuhrt. Heideggers Spatphilosophie, war die These, ist gerade in jenem Vexierspiel gefangen, das Foucault unter dem Titel von »Zuruckweichen und Ruckkehr des Ursprungs« behandelt hatte. Aus diesem Grunde wird Foucault fortan auf den Begriff der Episterne ganz verzichten mussen. b) Ebenso problematisch wie die Nahe zu Heidegger ist die zum Strukturalismus. In der »Ordnung der Dinge« hatte Foucault allen, »die nicht formalisieren wollen, ohoe zu anthropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne zu demystifizieren«, uber313
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haupt allen Anwalten »linker und linkischer Reflexion« mit einem befreienden philosophischen Lachen begegnen wollen. 1 Mit dieser, dem Gelachter des Zarathustra abgeschauten Geste will er alle, »die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daB es der Mensch ist, der denkt«, aus dem anthropologischen Schlummer reillen. Sie sollen sich die Augen reiben und die simple Frage stellen, ob denn der Mensch iiberhaupt existiere.2 Offenbar halt Foucault damals allein den zeitgenossischen Strukturalismus, die Ethnologie von LeviStrauss und die Lacansche Psychoanalyse fiir fahig, »die Leere des verschwundenen Menschen zu denken«. Der urspriinglich geplante Untertitel des Buches »Archaologie des Strukturalismus« war keineswegs kritisch gemeint. Aber diese Perspektive muBte sich auflos en, sobald klar wurde, daB der Strukturalismus insgeheim schon das Modell fiir die Beschreibung der klassischen Wissensform des semiotischen Reprasentationalismus abgegeben hatte. 3 Eine strukturalistische Dberwindung des anthropozentrischen Denkens hatte dann aber keine Dberbietung der Moderne bedeutet, sondern nur die explizite Erneuerung der protostrukturalistischen Wissensform des klassischen Zeitalters. c) Eine Verlegenheit ergab sich schlieBlich aus dem Umstand, daB Foucault seine Studie zur Entstehung der Humanwissenschaften in der Form, und nur in der Form einer Archaologie des Wissens durchgefiihrt hatte. Wie konnte dieser Analyse wissenschaftlicher Diskurse die aus friiheren Studien bekannte Untersuchung der zugehorigen Praktiken hinzugefiigt werden, ohne die Selbstgeniigsamkeit der in sich zu Universen abgerundeten Wissensformen zu gefahrden? Dieses Problem beschaftigt Foucault in seinen methodologischen Betrachtungen zur »Archaologie des Wissens« (1969). Er bezieht darin keine ganz eindeutige Position, neigt aber zur Dberordnung cler Diskurse iiber die ihnen zugrundeliegenden Praktiken. Die strukturalistische Forderung, daB jede Diskursformation streng aus sich selbst heraus verstanden werden muB, scheint nur dann eingelost werden zu konnen, wenn die dis1 M. Foucault (1971), 412. 2 M. Foucault (1971),388. 3 M. Frank weist auf diese von Foucault systematisch nicht zu rechtfertigende PraFerenz des Reprasentationsmodells hin: Was heiBt Neostrukturalismus?, Ffm. 1984, 9.ho. Vorlesung.
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kurskonstituierenden Regeln ihre institutionelle Basis gleichsam selbst in Regie nehmen. Der Diskurs verkniipft, dieser Vorstellung zufolge, die technischen, okonomischen, sozialen und politis chen Bedingungen erst zu dem funktionierenden Netzwerk von Praktiken, die dann seiner Reproduktion dienen. Dieser vollstandig autonom gewordene, von Kontextbeschrankungen und Funktionsbedingungen abgeloste, also die zugrundeliegenden Praktiken steuernde Diskurs ist freilich mit einer kon- . zeptionellen Schwierigkeit behaftet. Als fundamental gelten die archaologisch zuganglichen Regeln, die die jeweilige Diskurspraxis ermoglichen. Diese Regeln konnen aber einen Diskurs nur in den Bedingungen seiner Moglichkeit verstandlich machen; sie reichen nicht hin, urn die Diskurspraxis in ihrem tatsachlichen Funktionieren zu erklaren. Es gibt ja keine Regeln, die ihre eigene Anwendung regeln konnten. Ein regelgeleiteter Diskurs kann nicht selber den Kontext regeln, in den er eingelassen ist: »Thus, although nondiscursive influences in the form of social and institutional practices, skills, pedagogical practices and concrete models (e. g. Bentham's Panopticum) constantly intrude into Foucaults analysis ... he must locate the productive power revealed by discursive practices in the regularity of these same practices. The result is the strange notion of regularities which regulate themselves«.4 Dieser Schwierigkeit entgeht Foucault, wenn er die Autonomie der Wissensformen zugunsten ihrer Fundierung in Machttechnologien preisgibt und die Archaologie des Wissens einer Genealogie unterordnet, die die Entstehung des Wissens aus Praktiken der Macht erklart. Diese Machttheorie empfiehlt sich auch fiir die Losung der beiden anderen Probleme: Foucault kann damit die Subjektphilosophie hinter sich lassen, ohne sich an strukturalistische oder seinsgeschichtliche Modelle anzulehnen, die (seiner eigenen Analyse zufolge) selber noch, sei es der klassischen oder der modernen Wissensform verhaftet sind. Die genealogische Geschichtsschreibung raumt mit der Autonomie sich selbst steuernder Diskurse ebenso auf wie mit der epochalen und gerichteten Abfolge globaler Wissensformen. Erst wenn unter dem unbestechlich genealogischen 4 Dreyfus, Rabinow (1982),84; vgl. auch A. Honneth (1985), 133 ff.
Blick die Diskurse wie schillernde Blasen aus dem Sumpf anonymer Uberwaltigungsprozesse aufgehen und zerplatzen, ist, so scheint es, die Gefahr des Anthropozentrismus gebannt. Mit der energischen Umkehrung der Abhangigkeitsverhaltnisse zwischen Wissensformen und Praktiken der Macht erschlieBt sich Foucault gegenuber der streng strukturalistischen Geschichte der Wissenssysteme eine gesellschaftstheoretische, und gegenuber der metaphysikkritischen Geschichte des Seinsverstandnisses eine naturalistische Fragestellung. Die Diskurse der Wissenschaften, uberhaupt die Diskurse, in denen Wissen gebildet und weitergegeben wird, verlieren ihre privilegierte Stellung; sie bilden zusammen mit anderen diskursiven Praktiken Machtkomplexe, die einen Gegenstandsbereich sui generis darstellen. 1m Durchgriff durch die Diskurstypen und die Wissensformen gilt es nun, die Technologien der Uberwaltigung zu entdecken, urn die sich jeweils ein dominanter Machtkomplex zusammenzieht, zur Herrschaft gelangt und schlieBlich yom nachsten Machtkomplex verdrangt wird. Die historische Erforschung von Machttechnologien, welche die Wissenssysterne bis in deren Geltungskriterien hinein instrumentalisieren, solI sich auf dem festen Boden einer naturalistischen Gesellschaftstheorie bewegen konnen. Foucault gewinnt dies en Boden freilich nur dadurch, daB er im Hinblick auf seine eigene genealogische Geschichtsschreibung nicht genealogisch denkt und die Herkunft seines transzendentalhistoristischen Machtbegriffs unkenntlich macht. Foucault hatte ja, wie gezeigt, an den Humanwissenschaften die Form eines Wissens studiert, welches mit dem Anspruch auf Reinigung des Intelligiblen von allem Empirischen, Zufalligen und Partikularen auftritt und das sich wegen dieser pratendierten Trennung von Geltung und Genesis besonders gut zum Machtmedium eignet: das moderne Wissen kann, weil es sich in dieser Weise absolut setzt, vor sich und anderen jenen Antrieb verhehlen, der ein metaphysisch vereinsamtes und reflexiv auf sich zuruckgeworfenes Subjekt erst zur rastlosen Selbstbemachtigung anstachelt. Dieser Wille zum Wissen sollte in die Konstitution der wissenschaftlichen Diskurse eingreifen und erklaren, warum das szientifisch aufbereitete Wissen yom Menschen in der Gestalt von Therapien, Gutachten, Sozial-
technologien, Lehrplanen, Tests, Untersuchungsberichten, Datenbanken, Reformvorschlagen usw. unmittelbar zur disziplinarischen Gewalt gerinnen kann. Der moderne Wille Zum Wissen bestimmt »das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre yom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird«. 5 Beim Ubergang zur Machttheorie lost Foucault aber diesen Willen zum Wissen aus dem metaphysikgeschichtlichen Kontext und laBt ihn in der Kategorie von Macht uberhaupt aufgehen. Diese Transformation verdankt sich zwei Operationen. Zunachst postuliert Foucault einen wahrheitskonstitutiven Willen fur aile Zeiten und aile Gesellschaften: »Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre allgemeine Politik der Wahrheit: d. h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre funktionieren laBt«.6 Uber diese raumzeitliche Generalisierung hinaus nimmt Foucault eine sachliche Neutralisierung vor: er entdifferenziert den Willen zum Wissen zu einem Willen zur Macht, welcher allen Diskursen, keineswegs nur den auf Wahrheit spezialisierten, auf ahnliche Weise innewohnen solI wie den Humanwissenschaften der spezifische Selbstbemachtigungswille der neuzeitlichen Subjektivitat. Erst nachdem die Spuren dieser Transformation getilgt sind, darf der Wille zum Wissen, im Untertitel zum ersten Band der »Geschichte der Sexualitat« (1976), wieder auftauchen, nun freilich herabgestuft zu einem Spezialfall - das »Wahrheitsdispositiv« erscheint jetzt als eines unter mehreren »Machtdispositiven.« Die derart kaschierte Herkunft des Machtbegriffs aus dem metaphysikkritischen Begriff des Willens zur Wahrheit und zum Wissen erklart auch die systematisch zweideutige Verwendung der Kategorie »Macht«. Diese erhalt namlich einerseits die Unschuld eines deskriptiv verwendbaren Begriffs und dient einer empirischen Analyse von Machttechnologien, die sich in methodischer Hinsicht nicht auffallig von einer funktionalistisch verfahrenden, historisch gerichteten Wissenssoziologie unterscheidet. Andererseits bewahrt die Kategorie der Macht aus ihrer verheimlichten Entstehungsgeschichte auch den Sinn eines konstitutionstheoretischen Grundbegriffs, der der empirischen Analyse von Machttechnologien erst 5 M. Foucault (1978),53.
6 M. Foucault (1978), 51.
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ihre vernunftkritische Bedeutung verleiht und der genealogischen Geschichtsschreibung ihren entlarvenden Effekt sichert.
II
Diese systematische Zweideutigkeit erklart zwar, aber rechtfertigt nicht jene paradoxe Verbindung von positivistischer Einstellung und kritischem Anspruch, die Foucaults Arbeiten seit den 70er Jahren auszeichnet. In »Uberwachen und Strafen« (1976) behandelt Foucault (vorwiegend anhand franz6sischen Materials) die Herrschaftstechnologien, die im klassischen Zeitalter (grob gesagt in der Zeit des Absolutismus) und in der Moderne (also seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) entstanden sind. Die entsprechenden Formen des Strafvollzuges dienen als Leitfaden einer Untersuchung, in deren Mittelpunkt die »Geburt des Gefangnisses« steht. Jener Machtkomplex, der sich im klassischen Zeitalter urn die Souveranitat des gewaltmonopolisierenden Staates konzentriert hat, schlagt sich in den juristischen Sprachspielen des modernen Naturrechts nieder, die mit den Grundbegriffenvon Vertrag und Gesetz operieren. Die tatsachliche Aufgabe der absolutistischen Staatstheorien ist freilich weniger die Rechtfertigung von Menschenrechten als die Begriindung fiir die Konzentration aller Gewalt in den Handen des Souverans. Diesem geht es urn den Aufbau eines zentralisierten 6ffentlichen Verwaltungsapparates und urn die Beschaffung von administrativ niitzlichem Organisationswissen. Nicht der Staatsbiirger mit seinen Rechten und Pflichten, sondern der Untertan mit Leib und Leben ist Objekt des neuen Wissensbedarfs, der zunachst mit kameralistischem und statistischem Wissen iiber Geburt und Tod, Krankheit und Straffalligkeit, Arbeit und Verkehr, Wohlfahrt und Armut der Bev6lkerung befriedigt wird. Darin sieht Foucault bereits die Anfange einer Biopolitik, die sich hinter dem offiziellen Schirm juristisch gefiihrter, auf die Souveranitat des Staates bezogener Diskurse allmahlich herausbildet. Damit entsteht eine andere, yom normativen Sprachspiel entkoppelte Disziplinarmacht. Sie verdichtet sich in dem MaBe zu einem neuen, eben dem modernen Machtkomplex, wie die Humanwis3 18
senschaften zum Medium dieser Macht werden und die panoptische Form der Kontrolle in aIle Poren des unterworfenen Leibes und der vergegenstandlichten Seele eindringen lassen. Die Umstellung des Strafvollzuges von der Marter aufs Gefangnis behandelt Foucault als exemplarischen Vorgang, an dem er die Herkunft des modernen anthropozentrischen Denkens aus modernen Herrschaftstechnologien nachweis en m6chte. Die exzessiven Strafen und T orturen, denen der Verbrecher im klassischen Zeitalter unterzogen wird, begreift er als das yom Yolk ambivalent erlebte Schauspiel der riicksichtslos inszenierten Macht des rachenden Souverans. In der Moderne wird diese demonstrative Zufiigung k6rperlicher Qualen durch die nach auBen abgeschirmte freiheitsentziehende Kerkerstrafe ersetzt. Das panoptische Gefangnis deutet Foucault als eine Apparatur, die die Haftlinge nicht nur gefiigig macht, sondern transformiert. Der alles durchdringende normalisierende EinfluB einer allgegenwartigen Disziplinarmacht greift iiber die Dressur des K6rpers in das tagliche Verhalten ein, produziert eine veranderte moralische Haltung, soIl jedenfalls die Motivation zu geregelter Arbeit und geordnetem Leben f6rdern. Diese Straftechnologie kann sich am Ende des 18. Jahrhunderts schnell verbreiten, weil das Gefangnis nur ein Element im reichen Ensemble von K6rperdisziplinen ist. Diese setzen sich zur gleichen Zeit in Manufakturen und Arbeitshausern, in Kasernen, Schulen, Hospitalern und Gefangnissen durch. Die Humanwissenschaften sind es dann, die auf sublime Weise den normalisierenden Effekt dieser K6rperdisziplinen bis ins Innerste der szientifisch vergegenstandlichten, zugleich in ihre Subjektivitat hineingetriebenen Personen und Populationen verlangern. 7 Die Humanwissenschaften sollen ihrer Form nach ein Amalgam aus Macht und Wissen darstellen 7 »Diese Wissenschaften, an denen sich unsere >Menschlichkeit< seit uber einem Jahrhundert begeistert, haben ihren Mutterboden und ihr Muster in der kleinlichen und boshaften Griindlichkeit der Disziplinen und ihrer Nachforschungen. Diese spielen vielleicht fur die Psychologie, die Psychiatrie, die Padagogik, die Kriminologie und so viele andere seltsame Kenntnisse eben die Rolle, die einst die schreckliche Macht der Inquisition fUr das ruhige Wissen von den Tieren, den Pflanzen, der Erde gespielt hat. Andere Macht, anderes Wissen. An der Schwelle zum klassischen Zeitalter hat Bacon, der Jurist und Staatsmann, versucht, fUr die empirischen Wissenschaften eine Methodologie der Untersuchung zu definieren. Welcher GroBsie-
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Macht- und Wissensformation bilden eine unauflosliche Einheit. Diese starke These laBt sich freilich nicht allein mit funktionalistischen Argumenten begriinden. Foucault zeigt nur, wie sich mit der therapeutischen und sozialtechnischen Anwendung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse disziplinierende Wirkungen erzielen lassen, die den Effekten von Machttechnologien ahnlich sind. Urn seinem Beweisziel zu geniigen, miiBte er aber ( beispielsweise im Rahmen einer transzendental-pragmatischen Erkenntnistheorie) nachweisen, daB sich spezifische Machtstrategien in entsprechende wissenschaftliche Strategien der Vergegenstandlichung von alltagssprachlichen Erfahrungen umsetzen und damit den Sinn der Verwendung theoretischer Aussagen iiber derart konstituierte Gegenstandsbereiche priijudizieren. 8 Friihere Gedanken zur epistegelbewahrer und Oberaufseher wird die Methodologie der Priifung fUr die Humanwissenschaften verfassen? Aber vielleicht ist das gar nicht moglich. Wahrend sich namlich die Untersuchung aus ihrer historischen Verwurzelung im Inquisitionsverfahren gelost hat, urn eine Technik der empirischen Wissenschaften zu werden, ist die Uberpriifung der Disziplinarmacht, in der sie sich ausgebildet hat, ganz nahe geblieben. Sie ist imrner noch ein inneres Element der Disziplinen. Gewill scheint sie eine spekulative Uiuterung erfahren zu haben, indem sie sich in Wissenschaften wie die Psychiatrie und Psychologie integriert hat. Und in der Fortn von Tests, Gesprachen, Befragungen oder Konsultationen scheint sie die Disziplinartnechanismen zu korrigieren: die Schulpsychologie muB die Strenge der Schule ebenso kompensieren, wie das arztliche oder psychiatrische Gesprach die Wirkungen der Arbeitsdisziplin zu korrigieren hat. Aber man tausche sich nicht: diese Techniken verweisen das Individuum nur von einer Disziplinarinstanz zur anderen, und in konzentrierter oder fortnalisierter Spielart reproduzieren sie das jeder Disziplin eigene Schema von MachtlWissen. Die Untersuchung wurde zum art der Naturwissenschaften, indem sie sich von ihrem politisch-juristischen Modell loste. Die Priifung hingegen ist immer noch in die Disziplinartechnologie integriert.« (M. Foucault [1976], 29 of.). Diese Stelle ist in zweifacher Hinsicht interessant. Erstens soll der Vergleich von N atur- und Humanwissenschaften lehren, daB beide aus Machnechnologien hervorgegangen sind, daB sich aber nur die Naturwissenschaften von ihrem Entstehungskontext haben losen und zu seriosen, ihren Anspruch auf Objektivitat und Wahrheit tatsachlich einlosenden Diskursen haben entfalten konnen. Zweitens ist Foucault der Meinung, daB sich die Humanwissenschaften von ihrem Entstehungskontext gar nicht los en konnten, weil in ihrem Falle die Praktiken der Macht nicht nur kausal in die Entstehungsgeschichte eingreifen, sondern die transzendentale Rolle der Wissenskonstitution iibernehmen. 8 Vgl. J. Habertnas, Erkenntnis und Interesse, Ffm. 1968; zuletzt K. O. Apel, Die ErklarenNerstehen-Kontroverse, Ffm. 1979·
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mologischen Rolle des klinischen Blicks, die immerhin in diese Richtung weisen, hat Foucault nicht wieder aufgenommen. Sonst ware ihm kaum verborgen geblieben, daB in den Humanwissenschaften der 70er Jahre objektivistische Ansatze langst nicht mehr das Feld beherrschen, vielmehr mit hermeneutischen und kritischen Ansatzen konkurrieren, die ihrer Wissensform nach auf andere Verwendungsmoglichkeiten zugeschnitten sind als auf Manipulation und Selbstmanipulation. In der »Ordnung der Dinge« hatte Foucault die Humanwissenschaften auf die konstituierende Kraft einesmetaphysikgeschichtlich erklarten Willens zum Wissen zuruckgefiihrt. Die Machttheorie muB diesen Zusammenhang, wie gezeigt, kaschieren. Fortan bleibt deshalb der Ort konstitutionstheoretischer Erorterungen unbesetzt. Der »Wille zum Wissen« kehrt im Titel des ersten Bandes zur Geschichte der Sexualitat (1976) wieder, aber in einer durch die Machttheorie vollig veranderten Gestalt. Er hat den transzendentalen Sinn eines strukturell erzeugten Willens zurwissenden Selbstbemachtigung verloren und die empirische Gestalt einer speziellen Machttechnologie angenommen, die zusammen mit anderen Machttechnologien die Wissenschaften vom Menschen erst moglich macht. Diese handgreifliche Positivierung des Willens zur Wahrheit und zum Wissen wird deutlich in einer Selbstkritik, die Foucault 1980 in Berkeley vortragt. Dort raumt er ein, daB die in »Dberwachen und Strafen« durchgefiihrte Analyse von Herrschaftstechnologien ein einseitiges Bild ergibt: »1£ one wants to analyze the genealogy of the subject in Western societies, one has to take into account not only techniques of domination but also techniques of the self. Let's say one has to take into account the interaction between those two types of techniques, the point where the technologies of domination of individuals over one another have recourse to processes by which the individual acts upon himself.«9 Diese Technologien, die die Individuen dazu anhalten, sich gewissenhaft zu prufen und die Wahrheit iiber sich selbst herauszufinden, fiihrt Foucault bekanntlich auf die Praktiken der Beichte, iiberhaupt der christlichen Gewissenserforschung zuruck. Strukturell ahnliche Praktiken, die wahrend des 18. Jahrhunderts in alle Bereiche der Erziehung ein9 Howison Lecture on Truth and Subjectivity, Oct. 20, 1980, Berkeley, MS p. 7.
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dringen, installieren, um den Mittelpunkt der Wahrnehmung eigener und fremder sexueller Regungen herum, eine Waffenkammer mit Instrumenten der Selbstbeobachtung und Selbstbefragung. Die Psychoanalyse bringt schlieBlich diese Wahrheitstechnologien, die nicht etwa das Innere der Individuen erschlieBen, sondern Innerlichkeit durch ein immer dichteres Gewebe von Selbstbeziehungen allererst produzieren, in die Form einer wissenschaftlich begriindeten Therapie. 10 Kurzum, Foucaults Genealogie der Humanwissenschaften tritt in einer irritierenden Doppelro11e auf. Einerseits spielt sie die empirische Rolle einer Analyse von Machttechnologien, die den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang der Wissenschaft yom Menschen erklaren sol1en; dabei interessieren Machtverhaltnisse als Entstehungsbedingungen und als soziale Effekte wissenschaftlichen Wissens. Dieselbe Genealogie spielt andererseits die transzendentale Rolle einer Analyse von Machttechnologien, die erklaren sol1en, wie wissenschaftliche Diskurse uber den Menschen uberhaupt moglich sind; dabei interessieren Machtverhaltnisse als Konstitutionsbedingungen fur wissenschaftliches Wissen. Diese beiden epistemologischen Ro11en sind nun nicht mehr auf konkurrierende Ansatze verteilt, die sich lediglich auf denselben Gegenstand, eben das menschliche Subjekt in seinen LebensauBerungen, beziehen. Vielmehr solI die genealogische Geschichtsschreibung beides in einem sein - funktionalistische Sozialwissenschaft und historische Konstitutionsforschung zugleich. Foucault hat im Grundbegriff der Macht den idealistischen Gedan':' ken der transzendentalen Synthesis mit den Voraussetzungen einer empiristischen Ontologie zusammengezwungen. Einen Ausweg aus der Subjektphilosophie kann dieser Ansatz schon deshalb nicht eroffnen, weil der Machtbegriff, der fur die kontraren Bedeutungskomponenten den gemeinsamen Nenner bieten sol1, dem Reper10 In der »Geschichte der Sexualitat« untersucht Foucault die Entstehungs- und Verwendungskontexte, in die die Psychoanalyse hineinpaBt. Wiederum sollen funktionalistische Argumente begriinden, was sie ni~ht begriinden konnen - daB namlich die Machttechnologien den wissenschaftlichen Objektbereich konstimieren und darum auch die Geltungskriterien fUr das, was innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses als wahr oder falsch gilt, prajudizieren.
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toire der BewuBtseinsphilosophie selber entnommen ist. Ihr zufolge kann das Subjekt zur Welt vorstellbarer und manipulierbarer Gegenstande grundsatzlich zwei und nur zwei Beziehungen aufnehmen: kognitive Beziehungen, die durch die Wahrheit von Ur, teilen, sowie praktische Beziehungen, die durch den Erfolg von Handlungen reguliert sind. Macht ist das, womit das Subjekt in erfolgreichen Handlungen auf Objekte einwirkt. Dabei hangt der Handlungserfolg von der Wahrheit der in den Handlungsplan eingehenden Urteile ab; uber das Kriterium des Handlungserfolges bleibt Macht von Wahrheit abhangig. Diese Wahrheitsabhangigkeit der Macht kehrt Foucault kurzerhand in eine Machtabhangigkeit von Wahrheit um. Deshalb braucht die fundierende Macht nicht langer an die Kompetenzen handelnder und urteilender Subjekte gebunden zu sein - die Macht wird subjektlos. Niemand entkommt jedoch den begriffsstrategischen Zwangen der Subjektphilosophie schon dadurch, daB er an deren Grundbegriffen Umkehrungsoperationen durchfuhrt. Foucault kann nicht alle jene Aporien, die er der Subjektphilosophie vorrechnet, in einem der Subjektphilosophie selbst entlehnten Begriff der Macht zum Verschwinden bringen. So nimmt es nicht wunder, daB dieselben Aporien in einer als Antiwissenschaft deklarierten Geschichtsschreibung, die sich auf einen derart paradoxen Grundbegriff stutzt, auch wieder aufbrechen. Weil sich Foucault uber diese U nvereinbarkeiten methodologisch keine Rechenschaft ablegt, bleibt auch der Grund fur die Einseitigkeit seiner empirischen Untersuchungen verborgen. Mit der Wende zur Machttheorie verbindet Foucault namlich die Erwartung, seine Forschungen aus jenem Zirkel herauszufuhren, in dem die Humanwissenschaften hoffnungslos gefangen seien. Wahrend das anthropozentrische Denken durch die Dynamik der bodenlosen Selbstbemachtigung eines reflexiv gewordenen Subjekts in den Strudel des Objektivismus, d.h. der Vergegenstandlichung des Menschen hineingezogen wird, sol1 sich die Genealogie des Wissens zur wahren Objektivitat der Erkenntnis erheben. Wir haben schon gesehen, daB die machttheoretisch begriindete genealogische Geschichtsschreibung drei Substitutionen vornehmen sol1: an die Stelle der hermeneutischen Erhe11ung von Sinnzusammenhangen tritt die Analyse an sich selbst sinnloser Strukturen; Gel32 3
tungsanspriiche interessieren nur noch als Funktionen von Machtkomplexen; und Werturteile, iiberhaupt die Problematik der Rechtfertigung von Kritik, werden zugunsten wertfreier historischer Erklarungen ausgeschaltet. DerName »Antiwissenschaft« erklart sich nicht nur aus der Opposition zu den herrschenden Humanwissenschaften; er signalisiert zugleich den ehrgeizigen Versuch, diese Pseudowissenschaften zu iiberwinden. Deren Platz nimmt nun eine genealogische Forschung ein, die sich, ohne falschen naturwissenschaftlichen Modellen nachzujagen, eines Tages in ihrem wissenschaftlichen Status mit dem der Naturwissenschaften wird messen konnen. Ich glaube, daB Paul Veyne die eigentliche Intention seines Freundes trifft, wenn er Foucault als den »Historiker im Reinzustand« beschreibt, der nichts anderes will, als stoisch zu sagen, wie es gewesen ist: »A11es ist geschichtlich ... und alle Ismen sollen evakuiert werden. Es gibt in der Geschichte nur individuelle oder gar einzigartige Konstellationen, und jede ist aus ihrer eigenen Situation vollstandig erklarbar.«l1 Freilich waren die dramatische Wirkungsgeschichte und der ikonoklastische Ruf Foucaults kaum zu erklaren, wenn die kiihle Fassade des radikalen Historismus nicht die Leidenschaften des asthetischen Modernismus bloB verdeckte. Die Genealogie ereilt ein ahnliches Schicksal wie jenes, das Foucault den Humanwissens~haftenaus der Hand gelesen hatte: in dem MaBe, wie sie sich in die reflexionslose Objektivitat einer teilnahmslos-asketischen Beschreibung von kaleidoskopisch wechselnden Praktiken der Macht zuriickzieht, entpuppt sich die genealogische Geschichtsschreibung als genau die prasentistische, relativistische und kryptonormative Scheinwissenschaft, die sie nicht sein will. Wahrend die Humanwissenschaften, Foucaults Diagnose zufolge, der ironischen Bewegung szientistischer Selbstbemachtigung nachgeben und in einem heillosen Objektivismus enden, besser: verenden, vollzieht sich an der genealogischen Geschichtsschreibung ein nicht minder ironisches Schicksal; sie folgt der Bewegung einer radikal historistischen Ausloschung des Subjekts und endet in heillosem Subjektivismus.
11 Veyne (1981),52.
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III
Foucault fiihlt sich als »gliicklicher Positivist«, weil er drei methodologisch folgenreiche Reduktionen vorschlagt; das Sinnverstandnis des an Diskursen beteiligten Interpreten wird aus der Sicht des ethnologischen Beobachters auf die Erklarung von Diskursen zuriickgefiihrt; Geltungsanspriiche werden funktionalistisch auf Machtwirkungen reduziert; So11en wird naturalistisch auf Sein zuriickgefiihrt. Ich spreche von Reduktionen, weil die internen Aspekte der Bedeutung, der Wahrheitsgeltung und des Wertens in den extern erfaBten Aspekten von Machtpraktiken tatsachlich nicht restlos aufgehen. Die ausgeblendeten und verdrangten Momente kehren wieder und behaupten ihr Eigenrecht - zunachst auf metatheoretischer Ebene; Foucault verstrickt sich in Aporien, sobald er erklaren soll, wie das zu verstehen ist, was der genealogische Geschichtsschreiber selber tut. Die vorgebliche Objektivitat der Erkenntnis sieht sich dann namlich in Frage gestellt (I) durch den unfreiwilligen Prasentismus einer Geschichtsschreibung, die ihrer· Ausgangssituation verhaftet bleibt; (2) durch den unvermeidlichen Relativismus einer gegenwartsbezogenen Analyse, die sich selbst nur noch als kontextabhangiges praktisches Unternehmen verstehen kann; und (3) durch die willkiirliche Parteilichkeit einer Kritik, die ihre normativen Grundlagen nicht ausweisen kann. Foucault ist unbestechlich genug, urn diese Inkonsequenzen eirizugestehen _ freilich zieht er daraus keine Konsequenzen. I) Foucault will, wie gezeigt, die hermeneutische Problematik und damit jene Selbstbeziiglichkeit eliminieren, die mit einem sinnverstehenden Zugang zum Objektbereich ins Spiel kommt. Der genealogische Geschichtsschreiber soll nicht wie der Hermeneutiker verfahren, nicht versuchen, das, was die Akteure jeweils tun und denken, aus einem, mit dem Selbstverstandnis der Akteure verwobenen Traditionszusammenhang verstandlich zu machen. Er so11 vielmehr den Horizont, innerhalb dessen solche AuBerungen iiberhaupt als sinnvoll erscheinen konnen, aus zugrundeliegenden Praktiken erklaren. So wird er z.B. das Verbot der Gladiatorenkampfe im spaten Rom nicht auf den humanisierenden EinfluB des Christentums zUrUckfiihren, sondern auf die Ablosung einer Machtfor-
mation durch die nachste l2 : im Horizont des neuen Machtkomplexes im nachkonstantinischen Rom ist es z. B. ganz natiirlich, daB der Herrscher das Yolk nicht mehr wie eine Herde von zu hiitenden Schafen, sondern wie eine Schar von erziehungsbediirftigen Kindern behandelt - und Kinder darf man nicht mehr sorglos blutriinstiger Schaulust iiberlassen. Die Reden, mit denen Einrichtung oder Abschaffungvon Gladiatorenkampfen begriindetwurden, gelten nur noch als Verkleidung einer unbewuBt zugrundeliegenden Herrschaftspraxis. Ais Quelle allen Sinns sind solche Praktiken selber sinnlos; der Historiker muB von auBen an sie herantreten, urn sie in ihrer Struktur zu erfassen. Dazu bedarf es keines hermeneutischen Vorverstandnisses, sondern einzig des Konzepts der Geschichte als eines sinnlosen, kaleidoskopischen Gestaltwandels von Diskursuniversen, die nichts miteinander gemeinsam haben auBer der einzigen Bestimmung, Protuberanzen von Macht iiberhaupt zu sein. Entgegen diesem auf Objektivitat beharrenden Selbstverstandnis lehrt freilich der erste Blick in irgendeines von Foucaults Biichern, daB auch der radikale Historist Machttechnologien und Herrschaftspraktiken nur im Vergleich miteinander - und keineswegs jede einzelne als eine Totalitat jeweils aus sich selber - erklaren kann. Dabei sind die Gesichtspunkte, unter denen er Vergleiche vornimmt, unvermeidlich mit der eigenen hermeneutischen Ausgangslage verkniipft. Das zeigt sich u. a. daran, daB sich Foucault dem Zwang zur implizit gegenwartsbezogenen Epocheneinteilung nichtentziehen kann. Ob es sich nun urn die Geschichte des Wahnsinns, der Sexualitat oder des Strafvollzuges handelt, die Machtformationen des Mittelalters, der Renaissance und der Klassik verweisen stets auf jene Disziplinarmacht, jene Biopolitik, die Foucault fiir das Schicksal unserer Gegenwart halt. 1m SchluBteil der »Archaologie des Wissens« macht er sich selbst dies en Einwand, freilich nur, urn ihm auszuweichen: »Im Augenblick, und ohne daB ich ein Ende absehen konnte, meidet mein Diskurs - weit davon entfernt, den Ort zu bestimmen, von dem aus er spricht - den Boden, auf den er sich stiitzen konnte.«13 Foucault ist sich der Aporie eines Vor-
gehens, das objektivistisch sein will und zeitdiagnostisch bleiben muB, bewuBt, ohne darauf eine Antwort zu geben. Der durchgespielten Melodie eines bekennenden Irrationalismus gibt Foucault nur im Kontext seiner Nietzsche-Interpretation nacho Hier erfahrt namlich die Selbstausloschung oder »die Opferung des Erkenntnissubjekts«, die der radikale Historist doch nur urn der Objektivitat der reinen Strukturanalyse willen von sich fordern muB, eine ironische Umdeutung ins Gegenteil: »Dem Anschein oder seiner Maske nach ist das historische BewuBtsein neutral, frei von jeder Leidenschaft und nur der Wahrheit hingegeben. Befragt es aber sich selbst und uberhaupt jedes wissenschaftliche BewuBtsein in seiner Geschichte, so entdeckt es die Formen und Umformungen des Willens zum Wissen als da sind Instinkt, Leidenschaft, inquisitorische Wut, grausames Raffinement, Bosheit; es entdeckt die Gewalttatigkeit der Parteinahmen. Die historische Analyse dieses groBen Wissenwollens der Menschheit macht sichtbar, daB es keine Erkenntnis gibt, die nicht auf Ungerechtigkeit beruht (und daB es daher in der Erkenntnis kein Recht auf Wahrheit und keine Begriindung des Wahren gibt)«.14 So schlagt der Versuch, die Diskurs- und Machtformationen unter dem unnachsichtig vergegenstandlichenden Blick des von weit herkommenden, allem Einheimischen verstandnislos gegeniiberstehenden Analytikers nur aus sich selber zu erklaren, ins Gegenteil urn. Die Entlarvung der objektivistischen Illusionen jedes Wissenwollens fiihrt zum Einverstandnis mit einer narziBtisch auf den Standort des Historikers ausgerichteten Geschichtsschreibung, die die Betrachtung der Vergangenheit fur die Bediirfnisse der Gegenwart instrumentalisiert: die »wirkliche Historie« senkt »an ihrem Standort das Lot in die Tiefe«.15 2) Sowenig wie dies em zugespitzten Prasentismus kann Foucaults Geschichtsschreibung einem Relativismus entgehen. Seine Forschungen verfangen sich genau in der Selbstbeziiglichkeit, die durch eine naturalistische Behandlung der Geltungsproblematik ausgeschaltet werden sollte. Die genealogische Geschichtsschreibung soll ja Praktiken der Macht, gerade in ihren diskurskonstituierenden
12 Dieses Beispiel behandelt Veyne (198 I), 6ff. 13 M. Foucault (1973), 292.
14 M. Foucault (1974), 107.
15 M. Foucault (1974), 101.
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Leistungen, einer empirischen Analyse zuganglich machen. Aus dieser Perspektive werden Wahrheitsanspriiche nicht nur auf die Diskurse, innerhalb deren sie jeweils auftreten, eingeschrankt. Sie erschopfen iiberhaupt ihre Bedeutung in dem funktionalen Beitrag, den sie zur Selbstbehauptung eines jeweiligen Diskursuniversums leisten. Der Sinn von Geltungsanspriichen besteht also in den Machtwirkungen, die sie haben. Andererseits ist diese Grundannahme der Machttheorie selbstbeziiglich; sie muB, wenn sie zutrifft, die Geltungsgrundlage auch der von ihr inspirierten Forschungen zerstoren. Wenn aber der Wahrheitsanspruch, den Foucault selbst mit seiner Genealogie des Wissens verbindet, tatsachlich i11usionar ware und in den Wirkungen aufginge, die diese Theorie im Kreise ihrer Anhanger auszulosen vermag, dann wiirde das ganze Unternehmen einer kritischen Entlarvung der Humanwissenschaften urn ihre Pointe gebracht. Foucault betreibt doch genealogische Geschichtsschreibung in der ernsthaften Absicht, eine Wissenschaft zuwege zu bringen, die den abgewirtschafteten Humanwissenschaften iiberlegen ist. Wenn sich nun ihre Dberlegenheit nicht darin ausdriicken konnte, daB etwas Dberzeugenderes an die Stelle der iiberfiihrten Pseudowissenschaften tritt; wenn sich ihre Dberlegenheit einzig im Effekt der tatsachlichen Verdrangung bislang dominierender wissenschaftlicher Diskurse auBern wiirde, dann erschopfte sich Foucaults Theorie in Theoriepolitik, und zwar in einertheoriepolitischen Zielsetzung, die die Krafte eines noch so heroischen EinMann-Unternehmens iiberfordern miiBte. Dessen ist sich Foucault bewuBt. Er mochte deshalb die Genealogie vor allen iibrigen Humanwissenschaften auf eine Weise auszeichnen, die mit den Grundannahmen der eigenen Theorie vereinbar ist. Zu dies em Zweck wendet er die genealogische Geschichtsschreibung auf sich selber an; in deren eigener Entstehungsgeschichte sol1 sichdie Differenz aufweisen lassen, die den Vorzug vor allen iibrigen Humanwissenschaften begriinden kann. Die Genealogie des Wissens macht von jenen disqualifizierten Wissensarten Gebrauch, von denen sich die etablierten Wissenschaften abgrenzen; sie bietet das Medium fiir den Aufstand der »unterworfenen Wissensarten«. Darunter versteht Foucault nicht in erster Linie die zugleich verschleierten und prasent gehaltenen Sedimente 32 8
gelehrten Wissens, sondern die niemals zum offiziellen Wissen avancierten, niemals hinreichend artikulierten Erfahrungen machtunterworfener Gruppen. Es handelt sich urn das implizite Wissen »der Leute«, die in einem Machtsystem den Bodensatz bilden und als erste, ob nun als Leidende oder als Vo11zugsbeamte der Maschinerie des Leidens, eine Machttechnologie am eigenen Leibe erfahren - beispielsweise das Wissen der Psychiatrisierten und der Krankenwarter, der Delinquenten und der Aufseher, der KZ-Insassen und des Wachpersonals, der Schwarz en und der Homosexue11en, der Frauen und der Hexen, der Vagabunden, der Kinder und der Spinner. Die Genealogie verrichtet ihre Schiirfarbeiten auf dem dunklen Grunde jenes lokalen, marginalen und alternativen Wissens, »das seine Starke nur aus der Harte bezieht, mit der es sich a11em widersetzt, was es umgibt«. Diese Wissensbestande werden normalerweise als »nicht sachgerecht oder als unzureichend ausgearbeitet disqualifiziert: es sind naive, am unteren Ende der Hierarchie, unterhalb des erforderlichen Wissens- und Wissenschaftlichkeitsniveaus rangierende Wissensarten.«16 In ihnen schlummert aber »das historische Wissen der Kiimpfe«. Die Genealogie, die diese »lokalen Erinnerungen« auf das Niveau »gelehrter Kenntnisse« hebt, schlagt sich also auf die Seite derer, die den jeweiligen Praktiken der Macht widerstehen. Aus dieser Position der Gegen. macht gewinnt sie eine Perspektive, die iiber die Perspektiven der jeweiligen Machthaber hinausreichen so11. Aus dieser Perspektive sol1 sie a11e Geltungsanspriiche transzendieren konnen, die sich nur innerhalb des Bannkreises der Macht konstituieren. Die Verbindung mit dem disqualifizierten Wissen der Leute soll der Rekonstruktionsarbeit des Genealogen die Dberlegenheit verschaffen, »die der von den Diskursen in den letzten fiinfzehn Jahren geiibten Kritik ihre wesentliche Starke verliehen hat«.17 Das erinnert an ein Argument des friihen Lukics. Ihm zufolge so11te ja die marxistische Theorie ihre ideologische Unbefangenheit den privilegierten Erkenntnismoglichkeiten einer Erfahrungsperspektive verdanken, die sich mit der Position der Lohnarbeiter im ProduktionsprozeB ausgebildet hat. Das Argument war allerdings nur 16 M. Foucault (1978), 60f.
17 M. Foucault (1978),61.
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im Rahmen einer Geschichtsphilosophie stichhaltig, die im proletarischen Klasseninteresse das Allgemeininteresse, im KlassenbewuBtsein des Proletariats das SelbstbewuBtsein der Gattung ausfindig machen wollte. Foucaults Konzeptder Macht erlaubt einen solchen geschichtsphilosophischen, erkenntnisprivilegierenden Begriff der Gegenmacht nicht. ] ede Gegenmacht bewegt sich schon im Horizont der Macht, die sie bekampft, und verwandelt sich, sobald sie siegreich ist, in einen Machtkomplex, der eine andere Gegenmacht provoziett. Aus dies em Kreislauf kann auch die Genealogie des Wissens nicht ausbrechen, wahrend sie den Aufstand der disqualifizierten Wissensarten aktiviert und das unterworfene Wissen mobil macht »gegen den Zwang eines theoretischen, einheitlichen, formalen und wissenschaftlichen Diskurses«.18 Wer die theoretische Avantgarde von heute besiegt und die bestehende Hierarchisierung des Wissens uberwindet, stellt selbst die theoretische Avantgarde von morgen, errichtet selbst eine neue Hierarchie des Wissens. Jedenfalls kann er fur sein Wissen keine Dberlegenheit nach MaBgabe von Wahrheitsanspruchen geltend machen, die die lokalen Dbereinkunfte transzendieren wiirden. So schlagt der Versuch fehl, die genealogische Geschichtsschreibung mit ihren eigenen Mitteln vor dem relativistischen Selbstdementi zu bewahren. Indem sich die Genealogie ihrer Herkunft aus der Allianz des gelehrten mit dem disqualifizierten Wissen innewird, findet sie nur bestatigt, daB die Geltungsanspriiche von Gegendiskursen nicht mehr und nicht weniger zahlen als die machthabenden Diskurse - auch sie sind nichts als die Machtwirkungen, die sie auslosen. Foucault sieht dieses Dilemma, aber auch diesmal entzieht er sich einer Antwort. Und wiederum bekennt er sich zu einem kampferischen Perspektivismus nur im Kontext seiner Nietzscherezeption: »Die Historiker suchen, so weit wie nur moglich, alles zu verwischen, was in ihrem Wissen den Ort verraten konnte, von dem aus sie blicken, den Zeitpunkt, an dem sie sich befinden, die Partei, die sie ergreifen, und die Unvermeidlichkeit ihrer Leidenschaften. Der historische Sinn, wie Nietzsche ihn versteht, weill, daB er perspektivisch ist ... Er betrachtet unter einem
bestimmten Blickwinkel; er ist entschlossen abzuschatzen, ja oder nein zu sagen, allen Spuren des Giftes zu folgen, das beste Gegengift zu finden.«19 3) Bleibt schlieBlich zu prufen, ob es Foucault gelingt, jenem Kryptonormativismus zu entgehen, dessen sich, nach seiner Auffassung, die auf Wertfreiheit pochenden Humanwissenschaften schuldig machen. Die genealogische Geschichtsschreibung soll in streng deskriptiver Einstellung hinter die Diskursuniversen zuriickgreifen, innerhalb derer allein uber Normen und Werte gestritten wird. Sie klammert normative Geltungsanspriiche ebenso ein wie Anspriiche auf propositionale Wahrheit und enthalt sich der Frage, ob einige Diskurs- und Machtformationen eher gerechtfertigt sein konnten als andere. Foucault widersetzt sich der Aufforderung, Partei zu nehmen; er verhohnt das »gauchistische Dogma«, die Macht fur das Bose, das Hamiche, das Sterile und Tote zu halten - »und das, woriiber Macht ausgeubt wird, fur das Gute, Echte und GroBartige«.20 Es gibt fur ihn keine »richtige Seite«. Dahinter steht die Dberzeugung, daB die Politik, die seit 1789 im Zeichen der Revolution gestanden habe, ans Ende gelangt ist, daB die Theorien, die das Verhaltnis von Theorie und Praxis durchdacht haben, uberholt sind. Schon diese Begrundung einer Wertfreiheit zweiter Stufe ist naturlich nicht wertfrei. Foucault versteht sich als Dissidenten, der dem modernen Denken und der humanistisch verkleideten Disziplinarmacht Widerstand leistet. Engagement pragt seine gelehrten Abhandlungen bis in Stil und Wortwahl; der kritische Gestus beherrscht die Theorie nicht weniger als die Selbstdefinition des gesamten Werkes. Dadurch unterscheidet sich Foucault einerseits yom engagierten Positivismus eines Max Weber, der die dezisionistisch gewahlte und offen deklarierte Wertbasis von den wertfrei durchgefuhrten Analysen trennen mochte. Foucaults Kritik griindet eher in einer postmodernen Rhetorik der Darstellung als in den postmodernen Annahmen seiner Theorie. Andererseits unterscheidet sich Foucault auch von der Ideologiekritik eines Marx, der das humanistische Selbstverstandnis der
18 M. Foucault (1978),65.
19 M. Foucault (1974),
33 0
101.
20 M. Foucault (1978), 191.
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'r'
Moderne entlarvt, indem er den normativen Gehalt der biirgerlichen Ideale einklagt. Foucault hat nicht die Absicht, jenen Gegendiskurs fortzusetzen, den die Moderne seit ihren Anfangen mit sich selbst gefiihrt hat; er will das Sprachspiel der modernen politischen Theorie (mit den Grundbegriffen von Autonomie und Heteronomie, Moralitat und Legalitat, Emanzipation und Repression) nicht etwa verfeinern und gegen die Pathologien der Moderne kehrener will die Moderne und deren Sprachspiele unterlaufen. Sein Widerstand solI sich nicht als Spiegelbild der bestehenden Macht rechtfertigen: »Wenn das alles ware«, antwortet Foucault auf eine entsprechende Frage von Bernard-Henri Levy, »gabe es keinen Widerstand. Denn der Widerstand muB sein wie die Macht: genauso erfinderisch, genauso beweglich, genauso produktiv wie sie. Er muB sich wie sie organisieren und stabilisieren, muB wie sie von unten kommen und sich strategisch verteilen.«21 Die Dissidenz zieht ihre einzige Rechtfertigung daraus, daB sie dem humanistischen Diskurs, ohne sich auf ihn einzulassen, Fallen stellt; dieses strategische Selbstverstandnis erklart Foucault aus den Eigenschaften der modernen Machtformation selber. Jene Disziplinarmacht, deren lokalen, stetigen, produktiven und allesdurchdringenden, kapillarisch vernetzten Charakter er immer wieder beschreibt, setzt sich eher in den K6rpern als in den K6pfen fest. Sie hat die Gestalt einer Biomacht, die eher von den Leibern als von den Geistern Besitz ergreift und den K6rper einem unnachsichtig normalisierenden Zwang unterwirft - ohne dazu einer normativen Grundlage zu bediirfen. Die Disziplinarmacht funktioniert ohne den Umweg iiber ein notwendig falsches BewuBtsein, das sich in humanistischen Diskursen gebildet hatte und daher der Kritik von Gegendiskursen ausgesetzt ware. Die humanwissenschaftlichen Diskurse verschmelzen vielmehr mit den Praktiken ihrer Anwendung zu einem opaken Machtkomplex, an dem jede Ideologiekritik abprallen muG. Die humanistische Kritik, die sich, wie die von Marx oder Freud, auf den iiberholten Gegensatz von legitimer und illegitimer Macht, bewuBten und unbewuBten Motiven stiitzt und gegen Instanzen der Unterdriickung, Ausbeutung, Verdrangung usw. zu Felde zieht, steht vielmehr ihrerseits in Gefahr, den inzwi21 M. Foucault (1978), 195.
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' schen yom Himmel auf die Erde geholten, zur normalisierenden Gewalt geronnenen »Humanismus« nur zu verstarken. Nun mag dieses Argument hinreichen, urn die genealogische Geschichtsschreibung nicht mehr als Kritik, sondern als Taktik, als Mittel der Kriegsfiihrurig gegen eine normativ unangreifbare Formation der Macht zu konzipieren. Wenn es aber nur noch urn die Mobilisierung von Gegenmacht, urn fintenreiche Kampfe und Konfrontationen geht, stellt sich die Frage, warum wir denn dieser, im Blutkreislauf des modernen Gesellschaftsk6rpers zirkulierenden allgegenwartigen Macht iiberhaupt Widerstand leisten sollten, statt uns ihr zu fiigen. Dann ware auch das Kampfmittel der Genealogie des Wissens iiberfliissig. Es leuchtet wohl ein, daB eine wertfreie Analyse von Starken und Schwachen des Gegners fiir den, der den Kampf aufnehmen will, von Nutzen ist - aber warum iiberhaupt kampfen?: »Why is struggle preferable to submission? Why ought domination to be resisted? Only with the introduction of normative notions of some kind could Foucault begin to answer this question. Only with the introduction of normative notions could he begin to tell us what is wrong with the modern power/knowledge regime and why we ought to oppose it.«22 Einmal, in einem Interview, kann sich Foucault der Frage nicht entziehen; an dieser einen Stelle gibt er den vagen Hinweis auf postmoderne Gerechtigkeitskriterien: »Um im Kampf mit der Disziplinarmacht gegen die Disziplinen vorgehen zu k6nnen, diirfte man nicht die Richtung des alten Rechts der Souveranitat einschlagen, sondern miiBte auf ein neues Recht zugehen, das nicht nur von den Disziplinen, sondern zugleich auch yom Prinzip der Souveranitat befreit ware.«23 Ganz abgesehen davon, daB im AnschluB an Kant bereits Moralund Rechtskonzeptionen entwickelt worden sind, die nicht mehr der Aufgabe dienen, bloB die Souveranitat des gewaltenmonopolisierenden Staates zu rechtfertigen, schweigt sich Foucault zu diesem Thema aus. Sobald man aber versucht, den wortstarken Anklagen gegen die Disziplinarmacht die implizit verwendeten MaBstabe abzugewinnen, begegnet man bekannten Bestimmungen aus dem 22 N. Fraser, Foucault on Modern Power: Empirical Insights and Normative Con·fusions, in: Praxis International, Vol. 1, 1981,283. 23 M. Foucault (1978), 95.
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explizit zUrUckgewiesenen normativistischen Sprachspiel. AnstoBig sind namlich auch fiir Foucault die asymmetrische Beziehung zwischen Machthabern und Machtunterworfenen sowie der verdinglichende Effekt von Machttechnologien, die 'die moralische und leibliche Integritat sprach- und handlungsfahiger Subjekte verletzen. N. Fraser hat eine Interpretation vorgeschlagen, die zwar keinen Ausweg aus dies em Dilemma zeigt, die aber erklart, woher der Kryptonormativismus der als wertfrei deklarierten Geschichtsschreibung stammt.24 Nietzsches Begriff des Willens zur Macht und Batailles Begriff der Souveranitat vereinnahmen mehr oder weniger offen den normatiyen Erfahrungsgehalt der asthetischen Moderne. Hingegen hat Foucault sein Konzept der Macht der empiristischen Tradition entlehnt, er hat es jenes Erfahrungspotentials einer zugleich erschrekkenden und entziickenden Faszination beraubt, aus dem die asthetische Avantgarde von Baudelaire bis zu den Surrealisten geschopft hat. Gleichwohl behalt »Macht« auch in den Handen von Foucault einen buchstablich asthetischen Bezug zur Korperwahrnehmung, zur schmerzhaften Erfahrung des geschundenen Leibes. Dieses Moment wird sogar bestimmend fiir die moderne Machtformation, die den Namen der Biomacht dem Umstand verdankt, daB sie auf den subtilen Wegen der wissenschaftlichen Objektivierung und einer durch Wahrheitstechnologien erzeugten Subjektivitat tief in den verdinglichten Leib eindringt und den ganzen Organismus beschlagnahmt. Biomacht heiBt diejenige Form der Vergesellschaftung, die alle Naturwiichsigkeit beseitigt und das kreatiirliche Leben insgesamt in ein Substrat der Vermachtung umwandelt. Die normativ gehaltvolle Asymmetrie, die Foucault in Machtkomplexen angelegt sieht, besteht nicht eigentlich zwischen machthabendem Willen und erzwungener Unterwerfung, sondern zwischen den Machtprozessen und jenen Leibern, die in ihnen zerrieben werden. Stets ist es der Korper, der in der Tortur geschunden und zum Schauplatz der souveranen Rache gemacht wird; der yom Drill erfaBt, in ein Feld mechanischer Krafte zerlegt und manipuliert wird; der von den Humanwissenschaften vergegenstandlicht und 24 In einem MS mit dem Titel: Foucault's Body-Language: A Posthumanistic Political Rhethoric (1982). 25 M. Foucault (1977), 190.
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kontrolliert, zugleich in seiner Begehrlichkeit stimuliert und entbloBt wird. Wenn Foucaults Begriff der Macht sich einen Rest von asthetischem Gehalt bewahrt, dann verdankt er dies en der vitalistisch-Iebensphilosophischen Lesart der Selbsterfahrung des Leibes. Die »Geschichte der Sexualitat« schlieBt mit dem ungewohnlichen Satz: »Traumen miissen wir davon, daB man vielleicht eines Tages, in einer anderen Okonomie der Korper und der Liiste, nicht mehr recht verstehen wird, wie es ... gelingen konnte, uns der kargen Alleinherrschaft des Sexes zu unterwerfen.«25 Diese andere Okonomie der Korper und Liiste, von der wir einstweilen - mit Bataille - nur traumen konnen, ware nicht wiederum eine Okonomie der Macht, sondern eine postmoderne Theorie, die von den implizit immer schon in Anspruch genommenen MaBstaben der Kritik nun auch Rechenschaft ablegen wiirde. Bis dahin kann der Widerstand, wenn schon nicht seine Rechtfertigung, so doch sein Motiv allein aus den Signalen der Korpersprache beziehen, aus jener nicht verbalisierbaren Sprache des gepeinigten Leibes, die sich der Aufhebung in den Diskurs verweigert. 26 Foucault darf sich diese Interpretation, die gewiB in einigen seiner verraterischen Affekte eine Stiitze findet, freilich nicht zu eigen machen. Sonst miiBte er, wie Bataille, dem Anderen der Vernunft den Status einraumen, den er ihm, seit »Wahnsinn und Gesellschaft«, mit guten Griinden verweigert. Er wehrt sich gegen eine naturalistische Metaphysik, die die Gegenmacht zu einem pradiskursiven Referenten verhimmelt: »Was Sie >Naturalismus< nennen«, antwortet er Bernard-Henri Levy 1977, »bezeichnet die Vorstellung, daB man unterhalb der Macht, unterhalb ihrer Gewalttaten und Hinterhaltigkeiten die Dinge selbst in ihrer urspriinglichen Lebendigkeit wiederfinden muB: hinter den Mauern des Asyls die Spontaneitat des Wahnsinns, durch das Strafsystem hindurch die fruchtbare U nruhe der Delinquenz, unter dem sexuellen Verbot die Reinheit des Wunsches«.27 Weil Foucault diese lebensphilosophi26 Diese Alternative entwickelt am Beispiel der stummen, expressiv-korpersprachlichen Protestformen des Kynikers P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., Ffm. 1982. Foucaults eigene Untersuchungen sind freilich in eine andere Richtung gegangen. Vgl. auch sein Nachwort zur zweiten Auflage von Dreyfus, Rabinow (1983), 229ff. 27 M. Foucault (1978), 19I.
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sche Vorstellung nicht akzeptieren kann, muB er sich auf die Frage nach den normativen Grundlagen seiner Kritik ebenfalls der Antwort enthalten.
IV Foucault kann die hartnackigen Probleme, die im Zusammenhang mit dem sinnverstehenden Zugang zum Objektbereich, der selbstreferentiellen Leugnung universaler Geltungsanspriiche und der normativen Rechtfertigung von Kritik auftreten, nicht zufriedenstellend behandeln. Die Kategorien Bedeutung, Geltung und Wert sollen aber nicht nur auf metatheoretischer, sondern auch auf empirischer Ebene eliminiert werden: die genealogische Geschichtsschreibung hat es mit einem Gegenstandsbereich zu tun, aus dem die Machttheorie alle Zuge von kommunikativen, in lebensweltliche Kontexte eingelassenen Handlungen getilgt hat. Diese Verdrangung von Grundbegriffen, die der symbolischen Vorstrukturierung von Handlungssystemen Rechnung tragen konnten, belastet· die empirischen Untersuchungen mit Problemen, die Foucault diesmal allerdings nicht ausdriicklich behandelt. Ich will zwei Probleme herausgreifen, die in der klassischen Gesellschaftstheorie eine ehrwurdige Geschichte haben: die Frage, wie soziale Ordnung uberhaupt moglich ist, und wie sich Individuum und Gesellschaft zueinander verhalten. Wenn man, wie Foucault, nur das Modell von Uberwaltigungsprozessen, von leibvermittelten Konfrontationen, von Kontexten mehr oder minder bewuBtem strategischen Handelns zulaBt; wenn man eine Stabilisierung von Handlungsbereichen uber Werte, Normen und Verstandigungsprozesse ausschlieBt und fur diese Mechanismen gesellschaftlicher Integration keines der aus System- oder Tauschtheorien bekannten Aquivalente angibt; dann ist kaum zu erklaren, wie sich die immerwahrenden.1okalen K1impfe zu institutionalisierter Macht sollten konsolidieren konnen. Diese Problematik hat Axel Honneth energisch herausgearbeitet: Foucault unterstellt in seinen Beschreibungen institutionell verdichtete Disziplinen, Machtpraktiken, Wahrheits- und Herrschaftstechnologien, aber er 33 6
kann nicht erklaren, »wie aus dem sozialen Zustand eines ununterbrochenen Kampfes der wie momenthaft auch immer gedachte Aggregatzustand eines Machtgefuges hergeleitet werden kann.«28 Ahnliche grundbegriffliche Schwierigkeiten wie die epochale Verstetigung von Diskurs- und Machtformationen bereiten ferner die Phanomene, fur die Durkheim das Stichwort des >,institutionalisierten Individualismus« eingefiihrt hat. Wenn man nur das Vermachtungsmodell zulaBt, stellt sich n1imlich auch die Sozialisation nachwachsender Generationen im Bilde fintenreicher Konfrontationen dar. Dann kann aber die Vergesellschaftung sprach- und handlungsfahiger Subjekte nicht zugleich als Individuierung begriffen werden, sondern einzig als fortschreitende Subsumtion von Korpern, lebendigen Substraten unter Machttechnologien. Die immer starker individualisierenden Bildungsprozesse, die in Gesellschaften mit reflexiv gewordenen Traditionen und hoch abstrakten Handlungsnormen in immer weitere soziale Schichten eindringen, bedurfen einer artifiziellen Umdeutung, welche die kategoriale Armut des Vermachtungsmodells wettmacht. Der Machttheoretiker Foucault begegnet in dieser Hinsicht demselben Problem wie der Institutionalist Gehlen29 ; in beiden Theorien fehlt ein sozialintegrativer Mechanismus wie die Sprache (mit der Verschrankung performativer Einstellungen von Sprechern und Horern 30 , der den Individuierungseffekt der Vergesellschaftung erklaren konnte). Foucault kompensiert diesen grundbegrifflichen EngpaB wie Gehlen dadurch, daB er den Begriff der Individualitat ganz von Konnotationen der Selbstbestimmung und der Selbstverwirklichung reinigt und auf eine durch AuBenreize produzierte, mit beliebig manipulierbaren Vorstellungsinhalten belegte Innenwelt reduziert. Diesmal resultiert die Schwierigkeit nicht aus dem Fehlen eines Aquivalents fur die bekannten Konstruktionen des Verhaltnisses von Individuum und Gesellschaft; die Frage ist vielmehr, ob nicht das Modell einer durch Machtpraktiken hervorgerufenen (bzw. durch Institutionenzerfall ausgelosten) Aufblahung des Psychi28 A. Honneth (1985), 182. 29 A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Hbg. 1957. 30 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm. 1981, Bd. 2, 92ff.
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schen dazu notlgt, den Zuwachs an subjektiver Freiheit unter Beschreibungen zu bringen, die die Erfahrung von erweiterten Spielraumen expressiver Selbstdarstellung und Autonomie unkenntlich machen. Foucault konnte freilich Einw1inde dieser Art als petitio principii zuriickweisen. Beruhen sie nicht auf traditionellen Fragestellungen, die - zusammen mit den Humanwissenschaften, aus deren Horizont sie stammen - langst gegenstandlos geworden sind? Diese Frage diirften wir erst verneinen, wenn sich das, was sich aus unserer Sicht als ein grundbegriffliches Defizit darstellt, auch auf Anlage und Durchfiihrung der empirischen Untersuchungen auswirkte und anhand selektiver Lesarten undpartieller Blindheiten dingfest machen lieBe. Ich will wenigstens einige Gesichtspunkte nennen, unter denen eine empirische Kritik an Foucaults Entstehungsgeschichte des modernen Strafvollzuges und der Sexualitat durchgefiihrt werden konnte. »Dberwachen und Strafen« ist als eine Genealogie des wissenschaftlich rationalisierten Strafrechts und des wissenschaftlich humanisierten Strafvollzuges angelegt. Jene Herrschaftstechnologien, in denen sich heute die Disziplinarmacht auBert, bilden die gemeinsame Matrix fiir »die Vermenschlichung der Strafe wie auch (fiir die) Erkenntnis des Menschen«.31 Die Rationalisierung des Strafrechts und die Humanisierung des Strafvollzuges werden am Ende des 18. Jahrhunderts unter dem rhetorischen Schirm einer Reformbewegung in Gang gesetzt, die sich normativ, in Begriffen von Recht und Moral rechtfertigt. Foucault will zeigen, daB sich darunter ein brutaler Wechsel in den Praktiken der Macht verbirgt - die Entstehung eines modernen Machtregimes, »die Anpassung und Verfeinerung der Apparate, die das alltagliche Verhalten der Individuen, ihre Identitat, ihre Tatigkeit, ihre scheinbar bedeutungslosen Gesten erfassen und iiberwachen«.32 Diese These kann Foucault an eindrucksvollen Fallen illustrieren; in ihrer Verallgemeinerung ist diese These gleichwohl falsch. Sie besagt dann, daB der am modernen Strafvollzug abgelesene Panoptismus kennzeichnend ist fiir die Struktur der gesellschaftlichen Modernisierung insgesamt. Fou-
cault kann diese verallgemeinerte These nur aufstellen, weil er sich in machttheoretischen Grundbegriffen bewegt, denen sich die normativen Strukturen der Rechtsentwicklung entziehen. Moralischpraktische Lernprozesse miissen sich ihm als eine Intensivierung von Vermachtungsprozessen darstellen. Diese Reduktion vollzieht sich in mehreren Schritten. Zunachst analysiert Foucault die normativen Sprachspiele des rationalen Naturrechts anhand der latenten Funktionen, die der Herrschaftsdiskurs im Zeitalter der Klassik fiir die Durchsetzung und die Ausiibung der absolutistischen Staatsgewalt erfiillt. Die Souverani tat des gewaltmonopolisierenden Staates auBert sich auch in den demonstrativen Formen des Strafvollzuges, die Foucault anhand von Folter- und Marterprozeduren anschaulich vorfiihrt. Aus derselben funktionalistischen Perspektive beschreibt er sodann die Fortsetzungen des klassischen Sprachspiels in der Reformara der Aufklarung. Diese kulminieren einerseits in der Kantischen Moralund Rechtstheorie, andererseits im Utilitarismus. Interessanterweise geht Foucault nicht darauf ein, daB beide wiederum der revolutionaren Durchsetzung einer konstitutionalisierten Staatsgewalt dienen, also einer politis chen Ordnung, die ideologisch von der Fiirsten- auf die Volkssouveranitat umgestellt wird. Dieser Art von Regime entsprechen namlich jene normalisierenden Formen des Strafvollzuges, die das eigentliche Thema von »Dberwachen und Strafen« bilden. Weil Foucault die internen Aspekte der Rechtsentwicklung ausblendet, kann er unauffallig den dritten und entscheidenden Schritt tun. Wahrend sich die souverane Gewalt der klassischen Machtformation in den Begriffen von Recht und Gesetz konstituiert, solI das normative Sprachspiel auf die Disziplinarmacht der Moderne unanwendbar sein; diese fiigt sich nur noch den empirischen, jedenfalls nicht-juridischen Begriffen der faktischen Steuerung und Organisation von Verhaltensweisen und Motiven einer mehr und mehr wissenschaftlich verfiigbar gemachten Population: »daB die Verfahren der N ormalisierung die Verfahren des Gesetzes immer mehr kolonisieren, vermag das glob ale Funktionieren dessen zu erklaren, was ich Gesellschaft der Normalisierung nenne.«33 Wie der Dbergang
31 M. Foucault (1976),34.
33 M. Foucault (1978), 94.
32 Ebd.99.
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von der Naturrechts- zu den Naturgesellschaftslehren zeigt34, laBt sich tatsachlich der komplexe Lebenszusammenhang moderner Gesellschaften im ganzen immer weniger in den naturrechtlichen Kategorien von Vertragsbeziehungen konstruieren. Dieser Umstand kann aber natiirlich nicht die theoriestrategisch folgenreiche Entscheidung rechtfertigen, daB fiir die moderne Machtformation die Entwicklung normativer Strukturen iiberhaupt zu vernachlassigen sei. Sobald Foucault den Faden der biopolitischen Durchsetzung der Disziplinarmacht aufnimmt, laBt er den Faden der juristischen Organisation der Herrschaftsausiibung und der Legitimation der Herrschaftsordnung fallen. Dadurch entsteht unbegriindet der Eindruck, als sei der biirgerliche Verfassungsstaat ein funktionslos gewordenes Relikt aus den Zeiten des Absolutismus. Diese umstandslose Einebnung von Kultur und Politik auf die unmittelbaren Substrate der Gewaltausiibung erklart die ostentatiyen Liicken der Darstellung. DaB eine Geschichte der modernen Strafjustiz aus der Entwicklung des Rechtsstaates herausgelost wird, mag noch mit darstellungstechnischen Hinweisen begriindet werden. Bedenklicher ist die theoretische Einengung auf das System des Strafvollzuges. Sobald er yom klassischen Zeitalter zur Moderne iibergeht, schenkt Foucault dem Straf- und dem StrafprozeBrecht keinerlei Beachtung mehr. Sonst hatte er die unverkennbaren Gewinne an Liberalitat und Rechtssicherheit, die Ausdehnung rechtsstaatlicher Garantien auch auf diesem Gebiet, einer genauen machttheoretischen Deutung unterziehen miissen. Die Darstellung wird aber vollends dadurch verzerrt, daB Foucault auch aus der Geschichte des Strafvollzugs selber alle Aspekte der Verrechtlichung ausblendet. 1m Gefangnis bestehen ja, wie in Kliniken, Schulen und Kasernen, jene »besonderen Gewaltverhaltnisse«, die von einer energisch voranschreitenden Verrechtsstaatlichung keineswegs unberiihrt geblieben sind - Foucault selbst hat sich dafiir poli- . tisch engagiert. Diese Selektivitat nimmt der faszinierenden Entlarvung kapillarischer Machtwirkungen nithts von ihrem Gewicht. Die machttheoretische Verallgemeinerung einer selektiven Lesart hindert aber 34
J. Habermas, Art. Soziologie, in: Evangel. Staatslexikon, 1966, 2108ff.
Foucault daran, das eigentlich erklarungsbediirftige Phanomen wahrzunehmen: die dilemmatische Struktur der Verrechtlichung besteht in den wohlfahrtsstaatlichen Demokratien des Westens darin, daB es die rechtlichen Mittel der Freiheitsverbiirgung selbst sind, die die Freiheit der prasumptiven NutznieBer gefahrden. Unter den Pramissen seiner Machttheorie hat Foucault die Komplexitat der gesellschaftlichen Modernisierung so eingeebnet, daB ihm die beunruhigenden Paradoxien dieses Vorgangs gar nicht erst auffallen konnen. Dieselbe Tendenz zur Einebnung zweideutiger Phanomene zeigt sich in Foucaults Geschichte der neuzeitlichen Sexualitat. Diese bezieht sich auf den Kernbeteich der reflexiv werdenden inneren Natur, d.h. der Subjektivitat im friihromantischen Sinne ausdrucksfahiger 1nnerlichkeit. Eingeebnet wird die dilemmatische Struktur eines langfristigen, von Enthiillungstechniken und Uberwachungsstrategien begleiteten Prozesses der Verinnerlichung und 1ndividuierung, welcher zugleich neue Zonen der EntauBerung und Normalisierung schafft. Herbert Marcuse hat die zeitgenossischen Erscheinungen einer kontrollierten, gesellschaftlich in Regie genommenen, zugleich kommerzialisierten und verwalteten sexuellen Befreiung als »repressive Entsublimierung« gedeutet. Diese Analyse halt die Perspektive einer befreienden Entsublimierung offen. Foucault geht von ganz ahnlichen Phanomenen einer entqualifizierten, wie zu einem Steuerungsmedium herabgesetzten, von Erotik entkleideten Sexualitat aus - aber er sieht eben darin das Telos, das enthiillte Geheimnis der sexuellen Befreiung. Hinter der Scheinemanzipation verschanzt sich eine Macht, die ihre Produktivitat iiber einen heimtiickisch induzierten Gestandniszwang und Voyerismus entfaltet. »Sexualitat« ist fiir Foucault gleichbedeutend mit einer Diskurs- und Machtformation, welche die unschuldige Forderung nach Wahrhaftigkeit gegeniiber den eigenen, privilegiert zuganglichen Regungen, Triebwiinschen und Erlebnissen zur Geltung bringt, und die auf eine unauffallige Stimulierung der Korper, auf eine 1ntensivierung der Liiste und eine Formierung seelischer Energien hinwirkt. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zieht sich ein N etz von Wahrheitstechniken urn das onanierende Kind, die hysterische Frau, den perversen Erwachsenen, das zeugende Paar 34 1
auch noch jene Intuition uber Bord gehen, die mit »Subjektivitat« einmal auf den Begriff gebracht werden sollte. GewiB, solange wir nur mit Subjekten rechnen, die Objekte vorstellen und behandeln, die sich an Objekte entauBern oder sich auf sich selbst als Objekt beziehen konnen, ist es nicht moglich, Vergesellschaftung als Individuierung zu begreifen und die Geschichte der neuzeitlichen Sexualitat auch unter dem Gesichtspunkt zu schreiben, daB die Verinnerlichung der subjektiven Natur Individuierung ermoglicht. Foucault bringt mit der BewuBtseinsphilosophie auch die Probleme zum Verschwinden, an denen jene gescheitert ist. Er setzt an die Stelle der individuierenden Vergesellschaftung, die unbegriffen blieb, den Begriff einer parzellierenden Vermachtung, der den zweideutigen Erscheinungen der Moderne nicht gewachsen ist. Aus dieser Perspektive konnen vergesellschaftete Individuen nur als Exemplare wahrgenommen werden, als die standardisierten Erzeugnisse einer Diskursformation - als gestanzte Einzelfalle. Gehlen, der aus entgegengesetzten politischen Motiven, aber aus einer ahnlichen theoretischen Perspektive dachte, hat daraus kein Hehl gemacht: »Eine Personlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall. «36
zusammen - alles Orte, die von lauernden Padagogen, Arzten, Psychologen, Richtern, Familienplanern usw. umstellt sind. Man konnte im einzelnen zeigen, wie Foucault den hochkomplexen Vorgang einer fortschreitenden Problematisierung der inneren N atur zu einer linear verlaufenden Geschichte vereinfacht. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die eigentumliche Ausblendung all der Aspekte, unter denen die Erotisierung und Verinnerlichung der subjektiven Natur doch auch einen G~winn an Freiheit und Ausdrucksmoglichkeit bedeutet haben. C. Honegger warnt davor, die gegenwartigen Erscheinungen repressiver Entsublimierung in die Geschichte zuriickzuprojizieren und die vergangenen Repressionen noch einmal zu verdrangen: »in nicht allzu ferner Zeit gehorten dazu die Keuschheitsgebote fur die Frauen, die Produktion der weiblichen Frigiditat, die Doppelmoral der Manner, die Stigmatisierung abweichenden Sexualverhaltens sowie aIle jene Erniedrigungen des Liebeslebens, von denen Freud in seinem Behandlungszimmer horte.«35 Foucaults Einwande gegen das Freudsche Modell von Triebunterdriickung und Emanzipation durch BewuBtwerdung haben eine vordergriindige Plausibilitat; sie verdanken diese nur dem Umstand, daB sich Freiheit, als das Prinzip der Moderne, in den Grundbegriffen der Subjektphilosophie nicht wirklich fassen laBt. Bei allen Versuchen, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, also Freiheit im moralischen und im asthetischen Sinne mit Mitteln der BewuBtseinsphilosophie zu fassen, stoBt man stets auf eine ironische Verkehrung des eigentlich Gemeinten. Repression des Selbst ist die Kehrseite der in Subjekt-Objekt-Beziehungen hineingepreBten Autonomie; Verlust - und narziBtische Angst vor dem Verlustdes Selbst ist die Kehrseite einer unter diese Begriffe gebrachten Expressivitat. DaB sich das moralische Subjekt seIber zum Objekt machen muB, daB sich das expressive Subjekt als solches aufgeben oder, aus Angst, sich an die Objekte zu entauBern, in sich verschlieBen muB, entspricht nicht der Intuition von Freiheit und Befreiung - es bringt nur die Denkzwange der Subjektphilosophie zum Vorschein. Foucault laBt aber, zusammen mit Subjekt und Objekt, 35 C. Honegger, Dberlegungen zu Michel Foucaults Entwurf einer Geschichte der Sexualitat, Ms. Ffm. 1982, 20. '
36 A. Gehlen (1957), !I8.
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XI. Ein anderer Ausweg aus der Subjektphilosophie kommunikative vs. subjektzentrierte Vernunft I
Die Aporien der Machttheorie hinterlassen ihre Spuren in den selektiven Lesarten der genealogischen Geschichtsschreibung, handele es sich um den modernen StrafvoIlzug oder um die Sexualitat in der Neuzeit. In den empirischen Defiziten spiegeln sich die ungeklarten methodologischen Probleme. Wohl hatte Foucault die subjektphilosophische Befangenheit der Humanwissenschaften einleuchtend kritisiert: diese fliehen aus der Aporetlk widerspriichlicher Selbstthematisierungen des sich erkennenden Subjekts und verstricken sich dabei nUr um so tiefer im selbstverdinglichenden Szientismus. Aber die Aporien seines eigenen Ansatzes hat Foucault nicht so gut durchdacht, daB er hatte durchschauen konnen, wie seine Machttheorie von einem ahnlichen Schicksal ereilt wird. Seine Tneorie will sich iiber jene Pseudowissenschaften zu strenger Objektivitat erheben und verHingt sich dabei nur um so hoffnungsloser in den FuBangeln einer prasentistischen Geschichtsschreibung, die sich zum relativistischen Selbstdementi genotigt sieht u~d iiber die normativen Grundlagen ihrer Rhetorik keine Auskunft geben kann. Dem Objektivismus der Selbstbemachtigung dort entspricht hier ein Subjektivismus der Selbstvergessenheit. Prasentismus, Relativismus und Kryptonormativismus sind Konsequenzen des Versuchs, im Grundbegriff der Macht das transzendentale Moment von Erzeugungsleistungen zuriickzubehalten und doch aIle Subjektivitat aus ihm zu vertreiben. Dieser Machtbe- . griff befreit den Genealogen nicht yom Zwang kontradiktorischer Selbstthematisierungen. So empfiehlt es sich, noch einmal an den Ort der vernunftkritischen Entlarvung, der Humanwissenschaften zuriickzukehren, aber diesmal im Bewufhsein einer Tatsache, welche die Nachfolger. Nietzsches hartnackig ignorieren. Sie sehen nicht, daB bereits jener philosophische Gegendiskurs, der dem mit Kant anhebenden phi344
losophischen Diskurs der M-die.sitL~
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1 V gl. allerdings die eigentiimliche Vorlesung, die Foucault Anfang 1983 tiber Kants »Zur Beantwortung der Frage: Was ist AufkHirung?« gehalten hat. Magazine Litteraire, Mai 1983.
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·.AUrsprungsphilosophie verhaftet geblieben. Auch Foucault ist von ~ort
aus, wo er den Zwang zur aporetischen Verdoppelung des selbstbeziiglichen Subjekts dreifach analysiert hat, in eine Machttheorie ausgewichen, die sich als Sackgasse erwiesen hat. Er folgt Heidegger und Derrida in die abstrakte Negation des selbstbeziiglichen Subjekts, indem er, kurz angebunden, »den Menschen« fur inexistent erkHirt. Aber er versucht nicht mehr, wie jene, die verlorene Ordnung der Dinge; die das metaphysisch vereinsamte und strukturell iiberforderte Subjekt vergeblich aus eigener Kraft erneuern will, durch temporalisierte Ursprungsmachte zu kompensieren. Freilich erweist sich die transzendentalhistoristische »Macht«, die einzige Konstante im Auf und Ab der iiberwaltigenden und der iiberwaltigten Diskurse, am Ende doch nur als ein Aquivalent fiir das »Leben« betagter Lebensphilosophien. Eine tragfahigere Losung zeichnet sich ab, wenn wir die etwas sentimentale Voraussetzung metaphysischer Unbehaustheit fallenlassen, und wenn wir das hektische Hin und Her zwischen transzendentaler und empirischer Betrachtungsweise, zwischen radikaler Selbstreflexion und einem Unvordenklichen, das sich reflexiv nicht einholen laBt, zwischen der Produktivitat einer sich selbst erzeugenden Gattung und einem U rspriinglichen, das aller Produktion vorausliegt - wenn wir also das Vexierspiel jener Verdoppelungen als das verstehen, was es ist: als ein Erschopfungssymptom. Erschopft ist das Paradigma der BewuBtseinsphilosophie. Wenn es sich so verhalt, miissen sich freilich beim Dbergang zum Paradigma der Verstandigung die Symptome der Erschopfung auflosen: Wenn wir fiir einen Augenblick das Modell verstandigungsorientierten Handelns, das ich an anderem Ortentwickelt habe2, voraussetzen diirfen, ist jene objektivierende Einstellung, in der sich das erkennende Subjekt auf sich selbst ebenso wie auf Entitaten in der Welt richtet, nicht langer privilegiert. 1m Verstandigungsparadigma ist vielmehr grundlegend die performative Einstellung von 1nteraktionsteilnehmern, die ihre Handlungsplane koordinieren, indem sie sich miteinander iiber etwas in der Welt verstandigen. 1ndem Ego eine Sprechhandlung ausfiihrt und Alter dazu Stellung nimmt, 2 Zum Begriff des kommunikativen Handelns, in: J. Habermas, Vorstudien und Erganzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm. 1984.
gehen beide eine interpersonale Beziehung ein. Diese ist durch das System der wechselseitig verschrankten Perspektiven von Sprechern, Harern und aktuell unbeteiligten Anwesenden strukturiert. Dem entspricht auf grammatischer Ebene das System der Personalpronomina. Wer in dieses System eingeiibt ist, hat gelernt, wie man in performativer Einstellung die Perspektiven der ersten, zweiten und dritten Personen jeweils iibernimmt und ineinander transformiert. Nun ermaglicht diese Einstellung von Teilnehmern an einer sprachlich vermittelten 1nteraktion eine andere Beziehung des Subjekts zu sich selbst als bloB jene objektivierende Einstellung, die ein Beobachter gegeniiber Entitaten in der Welt einnimmt. Jene trans zendental-empirische Verdoppelung des Selbstbezuges ist nur solange unausweichlich, wie es keine Alternative zu dieser Beobachterperspektive gibt: nur dann muB sich das Subjekt als das beherrschende Gegeniiber zur Welt im ganzen betrachten - oder als eine in ihr vorkommende Entitat. Zwischen der extramundanen Stellung des transzendentalen und der innerweltlichen des empirischen 1ch ist eine Vermittlung nicht maglich. Diese Alternative entfa1lt, sobald die sprachlich erzeugte 1ntersubjektivitat den Vorrang erh1ilt. Dann steht Ego in einer interpersonalen Beziehung, die es ihm erlaubt, sich aus der Perspektive von Alter auf sich als Teilnehmer an einer 1nteraktion zu beziehen. U nd zwar entgeht die aus der Teilnehmerperspektive vorgenommene Reflexion jener Art von Objektivierung, die aus der reflexiv gewendeten Beobachterperspektive unvermeidlich ist. Vnter den Blicken der dritten Person, ob nun nach auBen oder nach innen gerichtet, gefriert alles zum Gegenstand. Die erste Person, die sich in performativer Einstellung aus dem Blickwinkel der zweiten Person auf sich zuriickbeugt, kann indessen ihre geradehin ausgefiihrten Akte nachvollziehen. Eine nachvollziehende Rekonstruktion des immer schon verwendeten Wissens tritt an die Stelle eines reflexiv vergegenstandlichten Wissens, also des SelbstbewuBtseins. Was friiher der dentalphilosophie zufiel, namlich die intuitive Analyse des SelbstbewuBtseins, ug sic nun ein in den Kreis rekonstruktiver Wissenschaften, welche aus der Perspektive von Teilnehmern an Diskursen und 1nteraktionen das vortheoreti347
sche Regelwissen von kompetent sprechenden, handelnden und erkennenden Subjekten anhand einer Analyse gelungener oder verzerrter AuBerungen explizit zu machen suchen. Weil sich solche Rekonstruktionsversuche nicht mehr auf ein Reich des Intelligiblen jenseits der Erscheinungen richten, sondern auf das tatsachlich praktizierte Regelwissen, das sich in den regelrecht generierten AuBerungen niederschlagt, entfallt die ontologische Trennung zwischen Transzendentalem und Empirischem. Wie sich am genetischen Strukturalismus von Jean Piaget gut zeigen laBt, lassen sich rekonstruktive und empirische Annahmen in ein und derselben Theorie zusammenfiigen. 3 Damit ist der Bann eines unerlosten Hin und Her zwischen zwei ebenso unvermeidlichen wie unvereinbaren Aspekten der Selbstthematisierung gebrochen. Deshalb bedarf es auch keiner hybriden Theorien mehr, urn die Kluft zwischen Transzendentalem undEmpirischem zu schlieBen. Das gleiche gilt fiir die Verdoppelung der Selbstbeziehung in der Dimension des BewuBtmachens von U nbewuBtem. Hier schwankt, Foucault zufolge, das subjektphilosophische Denken hin und her zwischen der heroischen Anstrengung, An-Sich-Seiendes reflexiv in Fiir-Sich-Seiendes zu verwandeln, und der Anerkennung eines opaken Hintergrundes, der sich derTransparenz des SelbstbewuBtseins hartnackig entzieht. Auch diese beiden Aspekte der Selbstthematisierung sind nicht langer unvereinbar, wenn wir zum Verstandigungsparadigma iibergehen. Indem sich Sprecher und Horer frontal miteinander iiber etwas in einer Welt verstandigen, bewegen sie sich innerhalb des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt; diese bleibt den Beteiligten als ein intuitiv gewuBter, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Riicken. Die Sprechsituation ist der im Hinblick auf das jeweilige Thema ausgegrenzte Ausschnitt aus einer Lebenswelt, die fiir die Verstandigungsprozesse sowohl einen Kontext bildet wie auch Ressourcen bereitstellt. Die Lebenswelt bildet einen Horizont und bietet ~ ~e~at an kultUreIlen-S-el:bstverst"ttnallclikeiten, dem die Kommunikationsteilnehmer bei ihren Interpretationsanstrengungen konsentierte Deutungsmuster entnehmen. Auch die Soli3 J. Habermas, Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften, in: Habermas, MoralbewuBtsein und kommunikatives Handeln, Ffm. 1983, 29 ff.
daritaten der iiber Werte integrierten Gruppen und die Kompetenzen vergesellschafteter Individuen gehoren - wie die kulturell eingewohnten Hintergrundannahmen - zu den Komponenten der Lebenswelt. Urn diese oder ahnliche Aussagen machen zu konnen, miissen wir freilich einen Perspektivenwechsel vornehmen: die Lebenswelt kann nur a tergo eingesehen werden. Aus der frontalen Perspektive der verstandigungsorientiert handelnden Subjekte selber muB sich die immer nur »mitgegebene« Lebenswelt der Thematisierung entziehen. Als T otalitat, die die Identitaten und lebensgeschichtlichen Entwiirfe von Gruppen und Individuen ermoglicht, ist sie nur prareflexiv gegenwartig. Aus der Perspektive der Beteiligten laBt sich zwar das praktisch in Anspruch genommene, in AuBerungen sedimentierte Regelwissen rekonstruieren, nicht aber der zuriickweichende Kontext und die im Riicken bleibenden Ressourcen der Lebenswelt im ganzen. Es bedarf einer theoretisch konstituierten Perspektive, damit wir das kommunikative Handeln als Medium betrachten konnen, iiber das sich die Lebenswelt im ganzen reproduziert. Auch aus dieser Sicht sind freilich nur formalpragmatische Aussagen moglich, die sich auf die Strukturen von Lebenswelt iiberhaupt beziehen, nicht auf bestimmte Lebenswelten in ihrer konkreten geschichtlichen Auspragung. GewiB, die Interaktionsteilnehmer erscheinen dann nicht langer als die Urheber, die mit Hilfe zurechenbarer Handlungen Situationen bewaltigen, sondern als die Produkte der Dberlieferungen, in denen sie stehen, der solidarischen Gruppen, denen sie angehoren, und der Sozialisationsprozesse, in denen sie heranwachsen. Die Lebenswelt reproduziert sich namlich in dem MaBe, wie diese drei, die Aktorperspektive iibersch~~itenden Funktionen erfiillt werden: die Fortsetzung kultureller Uberlieferungen, die Integration von Gruppen iiber Normen und Werte und die Sozialisation nachwachsender Generationen. Was so in den Blick gelangt, sind Eigenschaften kommunikativ strukturierter Lebenswelten im allgemeinen. Wer die individuelle Totalitat einer einzelnen Lebensgeschichte oder einer partikularen Lebensform vergegenwartigen will, muB zur Perspektive der Beteiligten zuriickkehren, die Absicht rationaler Nachkonstruktion aufgeben und schlicht historisch verfahren. 349
Die narrativen Mittel lassen sich allenfalls stilisieren zu einer dialogisch angeleiteten Selbstkritik, fur die das analytische Gesprach zwischen Arzt und Patient ein geeignetes Modell bietet. Diese Selbstkritik, die auf die Aufhebung von Pseudonatur, d.h. von Pseudoaprioris unbewuBt motivierter Wahrnehmungsschranken und Handlungszwange abzielt, bezieht sich auf das narrativ vergegenwartigte Ganze eines Lebenslaufes oder einer Lebensweise. Die analytische Auflosung von Hypostasierungen, von selbsterzeugtern objektivem Schein, verdankt sich einer reflexiven Erfahrung. Deren befreiende Kraft richtet sich gegen einzelne Illusionen: sie kann nicht etwa das Ganze eines individuellen Lebenslaufs oder einer ko11ektiven Lebensweise transparent machen. Die beiden Erben der Selbstreflexion, die aus den Grenzen der BewuBtseinsphilosophie heraustreten, haben verschiedene Ziele und Reichweiten. Die rationale Nachkonstruktion verschreibt sich dem Programm des BewuBtmachens, richtet sich aber auf anonyme Regelsysteme und nimmt nicht auf T otalitaten Bezug. Demgegenuber bezieht sich die methodisch durchgefuhrte Selbstkritik auf Totalita- . ten, jedoch in dem BewuBtsein, daB sie das Implizite, Vorpradikative, Nichtaktue11e des lebensweltlichen Hintergrundes niemals ganz wird arifk1aren konnen. 4 Wie sich am Beispiel einer kommunikationstheoretisch gedeuteten Psychoanalyse gut zeigt~, lassen sich indessen beide Verfahren, Nachkonstruktion und Selbstkritik, itn Rahmen ein und derselben Theorie zusammenfugen. Auch diese beiden Aspekte der Selbstthematisierung des erkennenden Subjekts sind nicht unvereinbar; auch in dieser Hinsicht sind hybride Theorien, die Widerspruche gewaltsam auflosen, uberflussig. Ahnliches gilt fur die dritte Verdoppelung des Subjekts als eines ursprunglich schopferischen und seines Ursprungs gleichwohl entfremdeten Aktors. Wenn der formalpragmatisch entwickelte Lebensweltbegriff fur gese11schaftstheoretische Zwecke fruchtbar gemacht werden so11, muB er in ein empirisch verwendbares Konzept umgeformt und mit dem Konzept des selbstgesteuerten Systems
zu einem zweistufigen Gesellschaftsbegriff integriert werden. Ferner ist eine sorgfaltige Trennung zwischen Problemen der Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik notig, damit soziale Evolution und Geschichte methodisch auseinandergehalten und aufeinander bezogen werden konnen. SchlieBlich muB sich die Gesellschaftstheorie ihres eigenen Entstehungszusammenhangs und ihres Standortes im Kontext unserer Gegenwart bewuBt bleiben; auch die starken universalistischen Grundbegriffe haben einen Zeitkern. 6 Wenn es aber mit Hilfe dieser Operationen gelingt, zwischen der Scylla des Absolutismus und der Charybdis des Relativismus hindurchzusteuern 7, stellt sich nicht die Alternative zwischen der Konzeption der Weltgeschichte als eines Prozesses der Selbsterzeugung (sei es des Geistes oder der Gattung) einerseits und andererseits der Konzeption eines unvordenklichen Geschicks, das durch die N egativitat von Entzug und Entbehrung die Macht des verlorenen Ursprungs fuhlbar macht. Auf diese komplizierten Zusammenhange kann ich hier nicht eingehen. Ich wo11te nur andeuten, wie ein Paradigmenwechsel jene Dilemmata gegenstandslos machen kann, aus denen Foucault die verhangnisvolle Dynamik einer auf Wissen versessenen und Pseudowissenschaften anheimfa11enden Subjektivitat erklart. Der Paradigmenwechsel von der subjektzentrierten zur kommunikativen Vernunft kann auch dazu ermutigen, jenen der Moderne von Anbeginn innewohnenden Gegendiskurs noch einmal aufzunehmen. Da sich Nietzsches radikale Vernunftkritik weder auf der metaphysikkritischen noch auf der machttheoretischen Linie konsistent durchfuhren laBt, sind wir auf einen anderen Ausweg aus der Subjektphilosophie angewiesen. Vielleicht lassen sich dabei die Griinde fur die Selbstkritik einer mit sich zerfa11enen Moderne unter anderen Pramissen so beriicksichtigen, daB wir den seit Nietzsche virulenten Motiven fur eine voreilige Verabschiedung der Moderne gerecht werden. Es muB klarwerden, daB in der kommunikativen Vernunft der Purismus der reinen Vernunft nicht wieder aufersteht.
4 Vgl.J. Habermas (1973), 4IIff.; H. Dahmer, Libido und Gesellschaft, Ffm. 19 82 , 8ff. 5 J. Habermas, Der Universalitatsanspruch der Hermeneutik, in: ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, Ffm. 1982, 33 1ff.
6 Vgl. J. Habermas (1981), Bd. 2, 589ff. 7 R. J. Bernstein, Beyond Objectivism and Relativism, Philadelphia 1983.
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II
Wahrend des letzten Jahrzehnts ist radikale Vernunftkritik beinahe zur Mode geworden. In Thema und Durchfiihrung exemplarisch ist eine Untersuchung von Hartmu~ und Gernot Bohme, die anhand des Werkes und der Lebensgeschichte von Kant Foucaults Thema der Entstehung der modernen Wissensform aufgreifen. 1m Stile einer kultur- und sozialgeschichtlich erweiterten Wissenschaftsgeschichtsschreibung betrachten die Autoren, was sich sozusagen hinter dem Riicken der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft abspielt. Die eigentlichen Motive fiir die Vernunftkritik suchen sie etwa in der Auseinandersetzung mit dem Geisterseher Swedenborg, in dem Kant seinem nachtlichen Zwi1lingsbruder, dem verstoBenen Gegenbild seiner selbst begegnet sei. Die Autoren verfolgen diese Motive bis ins Personliche, bis in die vonallem Sexuellen, Leiblichen, Phantastischen abgewandte, gleichsam abstrakte Lebensfiihrung einer hypochondrischen, schrullenhaften, immobilen Gelehrtenexistenz. Sie fiihren die »Kosten der Vernunft« psychohistorisch vor Augen. Sie unternehmen diese Kosten-NutzenRechnung unbefangen mit psychoanalytischen Argumenten und belegen sie mit historischen Daten, ohne freilich den Ort angeben zu konnen, an dem solche Argumente und Daten noch Gewicht beanspruchen diirften - wenn denn die These, urn die es geht, stimmen sollte. Kant hatte seine Kritik der Vernunft aus deren eigener Perspektive, namlich in der Form einer streng diskursiven Selbstbeschrankung der Vernunft durchgefiihrt; wenn ihm nun die Gestehungskosten der Genese dieser sich selbst einschrankenden, Metaphysisches ausgrenzenden Vernunft vorgefiihrt werden sollen, bediirfte es eines iiber diese Grenzziehungen hinausreichenden Horizonts der Vernunft, worin sich der transzendierende Diskurs, der die Rechnung aufmacht, bewegen kann. Die noch einmal radikalisierte Vernunftkritik miiBte eine ausgreifendere, eine komprehensive Vernunft postulieren. Doch die Gebriider Bohme wollen den Teufel nicht mit dem Belzebub austreiben; mit Foucault sehen sie vielmehr in dem Ubergang von der exklusiven Vernunft (Kantischer Pragung) zu eiller komprehensiven Vernunft lediglich »die Komplementie- 352
rung des Machttyps der Ausgrenzung urn den Machttyp der Durchdringung«.8 Konsequenterweise miiBte ihre eigene Untersuchung im Anderen der Vernunft einen der Vernunft schlechthin heterogenen Posten beziehen. Aber was zahlen noch Konsequenzen an einem Ort, welcher der verniinftigen Rede a priori unzuganglich ist? In dies em Text hinterlassen also die seit Nietzsche immer wieder durchgespielten Paradoxien keine erkennbare Spur der Beunruhigung. Die methodologische Vernunftfeindlichkeit mag mit der historischen Unschuld zusammenhangen, mit der sich Untersuchungen dieses Typs heute im Niemandsland zwischen Argumentation, Erzahlung und Fiktion bewegen. 9 Die Neue Vernunftkritik verdrangt jenen bald zweihundertjahrigen, der Moderne selbst innewohnenden Gegendiskurs, an den ich mit diesen Vorlesungen erinnern mochte. Dieser hat von der Kantischen Philosophie als dem bewuBtlosen Ausdruck des modernen Zeitalters seinen Ausgang genommen und das Ziel verfolgt, die Aufk1arung iiber die ihr eigenen Bornierungen aufzuklaren. Die Neue Vernunftkritik verleugnet die Kontinuitat mit dies em Gegendiskurs, in der sie doch steht: »Es kann nicht mehr darum gehen, das Projekt der Moderne zu vollenden (Habermas), es muB darum gehen, es zu revidieren. Auch ist die Aufk1arung nicht unvollstandig geblieben, sondern unaufgeklart.«10 Die Absicht einer Revision der Aufk1arung, die sich der Mittel der Aufklarung selber bedient, hat aber die Kritiker Kants von der ersten Stunde an vereinigt - Schiller mit Schlegel, Fichte mit den Tiibinger Stiftlern. Lesen wir weiter: »Kants Philosophie war als das Unternehmen einer Grenzziehung angesetzt worden. Aber nichts wird dariiber gesagt, daB Grenzen zu ziehen ein dynamischer ProzeB ist, daB die Vernunft sich zuriickzog auf festes Terrain und eben anderes verlieB, daB Grenzziehung sich eingrenzen und anderes ausgrenzen bedeutet.« Wir haben zu Beginn unserer Vorlesung gesehen, wie Hegel mit Schelling und Holderlin die Abgrenzungsleistungen der Reflexionsphilosophie, die Entgegensetzung von Glauben und Wissen, von Unendlichem und Endlichem, die Tren8 H. B6hrne, G. B6hme, Das Andere der Vemunft, Ffrn. 1983,326. 9 Vgl. den Exkurs zu Derrida, oben S. 221 ff. 10 H. B6hme, G. B6hme (1983), II.
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nung von Geist und Natur, Verstand und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung als ebenso viele Provokationenempfunden und wie sie die Spuren dieser Entfremdung einer subjektiv aufgespreizten Vernunft von innerer und auBerer Natur bis in die »Positivitaten« der zerstorten Sittlichkeit des politischen und des privaten Alltags hinein verfolgt haben. Hegel hatte ja aus dem Umstand, daB die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, geradezu das objektive Bediirfnis nach Philosophie hervorgehen sehen. Allerdings hat er die Grenzziehungen der subjektzentrierten Vernunft nicht als Ausgrenzungen, sondern als Entzweiungen interpretiert, und der Philosophie den Zugang zu einer die subjektive Vernunft und deren Anderes in sich begreifenden Totalitat zugemutet. Dagegen richtet sich das MiBtrauen der Autoren, wenn sie fortfahren: »Was aber Vernunft ist, bleibt solange undeutlich, als nicht ihr Anderes (in seiner Unaufhebbarkeit) mitgedacht wird. Denn Vernunft kann sich iiber sich selbst tauschen, sich fiir das Ganze nehmen (Hegel) oder sich anmaBen, das Ganze zu umfassen.« Genau das war der Einwand, den einst die Junghegelianer gegen den Meister zur Geltung gebracht haben. Sie haben gegen den absoluten Geist einen ProzeB angestrengt, in dem das Andere der Vernunft, das ihr Vorgangige, in seinem Eigenrecht rehabilitiert werden sollte. Aus diesem ProzeB der Entsublimierung ist der Begriff einer situierten Vernunft hervorgegangen, die ihr Verhaltnis zur Historizitat der Zeit, zur Faktizitat der auBeren Natur, zur dezentrierten Subjektivitat der inneren Natur und zur Materialitat der Gesellschaft weder durch Inklusion noch durch Ausgrenzung bestimmt, sondern durch eine unter endlichen, »nicht selbst gewahlten« Bedingungen vollzogene Praxis der Einbildung und Ausbildung von Wesenskraften. Die Gesellschaft wird als Praxis vorgestellt, in der sich Vernunft verkorpert. Diese Praxis vollzieht sich in der Dimension der geschichtlichen Zeit, sie vermittelt die subjektive Natur der bediirftigen Individuen mit einer in der Arbeit objektivierten Natur innerhalb des Horizonts der umgebenden, kosmischen N atur. Diese gesellschaftliche Praxis ist der art, an dem sich die geschichtlich situierte, leiblich inkarnierte, mit der auBeren Natur konfrontierte Vernunft mit ihrem Anderen konkret vermittelt. Ob diese vermittelnde Praxis gelingt, hangt ab von ihrer 354
inneren Verfassung, yom Grad der Entzweiung und der Versohnlichkeit des gesellschaftlich institutionalisierten Lebenszusammenhangs. Was bei Schiller und Hegel System des Egoismus oder entzweite sittliche Totalitat hieB, wandelt sich bei Marx zu einer in soziale Klassen gespaltenen Gesellschaft. Wie bei Schiller, wie beim jungen Hegel gibt letztlich die assoziierende, d. h. gemeinsamkeitsstiftende, solidarisierende Kraft des nicht entfremdeten Kooperierens und Zusammenlebens den Ausschlag dafiir, ob sich die in der gesellschaftlichen Praxis verkorperte Vernunft mit Geschichte und Natur ins Benehmen setzt. Die entzweite Gesellschaft selbst ist es, welche die Verdrangung des Todes, die Einebnung des geschichtlichen BewuBtseins und die Unterjochung der auBeren wie der innereo. N atur erzwingt. 1m vernunftgeschichtlichen Kontext hat die Praxisphilosophie des jungen Marx die Bedeutung, daB sie Hegels Modell der Entzweiung von einem inklusiven, eben das Andere der Vernunft sich einverleibenden Vernunftbegriff gelost hat. Die sich als endlich begreifende Vernunft der Praxisphilosophie bleibt freilich - in der Form einer kritischen Gesellschaftstheorie - einer komprehensiven Vernunft insoweit verpflichtet, als sie weiB, daB sie die historischen Grenzen der - in den biirgerlichen Verkehrsformen verkorperten - subjektzentrierten Vernunft nicht erkennen konnte, ohne sie zu iiberschreiten. Wer stur am Modell der Ausgrenzung festhalt, muB sich dieser Hegelschen Einsicht, die, wie an Marx zu sehen ist, keineswegs nur umden Preis der Verabsolutierung des Geistes zu haben war, verschlieBen. Aus einer derart beschrankten Perspektive betrachtet, wirkt sich der Hegelsche Geburtsfehler der nachhegelschen Theorie auch noch dort aus, »wo die Vernunft bereits als instrumentell, repressiv, borniert kritisiert wird: bei Horkheimer und Adorno. Deren Kritik geschieht immer noch im Namen einer hoheren Vernunft, namlich der komprehensiven, der der Totalitatsanspruch konzediert wird, welchen man der realen Vernunft bestritten hatte. Es gibt keine komprehensive Vernunft. Man hatte von Freud oder auch von Nietzsche lernen sollen, daB Vernunft ohne ihr Anderes nicht ist und daB sie - funktional gesehen - durch dieses Andere notig wird.«ll 11 Biihme und Biihme (1983), 18.
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Mit dieser Behauptung erinnern die Gebriider Bohme an den art, wo einst Nietzsche, unter Riickgriff aufs romantische Erbe, dem Programm einer in sich dialektischen Aufk1arung die totalisierende Vernunftkritik entgegengesetzt hat. Die Dialektik der Aufk1arung wiirde ja erst dann ver~pielt haben, wenn die Vernunft jeder transzendierenden Kraft beraubt ware und im Wahn ihrer Autonomie gleichwohl ohnmachtig in jene Grenzen gebannt bliebe, die Kant dem Verstand und dem Verstandesstaat gezogen hatte: »DaB das Vernunftsubjekt niemandem und nichts sich verdanken will als sich selbst, ist sein Ideal und sein Wahn zugleich.« 12 Erst wenn die Vernunft in der narziBtischen Gestalt einer alles ringsum als Objekt unterwerfenden, identitaren, nur zum Scheine universalen, auf Selbstbehauptung und partikulare Selbststeigerung eingeschworenen Macht ihr wahres Wesen zu erkennen gibt, kann das Andere der Vernunft seinerseits als eine spontane, seinsgriindende, stiftende, zugleich vitale und undurchsichtige Gewalt gedacht werden, die von keinem Funken der Vernunft mehr erhellt wird. N ur die auf das subjektive Vermogen von Verstand und Zwecktatigkeit reduzierte Vernunft entspricht dem Bild einer exklusiven Vernunft, die, je mehr sie triumphal in die Hohe strebt, sich selbst entwurzelt, bis sie schlieBlich verdorrt der Gewalt ihres verheimlichten heterogenen Ursprungs anheimfallen wird. Die Dynamik der Selbstzerstorung, in der sich das Geheimnis der Dialektik der Aufk1arung aussprechen soll, kann nur funktionieren, wenn die Vernunft aus sich nichts hervorbringen kann auBer jener blanken Macht, zu der sie eigentlich die Alternative des zwanglosen Zwangs der besseren Einsicht darstellen will. Dieser Zugzwang erklart iibrigens die drastische Nivellierung, die eine von Nietzsche inspirierte Kant-Lektiire an Kants Architektonik der Vernunft vornimmt; sie muB den Zusammenhang der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft mit der Kritik der U rteilskraft tilgen, um jene in einer Theorie der entfremdeten, auBeren N atur, diese in einer Theorie der Herrschaft iiber die innere N atur aufgehen zu lassen.13 12 Bohme und Bohme (19 83),19. 13 W 0 Schiller und Hegel die moralische Idee der Selbstgesetzgebung in der asthetisch versohnten Gesellschaft oder der Totalitat des sittlichen Lebenszusarnmen-
Wahrend das Entzweiungsmodell der Vernunft die solidarische gesellschaftliche Praxis als den art einer geschichtlich situierten Vernunft auszeichnet, an dem die Faden von auBerer Natur, innerer Natur und Gesellschaft zusammenlaufen, wird dieser utopisch eroffn~.te Raum. im Ausgrenzungsmodell der Vernunft vollstandig ausgefullt von emer unversohnlichen, auf nackte Macht reduzierten Vernunft. Die gesellschaftliche Praxis dient hier nur noch als die Biihne, auf der die Disziplinarmacht immer neue Inszenierungen erfahrt. Dari?- treibt eine Vernunft ihr U nwesen, der die Kraft abgespro.chen wlrd, zu dem ihr Vorgangigen zwanglos Zugang zu gewmnen. In ihrer vermeintlichen Souveranitat wird die in Subjektivitat aufgehende Vernunft zum Spielball von unvermittelt, gleich~am me~hanisch auf sie einwirkenden Kdften der ausgegrenzten, mnen Wle auBen zum Objekt gemachten Natur. Das Andere zur sich aufspreizenden Subjektivitat ist nun nicht mehr das entzweite Ganze - zunachst also das, was sich in der rachenden Gewalt zerstorter Reziprozitaten, in der schicksalhaften Kausalitat verzerrter Kommunikationszusammenhange zur Geltung bringt; und dann auch, durch das Leiden an der entstellten Totalitat des gesellschaftlichen Lebens hindurch, die entfremdete innere wie auBere Natur. 1m Modell der Ausgrenzung wird diese komplizierte Struktur einer gesellschaftlich gespaltenen und dadurch von Natur losgerissenen subjektiven Vernunft eigentiimlich entdifferenziert: »Das Andere der Vernunft, das ist die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefiihleoder besser: alles dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen konnen.«14 Nun also sind es unmittelbar die vitalen Krafte hangs realisiert sehen wollen, konnen Bohme und Bohme in moralischer Autonornie nur noch das Werk der Disziplinarmacht erkennen: »Sollte man das innere Gerichtsve~ahren das im Namen des Sittengesetzes iiber die Maximen gefiihrt wird, durch sozlale Modelle veranschaulichen, so miifhe man zuriickgehen: auf die protestantische Gewissenspriifung, die das Muster der Hexeninquisition ins Innere des Menschen vorverlagert hat, oder besser noch nach vorne gehen: in die kiihl hygienischen Verhorraume und die schweigenden, eleganten Computerarsenale der verwissenschaftlichten Polizei, deren Ideal das des kategorischen Imperativs ist - die liickenlose Erfassung und Kontrolle alles Partikularen und Widerstandigen bis ins Innere des Menschen hinein« (Bohme und Bohme, 1983,349). . 14 Bohme und Bohme (1983), 13.
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einer abgespaltenen und unterdriickten subjektiven Natur; sind es jene in der Romantik wieder entdeckten Phanomene des Traumes, der Phantasie, des Wahns, der orgiastischen Erregung, der Ekstase; sind es die asthetischen, leibzentrierten Erfahrungen einer dezentrierten Subjektivitat, die als Statthalter fiir das Andere der Vernunft fungieren. Freilich, die Friihromantik wollte die Kunst noch in Form einer neuen Mythologie als offentliche Institution in der Mitte des sozialen Lebens ansiedeln, wollte die von ihr ausstrahlende Erregung zum Aquivalent fiir die vereinigende Macht der Religion erheben. Erst Nietzsche hat dieses Erregungspotential ins J enseits der modernen Gesellschaft, der Geschichte iiberhaupt transponiert. Der moderne U rsprung der avantgardistisch zugespitzten asthetischen Erfahrungen wird kaschiert. Das zum Anderen der Vernunft stilisierte Erregungspotential wird zugleich esoterisch und pseudonym - es tritt unter anderem N amen auf - als Sein, als Heterogenes, als Macht. Die kosmische N atur der Metaphysik und der Gott der Philosophen verschwimmen zur beschworenden Reminiszenz, zur bewegenden Erinnerung des metaphysisch und religios vereinsamten Subjekts. Die Ordnung, von der dieses sich emanzipiert hat, also innere und auBere N atur in ihrer nicht-entfremdeten Gestalt, treten nur noch im Prateritum auf, als archaischer Ursprung der Metaphysik bei Heidegger, als Umschlagspunkt in der Archaologie der Humanwissenschaften bei Foucault - oder auch etwas modischer so: »Getrennt yom Leib, dessen libidinosen Potenzen Bilder des Gliicks hatten entnommen werden konnen; getrennt von einer miitterlichen Natur, die die archaische Imago symbiotischer Ganzheit und nutritiver Behiitung enthielt; getrennt yom Weiblichen, mit dem vermischt zu sein zu den Urbildern des Gliicks gehorte - erzeugte die Philosophie der bilderberaubten Vernunft nur das grandiose BewuBtsein einer prinzipiellen Uberlegenheit des Intelligiblen iiber die Natur, iiber die Niedrigkeit von Leib und Frau ... Die Philosophie attribuierte der Vernunft eine Omnipotenz, Unendlichkeit und kiinftig entstehende Vollkommenheit, wogegen das verlorene Kindschaftsverhaltnis zur Natur nicht erschien.«15 15 Bohrne und Bohme (1983), 23.
Immerhin dienen diese Ursprungserinnerungen des neuzeitlichen Subjekts als Ankniipfungspunkt fiir die Antwort auf jene Frage, der sich die Konsequenteren unter Nietzsches Nachfolgern nicht entziehen wollten. Solange yom Anderen der Vernunft, wie immer es auch heiBe, narrativ die Rede ist, solange dieses dem diskursiven Denken Heterogene ohne weitere Vorkehrungen als Name in philosophie- und wissenschaftshistorischen Darstellungen auftaucht, kann die Unschuldsmiene die Unterbietung des von Kant inaugurierten Niveaus der Vernunftskritik nicht wettmachen. Bei Heidegger und Foucault ist die subjektive Natur als Statthalter jenes Anderen verschwunden, weil diese nicht langer als das Andere der Vernunft deklariert werden kann, sobald sie sich als das individuell oder kollektiv UnbewuBte in den Begriffen von Freud oder C. G. Jung, von Lacan oder Levi-Strauss iiberhaupt irgendeinem wissenschaftlichen Diskurs fiigt. Heidegger und Foucault wollen, ob nun in der Form des Andenkens oder der Genealogie, einen Sonderdiskurs in Gang setzen, der beansprucht, sich aufierhalb des Horizonts der Vernunft abzuspielen, ohne doch ganz und gar unverniinftig zu sein. GewiB, damit verlagert sich nur die Paradoxie. Die Vernunft soIl sich in ihren historischen Gestalten aus der Perspektive des von ihr ausgegrenzten Anderen kritisieren lassen; erforderlich ist dano ein letzter, sich selbst iiberbietender Akt der Selbstreflexion, und zwar ein Akt der Vernunft, bei dem die Stelle des genetivus subjectivus durch das Andere der Vernunft besetzt werden miiBte. Subjektivitat als der Selbstbezug des erkennenden und handelnden Subjekts stellt sich in der zweistelligen Relation der Selbstreflexion dar. Die Figur wird beibehalten, und doch solI Subjektivitat nur noch in der Objektstelle auftreten diirfen. Dieses· Paradox bearbeiten Heidegger und Foucault strukturell ahnlich, indem sie das der Vernunft Heterogene auf dem Wege einer Selbstexilierung der Vernunft, einer Austreibung der Vernunft aus ihrem eigenen Territorium erzeugen. Diese Operation versteht sich als entlarvende Umkehrung jener Selbstvergottung, die die Subjektivitat gleichzeitig betreibt und vor sich selbst verbirgt. Wahrenddessen schreibt sie sich Attribute zu, die sie den zertriimmerten religiosmetaphysischen Ordnungsbegriffen entlehnt. U mgekehrt resultiert das gesuchte Andere, das der Vernunft heterogen ist und doch als 359
ihr Heterogenes auf sie bezogen bleibt, aus einer radikalen Verendlichung jenes Absoluten, fiir das sich die Subjektivitat falschlich substituiert hat. Ais Dimension der Verendlichung wahlt Heidegger, wie gezeigt, die Zeit und konzipiert das Andere der Vernunft alsanonyme, zeitlich verfliissigte Ursprungsmacht; Foucaultwahlt die Dimension der raumlichen Zentrierung in der Erfahrung des eigenen Leibes und konzipiert das Andere der Vernunft als anonyme Quelle der Vermachtung leibgebundener Interaktionen. Wir haben gesehen, daB diese Bearbeitung des Paradoxes keineswegs dessen Losung bedeutet; die Paradoxie zieht sich in den Sonderstatus der auBerordentlichen Diskurse zuriick. Wie das Andenken zum mystifizierten Sein, so gehort die Genealogie zur Macht. Das Andenken soll einen privilegierten Zugang zur metaphysisch verschiitteten Wahrheit offnen, die Genealogie an die Stelle der, wie es scheint, verkommenen Humanwissenschaften treten. Wahrend sich Heidegger iiber die Art seines Privilegs ausschweigt, so daB man nicht recht weiB, wonach sich das Genre seiner Spatphilosophie iiberhaupt beurteilen lieBe, hat Foucault bis zuletzt seine Arbeiten unpratentios in dem BewuBtsein betrieben, den methodologischen Aporien nicht ausweichen zu konnen.
III Die raumliche Metapher von einschlieBender und ausschlieBender .Vernunft verrat, daBnoch die vermeintlich radikale Vernunftkritik an den Voraussetzungen der Subjektphilosophie haften bleibt, von denen sie doch loskommen wollte. Nur eine Vernunft, der wir Schliisselgewalt zuschreiben, konnte ein- oder ausschlieBen. Deshalb verbindet sich das Drinnen und DrauBen mit Herrschaft und Unterwerfung - und die Dberwindung der gewalthabenden Vernunft mit dem AufstoBen von Gefangnistoren und dem gewahrenden Entlassen in eine unbestimmte Freiheit. Derart bleibt das Andere der Vernunft Spiegelbild der gewalthabenden. Hingabe und Seinlassen bleiben ans Verfiigenwollen so angekettet wie das Aufbaumen der Gegenmacht an die Schinderei der Macht. Von den Begriffen~ der subjektzentrierten Vernunft und ihrer einpragsam 360
bebilderten Topographie wird sich gerade der nicht losen konnen, der mit dem Paradigma der BewuBtseinsphilosophie alle Paradigmen iiberhaupt hinter sich lassen und in die Lichtung der Postmoderne hinaustreten mochte. Seit der Friihromantik werden fiir die exaltierende Dberschreitung des Subjekts immer wieder mystische und asthetische Grenzerfahrungen in Anspruch genommen. Der Mystiker wird yom Licht des Absoluten geblendet und schlieBt die Augen; der asthetisch Entziickte entauBert sich ans Betaubende und Schwindelerregende des Schocks. Hier wie dort entzieht sich die Quelle der Erschiitterung jeder Bestimmung. 1m Bestimmungslosen zeichnet sich nur noch der SchattenriB des bekampften Paradigmas ab - der UmriB des Dekonstruierten. In dieser Konstellation, die von Nietzsche bis Heidegger und Foucault anhalt, entsteht eine objektlose Erwekkungsbereitschaft; in deren Sogbilden sich Subkulturen, die ihre Erregung angesichts unbestimmt avisierter kiinftiger Wahrheiten durch Kulthandlungen ohne kultischen Gegenstand zugleich besanftigen und wachhalten. Das skurrile Spiel mit der religiosasthetisch gestimmten Ekstase findet Zuschauer vornehmlich im Kreis von Intellektuellen, die auf dem Altar ihrer Orientierungsbediirfnisse das sacrificium intellectus darzubringen bereit sind. Allein, auch dieses Mal verliert ein Paradigma seine Kraft nur, wenn es durch ei~ anderes Paradigma in bestimmter Weise negiert, d. h. auf einsichtige Weise entwertet wird; der bloB en Beschworung der Subjektausloschung widersteht es allemal. Die noch so furiose Arbeit der Dekonstruktion hat angebbare Konsequenzen erst dann, wenn das Paradigma des SelbstbewuBtseins, des Selbstbezuges eines einsam erkennenden und handelnden Subjekts, durch ein anderes ersetzt wird - durch das Paradigma der Verstandigung, d. h. der intersubjektiven Beziehung kommunikativ vergesellschafteter und sich reziprok anerkennender Individuen. Erst dann tritt die Kritik am verfiigenden Denken der subjektzentrierten Vernunft in bestimmter Form auf - namlich als eine Kritik am abendlandischen »Logozentrismus«, die nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Vernunft diagnostiziert. Statt die Moderne zu iibertrumpfen, nimmt sie den der Moderne innewohnenden Gegen-Diskurs wieder auf und fiihrt ihn aus der ausweglosen Frontstellung zwischen 36r
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Hegel und Nietzsche heraus. Diese Kritik verzichtet auf die uberschwengliche Originalitat eines Ruckganges in die archaischen Anfange; sie entfesselt die subversive Kraft des modernen Denkens selber gegen das von Descartes bis Kant eingesetzte Paradigma der Bewu6tseinsphilosophie. Die Nietzsche folgende Kritik an der abendlandischen Logosauszeichnung verfahrt destruktiv. Sie zeigt, da6 das leibgebundene, sprechende und handelnde Subjekt nicht Herr im eigenen Hause ist; daraus zieht sie freilich den Schlu6, da6 das im Erkennen sich selbst setzende Subjekt in Wahrheit von einem vorgangigen, anonymen und ubersubjektiven Geschehen abhangt - sei es yom Geschick des Seins, yom Zufall der Strukturbildung oder von der Erzeugungsmacht einer Diskursformation. Der Logos des eigenmachtigen Subjekts erscheint so als das Millgeschick einer ebenso folgenreichen wie irrefuhrenden Fehlspezialisierung. Die Hoffnung, die solche nachnietzscheanischen Analysen wecken, hat stets dieselbe Qualitat erwartungsvoller Unbestimmtheit. Wenn einst die Veste der subjektzentrierten Vernunft geschleift sein wird, fallt auch der Logos, der die machtgeschutzte, nach innen hohle, nach au6en aggressive Innerlichkeit so lange zusammengehalten hat, in sich zusammen. Er wird sich dann seinem Anderen, was immer es sei, ergeben mussen. Eine andere, weniger dramatische, aber Zug urn Zug nachprufbare Kritik an der abendliindischen Logosauszeichnung setzt an den Abstraktionen des sprachfreien, universalistischen und korperlosen Logos selber an. Sie begreift intersubjektive Verstandigung als das der umgangssprachlichen Kommunikation eingeschriebene Telos und den bewu6tseinsphilosophisch zugespitzten Logozentrismus des westlichen Denkens als systematische Verkiirzung und Verzerrung eines in der kommunikativen Alltagspraxis immer schon wirksamen, aber selektiv ausgeschopften Potentials. Solange das okzidentale Selbstverstandnis den Menschen in seinem Verhaltnis zur Welt ausgezeichnet sieht durch das Monopol, Seiendem zu begegnen, Gegenstande zu erkennen und zu behandeln, wahre Aussagen zu machen und Absichten zu verwirklichen, bleibt die Vernunft ontologisch, erkenntnistheoretisch oder sprachanalytisch auf nur eine ihrer Dimensionen eingeschrankt. Das Verhaltnis des Men-
schen zur Welt wird darin kognitivistisch reduziert, und zwar ontologisch auf die Welt des Seienden im ganzen (als die Gesamtheit der vorstellbaren Gegenstande und der bestehenden Sachverhalte); erkenntnistheoretisch auf das Vermogen, existierende Sachverhalte zu erkennen oder zweckrational herbeizufuhren; und semantisch auf die tatsachenfeststellende Rede, in der assertorische Satze verwendet werden - und kein Geltungsanspruch au6er dem der foro interno verfugbaren propositionalen Wahrheit zugelassen ist. In der Sprachphilosophie hat sich - von Plato bis Popper - dieser Logozentrismus zu der Behauptung zusammengezogen, da6 allein die Sprachfunktion der Darstellung von Sachverhalten ein menschliches Monopol ist. Wahrend die Menschen die sogenannte Appellund Ausdrucksfunktion (Buhler) mit den Tieren teilt, solI einzig die Repriisentativfunktion fur die Vernunft konstitutiv sein. 16 Demgegenuber lehren schon die Evidenzen der neueren Ethologie, insbesondere die Experimente mit dem kunstlich induzierten Spracherwerb von Schimpansen, da6 nicht per se die Verwendung von Propositionen, sondern erst der kommunikative Gebrauch einer propositional gegliederten Sprache unserer soziokulturellen Lebensform eigentumlich ist und die Stufe der genuin gesellschaftlichen Reproduktion des Lebens konstituiert. Sprachphilosophisch kommt die Gleichurspriinglichkeit und Gleichwertigkeit der drei fundamentalen Sprachfunktionen in den Blick, sobald wir die analytische Ebene des U rteils oder des Satzes verlassen und die Analyse auf Sprechhandlungen, eben auf die kommunikative Verwendung von Siitzen erweitern. Elementare Sprechhandlungen weisen eine Struktur auf, in der drei Komponenten miteinander verschrankt sind: der propositionale Bestandteil fur die Darstellung (oder Erwahnung) von Sachverhalten, der illokutionare Bestandteil fur die Aufnahme interpersonaler Beziehungen und schlie61ich die sprachlichen Komponenten, die die Sprecherintention zum Ausdruck bringen. Die sprechakttheoretische Klarung der komplexen Sprachfunktionen der Darstellung, der Herstellung interpersonaler Beziehungen und der Expression jeweils eigener Erlebnisse hat weitreichende Konsequenzen (a) fur die Bedeutungstheorie, (b) fur 16 K. O. Apel, Die Logosauszeichnung der rnenschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite der Sprechakttheorie. MS Ffrn. I9 84.
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die ontologischen Voraussetzungen der Kommunikationstheorie und (c) fur den Rationalitatsbegriff selber. Ich will diese Konsequenzen hier nur so weit andeuten, wie sie (d) fur eine neue Richtung der Kritik der instrumentellen Vernunft unmittelbar relevant sind. a) Die Wahrheitssemantik, wie sie von Frege bis Dummett und Davidson entwickelt worden ist, geht- wie die Husserlsche Bedeutungstheorie - von der logozentrischen Annahme aus, daB der Wahrheitsbezug des assertorischen Satzes (und der indirekte Wahrheitsbezug des auf die Verwirklichung von Absichten verweisenden intentionalen Satzes) den geeigneten Ansatzpunkt fur die Explikation der sprachlichen Verstandigungsleistung uberhaupt bietet. So gelangt diese Theorie zu dem Grundsatz, daB wir einen Satz dann verstehen, wenn wir die Bedingungen kennen, unter denen der Satz wahr ist. (Fur das Verstandnis von Intentional- und Imperativsatzen fordert sie entsprechend die Kenntnis der »Erfolgsbedingungen«.F Die pragmatisch erweiterte Bedeutungstheorie uberwindet diese Fixierung an die tatsachenabbildende Funktion der Sprache. Wie die Wahrheitssemantik behauptet sie einen internen Zusammenhang von Sinn und Geltung, reduziert diese aber nicht auf Wahrheitsgeltung. Entsprechend den drei fundamentalen Sprachfunktionen kann namlich jede elementare Sprechhandlung im ganzen unter drei verschiedenen Geltungsaspekten bestritten werden. Der Horer kann die AuBerung eines Sprechers in toto verneinen, indem er entweder die Wahrheit der darin behaupteten Aussage (bzw. der Existenzprasuppositionen ihres Aussageinhalts) oder die Richtigkeit des Sprechakts im Hinblick auf den normativen Kontext der AuBerung (bzw. die Legitimitat des vorausgesetzten Kontextes seIber) oder die Wahrhaftigkeit der geauBerten Intention des Sprechers (d. h. die Dbereinstimmung des Gemeinten mit dem Gesagten) bestreitet. Der interne Zusammenhang von Sinn und Geltung trifft deshalb fur das ganze Spektrum sprachlicher Bedeutungen zu _ und nicht nur fur die Bedeutung von Ausdrucken, die sich zu assertorischen Satzen erganzen lassen. Nicht nur fur konstative, sondern fur beliebige Sprechakte gilt, daB wir ihre Bedeutung dann 17 E. Tugendhat, Einfiihrung in die sprachanalytische Phifosophie, Ffm. 1976.
verstehen, wenn wir die Bedingungen kennen, unter denen sie als gultig akzeptiert werden konnen. b) Wenn aber nicht nur konstative, sondern auch regulative und expressive Sprechhandlungen mit Geltungsanspriichen verknupft werden und als gultig akzeptiert bzw. als ungultig zuruckgewiesen werden konnen, erweist sich die ontologische Grundbegrifflichkeit der BewuBtseinsphilosophie (die mit Ausnahme von Austin auch fur die analytische Philosophie maGgebend geblieben ist) als zu eng. Die »Welt«, auf die sich das Subjekt mit seinen Vorstellungen oder Satzen beziehen konnte, wurde bis dahin als die Gesamtheit von Gegenstanden oder existierenden Sachverhalten begriffen. Die objektive Welt gilt als das Korrelat aller wahren assertorischen Satze. Wenn nun aber normative Richtigkeit und subjektive Wahrhaftigkeit als wahrheitsanaloge Geltungsanspruche eingefuhrt werden, mussen fur legitim geregelte interpersonale Beziehungen und fur zuzuschreibende subjektive Erlebnisse tatsachenanaloge »Welten« postuliert werden - eine »Welt« nicht nur fur »Objektives«, das uns in der Einstellung einer dritten Person begegnet, sondern auch eine fur »Normatives«, dem wir uns in der Einstellung von Adressaten verpflichtet fuhlen, sowie eine fur »Subjektives«, das wir in der Einstellung der ersteh Person vor einem Publikum enthullen oder verbergen. Mit jedem Sprechakt bezieht sich der Sprecher gleichzeitig auf etwas in der objektiven, in einer gemeinsamen sozialen und in seiner subjektiven Welt. Das logozentrische Erbe macht sich allerdings noch in der terminologischen Schwierigkeit bemerkbar, den ontologischen Weltbegriff derart zu erweitern. Einer entsprechenden Erweiterung bedarf das phanomenologische, insbesondere von Heidegger aus.gearbeitete Konzept der lebensweltlichen Verweisungszusammenhange, die im Rucken der Interaktionsteilnehmer den fraglosen Kontext des Verstandigungsvorgangs bilden. Die Beteiligten schopfen aus dieser Lebenswelt nicht mehr nur konsentierte Deutungsmuster (das Hintergrundwissen, aus demJsich die propositionalen Gehalte speisen), sondern auch normativ verla61iche Beziehungsmuster (die stillschweigend vorausgesetzten Solidaritaten, auf die sich die illokutionaren Akte stutzen) und die im SozialisationsprozeB erworbenen Kompetenzen (der Hintergrund der Sprecherintentionen).
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c) »Rationalitat« nennen wir zunachst die Disposition sprach- und handlungsfahiger Subjekte, fehlbares Wissen zu erwerben und zu verwenden. Solange die bewu6tseinsphilosophischen Grundbegriffe dazu notigen, Wissen ausschlie6lich als Wissen von etwas in der objektiven Welt zu verstehen, bemi6t sich Rationalitat daran, wie sich das einsame Subjekt an seinen Vorstellungs- und Aussageinhalten orientiert. Die subjektzentrierte Vernunft findet ihre Ma6stabe an Kriterien von Wahrheit und Erfolg, die die Beziehungen des erkennenden und zweckmaGig handelnden Subjekts zur Welt moglicher Objekte oder Sachverhalte regulieren. Sobald wir hingegen Wissen als kommunikativ vermittelt begreifen, bemi6t sich Rationalitat an der Fahigkeit zurechnungsfahiger Interaktionsteilnehmer, sich an Geltungsanspriichen, die auf intersubjektive Anerkennung angelegt sind, zu orientieren. Die kommunikative Vernunft findet ihre Ma6stiibe an den argumentativen Verfahren der direkten oder indirekten Einlosung von Anspriichen auf propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und asthetische Stimmigkeit. 18 Was sich an der Interdependenz der verschiedenen Formen der Argumentation, also mit Mitteln einer pragmatischen Logik der Argumentation nachweis en la6t, ist also ein prozeduraler Begriff der Rationalitat, der wegen der Einbeziehung des Moralisch-Praktischen wie des Asthetisch-Expressiven reicher ist als die aufs Kognitiv-Instrumentelle zugeschnittene Zweckrationalitat. Dieser Begriff ist das Explikat des in der Geltungsbasis der Rede verankerten Vernunftpotentials. An altere Logosvorstellungen erinnert diese kommunikative Rationalitat insofern, als sie die Konnotationen der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft eines Diskurses mit sich fiihrt, in dem die Teilnehmer ihre zunachst subjektiv befangenen Auffassungen zugunsten eines rational motivierten Einverstandnisses iiberwinden. Kommunikative Vernunft au6ert sich in einem dezentrierten Weltverstandnis. 18 A. Wellmer hat gezeigt, daB sich die Stimmigkeit eines Kunstwerkes, das sog. Kunstwahre, keineswegs umstandslos auf Authentizidit oder Wahrhaftigkeit zuriickfiihren Huh, vgl. ders., Wahrheit, Schein, Versohnung. Adornos asthetische Rettung der Modernitat, in: L. v. Friedeburg, J. Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Ffm. 1983, 138ff.
d) Aus dieser Sicht sind die kognitiv-instrumentellen Verfiigbarmachung einer objektivierten Natur (und Gesellschaft) ebenso wie die narzi6tisch aufgespreizte Autonomie (im Sinne zweckrationaler Selbstbehauptung) abgeleitete Momente, die sich gegeniiber den kommunikativen Strukturen der Lebenswelt, d. h. der Intersubjektivitiit von Verstandigungsverhaltnissen und Verhaltnissen reziproker Anerkennung verselbstandigt haben. Die subjektzentrierte Vernunft ist Produkt einer Abspaltung und Usurpation, und zwar eines gesellschaftlichen Prozesses, in dessen Verlauf ein untergeordnetes Moment den Platz des Ganzen einnimmt, ohne die Kraft zu besitzen, sich die Struktur des Ganzen zu assimilieren. Horkheimer und Adorno haben den Proze6 der sich selbst iiberfordernden und verdinglichenden Subjektivitat ahnlich wie Foucault als einen weltgeschichtlichen Vorgang beschrieben. Beide Seiten verkennen aber die tiefere Ironie dieses Vorgangs, die darin besteht, daB das kommunikative Vernunftpotential in den Gestalten moderner Lebenswelten erst einmal entbunden werden mu6te, damit die entfesselten Imperative wirtschaftlicher und administrativer Teilsysterne auf die verletzbare Alltagspraxis zuriickwirken, und dabei dem Kognitiv-Instrumentellen zur Herrschaft iiber die unterdriickten Momente praktischer Vernunft verhelfen konnten. Das kommunikative Vernunftpotential wird im Verlaufe der kapitalistischen Modernisierung gleichzeitig entfaltet und entstellt. Die paradoxe Gleichzeitigkeit und Interdependenz beider Vorgange laGt sich erst dann erfassen, wenn die falsche Alternative iiberwunden ist, die Max Weber mit dem Gegensatz von substantieller und formaler Rationalitat aufstellt. Ihr liegt die Annahme zugrunde, da6 die Entzauberung religios-metaphysischer Weltbilder der Rationalitat, zusammen mit den Traditionsgehalten, alle inhaltlichen Konnotationen raubt und damit auch jede Kraft nimmt, urn iiber die zweckrationale Organisation von Mitteln hinaus noch einen strukturbildenden Einflu6 auf die Lebenswelt ausiiben zu konnen. Demgegeniiber mochte ich darauf beharren, da6 die kommunikative Vernunft - trotz' ihres rein prozeduralen, von allen religiosen und metaphysischen Hypotheken entlasteten Charakters - in den gesellschaftlichen Lebensproze6 dadurch unmittelbar verflochten ist, da6 Akte der Verstandigung die Rolle eines Mechanis-
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mus der Handlungskoordinierung ubernehmen. Das Gewebe aus kommunikativen Handlungen speist sich aus lebensweltlichen Ressourcen und bildet zugleich das Medium, durch das sich die konkreten Lebensformen reproduzieren. Daher kann die Theorie des kommunikativen Handelns Hegels Konzept des sittlichen Lebenszusammenhangs (unabhangig von Pramissen der BewuBtseinsphilosophie) rekonstruieren. Sie entzaubert die abgriindige Kausalitat eines Schicksals, welches sich yom Seinsgeschick durch seine unerbittliche Immanenz unterschei-det. Die pseudonaturliche Dynamik verletzter kommunikativer Lebenszusammenhange behalt, anders als das »Unvordenkliche« des Seins- oder Machtgeschehens, etwas yom Charakter eines selbstverschuldeten Geschicks - wenn auch von »Schuld« nur in einem intersubjektiven Sinne die Rede sein kann, namlich im Sinne des unfreiwilligen Produkts einer Verstrickung, die die kommunikativ Handelnden, ungeachtet ihrer individuel1en Zurechnungsfahigkeit, einer gemeinschaftlichen Verantwortung zuschreiben mussen. Nicht von ungefahr losen Selbstmorde unter Nahestehenden eine Art der Erschutterung aus, die fur Augenblicke auch den Hartgesottensten etwas von der unausweichlichen Gemeinsamkeit eines solchen Schicksals ahnen laBt.
IV In der Theorie des kommunikativen Handelns nimmt jener, Lebenswelt und kommunikative Al1tagspraxis ineinander verschrankende KreisprozeB den Ort der Vermittlung ein, den Marx und der westliche Marxismus der gesellschaftlichen Praxis vorbehalten hatte. In dieser gesellschaftlichen Praxis sol1te sich die geschichtlich situierte, leiblich inkarnierte, mit der Natur konfrontierte Vernunft mit ihrem Anderen vermitteln. Wenn jetzt das kommunikative' Handeln dieselben Vermittlungsfunktionen ubernehmen solI, zieht die Theorie des kommunikativen Handelns die Vermutung auf sich, doch nur eine andere Spielart von Praxisphilosophie darzustellen. Beide sollen in der Tat dieselbe Aufgabe losen: die vernunftige Pra-
xis als eine in Geschichte, Gesellschaft, Leib und Sprache konkretisierte Vernunft zu begreifen. Wir haben verfolgt, wie die Praxisphilosophie SelbstbewuBtsein durch Arbeit substituiert und sich dann in den Fesseln des Produktionsparadigmas verfangen hat. Die im Umkreis von Phanomenologie und Anthropologie erneuerte Praxisphilosophie, der die Mittel der Husserlschen Lebensweltanalyse zur Verfugung stehen, hat aus der Kritik am Marxschen Produktivismus gelernt. Sie relativiert den Stellenwert der Arbeit und beteiligt sich an den aporetischen Versuchen, die VerauBerlichung des subjektiven Geistes, die Verzeitlichung, Vergesel1schaftung und Verkorperung einer situierten Vernunft in anderen Subjekt-Objekt-Beziehungen unterzubringen. Indem sie sich der phanomenologisch-anthropologischen Denkmittel bedient, verzichtet die Praxisphilosophie gerade dort auf Originalitat, wo sie es sich nicht leisten kann: bei der Bestimmung der Praxis als eines vernunftig strukturierten Vermittlungsgeschehens. Sie unterwirft sich namlich wiederum den dichotomisierenden Grundbegriffen der Subjektphilosophie: die Geschichte wird von Subjekten entworfen und gemacht, die sich ihrerseits im historischen ProzeB als geworfene und gemachte vorfinden (Sartre); die Gesellschaft erscheint als ein objektives Netz von Beziehungen, das entweder als normative Ordnung den transzendental vorverstandigten Subjekten uber den Kopf gestulpt (A. Schutz) oder als instrumentelle Ordnungen von ihnen selbst im Kampfwechselseitiger Objektivierungen hervorgebracht wird (Kojeve); das Subjekt findet sich entweder zentrisch in seinem Leib vor (Merleau-Ponty) oder verhalt sich zu ihm als Korper exzentrisch wie zu einem Gegenstand (Plessner). Das subjektphilosophisch gebundene Denken kann diese Dichotomien nicht uberbriicken, sondern schwankt, wie Foucault scharfsichtig diagnostiziert hat, hilflos von einem Pol zum anderen. Nicht einmal die linguistische Wende der Praxisphilosophie fuhrt zu einem Paradigmenwechsel. Die sprechenden Subjekte sind entweder Herren oder Hirten ihres Sprachsystems. Entweder bedienen sie sich sinnschopferisch der Sprache, urn sich ihre Welt innovativ zu erschlieBen, oder sie bewegen sich immer schon innerhalb eines hinterriicks sich wandelnden Horizonts der fur sie von der
Sprache selbst besorgten WelterschlieBung - die Sprache als Medium einer schopferischen Praxis (Castoriadis) oder als differentielles Ereignis (Heidegger, Derrida). Mit seiner Theorie der imaginaren Institution kann Castoriadis, dank des sprachphilosophischen Ansatzes, die Praxisphilosophie auf kiihne Weise weiterfiihren. Urn dem Konzept der gesellschaftlichen Praxis wiederum revolutionare Sprengkraft und einen normativen Gehalt zuriickzugeben, konzipiert er das Handeln nicht mehr expressivistisch, sondern poetisch-demiurgisch - als die ursprungslose Schopfung absolut neuer und einzigartiger Gestalten, wobei jede von ihnen einen unvergleichlichen Sinnhorizont eroffnet. Der Garant des verniinftigen Gehalts der Moderne-von SelbstbewuBtsein, authentischer Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung in Solidaritat - wird als eine sprachschopferisch imaginare Kraft vorgestellt. Diese gerat freilich in bedenkliche Nahe des grundlos operierenden Seins. Am Ende besteht zwischen voluntaristischer »Einsetzung« und fatalistischer »Schickung« nur noch ein rhetorischer Unterschied. Castoriadis zufolge spaltet sich die Gesellschaft, wie die transzendentale Subjektivitat, in das Erzeugende und das Erzeugte, das Instituierende und das Instituierte, wobei sich der Strom des sinnstiftenden Imaginaren in die wechselnden sprachlichen Weltbilder ergieBt. Diese ontologische Schopfung absolut neuer, immer wieder anderer und einzigartiger Sinntotalitaten ereignet sich wie ein Geschick des Seins; es ist nicht zu sehen, wie sich dieses demiurgische Inswerksetzen der geschichtlichen Wahrheiten in den revolutionaren EntwurJ der Praxis bewuBt handelnder, autonomer, sich selbst verwirklichender Individuen umsetzen konnte; Autonomie und Heteronomie sollen sich letztlich an der Authentizitat der Selbstdurchsichtigkeit einer Gesellschaft bemessen, die ihren imaginaren Ursprung nicht unter auBergesellschaftlichen Projektionen verdeckt und sich explizit als selbst-instituierende Gesellschaft weiB. Allein - wer ist das Subjekt dieses Wissens? Fiir die Revolutionierung der verdinglichten Gesellschaft kennt Castoriadis keinen anderen Grund als den existentialistischen EntschluB - »weil wir es wollen«; wobei er sich wiederum fragen lassen muB, wer dieses »Wir« des radikalen Willens sein kann, wenn doch die vergesell370
schafteten Individuen yom gesellschaftlich Imaginaren lediglich »eingesetzt« sind. Castoriadis endet, wie Simmel anfing: lebensphilosophisch. 19 Diese Konsequenz ergibt sich aus dem Sprachkonzept, das Castoriadis der Hermeneutik ebenso wie dem Strukturalismus entlehnt. Wie je auf ihre Weise Heidegger, Derrida und Foucault geht auch Castoriadis davon aus, daB zwischen der Sprache und den besprochenen Dingen, zwischen dem konstituierenden Weltverstandnis und dem konstituierten Innerweltlichen eine ontologische Differenz besteht. Diese Differenz besagt, daB die Sprache den Sinnhorizont erschlieBt, innerhalb dessen die erkennenden und handelnden Subjekte Sachverhalte interpretieren, also Dingen und Menschen begegnen und im Umgang mit ihnen Erfahrungen machen. Die welterschlieBende Funktion der Sprache wird in Analogie zu den Erzeugungsleistungen des transzendentalen BewuBtseins gedacht, allerdings unter Abzug seines bloB formalen und iiberzeitlichen Charakters. Das sprachliche Weltbild ist ein konkretes und ein geschichtliches Apriori;.es legt inhaltliche und variable Deutungsperspektiven unhintergehbar fest. Das konstitutive Weltverstandnis wandelt sich insbesondere unabhangig von dem, was die Subjekte iiber die im Lichte dieses Vorverstandnisses interpretierten Zustande in der Welt erfahren, was sie aus ihrem praktischen Umgang mit Innerweltlichem lernen konnen. Gleichviel ob diese metahistorische Wandlung der sprachlichen Weltbilder als Sein, Differanz, Macht oder Imagination gedacht und mit Konnotationen der mystischen Heilserfahrung, des asthetischen Schreckens, der kreatiirlichen Pein oder des kreativen Rauschs besetzt wird, gemeinsam ist allen diesen Konzepten die eigentiimliche Entkoppelung der horizontbildenden Produktivitat der Sprache von den Konsequenzen einer innerweltlichen Praxis, die yom Sprachsystem ganzlich prajudiziert ist. Ausgeschlossen wird jede Interaktion zwischen der welterschlieBenden Sprache und den Lernprozessen in derWelt. In dieser Hinsicht hatte sich die Praxisphilosophie von allen Spielarten des linguistischen Historismus scharf unterschieden. Sie 19 Vgl. den Exkurs zu Castoriadis, unten S. 38off.
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begreift ja die gesellschaftliche Produktion als SelbsterzeugungsprozeB der Gattung und die durch Arbeit geleistete Transformation der auBeren Natur als AnstoB zur lernenden Selbsttransformation der eigenen N atur. Die Welt der 1deen, in deren Licht die vergesellschafteten Produzenten jeweils die geschichtlich formierte, vorgefundene Natur deuten, verandert sich ihrerseits in Abhangigkeit von den mit der transformierenden Tatigkeit verknupften Lernprozessen. Diese weltbildenden Effekte verdankt die innerweltliche Praxis keineswegs einer mechanischen Abhangigkeit des Oberbaus von der Basis, sondern zwei einfachen Tatsachen: die Welt der 1deen macht bestimmte 1nterpretationen einer sodann kooperativ bearbeiteten Natur erst moglich; aber sie wird ihrerseits affiziert durch die Lernprozesse, die die gesellschaftliche Arbeit in Gang setzt. Entgegen dem linguistischen Historismus, der die welterschlieBende Kraft der Sprache hypostasiert, rechnet der Historische Materialismus, wie auch spater Pragmatismus und genetischer Strukturalismus, mit einem dialektischen Zusammenhang zwischen Weltbildstrukturen, die die innerweltliche Praxis durch ein vorgangiges Sinnverstandnis ermoglichen, einerseits und andererseits Lernprozessen, die sich im Wandel von Weltbildstrukturen niederschlagen. Diese Wechselwirkung geht zuriick auf einen internen Zusammenhang von Sinn und Geltung, der freilich die Differenz zwischen beiden nicht aufhebt. Der Sinn darf die Geltung nicht verzehren. Heidegger hat kurzschlussig die ErschlieBung von Sinnhorizonten mit der Wahrheit sinnvoller AuBerungen identifiziert; aber es sind nur die Bedingungen fur die Geltung von AuBerungen, die sich mit dem Bedeutungshorizont verandern - bewiihren muB sich das veranderte Sinnverstandnis in der Erfahrung und im U mgang mit dem, was innerhalb seines Horizonts begegnen kann. Allerdings kann die Praxisphilosophie die Obedegenheit, die sie in dieser Hinsicht besitzt, nicht ausnutzen, da sie mit dem Produktionsparadigma, wie wir gesehen haben, aus dem Geltungsspektrum der Vernunft alle Dimensionen auBer denen der Wahrheitsgeltung und der Effektivitat ausblendet. Demnach kann sich, was in der innerweltlichen Praxis gelernt wird, nur in der Entfaltung der Produktivkrafte kumulieren. Mit dieser produktivistischen Begriffsstrategie laBt sich der 372
normative Gehalt der Moderne nicht mehr einholen, sondern allenfalls unausgewiesen in Anspruch nehmen, urn die zur Totalitat geronnene Zweckrationalitat im Exerzitium einer anklagenden Negativen Dialektik einzukreisen. Diese miBliche Konsequenz mag Castoriadis auch dazu bewogen haben, den vernunftigen Gehalt des Sozialismus, d. h. einer Lebensform, die Autonomie und Selbstverwirklichung in Solidaritat ermoglichen solI, einem sinnschopferischen Demiurgen anzuvertrauen, der sich uber die Differenz von Sinn und Geltung hinwegsetzt und auf die profane Bewahrung seiner Kreationen nicht langer angewiesen ist. Eine ganz andere Perspektive ergibt sich, wenn wir den Praxisbegriff von der Arbeit aufs kommunikative Handeln umstellen. Dann erkennen wir 1nterdependenzen zwischen welterschlieBenden Sprachsystemen und innerweltlichen Lernprozessen auf der ganzen Breite des Geltungsspektrums - die Lernprozesse werden nicht mehr nur durch Prozesse der gesellschaftlichen Arbeit, letztlich durch den kognitiv-instrumentellen Umgang mit einer objektivierten Natur kanalisiert. Sobald wir das Produktionsparadigma fallen lassen, durfen wir namlich einen internen Zusammenhang von Sinn und Geltung fur die ganze Fulle des Bedeutungsreservoirs behaupten - nicht mehr nur fur das Bedeutungssegment sprachlicher Ausdriicke, die in assertorische und intentionale Satze eingehen. 1m kommunikativen Handeln, das Ja/Nein-Stellungnahmen zu Richtigkeits- und Wahrhaftigkeitsanspruchen nicht weniger herausfordert als Reaktionen zu Anspriichen auf Wahrheit und Effizienz, wird das lebensweltliche Hintergrundwissen auf ganzer Breite einem Dauertest ausgesetzt; insofern ist das konkrete Apriori welterschlieBender Sprachsysteme (bis in weitverzweigte ontologische Voraussetzungen hinein) einer indirekten Revision im Lichte des Umgangs mit 1nnerweltlichem unterworfen. Diese Konzeption bedeutet nicht, daB der interne Zusammenhang von Sinn und Geltung nun zur anderen Seite hin aufgelost werden solI. Die sinnschopferische Potenz, die sich heute weitgehend in die as thetis chen Bezirke zuriickgezogen hat, behalt die Kontingenz wahrhaft innovativer Krafte.
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v Ernster ist das Bederiken, ob nicht mit dem Begriff des kommunikativen Handelns und der transzendierenden Kraft universalistischer Geltungsanspriiche ein Idealismus wieder hergestellt wird, der mit den naturalistischen Einsichten des Historischen Materialismus unvertraglich ist. Wird nicht eine Lebenswelt, die sich allein iiber das Medium verstandigungsorientierten Handelns reproduzieren soli, von ihren materiellen Lebensprozessen abgeschnitten? Natiirlich reproduziert sich eine Lebenswelt materiell iiber die Ergebnisse und Konsequenzen der zielgerichteten Handlungen, mit denen ihre Angehorigen in die Welt intervenieren. Diese instrumentellen Handlungen sind aber mit kommunikativen insoweit verschrankt, wie sie die Ausfiihrung von Planen darstellen, die mit den Planen anderer Interaktionsteilnehmer iiber gemeinsame Situationsdefinitionen und Verstandigungsprozesse verkniipft sind. Auf dies em Wege werden auch die in der Sphare der gesellschaftlichen Arbeit gewonnenen Problemlosungen ans Medium verstandigungsorientierten Handelns angeschlossen. Auch die Theorie des kommunikativen Handelns rechnet also damit, daB die symbolische Reproduktion der Lebenswelt intern mit deren materieller Reproduktion riickgekoppelt ist. Nicht ganz so einfach ist dem Verdacht zu begegnen, daB sich mit dem Konzept eines an Geltungsanspriichen orientierten Handelns der Idealismus der reinen, nicht-situierten Vernunft wiederum einschleicht und die Dichotomien zwischen den Bereichen des Transzendentalen und des Empirischen in anderer Gestalt wiederbelebt. Schon Hamann hat gegen Kant den Vorwurf des »Purismus der Vernunft« erhoben. Es gibt keine reine Vernunft, die erst nachtraglich sprachliche Kleider anlegte. Sie ist eine von Haus aus in Zusammenhangen kommunikativen Handelns wie in Strukturen der Lebenswelt inkarnierte Vernunft. 20 In dem MaBe wie sich die Plane und Handlungen verschiedener Aktoren iiber den verstandigungsorientierten Gebrauch der Spra-
che in der historischen Zeit und iiber den sozialen Raum vernetzen, gewinnen die wie immer auch implizit bleibenden Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsanspriichen eine Schliisselfunktion fiir die Alltagspraxis. Das kommunikativ erzielte Einverstandnis, das sich an der intersubjektiven Anerkennung von Geltungsanspriichen bemiBt, ermoglicht die Vernetzung von sozialen Interaktionen und lebensweltlichen Kontexten. Freilich haben die Geltungsanspriiche ein Janusgesicht: als Anspriiche transzendieren sie jeden lokalen Kontext; zugleich miissen sie hier und jetzt erhoben sowie faktisch anerkannt werden, wenn sie das koordinationswirksame Einverstandnis von Interaktionsteilnehmern tragen sollen. Das transzendierende Moment allgemeiner Geltung sprengt alle Provinzialitat; das Moment der Verbindlichkeit hier und jetzt akzeptierter Geltungsanspriiche macht sie zum Trager einer kontextgebundenen Alltagspraxis. Indem die kommunikativ Handelnden mit ihren Sprechakten wechselseitig Geltungsanspriiche erheben, stiitzen sie sich jeweils auf ein Potential angreifbarer Griinde. Damit ist ein Moment der Unbedingtheit in die faktischen Verstandigungsprozesse eingebaut - die beanspruchte Giiltigkeit unterscheidet sich von der sozialen Geltung einer faktisch eingespielten Praxis und dient dieser gleichwohl als Grundlage des tatsachlichen Konsenses. Die fiir Propositionen und Normen beanspruchte Geltung transzendiert Raume und Zeiten, »tilgt« Raum und Zeit, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in bestimmten Kontexten, erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen akzeptiert oder zuriickgewiesen. K. O. Apel spricht plastisch von der Verschrankung der realen mit der idealen Kommunikationsgemeinschaft. 21 Die kommunikative Alltagspraxis ist in sich gleichsam reflektiert. Freilich ist »Reflexion« nicht mehr eine Sache des Erkenntnissubjekts, das sich objektivierend auf sich bezieht. An die Stelle dieser vorsprachlich-einsamen Reflexion tritt die ins kommunikative Handeln eingebaute Schichtung von Diskurs und Handeln. Denn die faktisch erhobenen Geltungsanspriiche verweisen direkt oder mittelbar auf Argumentationen, in denen sie bearbeitet und gegebe-
20 Anregungen verdanke ich Charles Taylor, vgl. jetzt dessen Philosophical Papers,
21 K. O. Apel, Transformation der Philosophie, Ffm. 1973, Bd. II, 358ff. Vgl. auch meine Antwort auf M. Hesse, in: J. Thompson, D. Held (Eds.), Habermas - Critical
Vol. 1 and 2, Cambridge 1985.
Debates, London 1982, 276f.
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nenfalls eingelost werden konnen. Dieser argumentative Streit iiber hypothetische Geltungsanspriiche lafh sich als Reflexionsform koinmunikativen Handelns beschreiben - eine Selbstbeziiglichkeit, die ohne den in die Grundbegriffe der Subjektphilosophie aufgenommenen Zwang zur Objektivierung auskommt. Auf der reflexiyen Ebene reproduziert sich namlich im Gegeniiber von Proponenten und Opponenten jene Grundform der intersubjektiven Beziehung, die die Selbstbeziehung des Sprechers immer schon durch die performative Beziehung zu einem Adressaten vermittelt. Das gespannte Ineinander von Idealem und Realem zeigt sich auch und besonders deutlich im Diskurs seIber. Mit dem Eintritt in eine Argumentation konnen die Teilnehmer nicht umhin, wechselseitig die hinreichende Erfiillung von Bedingungen einer idealen Sprechsituation zu unterstellen. Und doch wissen sie, daB der Diskurs von den ausgeblendeten Motiven undHandlungszwangen niemals definitiv »gereinigt« ist. Sowenig wir ohne die Unterstellung einer gereinigten Rede auskommen, so sehr miissen wir uns doch mit der »verunreinigten« Rede abfinden. Ich habe am SchluB der V. Vorlesung darauf hingewiesen, daB die interne Verbindung zwischen Kontexten der Begrundung und Kontexten der Entdeckung, zwischen Geltung und Genesis niemals ganz abreiBt. Die Aufgabe der Begriindung, also die aus der Perspektive des Teilnehmers durchgefiihrte Kritik der Geltungsanspriiche, laBt sich in letzter Instanz nicht abtrennen von der genetischen Betrachtung, die in eine aus der Perspektive der dritten Person durchgefiihrte Ideologiekritik an der Vermischung von Macht- und Geltungsanspriichen einmiindet. Die Philosophiegeschichte wird seit Plato und Demokrit von zwei gegenlaufigen Impulsen beherrscht. Die einen arbeiten die transzendierende Macht der abstrahierenden Vernunft und die emanzipierende Unbedingtheit des Intelligiblen riicksichtslos heraus, wahrend die anderen den eingebildeten Purismus der Vernunft materialistisch zu entlarven suchen. Demgegeniiber hat das dialektische Denken die subversive Kraft des Materialismus in Dienst genommen, urn die falsche Alternative zu unterlaufen. Auf die Austreibung alles Empirischen aus dem Reich der Ideen antwortet es nicht bloB mit der hohnischen Reduk-
tion der Geltungszusammenhange auf die Machte, die hinter ihrem Riicken triumphieren. Die Theorie des kommunikativen Handelns sie~t vi:lme?r die.Dialektik ~on Wissen und Nichtwissen eingebettet III dIe Dialekuk von gehngender und miBlingender Verstandigung. Kommunikative Vernunft bringt sich in der Bindungskraft intersubjektiver Verstandigung und reziproker Anerkennung zur Geltung; sie umschreibt zugleich das Universum einer gemeinsamen Lebensform. Innerhalb dieses Universums laBt sich das Unverniinftige yom Verniinftigen nicht in derselben Weise separieren wie, dem Parmenides zufolge, das Nichtwissen von jenem Wissen, welches als das schlechthin Affirmative iiber das Nichtige herrscht. 1m Gefolge von Jakob Bohme und Isaak Luria besteht Schelling mit Recht darauf, daB Irrtum, Verbrechen und Tauschung nicht vernunftlos, sondern Erscheinungsformen verkehrter Vernunft sind. Die Verletzung des Anspruchs auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit zieht das Ganze in Mitleidenschaft, durch das sich das Band der Vernunft hindurchzieht. Es gibt keine Ausflucht und kein AuBerhalb fiir die Wenigen, die in der Wahrheit sind und sich von den Vielen, im Dunkel der Verblendung Zuruckbleibenden, abscheiden sollen wie der Tag von der N acht. Eine Verletzung der von allen beanspruchten Strukturen des verniinftigen Zusammenlebens betrifft alle gleichermaBen. Das hatte der junge Hegel mit der sittlichen Totalitat gemeint, die durch die Tat des Verbrechers zerstort wird und allein durch die Einsicht in die Unteilbarkeit des Leidens an der Entfremdung restituiert werden kann. Derselbe Gedanke motiviert Klaus Heinrich bei seiner Konfrontation von Parmenides und J ona. In der Idee des Bundes , den Jahwe mit dem Volke Israels schlieBt, liegt der Keirn zur Dialektik von Verrat und rachender Gewalt: »Den Bund mit Gott halten ist das Symbol der Treue, diesen Bund brechen das Modell des Verrats. Gott die Treue halten heiBt, dem lebendig-machenden Sein selbst die Treue halten, in sich und anderen - und in allen Bereichen des Seins. Es verleugnen in irgendeinem Bereich des Seins heiBt, den Bund mit Gott brechen und das eigene Fundament verraten .,. Darum ist Verrat an anderen zugleich Selbstverrat, und jeder Protest gegen Verrat nicht nur Protest im 377
eigenen Namen, sondern zugleich in dem der anderen ... Der Gedanke, daB potentiell jedes Seiende >Bundesgenosse< ist im Kampf gegen den Verrat, auch das mich und sich Verratende, ist das einzige Gegengewicht gegen die stoische Resignation, die schon Parmenides formuliert, indem er den Schnitt legt zwischen die Wissenden und die unwissende Menge. Der uns vertraute Begriff der >Aufklarung< ist nicht denkbar ohne den Begriff einer potentiell universellen Bundesgenossenschaft gegen den Verrat«.22 Erst Peirce und Mead haben dieses religiose Motiv der Bundesgenossenschaft in den Gestalten einer Konsenstheorie der Wahrheit und einer Kommunikationstheorie der Gesellschaft zu philosophischem Rang erhoben. Die Theorie des kommunikativen Handelns kniipft an diese pragmatistische Tradition an; auch sie lafh sich wie Hegel in seinem friihen Fragment iiber das Verbrechen und die Strafe von einer Intuition lei ten, die sich mit Begriffen des alten Testaments so ausdriicken laB t: in der U nrast der realen Lebensverhaltnisse briitet eine Ambivalenz, die sich der Dialektik von Verratund rachender Gewalt verdankt. 23 Faktisch konnen wir keineswegs immer (oder auch nur oft) jene unwahrscheinlichen pragmatischen Voraussetzungen erfiillen, von denen wir in der kommunikativen Alltagspraxis gleichwohl ausgehen - und zwar im Sinne einer transzendentalen Notigung - ausgehen miissen. Deshalb stehen soziokulturelle Lebensformen unter den strukturellen Beschrankungen einer zugleich dementierten und in Anspruch genommenen kommunikativen Vernunft. Die im kommunikativen Handeln operierende Vernunft steht aber nicht nur unter gleichsam au6eren, situativen Beschrankungen; ihre eigenen Ermoglichungsbedingungen notigen sie zur Verzweigung in den Dimensionen der geschichtlichen Zeit, des sozialen Raumes und der leibzentrierten Erfahrungen. Das Vernunftpotential der Rede ist namlich mit den Ressourcen einer jeweils besonderen Lebenswelt verwoben. Soweit die Lebenswelt Ressourcenfunktionen iibernimmt, hat sie den Charakter eines intuitiven, unerschiit22 K. Heinrich, Versuch iiber die Schwierigkeit nein zu sagen, Ffm. 1964,20; vgl. auch ders., Parmenides undJona, Ffm. 19 66 . 23 H. Brunkhorst, Kommunikative Vemunft und rachende Gewalt, Sozialwiss. Literatur-Rundschau, H. 8/9, 1983, 7 ff .
terlich gewissen und holistischen Wissens, das nicht nach Belieben problematisiert werden kann - und in dieser Hinsicht kein »Wissen« im strikten Sinne darstellt. Dieses Amalgam aus Hintergrundannahmen, Solidaritaten und einsozialisierten Fertigkeiten bildet das konservative Gegengewicht gegen das Dissensrisiko der iiber die Geltungsanspriiche laufenden Verstandigungsprozesse. Als Ressource, aus der die Interaktionsteilnehmer ihre konsensfahigen Au6erungen alimentieren, bildet die Lebenswelt ein Aquivalent fiir das, was die Subjektphilosophie als Leistungen der Synthesis dem Bewu6tsein iiberhaupt zugeschrieben hatte. Die Erzeugungsleistungen beziehen sich hier freilich nicht auf die Form, sondern den Inhalt moglicher Verstandigung. Insoweit treten an die Stelle des einheitsstiftenden transzendentalen Bewu6tseins konkrete Lebensformen. Uber die kulturell eingelebten Selbstverstandlichkeiten, die intuitiv gegenwartigen Gruppensolidaritaten und die als know how in Anschlag gebrachten Kompetenzen der vergesellschafteten Individuen vermittelt sich die Vernunft, die sich im kommunikativen Handeln au6ert, mit den jeweils zu einer besonderen T otalitat zusammengewachsenen T raditionen, gesellschaftlichen Praktiken und leibgebundenen Erfahrungskomplexen. Die nur im Plural auftretenden partikularen Lebensformen sind gewi6 nicht nur durch das Gewebe von Familienahnlichkeit miteinander verbunden; sie weisen die gemeinsamen Strukturen von Lebenswelten iiberhaupt auf. Aber diese allgemeinen Strukturen pragen sich den partikularen Lebensformen allein iiber das Medium verstandigungsorientierten Handelns auf, durch das sie sich reproduzieren miissen. Das erklart, warum sich das Gewicht dieser allgemeinen Strukturen im Verlaufe von geschichtlichen Prozessen der Ausdifferenzierung verstarken kann. Das ist auch der Schliissel zur Rationalisierung der Lebenswelt und zur sukzessiven Freisetzung des im kommunikativen Handeln angelegten Vernunftpotentials. Diese geschichtliche Tendenz vermag den normativen Gehalt einer zugleich von Selbstdestruktion bedrohten Moderne ohne die Hilfskonstruktionen der Geschichtsphilosophie zu erklaren.
Exkurs zu C. Castoriadis: »Die imaginare Institution« DaB der Poststrukturalismus mit seiner pauschalen Verwerfung moderner Lebensformen Gehor findet, hangt wohl auch damit zusammen, da6 die praxisphilosophischen Anstrengungen, das Projekt der Moderne auf der Linie des marxistischen Denkens neu zu formulieren, an Glaubwiirdigkeit eingebiiBt haben. Den ersten Versuch einer Erneuerung der Praxisphilosophie aus dem Geiste von Husserl und Heideggerhat der junge Herbert Marcuse unternommen; darin ist ihm Sartre mit cler »Kritik der dialektischen Ver..; nunft« gefolgt; Castoriadis hat mit einer eigentiimlichen ling~i stischen Wende dieser Tradition einen neuen Impuls gegeben. Sem Werk nimmt im Kreis jener praxisphilosophischen Ansatze, die seit der Mitte der 60er Jahre vor allem in Osteuropa, in Prag, Budapest, Zagreb und Belgrad entwickelt worden sind und fiir ein J ahrzehnt die Diskussionen der Sommerschule von Korcula belebt haben, eine zentrale Stellung ein. Castoriadis hat den originellsten, ehrgeizigsten und reflektiertesten Versuch unternommen, die bef~eiende Vermittlung von Geschichte, Gesellschaft, auBerer und mnerer N atur noch einmal als Praxis zu denken. Auch Castoriadis geht vom »Widerspruch« zwischen toter und lebendiger Arbeit aus. Der Kapitalismus muB gleichzeitig »die im eigentlichen Sinne menschliche Tatigkeit der ihm unterworfene.n Subjekte in Anspruch nehmen ... und diese Tatigkeit entm~nschl~ chen«.24 Die Kooperation sich selbst verwaltender Industnearbelter dient dabei als Modell fiir eine nicht entmenschlichte Praxis. Diese Tatigkeit im emphatischen Sinne entwickelt Castoriadis aber nicht am Leitfaden der Bearbeitung und technischen Herstellung von Gegenstanden. Wie das bloBe Reflexhandeln bildet auch das instrumentelle Handeln einen kontrastierenden Grenzfall, dem wesentliche Bestimmungen der Praxis als Selbsttatigkeit fehlen: in beiden Typen ist Handeln auf vorhersehbare Verhaltensablaufe reduziert. Die Bestimmungen der unverkurzten Praxis liest Casto24 C. Castoriadis, Gesellschaft als imaginare Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Ffm. 1984,31. Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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riadis (wie Aristoteles) an den Beispielen der politischen, der kiinstlerischen, der medizinischen und der erzieherischen Praxis abo Diese tragt ihren Zweck in sich selbst und laBt sich nicht auf zweckrationale Mittelorganisation zuriickfiihren. Die Praxis folgt einem Entwurf, der aber nicht wie eine Theorie der Anwendung vorausgeht, sondern als Vorgriff im praktischen Vollzug selbst korrigiert und erweitert werden kann. Die Praxis bezieht sich jeweils auf eine T otalitat von Lebensvollziigen, in die sie gleichzeitig eingebettet ist - als T otalitat entzieht sie sich dem vergegenstandlichenden Zugriff. Und schlieBlich zielt Praxis auf eine Beforderung der Autonomie ab, der sie selbst zugleich entspringt: »Was angestrebt wird (die Entwicklung der Autonomie), steht in einer inneren Beziehung zu dem, womit es angestrebt wird (der Ausiibung dieser Autonomie) ... Zwar muB sie das konkrete Netz von Kausalbeziehungen in Rechnung stellen, die ihr Gebiet durchqueren. Trotzdem kann die Praxis bei der Wahl ihrer Wirkungsweise niemals bloB einem Kalkiil folgen - nicht weil dieses zu kompliziert ware, sondern weil ein soiches per definitionem den entscheidenden Faktor auBer Acht laBt - die Autonomie.« (129) Castoriadis sprengt freilich den Aristotelischen Begriff, wenn er die Bestimmung, daB Praxis stets auf Andere als auf autonome Wesen gerichtet ist, dahingehend radikalisiert: daB niemand ernstlich Autonomie wollen konne, ohne sie fur alle zu wollen (183). Dem modernen ZeitbewuBtsein verdankt sich auch die weitere Bestimmung, daB die Praxis an Zukunft orientiert ist und Neues hervorbringt. Indem der Handelnde die Initiative ergreift, transzendiert er alle gegebenen Bestimmungen und macht einen neuen Anfang. Die Praxis ist ihrem Wesen nach schopferisch, sie erzeugt das »radikal Andere«. Schopferisch par excellence ist vor allem die emanzipatorische Praxis, die Castoriadis von theoretizistischen MiBverstandnissen befreien mochte. Diese Praxis zielt auf die Transformation »der gegenwartigen Gesellschaft in eine andere, die ihrer Organisation nach auf die Autonomie alier ausgerichtet ist. Und die Durchfiihrung dieser Veranderung muB im autonomen Handeln der Menschen selbst liegen ... « (134) Auch die gesellschaftstheoretische Aufkiarung ist von diesem Interesse geleitet. Der revolutionare Entwurf lenkt zwar die Analyse der geschichtlichen Vorgange. Wir 381
konnen aber die Geschichte immer nur in und aus der Geschichte heraus erkennen: »der letzte Verkniipfungspunkt dieser beiden Entwiirfe - des Verstehens und des Veranderns - laBt sich immer nur in der lebendigen Gegenwart der Geschichte auffinden, die nicht geschichtliche Gegenwart ware, wiirde sie sich nicht auf eine Zukunft hin iiberschreiten, die wir noch zu machen haben.« (281) Castoriadis erneuert also den Aristotelischen Praxisbegriff mit Hilfe einer radikal-hermeneutischen Selbstauslegung des modernen ZeitbewuBtseins, um gegen die marxistische Dogmatik den urspriinglichen Sinn einer emanzipatorischen Politik herauszuarbeiten. Allerdings wiirde diese aktionistische Deutung der Praxis kaum iiber die, damals gegen die Orthodoxie der Zweiten Internationale gerichtete Position von Karl Korsch hinausfiihren, wenn Castoriadis aus diesem Ansatz nicht eine politische Philosophie und Gesellschaftstheorie entwickeln wiirde. Dabei geht es ihm um Begriffe des Politischen und des Gesellschaftlichen, die den spezifischen Sinn der revolutionaren Praxis gewissermaBen verallgemeinern. Castoriadis lenkt den Blick, iibrigens ganz ahnlich wie Hannah Arend~5, auf jene seltenen historischen Augenblicke, wenn die Masse, aus der Institutionen geformt werden, noch fliissig ist, d. h. auf die produktiven Momente der Grundung neuer Institutionen: »Ein grelles, erregendes Bild ... yom gesellschaftlich-geschichtlichen Jetzt liefern uns jene Augenblicke, in denen die instituierende Gesellschaft in die instituierte einbricht, in denen sich die Gesellschaft als instituierte mit Hilfe der Gesellschaft als instituierender selbst zerstort, d. h. sich selbst als eine andere instituierte Gesellschaft schopft ... Auch eine Gesellschaft, die nur auf ihre Konservierung bedacht scheint, besteht nur, indem sie sich unaufhorlich verandert.« (342 f.) Castoriadis entwickelt den Normalfall des Politischen aus dem Grenzfall des Aktes der Griindung einer Institution, und dies en wiederum deutet er aus einem asthetischen Erfahrungshorizont als den aus dem Kontinuum der Zeit ausbrechenden ekstatischen 25 J. Habermas, H. Arendts Begriff der Macht, in: ders., Philosophisch-Politische Profile, Ffm. 1981.
Augenblick der Stiftung eines schlechthin Neuen. Nur so glaubt er, den wesentlich produktiven Kern in der Reproduktion der Gesellschaft freilegen zu konnen. Der gesellschaftliche ProzeB ist die Erzeugung radikal anderer Gestalten, ein demiurgisches Sich-inserkset~en, die kontinuierliche Schopfung neuer Typen, die auf lmmer wIeder andere Weise exemplarisch verkorpert werden, kurz: Selbstsetzung und ontologische Genese immer neuer »Welten«. In dieser Konzeption geht der spate Heidegger mit dem friihen Fichte eine marxistische Verbind ung ein. An die Stelle des sich selbst setzenden Subjekts tritt die sich selbst instituierende Gesellschaft, wobei das, was instituiertwird, ein kreatives Weltverstandnis, eininnovativer Sinn, ein neues Universum von Bedeutungen darstellt. Diesen welterschlieBenden Sinn nennt Castoriadis das zentrale Imaginarees ergieBt sich als Magma von Bedeutungen aus dem Vulkan der geschichtlichen Zeit in die gesellschaftlichen Institutionen: »Ohne e~n p~oduktives, schopferisches oder ... radikales Imaginares, wie es slch 10 der untrennbaren Einheit von geschichtlichem Tun und gleichzeitiger Herausbildung eines Bedeutungsuniversums offenbart, ist Geschichte weder moglich noch begreifbar.« (25 1 ) Das Imaginare bestimmt den Lebensstil, den »Volksgeist« einer Gesellschaft einer Epoche. Castoriadis spricht von einer »urspriinglichen Be~ setzung der Welt und des Selbst mit einem Sinn, der der Gesellschaft ~icht v?n ~ealen ~aktoren diktiert worden ist, weil es umge~ehrt dleser Smn 1st, der Jenen realen Faktoren ihre Wichtigkeit und lhren bevorzugten Platz im Universum dieser Gesellschaft zuweist.« (220)
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Freilich hangt alles Weitere davon ab, wie Castoriadis Gesellschaft als die Instituierung einer Welt, mit der innerweltlichen Praxi~ zusantmendenkt. Castoriadis Interesse gilt einer selbstbewuBten, autono~en. L.ebens~iihrung, die authentische Selbstverwirklichung und FreiheIt 10 Sohdaritat ermoglichen solI. Er muB das Problem losen, die ~eltersc?lieBende Funktion der Sprache so zu konzipieren, daB Sle an emen normativ gehaltvollen Begriff der Praxis AnschluB fi~de~ kann. Meine These ist, daB Castoriadis die Losung verfehlt, well sem fundamentologisches Gesellschaftskonzept keinen Platz laBt fiir eine intersubjektive, vergesellschafteten Individuen zurechenbare Praxis. Am Ende geht die gesellschaftliche Praxis
im anonymen Sog einer aus dem Imaginaren geschopften Instituierung immer neuer Welten auf. Gegenuber der produktivistischen Verengung des Praxisbegriffs betont Castoriadis mit Recht die Gleichursprunglichkeit von Sagen und Tun, Sprechen und Machen, legein und teukein. In dies en beiden Dimensionen ist das menschliche Tun auf Etwas in der Welt bezogen - auf das interpretationsbedurftige, zugleich widerstandige und formbare Material, das in der Welt begegnet. Castoriadis hat allerdings fur diese »primare Schicht«, an die sich die Gesellschaft »anlehnen« muB, nur den Begriff der objektiven Welt zur Verfugung; es ist die Natur oder die Gesamtheit des Seienden, was der jeweils gesellschaftlichen instituierten Welt einen Gegenhalt bietet. Entsprechend reduziert sich das »Machen« aufs zweckmaBige Intervenieren in die Welt existierender Sachverhalte, und das »Sagen« auf die logische Semantik der tatsachenfeststellenden Rede, soweit sie fur den Funktionskreis instrumentellen Handelns konstitutiv ist. Legein und teukein sind Ausdrucksformen des identifizierenden Denkens: »Wie das legein die identitats- und mengenlogische Dimension der Sprache und des gesellschaftlichen Vorstellens verkorpert, so materialisiert sich im teukein die identitats- und mengenlogische Dimension des gesellschaftlichen Tuns.« (442) Ganz konventionell wird mithin das naturliche Substrat dessen, was in der Welt begegnen kann, in Subjekt-Objektbeziehungen untergebracht und als Vorstellbares oder Herstellbares konzipiert. Nun geht aber die gesellschaftliche Praxis, die Castoriadis vorschwebt, uber eine Verkorperung des identifzierenden Denkens und der Zweckrationalitat hinaus. Deshalb soll der Verstand, der hier als Vermogen der Identitats- und Mengenlogik auftritt, zwar nicht im Lichte der Vernunft operieren, wohl aber soll er von der uberstromenden Bedeutungsfulle des Imaginaren uberwaltigt werden. Die subjektphilosophisch begriffene Welt der Objekte ist ein Gerust, das in den Dimensionen des Vorstellens und Herstellens lediglich den Kontakt mit dem innerweltlichen Substrat der N atur sichert. Alles, was an diesen Kontaktzonen, vermittelt durchs legein und teukein, begegnet, ist aber schon innerhalb eines vorgangigen Bedeutunghorizonts erschlossen. Und dieser verdankt sich aHein dem Imaginaren.
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Gegenuber der Gewalt dieses imaginaren Bedeutungsmagmas kann die innerweltliche Praxis keine Selbstandigkeit gewinnen, weil das Sprachkonzept, das Castoriadis verwendet, eine Differenz von Sinn und Geltung nicht zulaBt. Wie bei Heidegger fundiert die »Wahrheit« semantischer WelterschlieBung auch noch die propositionale Wahrheit der Aussagen; sie prajudiziert die Gultigkeit sprachlicher AuBerungen uberhaupt. So kann die innerweltliche Praxis keine Lernprozesse auslosen. Es gibt jedenfalls keine Akkumulation von Wissen, die das vorgangige Weltverstandnis affizieren und eine gegebene. Sinntotalitat sprengen konnte - nicht einmal in den Dimensionen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der Produktivkrafte: »Zwar tritt das naturlich Gegebene der Gesellschaft immer als Widerstehendes, aber auch als Formbares entgegen; was jedoch widersteht und form bar ist - und wie -, hangt ab von der jeweils betrachteten gesellschaftlichen Welt. DaB sich Wasserstoffkerne verschmelzen lassen, ist eine Aussage, die nur fur die gegenwartige, aber keine andere Gesellschaft Sinn hat.« (581) Warum eine Gesellschaft einen bestimmten Horizont von Bedeutungen instituiert, ist eine Frage, die Castoriadis als gegenstandslos abweisen muB. Nach der Herkunft des Unvordenklichen kann man nicht fragen (589). Die Instituierung jeder Welt ist eine Schopfung ex nihilo (591). Wenn aber das Verhaltnis des welterschlieBenden Imaginaren zu Arbeit und Interaktion in dieser Weise angesetzt ist, kann autonomes Handeln gar nicht mehr als innerweltliche Praxis gedacht werden; Castoriadis muB diese vielmehr an die sprachschopferische, weltentwerfende und weltenverschlingende Praxis der gesellschaftlichen Demiurgen seIber angleichen. Damit verliert aber die Praxis gerade die Zuge des menschlichen Tuns, die Castoriadis mit Recht betont - die Zuge eines kontextabhangigen intersubjektiven Unternehmens unter endlichen Bedingungen. Die Endlichkeit der Praxis geht ja nicht nur auf den Widerstand einer formbaren auBeren Natur, sondern auch auf die Beschrankungen einer geschichtlichen, gesellschaftlichen und leiblichen Existenz zuruck. Eine Praxis, die mit der creatio continua neuer Weltdeutungen, mit der ontologischen Genese zusammenfallt, entwirft selber die historischen Zeiten und sozialen Raume, eroffnet selber die Dimensionen fur mog-
liche Beschrankungen. Allerdings bemuht Castoriadis die aus der Theogonie und aus Fichtes Wissenschaftslehre bekannten Denkfiguren, urn der unendlichen Aktualitat einer sich selbst instituierenden Gesellschaft in Gestalt der instituierten Gesellschaft eine innere Schranke zu ziehen. Wie im expressivistischen Modell des Geistes, der sich in seinen eigenen Objektivationen verliert, ist auch in das ontologische Gesellschaftsmodell die Sollbruchstelle der Selbstentfremdung eingebaut. Wenn der ProduktionsfluB der ontologischen Genese ins Stocken gerat, verfestigt sich die instituierte Gesellschaft gegenuber ihren eigenen Urspriingen: »Die Entfremdung oder Heteronomie der Gesellschaft ist eine Selbstentfremdung, bei der sich die Gesellschaft ihr eigenes Sein als Selbst-Instituierung und ihre wesenhafte Zeitlichkeit verhullt.« (608) Diese Konzeption hat zwei miBliche Konsequenzen. Indem Castoriadis die innetweltliche Praxis an eine zur Seinsgeschichte hypostasierte sp~achliche WelterschlieBung assimiliert, kann er den politischen Kampf urn autonome Lebensfuhrung - eben jene emanzipatorische schopferisch-entwerfende Praxis, urn die es Castoriadis letztlich geht - nicht mehr lokalisieren. Denn entweder muB er, wie Heidegger, die Akteure aus ihrer innerweltlichen, subjektversessenen Verlorenheit ins Unverfugbare, und damit in die auratische Heteronomie gegenuber dem Ursprungsgeschehen einer sich selbst instituierenden Gesellschaft zuriickrufen. Das ware nur die ironische Verkehrung der Praxisphilosophie in eine andere Variante des Poststrukturalismus. Oder Castoriadis verlegt die innerweltlich nicht zu rettende Autonomie der gesellschaftlichen Praxis ins Ursprungsgeschehen selbst; dann muB er aber der welterschlieBenden Produktivitat der Sprache ein absolutes Ich unterlegen und tatsachlich zur spekulativen BewuBtseinsphilosophie zuruckkehren. Dazu wiirde die Personifizierung der Gesellschaft als des dichterischen Demiurgen passen, der immer neue Welttypen aus sich entlaBt. In diesem Fall wiederholt sich das Theodizeeproblem in neuer Form: wem sollte die Verantwortung fur den Abfall der instituierten Gesellschaft von den Urspri,ingen ihrer Selbst-Instituierung zugeschrieben werden, wenn nicht dem demiurgischen Sprachschopfer seIber? . Die zweite, wei taus irdischere, aber ebenso miBliche Konsequenz
ist die Wiederkehr eines Problems, an dem sich die BewuBtseinsphilosophie von Fichte bis Husserl vergeblich abgearbeitet hatte: eine Erklarung der Intersubjektivitat gesellschaftlicher Praxis, die von der Pramisse eines· n BewuBtseins auszu ehen .,,$!':.ootigt ist. Einen zweiten Strom des Imaginaren postuliert Casto- --' riadis namlich fur das individuell U nbewuB te, das den monadischen Kern der fruhkindlichen Subjektivitat bildet. Dabei zeigt sich, daB das Imaginare, die triebgeleitete bilderschaffende Phantasie, der Sprache als dem weltbildenden Medium des gesellschaftlich Imaginaren sogar noch vorausliegt. Aus dieser vorsprachlichen, dem Psychoanalytiker Castoriadis vertrauten Phantasieproduktion der inneren Natur geht eine jeweils neue und einzigartige private Welt hervor, die im Verlaufe der kindlichen Entwicklung mit der gesellschaftlich instituierten Welt zusammenstoBt und dieser, nach Auflosung des odipalen Konflikts, ein- und untergeordnet wird. Die psychischen Strome des Imaginaren entspringen den Quellen der jeweils eigenen, subjektiven Natur. Sie konkurrieren mit dem der Gesellschaft entspringenden kollektiven Strom des Imaginaren in mnlicher Weise, wie die privaten Welten mit der offentlichen Welt konkurrieren. Die vergesellschafteten Individuen gehen keine im genuinen Sinne intersubjektive Beziehung miteinander ein. 1m gesellschaftlich instituierten Weltbild sind aIle, als sei es dastranszendentale BewuBtsein, a priori vorverstandigt; gegen diese prastabilisierte Harmonie suchen die heranwachsenden Individuen ihre jeweils privaten Welten als Monaden zu behaupten. Eine Figur fUr die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft kann Castoriadis nicht anbieten. Die Gesellschaft bricht die kindliche Monade auf und uberformt sie. Der Typus der gesellschaftlich instituierten Welt wird dem Einzelnen aufgedruckt. Der Sozialisationsvorgang wird also nach dem Modell der Handwerksproduktion vorgestellt. Das vergesellschaftete Individuum wird hergestellt und bleibt, wie bei Durkheim, in Monade und Gesellschaftsmitglied gespalten. Jene odipale Trennung, die »fur das Individuum zur festen, wohlunterschiedenen Einsetzung einer privaten und einer offentlichen Welt wird« (498), nennt Castoriadis ein Ratsel: »Wenn man nicht vollig die Augen davor verschlieBen will, was die Psyche und was die Gesellschaft sind, so ist nicht zu ubersehen, daB das
gesellschaftliche Individuum nicht wie eine Pflanze wachst, sondern von der Gesellschaft geschopftlfabriziert wird. Dazu bedarf es freilich immer eines gewaltsamen Bruchs mit dem Anfangszustand der Psyche und seinen Forderungen; eines Bruchs, den immer nur eine gesellschaftliche Institution vollziehen kann.« (514) Die innerpsychischen Konflikte hangen mit den gesellschaftlichen nicht etwa intern zusammen, vielmehr stehen Psyche und Gesellschaft in einer Art metaphysischen Gegensatz zueinander. Weniger »ratselhaft« ist die gesuchte Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, wenn man mit G. H. Mead den Sozialisationsvorgang selber als Individuierung versteht. Dann muB man freilich das strukturalistische, auf die logisch-semantische Dimension beschrankte Sprachkonzept erweitern und Sprache als das Medium begreifen, das jeden Interaktionsteilnehmer zugleich als Angehorigen in eine Kommunikationsgemeinschaft hineinzieht und dabei einem unnachsichtigen Individuierungszwang unterwirft. Zu den pragmatischen Voraussetzungen der regelrechten Verwendung von grammatischen Satzen in Sprechhandlungen gehort namlich die Integration von Sprecher-, Horer- und Beobachterperspektiven wie auch die Verschrankung dieser Struktur mit einem System von Weltperspektiven, welches die objektive mit der sozialen und der subjektiven Welt koordiniert. 26 Wenn man mit Hilfe dieses pragmatisch erweiterten Sprachkonzepts den Begriff der Praxis im Sinne kommunikativen Handelns reformuliert, beschranken sich die universalen Merkmale der Praxis nicht auf legein und teukein, d. h. auf die interpretationsbediirftigen Bedingungen fiir den Kontakt mit einer im Funktionskreis instrumentellen Handelns begegnenden Natur. Dann operiert vielmehr die Praxis im Lichte einer kommunikativen Vernunft, die den Interaktionsteilnehmern eine Orientierung an Geltungsanspriichen auferlegt und damit eine weltbildverandernde Kumulation von Wissen ermoglicht. GewiB, auch im kommunikativen Handeln verdanken sich die partikularen lebensweltlichen Kontexte der welterschliefienden Funktion einer Sprache, die jeweils von den Angehorigen geteilt wird. Und das Sprachsystem legt auch die Bedingungen der Giiltigkeit der mit seiner Hilfe generierten AuBerungen fest. Aber 26 Vgl. dazu den Titelaufsatz in: Habermas (1983), bes. S. 152ff..
der i~terne Zus~mm~nh~~ von Sinn und Geltung ist diesmal symmetnsch: der Smn emer AuBerung prajudiziert nicht, ob sich die Giil~igkeits~edingung.en und die entsprechenden Geltungsanspriiche m der mnerweltlichen, weltaneignenden Praxis erfiillen oder nicht. Die gesellschaftliche Praxis ist sprachlich konstituiert aber auch die Sprache muB sich iiber diese Praxis an dem, was inn:rhalb des von ihr erschlossenen Horizonts begegnet, bewahren. Wenn sich aber WelterschlieBung und bewahrende Praxis in der Welt wechselseitig voraussetzen, sind die sinnschopferischen Innovationen mit den Lernprozessen so verschrankt, sind beide wiederum in den allgemeinen Strukturen verstandigungsorientierten Handelns so verankert, daB sich die Reproduktion einer Lebenswelt immer auch dank der Produktivitat ihrer Angehorigen vollzieht.
XII. Der normative Gehalt cler Moderne
verunsichern die institutionalisierten MaBstabe des Fallibilismus; sie erlauben, wenn die Argumentation schon verloren ist, immer noch ein letztes Wort: daB der Opponent den Sinn des ganzen Sprachspiels miBverstanden, in seiner Art zu antworten einen Kategorienfehler begangen hat. Miteinander verwandt sind die Varianten einer gegen ihre eigenen Grundlagen riicksichtslosen Kritik der Vernunft auch in anderer Hinsicht. Sie lassen sich von normativen Intuitionen leiten, die iiber das hinausschieBen, was sie im indirekt beschworenen »Anderen der Vernunft« unterbringen konnen. Ob nun die Moderne als verdinglichter und verwerteter, als technisch verfiigbar gemachter oder als totalitar aufgespreizter, vermachteter, homogenisierter, eingekerkerter Lebenszusammenhang beschrieben wird, stets sind die Denunziationen durch eine besondere Empfindlichkeit fiir komplexe Verletzungen und sublime Vergewaltigungen inspiriert. Dieser Empfindlichkeit ist das Bild einer unversehrten Intersubjektivitat eingeschrieben, welches dem jungen Hegel zunachst als sittliche Totalitat vorgeschwebt hatte. Mit den leerformelhaft eingesetzten Gegenbegriffen von Sein und Souveranitat, Macht, Differenz und Nicht-Identischem verweist diese Kritik gewill auf asthetische Erfahrungsgehalte; aber die daraus abgeleiteten, explizit in Anspruch genommenen Werte von Huld und Erleuchtung, ekstatischem Entziicken, leiblicher Integritat, Wunscherfiillung und schonender Intimitat decken nicht den moralischen Wechsel, den auch diese Autoren stillschweigend auf eine intakte - nicht nur mit der inneren Natur versohnende - Lebenspraxis ausstellen. Zwischen den deklarierten und den verschleierten normativen Grundlagen besteht ein MiBverhaltnis, das sich aus der undialektischen Zuriickweisung der Subjektivitat erklart. Mit diesem Prinzip der Moderne werden nicht nur die versehrenden Konsequenzen eines vergegenstandlichenden Selbstbezuges, sondern auch die anderen Konnotationen verworfen, die die Subjektivitat einst als uneingelostes Versprechen mit sich gefiihrt hatte: die Aussicht auf eine selbstbewuBte Praxis, in der sich die solidarische Selbstbestimmung aller mit der authentischen Selbstverwirklichung eines jeden einzelnen sollte verbinden konnen. Verworfen wird eben das, was eine sich ihrer selbst vergewissernde Moderne mit den Begriffen Selbstbe-
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Die radikale Vernunftkritik entrichtet fiir die Verabschiedung der Moderne einen hohen Preis. Als erstes konnen und wollen diese Diskurse keine Rechenschaft ablegen iiber ihren eigenen Ort. Negative Dialektik, Genealogie und Dekonstruktion entziehen sich in ahnlicher Weise jenen Kategorien, nach denen sichdas moderne Wissen keineswegs zufallig ausdifferenziert hat und die wir heute unserem Verstandnis von T exten zugrundelegen. Sie lassen sich weder der Philosophie oder der Wissenschaft, noch der Moral- und Rechtstheorie, noch der Literatur und Kunst eindeutig zuordnen. Zugleich strauben sie sich gegen eine Riickkehr zu den sei's dogmatischen oder haretischen Formen des religiosen Denkens. So besteht auch eine Inkongruenz zwischen diesen »Theorien«, die Geltungsanspriiche nur erheben, urn sie zu dementieren, und der Art ihrer Institutionalisierung im Wissenschaftsbetrieb. Es besteht eine Asymmetrie zwischen dem rhetorischen Gestus, mit dem diese Diskurse urn Verstandnis heischen, und der kritischen Behandlung, der sie institutionell, z. B. im Rahmen einer akademischen Vorlesung unterzogen werden. Gleichviel, ob Adorno Wahrheitsgeltung auf paradoxe Weise reklamiert, oder ob Foucault sich weigert, aus manifesten Widerspriichen Konsequenzen zu ziehen; gleichviel, ob sich Heidegger und Derrida Begriindungsverpflichtungen durch die Flucht ins Esoterische oder durch die Verschmelzung des Logischen mit dem Rhetorischen entziehen - immer entsteht eine Symbiose aus U nvertraglichem, ein Amalgam, das sich im Kern der »normalen« wissenschaftlichen Analyse widersetzt. Das sperrige Gut wird nur an einen anderen Platz verlagert, wenn wir das Bezugssystem wechseln und dieselben Diskurse nicht mehr als Wissenschaft oder Philosophie behandeln, sondern als ein Stiick Literatur. DaB sich die selbstbeziigliche Vernunftkritik in ortlosen Diskursen gleichsam iiberall und nirgends niederlaBt, macht sie gegen konkurrierende Deutungen beinahe immun. Solche Diskurse
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wuBtsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung einmal intendiert hatte. Aus der totalisierenden Ablehnung moderner Lebensformen erklart sich eine weitere Schwache dieser Diskurse: interessant im Grundsatzlichen, bleiben sie undifferenziert in den Ergebnissen. Die Kriterien, nach denen Hegel und Marx, noch Max Weber und Lukacs die emanzipatorisch-versohnenden von den repressiv-entzweienden Aspekten der gesellschaftlichen Rationalisierung unterschieden hatten, sind stumpf geworden. Die Kritik hat inzwischen auch solche Begriffe erfaBt und zersetzt, mit denen sich jene Aspekte so auseinanderhalten lieBen, daB ihre paradoxe Verflechtung sichtbar wurde. Aufklarung und Manipulation, BewuBtes und UnbewuBtes, Produktionskrafte und Destruktionskrafte, expressive Selbstverwirklichung und repressive Entsublimierung, freiheitsverbiirgende und freiheitsentziehende Effekte, Wahrheit und Ideologie - alle diese Momente flieBen nun ineinander. Sie sind nicht etwa in unheilvollen Funktionszusammenhangen widerstrebend miteinander verkniipft - unfreiwillige Komplizen in einem widerspriichlichen, sich durch den Streit der Kontrahenten hindurchziehenden ProzeB. Die Differenzen und Gegensatze sind jetzt soweit unterminiert, ja eingestiirzt, daB die Kritik, in der flachen und fahlen Landschaft einer total verwalteten, berechneten, vermachteten Welt, Kontraste, Schattierungen und ambivalente Tonungen nicht mehr ausmachen kann. Gewill sind Adornos Theorie der verwalteten Welt und Foucaults Theorie der Macht ergiebiger, schlicht informativer als Heideggers oder Derridas Aus:' fiihrungen zur T echnik als Gestell oder zum totalitaren Wesen des Politischen. Aber sie alle sind unsensibel fiir den hochst ambivalenten Gehalt der kulturellen und der gesellschaftlichen Moderne. Diese Nivellierung macht sich auch beim diachronen Vergleich moderner mit vormodernen Lebensformen bemerkbar. Die hohen Kosten, die der Masse der Bevolkerung (in den Dimensionen der korperlichen Arbeit, der materiellen Lebensumstande und individuellen Wahlmoglichkeiten, der Rechtssicherheit und des Strafvollzugs, der politischen Beteiligung, Schulbildung usw.) friiher erst recht zugemutet worden sind, werden kaum notiert. Bemerkenswerterweise ist in den vernunftkritischen Ansatzen ein 39 2
systematischer Platz fiir die Alltagspraxis nicht vorgesehen. Pragmatismus, Phanomenologie und hermeneutische Philosophie haben Kategorien des alltaglichen Handelns, Sprechens und Zusammenlebens zu epistemologischem Rang erhoben. Marx hatte die Alltagspraxis sogar als den Ort ausgezeichnet, wo sich derverniinftige Gehalt der Philosophie in die Lebensformen einer emanzipierten Gesellschaft ergieBen sollte. Aber Nietzsche hat den Blick seiner Nachfolger so sehr auf Phanomene des Aufieralltaglichen gelenkt, daB dieser nur noch verachtlich iiber die Alltagspraxis als ein bloB Abgeleitetes oder Uneigentliches hinwegstreift. 1m kommunikativen Handeln bildet, wie wir gesehen haben1, das kreative Moment der sprachlichen Konstitution der Welt mit den kognitivinstrumentellen, den moralisch-praktischen und expressiven Momen ten der innerweltlichen Sprachfunktionen von Darstellung, interpersonaler Beziehung und subjektivem Ausdruck ein Syndrom. In der Moderne haben sich aus jedem dieser Momente »Wertspharen« ausdifferenziert - namlich einerseits Kunst, Literatur und eine auf Geschmacksfragen spezialisierte Kritik iiber die Achse der Welterschliefiung, und andererseits problemlosende, auf Wahrheits- und Gerechtigkeitsfragen spezialisierte Diskurse iiber die Achse der innerweltlichen Lernprozesse. Diese Wissenssysteme von Kunst und Kritik, Wissenschaft und Philosophie, Recht und Moral haben sich umso weiter von der Alltagskommunikation abgespalten, je strikter und einseitiger sie sich auf jeweils eine Sprachfunktion und einen Geltungsaspekt einlieBen. Dieser Abstraktion wegen diirfen sie aber nicht schon per se als symptomatische Verfallserscheinungen einer subjektzentrierten Vernunft gelten. Dem Nietzscheanismus stellt sich die Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Moral als der BildungsprozeB einer Vernunft dar, die die poetisch-welterschlieBende Kraft der Kunst zugleich usurpiert und erstickt. Die kulturelle Moderne erscheint ihm als ein Reich der Schrecken, gezeichnet von den totalitaren Ziigen einer strukturell sich selbst iiberfordernden subjektzentrierten Vernunft. Aus diesem Bild sind drei einfache Tatsachen ausgeblendet. Zunachst der Umstand, daB sich jene asthetischen Erfahrungen, in deren Licht 1 Vgl. oben S. 24off. 393
sich die wahre N atur einer exklusiven Vernunft erst enthiillen solI, demselben ProzeB der Ausdifferenzierung verdanken wie Wissenschaft und Moral. Sodann die Tatsache, daB die kulturelle Moderne ihrer Aufspaltung in spezielle Diskurse fiir Geschmacks-, Wahrheits- und Gerechtigkeitsfragen auch einen schwer bestreitbaren Wissenszuwachs verdankt. Und vor allem der Sachverhalt, daB erst die Modalitaten des Austauschs zwischen diesen Wissenssystemen und der Alltagspraxis dariiber entscheiden, ob sich die Abstraktionsgewinne destruktiv auf die Lebenswelt auswirken. Aus der Sicht einzelner kultureller Wertspharen stellt sich das Syndrom der Alltagswelt als »Leben« oder als »Praxis« oder als »Sittlichkeit« dar, denen die »Kunst« oder die »Theorie« oder die »Moral« gegeniiberstehen. Uber die spezifischen Vermittlerrollen von Kritik und Philosophie haben wir in anderem Zusammenhang schon gesprochen. Der einen stellt sich das Verhaltnis von» Kunst« und »Leben« so problematisch dar wie der anderen das Verhaltnis von »Theorie« und »Praxis« oder das von »Moral« und »Sittlichkeit«. Die unvermittelte Umsetzung spezialisierten Wissens in die privaten und offentlichen Spharen des Alltags kann nach der einen Seite die Autonomie und den Eigensinn der Wissenssysteme in Gefahr bringen, und nach der anderen Seite die Integritat der lebensweltlichen Kontexte verletzen. Ein auf nur einen Geltungsanspruch spezialisiertes Wissen, das kontextunspezifisch auf die ganze Breite des Geltungsspektrums der Alltagspraxis aufprallt, bringt die kommunikative Infrastruktur der Lebenswelt aus dem Gleichgewicht. Unterkomplexe Eingriffe dieser Art fiihren zur Asthetisierung bzw. zur Verwissenschaftlichung oder Moralisierung einzelner Lebensbereiche und rufen Effekte hervor, fiir die expressivistische Gegenkulturen, technokratisch durchgesetzte Reformen oder fundamentalistische Bewegungen drastische Beispiele liefern. Mit dem komplizierten Verhaltnis von Experten- und Alltagskulturen sind die tieferliegenden Paradoxien der gesellschaftlichen Rationalisierung freilich noch gar nicht beriihrt. Denn dabei handelt es sich urn eine systemisch induzierte Verdinglichung der Alltagspraxis, auf die ich noch zuriickkomme. Schon die ersten Schritte auf dem Wege zu Differenzierungen im Bilde der zweideutig rationali394
sierten Lebenswelt moderner Gesellschaften bringen aber jenes Problem zu BewuBtsein, mit dem wir uns in dieser letzten Vorlesung beschaftigen wollen. Einer nivellierenden Vernunftkritik lassen sich ihre Entdifferenzierungen nur anhand von Beschreibungen vorrechnen, die ihrerseits von normativen Intuitionen geleitet sind. Dieser normative Gehalt muB. si.ch, wenn er nicht arbitrar bleiben solI, aus dem der Alltagspraxls mnewohnenden Vernunftpotential gewinnen und rechtfertigen l~ssen. Der erst provisorisch eingefiihrte, iiber die subjektzentnerte Vernunft hinausweisende Begriff der kommunikativen Vernunft solI aus den Paradoxien und Einebnungen einer selbstbeziiglichen Vernunftkritik herausfiihren; andererseits muB er sich gegen den konkurrierenden Ansatz einer Systemtheorie behaupten, die die Rationalitatsproblematik iiberhaupt beiseite schiebt, jeden Vernunftbegriff als alteuropaischen Hemmschuh abstreift und leichtfiiBig die Subjektphilosophie (wie auch die Machttheorie ihres scharfsten Widersachers) beerbt. Diese doppelte Frontstellung macht die Rehabilitierung des Vernunftbegriffs zu einem doppelt riskanten Unternehmen. Diese muB sich nach beiden Seiten hiiten, sich doch wieder in den Fallstricken eines subjektzentrierten Denkens zu verfangen, dem es nicht gelungen ist, den zwanglosen Zwang der Vernunft frei zu halten sowohl von den totalitaren Ziigen einer instrumentellen Vernunft, die alles ringsrum und auch sich selbst zum Gegenstand macht, wie auch von den totalisierenden Ziigen einer inklusiven Vernunft, die sich alles einverleibt und am Ende als Einheit iiber samtliche Unterschiede triumphiert. Die Praxisphilosophie wollte die normativen Gehalte der Moderne einer im Vermittlungsgeschehen der gesellschaftlichen Praxis verkorperten Vernunft entnehmen. Verandert sich die T otalitatsperspektive, die in dies en Begriff eingebaut ist, wenn der Grundbegriff des kommunikativen Handelns den der gesellschaftlichen Arbeit ersetzt?
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II Marx zufolge erstreckt sich die gesellschaftliche Praxis in den Dimensionen der geschichtlichen Zeit und des sozialen Raumes und vermittelt die subjektive Natur der kooperierenden Einzelnen im Horizont einer umgebenden, auch die Gattungsgeschichte kosmisch einbegreifenden N atur an sich mit der auBeren, in leibvermittelten Eingriffen objektivierten Natur. Der vermittelnde ProzeB der Arbeit bezieht sich also auf Natur unter drei verschiedenen Aspekten - auf die erlebte Bediirfnisna~r ~er Subjekte, ~uf ~ie gegenstandlich erfafite und bearbeitete obJektlve Natur, schheBhch auf die in der Arbeit als Horizont und Grundlage vorausgesetzte Natur an sich. Dabei wird Arbeit, wie wir in der dritten Vorlesung gesehen haben, produktionsasthetisch gedeutet und al~ KreisprozeB der EntauBerung, Vergegenstandlichung und Anelgnung von Wesenskraften vorgestellt. Demnach nimmt der ProzeB der Selbstvermittlung der Natur die Selbstverwirklichung der in ihm fungierenden tatigen Subjekte in sich auf. Beides sind Prozesse der Selbsterzeugung; sie produzieren sich aus ihren eigenen Produkten. In gleicher Weise wird die aus dieser Praxis hervorgehende Ges~ll schaft als Produkt der in ihr und durch sie geschaffenen Produktlvkrafte und Produktionsverhaltnisse begriffen. Die praxisphilosophische Denkfigur notigt dazu, die zunachst. distinkt auf.e~~a~der bezogenen Momente von Arbeit und Natur m der Totalitat emes selbstbeziiglichen Reproduktionsvorganges aufgehen zu lassen. Es ist am Ende die Natur selbst, die durch die Reproduktion des GroBsubjektes der Gesellschaft und der in ihr tatigen Subjekte hindurch sich selbst reproduziert. Auch Marx hat sich dem Hegelschen Totalitatsdenken nicht entzogen. Das andert sich, wenn die gesellschaftliche Praxis nicht mehr primar als ArbeitsprozeB gedacht wird. Mit den einander erganzenden Begriffen des kommunikativenH.andelns und der Lebenswelt wird eine Differenz zwischen Bestlmmungen eingefiihrt, die - anders als die Differenz zw~sch~n A.rbeit und Natur - nicht als Momente in einer hoheren Emhelt wIeder aufgehen. GewiB, die Reproduktion der Lebenswelt spei~t sich ~us Beitragen des kommunikativen Handelns, wahrend dleses Wle2 derum auf die Ressourcen der Lebenswelt angewiesen ist. Diesen
KreisprozeB diirfen wir aber nicht nach dem Modell der Selbsterzeugung als eine Produktion aus eigenen Produkten vorstellen und gar mit Selbstverwirklichung assoziieren. Sonst wiirden wir den VerstandigungsprozeB - wie in der Praxisphilosophie den ArbeitsprozeB - als Vermittlungsgeschehen hypostasieren und die Lebenswelt - wie in der Reflexionsphilosophie den Geist - zur Totalitat eines hoherstufigen Subjekts aufspreizen. Die Differenz zwischen Lebenswelt und kommunikativem Handeln wird nicht in eine Einheit zuriickgenommen: sie vertieft sich sogar in dem MaBe, wie die Reproduktion der Lebenswelt nicht mehr nur durch das Medium verstandigungsorientierten Handelns hindurchgeleitet, sondern den Interpretationsleistungen der Aktoren selbst aufgebiirdet wird. In dem MaBe wie die JalNein-Entscheidungen, die die kommunikative Alltagspraxis tragen, nicht auf ein zugeschriebenes normatiyes Einverstandnis zuriick-, sondern aus den kooperativen Deutungsprozessen der Beteiligten selbst hervorgehen, treten konkrete Lebensformen und allgemeine Lebensweltstrukturen auseinander. Zwischen den im Plural auftretenden Totalitaten von Lebensformen bestehen gewiB Familienmnlichkeiten; sie iiberlappen und vernetzen sich, aber sie sind nicht wiederum von einer Supertotalitat umfangen. Denn Mannigfaltigkeit und Zerstreuung bilden sich im Zuge eines Abstraktionsprozesses heraus, durch den sich die Inhalte der partikularen Lebenswelten von den aHgemeinen Strukturen der Lebenswelt immer starker abheben. Als Ressource betrachtet, gliedert sich die Lebenswelt, je nach den »belieferten« Komponenten der Sprechhandlungen, d.h. deren propositionalen, illokutionaren und intentionalen Bestandteilen, in Kultur, Gesellschaft und Person. Kultw? nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die kommunikativ Handelnden, indem sie sich iiber etwas in der Welt verstandigen, mit konsenstrachtigen Interpretationen versorgen. Gesellschaft (im engeren Sinne einer Lebensweltkomponente) nenne ich die legitimen Ordnungen, aus denen die kommunikativ Handelnden, indem sie interpersonale Beziehungen' eingehen, eine auf Gruppenzugehorigkeiten ge2 Vgl. Fig. 23 in: J. Habermas (1981) Bd. II., 217. 3 1m folgenden sriitze ich mich auf meine Ausfiihrungen in: J. Habermas (1981) Bd. 11., 2 °9.
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stutzte Solidaritiit schopfen. Personlichkeit dient als Kunstwort fur erworbene Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfahig machen und damit instandsetzen, in einem jeweils gegebenen Kontext an Verstandigungsprozessen teilzunehmen und in wechselnden Interaktionszusammenhangen die eigene Identitat zu behaupten. Diese Begriffsstrategie bricht mit der traditionellen, auch von der Subjekt- und Praxisphilosophie beibehaltenen Auffassung, daB Gesellschaften aus Kollektiven und diese wiederum aus Individuen zusammengesetzt sind. Individuen und Gruppen sind nur in einem metaphorischen Sinne »Angehorige« einer Lebenswelt. Allerdings vollzieht sich die symbolische Reproduktion der Lebenswelt als ein KreisprozeB. Die strukturellen Kerne der Lebenswelt werden ihrerseits durch entsprechende Reproduktionsprozesse, und diese wiederum durch Beitrage des kommunikativen Handelns »moglich gemacht«. Die kulturelle Reproduktion stellt sicher, daB (in der semantischen Dimension) neu auftretende Situationen an die bestehenden Weltzustande angeschlossen werden: sie sichert die Kontinuitat der Dberlieferung und eine fUr den Verstandigungsbedarf der Alltagspraxis hinreichende Koharenz des Wissens. Die soziale Integration stellt sicher, daB neu auftretende Situ ationen (in der Dimension des sozialen Raumes) an die bestehenden Weltzustande angeschlossen werden; sie sorgt fur die Koordinierung von Handlungen uber legitim geregelte interpersonale Beziehungen und verstetigt die Identitat von Gruppen. Die Sozialis~tion der Angehorigen stellt schlieBlich sicher, daB neu auftretende Sttuationen (in der Dimension der historischen Zeit) an die bestehenden Weltzustande angeschlossen werden; sie sichert fur nachwachsende Generationen den Erwerb generalisierter Handlungsfahigkeiten und sorgt fur die Abstimmung von individuellen Lebensgeschichten und kollektiven Lebensformen. In diesen drei Reproduktionsprozessen erneuern sich also konsensfahige Deutungsschemata (oder »giiltiges Wissen«), legitim geordnete interpersonelle Beziehungen (oder »Solidaritaten«) sowie Interaktionsfahigkeiten (oder »personale Identitaten«). Wenn dies als eine theoretische Beschreibung fur die gleichgewichtige und ungestorte symbolische Reproduktion der Lebenswelt
akzeptiert wird, konnen wir, zunachst in einem Gedankenexperiment, der Frage nachgehen: in welcher Richtung die Strukturen der Lebenswelt variieren muBten, wenn die ungestorte Reproduktion immer weniger von traditionell eingewohnten, bewahrten und konsentierten Bestanden einer konkreten Lebensform garantiert werden konnte, sondern immer mehr von den riskant erzielten Konsensen, also den kooperativen Leistungen der kommunikativ Handelnden selbst verburgt werden muBte. Das ist gewiB eine idealisierende, aber keine ganz willkurliche Projektion. Denn vor diesem gedankenexperimentellen Hintergrund zeichnen sich faktische Entwicklungslinien moderner Lebenswelten ab: die Abstraktion der allgemeinen Lebensweltstrukturen von den jeweils besonderen Konfigurationen der nur in der Mehrzahl auftretenden Totalitaten von Lebensformen. Auf der kulturellen Ebene trennen sich die identitatsverburgenden T raditionskerne von den konkreten Inhalten, mit denen sie in mythischen Weltbildern einst eng verwoben waren. Sie schrumpfen auf abstrakte Elemente wie Weltbegriffe, Kommunikationsvoraussetzungen, Argumentationsverfahren, abstrakte Grundwerte usw. zusammen. Auf der Ebene der Gesellschaft kristallisieren sich allgemeine Prinzipien aus den besonderen Kontexten heraus, an denen sie in primitiven Gesellschaften einst gehaftet hatten. In modernen Gesellschaften setzen sich Prinzipien der Rechtsordnung und der Moral durch, die immer weniger auf partikulare Lebensformen zugeschnitten sind. Auf der Ebene der Personlichkeit losen sich die im SozialisationsprozeB erworbenen kognitiven Strukturen immer starker von den Inhalten kulturellen Wissens, mit denen sie im »konkreten Denken« zunachst integriert waren. Die Gegenstande, an denen formale Kompetenzen eingeubt werden konnen, werden immer variabler. Wenn wir bei diesen Trends nur die Freiheitsgrade berucksichtigen, die die strukturellen Komponenten der Lebenswelt gewinnen, ergeben sich als Fluchtpunkte: fur die Kultur ein Zustand der Dauerrevision verflussigter, d.h. reflexiv gewordener Traditionen; fur die Gesellschaft ein Zustand der Abhangigkeit legitimer Ordnungen von formalen, letztlich diskursiven Verfahren der Normsetzung und Normbegrundung; fUr die Personlichkeit ein Zustand der riskanten Selbststeuerung einer hoch abstrakten
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Ich-Identitat. Es entstehen strukturelle Zwange zur kritischen Auflosung von garantiertem Wissen, zur Setzung generalisierter Werte und Normen und zur selbstgesteuerten Individuierung (da die abstrakten Ich-Identitaten auf eine Selbstverwirklichung in autonomen Lebensentwiirfen verweisen). Diese Trennung von Form und Inhalt erinnert von Ferne an die traditionsreichen Bestimmungen einer »verniinftigen Praxis«: das SelbstbewuBtsein kehrt wieder in der Gestalt einer reflexiv gewordenen Kultur, die Selbstbestimmung in generalisierten Werten und Normen, die Selbstverwirklichung in der fortgeschrittenen Individuierung der vergesellschafteten Subjekte. Aber der Zuwachs an Reflexivitat, an Universalismus und an Individuierung, die die strukturellen Kerne der Lebenswelt im Zuge ihrer Ausdifferenzierung erfahren, paBt jetzt nicht mehr unter die Beschreibung einer Steigerung in den Dimensionen der Selbstbeziehung eines Subjekts. Und nur unter dieser subjektphilosophischen Beschreibung konnte die gesellschaftliche Rationalisierung die Entfaltung des verniinfti~ gen Potentials der gesellschaftlichen Praxis als die Selbstreflexion eines gesellschaftlichen Makrosubjekts vorgestellt werden. Die Kommunikationstheorie kommt ohne diese Denkfigur aus. Jetzt vollziehen sich das Reflexivwerden der Kultur, die Generalisierung von Werten und Normen, die zugespitzte Individuation der vergesellschafteten Subjekte, jetzt steigern sich kritisches BewuBtsein, autonome Willensbildung, Individuierung, verstarken sich also die einst der Praxis von Subjekten zugeschriebenen Rationalitatsmomente unter Bedingungen eines immer weiter und immer feiner gesponnenen Netzes sprachlich erzeugter Intersubjektivitat. Rationalisierung der Lebenswelt bedeutet Differenzierung und Verdichtung zugleich - die Verdichtung der schwebenden T extur eines Gespinstes aus intersubjektiven Faden;> w~lches die immer scharfer ausdifferenzierten Bestandteile der Kultur, der Gesellschaft und der Person gleichzeitig zusammenhalt. Der Reproduktionsmodus der Lebenswelt verandert sich freilich nicht linear in der durch die Stichworte Reflexivitat, abstrakter Universalismus und Individuierung gekennzeichneten Richtung. Die rationalisierte Lebensweltsichert vielmehr die Kontinuitat von Sinnzusammenhangen mit den diskontinuierenden Mitteln der Kritik; wahrt den 400
sozialintegrativen Zusammenhang mit den riskanten Mitteln des individualistisch vereinzelnden Universalismus; und sublimiert, mit Mitteln einer extrem individuierenden Vergesellschaftung, die iiberwaltigende Macht des genealogischen Zusammenhangs zu einer fragilen, verletzbaren Allgemeinheit. Allein in diesen Mitteln entfaltet sich, je abstrakter die ausdifferenzierten Lebensweltstrukturen in den immer weiter partikularisierten Lebensformen operieren, das verniinftige Potential des verstandigungsorientierten Handelns. Das kann man sich durch folgendes Gedankenexperiment klarmachen. 1m semantischen Feld miiBten die Kontinuitaten auch dann nicht abreiBen, wenn die kulturelle Reproduktion nur noch iiber Kritik laufen konnte. Die Entfaltung der N egationspotentiale sprachlicher Verstandigung wird in der strukturell ausdifferenzierten Lebenswelt zur notwendigen Bedingung dafiir, daB sich Texte aneinander anschlieBen und Traditionen - die ja von der Kraft der Uberzeugung leben - fortsetzen lassen. Ebensowenig miiBte im sozialen Raum jenes aus reziproken Anerkennungsverhaltnissen gekniipfte intersubjektive Netz reiBen, wenn die soziale Integration nur noch iiber einen abstrakten und zugleich individualistisch zugeschnittenen Universalismus laufen konnte. Die in der strukturell ausdifferenzierten Lebenswelt etablierten Verfahren diskursiver Willensbildung sind dazu bestimmt, gerade durch die gleichmaBige Beriicksichtigung der Interessen eines jeden Einzelnen die soziale Bindung aller mit allen zu sichern. Als Teilnehmer an Diskursen wird namlich der Einzelne mit seinem nicht-substituierbaren J a oder Nein nur unter der Voraussetzung ganz auf sich gestellt, daB er iiber die kooperative Wahrheitssuche in eine universale Gemeinschaft eingebunden bleibt. Nicht einmal die Substanz des Allgemeinen in der historischen Folge der Geschlechter miiBte sich in Nichts auflosen, wenn Sozialisationsvorgange nur noch iiber die Schwelle extremer Individuierung laufen konnten. In der strukturell ausdifferenzierten Lebenswelt wird ein von Anbeginn wirksames Prinzip lediglich als solches anerkannt: daB sich die Vergesellschaftung im selben Verhaltnis als Individuierung vollzieht, wie sich umgekehrt die Individuen gesellschaftlich konstituieren. Mit dem System der Personalpronomina ist in den verstandigungsorientierten Sprach401
gebrauch der sozialisatorischen Interaktion ein unnachsichtiger Zwang zur Individuierung eingebaut; uber dasselbe sprachliche Medium kommt aber zugleich die Kraft der vergesellschaftenden Intersubjektivitat zum Zuge. Die intersubjektivitatstheoretischen Denkfiguren machen also verstandlich, warum kritische Priifung und fallibilistisches BewuBtsein die Kontinuitat einer Dberlieferung, die ihre Naturwuchsigkeit abgestreift hat, sogar verstarken; warum abstrakt-universalistische Verfahren diskursiver Willensbildung die Solidaritat in Lebenszusammenhangen, die nicht mehr traditional legitimiert sind, sogar festigen; warum erweiterte Spielraume fur Individuierung und Selbstverwirklichung einen ProzeB der Vergesellschaftung, der sich von fixen Mustern der Sozialisation gelost hat, sogar verdichten und stabilisieren. Wenn man auf diese Weise den normativen Gehalt der Moderne, der nicht zwar den Intentionen, wohl aber den Begriffen der Praxisphilosophie entgleitet, einholt, fallen freilich die drei Momente auseinander, die einmal zur »Dialektik der Aufklarung« zusammengefugt worden waren: Subjektivitat sollte als das Prinzip der Moderne auch deren normativen Gehalt bestimmen; gleichzeitig fuhrte die subjektzentrierte Vernunft zu Abstraktionen, welche die sittliche Totalitat entzweiten; und doch sollte sich einzig die aus der Subjektivitat hervorgehende, uber deren Bornierungen hinausstrebende Selbstreflexion als Macht der Versohnung bewahren. Die Praxisphilosophie hatte sich dieses Programm auf ihre Weise zu eigen gemacht. Fur Marx bildeten die Analyse des Klassenantagonismus, dessen revolutionare Dberwindung und die Entbindung des emanzipatorischen Gehalts der aufgespeicherten Produktivkrafte drei grundbegrifflich verklammerte Momente. In dieser Hinsicht bietet der aus Strukturen sprachlich erzeugter Intersubjektivitat abgeleitete, an den Rationalisierungsprozessen der Lebenswelt konkretisierte Vernunftbegriff kein Aquivalent fur den geschichtsphilosophisch verwendeten Begriff einer in sich vernunftigen Praxis. Sobald wir das praxisphilosophische Verstiindnis der Gesellschaft als eines selbstreferentiellen, die Einzelsubjekte einbegreifenden. GroBsubjekts aufgeben, entfallen die entsprechenden Modellvorstellungen fur die Diagnose und die Bewaltigung der Krise: Spal402
tung und Revolution. Weil die sukzessive Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Vernunftpotentials nicht mehr als Selbstreflexion im groBen gedacht wird, kann diese Bestimmung des normativen Gehalts der Moderne weder die begrifflichen Mittel d~r Krisendiagnose noch die Art der Krisenbewaltigung prajudiZleren. Mit dem Grad der Rationalisierung einer Lebenswelt wachsen keineswegs die Wahrscheinlichkeiten fur konfliktfreie Reproduktionsvorgange - lediglich das Niveau verschiebt sich, auf dem die Konflikte auftreten konnen. Mit der Ausdifferenzierung der Lebensweltstrukturen vervielfaltigen sich nur die Erscheinungsformen gesellschaftlicher Pathologien, je nachdem, welche strukturelle Komponente von welcher Seite aus unzureichend versorgt wird: Sinnverlust, anomische Zustande und PsychopaJhologien sind die auffalligsten, nicht die einzigen Klassen von Symptomen4• So fallen die Ursachen fur Pathologien der Gesellschaft, die im Modell der Spaltung eines Makrosubjekts noch urn den Klassenantagonismus herum gebundelt werden konnten, in breit gestreute geschichtliche Kontingenzen auseinander. Zu Gestalten fugen sich die pathologischen Zuge moderner Gesellschaften nur noch insofern zusammen, als sich ein Dbergewicht der okonomischen und burokratischen, uberhaupt der kognitiv-instrumentellen Formen der Rationalitat bemerkbar macht. Das gezackte Profil ungleichmafiig ausgeschopfter Rationalitatspotentiale verdrangt den ins Stokken geratenen KreisprozeB der Selbstvermittlung eines gespaltenen Makrosubjekts aus dem Erklarungsansatzs. 4 Siehe Fig. 22 in:]. Habermas (1981), Bd. II, 215. 5 Die Ideologien, die die abgewehrten Antagonisrnen zudecken, lassen sich nicht rnehr dern falschen BewuEtsein von Kollektiven zuschreiben; sie werden auf die Mustereiner systernatisch verzerrten Alltagskommunikation zuriickgefiihrt. Hier, wo die auEere Organisation der Rede einen anders nicht rnehr zu kaschierenden Druck an die innere Organisation der Rede weitergibt und diese so verbiegt, daB sich die internen Zusamrnenhange von Bedeutung und Geltung, Bedeutung und Intention, Bedeutung und Handlungsvollzug auflosen (vgl. J. Habermas, Uberlegungen zur Kornrnunikationspathologie, in: ders., Vorstudien und Erganzungen zur Theorie des kornrnunikativen Handelns, Ffrn. 1984, 226ff.) - hier also, in der entstellten Kornrnunikation geben sich Hegels entzweite sittliche Totalitat und Marxens entfrerndete Praxis als Formen versehrter Intersubjektivitat zu erkennen. Auf dieser 40 3
Produktionsweise in traditionale Lebenswelten illustriert. Die Art von Systemrationalitat, die in der eigensinnigen Logik der Selbstverwertung des Kapitals zum ersten Mal evident geworden ist, hat sich freilich inzwischen auch anderer Handlungsbereiche bemachtigt. Lebenswelten konnen sich strukturell noch so weit ausdifferenzieren, sie konnen fur die Funktionsbereiche der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation hochspezialisierte Teilsysteme (und Teile von Teilen von Subsystemen) ausbilden - die Komplexitat jeder Lebenswelt ist durch die geringe Belastbarkeit des Verstandigungsmechanismus eng begrenzt. In dem MaBe, wie sich eine Lebenswelt rationalisiert, wachst der Verstandigungsaufwand, der den kommunikativ Handelnden selbst aufgeburdet wird. Damit wachst zugleich das Dissensrisiko einer Kommunikation, die Bindungseffekte nur uber die doppelte Negation von Geltungsanspriichen erzeugt. Die normale Sprache ist ein riskanter, zugleich aufwendiger, immobiler, in seiner Leistungskapazitat beschrankter Mechanismus der Handlungskoordinierung. Die Bedeutung des einzelnen Sprechaktes laBt sich namlich yom komplexen Sinnhorizont der Lebenswelt nicht abkoppeln; sie bleibt mit dem intuitiv prasenten Hintergrundwissen der Interaktionsteilnehmer verflochten. Die Konnotationsfulle, der Funktionsreichtum und die Variationsfahigkeit des verstandigungsorientierten Sprachgebrauchs ist nur die Kehrseite eines T otalitatsbezuges, der keine beliebige Erweiterung der Verstandigungskapazitat der Alltagspraxis zulaBt. Weil sich Lebenswelten nur einen begrenzten Koordinations- und Verstandigungsaufwand leisten konnen, muB auf einem bestimmten Komplexitatsniveau die Umgangssprache durch jene Sorte von Spezialsprachen entlastet werden, die Parsons am Beispiel des Geldes untersucht hat. Ein Entlastungseffekt tritt dann ein, wenn das Medium der Handlungskoordinierung nicht mehr fur alle Sprachfunktionen gleichzeitig in Anspruch genommen werden muB. Mit der partiellen Ersetzung der Umgangssprache reduziert sich auch die Bindung der kommunikativ gesteuerten Handlungen an Kontexte der Lebenswelt. Die derart freigesetzten gesellschaftlichen Prozesse werden »entweltlicht«, d.h. aus jenen Totalitatsbezugen
Es liegt auf der Hand, daB wir mit solchen Dberlegungen die Frage, von der die Praxisphilosophie ihren Ausgang genommen hat, noch gar nicht beruhren. Solange wir, wie bisher, die materielle Reproduktion der Lebenswelt auBer acht lassen, erreichen wir nicht einmal das alte Problemniveau. Marx hatte ja »Arbeit« als Grundbegriff gewahlt, weil er beobachten konnte, wie die Strukturen der burgerlichen Gesellschaft durch abstrakte Arbeit, also durch den Typus einer uber den Markt gesteuerten, kapitalistisch verwerteten und betrieblich organisierten Erwerbsarbeit immer starker gepragt wurden. Diese T endenz hat sich inzwischen deutlich abgeschwacht. 6 Aber damit ist der Typus von Gesellschaftspathologie, den Marx an den Realabstraktionen der entfremdeten Arbeit analysiert hatte, nicht verschwunden. III
Der kommunikationstheoretische Ansatz scheint den normativen Gehalt der Moderne nur urn den Preis idealistischer Abstraktionen bergen zu konnen. Ein weiteres Mal erhebt sich der Verdacht gegen den Purismus der reinen kommunikativen Vernunft - diesmal gegen eine abstrakte Beschreibung rationalisierter Lebenswelten, die den Zwangen der materiellen Reproduktion keine Rechnung tragt. Urn diesen Verdacht zu entkraften, mussen wir zeigen, daB die Kommunikationstheorie ihren Beitrag leisten kann zu der Erklarung, wie sich in der Moderne eine marktformig organisierte Wirtschaft mit dem gewaltmonopolisierenden Staat funktional verschrankt, gegenuber der Lebenswelt zu einem Stuck normfreier Sozialitat verselbstandigt und deren Vernunftimperativen eigene, in der Systemerhaltung begriindete Imperative entgegengesetzt. Diesen Widerstreit von System- und Lebensweltimperativen hat Marx als erster in Form einer Dialektik von toter und lebendiger, von abstrakter und konkreter Arbeit analysiert und eindringlich anhand des sozialgeschichtlichen Materials uber den Einbruch der neuen Ebene miifhen auch Foucaults Diskursanalysen mit Mitteln cler Formalpragmatik eingeholt werden. 6 C. Offe, Arbeit als soziologisc~e Schliisselkategorie? in: ders., Arbeitsgesellschaft, Ffm. 1984, 13 ff.
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und jenen Strukturen der Intersubjektivitat entlassen, iiber die Kultur, Gesellschaft und Personlichkeit miteinander verschrankt sind. Fiir eine solche Entlastung bieten sich insbesondere Funktionen der materiellen Reproduktion an, weil diese nicht per se durch kommunikative Handlungen erfiillt zu werden brauchen. Zustandsanderungen im materiellen Substrat gehen ja unmittelbar auf aggregierte Ergebnisse und Folgen von zielgerichteten Eingriffen in die objektive Welt zuriick. GewiB bediirfen auch diese teleologischen Handlungen der Koordinierung; sie miissen gesellschaftlich integriert werden. Aber die Integration kann nun iiber eine verarmte und standartisierte Sprache laufen, die funktionsspezifische Handlungen, beispielsweise die Herstellung und Verteilung von Giitern und Diensten, koordiniert, ohne die gesellschaftliche Integration mit dem Aufwand riskanter und unokonomischer Verstandigungsprozesse zu belasten und iiber das Medium der Umgangssprache mit Vorgangen der kulturellen Dberlieferung und der Sozialisation riickzukoppeln. Diesen Bedingungen einer speziell vercodeten Steuerungssprache geniigt offensichtlich das Medium Geld. Es hat sich aus der normalen Sprache als ein auf Standardsituationen (des Tausches) zugeschnittener Spezialcode abgezweigt, der aufgrund einer eingebauten Praferenzstruktur (von Angebot und Nachfrage) Handlungsentscheidungen koordinationswirksam konditioniert, ohne die Ressourcen der Lebenswelt in Anspruch nehmen zu miissen. Geld ermoglicht aber nicht nur spezifisch entweltlichte Interaktionsformen, sondern die Herausbildung eines funktionsspezifischen Teilsystems, das seine Umweltbeziehungen iiber Geld abwickelt. Historisch gesehen, ist mit dem Kapitalismus ein Wirtschaftssystem entstanden, das den internen Verkehr ebenso wie den Austausch mit seinen nicht-okonomischen Umgebungen (den privaten Haushalten und dem Staat) iiber monetare Kanale regelt. Die Institutionalisierung der Lohnarbeit auf der einen, des Steuerstaates auf der anderen Seite war fiir die neue Produktionsweise ebenso konstitutiv wie die Organisationsform des kapitalistischen Betriebes im Inneren des Wirtschaftssystems. In dem MaBe wie der ProduktionsprozeB auf Lohnarbeit umgestellt und der Staatsapparat iiber das Steuerau{kommen der Beschaftigten mit der Produktion
rUckgekoppelt worden ist, haben sich komplementare Umwelten gebildet. Auf der einen Seite wurde der Staatsapparat von einem mediengesteuerten Wirtschaftssystem abhangig; das fiihrte unter anderem dazu, daB amts- und personengebundene Macht an die Struktur eines Steuerungsmediums angeglichen, daB also Macht an Geld assimiliert worden ist. Auf der anderen Seite losten sich traditionale Arbeits- und Lebensformen unter dem Zugriff der betriebsformig organisierten Erwerbsarbeit auf. Die Plebejisierung der Landbevolkerung und die Proletarisierung der vielfach in den Stadten konzentrierten Arbeiterschaft wurde zum ersten exemplarischen. Fall einer systemisch induzierten Verdinglichung der Alltagspraxts. Mit den iiber Medien laufenden Austauschprozessen entsteht in modernen Gesellschaften eine dritte Ebene autonom gewordener funktionaler Zusammenhange - iiber der Ebene einfacher Interaktionen wie auch oberhalb der Ebene der noch lebensweltlich eingebundenen Organisationsformen. Die zu Subsystemen verselbstandigten, iiber den Horizont der Lebenswelt hinausreichenden Interaktionszusammenhange gerinnen zur zweiten Natur einer normfreien Sozialitat. Diese Entkoppelung von System und Lebenswelt wird innerhalb moderner Lebenswelten als eine Versachlichung von Lebensformen erfahren. Hegel hat auf diese Grunderfahrung mit dem Begriff des »Positiven« und der Vorstellung einer entzweiten sittlichen Totalitat reagiert; Marx hat spezifischer bei der entfremdeten Industriearbeit und dem Antagonismus von Klassen angesetzt. Unter subjektphilosophischen Pramissen unterschatzten freilich beide den Eigensinn der systemisch integrierten Handlungsbereiche, die sich von Intersubjektivitatsstrukturen soweit ablosen, daB sie zu den sozialintegrierten, innerhalb einer Lebenswelt ausdifferenzierten Handlungsbereichen keine strukturellen Analogien mehr aufweisen. Fiir Hegel und Marx gingen das System der Bediirfnisse oder die kapitalistische Gesellschaft aus Abstraktionsprozessen hervor, die auf sittliche Totalitat oder verniinftige Praxis noch verweisen und deren Strukturen unterworfen bleiben. Die Abstraktionen bilden unselbstandige Momente in der Selbstbeziehung und Selbstbewegung eines hoherstufigen Subjektes, in die sie auch wiederum einmiinden miissen. Bei Marx nimmt
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diese Aufhebung die Gestalt einer revolutionaren Praxis an, die den systemischen Eigensinn der Selbstverwertung des Kapitals bricht, den verselbstandigten WirtschaftsprozeB wieder in den Horizont der Lebenswelt einholt und das Reich der Freiheit yom Diktat des Reichs der Notwendigkeit erlost. Die Revolution soll im Privateigentum an Produktionsmitteln zugleich die institutionellen Grundlagen des Mediums treffen, iiber das die kapitalistische Wirtschaft ausdifferenziert worden ist. Der unter dem Wertgesetz erstarrten Lebenswelt so11 sie ihre Spontaneitat zuriickgeben; im selben Augenblick wird der objektive Schein des Kapitals in Nichts zernnnen. Diese Einschmelzung der systemisch versachlichten Handlungsbereiche in die spontane Selbstbeziehung von Geist oder Gesellschaft ist schon, wie wir gesehen haben, bei den rechten Hegelschiilern der ersten Generation auf heftigen Widerspruch gestoBen. Gegen die Entdifferenzierung von Staat und Gesellschaft haben sie auf der objektiven Unterscheidung zwischen Gesellschaftssystem und staatlichem Subjekt beharrt. Ihre neukonservativen Nachfolger geben der These bereits eine Wendung ins Affirmative. Hans Freyer und Joachim Ritter sehen in der Dynamik der Versachlichung von Kultur und Gesellschaft nur die Kehrseite der Konstituierung eines erstrebenswerten Bereichs subjektiver Freiheit. Gehlen kritisiert auch diesen noch als eine Sphare leerer, von allen sachlichen Imperativen freigelassener Subjektivitat. Sogar diejenigen, die im Gefolge von Lukacs am Konzept der Verdinglichung festhalten, stimmen mit ihren Kontrahenten in der Beschreibung immer mehr iiberein; immer starker sind sie beeindruckt von der Ohnmacht der Subjekte gegeniiber den unbeeinfluBbaren Kreisprozessen selbstbeziiglicher Systeme. Es macht fast keinen Unterschied mehr, ob der eine als negative Totalitat anklagt, was der andere als Kristallisation feiert, ob der eine als Versachlichung denunziert, was der andere als Sachgesetzlichkeit technokratisch festschreibt. Dieser Trend der gese11schaftstheoretischen Zeitdiagnose lauft seit J ahrzehnten auf den Punkt zu, den der Systemfunktionalismus zu seiner Pointe macht: er laBt die Subjekte seIber zu Systemen verwesen. Er besiegelt sprachlos »das Ende des Individuums«, das Adorno noch negativ-dialektisch eingekreist und als selbstverhangtes Schicksal 408
beschworen hatte. N. Luhmann setzt schlicht voraus, daB die Strukturen der Intersubjektivitat zerfallen, die Individuen aus ihrer Lebenswelt herausgelost sind - daB personale und soziale Systeme Umwelten fiireinander bilden. 7 Der barbarische Zustand, den Marx fiir den Fall des Fehlschlagens revolutionarer Praxis vorausgesagt hatte, ist gekennzeichnet durch eine vollstandige Subsumtion der Lebenswelt unter die Imperative eines von Gebrauchswerten und konkreter Arbeit abgekoppelten Verwertungsprozesses. Der Systemfunktionalismus geht ungeriihrt davon aus, daB dieser Zustand bereits eingetreten ist, und zwar nicht nur im Einzugsbereich der kapitalistischen Okonomie, sondern in den Vorhofen aller Funktionssysteme. Die marginalisierte Lebenswelt konnte nur iiberleben, wenn sie sich ihrerseits in ein mediengesteuertes Subsystem verwandelte und die kommunikative Alltagspraxis wie eine Schlangenhaut zuriicklieBe. In seiner Luhmannschen Version tritt der Systemfunktionalismus einerseits das Erbe der Subjektphilosophie an: er ersetzt das selbstbeziigliche Subjekt durch das selbstbeziigliche System; andererseits radikalisiert er Nietzsches Vernunftkritik: mit dem Bezug zur T otalitat der Lebenswelt zieht er jede Art von Vernunftanspruch ein. 8 7 Vgl. unten den Exkurs zu Luhmann S. 426ff. 8 DaB auch Luhmann wie die Vemunftkritiker in der Nachfolge Nietzsches steht, versteht man besser, wenn man die von Nietzsche vollzogene Totalisierung der einfachen Ideologiekritik noch einmal aus einem subjektphilosophischen Blickwinkel nachvollzieht. Dabei ist eine Dberlegung von Dieter Henrich iiber Fiktion und Wahrheit hilfreich. Ausgangspunkt ist der als notwendig konstituierte, nach eigenen Kriterien giiltige, in sich konsequente Vorstellungszusammenhang eines selbstbeziiglich operierenden Erkenntnissubjektes. Dieser »fUr es« rationale Zusam~enhang mag sich »fiir uns«, einen extemen Beobachter, als eine fiktive Welt enthiillen, wenn sie in einem ihr vorausliegenden und unzuganglichen Kontext »nicht als Erkennen, sondem nur als Instrument einer Weise zu wirken beschrieben werden darf.« Der entlarvende Kritiker kann sich freilich von einer fiktiven Welt nur distanzieren indem er sie als einen zwingend konstituierten, von innen nicht kritisierbaren und insofem rationalen 5innzusammenhang best1itigt und sich, wenn nicht diese MaBst1ibe, so doch MaBst1ibe von Rationalit1it iiberhaupt zu eigen macht: »Die kritische Absicht kann nur solange vorherrschen, wie die Rationalit1it in ihrem eigenen Rechtsanspruch am Ende doch unbefangen war. So lange konnte die Kritik der Fiktionen auch als der Weg gelten, auf dem schlieBlich eine fiktionsfreie Vemiinftigkeit heraufzufUhren war. Aber diese Form der Kritik kann sich auch gegen den ganzen Inbegriff
DaB Luhmann den Reflexionsgehalt dieser beiden entgegengesetzten Traditionen ausschopft und Gedankenmotive von Kant und Nietzsche in einem kybernetischen Sprachspiel zusammenfiihrt, kennzeichnet das Niveau, auf dem er die Systemtheorie der Gesellschaft etabliert. Luhmann leitet dieselben Eigenschaften, die Foucault mit Hilfe eines transzendental-historistischen Machtbegriffs den Diskursformationen zugesprochen hatte, auf selbstbeziiglich der Erwartungen kehren, die mit der Rationalitat als solcher verbunden waren ... Sie wird (dann) zu einer neuen Form der rechtfertigenden Begriindung fUr das Fingieren von Fiktionen selber.« (D. Henrich, Versuch iiber Fiktion und Wahrheit, in: Poetik und Hermeneutik, Bd. X, Mii. 1984, Fj) Der totale Ideologiekritiker, der diesen Schritt vorbehalt1os tut, kann sein eigenes Unternehmen nicht mehr naiv als aufWaluheit gerichtet betrachten. Er identifiziert nun das eigene bewuBte Leben mit der Produktivitat und Freiheit einer zugrundeliegenden, Fiktionen schaffenden Lebensmacht. An dieser Stelle verzweigen sich allerdings die Wege. Entweder weitet sich das Geschaft der Kritik aus auf das Ganze einer fiktionsfeindlichen Vernunft, die mit groBer krimineller Energie alles unterdriickt, ausschlieBt und verfemt, was den geschlossenen Kreis ihrer selbstbeziiglichen Subjektivitat unterbrechen und sie zu sich selbst auf Distanz bringen konnte. Fiir diese radikale Vernunftkritik kann Waluheitsgelmng nur noch im Objektbereich auftreten _ sie seiber verschafft sich ihre Beglaubigung aus dem Horizont der Lebenskrafte, die Fiktionen erzeugen, d. h. aus dem asthetischen Erfahrungshorizont. Zu diesem - bis aufDerrida- uneingestandenen Asthetischwerden einer paradox fortgesetzten Kritik bietet sich freilich eine Alternative. Man kann das Denken auf dem Niveau, das mit der zweiten Stufe der Ideologiekritik erreicht ist, in anderer Richmng fortsetzen, sobald man nur die Absicht der Kritik seIber preisgibt. Dann kannsich das Interesse im einzelnen darauf richten, wie sich die Subjekte durch die lebensdienlichen Fiktionen einer jeweils selbstbeziiglich konstimierten Welt in mrer urspriinglichen Produktivitat und Freiheit behaupten. Diese Untersuchung nutzt gleichsam frontal die durch die zweite Reflexion erschlossene »Dimension eines Geschehens, das selbst nur rein faktisch ist, das aber die Eigenschaft hat, zu seiner Kontinuierung der Illusion von Einsicht zu bediirfen.« (D. Henrich [1984], 514) Gegenstand ist nicht langer die fiktionsverneinende Vernunft, sondern die Poiesis der lebenssteigernden Se1bsterhaltung von Subjekten, die mit und von ihren - von der Funktion her nur zu bejahendenFiktionen leben. Das bedeutet zugleich eine funktionaIistische Affirmation der Wahrheitsgeltung, die fiir die Reproduktion sinnhaften Lebens iiberhaupt konstimtiv ist. Genau diese, auf die Erkenntnisperspektive des jeweiligen Subjekts bezogene Wahrheitsge1mng-nicht mehr, aber auch nicht weniger- muB die Theorie selbst in Anspruch nehmen, die sich auf eine solche Erkenntnis der Reproduktion sinnhaften Lebens spezialisiert hat. Die Theorie muB sich eben seiber als Produkt der se1bststeigernden Bestandsicherung eines Subjekts verstehen, das sich nur dank einer fur es giiltigen fiktiven We1treprodu-
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operierende, sinnverarbeitende Systeme iiber.9 Da er mit dem Vernunftbegriff auch die Intention der Vernunftkritik preisgibt, kann er alle Aussagen, die Foucault noch denunziatorisch gemeint hatte, ins Deskriptive wenden. In dieser Hinsicht treibt Luhmann die neokonservative Affirmation der gesellschaftlichen Moderne auf die Spitze, auch auf eine Hohe der Reflexion, wo alles, was die Anwalte der Postmoderne irgend vorbringen konnten, ohne Anklage und differenzierter schon vorgedacht worden ist. Zudem setzt sich der Systemfunktionalismus nicht dem Einwand aus, daB er iiber den eigenen Status keine Rechenschaft geben konne: er plaziert sich ohne Zogern im Wissenschaftssystem und tritt als Theorie mit »fachuniversalem« Anspruch auf. Ebensowenig konnte man ihm eine Tendenz zur Nivellierung vorhalten. Luhmanns Theorie, die heute im Hinblick auf Konzeptualisierungskraft, theoretische Phantasie und Verarbeitungskapazitat unvergleichlich ist, weckt allenfalls Zweifel daran, ob der Preis fiir seine »Abstraktionsgewinne« nicht zu hoch ist. Der unermiidliche ReiBwolf der Rekonzeptualisierung scheidet namlich die »unterkomplexe« Lebenswelt als unverdauliches Residuum aus - also gerade den Phanomenbereich, der das Interesse einer Gesellschaftstheorie auf sich zieht, die noch nicht alle Briicken zu vorwissenschaftlichen Krisenerfahrungen abgebrochen hat. ziert. Der Perspektivismus verliert einen Teil seines Schreckens, wenn wir dabei nicht an ein beliebiges Subjekt denken, sondern an ein hochspezialisiertes, auf Selbsterkennmis dressiertes Erkenntnissubjekt. Das entspricht namlich ungefmr der Se1bstanwendung der Systemtheorie, mit der sich die Gesellschaftstheorie als Leistung eines auf Komplexitatsreduktion angewiesenen Teilsystems der Gesellschaft , re1ativiert. Diesen Zug mt Luhmann. , Luhmann benii~zt die in der Biologie bewmrten Grundbegriffe von Kybernetik und allgemeiner Systemtheorie, urn Kants und Nietzsches Einsichten auf originelle Weise zu kombinieren. Die weltkonstituierenden Leistungen eines transzendentalen Subjekts, das seinen weltenthobenen Stams verloren hat und auf die Smfe empirischer Subjekte herabgesunken ist, werden rekonzepmalisiert als die Leismngen eines sinnhaft selbstbeziiglich operierenden, zurinneren Reprasentation seiner Umweltfahigen Systems. Die Fiktionen schaffende Produktivitat der lebenssteigernden Selbsterhalmng von Subjekten, fiir die die Differenz zwischen Wahrheit und Illusion den Sinn verloren hat, wird rekonzeptualisiert als die Umweltkomplexitat bewaltigende, Eigenkomplexitat steigernde Bestandsicherung eines Sinn benutzenden Systems. (Vgl. unten den Exkurs zu Luhmann S. 426ff.) 9 Darauf hat mich A. Honneth (1985), S. 214ff. aufmerksam gemacht.
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Hinsichtlich der kapitalistischen Okonomie hatte Marx nicht unterschieden zwischen dem neuen Niveau der Systemdifferenzierung, das sich mit einem mediengesteuerten Wirtschaftssystem herausbildet, und den klassenspezifischen Formen seiner Institutionalisierung. Fiir ihn war die Beseitigung der Klassenstrukturen und das Wegschmelzen des systemischen Eigensinns funktional ausdifferenzierter und versachlichter Interaktionsbereiche ein einziges Syndrom. Luhmann begeht einen komplementaren Fehler. Angesichts des neuen Niveaus der Systemdifferenzierung iibersieht er, daB Steuerungsmedien wie Geld und Macht, iiber die sich die Funktionssysteme von der Lebenswelt abheben, wiederum in der Lebenswelt institutionalisiert werden miissen. Deshalb kommen die klassenspezifischen Verteilereffekte einer Verankerung der Medien in Eigentums- und Verfassungsnormen gar nicht erst in den Blick. »Inklusion«, im Sinne des gleichberechtigten Zugangs eines jeden zu allen Funktionssystemen, erscheint so als eine systemnotwendige Folge des Differenzierungsprozesses. 10 Wahrend fiir Marx nach einer erfolgreichen Revolution die systemisch verselbstandigten Funktionszusammenhange einst in Nichts zerrinnen werden, hat fiir Luhmann die Lebenswelt in der funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne bereits jetzt alle Bedeutung verloren. Aus beiden Perspektiven verschwindet jenes In- und Gegeneinander von System- und Lebensweltimperativen, das den zwieschlachtigen Charakter der gesellschaftlichen Modernisierung erklart. Die Paradoxien der gesellschaftlichen Rationalisierung, die ich an anderer Stelle entwickelt habell , lassen sich, iibervereinfacht, so zusammenfassen. Die Rationalisierung der Lebenswelt muBte einen bestimmten Reifegrad erreicht haben, bevor in ihr die Medien Geld und Macht rechtlich institutionalisiert werden konnten. Die beiden, iiber den Horizont der gesamtstaatlichen Ordnung stratifizierter Klassengesellschaften hinauswachsenden Funkticinssysteme der Marktwirtschaft und des Verwaltungsstaates zerstoren zunachst die traditionalen Lebensformen der alteuropaischen Gesellschaft. Die Eigendynamik der beiden miteinander funktional verzahnten Subsysteme wirkt aber in dem MaBe auch auf die sie ermoglichenden 10 N. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, MiL 19 81 , 25 ff. 11 J. Habermas (1981) Bd. II, Kap. 8. 412
rationalisierten Lebensformen der modernen Gesellschaft zuriick, wie Monetarisierungs- und Biirokratisierungsprozesse in die Kernbereiche der kulturellen Reproduktion, sozialen Integration und Sozialisation eindringen. Medienformige Interaktionsformen konnen auf Lebensbereiche, die ihrer Funktion nach auf verstandigungsorientiertes Handeln angewiesen sind, nicht iibergreifen, ohne daB sich pathologische Nebeneffekte einstellen. In den politischen Systemen der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften zeichnen sich die KompromiBstrukturen ab, die sich, historisch gesehen, als Reaktionen der Lebenswelt auf den systemischen Eigensinn und das Komplexitatswachstum von kapitalistischem WirtschaftsprozeB und gewaltmonopolisierendem Staatsapparat begreifen lassen. Diese Entstehungsgeschichte hinterlaBt noch ihre Spuren in den Optionen, die der in die Krise geratene sozialstaatliche KompromiB heute offenlaBtY Die Optionen sind bestimmt durchdie Logik einer an wirtschaftlichen und staatlichen Systemimperativen ausgerichteten Politik. Die beiden mediengesteuerten Subsysteme, die wechselseitig Umwelten fiireinander bilden, sollen sich gleichwohl intelligent aufeinander einstellen - und nicht nur ihre Kosten wechselseitig externalisieren, urn damit ein der Selbstreflexion unfahiges Gesamtsystem zu belasten. Innerhalb des Spielraums einer solchen Politik ist allein die richtig dosierte Aufteilung der Problemlasten zwischen den Subsystemen Staat und Wirtschaft strittig. Die einen sehen die Krisenursachen in der entfesselten Eigendynamik der Wirtschaft, die anderen in den biirokratischen Fesseln, die dieser auferlegt werden. Soziale Bandigung des Kapitalismus oder Riickverlagerung der Probleme von der planenden Verwaltung auf den Markt sind die entsprechenden Therapien. Die eine Seite sieht in der monetarisierten Arbeitskraft, die andere in der biirokratischen Lahmung von Eigeninitiative die Quelle der systemisch induzierten Storungen des Alltags. Aber beide Seiten stimmen darin iiberein, daB die schutzbediirftigen Interaktionsbereiche der Lebenswelt gegeniiberden Motoren der gesellschaftlichen Modernisierung, Staat und Okonomie, nur eine passive Rolle spielen. 12 Vgl. die Analysen von C. Offe, Zu einigen Widerspriichen des modernen Sozialstaates, in: Offe (1983), 323ff.
Inzwischen befinden sich die sozialstaatlichen Legitimisten iiberall auf dem Riickzug, wahrend die Neokonservativen unbekiimmert den Versuch unternehmen, den sozialstaatlichen KompromiB aufzukiindigen - oder wenigstens des sen Bedingungen neu zu definiereno Die Neokonservativen nehmen fiir eine energische Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals Kosten in Kauf, die kurzfristig auf die Lebenswelt der Unterprivilegierten und Ausgegliederten abgewalzt werden konnen, aber auch Risiken, die auf die Gesellschaft im ganzen zuriickschlagen. Es entstehen die neuen Klassenstrukturen einer an den breiter werdenden Randern segmentierten Gesellschaft. Das Wirtschaftswachstum wird durch Innovationsschiibe in Gang gehalten, die zum ersten Mal intentional mit einer auBer Kontrolle geratenen Riistungsspirale verkniipft werden. Gleichzeitig findet der normative Eigensinn rationalisierter Lebenswelten, wie immer auch selektiv, seinen Ausdruck nicht mehr nur in den klassischen Forderungen nach mehr Verteilungsgerechtigkeit, sondern im breiten Spektrum der sogenannten postmateriellen Werte, im Interesse an der Bewahrung natiirlicher Grundlagen und kommunikativer Binnenstrukturen hochdifferenzierter Lebensformen. So entziinden sich zwischen System- und Lebensweltimperativen an neuen Reibungsflachen Konflikte, die in den bestehenden Kompromillstrukturen nicht aufgefangen werden konnen. Heute stellt sich die Frage, ob sich nach den alten Regeln der systemorientierten Politik ein neuer KompromiB einspielen kann - oder ob das auf systemisch verursachte und als systemisch wahrgenommene Krisen eingestellte Krisenmanagement unterlaufen wird durch soziale Bewegungen, die sich nicht mehr am Steuerungsbedarf des Systems, sondern an Grenzverlau/en zwischen System und Lebenswelt orientieren.
IV Mit dieser Frage beriihren wir das andere Moment - die Moglichkeit einer Krisenbewaltigung im GroBformat, fiir die einst die Praxisphilosophie das Mittel der revolutionaren Praxis angeboten . hatte. Wenn die Gesellschaft im ganzen nicht mehr als das hoherstufige Subjekt vorgestellt wird, das sich selbst weiB, bestimmt und . verwirklicht, fehlen die Bahnen der Selbstbeziehung, in die die Revolutionare eintreten konnten, urn fiir das gelahmte Makrosubjekt mit ihm auf es einzuwirken. Ohne ein selbstbeziigliches Makrosubjekt ist so etwas wie eine selbstreflexive Erkenntnis der gesellschaftlichen Totalitat ebensowenig denkbar wie die Einwirkung der Gesellschaft auf sich selbst. Sobald die hoherstufigen Intersubjektivitaten von offentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozessen an die Stelle des hoherstufigen Subjekts der Gesamtgesellschaft treten, verlieren Selbstbeziehungen dieser Art ihren Sinn. Es fragt sich, ob es unter den veranderten Pramissen iiberhaupt noch sinnvoll ist, von einer »Einwirkung der Gesellschaft auf sich selbst« zu sprechen. Selbsteinwirkung erfordert einerseits ein reflexives Zentrum, wo die Gesellschaft in einem ProzeB der Selbstverstandigung ein Wissen von sich selbst ausbildet, andererseits ein exekutives System, das als Teil fiir das Ganze handeln und auf das Ganze einwirken kann. Konnen moderne Gesellschaften diese beiden Bedingungen erfiillen? Von diesen entwirft die Systemtheorie das Bild azentrischer Gesellschaften »ohne Zentralorgane«.13 Ihr zufolge hat sich die Lebenswelt ohne Riickstande in funktional spezifizierte Teilsysterne wie Wirtschaft, Staat, Erziehung, Wissenschaft usw. zersetzt. Diese Systemmonaden, die die ausgedorrten intersubjektiven Verhaltnisse durch funktionale Zusammenhange substituiert haben, verhalten sich symmetrisch zueinander, ohne daB ihr preka'res Gleichgewicht noch gesamtgesellschaftlich reguliert werden konnte. Sie miissen sich gegenseitig balancieren, weil keine der mit ihnen zum Zuge kommenden gesamtgesellschaftlichen Funktionen einen gesamtgesellschaftlichen Primat erlangt. Keines der Teilsysterne konnte die Spitze einer Hierarchie einnehmen und das Ganze 13 Luhmann (1981), 22.
so reprasentieren wie einst in stratifizierten Gesellschaften der Kaiser sein Reich. Moderne Gesellschaften verfiigen nicht mehr iiber eine zentrale Selbstreflexions- und Steuerungsinstanz. Aus der systemtheoretischen Sicht entwickeln allein die Teilsysterne, und zwar im Hinblick auf ihre eigene Funktion, so etwas wie SelbstbewuJ5tsein. Darin spiegelt sich das Ganze nur noch aus der Perspektive des T eilsystems als des sen jeweilige gesellschaftliche Umwelt: »Damit wird ein gesamtgesellschaftlich fungierender Konsens iiber das, was ist und was gilt, schwierig und eigentlich unmoglich; was als Konsens benutzt wird, fungiert in der Form eines anerkannten Provisoriums. Daneben gibt es die eigentlich produktiven funktionsspezifischen Realitatssynthesen auf den Komplexitatsniveaus, die sich einzelne Funktionssysteme je fiir sich leisten konnen, die sich aber nicht mehr zur Gesamtsicht einer Welt im Sinne einer congregatio corporum, einer universitas rerum aufaddieren lassen.«14 Das »Provisorium« erlautert Luhmann in einer FuBnote so: »Es war eine eigentiimliche Entscheidung der Husserlschen Philosophie mit erheblichen Folgewirkungen in soziologischen Diskussionen, dies em Provisorium mit dem Titel >Lebenswelt< die Position einer letztgiiltigen Ausgangsbasis eines konkreten Apriori zu verleihen.« Es sei soziologisch unhaltbar, fiir die Lebenswelt eine Art »Seinsvorrang« zu postulieren. Das Erbe des Husserlschen Apriorismus mag fiir verschiedene Spielarten der Sozialphanomenologie eine Last bedeuten15 ; von den Hypotheken der Transzendentalphilosophie hat sich aber der kommunikationstheoretische Begriff der Lebenswelt freigemacht. Auf ihn wird man schwerlich verzichten konnen, wenn man der Grundtatsache der sprachlichen Vergesellschaftung Rechnung tragen will. Interaktionsteilnehmer konnen koordinationswirksame Sprechakte nicht ausfiihren, ohne allen Beteiligten eine intersubjektiv geteilte, auf die cSprechsituation zulaufende und leibzentrisch verankerte Lebenswelt zu unterstellen. Jede Lebenswelt bildet fiir diejenigen, die in der ersten Person Singular oder Plural verstandigungsorientiert handeln, eine Totalitat von Sinn- und Verweisungszusammenhangen mit einem Nullpunkt im Koordinatensystem der histori14 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Ffm. 1980,33. 15 U. Mathiessen, Das Dickicht der Lebenswelt, Mii. 1984.
schen Zeit, des sozialen Raumes und des semantischen Feldes. Zudem bleiben die verschiedenen Lebenswelten, die aufeinanderprallen, nicht verstandnislos nebeneinander stehen. Ais Totalitaten folgen sie dem Sog ihres Universalitatsanspruchs und arbeiten ihre Differenzen solange aneinander ab, bis die Verstandigungshorizonte, wie Gadamer sagt, miteinander »verschmelzen«. Deshalb behalten auch moderne, weithin dezentrierte Gesellschaften im kommunikativen Alltagshandeln ein virtuelles Zentrum der Selbstverstandigung, von dem aus sogar funktional spezifizierte Handlungssysteme, solange sie iiber den lebensweltlichen Horizont nicht hinauswachsen, in intuitiver Reichweite bleiben. Dieses Zentrum ist freilich auch eine Projektion, aber eine wirksame. Die polyzentrischen, einander zuvorkommenden, sich wechselseitig iiberbietenden und einverleibenden T otalitatsentwiirfe erzeugen konkurrierende Mittelpunkte. Selbst kollektive Identitaten tanzen auf und ab im FluB der Interpretationen und passen wohl eher zu dem Bild eines fragilen Netzwerks als zu dem eines stabilen Zentrums der Selbstreflexion. Immerhin bietet die Alltagspraxis auch in nicht-stratifizierten Gesellschaften, die also nicht mehr in den traditionellen Formen einer reprasentativen Selbstdarstellung iiber ein Wissen von sich selbst verfiigen, einen Ort fiir naturwiichsige Prozesse der Selbstverstandigung und der Identitatsbildung. Auch in modernen Gesellschaften formt sich aus den polyphonen und triiben Totalitatsentwiirfen ein diffuses GemeinbewuBtsein. Dieses laBt sich anhand spezifischer Themen und geordneter Beitrage konzentrieren und klarer artikulieren; in den hoherstufigen und verdichteten Kommunikationsprozessen einer Offentlichkeit gelangt es zu groBerer Klarheit. Kommunikationstechnologien, wie zunachst Buchdruck und Presse, dann Radio und Television, machen AuBerungen fiir beinahe beliebige Kontexte verfiigbar und ermoglichen ein hoch differenziertes Netz von lokalen und iiberregionalen, von literarischen, wissenschaftlichen und politischen, von innerparteilichen oder v~~bandsspezifischen, von medienabhangigen oder subkulturellen Offentlichkeiten. In Offentlichkeiten werden Prozesse der Meinungs- und Willensbildung institutionalisiert, die, so spezialisiert sie sein mogen, auf Diffusion und wechselseitige Durchdrin-
gung angelegt sind. Die Grenzen sind durchHissig; jede bffentlichkeit ist zu anderen bffentlichkeiten hin auch ge6ffnet. Ihren diskursiven Strukturen verdanken sie eine kaum verhohlene universalistische T endenz. Alle T eil6ffentlichkeiten verweisen auf eine umfassende bffentlichkeit, in der die Gesellschaft im ganzen ein Wissen von sich ausbildet.· Die europaische Aufklarung hat diese Erfahrung verarbeitet und in ihre Programmformeln aufgenommen. Was Luhmann den »gesamtgesellschaftlich fungierenden Konsens« nennt, ist kontextabhangig und fallibel- in der Tat provisorisch. Aber es gibt dieses reflexive Wissen der Gesamtgesellschaft. Es verdankt sich nur noch der h6herstufigen Intersubjektivitatvon bffentlichkeiten und kann deshalb den scharfen Kriterien der Selbstreflexion eines h6herstufigen Subjekts nicht mehr geniigen. Ein solches Zentrum derSelbstverstandigung reicht freilichfiir die Einwirkung der Gesellschaftauf sich selbst nicht aus; dazu bediirfte es auch nocheiner zentralen Steuerungsinstanz, die das Wissen und die Impulse der bffentlichkeit aufnehmen und umsetzen k6nnte. N ach den normativen Vorstellungen unserer politischen Tradition solI der deniokratisch legitimierte, der von Fiirsten- auf Volkssouveranitat umgestellte Staatsapparat die Meinung und den Willen des Staatsbiirgerpublikums ausfiihren k6nnen. Die Staatsbiirger selber nehmen an der kollektiven BewuBtseinsbildung teil, kollektiv handeln k6nnen sie nicht. Aber kann das der Staat? »Kollektives Handeln« hieBe doch, daB der Staat das intersubjektiv konstituierte Wissen der Gesellschaft von sich selbst organisatorisch in eine Selbstbestimmung der Gesellschaft umsetzte. An dieser M6glichkeit muB man jedoch, schon aus systemtheoretischen Griinden, zweifeln. Politik ist heute tatsachlich Sache eines funktional ausdifferenzierten Teilsystems geworden; und dieses kann gegeniiber den iibrigen Teilsystemen nicht iiber das MaB an Autonomie verfiigen, das fiir eine zentrale Steuerung, d. h. fiir eine von der Gesellschaft als Totalitat ausgehende und auf diese zuriickgehende Selbsteinwirkung erforderlich ware. Offensichtlich besteht in modernen Gesellschaften eine Asymmetrie zwischen den (schwachen) Fahigkeiten zur intersubjektiven Selbstverstandigung und den (fehlenden) Fahigkeiten zur Selbstor-
ganisation der Gesellschaft im ganzen. Unter den veranderten Pramiss en gibt es fiir das subjektphilosophische Modell der Selbsteinwirkung im allgemeinen und fiir das hege1marxistisch~ Verstandnis revolutionaren Handelns im besonderen kein A.quivalent. Diese Einsicht hat sich breitenwirksam auf dem Riicken einer spezifischen Erfahrung durchgesetzt, die vor allem die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften mit der Verwirklichung des sozialstaatlichen Projektes seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben machen k6nnen. Ich spreche nicht von den 6konomischen Folgeproblemen einer wahrend der Wiederaufbauperiode erfolgreichen sozialstaatlichen Gesetzgebung, nicht von den Grenzen der Interventionsmacht und der Interventionsfahigkeit planender Verwaltungen, iiberhaupt nicht von Steuerungsproblemen. Ich meine vielmehr eine charakteristische Veranderung in der Wahrnehmung demokratisch legitimierter staatlicher Macht, die mit dem Ziel der »sozialen Bandigung« des naturwiichsigen kapitalistischen Wirtschaftssystems, insbesondere mit dem Ziel einer Neutralisierung der zerst6rerischen Nebenfolgen eines krisenhaften Wachstums fiir die Existenz und die Lebenswelt der abhangig Arbeitenden eingesetzt werden muBte. 16 DaB der aktive Staat nicht nur in den Wirtschaftskreislauf, sondern auch in den Lebenskreislauf seiner Biirger eingriff, sahen die Anwalte des Sozialstaates als unproblematisch an - es war ja das Ziel, iiber die reformierten Arbeits- und Beschaftigungsverhaltnisse die Lebensbedingungen der Biirger zu reformieren. Dem lag die Vorstellung der demokratischen Tradition zugrunde, daB die Gesellschaft mit dem neutralen Mittel politischadministrativer Macht auf sich selbst einwirken k6nne. Genau diese Erwartung ist enttauscht worden. Inzwischen iiberzieht ein immer dichteres Netz von Rechtsnormen, von staatlichen und parastaatlichen Biirokratien den Alltag der potentiellen und tatsachlichen Klienten. Ausgedehnte Diskussionen iiber Verrechtlichung und Biirokratisierung im allgemeinen, iiber die kontraprodtiktiven Wirkungen der staatlichen Sozialpolitik im besonderen, iiber Professionalisierung und Verwissenschaftlichung del' sozialen Dienste haben die Aufmerksamkeit auf 16 Ich stiitze mich im folgenden auf den Titelessay in: Uniibersichtlichkeit, Ffm. 1985.
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Habermas, Die Neue
Tatbestande gelenkt, die eines deutlich machen: die rechtlich-administrativen Mittel der Umsetzung sozialstaatlicher Programme stellen kein passives, gleichsam eigenschaftsloses Medium dar. Vielmehr ist mit ihnen eine Praxis der Tatbestandvereinzelung, der Normalisierung und der Dberwachung verkniipft, deren verdinglichende und subjektivierende Gewalt Foucault bis in die feinsten kapillarischen Verastelungen der Alltagskommunikation hinein verfolgt hat. Die Verformungen einer reglementierten, zergliederten, kontrollierten und betreuten Lebenswelt sind gewiB sublimer als die handgreiflichen Formen von materieller Ausbeutung und Verelendung; aber die aufs Psychische und Korperliche abgewalzten und verinnerlichten sozialen Konflikte sind darum nicht weniger destruktiv. Heute sieht man den Widerspruch, der dem sozialstaatlichen Projekt als solchem innewohnt. Sein substantielles Ziel war die Freisetzung von egalitar strukturierten Lebensformen, die zugleich Spielraume fiir individuelle Selbstverwirklichungund Spontaneitat offnen sol1ten; aber mit der Hervorbringung neuer Lebensformen war das Medium Macht iiberfordert. Nachdem sich der Staat zu einem unter mehreren mediengesteuerten Funktionssystemen ausdifferenziert hat, dad er nicht mehr als die zentrale Steuerungsinstanz angesehen werden, in der die Gesellschaft ihreFahigkeiten zur Selbstorganisation zusammenfaBt. Den diffusen, aber noch gesamtgesellschaftlich fokussierten Meinungs- und Willensbildungsprozessen einer allgemeinen bffentlichkeit tritt ein iiber die Horizonte der Lebenswelt hinausgewachsenes und selbstandig gewordenes Funktionssystem gegeniiber, das sich gesamtgesellschaftlichen Perspektiven verschlieBt und seinerseits die Gesamtgesellschaft nur noch aus der Perspektive eines Teilsystems wahrnehmen kann. Der historischen Erniichterung iiber ein biirokratisch geronnenes Sozialstaatsprojekt entspringt ein neuer, gleichsam stereoskopisch verscharfter Blick auf das »Politische«. Neben dem systemischen Eigensinn eines nur zum Scheine zweckrational einsetzbaren Machtmediums wird eine weitere Dimension sichtbar. Die politische bffentlichkeit, in der komplexe Gesellschaften normativ Abstand von sich nehmen und Krisenerfahrungen kollektiv verar420
beiten konnen, gewinnt yom politis chen System einen ahnlichen Abstand wie zuvor yom okonomischen. J enes hat einen ahnlich problematischen, jedenfalls zwieschlachtigen Charakter angenommen wie dieses. Jetzt wird das politische System selbst als Quelle von Steuerungsproblemen, nicht nur als Mittel der Problemlosung wahrgenommen. Was damit zu BewuBtsein kommt, ist die Differenz zwischen Steuerungs-und Verstandigungsproblemen. Sichtbar wird der Unterschied zwischen systemischen Ungleichgewichten und Lebensweltpathologien, also zwischen Storungen der materiellen Reproduktion und Ausfallen in der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt. Erkennbar wird die Differenz zwischen den Defiziten, dieunbeugsame Strukturen der Lebenswelt (iiber Motivations- oder Legitimationsentzug) in der Versorgung des Beschaftigungs- und des Herrschaftssystems hervorrufen konnen, und den Erscheinungen einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative von Funktionssystemen, die ihre Kosten externalisiereno An solchen Phanomenen wiederum zeigt sich, daB Steuerungsund Verstandigungsleistungen Ressourcen darstellen, die nicht in beliebigem Umfang fiireinander substituiert werden konnen. Geld und Macht konnen Solidaritat und Sinn weder kaufen noch erzwingen. Kurzum, das Resultat des Erniichterungsprozesses ist eine neue BewuBtseinslage, in der das Sozialstaatsprojekt gewissermaBen reflexiv wird und sich auf die Zahmung nicht nur der kapitalistischen bkonomie, sondern des Staates selbst richtet. Wenn aber nicht mehr nur der Kapitalismus, sondern auch der interventionistische Staat selbst »sozial gebandigt« werden solI, muB diese Aufgabe neu definiert werden. Das Sozialstaatsprojekt hatte der Planungskapazitat offentlicher Verwaltungen die stimulierende EinfluBnahme auf den Selbststeuerungsmechanismus eines anderen Subsystems zugetraut. Wenn sich diese, hochst indirekt ansetzende »Regulierung« nun auf die staatlichen Organisationsleistungen selbst erstrecken solI, darf der Modus der EinfluBnahme nicht wieder als indirekte Steuerung bestimmt werden; ein neues Steuerungspotential konnte ja nur durch ein weiteres Subsystem bereitgestellt werden. Selbst wenn sich ein derart nachgeschaltetes System ausfindig machen lieBe, wiirde sich nach einem wiederholten Enttauschungs- und Distanzierungsschub abermals das Pro421
und zum selbstorganisierten Gebrauch von KommunikationsmitteIn genutzt wird. Formen der Selbstorganisation verstarken die kollektive Handlungsfahigkeit. Basisnahe Organisationen diirfen freilich die Schwelle zur formal en, zum System verselbstandigten Organisation nicht ii\;>erschreiten.Sonst bezahlen sie den unbestreitbaren Komplexitatsgewinn damit, daB sich die Organisationsziele von den Orientierungen und Einstellungen der Mitglieder losen und stattdessen in die Abhangigkeit von Imperativen der Erhaltung und Erweiterung des Organisationsbestandes geraten. Die Asymmetrie zwischen Selbstreflexions- und Selbstorganisationsfahigkeiten, die wir modernen Gesellschaften im ganzen zugeschrieben haben, wiederholt sich auf der Ebene der Selbstorganisation von Meinungs- und Willensbildungsprozessen. Das muB kein Hindernis sein, wenn man bedenkt, daB die indirekte EinfluBnahme auf einzelne Mechanismen der Selbststeuerung funktional ausdifferenzierter T eilsysteme etwas ganz anderes bedeutet als die zweckorientierte Einwirkung der Gesellschaft auf sich selbst. Die selbstreferentielle Geschlossenheit macht das politische und das wirtschaftliche Funktionssystem gegen Versuche der Intervention, im Sinne unmittelbarer Eingriffe, immun. Dieselbe Eigenschaft macht jedoch die Systeme auch wiederum empfindlich fiir Stimuli, die auf eine Steigerung ihres Vermogens zur Selbstreflexion abzielen, d.h. der Empfindlichkeit fiir die Reaktionen der Umwelt aufihre eigenen Aktivitaten. Selbstorganisierte Offentlichkeiten miiBten die kluge Kombination von Macht und intelligenter Selbstbeschrankung entwickeIn, die erforderlich ist, urn die Selbststeuerungsmechanismen von Staat und Wirtschaft gegeniiber den zweckorientierten Ergebnissen radikaldemokratischer Willensbildung zu sensibilisieren. An die Stelle des Modells der Selbsteinwirkung der Gesellschaft tritt damit das Modell eines von der Lebenswelt unter Kontrolle gehaltenen Grenzkonfliktes zwischen ihr und den beiden an Komplexitat iiberlegenen, nur sehr indirekt beeinfluBbaren Subsystemen, auf deren Leistungen sie gleichwohl angewiesen ist. Autonome Offentlichkeiten konnen ihre Starke allein aus den Ressourcen weitgehend rationalisierter Lebenswelten ziehen. Das gilt vor allem fiir die Kultur, d.h. fiir das Welt- und Selbstdeutungspotential von Wissenschaft und Philosophie, fiir das Aufklarungspo-
blem ergeben, daB sich die lebensweltlichen Krisenwahrnehmungen nicht ohne Rest in systembezogene Probleme der Steuerung iibersetzen .lassen. Stattdessen geht es urn den Aufbau von Hemmschwellen im Austausch zwischen System und Lebenswelt nnd urn den Einbau von Sensoren im Austausch zwischen Lebenswelt und System. Jedenfalls stellen sich Grenzprobleme dieser Art, sobald eine weitgehend rationalisierte Lebenswelt gegen unertraglicheImperative des Beschaftigungssystems oder gegen die penetranten Nebenfolgen einer administrativen Daseinsvorsorge geschiitzt werden soIL Der systemische Bann, den der kapitalistische Arbeitsmarkt iiber die Lebensgeschichteder Arbeitsfahigen, den- das Netz leistender, regulierender und. iiberwachender Behorden iiber die Lebensform der Klienten, den derautonom gewordene nukleare Riistungswettlauf iiber die Lebenserwartung der Volker verhangt, wird nicht dadurch gebrochen, daB die Systeme lernen, besser zu funktioniereno Vielmehr miissen Impulse aus der Lebenswelt in die Selbststeuerung der Funktionssysteme einflieBen konnen. 17 Das erfordert freilich ein verandertes Verhaltnis zwischen autonomen, selbstorganisierten Offentlichkeiten einerseits, den iiber Geld und Macht gesteuerten Handlungsbereichen andererseits, mit anderen Worten: eine neue Gewaltenteilung in der Dimension der gesellschaftlichen Integration.' Die sozialintegrative Gewalt der Solidaritat miiBte sich gegen die systemintegrativen Steuerungsmedien Geld und Macht behaupten konnen. Autonom nenne ich Offentlichkeiten, die nicht yom politischen System zu Zwecken der Legitimationsbeschaffung erzeugt und ausgehalten werden. Die aus den Mikrobereichen der Alltagspraxis naturwUchsig entstehenden Zentren verdichteter Kommunikation konnen sich nur in dem MaBe zu autonomen Offentlichkeiten entfalten und als selbsttragende, hoherstufige Intersubjektivitaten festigen, wie das lebensweltliche Potentialzur Selbstorganisation 17 Die Dberlegungen zu einer »sozietalen Steuerungstheorie« von H. Willke, Entzauberung des Staates, Konigstein 1983, 129ff., sind vor allem deshalb interessant, weil der Autor inkonsequent genug verfahrt, um die wechselseitige Beeinflussung autopoietischer Systerrie nach dem Muster intersubjektiver Verstandigung zu analySleren. 422
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tential streng universalistischer Rechts- und Moralvorstellungen, nicht zuletzt fur die radikalen Erfahrungsgehalte der asthetischen Moderne. DaB heute soziale Bewegungen kulturrevolutionare Zuge annehmen, ist kein Zufall. Allerdings macht sich hier eine strukturelle Schwache bemerkbar, die allen modernen Lebenswelten innewohnt. Soziale Bewegungen empfangen ihre Schubkraft aus der Bedrohung gut ausgepragter kollektiver Identitaten. Obwohl solche Identitaten stets dem Partikularismus einer besonderen Lebensform verhaftet bleiben, mussen sie den normativen Gehalt der Moderne in sich aufnehmen - jenen Fallibilismus, Universalismus und Subjektivismus, der die Kraft und konkrete Gestalt des jeweils Besonderen unterminiert. Der aus der franzoslschen Revolution hervorgegangene demokratische Verfassungs- und Nationalstaat war bisher die einzige, welthistorisch erfolgreiche Identitatsformation, die diese Momente des Allgemeinen und des Besonderen miteinander zwanglos vereinigen konnte. Die kommunistische Partei hat die nationalstaatliche Identitat nicht abzulosen vermocht. Wenn nicht mehr in der Nation, in welchem Boden konnten heute universalistische Wertorientierungen sonst Wurzeln schlagen?18 Die atlantische Wertegemeinschaft, die sich urn die Nato herumkristallisiert, ist kaum mehr als eine Propagandaformel fur Verteidigungsminister. Adenauers und de Gaulles Europa liefert nur den Uberbau zur Basis einer Handelsunion. Als Gegenbild zu dies em Europa des Gemeinsamen Marktes entwerfen in jungster Zeit linke Intellektuelle ein ganz anderes Design. Der Traum von dieser ganz anderen europaischen Identitat, die entschieden das Erbe des okzidentalen Rationalismus in sich aufnimmt, formt sich zu einem Zeitpunkt, da sich die Vereinigten Staaten unter der Flagge einer »zweiten amerikanischen Revolution« anschicken, in die Illusionen des Friihmodernismus zuriickzufallen. In den Ordnungsutopien der alten Staatsromane sind die vernunftigen Lebensformen mit der technischen Beherrschung der Natur und einer rucksichtslosen Mobilisierung der gesellschaftlichen Arbeitskraft eine trugerische Symbiose eihgegangen. Diese
Gleichsetzung von Gluck und Emanzipation mit Macht und Produktion hat das Selbstverstandnis der Moderne von Anbeginn irritiert - und zweihundert Jahre Kritik an der Moderne auf den Plan gerufen. Aber dieselbe, im schlechten Sinne utopische Herrschaftsgebarde lebt jetzt fort in einer Karikatur, die die Massen bewegt. Die science fiction yom Krieg der Sterne ist den Ideologieplanern gerade gut genug, urn mit der makabren Vision eines militarisierten Weltraums den Innovationsschub auszulosen, der den KoloB des weltweiten Kapitalismus fur die nachste T echnologierunde auf die Beine bringt. Zu einer neuen Identitat wird das alte Europa nur dann finden, wenn es dies em KurzschluB aus Wirtschaftswachstum, Rustungswettlauf und »alten Werten« die Vision eines Ausbruchs aus den selbstverhangten systemischen Zwangen entgegensetzt, wenn es der Konfusion ein Ende setzt, als konne der in rationalisierten Lebenswelten gespeicherte normative Gehalt der Moderne einzig in immer komplexer werdenden Systemen entbunden werden. DaB die internationale Wettbewerbsfahigkeit - auf den. Markten oder im Weltraum - furs pure Uberleben unverzichtbar sei, ist eine von den AlltagsgewiBheiten, in denen sich die systemischen Zwange kondensieren. Jeder rechtfertigt Expansion und Intensivierung der eigenen Krafte mit der Expansion und Intensivierung der Krafte des anderen so, als waren es nicht die sozial-darwinistischen Spielregeln, die dem Kraftespiel zugrunde liegen. Das moderne Europa hat die geistigen Voraussetzungen und die materiellen Grundlagen fur eine Welt geschaffen, in der diese Mentalitat den Platz der Vernunft eingenommen hat - das ist der wahre Kern der seit Nietzsche geubten Vernunftkritik. Wer anders als Europa konnte aus eigenen Traditionen die Einsicht, die Energie, den Mut zur Vision schopfen - alles das, was notig ware, urn den langst nicht mehr metaphysischen, den metabiologischen Pramissen eines erblindeten Zwangs zur Systemerhaltung und Systemsteigerung die mentalitatsbildende Kraft zu nehmen?
18 Vgl. J. Habermas, Konnen komplexe Gesellschaften eine verniinftige Identitat ausbilden?, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Ffm. 1976,9 2ft
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Exkurs zu Luhmanns systemtheoretischer Aneignung der subjektphilosophischen Erbmasse N. Luhmann hat den »GrundriB« zu einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft vorgelegt. 19 Damit zieht er die Zwischenbilanz aus einer raumgreifenden und uber Jahrzehnte anhaltenden Theorieexpansion, so daB das Projekt nun im ganzen uberschaubar wird. Man glaubt jedenfalls, besser zu verstehen, was da vor sich geht. Luhmanns Unternehmung sucht AnschluB weniger an die fachliche Tradition der Gesellschaftstheorie von Comte bis Parsons als vielmehr an die Problemgeschichte der BewuBtseinsphilosophie von Kant bis Husserl. Diese Systemtheorie fuhrt nicht etwa die Soziologie auf den sicheren Pfad der Wissenschaft, sie pr~sentier~ sic~ vie~ mehr als der N achfolger einer verabschiedeten Phllosophle. Sle wIll Grundbegriffe und Problemstellungen der Subjektphilosophie beerben und zugleich deren Problemlosungskapazitat uberbieten. Dabei vollzieht sie einen Perspektivenwechsel, der die Selbstkritik einer mit sich zerfallenen Moderne gegenstandslos macht. Die auf sich selbst angewendete Systemtheorie der Gesellschaft kann gar nicht umhin, sich auf die Komplexitatssteigerung moderner Gesellschaften affirmativ einzustellen. Mich interessiert nun, ob mit dieser distanziert vollzogenen U mwidmung des subjektphilosophischen Erbes auch solche Probleme des Erblassers auf die Systemtheorie ubergehen, die seit Hegels T od die erorterten Zweifel an der subjektzentrierten Vernunft als dem Prinzip der Moderne hervorgerufen haben.20
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Wenn man den in kybernetischen und biologischen Zusammenhangen entwickelten Systembegriff ohne Niveauverlust fur den von 19 N. Luhmann, Soziale Systeme, Ffm. 19 84. 20 Als Leidgewohnter weiB ich natiirlich, daB man dem Reichtum einer Theorie, wenn man sie unter einem einzigen Aspekt forsch anschneidet, nicht gerecht wird aber allein unter diesem Aspekt ist sie in unserem Zusammenhang von Interesse.
Descartes bis Kant entwickelten Begriff des Erkenntnissubjektes einsetzen mochte, mussen folgende Umdispositionen vorgenommen werden. An die Stelle der Innen-AuBen-Beziehung zwischen dem erkennendem Subjekt und der Welt - als der Gesamtheit erkennbarer Gegenstande - tritt die System-Umwelt-Beziehung. Fur die BewuBtseinsleistungen des ,Subjekts haben Welt- und Selbsterkenntnis das Bezugsproblem gebildet. J etzt wird dieses Problem dem der Erhaltung und Erweiterung des Systembestandes untergeordnet. Die Selbstbezuglichkeit des Systems ist der des Subjekts nachgebildet. Systeme konnen sich nicht auf anderes beziehen, ohne sich auf sich selbst zu beziehen und sich ihrer reflexiv zu versichern. Allerdings unterscheidet sich das »Selbst« des Systems von dem des Subjekts, weil es sich nicht zu dem »Ich« des apperzeptiven »Ich denke« verdichtet, das nach Kants Formulierung alle meine Vorstellungen muB begleiten konnen. Die Systemtheorie muB yom »Selbst« des Selbstbezuges alle Konnotationen einer durch synthetische Leistungen hergestellten Identitat des SelbstbewuBtseins fernhalten. Selbstbezuglichkeit kennzeichnet die einzelnen Systemleistungen in ihrem Operationsmodus; aber aus den punktuellen Selbstbeziehungen geht kein Zentrum hervor, worin sich das System als ganzes fur sich selbst prasent macht und von sich in der Form des SelbstbewuBtseins weill. Auf diese Weise wird der Begriff der Reflexivitat von dem des BewuBtseins abgelost. Dann bedarf es freilich eines Aquivalents fur das BewuBtseinssubstrat jener Selbstbezuglichkeit, durch die sich die Stufe des soziokulturellen Lebens auszeichnet. Als emergente Errungenschaft, die dem BewuBtsein entspricht, fuhrt Luhmann ein eigentumliches Konzept von »Sinn« ein. Dabei bedient er sich der phanomenologischen Beschreibungen Husserls, fur den die Bedeutung eines symbolischen Ausdrucks auf eine zugrundeliegende Intention verweist; »Intention« ist gegenuber »Bedeutung« der primitivere Begriff. Entsprechend definiert Luhmann »Sinn« vorsprachlich als einen auf die Intentionalitat von Erleben und Handeln bezogenen Verweisungszusammenhang von aktualisierbaren Moglichkeiten. An die Stelle selbstbewuBtseinsfahiger Subjekte treten mithin sinnverarbeitende oder sinnbenutzende Systeme. Aus dieser Begriffssubstitution, die bewuBtseinsphilosophische
Denkfiguren in der Form struktureller Analogien beibehalt, ergeben sich, vor dem Hintergrund der Denkbewegung von Kant uber Hegel bis Marx, aufschluBreiche Konsequenzen. Die erste betrifft die empiristische Umwendung des transzendental-philosophischen Ansatzes. Zwar wird die System-Umwelt-Beziehung durchaus nach dem Vorbild einer durchs transzendentale BewuBtsein konstituierten Welt gedacht. Indem sich das System von seiner Umwelt abgrenzt, konstituiert es diese als einen fur es universalen Sinnhorizont. Aber sinnverarbeitende Systeme treten nur im Plural auf; sie entstehen und erhalten sich unter den kontingenten Randbedingungen einer uberkomplexen Umwelt und sind nicht wie empirische Subjekte in der Einheitsform eines transzendentalen BewuBtseins uberhaupt vorgangig harmonisiert. An die Stelle der einen, transzendental begriindeten Welt, treten die vielen systemrelativen Umwelten. 21 Der Systemtheoretiker findet mannigfache SystemUmwelt-Beziehungen in seinem Objektbereich vor. Insofern verliert fur ihn die Unterscheidung zwischen Transzendentalem und Empirischem ihre Bedeutung. Mit dieser Entscheidung uberschreitet zweitens die Systemtheorie, in ahnlicher Weise wie seinerzeit Hegel, die Grenzen des subjektiyen Idealismus. Hegel hatte sich nicht nur zur zeitlichen Dimension der Entstehungsgeschichte des transzendentalen Subjekts Zugang verschafft; er hatte die Grundstruktur des SelbstbewuBtseins auch jenseits des erkennenden Subjekts im Bereich des objektiven (und des absoluten) Geistes verkorpert gesehen. Nicht nur der subjektive Geist ist durch Zuge der Subjektivitat ausgezeichnet, sondern auch der objektive (und der absolute). Wie Hegel mit dem Begriff des Geistes, so gewinnt Luhmann mit dem Begriff des sinnverarbeitenden Systems die Bewegungsfreiheit, urn die Gesellschaft als soziales System einer ahnlichen Untersuchung zu unterziehen wie das BewuBtsein als psychisches System. Sinnverarbeitende Systeme decken sich so wenig mit bewuBtseinsabhangigen Systemen wie Geist mit subjektivem Geist. Andererseits erfordern die empiristischen Pramissen einen deutlichen Trennungsstrich zwischen systeminternen Ereignissen und solchen in der Systemumwelt. Des21 »Jedes selbstreferentielle System hat nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermoglicht, und keine Umwelt an sich« (N. Luhmann [1984],146).
halb bilden alle Systeme fureinande'r Umwelten und verstarken wechselseitig die Umweltkomplexitat, die sie jeweils bewaltigen mussen. Sie konnen sich nicht wie Subjekte untereinander zu Aggregaten hoherstufiger Systeme verbinden; noch sind sie als Momente in eine solche T otalitat von vornherein eingebettet. In dieser Hinsicht vollzieht also die S}'istemtheorie den Schritt yom subjektiven zum objektiven Idealismus nicht nacho Eine Parallele ergibt sich aber drittens zu Marx, der »SelbstbewuBtsein« durch »Praxis« ersetzt und dem BildungsprozeB des Geistes eine naturalistische Wendung gegeben hatte. Gesellschaftliche Arbeit sollte den StoffwechselprozeB zwischen der »Gattung« und der auBeren, zur Umwelt objektivierten Natur vermitteln. So konnte der KreisprozeB, der von der Verausgabung der Arbeitskraft ausgeht und uber die Produktion und den Verbrauch der produzierten Guter in die Regeneration der Arbeitskraft zuruckkehrt, als reproduktive Selbsterzeugung der Gattung vorgestellt werden. Diesen behandelt die Systemtheorie als einen speziellen Fall von Autopoiesis. Was Marx zufolge fur die materielle Reproduktion der Gesellschaft galt, gilt fur selbstbezugliche Systeme im allgemeinen; jedes im System verwendete Element muB durch dieses System selbst erzeugt werden und kann nicht aus dessen Umwelt »gebrauchsfertig« ubernommen werden. Die Selbstbezuglichkeit der Operationen sinnverarbeitender Systeme hat in erster Linie den praktischen Sinn der Selbsterzeugung, nicht den theoretischen Sinn der Selbstvergegenwartigung. Unter dieser Pramisse teilt die Systemtheorie mit der marxistischen Gesellschaftstheorie auch die Reflexion auf den eigenen Entstehungs- und Verwendungszusammenhang. Die systemtheoretische Erkenntnisleistung reflektiert sich als Bestandteil und Funktion der gesellschaftlichen Prozesse, auf die sie sich zugleich als ihren Gegenstand richtet. Dabei halt allerdings die Marxsche Theorie an einem Vernunftbegriff fest, der es ihr erlaubt, den internen Zusammenhang von Selbstreflexion und Wahrheitsgeltung mit einer Emanzipation von den Gewalten auBerer und innererNatur herzustellen.22 Die Systemtheorie laBt Erkenntnisakte, auch die eigenen, in einer komplexitatsbewaltigenden Systemleistung aufgehen und 22
J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Ffm. 1968, 59ff.
nimmt damit der Erkenntnis jedes Moment von Unbedingtheit. Die Systemtheorie versteht sich als funktionale Analyse und weiB sich dank des mit dieser Methode gewahlten Bezugsproblems nahtlos eingelassen in die Funktionszusammenhange der systemischen Selbstbehauptung - ohne die Absicht und die Kraft, diese Zusammenhange irgend zu transzendieren. 23 Die philosophisch reflektierte Umstellungauf das Systemparadigma hat viertens eine weitreichende Revision der auf Sein, Denken und Wahrheit fixierten Begrifflichkeit der abendlandischen Tradition zur Folge. Der nicht-,ontologische Bezugsrahmen wird deutlich, wenn man sich klar macht, daB sich die systemtheoretische Forschung selbst als ein Subsystem (des Wissenschafts- und des Gesellschaftssystems) mit eigener Umwelt begreift. In dieser U mwelt bilden die angetroffenen System-U mwelt-Beziehungen die Komplexitat, die die Systemtheorie erfassen und bearbeiten muB. Damit werden die ontologischen Pramissen einer sich selbst tragenden Welt des rational geordneten Seienden ebenso wie die epistemologischen Pramissen einer auf Erk~nntnissubjekte bezogenen W celt vorstellbarer Objekte oder diesemantischen Pramissen einer auf assertorische Satze bezogenen Welt existierender Sachverhalte auf einen Schlag entwertet. AIle, Pramissen, die in Metaphysik, Erkenntnistheorie oder Sprachanalyse die Nichthintergehbarkeit einer kosmischen Ordnung, der Subjekt-Objekt-Beziehung oder der Relation zwischen Satzen und Sachverhalten postulieren, werden undiskutiert beiseitegeschoben. Luhmanns Systemtheorie vollzieht eine Denkbewegung von der Metaphysik zur Metabiologie. Wie zufallig der Ausdruck ),Metaphysik« entstanden sein mag, man konnte ihm die Bedeutung eines Denkens beilegen, das yom »Fiiruns« der physischen Erscheinungen ausgeht und hinter diese zuriickfragt. »Metabiologisch« konnen wir dann ein Denken nennen, das yom »Fiir-sich« des organischen Leben aus - und hinter es zuriickgeht, ich meine das kybernetisch beschriebene Grundphanomen der Selbstbehauptung selbstbeziiglicher Systeme gegeniiber einer iiberkomplexen Umwelt. Die yom System selbst aufrechterhaltene Differenz zur Umwelt 23 In dieser Hinsicht folgt Luhmann Nietzsche und nicht der Suhjektphilosophie, vgl. ohen S. 409, FuBnote 8.
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wird als Nichthintergehbares angesetzt. Die selbststeigernde Selbsterhaltung des Systems ersetzt die im Hinblick auf Sein, Denken oder Aussage bestimmte Vernunft. Mit dies em Ansatz iiberholt Luhmann auch eine Vernunftkritik, die die Macht der Selbstbehauptung als das latente Wesen einer aufs Subjekt zentrierten Vernunft entlarven will. Unter dem Namen der Systemrationalitat bekennt sich die als unverniinftig liquidierte Vernunft zu genau dieser Funktion: sie ist das Ensemble der Ermoglichungsbedingungen fiir Systemerhaltung. Die funktionalistische Vernunft spricht sich im ironischen Selbstdementi einer auf Komplexitatsreduktion geschrumpften Vernunft aus. Geschrumpft deshalb, weil der metabiologische Bezugsrahmen die logozentrische Beschrankung von Metaphysik, Transzendentalphilosophie und Semantik nicht - wie die Kommunikationstheorie mit ihrem aus Sprachfunktionen und Geltungsanspriichen entwickelten Begriff der kommunikativen Vernunft - iiberbietet, sondern unterlauft. Vernunft wird wieder einmal zum Dberbau des Lebens. Daran wird nichts geandert durch die Promotion des »Lebens« zum Organisationsniveau von »Sinn«. Denn mit dem funktionalistisch gefaBten Sinnbegriff wird, wie.wir sehen werden, der interne Zusammenhang von Bedeutung und Geltung aufgelost. Es ist wie bei Foucault: an Wahrheit (und Geltung iiberhaupt) interessieren nur noch die Effekte des Fiir-wahr-Haltens. SchlieBlich hat der Dbergang yom Subjekt zum System noch eine funfte Konsequenz, die in unserem Zusammenhang relevant ist. Mit dem Subjektbegriff wird jeder moglichen Selbstbeziehung ein im Sich-Wissen konstituiertes Selbst zugeschrieben. Auch der Selbstbestimmung und der Selbstverwirklichung wohnt jene zentripetale Kraft inne, die alle Bewegungen des Geistes allein im SelbstbewuBtsein kulminieren und zur Ruhe kommen laBt. Sob aId indessen das System die Stelle des »Selbst« in der Selbstbeziehung einnimmt, entfalltdie Moglichkeit einer zentrierenden Zusammenfassung des Ganzen im Sich-Wissen; die Struktur der Selbstbeziehung haftet nur noch am einzelnen Element. Sie sichert die Geschlossenheit des zugleich zur Umwelt geoffneten Systems nicht iiber ein Zentrum, sondern iiber Anschliisse an der Peripherie: »Das Selbst der Selbstreferenz ist nie die Totalitat eines geschlosse43 1
nen Systems, und es ist nie das Referieren selbst« - die von Hegel zum Absoluten erhobene Selbstvermittlung - »Es geht immer nur urn Momente des Konstitutionszusammenhanges offener Systeme, die des sen Autopoiesis tragen ... Die Berechtigung, hier von (partieller oder mitlaufender) Selbstreferenz zu sprechen, folgt daraus, daB es sich urn die Bedingungen der Moglichkeit autopoietischer Selbstproduktion handelt.« (630) Diese Selbst-Iosigkeit selbstbeziiglicher Systeme spiegelt sich nun im azentrischen Charakter der Gesellschaften, die sich im ganzen auf funktionale Differenzierung umgestellt haben: »Das hat zur Folge, daB sich kein Standpunkt mehr festlegen laBt, von dem aus das Ganze, mag man es nun Staat oder Gesellschaft nennen, richtig beobachtet werden kann.« (ebd.) Die Einheit moderner Gesellschaften stellt sich aus den Perspektiven ihrer Teilsysteme jeweils anders dar. Die Zentralperspektive eines gesamtgesellschaftlichen SystemselbstbewuBtseins darf es schon aus analytischen Griinden nicht mehr geben. Wenn aber moderne Gesellschaften gar\p.icht die Moglichkeit haben, eine verniinftige 1dentitat auszubilden., fehlt jeder Bezugspunkt fiir eine Kritik an der Moderne. Selbst wenn man richtungslos an dieser Kritik festhalten wollte, miiBte sie an der Realitat eines gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses scheitern, der iiber die alteuropaischen Vernunft\onzepte langst hinweggeschritten ist. Freilich begegnet gerade in Luhmanns Pathos, in dies em mit den institutionalisierten Teilrationalitaten verbiindeten Realitatssinn ein sehr deutsches, von den skeptisch gewordenen Rechtshegelianern bis zu Gehlen mitgefiihrtes Erbe. Blicken wir noch einmal zuriick. Weil die subjektphilosophisch gedachte Selbstbeziehung die 1dentitat des sich-wissenden Subjekts als obersten Bezugspunkt voraussetzt, kann sich die Denkbewegung von Kant bis Hegel auf eine innere Logik berufen: am Ende fordert auch noch die Differenz zwischen der einheitsstiftenden Synthesis und dem unter ihr befaBten Mannigfaltigen eine letzte, 1dentitat und Nicht-1dentitat umgreifende 1dentitat. Das war das Thema der Hegelschen Differenzschrift. Aus derselben begrifflichen Perspektive hatte Hegel die Grunderfahrung der kulturellen und der gesellschaftlichen Moderne verarbeitet - sowohl die Uberforderung der sozialintegrativen 43 2
Leistungsfahigkeit alteuropaischer Lebenswelten durch die Religionskritik der Aufklarung, wie auch die Aufdringlichkeit der systemisch versachlichten Sozialbeziehungen in der kapitalistischen Wirtschaft und im biirokratischen Staat. DaB die Vernunft in die sozialintegrative Rolle der Religion eintreten sollte - dieses Grundmotiv der Versohnungsphilosophie erwuchs gleichzeitig aus einer zeitgenossischen Krisenerfahrung und aus jener im subjektphilosophischen Denken angelegten Tendenz. Die Zeitdiagnose verdankte ihre besondere Problemfassung einer Dialektik der Vergegenstandlichung, die im subjektphilosophischen Begriff des SelbstbewuBtseins angelegt war und zuerst von Fichte bearbeitet worden ist. Weil die Selbstreflexion etwas zum Gegenstand machen muB, was sich als der spontane Quell aller Subjektivitat der Form von Gegenstanden iiberhaupt entzieht, darf die versohnende Vernunft nicht nach dem Modell der vergegenstandlichenden Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts, also nicht »reflexionsphilosophisch« begriffen werden. Sonst wiirde ein endliches Vermogen absolut gesetzt und der Platz der Vernunft durch den vergotzten Verstand usurpiert. Nach diesem Modell hat Hegel die Abstraktionen des geistigen und des gesellschaftlichen Lebens als etwas »Positives« begriffen. Sie sollten allein auf dem Wege der radikalisierten Selbstreflexion iiberwunden werden konnen - durch eine Bewegung, die im absoluten Wissen, im Sich-Wissen des Ganzen ihr Telos besaB. Weil mit der Umstellung yom Subjekt aufs System das »Selbst« der Selbstbeziehung entfallt, verfiigt aber die Systemtheorie iiber keine Denkfigur, die dem verletzenden und unterdriickenden Akt der Verdinglichung korrespondiert. 1m subjektphilosophischen Begriff der Selbstbeziehung ist Verdinglichung von Subjektivitat als Fehlermoglichkeit strukturell angelegt. Ein vergleichbarer Kategorienfehler konnte hier darin liegen, daB ein System sich selbst als Umwelt miBverstiinde; aber diese Moglichkeit ist durch Definition ausgeschlossen. Auch die Ausgrenzungsprozesse, die mit jeder Systembildung verbunden sind, konnen nicht mit den Konnotationen von »AusschluB« oder gar »Verfemung« belegt werden. Es ist ein ganz normaler Vorgang, daB ein System, indem es sich formiert, etwas als seine Umwelt auf Distanz bringt. Geschichtlich betrachtet, haben sich die Durchsetzung des Lohnarbeiterstatus und die 433
Entstehung eines industriellen Proletariats, hat sich die Erfassung der Bevolkerung durch zentralisierte Verwaltungen ja keineswegs schmerzlos vollzogen. Aber die Systemtheorie miiBte, selbst wenn sie solche Vorgange auf Problemformeln bringen konnte, modernen Gesellschaften die Moglichkeit einer Krisenwahrnehmung, die nicht sogleich auf die Perspektive eines speziellen T eilsystems zuriickgeschraubt wiirde, bestreiten. Wenn funktional ausdifferenzierte Gesellschaften iiber keine Identitat verfiigen, konnen sie auch keine verniinftige Identitat ausbilden: »Gesellschaftliche Rationalitat wiirde erfordern, daB die durch Gesellschaft ausgelosten Umweltprobleme, soweit sie die Gesellschaft riickbetreffen, im Gesellschaftssystem abgebildet, das heiBt in den gesellschaftlichen KommunikationsprozeB eingebracht werden. Dies kann in begrenztem Umfang in den einzelnen Funktionssystemen geschehen - so wenn Mediziner die durch sie selbst verursachten Krankheiten wieder zu Gesicht bekommen. Typischer ist jedoch, daB ein Funktionssystem iiber die Umwelt andere Funktionssysteme belastet. Vor allem fehlt aber ein gesellschaftliches Subsystem fiir die Wahrnehmung von Umweltinterdependenzen. Ein solches kann es bei funktionaler Differenzierung nicht geben; denn das hieBe, daB die Gesellschaft selbst in der Gesellschaft nochmals vorkommt. Das Differenzierungsprinzip macht die Rationalitatsfrage zugleich dringlicher - und unlosbarer.« (645) Nicht ohne Hohn lehnt Luhmann die einschlagigen Losungsversuche der Subjektphilosophie ab: »Schlichte Gemiiter wollen hier mit Ethik gegen angehen. Nicht viel besser Hegels Staat. Und nicht besser die Marxsche Hoffnung auf Revolution.« (599) Wir haben oben (in Vorlesung XII) die Griinde erortert, die gegen die subjektphilosophische Konstruktion eines gesamtgesellschaftlichen BewuBtseins sprechen. Wenn die Individuen als Teile dem hoherstufigen Subjekt der Gesellschaft als Ganzem ein- und untergeordnet werden, entsteht ein Nullsummenspiel, in dem moderne Phanomene wie die wachsenden Bewegungsspielraume und Freiheitsgrade der Individuen nicht richtig untergebracht werden konnen. Schwierigkeiten bereitet auch ein gesamtgesellschaftliches BewuBtsein, das als die Selbstreflexion eines GroBsubjektes vorgestellt wird. In differenzierten Gesellschaften kommt eine an434
spruchsvolle, auf die T otalitat der Gesellschaft gerichtete Erkenntnis allenfalls in spezialisierten Wissenssystemen zustande, nicht aber im Zentrum der Gesellschaft als ein Wissen der ganzen Gesellschaft von sich selbst. Allerdings haben wir eine alternative Begriffsstrategie kennengelernt, die uns davor bewahrt, das Konzept einer Selbstreprasentation der Gesellschaft iiberhaupt fallenlassen zu miissen. Offentlichkeiten lassen sich als hoherstufige Intersubjektivitaten begreifen. In ihnen konnen sich identitatsbildende kollektive Selbstzuschreibungen artikulieren. Und in der hoher aggregierten Offentlichkeit auch ein gesamtgesellschaftliches BewuBtsein. Dieses braucht dann nicht mehr den Prazisionsforderungen zu geniigen, die die Subjektphilosophie ans SelbstbewuBtsein stellen muB. Es ist weder die Philosophie noch die Gesellschaftstheorie, in der sich das Wissen der Gesellschaft von sich selbst konzentriert. Durch dieses wie immer auch diffuse und in sich kontroverse GemeinbewuBtsein kann die Gesamtgesellschaft normativ Abstand zu sich selbst gewinnen und auf Krisenwahrnehmungen reagieren, also genau das leisten, was Luhmann ihr als sinnvolle Moglichkeit bestreitet: »Was es bedeuten wiirde, wenn die moderne Gesellschaft sich auf ihre Rationalitat hin befragen wiirde« ist fiir Luhmann klar; mit jedem Reflexionsschritt wiirde »die Rationalitatsfrage zugleich dringlicherund unlosbarer«. Deshalb sollte sie gar nicht gestelltwerden: »Der ProblemaufriB der Rationalitat besagt nicht, daB die Gesellschaft Probleme dieses Formats losen miiBte, urn ihr Dberleben zu sichern. Fiirs Dberleben geniigt Evolution.« (654) Die hoch aggregierten, offentlich kondensierten, aber lebensweltnahen Meinungs- und Willensbildungsprozesse verraten die enge Verschrankung von Vergesellschaftung und Individuierung, Ichund Gruppenidentitaten. Luhmann, dem das Konzept der sprachlich erzeugten Intersubjektivitat nicht zur Verfiigung steht, kann sich solche internen Verzahnungen nur nach dem Inklusionsmodell der im Ganzen enthaltenen Teile vorstellen. Diese Denkfigur halt er fiir »humanistisch«24, und davon distanziert e"r sich. Gerade die 24 Luhmann betont, »daB fUr die humanistische Tradition der Mensch innerhalb und nicht auBerhalb der sozialen Ordnung stand. Er galt als Bestandteil der sozialen Ordnung, als Element der Gesellschaft seiber. Wenn er Individuum genannt wurde,
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begriffstechnische Nahe zur Subjektphilosophie legt es ja, wie das Beispiel von Parsons zeigt, nahe, das klassische Modell einfach nachzubilden und das soziale System (bei Parsons: das Handlungssystem) als das Ganze anzusetzen, das die psychischen Systeme als Teilsysteme enthalt. Damit wiirden aber die an der Subjektphilosophie mit Recht geriigten Mangel auf die Systemtheorie iibergehen. Deshalb entschlieBt sich Luhmann zu einer Losung, iiber deren theoriestrategische Tragweite er sich im klaren ist: »Sieht man den Menschen als T eil der U mwelt der Gesellschaft an (statt als T eil der Gesellschaft selbst), andert das die Pramissen aller Fragestellungen der Tradition, also auch die Pdmissen des klassischen Humanismus« (288). Und umgekehrt: »Wer an diese(n) Pdmisse(n) festhalt und mit (ihnen) ein Humanitatsanliegen zu vertreten sucht, muB deshalb als Gegner des Universalitatsanspruchs der Systemtheorie auftreten.« (92) 25 T atsachlich richtet sich dieser methodische Antihumanismus nicht gegen eine verfehlte, weil konkretistische Teile ins Ganze einschlieBenden Denkfigur, sondern gegen ein »Humanitatsanliegen«, das auch ohne den Konkretismus yom Ganzen und seinen Teilen auskommen konnte; ich meine das »Anliegen«, die moderne Gesellschaft so zu konzeptualisieren, daB fiir sie die Moglichkeit, im ganzen normativ Abstand von sich zu nehmen und in den hoherstufigen Kommunikationsprozessen der Offentlichkeit Krisenwahrnehmungen zu verarbeiten, nicht schon durch die Wahl der Grundbegriffe negativ prajudiziert wird. Das Konstrukt einer Offentlichkeit, die diese Funktion erfiillen konnte, findet freilich keinen Platz mehr, sobald kommunikatives Handeln und intersubjektiv geteilte Lebenswelt zwischen Systemtypen hindurchrutschen, die, wie das psychische und das soziale System, fiireinander Umwelten bilden und nur mehr externe Beziehungen zueinander unterhalten.
so deshalb, wei! er fiir die Gesellschaft ein nicht weiter auflosbares Letztelement war.« (Luhmann [1984], 286) 25 Affekte eines normativen Antihumanismus, wie sie Gehlens Werk gepragt haben, fehlen bei Luhmann fast ganz.
II Der AktenfluB zwischen Ministerialbehorden und das monadisch eingekapselte BewuBtsein eines Robinson liefern die Leitvorstellungen fiir die begriffliche Entkoppelung von sozialem und psychischem System, wobei das eine allein auf Kommunikation und das andere allein auf BewuBtsein basiert sein soll.26 In dieser abstrakten Trennung von psychischem und sozialem System setzt sich auch ein Erbe der Subjektphilosophie durch: die Subjekt-Objekt-Beziehung bietet ebensowenig wie die SystemUmwelt-Beziehung konzeptuelle Anschliisse an die genuin sprachliche Intersubjektivitat von Einverstandnis und kommunikativ geteiltem Sinn. Luhmann schwankt allerdings zwischen dem Aufbau der Intersubjektivitat aus der Verschrankung subjektverhafteter Einzelperspektiven - einer evolutionstheoretischen Abwandlung der von Fichte bis Husserl durchgefiihrten subjektphilosophischen Losungen - und andererseits der evolutionaren Gleichurspriinglichkeit von individuellem BewuBtsein und selbsttragendem PerspektivensystemP 26 Luhmann (1984), 142: »Sinn kann sich in eine Sequenz einfiigen, die am korperlichen Lebensgefiihl festgemacht ist und dann als BewuBtsein erscheint. Sinn kann sich aber auch in eine Sequenz einfiigen, die das Verstehen anderer involviert und dann als Kommunikation erscheint«. 27 An mehreren Stellen geht Luhmann davon aus, daB psychische Systeme in der . evolutionaren Reihe einen Platz zwischen organischen und sozialen Systemen einnehmen, also genetisch »friiher« sind als soziale Systeme. Nur psychische Systeme verfiigen iiber BewuBtsein, und Personen als BewuBtseinstrager liegen sozialen Syst~~en zugrunde (244 f.). Dieses Bild ergibt sich insbesondere im Zusammenhang der Uberlegungen, die die Autokatalyse sozialer Systeme betreffen. Wenn soziale Ordnung (im Sinne von Lewis) dadurch zustandekomrnt, daB einer der solipsistisch angesetzten Aktoren den miBlichen Zirkel doppelter Kontingenz durch einseitige Selbstfestlegung durchbricht, miissen Personen oder »BewuBtseinstrager« postuliert werden, die vor allerTeilnahme an sozialen Systemen urteils- und entscheidungsfahig sind - erst von dieser »physisch-chemisch-organisch-psychischen Realitat« hebt sich dann das emergierende Sozialsystem ab (170ff.). Andererseits konnen die beiden Systemtypen nicht auf verschiedenen Sprossen der evolutionaren Leiter stehen, wenn sich beide gleichermaBen durch die emergente Errungenschaft der Sinnverarbeitung vor organischen Systemen auszeichnen sollen. So spricht Luhmann an anderen Stellen (14xf.) von einer Ko-evolution, der gleichurspriinglichen, sich wechselseitig (in ihrer Umwelt) voraussetzenden Herausbildung von sinnverarbeitenden
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Auchdiese zweite Konzeption leidet, wie die klassische, am Mangel geeigneter sprachtheoretischer Grundbegriffe. Luhmann muB »Sinn« als einen gegeniiber »Kommunikation« und »BewuBtsein« neutralen Begriff einfiihren, aber in der Weise, daB sich Sinn in typenverschiedene Modi der Sinnverarbeitung verzweigen kann. Sonst konnten die auf der Basis von BewuBtsein und Kommunikation arbeitenden Systeme nicht Umwelten fiireinander bilden. Obgleich die Systemtheorie auf dieselben Fragen strukturell ahnliche Antworten gibt wie seinerzeit die Subjektphilosophie, steht die Gesellschaftstheorie heute vor einer veranderten Argumentationssituation. Nicht nur in der geisteswissenschaftlichen Tradition Humboldts, auch in der analytischen Sprachphilosophie sowie in Pragmatismus und Strukturalismus (die ja iiber G. H. Mead und C. Levi-Strauss auf die Gesellschaftstheorie einen groBen EinfluB ausgeiibt haben) ist der iibersubjektive, gegeniiber den Subjekten vorgangige Status der Sprache herausgearbeitet worden. Vor dies em theoriegeschichtlichen Hintergrund wird klar, welche Folgelasten sich eine Theorie mit der Aufteilung dieser, Psychisches und Soziales iibergreifenden Sprachstrukturen auf zwei verschiedene Systeme aufbiirdet. Nun, da sich der GrundriB der Luhmannschen Theorie klarer abzeichnet, sieht man auch, wieviele Energien fiir die Bewaltigung der aus dieser einen Grundentscheidung erwachsenden Folgeprobleme aufgewendet werden miissen. Ubersubjektive Sprachstrukturen wiirden Gesellschaft und Individuum zu eng ineinander verschranken. Eine iiber bedeutungsidentische Ausdriicke und kritisierbare Geltungsanspriiche erzeugte Intersubjektivitat der Verstandigung zwischen Aktoren ware eine zu starke Klammer zwischen psychischem und sozialem System wie auch zwischen verschiedenen psychischen Systemen. Systeme diirfen nur von auBen kontingent aufeinander einwirken; ihrem Verkehr fehlt jede interne Regelung. Deshalb muB Luhmann die Sprache und das kommunikative Handeln zunachst einmal auf so kleine Formate zurechtstutzen, daB die interne Verzahnung von kultureller Reproduktion, sozialer Integration und Sozialisatiort aus dem Blick gerat.
Gegeniiber dem phanomenologisch eingefiihrten Sinnbegriff wird dem sprachlichen Ausdruck ein untergeordneter Status zugewies~n. SP:ache ~ie~t allei~ der symbolischen Generalisierung vorganglger Smnerelgmsse, Sle quantelt gleichsam den Erlebnisstrom zu wiedererkennbaren Identitaten (136 ff.). 28 Sekundar bleibt die Sprache ferner gegeniiber dem BewuBtsein. Das einsame Seelenleben einschlieBlich des diskursiven Denkens, ist nicht von Haus au~ sprachformig. Die sprachliche Strukturierung gliedert nur den spontanen BewuBtseinsverlauf durch Zasuren und verleiht ihm die Fahigkeit zur Episodenbildung (367 ff.). Dariiber hinaus ist Sprache aber auch nicht konstitutiv fiir Verstandigungsprozesse; sie operiert »im Geiste« auch vor aller Kommunikation. Soweit die Sprache an der Organisation von Vorstellungsablaufen und Denkvorgangen beteiligt ist, funktioniert sie keineswegs als verinnerlichtes Derivat der Rede (137, 367). Jede dieser Thesen ist hoch kontrovers; sie miiBten in speziellen Kontexten der Sprachphilosophie begriindet werden. Diese Fragen konnen jedenfalls nicht mit phanomenologischen Hinweisen oder gar Definitionen erledigt werden. Luhmanns Strategie ist freilich klar: wenn sich die Leistung sprachlicher Symbole im Gliedern, Abstrahieren und Verallgemeinern von vorsprachlichen BewuBtseinsprozessen und Sinnzusammenhangen erschopft, kann die mit sprachlichen Mitteln ausgefiihrte Ko~munikation nicht aus spezifisch sprachlichen Ermoglichungsbedmgungen erklart werden. U nd wenn Sprache nicht mehr als eine Struktur in Anschlag gebracht wird, die den internen Zusammenhang von Sinnverstehen, identischer Bedeutung und intersubjekti-:er C?eltung ermoglicht, kann auch das Verstandnis bedeutungsIdentlscher Ausdriicke, kann Einverstandnis (oder Dissens) iiber die Giiltigkeit sprachlicher AuBerungen, kann die Gemeinsamkeit eines intersubjektiv geteilten Sinn- und Verweisungszusammenhangs,. d. h. die kommunikative T eilhabe an einer im sprachlichen Weltblld reprasentierten Lebenswelt, nicht auf sprachanalytischem Wege geklart werden. Die Aspekte sprachlich erzeugter Intersubjektivitat miissen vielmehr als selbsterzeugte Artefakte aus den
Systemen, die sich einerseits auf Bewulhsein, andererseits auf Kommunikation stiitzen.
28 Wie der vorsprachliche Sinn auch noch der intentionalen BewuBtseinsstruktur vorgeordnet werden kann, bleibt freilich offen.
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gegenselugen Reaktionen sinnverarbeitender Systeme abgeleitet werden. Luhmann bedient sich hier bekannter empiristischer Denkfiguren. So entsteht beispielsweise Sinnverstehen, unterhalb des Niveaus von Sprachverstehen, aus der wechselseitigen Beobachtung von psychischen Systemen, die wissen, daB jedes von ihnen selbstbezuglich operiert und daher selbst in der perzepierten U mwelt des jeweils anderen vorkommt. Dabei entwickelt sich eine Spirale beliebig iterierter Spiegelungen von Fremd- und Selbstbeobachtungen. Dber die Beobachtung des reziproken Beobachtens bildet sich sodann ein Verstandnis fur die Differenzen zwischen Auffassungsperspektiven. Diese soziale Dimension von Sinn kommt also nicht durch eine Konvergenz von Verstehenshorizonten zustande, die sich um identische Bedeutungen und intersubjektiv anerkannte Geltungsanspriiche zusammenziehen und im Konsens uber etwas Gemeintes oder Gesagtes verschmelzen. Zwischen verschiedenen psychischen Systemen kann sich kein gemeinsames Drittes aufbauen, es sei denn ein autokatalytisch entstandenes soziales System, das sich sogleich wieder in eigene Systemperspektiven einschlieBt und auf eigene, egozentrische Beobachtungsstandpunkte zuriickzieht: »Fur die wenigen Hinsichten, auf die es im Verkehr (sich wechselseitig beobachtender selbstreferentieller Systeme) ankommt, mag ihre Informationsverarbeitungskapazitat ausreichen. Sie bleiben getrennt, sie verschmelzen nicht, sie verstehen einander nicht besser als zuvor; sie konzentrieren sich auf das, was sie am anderen als System-in-einer-Umwelt als Input und Output beobachten konnen, und lernen jeweils selbstreferentiell in ihrer je eigenen Beobachtungsperspektive. Das, was sie beobachten, konnen sie durch eigenes Handeln zu beeinflussen versuchen, und am feedback konnen sie wiederum lernen. Auf diese Weise kann eine emergente Ordnung zustandekommen ... Wir nennen diese ... soziales System.« (157) Soziale Systeme verarbeiten Sinn in der Form von Kommunikation. Dafur wird Sprache eingesetzt. Diese stellt aber nicht etwa bedeutungsidentische Ausdriicke zur Verfugung, sondern erlaubt nur, Zeichen fur Sinn zu substituieren. Sinn ist nach wie vor auf die Differenz von Auffassungsperspektiven zugeschnitten. Alter und Ego 44 0
konnen freilich »durch gleichsinnigen Zeichengebrauch in der Meinung bestarkt werden, dasselbe zu meinen.« (220) Sprache ist als Kommunikationsmedium so unterbestimmt, daB sie nicht dazu gemacht ist, den Egozentrismus der einzelnen Systemperspektiven durch eine hoherstufige, uber- oder zwischensystemisch gemeinsame Perspektive zu uberwinden. Sowenig wie mehrere Systeme uber dieselben Bedeutungen verfugen, sowenig terminiert Verstandigung in einem Einverstandnis strictu sensu. Die Trennung von Sozial- und Sachdimension soll gerade ausschlieBen, was man fur das Telos der Sprache zu halten geneigt ist: mein Verstandnis einer Sache mit Bezugnahme auf die Moglichkeit eines Konsenses zu begrunden, den wir miteinander uber diese Sache erzielen. So soll auch die Geltung einer AuBerung nicht in der intersubjektiven Anerkennung von kritisierbaren Geltungsanspruchen grunden, sondern in einem jeweils nur fur Ego oder nur fur Alter bestehenden Konsens. Die Sprache bietet keinen soliden Boden, auf dem sich Ego mit Alter im Konsens uber etwas treffen konnte: »Mein Konsens ist Konsens nur in bezug auf Deinen Konsens, aber mein Konsens ist nicht Dein Konsens, und es gibt auch keinerlei Sachargumente oder Vernunftgrunde, die dieses Zusammenfallen (wiederum: aus der Sachdimension heraus) letztlich sicherstellen konnten.« (113) Die »Verquickung« von Sozial- und Sachdimension, die genau das zu denken erlaubt, halt Luhmann fur den» Kardinalfehler des Humanismus« (119). Der bisher betrachtete Komplex von Folgeproblemen bezieht sich allgemein darauf, die ubersubjektiven Grundlagen von Verstandigungsprozessen - den Gebrauch bedeutungsidentischer Ausdrucke und eine Konsensbildung auf der Basis von Geltungsanspriichen empiristisch aufzulosen, um mit einem minimalistischen Sprachbegriff die Strukturen sprachlich erzeugter Intersubjektivitat zu unterlaufen. Das individuelle BewuBtsein und die Gesellschaft gewinnen namlich nur dann die Autarkie von Einzelsystemen, die Umwelten fureinander bilden konnen, wenn ihr Verkehr nicht durch interne Beziehungen reguliert wird, wenn also Kultur, Gesellschaft und Person nicht mehr in den Strukturen der Lebenswelt intern verklammert sind. Allerdings wachst sofort ein zweiter Komplex von Folgeproblemen nach, sobald der erste bearbeitet 441
und die Pramisse gesichert ist, daB psychische und soziale Systeme nur noch kontingent aufeinandertreffen und in die Art von Interdependenzen geraten, die sich aus externen Beziehungen ergebep.. Denn nun muB, was im ersten Schritt zertrennt worden ist, schrittweise wieder zusammengefiigt werden. Jene Verzahnungen von Individuum und Gesellschaft, von individueller Lebensgeschichte und kollektiver Lebensform, von Individuation und gesellschaftlicher Konstituierung, die wir unter den Aspekten kultureller Reproduktion, Sozialintegration und Sozialisation aus dem Zusammenwirken intern verschriinkter Lebensweltkomponenten erklart haben, miissen mit Hilfe von Zusatzhypothesen aus der Verflechtung externer Beziehungen plausibel gemacht werden. Diesem Zweck dient beispielsweise der Begriff der Interpenetration, der den Sachverhalt meint, daB zwei Systeme, die fiireinander Umwelten bilden, die Freiheitsgrade eines sokhen externen Verhaltnisses spontan einschranken, urn sich in ihren Strukturbildungen wechselseitig voneinander abhangig zu machen. Soziale oCter zwischenmenschliche Interpenetration liegt vor, wenn »beide Systerne sich wechselseitig dadurch ermoglichen, daB sie in das jeweils andere ihre vorkonstituierte Eigenkomplexitat einbringen.« (290) Mit Hilfe dieser Vorstellung sollen etwa Intimbeziehungen oder moralische Erwartungen erklart werden. So miissen alle Phanomene erklart werden, die einen stutzig machen, solange man davon ausgeht, daB psychische und soziale Systeme von Haus aus nicht miteinander koordiniert sind. U nter dieser Pramisse kann beispielsweise der Sozialisationsvorgang nur als eine Eigenleistung des psychischen Systems verstanden werden: »Sozialisation ist immer Selbstsozialisation.« (327) Ahnliche Schwierigkeiten bereitet der Begriff der Individualitat. Nachdem der interne Zusammenhang zwischen Vergesellschaftung und Individuierung zerschnitten ist, kann der normativ gehaltvolle Individualitatsbegriff nur noch als kopierbares »Formular der Selbstbeschreibung« Verwendung finden (360ff.). Die Strategie der Begriffsbildung, an die ich hier nur fliichtig erinnern kann, erklart sich daraus, daB sich die Theorie in die Folgeprobleme einer einzigen Grundentscheidung kumulativ verwickelt. Mit den Aspekten des Sozialen und des Psychischen nimmt Luh442
mann gleichsam das Leben derGattung und das ihrer Exemplare auseinander, urn es auf zwei einander iiufierliche Systeme zu verteilen, obwohl doch der interne Zusammenhang beider Aspekte fiir sprachlich konstituierte Lebensformen konstitutiv ist. GewiB, Hinweise konnen Argumente und Gegenargumente nicht ersetzen. Aber schon die Ebene, auf der Argumente ausgetauscht werden konnten, ist nicht leicht festzustellen. Diese Systemtheorie fiigt sich namlich, entgegen dem Selbstverstandnis ihres Autors, nicht dem vergleichsweise bescheidenen Format einer »fachuniversalen«, auf eine Disziplin zugeschnittenen Theorie. Sie ist nicht eigentlich Soziologie, sondern eher zu vergleichen mit metatheoretischen Entwiirfen, die Weltbildfunktionen erfiillen. Luhmanns Theorie sehe ich als ingeniose Fortsetzung einer Tradition, die das Selbstverstandnis der europaischen Neuzeit stark gepragt und dabeiihrerseits das selektive Muster des okzidentalen Rationalismus widergespiegelt hat. Die kognitiv-instrumentelle Einseitigkeit der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung fand auch Ausdruck in den philosophischen Versuchen, ein objektivistisches Selbstverstandnis des Menschen und seiner Welt zu etablieren - zunachst in mechanistischen, spater in materialistischen und physikalistischen Weltbildern, die mit mehr oder weniger komplexen Theorien Geistiges auf Korperliches zuriickfiihrten. In angelsachsischen Landern halt der analytische Materialismus bis heute Diskussionen iiber das Verhaltnis von Geist und Korper wach; bis heute stiitzen physikalistische oder andere szientistische Hintergrundiiberzeugungen die Forderung, alles intuitiv GewuBte aus der Perspektive eines naturwissenschaftlichen Beobachters zu verfremden - uns von den Objekten her zu verstehen. Beim objektivistischen Selbstverstandnis geht es natiirlich nicht urn diese oder jene Detailerklarung, sondern urn den einmaligen Akt einer Umkehrung der natiirlichen Welteinstellung. Die Lebenswelt selbst solI derart in eine Perspektive der Selbstvergegenstandlichung eingeiibt werden, daB alles, was sich uns normalerweise innerhalb ihres Horizontes gleichsam performativ erschlieBt, aus extramundanem Blickwinkel als ein schlechthin sinnfremdes, auBerliches und zu£alliges, nur nach naturwissenschaftlichen Modellen erklarbares Geschehen erscheint. 443
Solange Mechanik, Biochemie oder N europhysiologie die Sprachen und Modelle geliefert haben, muBte es freilich bei allgemeinen und abstrakten Zuordnungen und bei Grundsatzdiskussionen uber Geist und Korper bleiben. Beschreibungssysteme naturwissenschaftlicher Herkunft sind von Alltagserfahrungen zu weit entfernt, als daB sie sich angeboten hatten, verfremdende Selbstbeschreibungen differenziert und auf breiter Front in die Lebenswelt einzuschleusen. Das andert sich mit der Sprache der allgemeinen Systemtheorie, die sich aus der Kybernetik und der Anwendung ihrer Modelle in verschiedenen Biowissenschaften entwickelt hat. Die an Intelligenzleistungen abgelesenen und auf organisches Leben zugeschnittenen Modellvorstellungen kommen der soziokulturellen Lebensform erheblich naher als die der klassischen Mechanik. Wie Luhmanns erstaunliche Dbersetzungsleistungep beweisen, kann diese Sprache so flexibel gehandhabt und erweitert werden, daB sie auch fur subtile Phanomene der Lebenswelt neue, nicht etwa nur objektivierende, sondern objektivistische Beschreibungen hergibt. Man muB berucksichtigen, daB innovative Gesellschaftstheorien mit ihren Paradigmen stets in der Gesellschaft selbst verankert waren und niemals dem Wissenschaftssystem ausschlieBlich angehort haben. Ein Effekt der Vergegenstandlichung kommt jedenfalls in dem MaBe zustande, wie die Systemtheorie in die Lebenswelt eindringt, in diese eine metabiologische Perspektive einfuhrt, aus der sie sich dann seIber als ein System in einer Umweltmit-anderen-Systemen-in-einer-Umwelt verstehen lernt - so als vollziehe sich der WeltprozeB durch nichts als durch System~ U mwelt-Differenzen hindurch. Auf diese Weise wird die subjektzentrierte Vernunft durch Systemrationalitat abgelost. Damit entgleitet der als Metaphysik- und Machtkritik durchgefuhrten Vernunftkritik, auf die wir in diesen Vorlesungen zUrUckgeblickt haben, der Gegenstand. In dem MaBe, wie die Systemtheorie nicht nur innerhalb des Wissenschaftssystems·ihren fachspezifischen Beitrag leistet, sondern mit ihrem Universalitatsanspruch auch in die Lebenswelt eindringt, ersetzt sie die metaphysischen Hintergrunduberzeugungen durch metabiologische. Damit verliert auch der Streit zwischen Objektivisten und Subjektivisten seinen Witz. Vielleicht geben die sprachlich erzeugte 444
Intersubjektivitat und das selbstreferentiell geschlossene System Stichworte fur eine Kontroverse, die an die Stelle der entwerteten Geist-Korper-Problematik tritt.
N amenregister Adorno, Th. W. 66f., 72, 85> 108, 129159, 218-222, 246£., 256-258, 262, 283,367,39°,392,4°8 Apel, K.O. 320,363,375 Arac, J. 225 Arendt, H. 62, 382 Aristoteles 50,97, II6, 182, 38d. Arnold, G. 226 Austin, J.L. 164,228-231,234,236 Bachelard, G. 67, 280 Baier, H. '145 Barthes, R. 226 Bataille, G. 12, 70, 93, 108, 120, 124129,158,248-281,283,296,3°0,3°2, 334 f. Baudelaire, Ch. 17-21 , 334 Bauer, B. 65 f., 77 Becker, O. 122, 186 Benjamin, W. 19-25,73,122,125> 130, 148,218, 25 8f. Benn, G. 12 Berger, P. 96-99 Bergson, H. 170, 298 Bernstein, R.J. 79,351 Blanchot, M. 226 Bloch, E. 83 Bloom, H. 225 Blumenberg, H. 16 Bohme, G. und H. 352-358 Bohme, J. 377' Bohrer, K.H. 7, II2 Bourdieu, P. 192 Breton, A. 124, 249 Brocker, W. 186 Brunkhorst, H. 95,378 Brunner, O. 17 Bubner, R. 44 Buhler, K. 235,241,363 Burger, P. 7
Calvin, J. 273 Capote, T. 237f. Castoriadis, C. 79, 183, 370-373, 3803 88 Coleman, J. II Colli, G. 122 Comte, A. 426 Conze, W. 17 Creuzer, G.F. II4 Culler, J. 212, 217,227-234 Dahmer, H. 350 Dante, A. 221 Darwin, Ch. 66 Dautry, J. 267 Davidson, D. 364 Deleuze, G. 148,151,153 Demokrit 376 Derrida, J. 70, 120, 128, 191-199, 203234, 237, 240-244, 246£·, 279, 292, 29 8,3 00 , 345 f., 370f., 390, 39 2 Descartes, R. 29, 161, 303, 313, 362,
42 7 Dewey, J. 79, 176 Dilthey, W. 170, 221, 298 Dreyfus, H.L. 3°5,3°7,315,335 Droysen,J.G. 221 Dubiel, H. 86, 143,253,257 Dummett, M. 364 Durkheim, E. 10, II2, 255, 387 Einstein, C. 249 Eliezer, Rabbi 215 Feuerbach, L. 66,68, 77,97 Fichte, 1. H. 68 Fichte, J.G. 34, 42, 45, 56, 307-309, 345,353,3 83,3 86 £,433,437 Fink-Eitel, H. 154,3°0 Forsthoff, E. 89
447
Foucault, M. 67,70,72, 120, 128, 153, 250,252,279-348,352,359-361,367, 369, 37 1, 390, 392,404,420,43 I Frank, M. IIO, II3, 314 Fraser, N. 333f. Frege, G. 202, 364 Freud, S. 25, 66, 153, 255, 281, 309, 33 2, 34 2, 359 Freyer, H. 23,90,408 Friedeburg, L. von 7, 17 Gadamer, H.G. 23,164,221,233,417 Gehlen, A. I rf., 208, 337, 343, 408, 43 6 Gelb, I.J. 193 Glucksmann, A. 302 Godzich, W. 225 Gramsci, A. 79,95 Grice, H.P. 239 Gumbrecht, H. U. 17 Habermas,J. 7-9,17,26,42,81,90,96, II8, 140, 156, 167, 199, 241, 247, 3 20 , 337, 340 , 346, 34 8, 35 0f., 375, 382,388,397,403,412,419,424,429 Hamann,J.H. 221,374 Handelman, S. 217 Hartmann, G. 225 f., 237 Hartmann, N. 169f. Hegel, G. W.F. 13-16, 25-58, 62, 657 1, 73, 77, 79- 84, 87 f ., 9 2, 94, 95 f., I04f., III, 122, 145, 159f., 165f., 182, 219, 246, 253, 308f., 345, 353356, 362 , 368 , 377 f ., 39 1 f., 396, 40 3, 407,426,428,432f. Heidegger, M. 12, 23, 66, 70, 93, 95, 100, I07f., 120-129, 158-193, 197, 203, 209, 213 f., 216f., 218-223, 246£·, 248, 250-253, 279f., 292, 29 8302 , 30 7, 3 10, 3 13, 345 f ., 35 8-3 61 , 365, 370-372, 380, 383, 385 f., 390, 39 2 Heinrich, K. 132,377f. Held, D. 375
Heller, A. 96, 98 f. Henrich, D. 35f., 44, 46, 52 f., 40 9 f . Herder,J.G. 80,208 Hess, M. 65,73 Hesse, M. 375 Hinrichs, H.F. W. 86f. Hobbes, Th. 130,302f. Holderlin, F. 33, 43-45, II3f., 3 10,353 Holthusen, H.E. 12 Honegger, e. 295,342 Honneth, A. 7, 99, 154, 300, 336f., 41 I Horkheimer, M. 67, 72, 95, 108, 159,253,257f., 262, 36 7 Horstmann, R.P. 53 Huber, E. R. 89 Humboldt, W. von 80, 166, 183,
308,
281,
315, 129-
221,
43 8
Husser!, E. 67, 95-99, 165, 17of., 173, 175,178,180,197-213,223,307,309, 345> 364, 369, 380 , 387, 4 16, 4 26 f., 437 Jacobi, F.H. 34,42 Jaeggi, U. 99 Jakobson, R. 226,235, 237f. Jamme, Chr. 44 Jaspers, K. 194 JauB, H.R. 7, 17 f., 46 Joas, H. 154 Jona 377f. Jung, e.G. 359 Jiinger, E. 161 Kant, I. 26, 29-32, 34, 36, 39, 42, 45, 56, 59, 62, 66, 97, 150, 170f., 180, 28 5, 300f., 306-308, 31 0 , 3 13, 333, 339, 344 f ., 352 f ., 35 6, 359, 362 , 374, 4 II , 4 26-4 28 , 43 2 Kautsky, K. 73 Kierkegaard, S. 66,68, 173, 178, 186 Kittler, F.A. 154,300
Kojeve, A. 279,369 Korsch, K. 23,73,95,382 Koselleck, R. 13 f., 16f., 22, 25 Kuhn, H. 17 Kuhn, Th. 242 Labov, W. 237 Lacan, J. 70,120, 3II , 314, 359 Lange, W. II3 Larenz, K. 89 Lask, E. 30, 64 Leibniz, G. W. 303 Leiris, M. 248 f., 272f. Lessing, G.E. 36 Levinas, E. 195,215,217 Levi-Strauss, Cl. 279 f., 3II , 314, 359, 43 8 Levy, B.-H. 332,335 Linne, C. von 304 Lowith, K. 66,68f. Liibbe, H. 73> 87f. Luckmann, Th. 96-99 Luhmann, N. 409-412, 415f., 418, 4 26-445 Lukacs, G. 62, 67, 79, 83, 95f., 226, 262 f., 310, 329, 392, 408 Luria, I. 377 Luther, M. 273 Lyotard, F. 7 Machiavelli, N. 130 Maimonides, M. 215 Mallarme, St. II6, 148 Mandeville, B. de 130 deMan, H. 12 de Man, P. 225 f. Marcuse, H. 62-64,83,89,95,341,380 Markus, G. 99-103 Martin, W. 225 Marx, K. 23, 62, 65f., 68, 70, 75-88, 94, 95 f., 99, 130, 165,260-262, 31 0, 33 rf., 345, 355, 368f., 39 2f., 39 6, 402-404,407,409,412, 428 f. Masson, A. 248
Mathiesen, U. 416 Matthes, J. 99 Maurer, R. 153 Mead, G.H. 10,79, 164, 166, 176,37 8, 3 88 ,43 8 Mendel von Rymanow, Rabbi 215f. Merleau-Ponty, M. 79, 308, 369 Miller, H. 225 f. Mitscherlich, A. 255 Montinari, M. 122 Miinkler, H. 303 Nietzsche, F. 23, 57, 66, 70-74, 93, 10 5- 109, II4- 13 1, 135, 145- 153, 155> 158-164,167,169,182,189,192,197, 218, 222, 225, 242, 247, 248, 251 f., 280f., 284, 292f., 296, 298, 300, 302, 3 10 , 3 I 3, 327, 33 0 , 334, 344, 351, 353, 35 6, 35 8f., 36rf., 393, 409, 4 II , 4 2 5,43 0 Novalis 114 Ohmann, R. 236f. Offe, e. 99,404,413 Oppenheim, H.B. 86-88 Ott, H. 184 Ottmann, H. 26 Paci, E. 79 Parmenides 246, 377f. Parsons, T. 405,426,436 Paz, O. II6 Peirce, Ch.S. 164,176,378 Peukert, H. 26 Piaget, J. 34 8 Plato 363, 376 Plessner, H. 369 Poggeler, O. 169, 182 Popper, K. 202,363 Pratt, M.L. 228,237-240 Protagoras 160 Piitz, P. 146 Rabinow, P. 305,307,315,335 449
I,. Reinhold, c.L. 32 Richardson, W. 189 Rieken, H. 169 Ringer, K.F. 167 Rippel, Ph. 302 Ritter, J. 9°-93,4° 8 Rohrrnoser, G. 153 Rorty, R.J. 241 f., 246 Rosenkranz,J.K.F. 86f.,89 Rossum, W. von 303 Rousseau, J.-J. 36,223 Ruge, A. 65f. Saage, R. 86 Saint-Simon, Cl. H. 267 de Sade, Marquis 130 Sanre, J.-P. 79,95,279,369,380 Saussure, F. de 193, 199, 2II, 223 Scheler, M. 169f. Schelling, F.W.J. 14, 32 f., 35> 43-45, 68,80, IIO-II2, II4f., 2II, 281, 345, 353 Schiller, F. 44, 46-48, 59-64, 80, II6, 345,353,355 f. Schlegel, F. 46f., IIO-II2, 167,353 Schmitt, C. 89,257f. Schnadelbach, H. 66, 92, 156, 220 Schneeberger, G. 186, 188 Schneider, H. 44 Scholem, G. 215f.,218 Schopenhauer, A. II5f., 130,281 Schultze-Naumburg, P. 192 Schulz, W. 169, 178 Schiirrnann, R. 168 f., 189 Schiitz, A. 96, 369
Seabrook, W. 272 Searle, J.R. 228-234 Simmel, G. 170, 298, 371 Sloterdijk, P. 335 Siiliner, A. 257 Sokrates 108, II6, 148 Sorel, A. 258 Spengler, O. 161 Stern, L. von 86 Steinfels, H. 86 Storr, G.Ch. 35 Strauss, D.F. 77 Szondi, P. II3
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Taubes, J. II4f. Taylor, Ch. 79 f., 96f., 374 Thompson, J. 375 Tugendhat, E. 180, 182, 199,2°4,364 Velazquez 305 Veyne, P. 297,324,326 Vico, G. 221 Wagner, R. 108f., II5, 148, 162 Wanenburg, Y. von 23 Weber, M. 9f., I2f., 64, 67, 88f., 95, 134, 137, 140, 270, 273 f., 33 1, 367, 39 2 Weiss, P. 148 Wellmer, A. 7,366 Wiedmann, F. 17 Willke, H. 422 Wilson, M. 257 Wittgenstein, L. 66, 164, 166, 182,202, 21 9,233
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11 OCT. 1985