AL CAPONE
3 Romane‐Sammelband ...
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AL CAPONE
3 Romane‐Sammelband
Inhalt
Der Nebelmörder (Band 1) ................... 3 Aufgeschlitzt (Band 2) ....................... 161 Boß Drenkhan kassiert (Band 3) ..... 301
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Al Capone Nr. 1
Der Nebelmörder
von AL CANN Schwere Nebelschwaden lasteten über den dunklen Straßen Chicagos. Die Luft roch nach Schwefel und Kohlenruß. Alle Geräusche schienen gedämpft zu sein und wie von weit herzukommen. Von der St. Patrick‐Church schlug die achte Abendstunde. Es sollte die letzte Stunde der Ireen Moreland sein. Mit raschen Schritten hatte die dunkelhaarige junge Frau das Chekman‐House in der 77th Street verlassen und ging an der Southshore Highschool vorbei der Stony Island Avenue entgegen. Hier war der Nebel schwächer, aber schon an der nächsten Straßenecke wälzte sich ihr wieder eine graue Wand entgegen, die die ganze Straße erfaßte. Die Frau blieb unwillkürlich stehen und mußte plötzlich gegen ein dumpfes Gefühl der Angst ankämpfen. Dabei waren die Straßen um diese Stunde nicht etwa schon leer. Im Gegenteil, trotz des scheußlichen Nebels kämpften sich eine Unzahl von Fahrzeugen durch die breite Avenue, und auch aus den Seitenstraßen quollen die Autos nur so heraus. Aber der Nebel verschluckte sie alle, und die 3
Menschen, die vor einem auftauchten, erschienen wie Schemen und verschwanden ebenso körperlos wieder. Scheußlich, dieser Chicagoer Nebel, ging es durch den Kopf der Frau. Wie lange schon hatte sie versuchen wollen, die Stadt zu verlassen. Sie haßte diese schweren erstickenden Nebel im November, die Nässe und die Düsternis. Eine sonnenlose Stadt! Seit Rodger sie damals verlassen hatte, um sich eine andere Freundin zu nehmen, schien ihr die Stadt selbst in ihrem kurzen Sommer unfreundlich und abstoßend. Rodger! Er war der einzige Mann gewesen, der das Leben der Ireen Moreland in Unruhe versetzt hatte. Aber es war eine Unruhe, die die dunkelhaarige Ireen gern weiter ertragen hätte – viele Jahre noch, bis ans Ende ihres Lebens. Die damals schon Dreiundzwanzigjährige hatte geglaubt, das große Glück ihres Lebens mit ihm gefunden zu haben. Doch dann war er nach fast fünf Jahren gegangen – und hatte eine Neunzehnjährige genommen. Eine Welt war für Ireen zusammengebrochen. Zu allem Unglück erhielt sie kurz danach aus New York die Nachricht, daß ihre Mutter gestorben war und der alte Vater ins Krankenhaus gekommen sei. Mit raschen Schritten zwängte Ireen sich jetzt durch die Menschen, die an einer Bushaltestelle standen. Einen Augenblick verhielt sie den Schritt und schloß die Augen. Eingekeilt in eine Menschenmauer stand sie da und lauschte auf den Verkehr, der in weiter Ferne vorüberzubranden schien, auf die Stimmen der 4
Menschen, die sie doch nicht sah. Wie einsam man mitten in einer Weltstadt und in einem Knäuel von Menschen sein konnte. Sie hatte eigentlich zu dem Bus gehen wollen, der in der Dorchester Avenue abfuhr und sie rascher nach Hause gebracht hätte. Aber der scheußliche Nebel veranlaßte sie schließlich, hier bei den Menschen an der Haltestelle zu warten. Da tauchte der Bus urplötzlich aus dem Lärm und dem grauweißen Nebel auf, riesengroß, mit Lichtern, die von Kränzen umgeben zu sein schienen. Mit einem leisen, wippenden Federn hielt er an, und mit einem Knacken wurden die Türen geöffnet. Menschen stiegen aus, und die ersten drängten wieder hinein. Ireen war bei den letzten, die noch Einlaß fanden. Die Tür klappte wieder zu. Das Mädchen zahlte, schob sich in den Mittelgang und bekam einen der pendelnden Hartgummigriffe zu fassen, so daß sie nicht von jeder Schlingerbewegung des Busses hin und her geworfen wurde. Da sah sie über die breite, runde Schulter eines grauhaarigen Mannes, der einen impertinenten Geruch von Alkohol um sich verbreitete, das Gesicht eines jungen Menschen. Es war schmal und bleich und wurde von großen dunklen Augen beherrscht, die durch eine schwarzgeränderte Brille zu ihr hinüberblickten. Ein alltägliches Gesicht – und doch schien es Ireen, als ob etwas Besonderes in diesen Augen wäre. Groß und ernst hafteten sie auf ihr, wichen auch jetzt nicht, als sie 5
hineinblickte, zur Seite. Der Mann trug einen einfachen Hut mit schmalem Rand, einen graubraunen Trenchcoat, ein blaues Hemd und eine rotweiß gestreifte Krawatte. Seine Hand, die ebenfalls einen der Haltegriffe umspannt hielt, war feingliedrig und schlank. Elf Minuten waren bereits von der letzten Lebensstunde der unglücklichen Frau verstrichen. – Mit einem sanften Surren fuhr der schwere Bus durch die große Straße nordwärts in das Herz der Weltstadt hinein. Ireen hatte den Blick abgewandt und spürte doch, daß der Mann sie unentwegt ansah. Heiß strömte es ihr plötzlich zum Herzen. Ein Mann sieht dich an! Und du wähnst dich allein in dieser Stadt. Er aber hat Interesse an dir. Vielleicht ist er verheiratet? Sie wandte den Kopf und schickte einen verstohlenen Blick auf seine Hand. Daran war kein Ring zu sehen. Aber er konnte an der Linken einen Verlobungsring haben oder den Ehering in der Westentasche verbergen. Das wäre ja nichts Neues gewesen. Dann war ihre Station da. Sie stieg aus, zwängte sich wieder durch einen Wall von Menschen und lief die breite Straße Midway Playsance nach Westen entlang, an dem gewaltigen Komplex der Universität vorbei, dem Washingtonpark entgegen. Am Ende der Midway Playsance stand unter einem großen Kastanienbaum ein Losverkäufer. Ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht, breitem Schlapphut und einem alten unmodernen Mantel. Er hatte den Kragen hochgestellt und die Spitzen seiner Wollhandschuhe 6
abgeschnitten, um so die Lose besser fassen zu können. Nur ein paar Neugierige und vielleicht auch ein paar Unschlüssige hatten sich an seinem Stand eingefunden. Meistens waren es sicher Leute, die mit einem der Busse weiterfahren wollten, die drüben hielten. Dreiundzwanzig Minuten von der letzten Stunde der jungen Frau waren bereits verronnen, als sie sich plötzlich, einem Impuls folgend, entschloß, einen Vierteldollar zu riskieren. Sie trat an den Stand und schob das Geld über den gelbroten Plastikstreifen, der eine Art Brücke zu dem Händler bildete. Mit einer raschen Bewegung nahm der Mann das Geld, blickte dann auf und ließ seine Augen einen Moment auf dem Gesicht der Ireen Moreland haften. Er sah ein bläßliches schlankes Gesicht, in dem ein graublaues Augenpaar stand – Augen, die etwas Verträumtes hatten – und einen Mund, der blaß und schmal wirkte. Das Haar war kurz gehalten und umrandete den oberen Teil des Gesichtsovals. Eine weiße Bluse blickte unter dem dunklen Mantel hervor – eine Bluse, auf der in nicht ganz siebenunddreißig Minuten Blutflecken wachsen würden… Ireen griff nach dem Los, das der Mann ihr hinhielt, und trat zwei Schritte damit zurück. Ehe sie es öffnete, blickte sie noch einmal zu dem Losverkäufer hinüber. Der hatte den Kopf wieder gesenkt, sah auf das Geld in der kleinen Schachtel unter der Glasplatte und hob dann den Kopf, um Ausschau nach neuen Kunden zu halten. 7
In dem Moment, in dem Ireen den Kopf senken wollte, um sich das Los näher anzusehen, blickte sie noch einmal auf. Drüben, hinter einem älteren Ehepaar, das neugierig die kleine Plastiktrommel auf dem Tisch des Losverkäufers musterte, stand der junge Mann mit dem blassen Gesicht und der dunklen Brille. Unverwandt haftete sein Blick auf ihr. Das Mädchen schob sich mit einer verlegenen Geste eine Haarsträhne aus der Stirn und blickte dann wieder auf das Los, entschloß sich aber doch, weiterzugehen. Unter der nächsten Laterne blieb Ireen stehen und zog das Los auf. Welch sinnloser Kauf, dachte sie, als ob ich Geld zuviel hätte; wo ich doch jeden Dollar dem Vater schicken muß, dessen Genesung nur sehr zögernde Fortschritte macht. Wer hatte je in ihrer Familie etwas mit einem Los gewonnen? Doch, vor Jahren hatte Mutter einmal bei einer Tombola eine Puppe gewonnen; noch heute hatte Ireen sie in ihrem möblierten Zimmer auf der Fensterbank sitzen. Eine kleine Puppe mit strohblondem Haar, aufgeplusterten Backen und runden Kinderaugen. Mit der Rechten hatte sie das Los aufgezogen, drehte es jetzt um – und starrte mit geweiteten Augen auf das, was da zu lesen war: Sie haben bei der großen Lotterie der Stadt Chicago die Summe von 25.000 Dollar gewonnen! Ganz groß und deutlich stand die Zahl da. Sie schien dem Mädchen vor den Augen verschwimmen zu wollen. 8
Die Buchstaben begannen zu tanzen, und es sah so aus, als wollten sie über den Rand des kleinen Papierstücks auf den feuchtschimmernden Asphalt der Straße springen. Rasch faltete Ireen das kleine Los zusammen und preßte es gegen ihre Brust. »Fünfundzwanzigtausend Dollar…« Nein, das konnte nicht wahr sein! Das mußte ein furchtbarer Irrtum sein, ein Spuk, der sie narrte. Rasch öffnete sie das Los wieder, glättete es und hielt es so, daß das Licht der großen Peitschenlampe hart darauffiel. 25.000 Dollar! Groß und deutlich in roten Zahlen stand es da. Ireen schloß für einen Moment die Augen und hielt den Atem an. Sie hatte das Gefühl, daß in diesem Augenblick die ganze große Stadt die Augen geschlossen und den Atem angehalten hatte – mit ihr – wegen dieses unvorstellbaren Glücks, das da so unverhofft über sie gekommen war. »Fünfundzwanzigtausend Dollar! Lieber Gott! So viel Geld!« Sie ging langsam weiter auf die Anlagen des Washingtonparks zu. * Fast zum gleichen Zeitpunkt, an dem Ireen Moreland das Chekman‐House in der 77th Street verlassen hatte, trat Joseph Buster auf der großen Station Burnside, ebenfalls 9
im Herzen Chicagos, aus der Buszentrale heraus und ging über den breiten Platz auf den Omnibus zu, den ein Kollege von ihm hinauf zur Station Englewood steuerte. Buster war zweiundvierzig, Vater von drei Kindern, hatte schütteres Haar, eine mittelgroße, etwas zur Fülle neigende Gestalt und ein frisches Gesicht. Seit fünf Jahren wohnte er mit seiner Frau Betty oben in der 49th Street in der Nähe der Corpus‐Christi‐Kirche. Er verließ die Busstation von Englewood und schritt dem Washingtonpark entgegen. Er pflegte abends an der Ecke der breiten Straße den Park zu betreten, um langsam durch ihn hindurchzuschlendern. Es waren die einzigen Minuten des Tages, in denen er frische Luft schnappen und den Geräuschen der Stadt, die einem die Nerven zersägten, für kurze Zeit entfliehen konnte. Oben an der 51th Street verließ er den Park, um zu seiner Behausung zu kommen. Aber an diesem Tag sollte es anders sein… * Ireen Moreland war stehengeblieben, senkte den Kopf und blickte auf ihre Schuhspitzen, auf die sich die feuchten Nebeltropfen gesetzt hatten und das vielhundertfache Schillern der bunten Neonröhren der Bogenlampen widerspiegelten. Fünfundzwanzigtausend Dollar! Unfaßlich! Es konnte doch gar nicht wahr sein. Sie machte plötzlich kehrt, lief zurück – und prallte mit einem Mann zusammen. 10
Als sie in sein Gesicht blickte, erschrak sie. Aber es war kein unangenehmer Schreck, denn der Mann, in dessen Augen sie blickte, war der gleiche, den sie schon im Bus gesehen und der auch bei dem Losverkäufer gestanden hatte. »Entschuldigen Sie«, stammelte sie. »Es tut mir leid… ich habe…« Der Mann schüttelte den Kopf. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, es war meine Schuld, ich hätte aufpassen sollen«, sagte der Mann mit einer seltsam weichen Stimme und hatte den Hut abgenommen. »Ich habe mich nämlich gerade umgesehen.« Und dann sagte er zu Ireens Verwirrung: »Um ehrlich zu sein, ich hatte mich nach Ihnen umgesehen.« »Nach mir?« fragte sie, ohne ihn anzusehen. Sirrend und quietschend zogen die Autos über den nasse Asphalt. Der Schimmer der Bogenlampen zitterte auf der glänzenden Straße. Immer noch quollen die Nebel aus den Seitenstraßen und drüben aus dem Park heran. »Entschuldigen Sie, Miß, daß ich Sie angesprochen habe, aber da ich nun schon einmal ehrlich war, will ich es auch weiter sein. Ich habe Sie nämlich schon seit langem gesehen. Genauer gesagt, seit dem Ende des Sommers. Damals trugen Sie ein grünes Kleid mit weißen Punkten…« Er brach ab und nahm ein Taschentuch hervor, um sich umständlich die Nase zu putzen. Weshalb stehe ich noch hier? fragte sich Ireen, was soll 11
ich mir das anhören? Welcher Unsinn überhaupt. Aber es war ein Mann, der zu ihr sprach, ein junger Mensch, der behauptete, Interesse an ihr zu haben. Ein Mann! Hätte sie nicht noch vor zehn Minuten – ach was, vor fünf Minuten – alles dafür gegeben, einen Menschen zu finden, der sagte, daß er wirklich ehrliches Interesse an ihr hätte? Aber war es jetzt nicht anders? Hatte sie nicht plötzlich Geld, viel Geld? Fünfundzwanzigtausend Dollar! Sie schob den Gedanken sofort wieder von sich. Vielleicht stimmte es ja gar nicht. Es stimmte sogar höchstwahrscheinlich nicht. Wie oft hatte eine der Frauen aus dem Büro ein Los gehabt, auf dem eine Zahl stand; und hinterher erwies es sich als irgendeine geschickte Reklame. Mrs. Toonby beispielsweise hatte auch eine Zahl auf einem Los stehen gehabt, das sie irgendwo gezogen hatte, und hinterher hieß es, man müsse abwarten, bis in einem Vierteljahr die Nummern herauskämen. Aber auf ihrem Los war nicht nur eine Zahl, sondern es stand ganz deutlich das Wort Dollar dahinter. Fünfundzwanzigtausend Dollar würde sie besitzen! Nein, sie schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen, und der Mann bezog es auf sich. »Verzeihen Sie«, stammelte er und hatte wieder den Hut abgenommen. »Ich wollte nur sagen – daß ich mir schon lange vorgenommen habe, Sie zu fragen, ob ich Sie nicht zu einer Tasse Kaffee einladen darf. Da drüben, 12
sehen Sie, das ist ein kleines gemütliches deutsches Café, da sitzt man dann schön im Hochparterre und kann auf die Straße sehen.« Man sitzt da und kann schön auf die Straße sehen, ging es durch Ireens Kopf. Na und? Was war denn das, auf diese Straße zu sehen? Die sah sie ja von hier auch. Jeden Abend sah sie sie um die gleiche Zeit in der gleichen Beleuchtung. Zu was sollte sie da noch Geld ausgeben, um sich in ein Hochparterre zu setzen, eine Tasse Kaffee zu bezahlen und die Straße zu besichtigen? Wie bin ich auf einmal verändert! Was hat das zu bedeuten? Ich kann mich doch wegen eines kleinen Papierstückes nicht plötzlich in einen anderen Menschen verwandeln. Noch gestern, auch vorhin noch hätte ich mich doch riesig gefreut, wenn der Mann mich zu einer Tasse Kaffee eingeladen hätte. Kann man denn wegen eines lächerlichen Stück Papiers so plötzlich ein völlig anderer Mensch werden? »Es muß ja nicht heute sein«, hörte sie die Stimme des Mannes wie aus weiter Ferne kommen, »absolut nicht, Miß – ich will ehrlich sein, ich kenne Ihren Namen. Ich bin Ihnen eines Morgens gefolgt bis in die 77th Street, und dann habe ich den Pförtner in Ihrem Kontorhaus gefragt. Seitdem weiß ich, daß Sie Miß Ireen Moreland sind.« Da nahm die junge Frau denn doch den Kopf herum und blickte den Mann forschend an. Er sah wirklich nicht sonderlich gut aus. Der Hut schien zu klein zu sein, das Haar war sicher schon lange 13
nicht mehr geschnitten worden, und die Brille war viel zu groß; die Augen wirkten riesenhaft darin und hatten etwas Verschwommenes. Aber waren sie ihr vorhin im Bus nicht noch geheimnisvoll vorgekommen? Hatte sie nicht gespürt, daß etwas Anziehendes von diesem Männergesicht ausging, etwas, das sie beeindruckte? Doch, so war es gewesen! Nur das kleine Papierstück in ihrer Tasche trug die Schuld daran, daß sie plötzlich alles in einem anderen Licht sah. Oder war es vielleicht kein Zufall? Sprach der Mann sie bewußt an? Wußte er etwas von dem, was sich vor knapp sieben Minuten ereignet hatte? Ahnte er etwas von dem Reichtum, der da auf sie zukam? Aber dann verwarf sie den Gedanken wieder. Es war ja Unsinn. Er konnte gar nichts davon ahnen oder wissen. Denn das Los hatte der Verkäufer aus der großen Trommel herausgeholt und ihr zugeschoben. Es hätte irgendein x‐beliebiges anderes sein können, eines der vielen zusammengefalteten Briefchen. Aber es war das gewesen, was sie jetzt in der Tasche trug; und sie hatte es erst drüben unter der Laterne geöffnet. Er konnte gar nicht wissen, was darauf stand. »Seien Sie nicht böse«, hörte sie da wieder die weiche, wohlklingende Stimme des Mannes, »wenn Sie nichts gewonnen haben.« Seinen Worten folgte ein kleines Lachen, das aber jäh abbrach. »Da gewinnt man doch nie etwas. Aber ich fand es trotzdem nett, daß Sie ein Los genommen haben. Menschen, die hoffen, sind gute Menschen. So steht es in irgendeinem Drama von 14
Shakespeare.« Wieder das kleine Lachen. Er las Dramen von Shakespeare und beobachtete die Menschen. Er war ihr sogar bis hinunter in die 77th Street gefolgt; bis zum Chekman‐House, wo er den Pförtner nach ihr gefragt hatte. Und schon seit dem Ende des Sommers beobachtete er sie. Ja, sie erinnerte sich, damals in den letzten Septemberwochen hatte sie das Grüne mit den weißen Punkten zuweilen getragen. Es waren die letzten warmen Tage gewesen. Es war das Kleid, das sie sich gekauft hatte, als sie mit Rodger hinüber nach Milwaukee gefahren war. »Ich arbeite bei der Parker Line«, sagte der Mann da unvermittelt neben ihr. Fünfundzwanzigtausend Dollar! Ich habe ein Vermögen in meiner Tasche. Wenn Mutter das noch hätte erleben können! Und was würde Vater für Augen machen! Auf dem schnellsten Wege würde sie jetzt nach New York fahren. Am besten morgen schon. Oder weshalb nicht noch heute? »Parker Line? Ist das nicht eine Fluggesellschaft?« fragte sie. »Doch, doch«, nickte der Mann, »eine große Fluggesellschaft. Natürlich nicht eine der größten. Aber es sind gute Maschinen. Der Präsident hat neulich auch eine davon benutzt.« »Hat der Präsident nicht eine eigene Maschine?« fragte sie, ohne darüber nachgedacht zu haben, was sie sagte. 15
»Ja, natürlich schon; aber es kann auch einmal vorkommen, daß er ein Flugzeug der öffentlichen Linien benutzen muß. Wissen Sie, die Parker Line ist…« Ireen Moreland hörte nicht, was der Mann weiter erzählte. Sie preßte die kleine Handtasche, in der das Los war, gegen ihre Brust und hielt sie mit beiden Händen fest. Langsam war sie neben dem Mann bis zum Rand des Bürgersteiges hergegangen. Da blieben sie stehen. Die Autos zischten so dicht vorüber, daß der Luftdruck sie berührte. Immer noch sprach der Mann neben ihr. Plötzlich, als sie ihm das Gesicht zuwandte, zog er wieder den Hut. »Mein Name ist übrigens Coster, Philip Coster. Meine Freunde nennen mich Phil.« Wie alt mochte er sein? Ende der Dreißig? Vielleicht auch schon über vierzig? Aber selbst, wenn er fünfundvierzig wäre, was spielte das für eine Rolle? Er war ein Mensch, der mit ihr sprach, der Interesse an ihr hatte, der sie seit dem September beobachtete und ihr schon bis in die 77. Straße gefolgt war. Fünfundzwanzigtausend Dollar! Ja, sie würde noch heute eine Maschine nehmen. Weshalb nicht eine von der Parker Line? Aber er würde ja doch nichts davon haben. »Entschuldigen Sie«, sagte sie plötzlich und wandte sich ab. »Miß Moreland!« Nach drei Schritten blieb Ireen stehen, blickte sich über die Schulter um und sah seine großen traurigen Augen in den Brillengläsern schwimmen. 16
»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte sie, »vielleicht ein andermal.« Dann hielt sie auf den Park zu, durch dessen Bäume die Nebelschwaden über die breite Straße zogen. Es hatte an der Ecke hinter der Universität zwei Wege für Ireen Moreland gegeben: den über den Fahrdamm hinüber zu dem kleinen deutschen Café – von dessen Hochparterre man einen Blick auf die Straße hatte – und den Weg zum Park hinüber, in dessem Dunkel der Tod lauerte. * Sie schritt rasch aus und hatte die Anlagen bald erreicht. Welch eine Stunde! In ihrem ersten Viertel war der Mann gekommen. Ein fremder Mensch aus dem gewaltigen Schmelztiegel Chicago. Er hatte plötzlich vor ihr gestanden und sie zu einer Tasse Kaffee einladen wollen. Im zweiten Viertel dieser Stunde war das Los gekommen. Für sie war es das große Los. Das dritte Viertel würde ein Rausch sein. Rasch schritt sie aus, und die Gedanken jagten nur so durch ihren Kopf. Ich werde kurz nach Hause gehen, um mir das dunkelblaue Kostüm anzuziehen, und dann – natürlich, ich kann gleich drüben bei Pierrot meine hochhackigen Schwarzen abholen. Ja, und dann, dann werde ich zum Flugplatz fahren. Zu welchem Flugplatz fuhr man da eigentlich? Das würde sich schon finden. Zunächst mußte sie ja ihren Koffer packen. Allzuviel würde sie nicht mitnehmen; 17
wozu auch, das hatte sie ja nicht nötig. Wer Geld hatte, der brauchte keinen Koffer zu schleppen. Sicher hätte Mr. Coster dazu jetzt einen passenden Spruch von Shakespeare gewußt. Unter diesen Gedanken hatte sie die Nähe der Anlagen erreicht, verließ den breiten Gehsteig, der hier nicht sehr belebt war, und ging, wie sie es jeden Abend tat, auf den schmalen Weg hinter den ersten Büschen des großen Parks zu. Da war die Luft etwas reiner, und es gingen nicht so viele Leute hier. Aber der Nebel war da. In großen, schweren Wolken wälzte er sich unter den Bäumen entlang und preßte sich dem Boden entgegen. Vielleicht frage ich tatsächlich einmal nach der Parker Line, überlegte sie. Die letzte Viertelstunde war angebrochen – und sie wollte gleich in den ersten Minuten das Grauen bringen! Es tauchte plötzlich vor ihr auf: groß, drohend, schwarzgrau und blitzschnell. Ein Mann! Sie fand nicht mehr die Reaktion zu einer Gegenwehr. Wie angewachsen stand sie da, starrte ihm entgegen, sah, wie er plötzlich aus dem Dunkel hinter einem der Büsche hervorsprang und sie niederriß. Es waren die Büsche, die zwischen dem großen Gehsteig der Straße und dem kleinen Weg am Rande der Anlagen standen. Mit einem gewaltigen Anprall hatte der Mann sie niedergerissen. Hart schlug sie auf den Boden auf. Eine Ohnmacht sprang sie an, verschwand aber sofort wieder unter dem stechenden Schmerz, der 18
durch ihren Kopf zog. Sie wollte schreien, gellend um Hilfe schreien… aber um ihre Kehle krallte sich ein würgendes Händepaar. Wehrlos fielen ihre Arme auf den nassen sandigen Boden. Da zerrte sie der keuchende Mann brutal am Hals vorwärts auf die gegenüberliegenden Büsche zu. Sie spürte nur noch im Unterbewußtsein, wie sie einen ihrer Schuhe an dem Zementrand des Rasens verlor und dann in die nassen Büsche geschleppt wurde. Der Nebel hatte die Anlagen hier vollkommen eingehüllt, und die Straße schien unendlich weit entfernt zu sein. Der Mann, der sie vom Weg weggeschleppt hatte, ließ plötzlich von ihr ab, ließ sie zu Boden fallen und lief zurück auf den Weg. – Er hatte Schritte gehört. Hastig entfernte er sich. Fast neun Minuten lag Ireen Moreland an der nassen Erde und starrte in den Nebel, der sie wie eine erstickende Wand umgab. Ein feuchter Zweig berührte ihre linke Gesichtshälfte. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Der harte Aufprall auf den Boden hatte ihr eine schwere Kopfverletzung eingetragen. Blut rann aus ihrem rechten Mundwinkel. Die würgenden Hände des Mannes hatten sie an den Rand des Erstickungstodes gebracht. Aber es war ihr Herz, das nicht durchstand. Es war zu schwach zum Widerstand, viel schwächer, als Ireen Moreland jemals geglaubt hatte. Plötzlich setzte sein Schlag aus – nach neun qualvollen, grauenhaften 19
Minuten – den letzten Minuten jener Stunde, von der die unglückliche junge Frau gedacht hatte, daß es die schönste ihres Lebens sei. Die Stunde, die ihr einen Mann gebracht hatte – und Geld, sehr viel Geld. Welch ein Irrsinn war es doch gewesen, daß sie geglaubt hatte, noch heute fliegen zu können. Womit hätte sie das denn tun wollen? Hätte sie den Leuten auf dem Airport vielleicht das Los zeigen sollen? Wieder tauchte das blasse Männergesicht Phil Costers mit der großen Brille und den verschwommenen Augen wie eine Vision vor ihr auf. Sie hörte die weiche Stimme und die Bitte des Mannes, sie doch in das kleine Café zu begleiten. Sie hatte abgelehnt und war auf den Park zugegangen. Wie oft hatte sie diesen Park passiert, war sommers und winters, im Frühling und im Herbst den Weg hier gegangen – und niemals hatte sie auch nur im entferntesten daran gedacht, daß es ein Mensch wagen könnte, sich hier in der schmalen Passage zu dem breiten Gehsteig zu verstecken, um ihr aufzulauern. Es waren furchtbare Minuten, die letzten Augenblicke der unglücklichen Frau! Doch war sie sich über ihren Zustand gar nicht im klaren – und das schwache Herz, von dem Aufprall und den Würgegriffen überfordert, setzte ganz plötzlich aus. Nach neun und einer halben Minute starb Ireen Moreland. * 20
Die Menschen auf dem Trottoir verhielten den Schritt, als sie plötzlich einen Mann aus den Büschen kommen sahen, der eine Frau auf den Armen hielt, sie bis an den Rand des Gehsteigs schleppte und da niederließ. Sofort war er von einem Ring Neugieriger umgeben. »Was ist geschehen?« »Ich weiß es nicht. Die Frau hat so dagelegen. Ich habe sie gefunden…« Es war ein mittelgroßer Mensch mit einer etwas fülligen Figur, einer grauen Kappe und einer gleichfarbigen Uniformjacke mit silbernen Kragenkreuzen. Es war der Omnibusfahrer Joseph Buster. »Man muß die Polizei rufen!« riet eine ältere Frau, während sie mit Schauern auf das im diffusen Lichtschein furchtbar entstellt wirkende Gesicht der Toten sah. »Sofort die Polizei…« Der Streifenwagen war viel schneller zur Stelle, als die Umstehenden es für möglich gehalten hatten. Zwei Cops sprangen heraus und liefen auf das Menschenknäuel zu. Während der eine sich zu der Frau niederbückte, blieb der andere vor Buster stehen. »Sie haben sie also gefunden?« »Ja.« »Wann?« »Vor ein paar Minuten. Ich kam über den Weg dort, und da sah ich sie.« »Wo hat sie gelegen?« 21
»Da drüben in den Büschen.« »Zeigen Sie es mir.« Der langaufgeschossene Polizist Frank Hattaway begleitete den Busfahrer über den Grünstreifen durch eine Lücke in den Büschen auf dem sandigen Parkweg. »Da drüben ist es gewesen.« »Wo? Zeigen Sie mir das genau.« »Hier – warten Sie, nein, da muß es gewesen sein.« Der Polizist blieb plötzlich vor Buster stehen. »Können Sie sich nicht genauer daran erinnern?« drang seine monotone Frage an das Ohr des Busfahrers. »Warten Sie, es ist hier gewesen.« »Eben sagten Sie, dort. Das ist eine andere Stelle.« »Ja, das habe ich gesagt, aber warten Sie, es ist jetzt auch wirklich schwer. Wenn man Licht hätte, dann müßte man es sehen.« »Es ist hell genug hier.« »Nein, das kann ich nicht finden; es ist sogar ziemlich dunkel.« »Und weshalb sind Sie dann hier gegangen?« schlug da die Frage des Polizisten schneidend an das Ohr des Busfahrers. Der hob den Kopf und blickte den Hüter des Gesetzes mit offenem Mund und aus schmalen Augen an. »Wie soll ich das verstehen?« Seine Stimme klang plötzlich heiser, und ein leises Beben war darin. »Kommen Sie wieder mit auf die Straße«, sagte Hattaway. Der Polizist blieb vorn neben dem Streifenwagen bei 22
Buster stehen, während sein Kollege mit den beiden anderen Polizisten, die inzwischen herangekommen waren, die Leute aufforderte, weiterzugehen. Ein Krankenwagen kam mit heulender Sirene herangebraust und blieb mit kreischenden Pneus auf der feuchten Straße hinter dem ersten Streifenwagen stehen. Die Frau wurde eingeladen. Einer der Umstehenden, der sich nicht hatte vertreiben lassen wollen, fragte den Polizisten Hattaway: »Ist sie tot?« »Gehen Sie weiter!« wurde er schroff aufgefordert. Dann, nach Minuten, kam ein größerer Polizeiwagen, aus dem mehrere Beamte ausstiegen, die Hattaway kurz grüßten und Buster keines Blickes würdigten. Sie überquerten den breiten Gehsteig, und dann sah Buster es drüben zwischen den Büschen aufleuchten. Sie hatten Taschenlampen bei sich und außerdem größere hellere Leuchten. Blitzlicht flammte dazwischen auf und zuckte durch den milchigen Nebel. Dann kamen zwei von ihnen zurück. Hattaway und ein mittelgroßer, untersetzter Mann im Trenchcoat und mit schrägsitzendem, hartgekniffenem Hut. Er hatte ein eckiges Gesicht und scharfe Augen. »Ich bin Kommissar Barger.« Dann blickte er Hattaway an. »Ist das der Mann?« »Ja.« Barger ließ seinen Blick forschend über den Busfahrer gleiten und fragte: »Sie haben sie also gefunden?« 23
»Ja. Da drüben, wo sie eben fotografiert haben.« »Woher wissen Sie, daß wir fotografiert haben?« »Ich habe die Blitzlampen gesehen.« »Es waren keine Blitzlampen.« Buster rieb sich mit dem Handrücken das Kinn und spürte ein unbehagliches Gefühl in sich aufsteigen. »Dann steigen Sie mal ein«, sagte der Kommissar da und deutete auf den großen Wagen, mit dem er gekommen war. Buster nickte und stieg ein. Ein langer, harter, bitterer Weg lag vor ihm. * Auf der Polizeistation löcherte der Kommissar den Busfahrer Buster eine Stunde lang mit Fragen. Dann kam ein Gehilfe des Kommissars, ein gewisser Rattler, der das Verhör fortsetzte; ein Mann namens Hings assistierte ihm dabei. Als die beiden eine weitere Stunde in den Busfahrer gedrungen waren, wurden sie von einem Mann namens Godefrey abgelöst; einem hemdsärmeligen Menschen mit den Manieren eines Gangsters. Hinter ihm stand Bill Luchtens, der aussah wie ein Totengräber. Als Godefrey seine immer gleichen Fragen gestellt hatte, kam der Kommissar wieder herein. So ging es bis Mitternacht. »Abführen«, hörte Buster den Kommissar plötzlich in scharfem Ton sagen. Mit gesenktem Kopf trottete der Busfahrer hinaus. Er 24
wurde von zwei Beamten durch einen schmalen, kühlen Gang bis zu einer Gittertür geführt, hinter der wieder ein Korridor lag, von dem mehrere Türen abführten. Eine der Türen wurde rasselnd geöffnet, und der Polizist deutete mit dem Schlüsselbund in den dunklen Zellenraum. »Da sind wir…« Buster machte drei Schritte vorwärts, und hinter ihm fiel die schwere Tür ins Schloß. Schlüssel rasselten, und über die knarrenden Dielen entfernten sich die Schritte der beiden Beamten. Es war eine kleine Zelle, fünf Yards lang, vier Yards breit. Rechts stand eine primitive Pritsche, links war ein Klapptisch und davor ein Hocker. An der Wand, die der Tür gegenüberlag, war ein kleines vergittertes Fenster. Die Zelle war schlecht geheizt. Nebenan hustete jemand erbärmlich. Buster schüttelte sich, trat an den kleinen Tisch heran und legte seine schmale alte Aktentasche darauf. Dann ließ er sich auf den Hocker nieder, stützte die Hände auf die Knie und senkte den Kopf. Gegen ein Uhr waren auf dem Korridor wieder Schritte zu hören. Buster hielt den Atem an, als sie vor seiner Tür verstummten. Der Schlüssel wurde ins Schloß geschoben und rasselnd mehrmals umgedreht. Quietschend sprang die Tür auf. »Kommen Sie raus!« wurde er von einem Polizisten 25
aufgefordert. Es war keiner von denen, die ihn hergeführt hatten. Es war ein größerer, vierschrötiger Mensch mit blondem Haar und eingeschlagener Sattelnase. Er hatte ein Gesicht wie ein ehemaliger Boxer. Das verformte »Blumenkohlohr« verriet den ehemaligen Fighter. »Los, da lang«, gebot er mit knarrender Stimme und deutete mit seinem gewaltigen Kinn den Gang hinunter. Als die Gittertür hinter Buster lag, atmete er auf. Aber seine Hoffnung sank gleich wieder, als er das Gesicht des Kommissars sah, der brütend hinterm Schreibtisch hockte. »Buster, wir wollen die Sache kurz machen, wir haben es beide nicht nötig, uns etwas vorzumachen. Sie wissen, was Sie wissen, und ich weiß, was ich weiß. Und ich weiß, daß Sie die Frau gekillt haben.« Buster zog die Brauen zusammen: »Das ist doch nicht Ihr Ernst!« »Es ist mein Ernst, und jetzt geben Sie das Theater auf.« »Schluß jetzt! Sie geben zu, daß Sie da im Parkweg gesteckt haben, um dem Girl aufzulauern. Kann mir denken, was Sie mit dem Mädchen vorhatten. War ja auch eine ganz ansehnliche Puppe, nicht wahr?« »Herr Kommissar!« Wie ein Schrei standen die beiden Worte im Raum. Da sprang Barger hoch und hieb mit der rechten Faust auf die Tischplatte, daß die Bleistifte tanzten und die Kaffeetasse zu wackeln begann. 26
»Jetzt bin ich’s aber leid! Was glauben Sie eigentlich, wen Sie hier vor sich haben, Mann! Die Sache ist glasklar, und Sie bilden sich ein, mir hier noch etwas vormachen zu können. Jetzt gehen Sie sofort da rüber und unterschreiben das Protokoll, das ich diktiere.« Kommissar Barger diktierte ein Protokoll. Es besagte, daß der Busfahrer Joseph Buster, zweiundvierzig Jahre alt, die neunundzwanzigjährige Büroangestellte Ireen Moreland erdrosselt hatte. Der Busfahrer hatte das Gefühl, von einem Keulenschlag getroffen worden zu sein. Da trat Hings an ihn heran und legte ihm seine schwere rechte Hand auf die Schulter. »Ja, Junge, das hätten Sie sich nicht träumen lassen, daß die Sache so schnell rollt, was? Aber Sie können beruhigt sein, so was geht immer ziemlich schnell bei uns. Es ist bis jetzt nur wenigen gelungen, so eine Sache glatt abzuwickeln. Also los, gehen Sie rüber und unterschreiben Sie.« Buster blickte in Hings’ Gesicht und hatte plötzlich das Gefühl, daß er weglaufen müßte. Er wandte sich um, verhielt aber sofort wieder den Schritt. Drüben an der Tür stand mit finsterem Bullbeißergesicht der Polizist mit der eingeschlagenen Boxernase. »Also, was sollen die Fisematenten, Buster, rüber jetzt und unterschreiben! Wir sind schließlich auch müde. Oder glauben Sie, wir wollen uns hier Ihretwegen die ganze Nacht um die Ohren schlagen!« Noch um zwei standen sie im Arbeitszimmer des 27
Kommissars und um halb drei auch noch. Zehn Minuten vor drei schließlich lehnte sich Harold Barger auf seinen Stuhl zurück und stützte den Kopf in die Hände. Hings bellte den Festgenommenen an: »Wenn Sie jetzt nicht das Maul aufmachen, dann öffne ich Ihnen die Zähne, verstehen Sie?« Auch Godefrey und Bill Luchtens waren wieder hereingekommen. Zweifellos aber war der gipsgesichtige Gehilfe Rattler der Übelste von allen. Er war elegant gekleidet, trug einen Anzug nach englischem Muster, rauchte eine Zigarette nach der anderen, hatte einen kurzen militärischen Haarschnitt und warf sich unentwegt in seine Hühnerbrust, um sich in Positur zu stellen. »Jetzt hören Sie genau zu, Buster, was ich Ihnen sage; Sie kennen uns noch nicht. Ich werde Hings jetzt den Auftrag geben, Sie etwas geständnisfreudiger zu machen; Sie bilden sich wohl ein, daß wir hier einen Kindergarten haben, der sich mit Burschen Ihres Schlages bis tief in die Nacht hinein abzugeben hat. Los, Hings, machen Sie ihn mal ein bißchen munter.« Hings stieß dem Busfahrer plötzlich den rechten Ellbogen in die Rippen. Buster keuchte auf und rang nach Atem. »Na, wollen Sie endlich die Zähne aufmachen?« krächzte ihn Rattler rostig an, während er den Kopf weit über den Schreibtisch nach vorn stieß. Der Kommissar hatte den Kopf angehoben und blickte den Festgenommenen jetzt ebenfalls erwartungsvoll an. 28
Aber der schwieg. Da fauchte Rattler: »Los, Hings, machen Sie ihn munter!« Da holte Hings wieder aus und stieß den Häftling mit einem scharfen Ellbogenstoß in den Leib. Da ballte der Busfahrer die Faust und schlug in plötzlich aufwallendem Zorn zu – mitten in das widerlich grinsende Gesicht von Hings. Der torkelte zurück, und als er die Hand vom Gesicht nahm, sah Buster einen Blutfaden aus seiner Nase ziehen. »He«, meinte Rattler, »was war denn das? Jetzt reicht’s mir! Hings, machen Sie diesen…« Da hob Barger beide Hände. »Schluß für heute. Abführen!« Der Polizist mit dem Boxergesicht öffnete die Tür und deutete mit dem Daumen hinaus auf den Gang. Joseph Buster ging mit schwerem, schleppendem Schritt hinaus. * Schon in der Frühe des nächsten Vormittags wurde der Busfahrer Joseph Buster dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Länger als zwölf Stunden durfte nach dem Gesetz des Staates Illinois kein Festgenommener ohne richterlichen Beschluß in Haft gehalten werden. Der Untersuchungsrichter war ein hagerer Mensch mit einem uninteressierten kühlen Gesicht und einer Stahlrandbrille. Er hatte dünnes, gescheiteltes aschblondes Haar, und zwischen seinen schmalen 29
Brauen stand eine scharfe Falte, die bis in die Mitte seiner Stirn ging. Unter der Nase saß ein winziger dünner Schnurrbart, der absolut nicht in dieses Gesicht passen wollte. Der Richter schien es eilig zu haben, denn er blätterte die Akten auf und zog sich die Krawatte zurecht. Noch ehe die beiden Männer neben ihm Platz genommen hatten, begann er: »Also fangen wir an!« Der Mann, der vorm Richtertisch stand, bekam plötzlich weite Augen. Ganz deutlich konnte er da in Blockbuchstaben einen Namen auf einer Liste, die vor dem Richter lag, stehen sehen, der ihm das Blut in den Adern stocken ließ. Es war der Name Emy Lofterson. Buster hatte das Gefühl, von einem Keulenschlag getroffen worden zu sein. War das ein Zufall, oder stand der Name da wirklich auf dem Papier? Mehr als neunzehn Jahre lag es zurück. Er wohnte damals drüben im Stadtteil Stickney. Eines Morgens fand die Polizei seine dreißigjährige Hauswirtin Emy Lofterson ermordet in ihrer Behausung auf. Sie war erwürgt worden. Später stellte sich heraus, daß sie kurz vor ihrem Tod eine kleine Erbschaft gemacht hatte. Die Polizei verhaftete die drei Bewohner des kleinen Miethauses. Auch der junge Busfahrer Joseph Buster wurde festgenommen. Wochenlang saß er genau wie seine Nachbarn Harry Derksen und der alte James Cornfield in Untersuchungshaft. Schließlich wurde 30
Derksen entlassen. Buster und Cornfield saßen noch zwei weitere Wochen, und dann entdeckte man im Leben des alten James Cornfield einen dunklen Punkt. Glaubten sie, diesen dunklen Punkt jetzt bei ihm, Buster, entdeckt zu haben? Man hatte Cornfield damals nichts nachweisen können und ihn ebenso wie Buster mangels Beweisen wieder auf freien Fuß setzen müssen. Cornfield war zwei Jahre später gestorben, und das Verbrechen in Stickney blieb ungesühnt. Wie waren sie hier so schnell darauf gekommen? Der Richter hob den Kopf. »Ihr Name ist Joseph Teodore Buster. Sie sind zweiundvierzig Jahre alt und verheiratet, drei Kinder, von Beruf Busfahrer, gesund – und leben in erträglichen Verhältnissen. Ihre Frau ist einundvierzig Jahre alt und eine geborene Elizabeth Norton…« Der Richter leierte das Ganze wie eine Litanei herunter. Er sprach fast fünf Minuten lang. Dann machte er eine Pause, blickte auf seine knochigen Finger, nahm dann die Akte heran, auf der das angeheftete Blatt mit dem Namen der ermordeten Barfrau Emy Lofterson lag. Plötzlich flog sein Kopf hoch, und er sagte, ohne die Zähne auseinanderzunehmen: »Es ist nicht das erstemal, Buster?« Der Busfahrer stotterte: »Aber ich bin unschuldig. Damals wie heute, Euer Ehren!« Der Richter senkte ruckhaft den Kopf, nahm einen 31
Bleistift und machte ein paar Notizen. Als Buster schon glaubte, das Damoklesschwert sei von ihm gewichen, hagelte es plötzlich von Fragen. Fragen, die Demütigungen waren und ihn als den mutmaßlichen Täter bezeichneten. »Sie haben das hier gesucht«, zischte der Richter plötzlich und hob ein zusammengefaltetes Los in die Höhe. Buster starrte darauf und sah eine Zahl, die vor seinen Augen schwamm. »Nein. Ich weiß gar nicht, was das ist.« »Es ist ein Los, Buster, ein Los mit einem Gewinn von fünfundzwanzigtausend Dollar!« Wie schnell so ein Mensch doch sprechen konnte. Es war für Buster fast unmöglich, ihm ebensoschnell geistig zu folgen. Man bewies ihm jetzt in der nächsten Dreiviertelstunde, daß nur er den Mord an der Frau ausgeführt haben konnte. Als er aus dem Gerichtsraum abgeführt worden war, brachte man ihn vor einem jungen Lieutenant namens Holman. Er war der Chef der Kriminalpolizei‐Abteilung des Reviers VII und ging um seinen Schreibtisch herum, schickte die beiden Polizisten hinaus und blieb vor Buster stehen. »Ich denke, wir wollen es uns nicht unnötig schwer machen«, sagte er, während er sich eine Zigarette anzündete. Buster hob den Kopf. Konnte er Hoffnung schöpfen? 32
»Man verdächtigt Sie des Mordes, und Sie leugnen. Man hat Sie an mich verwiesen. Der Richter hat weitere Inhaftierung verfügt. Vielleicht wäre es gut, wenn Sie mit mir sprechen würden.« »Was soll ich mit Ihnen sprechen, Lieutenant.« »Wollen Sie immer noch keinen Anwalt?« »Nein, der Kommissar hat ihn mir gestern schon dreimal angeboten. Ich brauche keinen Anwalt. Was gibt’s denn zu verteidigen? Ich bin unschuldig.« »Ja, das sind sie alle«, sagte der Polizeioffizier mit einem müden Lächeln und deutete mit dem Daumen über die rechte Schulter. »Alle, die da drüben sitzen, oder jedenfalls doch ein Teil von ihnen, wenn Sie mit ihnen sprechen. Dann gibt es keinen, der wirklich was ausgefressen hat.« »Was ausgefressen? Hören Sie, Lieutenant, mir wird ein Mord vorgeworfen, und der Richter verdächtigt mich, auch einen zweiten Mord verübt zu haben. Eine Geschichte, die neunzehn Jahre zurückliegt.« »Die vergangene Zeit hat nichts mit einer Tat zu tun, die gestern ausgeführt wurde«, versetzte Holman, ohne sich der Sinnlosigkeit seiner eigenen Worte bewußt zu sein. »Ja, ja, aber ich bin es nicht gewesen, damals nicht – und heute nicht!« schrie Buster plötzlich los. Das Gesicht des Polizeioffiziers veränderte sich sofort. Die Freundlichkeit wich daraus und machte einer kühlen, abweisenden Strenge Platz. Er ging um den Tisch herum, nahm einen Brieföffner und ließ ihn auf der 33
Schreibtischkante auf‐ und niederfedern. »Ich habe mir Ihre Papiere noch nicht angesehen, aber ich werde schon dazu kommen.« Dann drückte er auf einen Knopf. »Abführen!« Es war das Wort, das der des Mordes Verdächtige jetzt noch sehr oft hören sollte. Aber schon zwei Tage später hatte der absolut nicht unkluge Lieutenant Frederic Holman eine Entdeckung gemacht, die ihn selbst und auch den Kommissar einiger Mühen enthob: Die ermordete Büroangestellte Ireen Moreland war nicht in Chicago gemeldet. Vielmehr lautete die letzte polizeiliche Eintragung auf eine Vorortstraße der Stadt Milwaukee. Ireen Moreland hatte damals mit ihrem »Verlobten« dort eine Zeitlang gelebt und im Kontor einer Strumpfwirkerei gearbeitet. Dann war sie nach Chicago zurückgekommen und hatte gar nicht daran gedacht, daß sie eine Ummeldung vornehmen mußte. Einerlei, nach den Gesetzen des Staates Illinois fiel das Verbrechen jetzt in das Ressort des Bundeskriminalamtes, des Federal Bureau of Investigation… In einem der großen, kahlen Zimmer des alten grauen Gebäudes in der Nähe des Oakwood Cemetery stand ein hochgewachsener, schlanker Mann, helläugig, mit kantigem, länglichem Gesicht, am Fenster und blickte über die Grabreihen des gegenüberliegenden Friedhofs. Es war der dreißigjährige Kriminalinspektor Eliot 34
Ness. Er war der Sohn norwegischer Eltern, die kurz vor seiner Geburt in die Staaten eingewandert waren. Ness war ein schweigsamer Mensch, der sich ohne Aufsehen mühsam die Position, die er jetzt bekleidete, erarbeitet hatte. Es war eine Position, die sonst beim FBI keineswegs schon Dreißigjährige besetzten: Ness leistete die Amtsabteilung Special‐Service und war damit der Boß in diesem Haus. Trotzdem war sein Zimmer so einfach geblieben, wie es schon vorher war, und die Lebensgewohnheiten des Inspektors blieben ebenfalls die gleichen wie vor dem Tage, an dem er von dem großen Boß auf diesen Platz gesetzt worden war. Der junge Ness hatte eigentlich niemals besonders jung gewirkt, sondern immer ziemlich mittelalterlich, ernst, streng und kühl. Er besaß eine sportliche Figur und hatte eine kurze, knappe Ausdrucksweise. Es war ein unauffälliges Leben, das bis zu diesem Tag hinter ihm lag, und sicher hätte niemand in dem großen Haus und auch nicht in der ganzen Weltstadt Chicago geahnt, daß ausgerechnet dieser Mann es sein würde, dessen Name einmal alle anderen der großen Polizeioffiziere dieses Landes überschatten würde. Der blonde Eliot Ness sollte eine Legende werden. Dann nämlich, wenn eines Tages der größte aller Gangster, der Italo‐Amerikaner Alfonso Capone, nicht nur diese Stadt, sondern das ganze Land in Atem halten würde. Dann sollte die ganze Welt den Namen Eliot Ness kennen. Aber es sollte nur ein sehr kurzes Leben sein, das dem 35
großen Eliot Ness beschieden war. An diesem Novembervormittag verspürte er einen dumpfen Kopfschmerz, blickte auf das Wasserglas, das die Sekretärin ihm auf die Fensterbank gestellt hatte, und tauchte den Finger hinein. Das Zeugs war ja lauwarm! Eine Vorstellung hatten die Girls! Er dachte an den vergangenen Abend, den er in einer der muffigen Kneipen am Jackson Pier in einer der Hafengassen zugebracht hatte. Er war zusammen mit Pinkas Cassedy auf der Fährte eines Gangsterpaares gewesen, das aus Indiana hier herüber nach Illinois geflüchtet sein sollte. Leider war es ihnen nicht gelungen, die beiden zu entdecken. Sie hatten bis in den grauenden Morgen hinein vor der Schenke ausgeharrt. Um halb sechs in der Frühe hatte ihn dann ein Anruf seiner Dienststelle wieder aus kurzem Schlaf gerissen und ihn zum Yachthafen geholt, wo man einen Mann festgenommen hatte, auf den die Beschreibung des Raubmörders aus Indiana zutraf. Er war es allerdings nicht gewesen, wie der FBI‐Inspektor sehr rasch festgestellt hatte. Ness wandte jetzt den Blick von den Gräberreihen und ließ ihn zu den grauen Häuserfassaden auf der anderen Seite des Friedhofs gleiten. Ein idiotisches Zimmer war es, das man ihm hier gegeben hatte. Mit Blick auf den Friedhof! So was sollte man sich verbitten. Einfälle hatten die Leute, 36
unglaublich! Aber andererseits hatte ein FBI‐Chefagent sich nicht an der Aussicht seines Arbeitszimmerfensters zu erfreuen, sondern seiner Arbeit nachzugehen, die da auf seinem Schreibtisch lag. Dabei hatte er gar nicht die Arbeit am Schreibtisch angestrebt, als er vor einer Reihe von Jahren in den Polizeidienst eintrat. Sicher, er hatte Polizeioffizier werden wollen – aber kein Mann, der sein Leben lang am Schreibtisch hockte. Und nun hatte man ihn dahin gedrückt. Was hätte er wohl gesagt, der Norweger Eliot Ness, wenn ihm jetzt jemand prophezeit hätte, wie sein weiteres Leben wirklich aussah; daß er nur einen geringen Teil davon am Schreibtisch zubringen würde; daß es durchaus draußen in den Straßen dieser Stadt verlaufen sollte, und daß er schon in kurzer Zeit von den großen Zeitungen dieses Landes als der gefürchtetste Banditenjäger bezeichnet werden sollte, den Amerika seit Wyatt Earps Zeiten jemals besessen hatte. Aber das würde auch dringend erforderlich sein. Denn mit einem Gegenspieler vom Format des Al Capone würde nicht zu spaßen sein. Ein atemberaubendes Duell zweier großer Männer würde seinen Lauf nehmen, wie die Kriminalgeschichte es noch nicht gekannt hatte. Einer der Apparate auf seinem Schreibtisch schrillte. Der große, schlanke Mann wandte sich um, griff nach einem der Hörer, legte ihn wieder auf, faßte den übernächsten und hatte einen seiner Beamten in der Leitung. »Was gibt’s?« 37
»Es ist die Stadtpolizei, Mr. Ness; es handelt sich um einen Raubmord – die Sache vom Washingtonpark.« »War das nicht die Geschichte mit der Frau und dem Los?« forschte Ness. »Richtig, es soll eine Sache für uns sein. Ich meine, für Sie, Boß.« Er liebte es nicht sonderlich, daß die Leute ihn Boß nannten. Aber man gewöhnte sich daran. Er hatte sich überhaupt noch an vieles zu gewöhnen, der junge FBI‐ Inspektor Ness. Er legte auf, nahm Hut und Regenmantel und ging hinaus. Immer beschlich ihn ein unangenehmes Gefühl, wenn er durch den langen Vorraum gehen mußte, in dem sechs Sekretärinnen saßen, die sich mit einer Unmenge von Schreibarbeiten zu beschäftigen hatten. Die kleine schwarzhaarige Ruth Everett kam auf ihren hohen Absätzen rasch heran und blieb mit einem Aktenstück neben ihm stehen. »Ist es wichtig?« sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich glaube nicht, Mr. Ness.« »Dann bringen Sie es mir heute mittag. Ich muß jetzt zur Stadtpolizei.« Er verließ das Haus, blieb einen Augenblick draußen vor der Tür stehen und schlug den Mantelkragen hoch. Er blickte am Friedhof vorbei die Straße hinunter zum Yachthafen, wo man sonst die weißblaue Fläche des Michigansees sehen konnte, wo sich jetzt aber schwere Nebelschwaden wie Stoffetzen über die Bucht auf die Straßenschluchten zuschoben. Mit raschen Schritten ging er auf den Wagenpark zu, 38
ließ sich sein Auto geben und fuhr stadteinwärts. Eine halbe Stunde später stand Eliot Ness im Büro von Lieutenant Holman. Der Polizeioffizier erhob sich rasch, als der FBI‐man hereinkam, und fragte nach kurzer Begrüßung, ob er ihm etwas anbieten dürfe. Ness lehnte ab und bat, sofort zur Sache zu kommen. Schweigend hörte er sich den Bericht Holmans an. »Der Fall ist ziemlich klar, Mr. Ness, finden Sie nicht auch?« forschte Holman schließlich. »Ob er klar ist, weiß ich ja nicht; aber ich werde mich darum kümmern.« Er kümmerte sich darum – und zwar mit einer Intensität, die keiner der bisherigen Bearbeiter entwickelt hatte. Zusammen mit seinem um fünf Jahre älteren Vertreter Pinkas Cassedy suchte er noch am gleichen Tag den verdächtigen Busfahrer im Gefängnis auf. Buster hockte niedergeschlagen da und blickte den FBI‐man ohne jede Hoffnung an. Im Gegenteil, als er hörte, daß dieser Eliot Ness vom Federal Bureau of Investigation war, schwand auch sein letzter Rest von Hoffnung dahin. Als die beiden wieder draußen waren, meinte der etwas rundliche Cassedy zu seinem Vorgesetzten: »Und was halten Sie davon, Eliot? Glauben Sie, daß er der Mörder ist?« Ness schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube es nicht. Aber ich kann auch nicht 39
das Gegenteil beweisen.« Das war eine Antwort, die Cassedy noch oft in seinem Leben von seinem Inspektor hören sollte. Das FBI hatte den Fall Moreland übernommen. Es sollte eine Affäre werden, und zwar schon sehr bald. Dafür sorgten die Zeitungen. Denen nämlich gefiel es nicht, daß der junge FBI‐Inspektor Ness die Sache offenbar von der falschen Seite aufrollte und dadurch verzögerte. Besonders der scharfzüngige Redakteur Rufus Matherley vom »Chicago‐News« glaubte, dem FBI‐Spezialagenten auf die Finger sehen zu müssen. Siebzehn Stunden später fand Eliot Ness in einem Kanalschacht, nur etwa vierzig Schritt von der Stelle entfernt, an dem die Moreland ermordet aufgefunden worden war, ein Messer. Ein Stilett. Und da derartige Entdeckungen im Staat Illinois absolut nicht geheimgehalten werden dürfen, mußte es der Presse mitgeteilt werden. Schon am kommenden Morgen traf beim FBI eine Nachricht ein, in der ein Mann behauptete: Ich habe Buster beobachtet. Er hat das Messer in den Schacht geworfen, in dem Mr. Ness es gefunden hat. Der Brief war anonym. Nicht anonym jedoch war die Erklärung der sechsundvierzigjährigen Herta Conrads, einer Hausfrau, die unweit der Cosminski‐School wohnte und erklärte, daß sie in dem in der Zeitung abgebildeten Joseph Buster den Mann erkannt hätte, der das Mädchen überfallen habe. 40
Selbstverständlich ließ der Inspektor die Frau kommen und vernahm sie gründlich. Ihre Aussage wurde zu Protokoll genommen. Es war eine schwere Belastung für Joseph Buster. Die Frau des verhafteten Busfahrers erbleichte, als Eliot Ness ihr das Stilett vorlegte und stammelte: »Ja, es gehört ihm.« In der kommenden Nacht nahm sich die verzweifelte Elizabeth Buster das Leben. Sie ließ ihre drei Kinder zurück. Diese Nachricht erschütterte die Bevölkerung fast noch mehr als der Mord. Das also hatte der fürchterliche Mann auch auf dem Gewissen. Noch einmal suchte Ness den schwerbelasteten Joseph Buster in der Zelle auf. Aber der schwieg. Nicht ein Wort kam über seine Lippen. Und niemand gab ihm zu dieser Stunde noch eine Chance. Eliot Ness arbeitete verbissen weiter. Auch das war typisch für den »Norweger«, wie er im Kollegenkreis genannt wurde. Noch ahnte niemand, was wirklich in ihm steckte. Noch sah niemand in ihm den künftigen Mr. Chicago. Auf der Hauptbusstation förderte Ness schon wenige Stunden nach dem Tod von Busters Frau ein stilettartiges Messer zutage, in dem die meisten Kollegen Busters Eigentum erkannten. Also war das Stilett, das im Kanalschacht des Parks gefunden worden war, nicht Busters Eigentum? Jedenfalls aber war die Tatwaffe da! Aber war die Moreland nicht erwürgt worden? 41
Natürlich war sie erwürgt worden. Aber sie hatte auch einen Schlag mit einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf bekommen. Ob allerdings das gefundene Stilett aus dem Kanalschacht des Parks dazu benutzt worden war, konnte niemand beweisen. Stück für Stück trug Eliot Ness die Mosaiksteinchen zusammen, um ein Bild daraus zu formen. Aber es wollte und wollte ihm nicht gelingen. An diesem Vormittag hatte er ein anonymes Schreiben bekommen, worin Buster vorgeworfen wurde, ein siebzehnjähriges Mädchen namens Selma Martinson verführt und dann ebenfalls erwürgt zu haben. Die Martinson war vor einem halben Jahr beim Garfield Boulevard tot aufgefunden worden. Eliot Ness hatte es sehr rasch herausgefunden – und er fand noch mehr heraus! Um die Mittagsstunde dieses Tages tauchte er wieder in den Hallen der großen Busstation auf und schlenderte zwischen den schweren, nach Benzin und Gummi riechenden Autoungetümen dahin, bis er an der Pförtnerloge stand. »Kann ich Mr. Presley sprechen?« Ein Mann, der nur wenige Schritte entfernt von der Loge stand, wandte den Kopf und blickte den Inspektor an. Es war ein mittelgroßer Mensch, der ein blasses Gesicht hatte, dunkle Augen und eine stumpfe, kurze Nase. Sein Mund schien randlos zu sein, und sein Kinn war spitz und in der Mitte gespalten. Er trug die blaugraue Jacke der Arbeiter des Busbahnhofs und eine 42
abgetragene graue Hose. In der linken Hand hatte er einen kleinen Werkzeugkasten. »Sie sind Edward Jefferson Presley?« Der Inspektor hatte es wie nebenher gesagt. Der Mann nickte. »Ja, wieso, um was geht es?« »Ich komme wegen Ihres Briefes.« »Ich hab’ den Brief nicht geschrieben!« sagte Presley rasch. Langsam kam Eliot Ness auf ihn zu. Er hatte seinen Trenchcoat geöffnet und die Hände in die Taschen geschoben. Fast um anderthalb Haupteslängen überragte er den Arbeiter. »Welchen Brief, Mr. Presley?« »Sie sagten doch eben, wegen meines Briefes, ich meine, wegen eines Briefes. Sie sprachen doch von einem Brief. He, was soll das? Ich weiß gar nicht, wer Sie sind; was wollen Sie überhaupt?« »Mein Name ist Ness. Ich bin von der Polizei.« »Ja, das kann ich mir schon denken, sonst wären Sie wahrscheinlich nicht hierhergekommen.« Abweisende Kühle stand in den Augen des FBI‐ Mannes. »Wir wollen es kurz machen, Presley: Sie haben einen anonymen Brief geschrieben.« »Was fällt Ihnen ein! Wie käme ich denn dazu? Was geht mich denn überhaupt das Ganze an!« Damit hatte der Hilfsarbeiter Edward J. Presley den zweiten Fehler gemacht. »Ich sagte schon, wir wollen es kurz machen«, unterbrach der Inspektor sein wildes Aufbegehren. »Ich 43
habe von allen Leuten, die hier arbeiten, Schriftproben. Auch von Ihnen, Mr. Presley; und Ihre Schriftprobe stimmt genau mit der Schrift des anonymen Briefes überein.« Und jetzt machte der Arbeiter seinen dritten verhängnisvollen Fehler. »Aber er ist doch gar nicht mehr der Ha…« Jäh brach er ab – aber es war zu spät. »Richtig, Presley, er ist mit der Schreibmaschine abgefaßt worden«, versetzte der Inspektor. Damit nahm er ihn am Arm und zog ihm den Werkzeugkasten weg. »Kommen Sie mit.« Edward Presley gestand nach zweieinhalbstündiger Vernehmung, daß er den Brief geschrieben hatte. Aber gleich nach seinem Geständnis schrie er aus heiserer Kehle: »Aber ich war es nicht! Ich habe die Moreland nicht umgebracht!« »Nein«, entgegnete der Inspektor ruhig, ohne sich von seinem Sitz zu erheben. Und dann hörte Pinkas Cassedy seinen Chef zu seiner Verblüffung sagen: »Aber Selma Martinson haben Sie ermordet, Presley?« War der Nebelmörder gefunden? Die Affäre Moreland war noch verwirrter geworden. Niemand schien mehr aus noch ein zu wissen. Im Gefängnis saß ein schwer belasteter Mann, und einer seiner Kollegen war wenige Tage nach Busters 44
Inhaftierung des Mordes durch Erwürgen an einer anderen Frau überführt worden. War Presley der Nebelmörder? Hatte er auch die Moreland auf dem Gewissen? Rufus Matherley schwieg sich aus. Auch die anderen Blätter verhielten ihre Stimme. Wie auch immer es aussehen mochte: Die Busstation hatte einen schweren Schlag versetzt bekommen. Einer ihrer Hilfsarbeiter war eines Mordes überführt worden. Joseph Buster blieb weiterhin in Haft. Denn die dreiundvierzigjährige Dora Heed hatte ihn am Vortage mit ihrem Zeugnis schwer belastet: Ich bin bereit zu schwören, hatte sie unterschrieben, daß ich in Buster den Mörder erkenne. Ich befand mich zur Zeit der Tat etwa fünfzehn Schritt von der Stelle entfernt. Als Buster dann durch die Gebüsche zur Straße lief, habe ich ihn deutlich erkannt. Befragt, weshalb sie erst heute damit ankäme, antwortete sie, daß sie Angst gehabt hätte. Aber ihr Mann hätte es schließlich geschafft, sie zu überreden, der Polizei die Wahrheit zu sagen. Schon am gleichen Abend in der zweiten Vernehmung brach das ›Zeugnis‹ der Dora Heed zusammen. Eliot Ness sagte ihr auf den Kopf zu, daß sie schon vor fünf Jahren einmal versucht hatte, eine des Mordes verdächtige Frau in Stickney zu belasten. Es war eine Verleumdung gewesen, die ihr sogar eine Klage eingetragen hatte. Trotz dieser Erfahrung schien die Bevölkerung nicht 45
klug geworden zu sein, denn schon am nächsten Nachmittag traf wieder ein Schreiben ein, in dem Buster erneut von einer Frau beschuldigt wurde. Diesmal war es die siebenunddreißigjährige Josephine Elmhurst. Sie erwies sich als ein schwererer Brocken. Dennoch hatte der Inspektor ihr innerhalb von drei Stunden bewiesen, daß auch ihre Beschuldigung aus den Fingern gesogen war. »Ich werde Klage gegen Sie einreichen«, sagte der Inspektor, als er die zitternde Friseuse in der Abendstunde dieses Tages schließlich nach Hause schickte. Müde senkte Eliot Ness den Kopf auf beide Hände und starrte auf die Schreibtischplatte. Was jetzt? War Presley der Nebelmörder? Hatte er Ireen Moreland ermordet? Fast um die gleiche Stunde nahm sich drüben im Planit‐Gefängnis der Hilfsarbeiter Presley das Leben. Und damit nahm er das Geheimnis mit sich ins Grab. Inspektor Ness ließ die Nachtzeitungen wissen, daß der Untersuchungsgefangene Buster auf freien Fuß gesetzt worden sei. Gegen neun Uhr vierzehn am darauffolgenden Abend wurde die ehemalige Stewardeß Gardy Belem am Rand des Washingtonparkes erwürgt an einem Gebüsch aufgefunden. Wieder lagen wallende Nebel über der Stadt und schienen sie ersticken zu wollen. Am Hals der Toten waren zwar starke Würgemale, jedoch keine 46
Fingerabdrücke zu entdecken. Jetzt beschoß der populäre Zeitungsmann Rufus Matherley den Inspektor Ness aus allen Rohren. ›FBI läßt den Nebelmörder frei!‹ ›Inspektor Ness begünstigt zweiten Mord des Nebelmörders!‹ Ähnliche Schlagzeilen bellten wie Hunde dem großen Wolf Matherley nach, und die Bevölkerung geriet in helle Aufruhr. Ja, es war tatsächlich möglich: eine Stadt, die mehrere Millionen Menschen beherbergte, konnte durch so etwas stark beunruhigt werden. Zwar hätten die Menschen in den Außenbezirken sich sagen können: »Was geht uns ein Mann an, der durch die Stadt geistert und in einem Park Frauen erwürgt?« – Aber die Angst schien schwarzgraue Flügel bekommen zu haben, die unter dem Nebel dahinflatterten und bis in die äußersten Winkel der Weltstadt drangen. * Eliot Ness saß an seinem Schreibtisch und blickte unverwandt auf ein Schriftstück, das vor ihm lag, als der Summer einer der Apparate ihn aufschreckte. Er tippte auf den roten Knopf daneben. »Was gibt’s?« Die Stimme der kleinen schwarzhaarigen Ruth Everett kam aus dem Gerät: »Mr. Rufus Matherley ist hier.« 47
Der Inspektor hatte ein kleines Lächeln um die Mundwinkel und sagte dann: »Ich lasse bitten.« Der schwerleibige Matherley stampfte herein. Er war ein Mann von sicher einsachtzig Größe, mit einem gewaltigen Körper, einem eleganten grauen Anzug und einem Mantel, der selbst bei Macy seine dreihundert Dollar gekostet haben mußte. Den weichen Hut hatte er tief im Genick sitzen, und seine Stirnglatze glänzte vor Feuchtigkeit. Flammende Röte stand auf seinem feisten Gesicht, und ohne ein Wort der Begrüßung von sich zu geben, bellte er: »Na, Ness, was sagen Sie jetzt?« Der Inspektor blickte ihn sehr ruhig an und deutete dann auf einen der beiden Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen. »Guten Tag, Mr. Matherley. Bitte, wollen Sie Platz nehmen.« »Nein, ich verzichte, Inspektor. Ich verzichte wirklich. Ich hätte nur gern von Ihnen gewußt, was Sie zu dem zweiten Mord im Washingtonpark sagen.« »Es ist eine höchst bedauerliche Geschichte, Mr. Matherley.« »Höchst bedauerliche Geschichte?« drang es heiser aus der Kehle des entrüsteten Journalisten. »Mensch, ich glaube, Sie sind wohl amtsmüde, was? Wie haben sie sich das gedacht? Wie kommen Sie dazu, einen so schwer belasteten Mann wie Buster zu entlassen? Einen Menschen, dem man den Mörder auf hundert Schritt 48
ansah!« »Er war nicht mehr schwer belastet, Mr. Matherley«, entgegnete der Polizeioffizier immer noch gelassen. »Außerdem hatte er gar nicht die Möglichkeit, den Mord auszuführen.« »Wie soll ich das verstehen?« »Weil er das Gefängnis bis zu dieser Stunde noch nicht verlassen hat.« Der Kopf des Zeitungsmannes zuckte zur rechten Schulter hinüber. Nur die linke Gesichtshälfte war dem FBI‐man zugeneigt, und das schwere linke Augenlid zuckte auf und ab. »Wie war das?« stieß Matherley hechelnd hervor. »Ich sagte, daß der Untersuchungsgefangene Joseph Buster nach wie vor in seiner Zelle sitzt.« Da richtete sich Matherley mit einem Ruck auf. Wortlos wandte er sich um und stampfte hinaus. Von dieser Stunde an hatte der junge Inspektor Ness einen Feind, der nicht zu unterschätzen war. Der beziehungsreiche Zeitungsmann Rufus Matherley würde ihm später noch, in den Auseinandersetzungen mit Al Capone, schwer zu schaffen machen. Denn Einfluß und öffentliches Ansehen Capones in der Stadt und darüber hinaus wurden nicht zuletzt vom mächtigen Medienmogul geprägt. Matherley konnte beiden nutzen und schaden – Eliot Ness und Al Capone. * 49
Er ist immer einen Schritt voraus, der Inspektor Ness, schrieb Matherley am nächsten Morgen. Ob es allerdings ein Schritt in die richtige Richtung ist, das ist zu bezweifeln. Die anderen bellten dem großen Matherley wieder im Echo nach. Aber ehe der Mann aus dem Nebel zum drittenmal zuschlagen konnte, kam ihm der geniale Polizeioffizier Eliot Ness zuvor. Wieder zogen schwere wattige Nebel durch die Straßen der Weltstadt, wälzten sich vom See durch die Häuserschluchten, wurden von den Querstraßen geschnitten und zogen in verdünnten Schleiern weiter. Am Washingtonpark aber war der Nebel noch so dicht, daß man kaum die Hand vor Augen zu sehen vermochte. Gegen halb zehn hatte eine Frau das untere Parkende an der Südwestecke betreten und schritt nicht sehr weit vom Gehsteig hinter den Büschen dahin, als plötzlich ein Mann vor ihr auftauchte. Er stand sekundenlang geduckt da, schnellte dann vorwärts und warf sich ihr entgegen. Aber die Frau schlug ihm instinktiv mit einem metallenen Gegenstand ins Gesicht. Er packte mit beiden Händen nach ihr, suchte ihren Hals zu erreichen, erhielt aber einen scharfen Schlag gegen den rechten Kinnwinkel und taumelte zurück. Noch einmal warf er sich auf die Frau und riß sie nieder. Ihr gellender Hilfeschrei schreckte ihn zurück. Sie sprang hoch, und als er doch noch einmal nach ihr greifen wollte, hatte sie einen seiner Handschuhe gepackt, riß ihn von der Hand des Mannes und schlug mit der anderen Hand wieder hart in sein Gesicht. Noch einmal faßte der Mann aus 50
dem Nebel nach ihr, glitt aber von ihrem glatten Plastikmantel ab. Da entschloß er sich, aufzugeben. In wilden Sprüngen tauchte er im Grauweiß des Nebels unter. Alles hatte sich in wenigen Sekunden abgespielt – und die Polizeiagentin Nora Henderson hatte die schwerste Minute ihres Lebens hinter sich gebracht. Sie war zwar mit einem Schlagring und einem Revolver bewaffnet, aber unglücklicherweise hatte sie die Schußwaffe zu tief in der Manteltasche gehabt, als daß sie sie rasch genug hätte herausbringen können. Dennoch aber entdeckte die Spezialabteilung des Inspektor Ness auf dem schwarzen Plastikmantel einen Fingerabdruck! Ein Fingerabdruck und ein schwarzer Stoffhandschuh, das waren die Spuren des Nebelmörders. Wenig genug – aber Eliot Ness hatte jetzt eine Handhabe. Der größte Polizeiapparat der Welt arbeitete auf Hochtouren. Der Nebelmörder hatte wieder zugeschlagen und war abgewiesen worden. Fieberhaft wurde von fünftausend Polizisten nach dem Mann gefahndet, der im Washingtonpark die Polizeiagentin Nora Henderson angefallen hatte. Was war jetzt gewonnen? Bewies der Überfall auf die Polizeiagentin, daß Joseph Buster unschuldig war? Oberrichter Norton war nicht dieser Ansicht, und Buster blieb nach wie vor in Haft. Sein Leidensweg war noch längst nicht zu Ende. * 51
Gegen die elfte Abendstunde schlenderte ein Mann durch die regenfeuchten Hafengassen der Kaistraße entgegen. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief in die Stirn gezogen. Es war der FBI‐Inspektor Eliot Ness. Vor einer kleinen Schenke blieb er stehen. Oben über der Tür war eine gelbe Kugel angebracht, auf der die beiden Worte Bella Napoli zu lesen waren. Die italienische Schenke war von Leben erfüllt. Als Ness eintrat, schlug ihm ein Lärm entgegen, wie man ihn nur in den Osterias südlich der Alpen echter finden kann. Er zwängte sich durch die Menschen zur Theke, nahm einen Whisky und unterhielt sich eine Weile mit einem der beiden Keeper. Dann ging er wieder. Dafür blieb Kommissar Pinkas Cassedy, der kurz nach ihm gekommen war, zurück und hielt die Ohren drei Stunden in der italienischen Schenke offen. Ness war weitergegangen und hatte in der Nähe des ehemaligen Lakeparks, ein paar Häuserblocks von der Gasse, in der das Bella Napoli lag, die Alhambra erreicht, eine Bar, in der vorwiegend Leute spanischer Abstammung verkehrten. Die Schenke schien zwar etwas besser ausgestattet zu sein als das Bella Napoli, aber im Gegensatz zu dem italienischen Lokal, das von fröhlicher Musik und Gesang erfüllt war, herrschte hier die dumpfe, stumme Bedrücktheit, die für die Nachtbars der Chicagoer Unterwelt typisch war. Die Theke war nicht von Gästen umlagert, und auch 52
an den Tischen saßen nur einzelne Gäste herum. Eliot Ness passierte einen baumlangen, mit Tressen besetzten Portier und betrat die Bar. Es würde nicht mehr lange dauern, daß er sich so etwas nicht mehr leisten konnte, denn bald würde auch der letzte Ganove in der Gangsterstadt Chicago sein Gesicht kennen. Er stellte sich ans Stirnende der Theke und beobachtete unter halb gesenkten Augenlidern die Menschen, die sich hier aufhielten. Er stand schon eine Viertelstunde bei seinem Gin, als plötzlich eine Seitentür geöffnet wurde und fünf Männer hereinkamen, die geräuschvoll an die Theke traten. Einer von ihnen, ein schlanker, großer Mensch mit scharfen Gesichtszügen, warf einen kurzen forschenden Blick auf Ness. Es war ein Mann Anfang der Dreißig. Sein Gesicht war knochig und hager, und der scharf ausrasierte, strichdünne Bart auf der Oberlippe betonte das noch. Stechende schwarze Augen lagen unter dichten Brauen, die über der Nasenwurzel zusammengewachsen waren. Sein Haar war ölig und glatt, und sein dunkler Anzug wies einen starken Nadelstreifen auf. Das Hemd war dunkel und die Krawatte hell. Ein Südländer zweifellos. Mit behaarten, langfingrigen Händen nahm er sein Glas, setzte es an die Lippen, und noch einmal streifte sein forschender Blick die Gestalt des Mannes am Thekenende. Zum erstenmal hatte Eliot Ness in das Gesicht von Mamsell S. Snyder gesehen. Aber zu dieser Stunde 53
kannte er seinen Namen noch nicht. Neben Snyder lehnte ein etwas stärkerer Mann, der jedoch auch südländische Gesichtszüge hatte. Er war größer als Snyder, sah auch besser aus und hieß José Sillot. Noch in der gleichen Nacht sollte Eliot Ness herausfinden, daß er der Sohn einer Spanierin und eines französischen Einwanderers war. Sillot warf ihm ebenfalls einen kurzen Blick zu, ließ sich dann aber von seinem Nachbarn, einem blonden Mann, in ein Gespräch ziehen. Die fünf Figuren blieben nicht allzulange und verließen die Schenke auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren. Eliot Ness wartete noch eine kurze Zeit und tat dann, als ob er die Toilette aufsuchen wollte, verschwand statt dessen jedoch durch die Hoftür und stand gleich darauf auf der Straße. Ein schwerer Chevrolet setzte sich soeben mit kreischenden Pneus in Bewegung. IRB 1474! Der FBI‐man hatte die Nummer bereits im Kopf notiert. Langsam ging er die Gasse weiter hinunter, bog um die nächste Ecke – und trat rasch wieder zurück. Denn nur wenige Schritte von ihm entfernt stand der große Chevrolet. Er war leer. Ness blieb stehen und wartete. Mit der Geduld einer großen Katze harrte er in einer Mauernische aus und blickte die düstere Hafengasse hinunter. 54
Etwa eine Viertelstunde später tauchte drüben in einem Hausgang ein Mann auf. Er riß ein Zündholz an, und gleich darauf flammte hinter ihm das Licht im Flur auf. Mehrere Männer kamen heraus und schienen irgend etwas zu schleppen. Das Menschenknäuel bewegte sich über den Bürgersteig direkt auf den Wagen zu. Es waren vier Männer, die einen fünften mit sich schleppten. Einen Betrunkenen! Der Inspektor setzte sich in Bewegung. Ohne Hast ging er dicht an der Hauswand, auf den Chevrolet zu. Die fünf waren plötzlich stehengeblieben. Der eine, der das Zündholz angerissen hatte, stieß einen Pfiff aus, worauf die vier anderen den Mann, den sie gepackt hielten, losließen und auf den Wagen zustürmten. Der, der den Pfiff ausgestoßen hatte, war Sillot. Er erreichte den Wagen nicht mehr. Blitzschnell hatte der Fahrer den Gang eingeworfen, und noch mit offenen Türen schoß das schwere Fahrzeug davon. Drei Menschen standen jetzt auf der regenfeuchten Hafengasse, der FBI‐Inspektor Ness, der Mann, den sie drüben aus dem Haus geschleppt hatten, und seitlich hinter ihm José Sillot. Drei spannungsgeladene Sekunden vergingen. Dann zuckte plötzlich Sillots Hand hoch. Ein Feuerstrahl blitzte auf, und der Mann, der nur drei Schritte vor ihm stand, stieß einen gellenden Schrei aus. Er torkelte nach vorn und kam damit dem Inspektor in die Schußlinie. Ness machte einen weiten Sprung nach links und hatte die Colt‐Automatic aus dem Schulterhalfter gerissen. 55
Zweimal brüllte sie auf. Sillot, der in affenartig schnellem Zickzack über die Straße sprang, schien von der zweiten Kugel getroffen worden zu sein. Er zuckte zusammen, hetzte strauchelnd weiter, hatte sich dann aber wieder in der Gewalt und verschwand in dem Haus, aus dem er gekommen war. Ness schob eine Pfeife zwischen die Lippen und stieß einen schrillen dreimaligen Pfiff aus. Dann beugte er sich über den Mann nieder, der wenige Schritte vor ihm auf dem Pflaster zusammengebrochen war. Er rollte ihn auf den Rücken und blickte in ein lichtloses Augenpaar. Die Beleuchtung in der Gasse war so schlecht, daß Ness das Gesicht des Niedergeschossenen nicht deutlich sehen konnte. Er richtete sich auf und fixierte den Hauseingang, in dem Sillot verschwunden war. Wenige Minuten später hatte der FBI‐Agent die Hoftür des gleichen Hauses erreicht. Dazu hatte er eines der Nachbarhäuser passieren und zwei Mauern übersteigen müssen. Die Tür war verschlossen. Ness bückte sich zu einem der Kellerfenster; das zweite war unverriegelt. Der Einstieg war nicht ganz leicht und auch nicht ungefährlich, denn als er sich in das heruntergedrückte Fenster beugte und seinen Hut hinunterfallen ließ, konnte er aus dem Geräusch schließen, daß seine Vermutung ihn nicht getäuscht hatte: Es war einer jener uralten Keller, die sehr tief angelegt waren. Dennoch zwängte er sich durch den 56
Fensterschacht an der Mauer hinunter. Er war im Kellergang, tastete sich im Dunkeln durch eine türlose Öffnung, bis er vor einer steinernen Treppe angekommen war, die geländerlos nach oben führte. Das war eine halsbrecherische Passage, die sogar noch um einen Absatz herumführte. Schließlich hatte er eine Tür erreicht, die höchstwahrscheinlich zum Hausflur führte. Sie war verschlossen! In diesem Augenblick hörte Ness Schritte, die die Treppe hinunterkamen. Rasch wandte er sich um, ging zurück und blieb hinter dem Mauerdurchbruch, in dem die Tür fehlte, stehen. Richtig, die Kellertür wurde aufgeschlossen, und ein Mann kam herunter. Daß es ein Mann war, hörte der Inspektor an dem heiseren Husten. Der Mann rasselte mit einem Schlüsselbund, kam dicht an ihm vorbei und ging mit schlurfendem Schritt den Gang hinunter, um vor einer der Drahttüren stehenzubleiben. Auf Zehenspitzen entfernte sich Ness, ging die Treppe hinauf und stand im Hausgang. Langsam ging er hinauf. Im ersten Stock konnte er das schwach beleuchtete Schild mit dem Namen Miller lesen. Gegenüber wohnte eine Familie namens Hopkins, die offenbar etliche Kinder hatte, denn der Lärm, der in den Hausflur drang, war nicht zu überhören. Ness ging weiter, und als er den nächsten Treppenabsatz erreicht hatte, sah er aus dem Dunkel den 57
Glutpunkt einer Zigarette schimmern. Da stand also jemand und rauchte. Ness konnte ihn in der Dunkelheit nicht erkennen, durfte aber auch ziemlich sicher sein, daß er selbst nicht erkannt wurde. Im gleichen Tempo stieg er weiter hinauf. Als er den Treppenabsatz erreicht hatte, zog der Mann an seiner Zigarette, und ein winziger roter Lichtschein fiel für einen Augenblick auf seinen weißen Hemdkragen. Der Mann in der spanischen Kneipe hatte kein weißes Hemd getragen! Da hörte Ness aus der Ecke der Treppennische das unterdrückte Lachen eines Mädchens. Ein Liebespaar also wahrscheinlich. Ness setzte seinen Weg fort. Im nächsten Geschoß war eine der beiden Wohnungstüren nur angelehnt. Schwacher Lichtschimmer fiel aus dem Korridor in den Hausgang. Als der Inspektor einen Blick auf das Namensschild werfen wollte, hörte er plötzlich hinter sich die schnarchende Stimme eines Mannes: »Was wollen Sie hier?« Ness drehte sich sehr langsam um, obgleich er nicht wenig erschrocken war, denn er hatte wegen des Kindergeschreis im Untergeschoß die Schritte des ihn Verfolgenden nicht hören können. Die Worte, die da an sein Ohr gedrungen waren, mußten aus der Kehle eines Negers gekommen sein. Es war der Mann mit der Zigarette. Er stand jetzt vor ihm, und obgleich etwas Licht aus der Wohnung ins 58
Treppenhaus fiel, waren nur seine Zigarette, sein weißer Hemdkragen, seine weißen Manschetten und seine hellen Schuhe zu sehen. Alles andere schien in der Dunkelheit zu schweben. »Hören Sie, Mister, wenn Sie von dieser idiotischen Staubsaugerfirma sind, dann will ich Ihnen sagen, daß ich es absolut nicht schätze, wenn jemand um diese Stunde noch meine Frau belästigt!« stieß der Neger kehlig hervor. Frau? Hatte er nicht mit einem Mädchen auf der Treppe gestanden? Da ging der Schwarze an ihm vorbei, stieß die Wohnungstür mit dem Knie auf, und der Inspektor konnte im Lichtschein des Korridors seine Konturen sehen. Es war ein mittelgroßer Mensch mit O‐ Beinen, wuchtigen Schultern und einem kleinen Kopf mit krausem, kurzgeschorenem Haar. »Sara!« rief er mit der kehligen Stimme, die seiner Rasse eigen war. Da wurde hinten eine Tür geöffnet, und eine fettleibige Negerin erschien in dem kurzen Flur. »Was gibt’s denn, Kid, ich denke, du bist Zigaretten holen?« »Ja, ja, ich bin zurück, das heißt, ich habe die Streichhölzer vergessen. Wenn der da…«, damit deutete er mit dem Daumen über die rechte Schulter, »wieder der Kerl von der Staubsaugerfirma ist, dann sag ihm, daß ich es nicht schätze, wenn er mich zu dieser nachtschlafenden Zeit noch heimsuchen will.« »Aber der Mann will doch gar nicht zu dir, und 59
außerdem habe ich dir gesagt, er kommt höchstens bis neun, und jetzt ist es schon – wieviel Uhr ist es eigentlich?« »Schluß damit«, knurrte der schwarze Kid, während er eine Hand aus der Tasche nahm und sich damit durchs Genick fuhr. »Verschwinden Sie, Mann«, wandte er sich wieder an Ness. »Wir haben einen alten Staubsauger, und der muß noch eine Weile halten.« Der Inspektor nickte, wandte sich ab, warf einen raschen Blick auf das Namensschild der gegenüberliegenden Wohnung und las den Namen Gomez. Zweifellos ein spanischer Name. War der Mann, dem er gefolgt war, hier in dieser Wohnung? Als er die Hand zum Klingelknopf hob, hörte er die Stimme des Negers wieder hinter sich. »Ach, Sie werden doch nicht glauben, daß die da drüben einen Staubsauger kaufen. Mann, Sie müssen wirklich eine Meise haben. Überhaupt möchte ich mal wissen, weshalb Sie mit diesem Blödsinn nicht am Tage herumlaufen, nachts schlafen die Leute schließlich, oder?« Das Kichern des Mädchens kam unten vom Treppenabsatz herauf. Es schien den Schwarzen nicht im geringsten zu stören. Er kam wieder in den Flur, spie den Rest seiner Zigarette über das Geländer und sah dem wirbelndem Glimmfunken nach, bis er unten im Parterre auf dem Terrazzo‐Fußboden aufschlug. »Ja, da will ich 60
mich mal schlafen legen.« »Dann gute Nacht, Mr. Higgins«, kam da die scharfe Stimme des Mädchens unten vom Treppenabsatz herauf. »Hallo, Miß Parker! Sie sind so spät noch auf?« tat er erstaunt. »Kleine Mädchen sollten schon längst schlafen.« Die fette Negerin hatte die Worte offenbar mitbekommen, da sie in der offenen Küchentür gestanden hatte. Rasch watschelte sie durch den Flur zur Wohnungstür und rief ihrem Mann, der noch am Geländer lehnte, zu: »Ach, du hast wohl wieder mit der da unten gesprochen, was?« »Halt die Klappe«, rief der Neger und fuhr sich mit dem linken Mittelfinger durch den weißen Hemdkragen. Da ging in der kleinen Wohnung der Familie Higgins noch eine Tür auf und ein schwerer vierschrötiger Mann kam hinter der dicken Sara heraus. Auch er trat neben die Frau in der Flurtür. Es war ein riesiger Neger in den Vierzigern, mit massigen Schultern und dem Körperbau eines Athleten. Er trug ein Unterhemd, das seinen muskulösen Oberkörper fest umspannte. Die Hose saß unter dem schweren Leib wie unter einem Mehlsack. Er hatte die Armbanduhr abgenommen und drehte sie geräuschvoll auf. »Was gibt’s denn noch, Mrs. Higgins?« »Ach, er hat schon wieder mit diesem verlotterten Mädchen da unten gesprochen, Mr. Potter. Wenn das nicht eines Tages mal noch ’ne Liebschaft wird!« »Mach dich doch nicht lächerlich«, meinte Kid Higgins 61
da und schob sich zwischen den beiden hindurch in den Korridor. Der riesige Neger hatte die Uhr umgebunden, legte beide Hände an seinen mächtigen Leib und lachte im tiefsten Baß. Da blieb Higgins hinten im Korridor stehen und wandte den Kopf über die Schultern. »Das hab’ ich gern, wenn Untermieter, die ihre Miete nicht zahlen, sich auch noch über einen lustig machen!« Da schüttelte der Riese den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht, Mr. Higgins, ich mache mich doch über niemanden lustig. Und wenn Sie heute abend gern mal mit Ihrer lieben Frau allein sein wollen, ich kann ja rüber zu Gomez gehen und fragen, ob ich mitpokern kann.« »Ja, bestimmt wird Gomez um diese Stunde noch auf Sie warten!« Die Tür fiel hinter dem »Hausherrn« ins Schloß. Da zog der riesige Neger die Schultern hoch und kam ins Treppenhaus hinaus. Erst jetzt bemerkte er den Weißen, der drüben vor der Tür der Familie Gomez stand. »Ah, wollen Sie auch zum Pokern?« »Ja, ich hätte nichts dagegen«, sagte Ness rasch. Der Herr Untermieter Potter drückte mit seinem überdimensionalen Daumen auf die Klingel und ließ ihn darauf stehen. Hastige Schritte kamen zur Tür. Aber es wurde nicht geöffnet, sondern der Spion betätigt. Da hier oben im Treppenhaus offenbar die Birnen 62
defekt waren und niemand daran dachte, sie durch neue zu ersetzen, konnte der Beobachter am Spion nur die Konturen des Negers erkennen. Eine Kette wurde zurückgenommen und die Tür geöffnet. »Ach, Sie sind’s, Jim, ja, kommen Sie herein. Mein Mann sitzt noch über der Zeitung.« Eliot, der neben dem Joe‐Louis‐Typ gestanden hatte, sah eine dunkelhaarige Frau mit umflorten Augen und blassem schmalem Gesicht in einem Kittelkleid an der Tür stehen. »Sie haben jemanden mitgebracht?« »Ach, ich dachte, er wird hier erwartet?« Ness trat an dem Schwarzen vorbei in den Korridor, zog seinen Hut, und dann zeigte er der Frau seine Marke. Beinerne Blässe kroch über das Gesicht der dunkelhaarigen Rozy Gomez. »Ich habe es gewußt«, stieß sie hervor, »ich habe es gewußt!« Dann senkte sie den Kopf und preßte ihre Schürze auf die Augen. Der wuchtige Neger begriff überhaupt nichts. Er stand immer noch in der offenen Tür. »Schließen Sie bitte die Tür«, forderte Ness ihn auf. »Ja«, entgegnete er und kam der Aufforderung des Inspektors nach, ohne sich jedoch selbst zu entfernen. Da wurde hinten in dem kleinen Korridor eine Tür geöffnet, und ein hemdsärmeliger Mann von vielleicht dreißig Jahren trat heraus. Er war fast ebenso groß wie der Neger, aber nicht so dick. Sein Gesicht wirkte verwüstet und verlebt. Er hatte schwarzes struppiges Haar und eine niedrige Stirn, eine kurze Nase, in deren 63
Löcher man sehen konnte, und aufgeworfene Lippen, in deren rechtem Winkel eine Zigarettenkippe glimmte. »Was ist los, Rozy?« Die Frau deutete mit dem Kopf auf den Inspektor. »Polizei«, sagte sie und wollte sich abwenden. »Bitte, bleiben Sie«, forderte Ness sie auf. »Polizei?« preßte Gomez durch die Zähne, während er eine seiner kantigen Hände aus der Tasche zog. »Was hat denn das zu bedeuten?« Eliot blickte den Mann forschend an. Nachdem er dann noch einen Blick auf die Frau geworfen hatte, sagte er mit ruhiger Stimme: »Ich bin einem Mann gefolgt, der vor wenigen Minuten unten auf der Straße einen anderen niederschoß, der hier aus dem Haus geschleppt wurde.« »He«, meinte da der Neger, »also war es doch ein Schuß vorhin. Ich dachte schon, es wäre ein Gewitter oder so was.« »Gewitter im November sind selten«, kam es schroff von den Lippen des FBI‐Mannes. »Da wird wohl dein prächtiger Mietsherr wieder eine Fliege im Hausflur geklatscht haben«, knurrte Gomez, während er das linke Auge einkniff. Der Neger lachte in dröhnendem Baß und blickte verlegen auf die Frau, die immer noch mit bleichem Gesicht dastand. Die Stimme des Inspektors brachte jedoch bitteren Ernst in die Situation. »Auf der Straße ist ein Mensch erschossen worden, und der Mörder ist in dieses Haus 64
geflüchtet. Es war ein Mann, der aus der spanischen Hafenschenke ›Alhambra‹ kam.« Gomez schob das Zigarettenende von einem Mundwinkel in den anderen, spie es dann aus und zertrat es mit seinem klobigen Schuh. »He, was wollen Sie damit sagen? Überhaupt, Mann, wer sind Sie?« Er schob sich langsam näher, und als die Frau ihm in den Weg treten wollte, drückte er sie mit seiner linken Pranke derb gegen die Flurwand. Dicht vor Eliot Ness blieb er stehen. Scharfer Fuseldunst schlug dem Inspektor entgegen. »Von der Polizei sind Sie also? Das kann ja jeder sagen.« Ness hielt ihm seine Maske vors Gesicht. Da wich der Hafenarbeiter Fernando Gomez zwei Schritte zurück. »FBI!« entfuhr es ihm. Selbst der Neger war jetzt so verblüfft, daß er einen Ausruf der Verwunderung nicht unterdrücken konnte. »Dann werde ich jetzt wohl mal gehen«, brummte er. »Bleiben Sie«, forderte der Inspektor ihn auf. »Und Sie, Mr. Gomez, werden die Freundlichkeit haben, mich einen Blick in Ihre Wohnung werfen zu lassen.« »Ja, natürlich«, sagte Gomez, trat zur Seite und ließ den Inspektor auf die Wohnzimmertür zugehen. In dem Augenblick aber, in dem Ness nach der Klinke griff, ging in dem kleinen Flur das Licht aus. Instinktiv warf der Inspektor sich zurück. Ein schwerer Schlag zerriß vor ihm die Türfüllung. Holz 65
splitterte und stob bis zu ihm an den Boden. Er richtete sich auf, zog seinen Revolver und tastete sich zur Tür zurück. Da stieß er mit dem Neger zusammen. Der knurrte: »Verflucht, was ist hier los? Wo ist denn bloß der Türgriff? Lassen Sie mich los, Mann!« Eliot zerrte ihn vor sich und griff dann selbst hinter sich nach dem Türgriff. Es war sehr still in dem kleinen Korridor. Eliot spürte, daß er mit dem Neger allein war. »Schätze, Ihr Pokerpartner hat uns da einen kleinen Streich gespielt, Mr. Potter.« »Ich verstehe kein Wort«, knurrte der Schwarze. »Das ist vielleicht auch nicht nötig«, versetzte der Inspektor. Es stand für ihn jetzt fest, daß der Mordschütze hier in diese Wohnung geflüchtet war. Und da er keinen Augenblick zu verlieren hatte, sprang er vorwärts, warf sich gegen die nächste Tür. Ein Schuß fauchte ihm entgegen. Er duckte sich nieder, versetzte dem Schloß, das die Tür noch hielt, einen Tritt; dann barst die Tür völlig auseinander. Er blickte in einen Raum, dessen Fenster offen stand. Man konnte die wenigen erleuchteten Fenster des gegenüberliegenden Hauses sehen. Ness duckte sich nieder und lief zum Fenster. Das typische Geräusch, das von einem Menschen verursacht wird, der über die Feuerleiter nach unten steigt, drang zu ihm herauf. 66
Er wandte sich um, lief in den Korridor zurück und fand die Tür zum Hausgang offen. Der Neger stand kopfschüttelnd in seiner eigenen Wohnungstür. »Wenn ich das begreife, dann will ich doch auf der Stelle…« Der Inspektor hörte nicht mehr, was der Hüne sein wollte, sondern hastete mit weiten Sprüngen die Treppen hinunter. Als er die Kellertür erreicht hatte, war sie wieder verschlossen. Er riß daran, und als sie nicht nachgeben wollte, warf er sich mit aller Gewalt dagegen. Sie sprang auf. Ein Glück, daß er den Keller schon kannte, sonst wäre er vielleicht hier an der geländerlosen steilen Treppe gestürzt. Er fand die Hoftür und auch den Schlüssel, der in ihr steckte. In dem Augenblick, in dem er sie öffnen wollte, sah er die dunkle Gestalt eines Mannes drüben über die Mauer zum Nachbargarten jumpen. Ness machte kehrt, sprang die Treppe wieder hinauf in den Hausflur und riß die Tür zur Straße auf. Mit wilden Sätzen spurtete er bis zur nächsten Haustür und preßte sich da in eine Mauernische. Aber der Mann, auf den er wartete, kam nicht. Der Bandit, der durch die Wohnung der Familie Gomez geflüchtet war, hatte ein anderes Schlupfloch gefunden. Zehn Minuten später war das ganze Gebiet abgeriegelt. Aber der Mordschütze war entkommen. Der Inspektor hatte rasch ermittelt, daß der Tote ein Vertreter für elektrische Geräte war und John Henreidt 67
hieß. Er hatte hier im Haus ein Zimmer gehabt, und zwar bei der Familie Gomez. Fernando Gomez selbst war nicht mehr da. Auch ihm war die Flucht gelungen. Der rundliche Kommissar Cassedy fuhr sich über sein Mondgesicht und schüttelte den Kopf, als er eine Dreiviertelstunde später neben seinem Chef unten an der Ecke der Gasse stand, von wo aus der Inspektor den parkenden Chevrolet und die Männer beobachtet hatte. »Der Teufel soll sich das zusammenreimen. Offensichtlich stinkt da in der Alhambra etwas. Aber ob die Sache tatsächlich etwas mit unserem Mann zu tun hat, glaube ich nicht.« »Wir können auch nicht das Gegenteil beweisen«, entgegnete der Inspektor und beobachtete die gegenüberliegenden Häusergiebel. Der Grund, der ihn erst zu der italienischen und dann zu der spanischen Schenke geführt hatte, war allerdings fadendünn: Es war das südländische Stilett, das vermutlich in der Faust des Nebelmörders als Schlagwaffe gedient hatte! Die Fingerabdrücke auf dem schwarzen Plastikmantel der Polizeiagentin Henderson hatten keinen Erfolg gebracht. Sie waren in zwei Stunden durch sämtliche Apparaturen, die der neuesten Entwicklung entsprachen, gelaufen und hatten kein brauchbares Ergebnis zutage gefördert. Ein Mann mit diesem Fingerabdruck war der Polizei der Vereinigten Staaten bisher unbekannt. Der Nebelmörder war also für die Polizei entweder ein bisher unbeschriebenes Blatt, oder er war ein Mann, der 68
immer mit Handschuhen gearbeitet hatte. Ness hatte kurz darauf in der Alhambra erfahren, daß es sich bei den beiden Männern, die da vorhin an der Theke gestanden hatten, um José Sillot und Manuel Snyder handelte. Und Sillot war der Mordschütze! Um halb zwei trat der FBI‐Spezialagent Eliot Ness, von seiner unheimlichen Nase und sagenhaften Ausdauer geführt, in die Hinterhofbar »Zum goldenen Mond« und holte den völlig betrunkenen Fernando Gomez heraus. Der Inspektor hatte die Spur des Hafenarbeiters gefunden – und niemand hatte ihm dabei geholfen. Gomez wurde zum Bureau gebracht, wo er jedoch keinerlei Aussagen machen konnte, da er erst ausgenüchtert werden mußte. Das war eine sehr unangenehme Wartefrist, die dem Inspektor gewaltig zu schaffen machte. Gegen vier Uhr in dieser schlaflosen Nacht erfuhr er durch einen Anruf, daß der immer noch in Untersuchungshaft sitzende Häftling Joseph Buster kurz nach Mitternacht einen Selbstmordversuch gemacht hatte. * Der Mann, der in der Hafengasse den Gerätehändler Henreidt niedergeschossen hatte, war der Halbspanier José Sillot; das stand jedenfalls fest. Wo er geblieben war, 69
vermochte Eliot Ness ebenso wenig herauszufinden, wie den Verbleib seines Kumpanen Manuel Snyder und der anderen Chevroletinsassen. Die anderen, die dabeigewesen waren, sollten nach den Angaben des Wirtes die Hancok‐Brothers sein – Männer, die wohl einer Familie angehörten, jedoch höchstwahrscheinlich keine Brüder waren. So etwas gab es hier oben in Chicago häufiger, und sicher auch anderwärts in den Staaten. Die Hancoks, die niemand so genau kannte, ließen sich einmal für dies und einmal für jenes Geschäft anheuern. Und es war Geschäft, wenn genug dabei heraussprang. Diesmal hatte es offensichtlich dem Gerätehändler Henreidt gegolten. Gegen sieben Uhr am nächsten Morgen brachte Eliot Ness aus dem nur mühsam ausgenüchterten Hafenarbeiter Gomez heraus, daß Sillot es wahrscheinlich auf Henreidts Geld abgesehen hatte. Der Inspektor war sehr erstaunt, zu erfahren, daß Henreidt Geld gehabt haben sollte, mußte sich dann aber davon überzeugen lassen, daß der Gerätevertreter in den letzten sechzehn Jahren tatsächlich so viel zusammengespart hatte, daß er sich gut und gern davon ein schönes Haus und vor allem einen bequemen Lebensabend hätte leisten können. Was den Halbspanier Sillot allerdings veranlaßt hatte, auf Henreidt zu schießen, vermochte Ness nicht zu ergründen. War es nur ein Seitenweg, auf den ihn da Sillot, Snyder und die Hancok‐Brothers geführt hatten? War er da nur an ein neues Verbrechen geraten? Oder sollte 70
tatsächlich in der Alhambra‐Bar ein Staubkorn des Nebelmörders gesteckt haben… * Die Tage schleppten sich dahin, ohne daß irgendein Lichtblick für den FBI‐man zu erspähen gewesen wäre. Obgleich Snyder und Sillot sowie auch die Hancok‐ Brothers vom gesamten Polizeiapparat der Riesenstadt gesucht wurden, war bis jetzt jede Spur von ihnen wie vom Erdboden vertilgt. Rufus Matherley hatte wieder seine große Stunde. »Ness tappt im dunklen herum!« Und eine andere Zeitschrift meinte, ob er vielleicht das Ungeheuer von Loch Ness suche. Ein etwas geschmackloser Vergleich, der auf das vorweltliche Ungetüm anspielte, das in einem der schottischen Seen vor vielen Jahren gesichtet worden sein sollte und eine Zeitlang durch die Weltpresse geisterte. Verbissen setzte der Inspektor seine Nachforschungen fort. Der Fall Moreland, der sich allmählich zur Affäre ausgeweitet hatte, war sein erster Fall, und er hatte sich geschworen, nicht daran zu scheitern. Aber es sah mehr und mehr danach aus – und wer ihm in diesem Augenblick etwas von seiner wahren Laufbahn hätte prophezeien wollen, der wäre höchstwahrscheinlich von ihm bitter ausgelacht worden. Nein, es stand sehr schlecht. Buster lag mit einer schweren Vergiftung im Gefängnishospital, seine Frau hatte sich umgebracht, und 71
immer war da noch das Stilett, von dem seine eigene Frau behauptet hatte, es sei sein Eigentum gewesen. Aber ein anderer Mann hatte den Überfall auf die Polizeiagentin Henderson durchgeführt – ein Mann, der nur einen verrutschten Fingerabdruck und einen alten schwarzen Stoffhandschuh hinterlassen hatte. »Ist es denn nicht ganz klar, daß dieser Mann der Nebelmörder ist?« wollte Cassedy wissen, der jetzt hinter dem Inspektor am Fenster stand und über dessen Schulter auf den dämmrigen Friedhof hinausblickte, über den bereits wieder die ersten Abendnebel zogen. Ness schüttelte den Kopf. »Es ist absolut nicht selbstverständlich, Cassedy, und klar ist nur, was klar bewiesen werden kann.« Es war ein verdammt nüchterner Beruf, dem sie hier nachgingen; ein Job, den man nicht rasch genug wieder an den Nagel zurückhängen konnte, überlegte Pinkas Cassedy. Als er hier vor einiger Zeit begonnen hatte und sich seinen neuen Boß besah, hatte er andere Vorstellungen von der Arbeit in Chicago gehabt. Er war von New York herübergekommen, wo er bereits sechzehn Jahre schwere Arbeit im Dienst des FBI hinter sich gebracht hatte. * Es war die siebte Nacht, die sich der junge FBI‐Inspektor im Washingtonpark um die Ohren schlug. Wieder schoben sich schwere Nebelwolken vom 72
Wasser durch die Straßenschluchten auf den Park zu. Sie fanden von der 60. Straße bis hinauf zur 1. Straße fast überall Durchbrüche, die ihnen den Einlaß in den Park ermöglichten. Darüber, über den hohen Bäumen des Parks und über den höchsten Etagen der Wolkenkratzer war die Luft fast klar. Das war das Teuflische an diesem Smog, daß er sich tief über den Boden dahinwälzte und die Menschen fast erstickte. Ness war unten von der 9. Straße aus in der Mitte des Parks über einen der Wege auf den See zugegangen, an dessen Ufer er stehenblieb und auf den dunklen Wasserspiegel blickte, der nur von wenigen winzigen Lichtschimmern kenntlich gemacht wurde. Es waren Lichtschimmer, die von fernen starken Straßenlatenen irgendwie doch ihren Weg hierhergefunden hatten – trotz des Nebels und trotz der Dunkelheit. Der Inspektor ging am Ufer entlang und hielt auf die Westseite des Parks zu. Es war kurz nach neun, und der Park lag wie ausgestorben da. Aber draußen, nur wenige hundert Schritt von Ness entfernt, wogte und rauschte der Verkehr der großen Stadt vorüber. Weshalb hatten trotz der furchtbaren Morde, die hier verübt worden waren, immer noch Menschen den Weg hierher gesucht, um den Park zu passieren, zumindest jedoch an seinem Rand entlangzugehen? Tagelang nach dem letzten Mord war er von Polizisten umstellt worden, und danach hatte man die Geheimpolizei noch in ihm postiert. Aber dann hatte der Inspektor die Leute abgezogen – bis auf vier, die sich 73
an bestimmten Punkten aufzuhalten hatten. Hier unten im Südteil der großen Anlage wollte er selbst die Augen offenhalten. Aber wie sollte ein Mensch bei diesem Nebel überhaupt einen anderen sehen, auch wenn er nur wenige Schritte von ihm entfernt war? Zwar behielt der Nebel nicht unentwegt seine Dichtigkeit, sondern lockerte sich hin und wieder auf, so daß man bis zu zwanzig Schritt weit sehen konnte, aber nur, um sich bald darauf wieder zu verdichten. Plötzlich drang ein leises Geräusch an das Ohr des FBI‐Mannes. Es war das Geräusch, das verursacht wird, wenn eine Schuhsohle Sandkörner knirschend auf den festen Boden preßt. Ness ging vom Wasser weg und duckte sich hinter einem Gesträuch unweit des Weges nieder. Jetzt war nichts zu hören. Der Inspektor hielt den Atem an, um besser lauschen zu können. Und jetzt hörte er ganz deutlich wieder das gleiche Geräusch. Am liebsten hätte er sich ganz flach auf den Boden gelegt, um sich weiter vorwärtszubewegen, weg von den Büschen, näher an den Weg heran – aber da die Erde hier vom Regen, der den ganzen Nachmittag gefallen war, völlig durchnäßt war, mußte er darauf verzichten. Da, abermals das Knirschen von Sandkörnern unter einer harten Schuhsohle. Diesmal schon sehr viel näher. Ness lauschte wieder sekundenlang mit angehaltenem Atem. Seine Augen versuchten, das wattige Grauschwarz des Nebels zu durchdringen. Aber da war nichts zu 74
machen. Selbst die Lichtstreifen, die von fernen Laternen den Seespiegel erreicht hatten, waren längst in milchige Fäden aufgelöst und vom Nebel aufgesogen worden. Da drang das Geräusch wieder an sein Ohr. Drüben auf dem Weg stand ein Mensch, der ab und zu sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Konnte man es wagen, sich jetzt zu erheben, um vorwärts zu schleichen? Wenn der Nebel so dicht blieb, war das vielleicht nicht einmal so riskant. Aber wer konnte schon auf die Dichtigkeit dieses verdammten Smogs rechnen? Es war typisch für Eliot Ness, daß er sich von den Büschen löste und auf allen vieren vorwärtsbewegte. Er tastete mit den Fingerspitzen den Boden ab, ehe er auf diese Stelle die Schuhe setzte. Kein Sandkorn durfte unter seinen Sohlen knirschen, und nicht der kleinste Ast unter ihnen zerknicken. Mit äußerster Vorsicht bewegte er sich weiter. Als er etwa noch sieben oder acht Schritt vom Weg entfernt war, ließ ihn das Geräusch der knirschenden Sandkörner fast zusammenfahren. Der Mann mußte in unmittelbarer Nähe sein. Direkt am Rand des Rasens. Und nach einer weiteren Minute wußte er, daß da ein Viereck in den Rasen eingebuchtet worden war, in dem eine Bank stand. Da vorn auf der Bank saß ein Mann. Hin und wieder erhob er sich und verursachte dabei dieses Geräusch. Und wenn er sich erhob, stand er mit angehobenem Kopf da und lauschte auf den Weg. Urplötzlich tauchte der Inspektor hinter der Bank auf. 75
Nur noch knappe fünf Schritte von dem anderen entfernt. Da hatte der Mann ihn gehört, fuhr herum und starrte den FBI‐man an. So viel Vorwürfe Eliot Ness sich selbst später auch machte: er hatte nichts, gar nichts anderes tun können, als was er getan hatte. Denn jetzt etwa den anderen mit dem Revolver zu bedrohen, wäre etwas gewesen, was nicht nur gegen sein innerstes Empfinden, sondern vor allem auch gegen die Regeln des FBI verstoßen hätte. Ein FBI‐Agent, der sich nicht selbst in großer Not befindet, darf die Waffe nicht auf einen Mitmenschen richten. Das war eines der obersten Gesetze des Federal Bureau of Investigation und der Armee jener Menschen, die zu seinen Mitgliedern zählten. In diesem Augenblick zischte etwas durch die Luft. Der FBI‐man wollte seinen Kopf zur Seite reißen, aber da prallte schon ein schwerer Gegenstand gegen seine rechte Stirnseite, ließ ihn zurücktaumeln und in die Knie brechen. Er stützte sich mit der Linken auf den Boden und zog instinktiv mit der Rechten den Revolver. Er beugte sich nach vorn, hob den Kopf wieder an und suchte mit den Augen das jetzt stärker gewordene Schwarzgrau des Nebels zu durchdringen. Wie aus weiter Ferne drangen hastende Schritte an sein Ohr, die rasch verklangen. Der Mann im Nebel war verschwunden. Ness erhob sich, wischte sich über die Stirn und ging ein paar Schritte vorwärts. Da stieß sein linker Schuh an einen Gegenstand. Er 76
bückte sich nieder und hätte fast in die rasiermesserscharfe Schneide eines Messers gefaßt. Er nahm es an sich und lief vorwärts. Aber es war zwecklos. Der Mann, der aus dem Nebel gekommen war, hatte sich wieder in ihn geflüchtet. War es der Mörder der Ireen Moreland und der Gardy Belem gewesen? * Eliot Ness war ins Bureau zurückgegangen. Er stand vor dem Schrank und hatte die Lade herausgezogen, in dem der schwarze Stoffhandschuh mit den abgesteppten Fingernähten lag. Noch einmal las er sich den Laborbericht durch. Es gab nichts, das der größte Polizeiapparat der Welt nicht auf das gründlichste untersucht hatte. Ness blieb nur kurz in seinem Office und verließ das Haus dann wieder. Er hatte eine Nachricht für Kommissar Cassedy hinterlassen, der in der Nacht auch noch einmal das Bureau aufsuchen würde. Langsam schlenderte der Inspektor zu jener Hafengasse hinunter, in der die Alhambra‐Bar lag. Er war längst selbst auch nicht mehr davon überzeugt, daß es eine Verbindung von dem Nebelmörder zu dem Mann gab, der in der Nähe der Alhambra den Händler Henreidt niedergeschossen hatte. Und dennoch… Er hatte vielleicht eine Dreiviertelstunde im düsteren 77
Hof gestanden und den feinen Nieselregen unter der Traufe eines vorspringenden Daches abgewartet, als er vorn vor der Schenke einen schweren Wagen vorfahren hörte, der federnd abbremste. Mehrere Männer sprangen heraus und betraten rasch das Lokal. Ness stellte sich auf die Zehenspitzen, um von seinem Platz aus einen Blick durch das schmale Seitenfenster in den schummrigen Schankraum zu werfen. Schrill tönte drinnen die hypermoderne Musikbox und schleuderte ihre wilden Rhythmen in die Nebelnacht hinaus. Der Inspektor fröstelte. Aber er harrte noch auf seinem Posten aus. Offensichtlich war die Kneipe heute schlecht besucht. Als Ness dann schließlich nach einer halben Stunde gehen wollte, beobachtete er einen Mann, der laut schimpfend den Schankraum verließ. Der Inspektor folgte ihm. An der nächsten Gassenecke hatte er ihn eingeholt und bat ihn um Feuer. Knurrend griff der Mann in die Tasche – und hielt dem Inspektor einen Revolver unter die Nase. »Ich würde mit diesen Dingern vorsichtig sein«, meinte Ness. »Ich weiß, daß es ein Tischfeuerzeug in Revolverform ist. Ein schlechter Spaß – kann Ihnen einmal übel bekommen.« »Was soll das heißen«, meinte der Mann, während er die Flamme aus dem kleinen Revolver schoß und sie unter die Zigarette des Inspektors hielt. Der sog sie in die Tabakfäden, blies den Rauch aus und blickte die Gasse hinunter. 78
»Ich hätte da eine große Frage, Mister. Sie kennen doch sicher die Freundin von Sillot.« Der Mann zog die Brauen zusammen und nahm die Schultern unwillkürlich hoch. »Wieso, Sie sind doch nicht etwa scharf auf Myrna?« »Nein, nein, aber die hat eine Freundin, und mit der war ich verabredet. Nur – Sie können mir nicht sagen, wo Myrna wohnt?« »Ich werde den Teufel tun. In Weiberangelegenheiten mische ich mich nicht, und überhaupt laß ich die Finger von Dingen, die José berühren.« Ness hatte genug erfahren, viel mehr sogar, als er erhofft hatte. Langsam schlenderte er zu der Schenke zurück und betrat wieder den Hof. Er wollte jetzt warten, bis irgend jemand herauskam, mit dem er über diese Myrna sprechen konnte. Gerade hatte er den Garagenschuppen erreicht, unter dessen Dach er vorhin Schutz gegen den nieselnden Regen gefunden hatte, als plötzlich zwei Männer aus dem Dunkel auf ihn zusprangen und ihn niederwarfen. Der Überraschungserfolg war auf ihrer Seite. Aber wie ein Gummiball federte der kampferprobte G‐man vom Boden hoch und stieß dem nächsten der beiden Angreifer den Schädel in die Magengrube. Schon wirbelte er auf dem Absatz herum und riß einen linken Rückhandschlag genau zwischen Halsschlagader und Kinnlade des zweiten Angreifers, der ihn eben anspringen wollte. Die beiden waren bedient. Der eine sackte von dem schweren Stoß in den Magen gegen die Garagenwand 79
und rutschte daran nieder, und der andere stieß einen kreischenden Laut aus. Da flog die Hoftür der Schenke auf, und mehrere Männer stürmten heraus. Das war fatal; der Inspektor sprintete dem Ausgang zu. Ein schwerer Gegenstand zischte an ihm vorbei und zerbarst drüben an der Garagenwand. Wahrscheinlich ein Hocker, ein Schemel oder eine Fußbank. Ness hatte das Tor erreicht und war auf der Straße. Der Weg zur nächsten Ecke oder auch nur zum nächsten Hauseingang war viel zu weit. Blitzschnell entschloß er sich, auf den Eingang der Schenke zuzurennen. Es gelang ihm. Ohne Hast betrat er den schummrigen Raum und näherte sich dem Schanktisch. Mit angespannten Muskeln und fiebernden Nerven lehnte er sich ans Stirnende der Theke. Es geschah nichts – eine volle Minute lang. Der Keeper stand mit blassem Gesicht da und blickte ihn finster an. »Sie sind doch von der Polente, nicht wahr?« brachte er schließlich hervor. »Ja, das wissen Sie doch.« »Und was wollen Sie hier?« »Ich wüßte gern, wer die beiden Gentlemen sind, die da draußen auf mich gewartet haben.« »Ich weiß nicht, wer auf Sie gewartet hat.« »Dann kennen Sie auch sicher nicht die drei Männer, die ihnen eben im Hof zu Hilfe kommen wollten.« In diesem Augenblick wurde vorn die Tür geöffnet 80
und zwei Männer kamen herein. Es waren ganz sicher nicht die beiden, die von dem FBI‐Agenten so hart bedient worden waren, denn sie sahen noch ganz fit aus. Mit schmalen Augen blickten sie auf den Mann an der Theke. Dann kamen sie näher. Der eine lehnte sich neben Ness, stützte sich auf den rechten Ellbogen auf und kaute auf seiner Unterlippe herum. Dann nahm er ein Streichholz, zerbach es und schob es in eine Zahnlücke. Der andere blieb abwartend stehen. Der Inspektor hatte sich einen Drink geben lassen. Da meinte der Mann neben ihm: »Ich an Ihrer Stelle würde mir eine andere Gegend aussuchen, Mister, wir schätzen hier keine Gummiknüppel.« »Gummiknüppel« war schon ein übles Schimpfwort für einen Polizisten, aber so etwas perlte von der Ölhaut des »Norwegers« ab. Er wandte sich dem Mann zu und blickte ihn lächelnd an, während er sagte: »Einen Drink für die beiden Gents.« Mit finsteren Mienen blickten die beiden Ganoven auf ihre Gläser, die der Keeper vor sie hinstellte. Was würde jetzt geschehen? Würden sie den »Polypen« tödlich beleidigen, indem sie seinen Drink ablehnten? Der eine griff nach dem Glas und kippte den Drink. Der andere aber hob es nur etwas an, und als er den Blick des Inspektors auf sich gerichtet fühlte, goß er den Inhalt auf die staubigen Fußbodendielen. »Also nur einen Drink, da nur ein Gentleman hier 81
war«, sagte der Inspektor und warf das Geld auf die Theke. Da trat ihm der Mann, der den Whisky ausgekippt hatte, in den Weg. »Augenblick, Brother…« »Mein Name ist Ness, Eliot Ness.« Mit eisiger Kälte hatte der FBI‐Mann die Worte hervorgebracht. Der andere fuhr sich mit dem Handrücken über das stoppelbärtige Kinn, warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr und nickte. »Aha, Ness. Ich glaube, den Namen sollte man sich merken.« »Tun Sie das, Mister.« Der Inspektor hatte einen Schritt an ihm vorbeigemacht, da hechtete der Mann ihm plötzlich nach. Ness zog einen linken Handkantenschlag zurück, der knackend gegen den Augenknochen des anderen prallte. Der Getroffene schnaufte wie ein verwundeter Stier und warf sich dem FBI‐man erneut entgegnen. Und jetzt kam ihm der andere zu Hilfe. Ness zog den linken Ellbogen hoch und ließ den »Gentleman« hart auflaufen, duckte sich dann nieder und stieß einen rechten Rammer nach vorn in die Magengrube des Mannes, der seinen Whisky abgelehnt hatte. Da aber war der andere wieder heran. »Komm nur, Eliot, Old Jim möchte Brennholz aus dir machen!« Er war ein exzellenter Boxer, der junge Mann aus der 82
FBI‐Schule. Die Doublette, die er zum Schädel von »Old Jim« schlug, war unverdaulich. Der andere versuchte es trotzdem und warf sich in den Nahkampf. Keine Kampfart, die von dem Inspektor sonderlich geliebt wurde. Er steppte zurück und zog einen langen rechten Haken nach innen, der die hochgerissene Deckung seines Angreifers durchbrach. Und dann sprang Ness nach vorn, schickte die Rechte im Handkantenschlag gegen den Hals des Gegners und das rechte Bein in seine linke Kniekehle. Der andere kippte unter dieser Hebelwirkung wie ein Brett gegen die Theke. Der Inspektor packte ihn am Kragen und zog ihn vom Boden hoch. »Komm mit, Brother.« Der Ganove wollte protestieren, gab dann aber nach und trottete auf weichen Knien neben dem Inspektor her auf die Straße. Schon an der nächsten Gassenecke wußte Eliot, daß er verfolgt wurde. Es kam ihm auch gar nicht darauf an, den Mann mitzunehmen, er wollte ihn im Gegenteil rasch wieder loswerden. Aber vorher mußte er etwas in Erfahrung bringen. »Es ist ganz klar, daß du die Freiheit jetzt die längste Zeit genossen hast, Freund. Mach dich auf einige Zeit hinter Schwedischen Gardinen gefaßt.« »Aber das ist doch nicht Ihr Ernst, Ness! Was habe ich denn schon groß verbrochen. Lassen Sie mich doch laufen.« »Die Chance hast du noch, und zwar, wenn du mich 83
sofort zu Myrna führst.« Myrna war absolut kein sehr häufiger Vorname. Ness konnte also damit rechnen, daß der Mann die Freundin Sillots wirklich kannte. Und genau so war es. »Hab’ ich dann wirklich eine Chance?« »Los, geh weiter«, befahl ihm der Inspektor, da er merkte, daß die andern bis auf vierzig Schritt herangekommen waren. An der nächsten Ecke stand ein Taxi. Der Inspektor hielt darauf zu. »Vorwärts, steig ein!« »Aber es ist nicht nötig, es ist gar nicht weit.« »Trotzdem. Die andern brauchen nicht zu wissen, wohin wir fahren.« »Was denn, es ist doch nicht Ihr Ernst, mich zu Myrna zu schleppen. Was glauben Sie wohl, was José aus mir macht…« Schon saßen sie im Taxi, und der Inspektor gebot dem Fahrer ein paar Häuserblocks weiterzufahen. Dann wandte er sich an seinen »Gast«. »So, und jetzt sagst du mir, wo sie wohnt, Old Jim.« Der Mann dirigierte das Taxi wieder in die Gassen hinunter, und dann zeigte er unweit der Alhambra auf ein fünfgeschossiges düsteres Haus, das im Nebel noch schäbiger aussah als sonst. »Da oben wohnt sie, im vorletzten Geschoß.« »Wie heißt sie mit Nachnamen?« »Gates.« »Komm mit!« 84
Der Inspektor entlohnte den Taxifahrer und ging mit Old Jim auf das Haus zu. Als er sich davon überzeugt hatte, daß unten wirklich ein Schild den Namen Gates trug, meinte er »All right, Sie können verschwinden. Aber wenn ich feststellen muß, daß Sie mich hinters Licht führen wollen, dann lasse ich Sie suchen. Und Sie können sich darauf verlassen, daß es dann keine Milde mehr gibt.« Im Nu war der Mann im Nebel verschwunden. Ness hatte das Haus betreten und ging die Teppen hinauf. Sie wohnte tatsächlich im vierten Stock, die sommersprossige, wohlproportionierte, etwas schlampige Myrna Gates. Mit muffiger Miene blickte sie den Fremden an, der plötzlich vor ihrer Wohnungstür stand, und knurrte: »Um was geht es?« »Um José.« Myrna strich sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn und tastete unwillkürlich nach ihrer Kehle. »Um José? Ach, du lieber Himmel, es ist doch nicht schon wieder etwas passiert?« »Vielleicht doch.« »Kommen Sie einen Augenblick herein«, sagte das Mädchen. Als der Inspektor den Korridor, in dem nur eine 15‐Watt‐Birne brannte, betreten hatte, sagt Myrna Gates mit ablehnender Stimme: »Ich will Ihnen etwas sagen: Ich kenne Sie nicht, und 85
ich weiß nicht, was schon wieder passiert ist. Aber ich bin es leid mit José. Sie können ihm das ausrichten. Keinen Cent bekommt er mehr von mir. Ich habe nichts mit alledem zu tun, ich habe ihm über sechshundert Dollar gegeben. Glaubt er vielleicht, daß ich mein Geld im Schlaf verdiene? Ich renne Nacht für Nacht durch diese dreckigen Gassen und muß mich von jedem verlausten Kerl anquasseln lassen. Wenn er sich einbildet, daß das Spaß macht…« »Ich komme nicht von ihm«, unterbrach sie der Inspektor, und dann nahm er seine Marke aus der Tasche. »Polizei?« stammelte Myrna Gates. Ihre Angst hatte sich jetzt verdoppelt. Sie senkte den Kopf und vermied es, den Inspektor anzusehen. »Wo kann ich ihn finden?« forschte der FBI‐man. »Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht, und ich habe nichts mit ihm zu tun.« »Da bin ich anderer Ansicht. Eine Frau, die einem Mann sechshundert Dollar gibt…« »Mit der Zeit, nicht auf einmal. Glauben Sie vielleicht, ich hätte sechshundert Dollar liegen? Für was halten Sie mich, he?« Kein Zweifel, sie war eine Dirne, aber irgendwo schien sie auch ein Mensch zu sein. Mit Tränen in den Augen beteuerte sie: »Ich wollte, er wäre da, wo der Pfeffer wächst, dieser Gauner! Nichts als Ärger hat er einem eingebracht, und dann läuft er auch noch mit meiner eigenen Freundin 86
weg.« »Haben Sie keine Ahnung, wo die beiden hingegangen sein könnten?« »Er ist jetzt nicht mit ihr unterwegs. Aber vor einigen Tagen war er mit ihr aus, ich weiß es genau. Sie kam erst nachts um vier nach Haus, und daß sie bei ihm war, habe ich von Lik.« »Und wo könnte er jetzt sein?« »Ich weiß es nicht.« »Hat er keinen Freund?« »Freunde, hm, ich weiß nicht, ob er wirklich Freunde hat. Aber warten Sie, vielleicht weiß sein sogenannter Freund draußen am Renwick Sea etwas. Er ist Künstler. Seinen Namen weiß ich nicht…« * Der Nebel war vorüber, und der folgende Tag brachte Regen; Regen, der in Kübeln aus blaugrauen Wolken fiel. Gegen elf Uhr hatte er etwas nachgelassen. Eliot Ness war hinaus zum Renwick Sea gefahren. Vor einem Zeitungskiosk an einer Bushaltestelle hielt er an, stieg aus seinem zweisitzigen Ford und fragte die grauhaarige, mürrisch dreinblickende Frau hinter den Zeitungsstapeln, wo hier in der Nähe ein Künstler wohnte. »Ein Künstler? Ach, da kann doch nur Mr. Curleby gemeint sein. Sie müssen drüben den Weg hinuntergehen, und wo Sie die Bäume sehen, da liegt 87
sein Haus. Es ist nicht ganz leicht zu finden.« Der Inspektor ließ den Wagen vorn auf der Hauptstraße zurück und ging den Sandweg hinunter, bis er nach einer Biegung die Baumgruppe vor sich sah. Nur wenige vereinzelte Anwesen lagen hier, und in der Ferne schimmerte der spiegelglatte See. Eine schöne, stille Gegend hier draußen, dachte er bei sich. Man sollte sonntags ruhig einmal hier herausfahren. Als er auf die Baumgruppe zugekommen war, sah er in einem der Gärten einen Mann, der damit beschäftigt war, Laub zu verbrennen. Der Regen erstickte die Flamme immer wieder, und als der Mann mit etwas Benzin nachhalf, verbreitete das feuchte Laub einen ätzenden Geruch, der bis auf die Straße drang. Der Inspektor blieb am Zaun stehen und erkundigte sich nach dem Haus von Mr. Curleby. »Curleby?« meinte der Mann ehrerbietig und nahm unwillkürlich den Hut ab. »Ja, da sind Sie richtig, Mister. Schade, schade.« Der Inspektor ging weiter. Als er das Anwesen vor sich hatte, fand er das Tor offen. Vorm Haus stand ein dunkler Wagen. Ness hatte den Eingang noch nicht ganz erreicht, als die Tür geöffnet wurde und ein grauhaariger Mann herauskam. Er trug in der Rechten eine schwarze Tasche. Der Inspektor lüftete den Hut und fragte: »Wohnt hier Mr. Curleby?« Der Mann blieb stehen und schüttelte dann den Kopf: »Nein. Allerdings wohnte er hier, bis vor einer Stunde.« 88
»Und…?« forschte der FBI‐Mann ahnungsvoll. Da nahm der andere seinen Hut ab, hob den Kopf etwas an und sagte mit theatralischer Stimme: »Mein Freund James Fenimore Curleby ist vor einer Stunde verschieden. Aber im Einundneunzigsten ist es uns allen nicht ganz so unerwartet gekommen…« * Ness hatte noch einige Umwege am Seeufer hinter sich gebracht, bis ihm eine Frau, die die Platten in ihrem Garten abfegte, erklärte: »Vielleicht suchen Sie Mr. Lubber. Er ist Maler. Da drüben wohnt er, gleich schräg gegenüber.« Der Inspektor blickte sich um und sah hinter einem verrosteten Zaun über die hohe, blätterlose Hecke ein eingeschossiges Holzhaus, dessen Farbe schon vor Jahren erneuerungsbedürftig gewesen sein mußte. Er bedankte sich bei der Frau, schritt auf das Haus zu und zog an der Klingel der Gartenpforte. Ein kläglicher, mißtönender Laut drang vom Haus herüber. Dann war das Kläffen eines Hundes zu hören, der mit wütenden Sätzen auf das Tor zuschoß. Es war ein kleiner Terrier, der sich vor Erregung fast zerreißen wollte. Drüben in der Tür tauchte ein Mann auf. Er war mittelgroß, hatte dunkles Haar, das über der Stirn schon stark gelichtet war, und in seinem Mundwinkel steckte eine Pfeife. Er trug einen verwaschenen roten Pullover und ein offenes blaues Hemd. Die Hände hatte er in den 89
Taschen seiner Blue jeans vergraben. »Darf ich hereinkommen, Mr. Lubber?« rief ihm der Inspektor zu. Der Mann gab zwar keine Antwort, aber Ness öffnete die Gartenpforte, und schon sauste der Terrier wie angestochen zurück auf das Haus zu, um seinem Herrn die Ankunft des Fremden zu melden. Das wilde Gekläff des Hundes ließ eine Verständigung nicht zu, deshalb deutete der Inspektor auf das Tier und rief: »Können Sie den Hund nicht einen Moment wegnehmen?« Der Mann blickte ihn unverwandt an, nahm dann aber die Pfeife aus dem Mund und deutete ins Haus. »Los, Jerry, verschwinde!« Der Hund zog ab. Da zog Eliot Ness den Hut. »Entschuldigen Sie, vielleicht habe ich Sie ganz unnötig gestört. Ich bin Schriftsteller und möchte für den Winter ein Haus hier draußen mieten. Ich habe weiter unten etwas gesehen, das für fünfhundert Dollar vermietet werden soll, aber es ist weit weniger idyllisch gelegen als Ihres. Eine Frau oben an der Straße sagte mir, daß Sie vielleicht auch vermieten würden?« Es war ein billiger Trick. Ness war auch keineswegs stolz darauf; aber es war andererseits ein Trick, der nicht selten erfolgversprechend war. Hatte der Inspektor doch die Erfahrung machen müssen, daß Leute, die vor der Stadt wohnten und nicht gerade allzu wohlhabend aussahen, dazu vielleicht noch alleinstehend waren, niemals direkt nein sagten, wenn man sie fragte, ob sie 90
ihr Haus vermieten wollten. Das war eine Erfahrungstatsache; eine der vielen tausend kleinen Hilfen, die der Polizeioffizier Eliot Ness zur Erreichung seiner Ziele immer wieder einsetzte. Vielleicht kein sehr feiner Trick, aber da er ja niemandem schadete, mußte der Zweck das Mittel heiligen. Der Mann hatte die Pfeife wieder in den Mund gesteckt, zog daran und paffte eine blaßblaue Tabakswolke vor sich hin, die sein Gesicht sekundenlang verschwinden ließ. Der Inspektor hatte inzwischen Zeit, die übrige Erscheinung des Mannes zu mustern. Der rote Pullover war abgetragen und mit andersfarbiger Wolle mehrfach gestopft worden. Die Blue jeans waren blankgewetzt, und die braunledernen Pantoffeln hatten sicherlich auch ihre Pflicht längst getan. Das blaue Hemd wirkte verwaschen wie der Pullover, und als jetzt das Gesicht des Mannes wieder zum Vorschein kam, sah der Inspektor, daß es schlecht rasiert war und keinen sonderlich gepflegten Eindruck machte. Der Mann hatte eine ungesunde gelbliche Haut und graue Augen, unter denen dicke Tränensäcke lagen. Das Haar war an den Schläfen leicht ergraut und sicherlich schon seit Monaten nicht mehr unter die Schere eines Friseurs gekommen. »Ja, dann kommen Sie mal ins Haus«, meinte Lubber. Er wandte sich um und schlurfte vor dem FBI‐man in die Diele seines Hauses. Es war ein kleines Gebäude mit vielleicht vier, fünf Zimmern und einer breiten Veranda. Und es war so von Pfeifenrauch durchzogen, daß der 91
Inspektor es anstelle des vorgeblichen Schriftstellers selbst dann nicht genommen hätte, wenn der Mann statt der Miete noch eine Zugabe von fünfhundert Dollar gemacht hätte. Lubber hatte die Tür zur Wohnstube aufgestoßen, und der Inspektor blickte in einen Raum, der so vollgestopft mit scheußlichen Bildern war, daß nicht nur das Terpentin und die Farben einen den Atem benahmen. Auf einer gewaltigen Staffelei stand ein riesiges Bild, das ganz in kaltem Kobaltblau gemalt war. Der Mann deutete mit dem Mundstück der Pfeife darauf, grinste seltsam starr und meinte: »Es ist mein neuestes. Vor kurzem erst fertiggestellt.« Der Inspektor nickte. »Aha, und was stellt es dar?« »Ja, ich hatte da natürlich eine ganz besondere Vorstellung. Es sind Fabrikschornsteine um Mitternacht. Eine ganz dunkle Nacht, wissen Sie, und dann müssen Sie die Quellpunkte der Arbeit bedenken. Das ist etwas ganz Wichtiges, der Quellpunkt. Nur wer den gründlich studiert hat, kann wirklich die Tiefe einer solchen Arbeit begreifen. Wissen Sie, ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht…« Während er sprach, ging er hastig im Zimmer auf und ab und blieb schließlich am Fenster stehen, wobei er dem Inspektor den Rücken zukehrte. Der Ausblick aus dem mit Farbklecksen bedeckten Fenster war nicht allzu angenehm. Man sah in einen ungepflegten Garten, der im regnerischen Novembermittag da lag und alles andere als eine 92
einladende Aussicht bot. Irgendwoher kam der scharfe Geruch von Ammoniak, und ein penetranter Küchendunst mischte sich darunter, der auf Kohl hinwies. Der Inspektor hätte etwas darum gegeben, wenn der »Maler« einen Moment das Fenster geöffnet hätte. Statt dessen schloß der Mann noch das Oberlicht, und als er seinen Vortrag jetzt beendet hatte, wandte er sich um und sagte: »Übrigens, mein Name ist Lubber.« »Ja, ich weiß, ich habe ja von Ihnen gehört.« Sofort hob der Mann den Kopf, nahm die Pfeife aus dem Mund, öffnete die Lippen ein wenig und seine riesigen gelben Zähne, die vorn in der Mitte weit auseinanderstanden, kamen zum Vorschein. »Ach – wo haben Sie von mir gehört?« »Von der Frau, ich erzählte es Ihnen doch.« »Ach so, ja. Die Leute reden viel. Nein, nein, es soll erst noch alles kommen. Alles ist noch im Wachsen und Werden, wissen Sie.« Mit einer theatralischen Geste hob er die Hand, deutete auf das Gemälde der Fabrikschornsteine um Mitternacht und meinte: »Ein Künstler kommt erst in der Mitte seines Lebens auf den Weg, der ihn zum Zenit führt, und bei mir, ja…« Er hielt plötzlich inne und lachte auf eine sonderbare Art gurrend in sich hinein. Dann hielt er plötzlich den Atem an, schloß die Augen und zog den Mund so weit auseinander, daß die Mundwinkel die Ohren fast erreichten. Es war ein erschreckender Anblick, und der 93
Inspektor befürchtete schon, daß dem Mann die Luft wegbleiben würde. Da aber japste Lubber plötzlich mit schon puterrotem Gesicht nach Luft, riß die Augen sperrangelweit auf, schob den Zeigefinger nach vorn wie ein Komiker und hob das Kinn an. »Ja, man muß das alles richtig verstehen«, dozierte er. »Die Dinge wollen geistig ausgeleuchtet werden. Mit Farben ist es ganz ähnlich. Man kann überhaupt nur mit Tönen oder mit Farben die Dinge ausleuchten und sehen. Ich bin ein Mann der Farben. Die Harmonie der Farbe ist das Schönste im Leben. Nur wer das richtig versteht, hat das Leben überhaupt begriffen. Es ist doch der Sinn aller Dinge…« Fast eine halbe Stunde mußte sich der Inspektor eine Tirade über den Sinn des Lebens oder vielmehr über den Unsinn der Vorstellung, die der Maler Harry Lubber davon hatte, anhören. Vertane Zeit! dachte Ness. Er bereute bereits, den Weg hier heraus gemacht zu haben. Aber er war es ganz einfach gewohnt, jeder Spur nachzugehen, und wenn sie auch noch so unbedeutend zu sein schien. Aber war hier überhaupt eine Spur? Hatte er sie nicht selbst gesucht? Wie konnte er hoffen, bei diesem Mann eine Spur des Mörders Sillot zu finden. Geschweige denn eine Spur jenes Mannes, der die beiden Morde im Washingtonpark verübt hatte. Es waren die Unwägbarkeiten im Leben des Eliot Ness, die ihn hierhergeführt hatten. Er stand unter dem großen Jupiterstern, der ihn in einer schwindelnd steilen 94
Kurve aufwärts führen würde. Auch wenn er einmal einen Weg vergeblich getan hatte. Er unterbrach den nicht versiegenden Redestrom des anscheinend etwas wirren seltsamen Malers und deutete an, daß er sich verabschieden wollte. »Ich werde mir das alles überlegen, Mr. Lubber. So schnell kann ich mich allerdings nicht entscheiden, denn ich habe noch zwei weitere Angebote. Aber es gefällt mir wirklich gut, und ich könnte mir vorstellen, daß es sich hier ausgezeichnet arbeiten läßt.« Da kam der Maler plötzlich mit einer Schnelligkeit auf ihn zu, die der Inspektor ihm nie zugetraut hätte. Dicht vor ihm blieb er stehen und hob den Kopf an. Das Gesicht mit der gelben großporigen Haut war direkt vor dem des Inspektors. Die Lippen waren von einem weißen Rand umgeben und mit rissiger Haut bedeckt. Die Augen lagen zu weit auseinander. Und was für große Ohren der Mann hatte; die Lappen reichten ihm fast bis auf die Schultern und waren gelblich wie bei einem Toten im Leichenschauhaus. Eine messerscharfe Falte zog sich von der linken Augenbraue quer durch die Stirn bis zu einer Narbe unterm Haaransatz. Das Frappierendste in diesem Gesicht aber waren die Augen. Sie wirkten müde und wach zugleich, und wie scharfe Deckel fielen die rötlichen Lider schräg darüber. Wie war das, erinnerte sich der Inspektor: mit Leuten, deren Augenlider in einer scharfen Falte über den äußeren Augenwinkel fallen, ist nicht gut Kirschen essen. Aber das waren Hausweisheiten aus Großmutters 95
Zeiten. So etwas mußte abgeschüttelt werden. Auch der Bäcker gegenüber vom FBI‐Bureau unten in der Stadt hatte solche Augenlider, und man konnte nicht behaupten, daß deshalb schlecht mit ihm Kirschen essen sei. Aber der Bäcker Florian Cramer war auch nicht der Freund des Verbrechers José Sillot! War dieser Mann wirklich Sillots Freund? Das war noch keineswegs bewiesen, und der Inspektor konnte ihm ausgerechnet diese Frage nicht stellen. Überhaupt, was hatte er gehofft, hier vorzufinden? Hatte er allen Ernstes angenommen, Sillot hier zu entdecken? Lubbers Gesicht war immer noch unbeweglich vor ihm. Plötzlich flog seine Oberlippe hoch, und zwar links schräg nach oben. Die gelblichen Schneidezähne kamen zum Vorschein. »Sehr gut können Sie hier arbeiten, Mister«, erklärte er theatralisch. »Ich sage Ihnen, hier werden Sie ein Werk schaffen!« Seine Augen weiteten sich, und ein irisierendes Licht glomm in ihnen. »Sie werden hier etwas schaffen, das von einmaliger Bedeutung für Ihr Leben sein wird. Denn alles, was der Mensch braucht, ist Intuition, Eingebung, verstehen Sie, Eingebung, nichts weiter. Und dazu ist Stille notwendig, Stille, Phantasie, und sagen wir, ein guter Tee, hehehe!« Der Kerl ist verrückt, zuckte es durch das Hirn des Inspektors. Er nickte freundlich, trat zwei Schritte zurück, um dem kalten Pfeifendunst zu entgehen, der ihm aus dem Mund des Malers entgegendrang. 96
Der aber setzte sofort nach und verzog sein Gesicht so plötzlich zu einer so faunischen Grimasse, daß Ness tatsächlich erschrak. »Phantasie, das ist alles! Sie haben doch Phantasie?« Ganz leise war seine Stimme jetzt geworden. Er hob den Kopf noch etwas an, zog die Brauen bis in die Stirnmitte, und die scharfe Falte dazwischen schien urplötzlich verschwunden zu sein. Dafür zogen sich von den Augenwinkeln die Sternfalten der Krähenfüße bis in die grauen Schläfenhaare hinein. Zu anderer Zeit wäre es aus einem gewissen Abstand vielleicht interessant gewesen, dieses so unglaublich wandelbare Gesicht zu beobachten. Ein menschliches Chamäleon! Der Inspektor hatte sich nickend abgewandt und hielt auf die Tür zu. Als er den Schreibtisch passierte und ganz zufällig einen Blick auf den Papierkorb warf, verhielt er unwillkürlich den Schritt, hob aber den Kopf sofort wieder und blickte zu Lubber zurück. Dabei sah er gar nicht das Gesicht des Malers vor sich, sondern einen bläulichen Briefumschlag, auf dessen aufgerissener Rückseite er trotz der Zerknitterung die beiden großen Buchstaben MS hatte erkennen können. S wie Sillot? Sollte der Mörder dem Mann hier draußen am See einen Brief geschickt haben? Aber was hatte das M zu bedeuten? Es konnte ein Vorname sein, den der Gangster in Freundeskreisen benutzte. Vielleicht ließ er sich Mac oder Mike oder sonstwie nennen. – So etwas war ja nicht außergewöhnlich. 97
Ness hatte die Linke auf die Kante des Schreibtisches aufgestützt und tat, als müßte er noch etwas überlegen. Dabei beobachtete er jetzt unter halbgesenkten Lidern das Gesicht des Malers. Hatte der etwas von seiner Entdeckung bemerkt? War ihm aufgefallen, daß der Besucher den zerknüllten Brief im Papierkorb gesehen hatte? Habe ich doch vielleicht eine kaum merkliche, ruckhafte Bewegung gemacht? überlegte Ness. Lubbers Gesicht war auf einmal wieder völlig distanziert, fast abweisend kühl. Harte Falten zogen sich von den Wangenknochen durch die grauschwarzen Bartstoppeln bis zu den Kinnwinkeln hinunter. Von den mit Mitessern besäten Nasenflügeln zog sich eine Doppelfurche zu den heruntergezogenen Mundwinkeln. Die Oberlippe war viel zu kurz und die Unterlippe übergroß ausgeprägt. Die Augen waren jetzt völlig ausdruckslos und leer. Lubber legte den Kopf auf die rechte Schulter, stützte die Linke mit einer Geste, die typisch für ihn war, in die Hüfte und schien abzuwarten. »Ja, es ist da noch etwas«, meinte der Inspektor. »Wenn Sie wirklich ihr Haus vermieten würden, für welche Zeit könnte ich dann damit rechnen?« Nichts mehr von der Intensität und aufdringlichen Freundlichkeit, die der Maler in der letzten Viertelstunde gezeigt hatte! Das Lachen schien ihm aus den Mundwinkeln gerutscht zu sein, und das irisierende Licht in seinen Augen war erloschen. Er sah plötzlich 98
zehn Jahre älter aus. War er vielleicht ein Alkoholiker? Oder gar ein Mensch, der Kokain schnupfte? Der Inspektor hatte mit allen Gattungen der Menschheit zu tun gehabt und nicht selten mit Leuten, die Kokain schnupften oder Marihuana rauchten. Die sahen ganz ähnlich aus, dann nämlich, wenn die Wirkung des Rauschgiftes aus ihren Adern geflüchtet war. Lubber rutschte plötzlich an der Schreibtischkante entlang – landete aber mit ungeheurem Geschick und mit nachtwandlerischer Sicherheit auf einem dreibeinigen Holzschemel, schlug die Beine übereinander, warf den Kopf ins Genick und faltete die Hände über dem linken Knie. »Ja, das muß überlegt werden«, sagte er auf einmal wieder sehr aktiv werdend, »alles ist eine Sache des Preises, das wissen Sie selbst, Mister – wie war doch Ihr Name?« »Eliot.« »Eliot – Eliot? Ein interessanter Name.« »Finden Sie?« »O ja, ich kannte mal einen Mann, der hieß Eliot, mit Vornamen, sein Nachname war Turpin. Sein Vater war ein hervorragender Expressionist. Aber diese Dinge werden Sie vielleicht nicht sehr interessieren. Ich könnte mir vorstellen – vielleicht aber sollten Sie selbst mal einen Vorschlag machen.« »Ich denke, ich werde Ihnen schreiben, Mr. Lubber«, wich der Inspektor aus, der sich vorgenommen hatte, auf 99
eine Untersuchung des Briefumschlages zu verzichten. Er konnte das Haus bewachen lassen, das war einfacher und weniger anstrengend, als sich mit diesem Chamäleon noch länger zu unterhalten. Niemals zuvor hatte er einen Mann gesehen, der sein Äußeres, sein Gesicht und sein Gehabe in einer derart raschen Folge zu wechseln verstand. Kaum hatte der Inspektor diesen Gedanken zu Ende gebracht, als Lubber auch schon aufstand und in gebückter Haltung auf der anderen Seite um den Schreibtisch herumging, um hinter dem Papierkorb stehenzubleiben. »Ich könnte mir vorstellen, daß Sie etwas Besonderes hier gesucht haben.« Der Inspektor hätte gern geschluckt vor Schreck. Aber getreu der tausendfach eingepaukten Regeln der harten Berufsschule des FBI‐Agenten, tat er zunächst gar nichts. Drei Sekunden lang, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Ich weiß nicht, wie Sie das meinen, Mr. Lubber«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, das ihm jetzt wirklich nicht aus der Seele kam. Der Körper des seltsamen Malers war nach vorn gebeugt und schien in äußerster Anspannung zu sein. Das Gesicht war auf einmal glatt, und die gelbliche großporige Haut hatte sich über den Knochen wie ein Trommelfell gespannt. In den grauen Augen irrlichterte es wieder. Sekunden verrannen. 100
Eliot Ness hätte jetzt eine Menge dafür gegeben, wenn er sich den Weg zu diesem verdrehten Menschen erspart hätte. Aber das Kuvert! Zu gern hätte er es einer näheren Prüfung unterzogen. Mit der Dreistigkeit – die im übrigen bei der Aufzählung seiner Eigenschaften keineswegs vergessen werden darf – sagte er plötzlich: »Sie boten mir vorhin einen Drink an, Mr. Lubber. Ich lehnte ihn ab; das war eine Dummheit von mir. Ich glaube, jetzt würde ich mich freuen, wenn Sie mir einen Schluck Mineralwasser geben würden.« Er hatte absichtlich keinen Alkohol verlangt, denn die Bar war hier neben dem Kamin in einem abgeschabten fahrbaren Teetisch untergebracht. Die Anspannung, die den Körper des Malers erfaßt hatte, schwand augenblicklich. Er richtete sich auf, nickte so schnell und oft, daß der Inspektor fürchtete, der Kopf könnte ihm aus dem verwaschenen blauen Hemd herausfallen. Dann lief er mit gekünstelten, tänzerischen Schritten zur Tür und rief über die Schulter: »Ich bin gleich zurück!« Kaum war er weg, da bückte sich Eliot Ness und zog den Umschlag an sich. Im nächsten Augenblick steckte er in seiner Manteltasche. Nicht eine halbe Sekunde später öffnete sich hinter ihm eine Tapetentür, die er bis dahin gar nicht bemerkt hatte. Lubber stand in ihrem Rahmen. In der Linken hielt er ein Glas und eine Flasche mit Mineralwasser. 101
Da hob der Inspektor die Hand und lächelte freundlich zurück. »Wissen Sie was, ich mache zur Zeit eine Kur. Und ich sollte durchhalten. Weder Alkohol noch sonst irgendein Getränk bis nachmittags um vier. Der Mensch muß hart sein. Sie haben ja auch so Ihre Vorsätze. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich will jetzt machen, daß ich zurück in die Stadt komme. Ich habe noch eine Menge zu erledigen. Wenn Sie erlauben, werde ich mich schriftlich bei Ihnen melden, oder haben Sie ein Telefon?« »Natürlich habe ich Telefon. Da drüben am Fenster. Heben Sie mal den Kaffeewärmer hoch, da drunter steht’s.« »Ich glaub’s Ihnen«, sagte der Inspektor, und da er es jetzt eilig hatte, ging er hinaus. Er passierte die Tür, die in den kleinen Flur führte, ging an dem schmalen, halbblinden Spiegel vorbei, neben dem einige Kleidungsstücke an der Garderobe hingen, und hatte schon die rechte Hand nach der Türklinke ausgestreckt, als er plötzlich innehielt. Der etwa fünf Yards im Quadrat messende Flur wurde nur durch ein kleines Fenster, das über der Tür in Form eines Oberlichtes eingelassen war, schwach erhellt. Dennoch hatte dieses diffuse Licht genügt, um dem Inspektor etwas zu zeigen, das ihn wie gebannt stehenbleiben ließ. Rechts neben dem halbblinden Spiegel hing ein abgetragener Trenchcoat, aus dessen rechter Tasche die Zipfel eines Handschuhs hervorblickten, eines schwarzen Stoffhandschuhes, dessen Finger mit einer Stepparbeit 102
versehen waren. Wieviel Sekunden stehe ich schon hier? Verdammt, ich muß irgend etwas tun! Aber was? Der Handschuh! Es war der gleiche Handschuh, den der Mörder beim Überfall im Washingtonpark auf die Polizistin Henderson verloren hatte! Ness wandte sich mit einem Ruck um. Lubber stand drei Schritte hinter ihm und blickte ihm in die Augen. Es waren kühle schiefergraue Augen, die da in diesem gelblichen ungesunden Gesicht standen. Hat er meinen Blick bemerkt? Weiß er, daß ich den Handschuh gesehen habe? Ness setzte jetzt alles auf eine Karte. Mit übertrieben lauter Stimme sagte er: »Ich bin ein Schwächling, Mr. Lubber. Ich werde meinen Vorsatz brechen. Wissen Sie, man sollte abends keinen Fisch essen. Man hat sonst noch bis zum nächsten Mittag Durst. Ich glaube, ich werde doch einen Schluck von Ihrem Mineralwasser nehmen.« Lubber blieb stehen und sah ihn unverwandt an. Plötzlich nahm er die Hände aus den Taschen, hob sie in Hüfthöhe, stieß den Kopf etwas vor und vollführte dann wieder sein verrücktes schnelles Nicken, das gar nicht aufhören wollte. Dann drehte er sich um und ging mit schlurfendem, müdem Schritt ins Zimmer zurück. Podagrisch waren seine Bewegungen, und es schien dem Inspektor sogar, als wenn er etwas kreuzlahm wäre. War das noch der gleiche Mann, der vor kaum anderthalb Minuten mit tänzerischen, schwerelosen Bewegungen 103
das Zimmer verlassen hatte, um das Wasser zu holen? Kaum hatte Lubber die Zimmertür passiert und war nach links auf den Rauchtisch zugegangen, als die Hand des Inspektors nach vorn zuckte. Da aber sah Ness den Schatten im Wohnraum zurückhuschen. Der Mann tauchte wieder in der Tür auf. »Übrigens, was ich noch sagen wollte: Strom und Wasser sind natürlich extra.« Eliot Ness nickte. »Natürlich.« Er schluckte. Das war ja noch eben gutgegangen. Der Maler kam wieder auf ihn zu und sagte: »Sie müßten sich natürlich rechtzeitig entscheiden, denn es sind noch mehr Bewerber da. Eine ganze Menge Bewerber sogar.« In diesem Augenblick fiel nebenan in der Küche etwas zu Boden. Scherben klirrten. Ness blickte den Maler an. Der sah unverwandt in die Augen des Inspektors. »Scheint etwas kaputtgegangen zu sein«, sagte Eliot leise, ohne die Augen des anderen loszulassen. »Eine ganze Menge Bewerber«, kam es monoton über die Lippen Lubbers. Plötzlich rannte er auf die Tür zu, stieß sie auf und brüllte hinein: »Kannst du denn nicht aufpassen, dämliche Gans! Jeden Tag eine Tasse, das kostet mich in der Woche ein ganzes Service!« Ein lang aufgeschossenes blasses Mädchen mit nach hinten gekämmtem, ungepflegtem Haar stand mit 104
gesenktem Kopf am Küchentisch. Es trug ein grünes Wollkleid und eine blaue Arbeitsschürze. Vor seinen Füßen lagen die Scherben eines Tellers. »Mir scheint, du hast gelauscht!« fuhr der Maler fort. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, daß du nicht lauschen sollst, wenn ich Gäste habe.« »Du willst das Haus vermieten, Harry«, sagte das Mädchen mit einer erschreckend tonlosen Stimme. »Geht dich einen Dreck an! Halt nicht immer Maulaffen feil. Mach lieber deine Arbeit ohne Scherben.« Und indem er die Tür zuzog, sagte er achselzuckend: »Eine dumme Gans aus der Nachbarschaft. Sie spült bei mir und macht den üblichen Dreck. Zwanzig Jahre, was wollen Sie da verlangen. Aber keine schlechte Figur, das müssen Sie zugeben, da ist was dran. Na ja, ich brauche sie zum Geschirrspülen und, na ja und dergleichen so. Der Mensch hat eben dies und jenes nötig. Vor allem, wenn er sich gesund fühlt. Sie können sich darauf verlassen, ich mache jeden Abend meinen Spaziergang und morgens meine Kniebeugen. Das hält fit. Sie werden zugeben, daß ich für meine dreißig nicht eben alt aussehe.« Na, dafür siehst du ganz schön alt aus! dachte Ness und ließ einen Blick zur Garderobe hinübergleiten. Wenn er doch bloß an den Handschuh käme! Da streckte ihm Lubber eine gespreizte, feuchte Hand entgegen, deren Finger knotig und kurz waren. Voller Ekel griff der Inspektor nach dieser Hand, wurde aber davor bewahrt, sie anfassen zu müssen, denn 105
in diesem Augenblick schrillte das Telefon. Der Maler fuhr herum, machte ein paar rasche Schritte auf die Wohnzimmertür zu, blieb dann stehen und sagte in erzwungener Lässigkeit: »Ach, das Telefon. Ich werde mal nachsehen.« Er hatte das Fenster im Wohnzimmer noch nicht erreicht, um den Kaffeewärmer vom Apparat zu nehmen, als der schwarze Handschuh schon in der linken Manteltasche des Inspektors verschwunden war. »Ach, du bist’s, Jonny!« drang Lubbers Stimme in den Korridor. »Was gibt’s denn? – Ach so, wegen morgen. – Ja, ja, morgen ist Samstag, natürlich. – Klar, um sechs. – Ja, Corry kommt auch. – Natürlich Ackermans und Coldwaters ebenfalls. Caddy White wird vielleicht nicht kommen können. – Ja, ja, natürlich. – Also, bis morgen!« Der Telefonhörer wurde aufgelegt, doch Lubber erschien trotzdem nicht in der Wohnzimmertür. Da hörte Ness ein Geräusch dicht neben sich und stellte zu seinem Schrecken fest, daß die Küchentür erst jetzt zugezogen wurde. Hatte das Mädchen ihn etwa beobachtet? Wie auch immer, es konnte nicht gesehen haben, was er an der Garderobe geholt hatte. Oder doch? Da tauchte Lubber in der Wohnzimmertür auf. »Das war ein Bekannter. Ich gebe morgen abend eine Party. Übrigens, Sie sind herzlich eingeladen. Alles nette Leute, Künstler und so. Wissen Sie, man bekommt so seinen Spaß. Ein paar nette Girls sind auch dabei. Eine 106
verrückte Tänzerin aus dem Tivoli. Wenn sie den vierten Whisky intus hat, können wir mit einem Striptease rechnen.« In diesem Augenblick wurde die Küchentür geöffnet. Das blasse Mädchen stand da und blickte den Maler an. »Kannst du einen Augenblick hereinkommen, Harry?« »Ja, ja, gleich. Feg mal erst die Scherben zusammen.« »Ja, aber…« »Was ist denn, Peggy?« »Ich muß dir etwas Wichtiges sagen.« Der Maler grinste dem Inspektor zu und ging dann in die Küche. Als er wieder herauskam, blieb er einen Moment im Türrahmen stehen. Die linke Faust des Inspektors spannte sich um den kühlen Knauf der Colt‐Automatic in der Manteltasche. Aber da zuckte die schon erwähnte Grimasse – das zweite oder auch dritte Gesicht ‐über das Antlitz des Chamäleons. »Sie wollte mir einen halben Dollar für den Teller in die Hand drücken, hehehe!« Ness streckte ihm die Rechte entgegen, drückte die weiche, feuchte Hand des Malers und verabschiedete sich. Als er die fünfzehn Schritt von der Haustür bis zur Gartenpforte durchmaß, hätte er den weißroten Split, der auf dem Weg lag, verwünschen können, da er die Geräusche seiner Schritte verdreifachte. Er hatte ein unangenehmes Gefühl im Rücken und hätte sich nicht 107
gewundert, wenn jetzt irgend etwas geschehen wäre. Aber es passierte nichts. Er erreichte die Gartenpforte, wandte sich noch einmal um und hob grüßend die Hand. Aber hinten fiel schon die Haustür ins Schloß. Damned, war das ein sonderbarer Typ! Überhaupt, der ganze Auftritt da war mehr als merkwürdig gewesen. Einfälle hast du auch, Eliot, stellst dich einem Fremden als Schriftsteller vor. Schöner Schriftsteller! Kommissar Cassedy würde nur den Kopf schütteln. Mit raschen Schritten ging der Inspektor zur Landstraße, setzte sich in seinen Wagen und fuhr in die City zurück. * Kaum hatte er das Bureau betreten, setzte er auch schon mit großen Sprüngen die Treppen hinauf, verzichtete auf den Aufzug und stürmte durch den Korridor an den Zimmern seiner Mitarbeiter vorbei auf das Sekretariat zu. Die kleine Ruth Everett und die anderen Mädchen blickten verblüfft auf, als der Inspektor mit großen Schritten an ihnen vorbeilief, um in seinem Zimmer zu verschwinden. Ohne Hut und Mantel abzulegen, lief er zum Schrank, schloß ihn auf und zog die kleine Lade hervor, in der der schwarze Handschuh lag, den der Mann aus dem Nebel verloren hatte. Er legte ihn auf den Schreibtisch. Es war 108
ein linker Handschuh. Und der andere, den er jetzt aus der Tasche nahm, war ein rechter! Sie schienen wirklich viel Ähnlichkeit miteinander zu haben, die beiden Handschuhe – nur daß der eine, den er draußen in Renwick mitgenommen hatte, eine andere, feinere Stoffstruktur hatte. Sie waren zwar beide schwarz, aber sie gehörten nicht zueinander… Langsam zog der Inspektor seinen Mantel aus, nahm den Hut ab, hing beides in den Schrank und ging zum Fenster. Für so etwas hatte er sich nun mehrere Vormittagsstunden um die Ohren geschlagen! Um einem verdrehten Maler einen Handschuh wegzunehmen. Jetzt konnte er sehen, wie er ihn dem Kerl wieder zustellte. Trotzdem rief er die Everett herein und sagte: »Bringen Sie den rechten Handschuh da ins Labor.« Das Mädchen holte einen sterilisierten Plastikbeutel, nahm den Handschuh mit der Pinzette auf und brachte ihn in die Tüte. Wortlos ging sie hinaus. Ness stand am Fenster und blickte auf den Friedhof hinunter. Wie trostlos doch so ein verregneter Gottesacker aussehen konnte! Kein Wunder, daß die sparsamen Leute oben in der Direktion vom FBI das Bureau an einen Platz stellten, wo kein Mensch je sein Wohnhaus hinbauen würde. Als die Sekretärin wieder hereinkam, fragte er: »Ist Cassedy im Haus?« »Ja, er ist drüben in seinem Zimmer.« »Sagen Sie ihm bitte, daß ich ihn sprechen möchte.« Eine Minute später stand der rundliche Kommissar 109
Cassedy vor ihm, rieb sich die Hände, deutete hinaus und meinte: »Na, ist das nicht ein wundervoller Tag? Ich habe eine Idee, Mr. Ness. Ich lasse Ihnen bemalte Scheiben in die Fenster setzen. Wie wär’s mit einer Landschaft von Apulien oder was von der Riviera oder so?« »Was Neues?« kam es kurz von den Lippen des Chefs. Der Dicke schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmachte, daß Ihr Freund Matherley wieder mal Lunte gerochen hat.« Er nahm die Zeitung aus der Tasche und legte sie dem Inspektor auf den Tisch. Da schrie ihm in riesigen Lettern von der ersten Seite entgegen: MR. CHICAGO GREIFT EIN! Darunter kam ein Artikel, in dem der Redakteur von der heißen Szene in der Alhambra‐Bar berichtete. Es wurde geschildert, wie der boxgewandte FBI‐Inspektor mit mehreren Männern eine Auseinandersetzung gehabt und zwei davon k.o. geschlagen hätte, ehe er selbst die Flucht ergriff. »Mr. Chicago«, kam es tonlos über Eliots Lippen. Er schüttelte den Kopf und schob das Blatt zurück. Da hatte der tüchtige Zeitungsmann Rufus Matherley jenen Namen geprägt, den der FBI‐man Eliot Ness niemals wieder loswerden sollte. Für seine Freunde hieß er »Der Norweger«, und für Chicagos Unterwelt war er von diesem Tag an ganz einfach »Mr. Chicago«. Dieser Name wurde bald darauf auch von Al Capone aufmerksam registriert. Und der hatte absolut kein 110
Interesse daran. Beizeiten schon würde der größte aller Gangster seine Vorkehrungen treffen. Es war kein sonniger Tag, kein wolkenloser Himmel lag über der Riesenstadt, in der der Stern des Eliot Ness aufgegangen war. Es war ein trüber, regnerischer, bleigrauer Novembertag, der über der weiten Bucht des Michigansees hing. Auf der anderen Seite des Oakwood Cemetery zog mit schauriger Blechmusik ein Leichenzug über einen breiten Weg, um in einer schmalen, von kahlen Hecken gesäumten Gräbergasse zu verschwinden. Ness, der das Fenster einen Moment geöffnet hatte, schloß es schnell wieder. »Hier muß man hart sein«, feixte Cassedy. »Übrigens, einer von den Männern, die Sie da so schön eingeseift haben, liegt im Krankenhaus. Drüben in der 53rd Street. Er heißt Hancok, falls es Sie interessiert, Boß.« * Eine halbe Stunde später standen die beiden G‐men auf einem der blankgescheuerten Korridore zwischen weißgekalkten Wänden vor einem Mann im weißen Arztkittel. »Ja, es geht ihm natürlich schon besser, aber er sagt, daß er furchtbare Schmerzen hätte.« »Kann ich mit ihm sprechen?« »Natürlich, Inspektor.« Dr. Offers führte Eliot Ness und Kommissar Cassedy 111
in das Zimmer mit der Nummer 207. Sechs Männer lagen da, und zwei Betten waren leer. Der Mann im dritten Bett hatte ein blasses Gesicht und dunkle Augen. Oben auf der Tafel stand der Name: Hancok, Fred. Eliot Ness trat zu ihm an den Bettrand. Da wandte der Kranke sich zur Seite. »Es tut mir leid, Mr. Hancok, aber ich muß mit Ihnen sprechen.« »Ich habe nichts mit Ihnen zu sprechen, Ness.« »Aha, Sie kennen mich?« Da flog der Kopf des Mannes im Krankenbett herum. »Natürlich kenne ich Sie. Jeder kennt Sie, Mr. Chicago! Ha, einen prächtigen Namen haben Sie sich da eingehandelt! Schätze, daß die Boys ihn bald versilbern werden.« Was der Inspektor auch versuchte, es brachte so wenig ein wie die sieben Vernehmungen des Arbeiters Gomez und die Verhöre all der anderen Leute, die mit der Alhambra‐Bar im Zusammenhang standen, sowie der Bewohner des Hauses, vor dem der Gerätehändler Henreidt niedergeschossen worden war. Es schien überhaupt ein dichter Ring des Schweigens um die Leute aus dem Hafenviertel zu liegen. Die meisten von ihnen hatten früher im Stadtteil Cicero oder in Berwyn gewohnt, waren dann aber dort ausgesiedelt worden, da sich das alte Zentrum der Stadt in den vergangenen Jahren mehr und mehr erneuert hatte. Da waren sie zum Wasser gekommen und hatten sich in den alten Gassen 112
niedergelassen. Ness und Cassedy hatten das Hospital verlassen. Zu dieser Stunde hatte der junge Inspektor nicht mehr die geringste Chance, die Verbrechen aus dem Washingtonpark aufzuklären. Dennoch fand ihn die hereinbrechende Dunkelheit wieder im Park. Er kannte hier schon jeden Weg, ja, jeden Yard Boden. Gegen halb zehn wurde er von einem Mann angehalten, der ihm eine Polizeimarke unter die Nase hielt. Der Inspektor lächelte bittersüß und zog seinen Ausweis. Sofort leuchtete der Polizist mit seiner kleinen Stablampe darauf und entschuldigte sich. Es war eine verregnete Nacht, und offenbar hatte der Nebelmörder nichts mit Regen im Sinn. Gegen halb zwei ging Eliot Ness nach Hause. Er hatte eine kleine Wohnung im Zentrum der Stadt. Nach dem Abendbrot sah er die Spätausgabe der Abendschau im Fernsehen an und schaltete dann ab. Neben ihm auf dem kleinen Rauchtisch läutete das Telefon. Er hob ab und hatte die Stimme Cassedys am Ohr. »Hallo, Boß. Ich bin hier in Arlington. Einer von der Familie Hancok ist hier mit einem Lieferwagen herausgefahren. Sie haben einen Jungen in der Rolling Green abgeholt und ihn zur Palatine Street gebracht. Ich hätte Sie nicht angerufen, aber ich hatte das Gefühl, daß wir den Mann, zu dem sie ihn gebracht haben, kennen. 113
Es ist der schielende Ted.« »Downers?« fragte Ness sofort. »Richtig, Sie erinnern sich an ihn?« »Ja, er war doch an der Geschichte unten in Joliet beteiligt.« »Stimmt. Ich hätte Sie auch deswegen allein noch nicht angerufen, aber Sie können sich doch an den Fischhändler aus Winnetka unten am Hafen erinnern? Ich meine den Kerl, dem der Unterkiefer zerschossen wurde bei der Geschichte drüben in Cicero.« »Ja, was ist mit ihm?« »Der war auch dabei.« »Und? Einer von den Leuten aus der Alhambra?« forschte der Inspektor. »Ja, Norman Corhuis.« »Gut, seien Sie auf dem Posten und rufen Sie mich notfalls wieder an. Ich bleibe wahrscheinlich zu Hause.« Aber Pinkas Cassedy rief nicht mehr an, denn es gab nichts Interessantes mehr draußen aus Arlington Heights zu melden. Später verließ der Inspektor das Haus doch wieder. Die stummen Rätsel der Nebelnächte trieben ihn erneut zum Washingtonpark. * Am nächsten Morgen zogen die Nebel wieder vom Michigan Lake landeinwärts und wälzten sich in dicken Schwaden durch die Straßen. Man hatte das Gefühl, daß 114
einem nasse Tücher ins Gesicht geschlagen würden. Die Kleidung wurde innerhalb weniger Minuten klamm und feucht. »Ein Tag zum Sterben«, meinte Cassedy und nieste verstohlen in sein Taschentuch. Er hatte sich in der vergangenen Nacht draußen in Arlington einen Schnupfen weggeholt. Der Teufel sollte diesen Job fressen! In Büchern und Berichten las sich das alles so federleicht, aber wenn man es selbst durchzustehen hatte, dann war es das Letzte. Und erst der Artikel, den sich Matherley in der Frühausgabe wieder abgekniffen hatte! Eine Unverschämtheit direkt. Er nannte den neuen Inspektor des Special‐Service des FBI einen blutigen Anfänger, der besser bei der Stadtpolizei geblieben wäre, denn die Morde im Washingtonpark seien immer noch nicht aufgeklärt, und im Polizeigefängnis würde vermutlich ein Mörder gemästet… Volle drei Stunden schlug sich Eliot Ness mit dem Oberrichter Evans vom 7. Distrikt herum. Er versuchte, die Freilassung des Häftlings Joseph Buster zu erreichen. Aber der Oberrichter weigerte sich hartnäckig – nicht zuletzt unter dem Druck, den die Presse ausübte. Pinkas Cassedy erlebte hier eine erste Probe von der unwahrscheinlichen Zähigkeit seines neuen Chefs. Mit der Beharrlichkeit eines Knöchelfighters punktete der zähe FBI‐man den Beamten oben im Justizgebäude aus. Das Recht war auf seiner Seite. Es gab nicht mehr den geringsten stichhaltigen Grund, den so schwer geprüften 115
Joseph Buster noch länger festzuhalten. Aber wer das Recht auf seiner Seite hat, hat damit nicht immer auch das Gesetz auf seiner Seite – und ein Mann wie Richter Douglas Evans hatte schon seit Beginn dieser Affäre etwas gegen diesen blonden Eliot Ness. Leute, die so beharrlich waren, konnte er nicht ausstehen. Er war es gewohnt, daß die Offiziere vom Polizeikorps, daß die Stadtpolizei sowie die Staatspolizei sich den richterlichen Anweisungen fügten. Und Leute, die einem erzählen wollten, wie etwas »in Wirklichkeit« lag, und wie es zu behandeln wäre, die konnte er schon gar nicht ausstehen. Vor allem mißfiel ihm der monotone, gelassene Ton dieses neuen FBI‐Inspektors. Menschen, die durch nichts, selbst nicht durch die ärgsten Rückschläge aus ihrem Gleichmut zu bringen waren, die konnte Douglas Evans auf den Tod nicht leiden. Wenige Minuten vor elf gab der Richter auf. Eliot Ness hatte es geschafft; er ließ den Freilassungsbescheid zu sich bringen und war eine Viertelstunde vor ein Uhr im Gefängniskrankenhaus, wo er mit undurchsichtiger Miene an das Lager des kranken Häftlings trat, der so Schweres durchgemacht hatte. »Na, wie geht’s, Mr. Buster?« Der Mann, der innerhalb kurzer Zeit um zwei Jahrzehnte gealtert zu sein schien, schüttelte den Kopf. »Ich habe aufgegeben, Inspektor. Meine Kinder dürfen nicht mehr zu mir kommen. Meine Verwandten kennen mich nicht mehr. Die Leute auf der Busstation sehen in mir nichts anderes als den Kerl, der sich in seiner Zelle 116
erhängt hat. Und mein Sohn Mike soll sich in den Schenken herumtreiben, habe ich erfahren.« »Dann wird es höchste Zeit, daß Sie sich wieder um Ihre Kinder kümmern.« Der Gefangene blickte auf. In seinen Augen blitzte ein schwacher Hoffnungsstrahl auf. »Wie… sollte das denn möglich sein, Inspektor?« stammelte er. Ness griff in die rechte Tasche seiner Jacke und nahm den Bescheid des Gerichts heraus. Mit zitternden Fingern öffnete Buster das Papier. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Plötzlich wurde er geisterblaß und griff sich mit der Linken ans Herz. »Das ist nicht wahr«, stammelte er bebend. »Doch, ist wahr. Und noch etwas, Buster. Wenn Sie Ihr Bett verlassen können, möchte ich Sie hier mit einem freundlichen Mann bekannt machen, der mich heute früh schon aufsuchte. Er kommt aus New York.« Buster, der schon gefürchtet hatte, seine Beine gar nicht mehr gebrauchen zu können, war sehr schnell aus dem Bett, hatte seinen Mantel angezogen und kam mit hinaus auf den Korridor, wo ein älterer, einfacher Mann stand, der ihm die Hand hinhielt. »Mein Name ist Moreland.« Buster fuhr zurück. Wieder wurde sein Gesicht leichenblaß. Moreland! War das nicht der Name, der über all dem Elend stand, das er in der letzten Zeit durchleiden mußte? 117
»Wer sind Sie?« stammele er. »Ich bin…. ich bin der Vater von Ireen.« »Was wollen Sie von mir? Inspektor, ich wußte, daß es mit dem Bescheid nicht stimmen konnte. Ich ahnte es. Lassen Sie mich, was habe ich mit diesem Mann zu tun? Ich kenne ihn ja gar nicht!« Eliot Ness legte seine große, nervige Hand auf Busters Unterarm. »Bleiben Sie ruhig, Mr. Buster. Es ist für Sie vorbei. Hier ist der Vater des unglücklichen Mädchens gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. – Leben Sie wohl.« Nach diesen Worten wandte der Inspektor sich um und verließ mit seinen ruhigen sicheren Schritten das Hospital. Buster starrte ihm nach. »Was hat er gesagt?« stammelte er. In den Augen des anderen Mannes standen Tränen. Er hatte unsägliches Mitleid mit dem Menschen da vor ihm, der so Schweres hatte durchmachen müssen. »Mr. Buster, ich möchte Ihnen etwas sagen. Meine Tochter hatte in der Stunde ihres Todes ein Los gekauft, ein ganz kleines, billiges Los zu einem Vierteldollar. Und darauf hat sie fünfundzwanzigtausend Dollar gewonnen. Ja, so etwas trifft einen, wenn es zu Ende geht. Den einen nie, und den anderen eben erst in der letzten Stunde. Ich habe das Geld bekommen – und hier in meiner Tasche ist ein Scheck über die Hälfte dieser Summe; ich möchte es Ihnen geben.« 118
Buster starrte den anderen an wie einen Geisteskranken. Dann wich er zwei Schritte zurück und schüttelte den Kopf. »Nein«, stotterte er, »nein, bitte nicht, um Himmels willen, wie käme ich denn dazu!« Der Vater der unglücklichen Ireen Moreland trat dicht an ihn heran und drückte ihm den grünen schmalen Scheck in die Hand. »Hier, es ist ein Stück Geld, das Sie sicher brauchen werden, Buster! – Und ich würde mich freuen, wenn ich wieder mal von Ihnen höre.« Damit setzte er seinen abgegriffenen Hut auf und ging davon. Für Joseph Buster war der Leidensweg zu Ende. Jedenfalls hatte er die Tore des Gefängnisses hinter sich gelassen. Er war zwar immer noch ein Nervenbündel, schwach und elend, aber als er seine drei Kinder vor sich stehen sah, füllten sich seine Augen mit Tränen. Er umarmte sie alle und stammelte immer wieder: »Kinder, daß ich euch wiederhabe!« Als die vier dann vorm Grab der Mutter standen, sagte Joseph Buster plötzlich: »Aber eines wollen wir niemals vergessen: Daß ich überhaupt wieder zurückkommen konnte, verdanke ich nur Eliot Ness…« * Als der Abend gekommen war, stand der einsame Mann 119
wieder in den feuchten Nebelschwaden, die auf dem Washingtonpark lasteten. Langsam schritt er über einen der Sandwege dahin und vermied es, auf die Blätter zu treten, die der Herbstwind von den Bäumen gerissen hatte. Cassedy hatte recht; der Job hier ließ sich verdammt schwer an. Die Stadtpolizei suchte immer noch mit allen verfügbaren Kräften nach dem Mann, der hier im Nebel des Parks zwei Menschen ermordet hatte. Und mit der gleichen Intensität wurde Josè Sillot gesucht, der den Gerätehändler Henreidt erschossen hatte. Der Inspektor blieb stehen und blickte durch das blattlose Geäst der Büsche hinüber zur Straße, wo die schweren Autos fast lautlos über den nassen Asphalt sirrten. Der Nebel deckte jetzt auch schon die Geräusche zu. Er hatte gerade den unteren Parkweg verlassen, als er auf der Höhe der 56. Straße auf einem der kleinen Pfade, die sich hügelan zogen, stehenblieb und im schwachen Schein einer Bogenlaterne seine Taschenuhr zu erkennen suchte. Dann trat er an den Rand der Büsche und blickte die Straße hinunter. Mit pfeifenden Pneus hielt am Bürgersteig ein Wagen. Ein junger Mann sprang heraus und lief quer über den Gehsteig auf den Inspektor zu. »Evening«, grüßte er. »Das ist alles, was ich mitbekommen habe, Chef.« Ness nahm die kleine Cellophantasche und nickte. »Thanks, Matthews.« 120
»Kommissar Cassedy ist zur Alhambra gefahren; Mr. Parker ist vor dem Haus von Gomez mit seinen Leuten auf Posten.« »Und die Schattenmänner?« »Alles in Ordnung, Chef.« »Und hier, der Park? Ich habe nicht einen Mann getroffen.« »Es sind aber alle auf ihren Posten. Drüben am Wasser ist nur Gilbert, wie Sie es befohlen haben.« »Gut«, sagte Ness und blickte dem jungen G‐man nach. Als das Auto sich in Bewegung gesetzt hatte, zog er den Plastikumschlag auf und nahm die Notizen heraus, die sich in seiner Abwesenheit angesammelt hatten. Es waren sieben unwichtige Dinge und eine weitere Schlagzeile von seinem speziellen Freund Matherley, der der Öffentlichkeit empfahl, dafür zu sorgen, daß fähigere Leute als der junge Inspektor Ness mit Mordfahndungen des FBI betreut würden. Ein merkwürdiges Gefühl, mit dem Rücken zu dem stillen Park inmitten des Getriebes der Stadt zu stehen! Der Inspektor hatte die Briefschaften in der Linken und wollte gerade mit der Rechten seine Miniatur‐ Taschenlampe herausziehen, als sein Blick auf der Gestalt eines Passanten haften blieb, der etwa fünfzehn Schritt von ihm entfernt am Rand des Bürgersteiges stehengeblieben war. Es war ein mittelgroßer Mann, der die linke Hand in die Hüfte stützte und den rechten Fuß etwas vorsetzte. Etwas Magisches hatte diese Haltung an sich. 121
Lubber! Harry F. Lubber! Der verrückte Maler vom Renwick Lake. Wie hypnotisiert blieb der Inspektor stehen und fixierte den Mann drüben am Gehsteig. Schaute er wirklich zu ihm herüber, oder beobachtete er die Straße? Nein, er hatte schon gestern den linken Arm in die Hüfte gestützt. Ness hätte darauf schwören können; er blickte also hierher. Was tat er hier? Bestand vielleicht doch eine Verbindung zwischen ihm und Sillot? Ein Frösteln kroch über die Rückenhaut des FBI‐ Mannes. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß sich ihm die Haare unterm Hut sträubten, denn in dieser Sekunde hatte sich der Mann drüben am Bordsteinrand in Bewegung gesetzt. Wie eine Marionette ging er vorwärts, auf den Rand des Parkes zu. Eliot Ness rührte sich nicht. Als der andere herangekommen war, hörte der Inspektor ihn sagen: »Also hier finde ich Sie endlich!« Eliot schluckte. »Wie – wie meinen Sie das?« kam es heiser über seine Lippen. Lubbers Gesicht war gegen das Licht der Straße hier am düsteren Parkrand nicht zu erkennen. Sekundenlang rührte sich der Mann nicht. Dann lachte er plötzlich girrend und sagte: »Sie sind mir ein eigenartiger Zeitgenosse. Ich war drüben im Shop und hatte noch ein paar Naschereien für meinen Verein heute abend gekauft, als ich Sie plötzlich quer über die Straße gehen sah.« 122
Regungslos stand der FBI‐man da und blickte ihn an. Was war das für eine Geschichte? Lubber wollte ihn drüben von der anderen Straßenseite aus gesehen haben? Vielleicht war das nicht unmöglich. Schließlich konnte man die Leute auf der anderen Seite von hier aus auch erkennen. Aber nur wie Schemen. Außerdem gingen sie im Lichtschein der Schaufenster. Da unterbrach Lubber die Gedanken des Agenten, indem er wieder sein sonderbares Lachen in sich hineingluckste und plötzlich den Kopf hochwarf. »Dachte mir, nanu, da ist doch der verdrehte… ich meine, der Dichter! Da laust mich doch sonstwer! Ich renne los – und bum, ein Auto. Ich muß zurück. Wieder ein Auto. Dazwischen sah ich Sie mit einem Mann hier stehen. Wieder Autos – eine ganze Kette. Und drüben an der Ampel wird es grün. Ich los, durch das Wagenknäuel hindurch und… da bin ich.« Eliot Ness stand immer noch bewegungslos vor den Büschen des Parkrandes. Seine Augen suchten das fahle Dunkel auf dem Gesicht des anderen zu durchdringen. Was hatte er ihm da für eine Story aufgetischt? Von der anderen Straßenseite wollte er gekommen sein? Aus einem Geschäft? Wo waren die Sachen, die er angeblich eingekauft hatte? Überhaupt – er hatte doch urplötzlich da am Straßenrand gestanden – wie aus dem Boden geschossen. Aber nein, es konnte alles durchaus möglich sein, genau so, wie er es gesagt hatte. Vielleicht bin ich überreizt! Zu wenig Schlaf in letzter 123
Zeit. Zuviel durch diesen nebelfeuchten Park gelaufen… Der Inspektor wischte sich über die Stirn und spürte, daß sein Handrücken feucht geworden war. Hatte ihn dieser verrückte Farbkleckser doch tatsächlich einen Moment lang erschreckt. Lubbers Stimme riß ihn aus dieser Stimmung heraus und überfiel ihn mit einem wahren Wasserfall von Worten. »Entschuldigen Sie das mit dem verdrehten Dichter, Eliot, aber ihr Burschen von der kritzelnden Abteilung seid ja tatsächlich manchmal nicht mit beiden Füßen auf dem Boden. Steht der Kerl hier am Parkrand, schluckt den Nebel, fragt die Leute nach der Uhrzeit, weil er sie auf seinem Wecker in dieser ägyptischen Finsternis nicht ablesen kann, und… aber«, er fuhr sich plötzlich ans Kinn, legte den Kopf etwas auf die Seite und sagte mit einem unangenehmen Unterton: »Oder warten Sie hier am Ende auf ein Weib?« Weib, hatte er gesagt! Kritzelnde Abteilung. Und Eliot, ja, er hatte ihn Eliot genannt. Damned, so habe ich mich ihm doch vorgestellt. Ich sehe schon Gespenster. Der Inspektor sog die Luft tief ein, griff mit der Linken in die Reverstasche und nahm einen kleinen, dünnen schwarzen Zigarillo heraus, den er sich zwischen seine großen Zähne schob. Lubbers Rechte zuckte hoch. Ness hatte den Atem angehalten. Seine rechte Hand umspannte die Colt‐Automatic. Da flammte vor seinem Gesicht ein Feuerzeug auf. »Nehmen Sie schon«, ermunterte ihn Lubber. 124
Als der Zigarillo brannte, sagte der Maler: »So, Freund, und jetzt hören Sie mal zu. Ich habe die halsbrecherische Tour über diesen lebensgefährlichen Damm nicht umsonst gemacht…« Eliot blickte ihn von der Seite an und konnte jetzt die verschwommenen Konturen dieses Gesichtes erkennen. »Yeah, nicht umsonst gemacht. Ich werde Sie nämlich mitnehmen!« »Wohin?« »Zu mir.« Eliot schüttelte den Kopf. »Geht leider nicht.« Da ergriff Lubber ihn am Arm und zerrte ihn ein Stück vom Parkrand weg. »Kommen Sie, Eliot, Sie sind ein Träumer. Ich habe es gestern sofort gemerkt. Sie vertun hier Ihre Zeit…« Wie kam er darauf?! »Kommen Sie mit, in meiner Kate wird heute alles auf den Kopf gestellt. Sie sollten sich die Einrichtung unbedingt noch mal im Urzustand ansehen. Wenn die Horde da fünf Stunden getobt hat, sieht’s aus wie nach einem Bombenangriff.« Lubber postierte sich jetzt wieder dicht vor dem Inspektor und schüttelte den Kopf. »Kommen Sie, Eliot, tun Sie mal was anderes. Geben Sie die Träumerei für ein paar Stunden auf und lachen Sie mit uns.« Waren das nicht wirklich vernünftige Worte? Der verdrehte Kerl konnte doch auch ganz ordentlich sein. »Vorwärts«, meinte er. »Da drüben am Straßenrand 125
stehen meine Pakete. Ich brauche ohnehin einen Gepäckträger dafür.« Tatsächlich, drüben am Straßenrand standen vier große Tüten, die Ness gar nicht gesehen hatte oder sie vielleicht für abgestelltes Abfallgut gehalten haben mochte. Er wischte sich wieder übers Gesicht und spürte ein Brennen in seiner Kehle. Zum Teufel, er hatte sich doch nicht etwa auch erkältet? Wohin einen der Argwohn bringen konnte! Da hatte dieser höchstwahrscheinlich völlig harmlose Mensch ihn hier entdeckt und war mit seinem Tütenstapel quer über die Fahrbahn gerannt, um ihn mitzuschleppen. »Kommen Sie endlich, Eliot.« »Es tut mir leid, aber ich… es geht heute nicht.« »Aber morgen früh ist die Party vorüber! Sie sollten Bess sehen, Beine hat die, und – na, erst Cory, unser Schaustück, das ist was fürs erkaltete Herz. Wie alt sind Sie eigentlich?« Lubber trat plötzlich einen Schritt zurück, legte den Kopf wieder auf die Seite, so als müsse er ein Motiv anvisieren und fragte mit besorgter Stimme: »Sie sind doch nicht etwa verheiratet?« Eliot schüttelte mit müdem Lächeln den Kopf. »Na also. Und selbst wenn! Jetzt machen wir beide einen duften Run zur Renwick‐Kloake. Und dann will ich meinen demnächstigen Mieter lachen sehen. Und wenn Cory Ihnen nicht gefällt, Eliot, dann will ich Leonardo da Vinci sein.« Der Inspektor stand unschlüssig da und blickte die Straße hinunter. Später wußte er sich nicht mehr zu 126
erklären, was ihn in dieser Minute bewogen hatte, seinen Posten hier zu verlassen. Es war doch ein Unding, jetzt mit diesem Bohemien zu gehen, um weit im Süden am Stadtrand eine alberne Party zu besuchen, auf der höchstwahrscheinlich ein halbes Dutzend gleichartiger verdrehter Käuze herumhopste. Ness war nie ein Freund von Parties gewesen. Sein Leben hatte mit einer wenig freudvollen und sicherlich nicht eben abwechslungsreichen Jugend begonnen, war dann in den Jünglingsjahren durch die Armut daheim und mangelndes Geld trotz angestrengter Arbeit aller Familienmitglieder noch härter geworden; um schließlich nach dem Studium, das ihm der Vater trotz aller Knappheit ermöglicht hatte, noch spartanischer zu werden; denn der angehende Polizei‐Offizier konnte sich überhaupt nichts leisten. Daheim war die Mutter krank, und der Vater hatte einen Berg von Schulden zurückzuzahlen, den er nicht zuletzt wegen seines Sohnes Eliot auf sich genommen hatte. Und dabei war es geblieben, obgleich sich die Dinge geändert hatten. Den Eltern ging es dank des Geldes, das ihnen der Sohn nun zuschießen konnte, besser. Aber er, der jetzige Inspektor und Special‐Agent des FBI, war bei der spartanischen Lebensweise geblieben. Sicher, hier und da hatte es eine Frau gegeben, aber nie für lange Zeit. Der Beruf fraß ihn auf. Und für Festivitäten hatte er niemals Sinn gehabt. »Los, kommen Sie schon! Träumen können Sie auch morgen noch, Eliot.« Immer noch verharrte Ness auf der Stelle, blickte sich 127
dann unwillkürlich nach dem Park um, in dem sich der Nebel etwas gelichtet hatte. Eisige Kälte schlug einem aus den Anlagen entgegen. Er schüttelte sich. Lubber nickte. »Yeah, Mann, stehen Sie hier noch etwas herum, und Sie haben morgen die schönste Grippe. Dann wird Ihr nächster Schmöker wahrscheinlich im Krankenhaus verlegt werden.« Sein gurrendes Lachen stieß den FBI‐Mann ab. Aber Lubber ergriff ihn erneut am Arm und drängte: »Nun machen Sie schon. Meine Gäste daheim werden sich inzwischen ganz unvornehm besaufen – und Sie sind schuld. Los, sehen Sie sich die Gesellschaft wenigstens mal an. Sind ein paar nette Leute drunter.« Nette Leute? Gab es die überhaupt? Vielleicht aber waren unter diesen »netten Leuten« alte Bekannte aus der Alhambra? Welch ein Weg hatte ihn überhaupt zu Lubber geführt? Ein reichlich verschlungener Umweg. Er hatte plötzlich drüben im Hof der Alhambra den Gedanken gehabt, sich nach Sillots Freundin zu erkundigen. Dieser Gedanke erwies sich nicht als schlecht, und sehr rasch hatte er das Straßengirl Myrna aufgespürt, das vielleicht nur für die Leute aus der Alhambra Sillots Freundin war. Von ihr war dann der »Künstler« am Renwick Lake erwähnt worden. Es fing in dünnen Fäden an zu regnen. Ness schlug den Kragen hoch und schob die Hände tief in die Taschen. Dann ging er wortlos neben dem Maler her auf die vier großen Tüten zu. Jeder nahm zwei 128
auf und Lubber krächzte: »Ich hab’ meine Kalesche drüben in der Querstraße stehen. Verbotswidrig natürlich wieder mal. Hab’ aber die drei Dollar Strafe bereits in den Kaufpreis mit einbezogen; hier ist der Whisky dafür insgesamt drei Dollar fünfzig billiger als anderswo. Somit habe ich sogar noch einen halben Dollar verdient.« Nachdem sie den breiten Fahrdamm passiert hatten, bugsierte Lubber ihn auf einen steinalten Pontiac zu, der tatsächlich verbotswidrig und mit einem Strafzettel geschmückt am Bordstein wartete. Lubber lachte: »Na also, die Rechnung geht wieder mal auf.« Sie stiegen ein, und dann ließ sich der Inspektor von Lubber durch die nebligen Straßenschluchten schaukeln, wobei er Gelegenheit hatte, das Geschick zu bewundern, mit dem der Maler den alten Wagen zu steuern verstand. Als sie endlich vor dem rostigen Gitter draußen am See ankamen, war Lubber sehr viel einsilbiger geworden. Er schob, nachdem er siebenmal mit irrsinnigem Lärm die Hupe drangsaliert hatte, seinem Begleiter wieder zwei der Riesentüten zu und deutete dann mit dem Kinn auf das Licht, das vorm Haus aufleuchtete. »Na bitte, die Bande ist noch im Gange!« Zwei Männer kamen geräuschvoll über den Splitt des Gartenweges und wurden noch von einer vollbusigen Lady in hellen Hosen überholt. Sie kam dem Inspektor entgegen, bückte sich etwas und blickte dann zu ihm auf. »He, Harry, das bist du doch nicht«, meinte sie lachend. 129
Lubber brummte: »Nein, das ist Mr. Eliot; ich erzählte euch doch von ihm.« »Hallo! Das ist also der Mieter! By Gosh, ist das ein Riese! Ich hab’ was übrig für solche Figuren.« Sie fuhr sich durch ihr kurzes Haar und schob beide Hände in die Hosentaschen. Sie besaß in der Tat eine so vollreife Figur, daß auch ein Eliot Ness nicht unberührt daran vorbeisehen konnte. »Welcome, Hemingway!« rief sie und nahm ihm eine der Tüten ab. Im Nu wurde der »Dichter«, der nicht nur nach Meinung der hübschen Cory gut aussah, von den anderen Gästen umringt. Die Corona befand sich, wie Lubber bereits vermutet hatte, in »fortgeschrittener« Stimmung und bezog die beiden Angekommenen gleich mit in den Trubel ein. Ness kam kaum dazu, sich Gedanken über das alles zu machen, denn die hübsche, vollbusige Cory belegte ihn völlig mit Beschlag; und Eliot hatte plötzlich das Gefühl, daß das nicht nur eine angenehme Sache war, sondern längst mal wieder notwendig wurde. Überhaupt, so ein hübsches Girl konnte einen wirklich eine Menge vergessen lassen. Beispielsweise den feuchten, nebligen Park, die klamme Luft, den durch alle Nähte sickernden Fadenregen und… alles andere. Hol’s der Teufel, dachte Eliot, ich bin fahnenflüchtig geworden. Draußen stehen meine Boys, starren sich die Augen im Nebel aus und vermuten mich im Park, und kein Mensch ahnt, daß mich dieser verdrehte 130
Farbenkleckser hier aus der Stadt entführt hat, um mich auf eine feuchtfröhliche Party zu schleppen. Die neuesten Schlager wurden per Tonband vorgeführt, und als das der Mehrzahl nicht mehr gefiel, kam eine uralte Platte von Harry Belafonte dran. Schließlich schmetterte der anscheinend unsterbliche Mario Lanza »Himmel und Meer« in die andächtig lauschende Runde. Es war eine Mixtur á la Lubber. Kaum war das Lied verklungen, da legte der Maler eine flotte Tanzplatte auf, nach der sich sofort zwei Paare drehten. Das Girl in der gelben Hose kam auf den Inspektor zu, machte eine spielerische Verbeugung und meinte: »Eigentlich müßte es ja umgekehrt sein, aber da ich eine Schwäche für Hemingways aller Sorten habe, möchte ich Sie hiermit bitten…« Ich bin bestimmt nicht mehr zu retten, ging es dem Inspektor durch den Kopf. Drehe mich hier mit einem vollbusigen Girl auf dem abgetretenen Bodenbelag eines verrückten Malers am Renwick Lake und werde doch das Gefühl nicht los, daß sich heute – ausgerechnet heute abend – etwas tut. Aber das süßbeschwipste Girl mit dem Bubikopf machte ihm den Vorsatz, sich so rasch wie möglich zu drücken, verdammt schwer. Als er nämlich schon im Korridor war, um den Hausherrn, der sich seit einiger Zeit unsichtbar gemacht hatte, zu suchen, kam sie ihm nach und fiel ihm direkt um den Hals. 131
Süßes Fleisch aus Chicagos Randgebieten, würde der spöttische Cassedy das kommentiert haben; aber glücklicherweise war der Dicke weit weg. Himmel, Cassedy! Der stand sich jetzt draußen im Nebel die Füße in den Leib – und das mit seiner Erkältung! »Flüchten Sie?« fragte das Mädchen, das ihm ungeniert noch einen Kuß aufgedrückt hatte. »Wo treffe ich Sie wieder, Hemingway?« »Ja, das ist so eine Sache, Miß Cory. Ich wohne ja nicht hier, und es ist ziemlich weit hier raus…« »Aber Harry hat mir doch erzählt, daß Sie bald hierherziehen werden.« »Das ist noch ungewiß, aber…« Er hatte in die Tasche gegriffen, um mechanisch nach einer Visitenkarte zu greifen, überlegte es sich dann aber anders und meinte: »Ich werde Ihnen die Adresse aufschreiben.« Er nahm die Notizen, die er vorhin bekommen hatte und die in seiner linken Jackentasche steckten, heraus und suchte einen freien Zettel. Da war ein gelber Umschlag, vielleicht konnte er darauf… Gelb?! Das bedeutete Laborbericht. Er griff rasch hinein und nahm den kleinen roten Zettel heraus, auf dem in vielen Abkürzungen der eingehende Bericht über die Untersuchung des von ihm hier entwendeten Handschuhs zu lesen war. Rasch überflog er die Zeilen und wollte sie eben wieder ins Kuvert stecken, als er ganz unten in der vorletzten Zeile zwei Worte las, die ihm die Kopfhaut regelrecht 132
zusammenzogen. … wurde eine winzige Spur der gleichen kobaltblauen Farbe gefunden, die auch in dem ersten untersuchten Handschuh zu finden war… Der Inspektor hatte das Gefühl, daß er von einem Faustschlag getroffen worden war. Ganz langsam, ohne Hast schob er die Papiere in die Tasche und blickte an der Frau vorbei zur Küchentür. »Wo ist eigentlich unser Gastgeber?« »Sie sollten jetzt nicht unseren Gastgeber suchen, sondern mir meine Frage beantworten.« »Gleich, Cory. Ich brauche ein Stück Papier dazu.« Damit ging er auf die Küchentür zu und klopfte an. Als er keine Antwort erhielt, öffnete er. Hinten am Tisch saß das Mädchen, das gestern den Teller zerschlagen hatte, und blickte ihn aus tränennassen Augen an. »Was ist denn passiert?« hörte er Cory hinter sich rufen. »Nichts«, sagte das Mädchen. Ness wandte sich um, blickte durch den kleinen Flur zur offenen Wohnzimmertür hinüber, wo sich ein halbes Dutzend Leute, die er nicht kannte, und die ihn wahrscheinlich nichts angingen, geräuschvoll unter starker Musikberieselung unterhielten. Wo war Harry Lubber? »Was ist denn passiert?« hörte Eliot die flotte Cory noch einmal das Mädchen in der Küche fragen. »Nichts Besonderes. Er ist nur weggegangen.« 133
»Was, Harry? Wohin denn?« »Ich weiß es nicht, er hat seinen Hut und seinen Mantel mitgenommen.« »Aber das ist doch nicht Ihr Ernst!« »Doch.« »Vielleicht holt er noch Zigaretten.« »Da stehen Zigaretten, vier Stangen.« »Oder vielleicht fehlt sonst irgend etwas.« »Es fehlt nichts, er hat ja alles aus der Stadt geholt.« Da wandte sich Eliot um und griff nach seinem Hut. In dem Augenblick, in dem er seinen Mantel von der Garderobe nehmen wollte, hörte er die Haustür gehen. Im schwachen Schein der kleinen Türlampe erkannte er die Konturen des Malers. »Nanu, Sie wollen schon weg?« Eliot blickte ihn ruhig an. »Ich hab’ noch einen Besuch zu machen.« »Bei wem?« Da nahm der Inspektor den Mantel über den Arm und hatte den Revolver darunter schußbereit in der Faust. »Sagen sie, Harry, wie geht’s eigentlich Ihrem Freund Sillot?« Der Mann in der Tür rührte sich nicht. Er hatte die Linke in die Hüfte gestemmt, den rechten Fuß etwas vorgesetzt, und seine rechte Hand schien in einer Manteltasche zu stecken. Erst nach einer Ewigkeit kam seine Antwort. »Sillot? Was ist mit ihm?« »Das wollte ich ja gerade von Ihnen wissen.« 134
Niemand achtete auf die beiden Männer, die da in einer Distanz von fünf Schritt einander gegenüberstanden. Der eine in der offenen Tür, der andere neben der Garderobe. Cory hätte darauf achten können, die kleine vollbusige Cory Gardener, aber sie war schon leicht beschwipst und hatte sich über ihren »Hemingway« geärgert, der ihre Frage nicht beantwortet hatte. Drinnen im Wohnzimmer jaulte ein Beat, der Jahrzehnte alt zu sein schien und in den Ohren schmerzte. Links von Eliot an der bis zur halben Höhe getäfelten Wand stand eine große Uhr, die jetzt mit blechernem Schlag eine halbe Stunde anzeigte; der Glockenschlag zitterte sekundenlang in der Spirale nach. Die Spannung riß dem FBI‐man an den Nerven. Er hatte eine lange, harte Schule hinter sich und war bei etlichen Einsätzen dabeigewesen. Aber bis zu dieser Stunde hatte er niemals eine solche Situation erlebt. Dennoch hatte er sie bereits auf die Art angefaßt, die einmal in der Story der Polizei der USA Geschichte machen sollte. Er deutete mit der Rechten auf einen beigefarbenen Sessel mit abgeschabter Sitzfläche und sagte mit seiner ruhigen, monotonen Stimme: »Setzen Sie sich bitte, Mr. Lubber.« Der verharrte noch immer auf der Stelle und blickte den Inspektor aus ausdruckslosen Augen an. Dann kam plötzlich Leben in seine Gestalt. Er ging vorwärts und ließ sich wie eine Marionette in den Sessel nieder. »Was wollen Sie?« 135
»Ich habe nach Ihrem Freund Sillot gefragt.« Als Lubber keine Antwort gab und ihn wortlos anstarrte, hörte Eliot Ness sich selbst plötzlich mit einer ganz fremden Stimme sagen: »Und es würde mich interessieren, was Manuel Snyder Ihnen gestern geschrieben hat.« Daß ihm der Gedanke nicht früher gekommen war! Da sank Lubbers Kopf zwei Inches nach unten. Sein Kinn rutschte auf die Brust. »Polizei – also«, kam es krächzend durch seine riesigen gelben Zähne. »Ja«, entgegnete der Inspektor trocken. Ganz langsam, wie ein volltrunkener Greis, nickte der Mann auf dem Sessel, und dann stützte er sich mit beiden Händen auf. »Wieviel wissen Sie?« »Alles!« Es war nur ein einziges Wort. Ein Bluff! Oder schon perfektes Wissen um die wirklichen Zusammenhänge. Die nächste Frage, die von den Lippen des FBI‐ Mannes kommen würde, war entscheidend. Harry Lubber wußte es genau. Deshalb sprach er kein Wort. Aber der Maler vom Renwick Lake hatte sich in dem »Norweger« verrechnet. Die Stille, die zwischen ihnen eintrat, vermochte selbst durch den infernalischen Lärm, der aus der halboffenen Wohnzimmertür in den Flur drang, nicht ausgelöscht zu werden. Da stieß sich Cory vom Rahmen der Küchentür ab und kam zwischen den beiden Männern hindurch, blieb 136
neben dem Inspektor stehen und wandte den Kopf. »Du willst mir also nicht sagen, wo wir uns wiedertreffen können?« »Sie müssen einen Augenblick Geduld haben, Miß Cory«, sagte der Inspektor, »ich werde es Ihnen heute noch sagen.« »Daß du mir aber ja nicht verschwindest, Hemingway«, sagte sie und ging mit einem Hüftschwung davon, der selbst die selige Monroe hätte erblassen lassen. Die Wohnzimmertür fiel hinter ihr ins Schloß. Es wäre jetzt im Flur dunkel gewesen, wenn nicht aus der halboffenen Küchentür noch Licht gefallen wäre, das den Inspektor voll traf. Der Mann vor ihm im Sessel aber saß im Dunkel. Plötzlich stand Lubber auf. Er schob sich mit der Rechten den Hut vom Kopf, kratzte sich in seinem schütteren Haar und schüttelte den Kopf. »Ich begreife es nicht.« Ness schwieg. Da wandte der Maler dem Inspektor das Gesicht zu. Es war mit einer Schweißperlenschicht bedeckt, die an Ornamentglas erinnerte. »So sagen Sie doch endlich etwas!« stieß er mit bebender Stimme hervor. Wie aus Stein gehauen war das Gesicht des Polizeioffiziers. Reglos stand er da und hatte seinen Blick in die flackernden Augen Lubbers gesenkt. 137
Der vermochte dem Blick nicht standzuhalten und sagte auf einmal mit einer Stimme, die unendlich mutlos klang: »Er war jahrelang mit mir befreundet…« »Sillot?« »Ja.« »Und Snyder?« Wie ein Rülpser kam das Lachen aus Lubbers Kehle. »Snyder? Er ist mein Halbbruder.« »Was sagen Sie dazu, Lubber, daß Ihr Freund Sillot einen Menschen niedergeschossen hat?« fragte Ness rasch. »Was soll ich dazu sagen? Es war Idiotie, nichts weiter. Das sind die Halbwilden unten aus den Hafenecken. Ich habe ihm immer gesagt, daß er sich von ihnen trennen muß.« »Das haben Sie ihm gesagt?« Lubber hob den Kopf. Er versuchte, in den Augen des Inspektors zu lesen. Da schnappte plötzlich die rechte Hand des FBI‐ Mannes vor und spannte sich in das weiße Hemd, das Lubber für die Party angezogen hatte und dessen Kragenspitzen schon ausgefranst waren. »Das haben Sie ihm gesagt, Lubber?« Der Kiefer des Angegriffenen zitterte auf und ab, und dennoch kam kein Ton über seine wabbelnden Lippen. »Harry Simon Lubber, ich klage Sie des zweifachen Mordes an!« Das Zittern des Unterkiefers in Lubbers Gesicht hörte 138
auf. Mit einem harten Ruck hatte er ihn nach oben geschlagen. Seine Zähne knirschten, und plötzlich suchte er mit einem Handkantenschlag die Faust des Inspektors von seiner Brust zu bringen. Der aber war dem Schlag zuvorgekommen, indem er den Kopf nach vorn gestoßen hatte und Lubbers Kinn traf. Halb groggy schwankte der Getroffene auf die Küchentür zu. Mit entgeistertem Gesicht war das Mädchen von nebenan, »das so zu allerlei hier benutzt wurde«, hochgefahren, hatte ein Geschirrstück in der Hand und den Mund offenstehen. Da drang aus dem Korridor die rostige Stimme des FBI‐Mannes an ihr Ohr: »Ich klage Sie des Mordes an Ireen Moreland und Gardy Belem an!« Auf den schwarzweißen Fliesen des Küchenbodens zerschellte eine kleine chinesische Tasse. Aber dieser winzige Nadelstich vermochte nicht mehr, die erloschenen Nervenbahnen von Harry Lubber zu erreichen. Wie ohnmächtig hing er an der eisernen Faust des FBI‐Mannes. Ein lebendes Wrack, ein zusammengebrochener Mensch. Wie eine Puppe schüttelte er nur noch den Kopf. »Kommen Sie, Lubber.« Eliot Ness schob ihn jetzt vor sich her, öffnete die Wohnzimmertür und achtete nicht auf die verdutzten Gesichter der Gäste des Malers, sondern ging zum Fenster und ließ Lubber erst da los. Dann nahm er den 139
Kaffewärmer vom Telefon und hob den Hörer ab. »Bitte, drei‐sieben‐dreizehn‐sechsundvierzig‐fünf. – Ruth? Hier ist Ness. Geben Sie bitte an Mr. Cassedy durch, daß ich den Nebelmörder gefunden habe. Es ist ein Mann namens Harry S. Lubber, er wohnt draußen am Renwick Lake, North Road sieben.« Die sechs Menschen im Zimmer hatten sich von ihren Sitzen erhoben und starrten den FBI‐Mann aus glasigen Augen an. Immer noch jaulte drüben der uralte Beat. »Ja, und benachrichtigen Sie Stufe zwei, sieben und neun. Danke. Ende.« Niemand im Raum rührte sich. Die Platte heulte immer noch. Es war Cory, die sich schließlich in Bewegung setzte. Ohne Hüftausschlag kam sie langsam näher, blieb vor dem Schreibtisch stehen und sagte mit belegter Stimme: »Ich verstehe nicht. Was war das? Sie sind von der Polizei? Und… den Nebelmörder… das heißt doch nicht etwa, daß Harry… Harry…?« Voller Entsetzen blickte sie den zusammengesunkenen Mann in der Fensternische an, schlug dann die Hände vors Gesicht und rannte schreiend zur Tür. »Bitte, bleiben Sie hier!« forderte der Inspektor sie mit kühler Stimme auf. »In wenigen Minuten muß die Polizei kommen, und dann wäre es vielleicht nicht angenehm für Sie, wenn Sie draußen im Nebel aufgehalten würden.« Da endlich brach die Musik ab. Bleierne Stille lastete im Raum. In Augenhöhe 140
schwebte eine milchige Tabakwolke. Erst nach und nach kam den sechs Menschen, die da vor ihren Plätzen standen und zur Fensternische hinüberstarrten, zu Bewußtsein, was geschehen war. Cory schüttelte den Kopf. In ihren Augen war ein trüber Glanz, als sie jetzt mit leiser Stimme sagte: »Das kann nicht wahr sein. Alles nicht.Wir… sind doch nicht alle miteinander verrückt. Harry… Harry Lubber… er soll ein Mörder sein? Ein Irrsinn! Er hat mich dutzende Male hier am See entlang in der Nacht nach Hause gebracht, ohne mich auch nur anzurüh…« Sie brach ab und senkte den Kopf. Stille. Nur zwei Drinks hatte der FBI‐Mann zu sich genommen. Und dennoch konnte er nicht im Vollbesitz seiner sonst so wachen Reaktionen gewesen sein. Denn offenbar hatte er nicht an alles gedacht. Plötzlich wurde dicht hinter ihm ein Fenster zerschlagen. Scherben splitterten über seinen abgeduckten Körper hinweg. Und dann war die schrille Stimme der blassen hochaufgeschossenen Peggy von nebenan, die von Lubber fürs »Geschirrspülen und dergleichen« gebraucht wurde, an seinem Ohr. »Nehmen Sie die Hände hoch, Ness, und stehen Sie ganz langsam auf! Wenn Sie eine Bewegung machen, die mir nicht gefällt, schieße ich Sie nieder!« Eisige Kälte ließ die Hirnbahnen des FBI‐Mannes erstarren. Er hockte am Boden, anderthalb Schritte von Lubber entfernt. Der reagierte plötzlich, trat mit dem 141
rechten Fuß nach hinten und traf Ness links an der Wange. Da brüllte am Fenster der Revolver auf. Lubber, der nach vorn hatte stürzen wollen, bekam einen Stoß, stolperte und fing sich vor der Tapetentür wieder ab. Ness hatte sich zur Seite geworfen und den Colt jetzt in der vorgestreckten Faust. Da fauchte es über ihm am Fenster noch einmal brüllend auf, und der Mann, der die Tapetentür fast erreicht hatte, bekam einen Stoß, als wäre er von einem schweren Balken getroffen worden. Er wurde gegen die Wand geschleudert und brach durch die dünne Tür in den nächsten Raum. Eliot Ness federte hoch. Da spie ihm durch das Scherbenloch ein Feuerstrahl entgegen. Es war mehr als Glück, daß er von keinem der Geschosse getroffen wurde. Er rannte zu einem der Sessel – und wieder flog ihm vom Fenster her ein Kugelhagel nach. Zounds! Das war doch eine Maschinenpistole! Er packte den schweren Sessel und schob ihn, tief an den Boden geduckt, vor sich her. Wieder hämmerte die schwere Waffe los. Die Kugeln harkten mit verebbendem Geräusch ins Polster. Die Leute hier im Zimmer sind in Gefahr! zuckte es durch den Kopf des Inspektors. Diese irrsinnige Frau da draußen schert sich den Teufel um die Menschen hier, wenn sie mich nur mit dem heißen Blei erwischen kann. Ein ersterbendes Röcheln kam aus dem Mund des 142
Mannes, der durch die Tapetentür in den Nebenraum gestürzt war. Dieser Nebenraum! Eliot zerrte den Sessel weiter, schob das bleischwere Stück neben sich her und hatte die Tapetentür fast erreicht, als ihm vom Fenster her die dröhnende Stimme eines Mannes entgegenschlug. »Gib es auf, Spürhund! Du kommst da nicht rein!« Snyder! Die Stimme des Gangsters Manuel Snyder! Eliot krampfte die Rechte um den rauhen Knauf der Schußwaffe. Wild jagten die Gedanken in seinem Kopf hin und her. Einen Ausweg! Ich muß einen Ausweg finden. Snyder steht draußen. Dann ist der andere auch in der Nähe! Sillot, der Mörder. Und die Freundin Lubbers mußte hinzugerechnet werden! Drei gegen einen. Wo war Sillot! Und wo steckte dieses bleichgesichtige Mädchen? »Pegg!« rief er. »Sie haben aufs falsche Pferd gesetzt! Ihr Freund ist tot. Und die anderen sind ebenfalls Verbrecher, die von der Polizei gejagt werden! Schlagen Sie Ihr Leben nicht wegen dieser Bande in die Schanze…!« Eine röhrende Lache aus Snyders Kehle war die Antwort. Da warf sich der G‐man nach links und schickte einen Feuerstrahl aus seiner Pistole an der Sesselkante vorbei zum Fenster. Das Glas zersprang weiter, und die Scherbenstücke spritzten jetzt nach draußen. Im nächsten Sekundenbruchteil warf sich der Agent 143
im Hechtsprung über den Körper Lubbers in den Nebenraum. Er hatte das Aufbrüllen des Schusses hinter sich nicht mehr gehört, spürte nur noch den dumpfen Schlag gegen den Hinterkopf, als er kaum einen Yard neben dem reglosen Körper des Malers zu Boden stürzte. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er zum Greifen nah vor sich den leblosen Lubber liegen, der den Weg in die Kammer mit seinem Leib versperrt hatte. Blut sickerte unter seinem linken Arm über den hellen Bodenbelag. Nebenan war alles still. Eliot blickte auf. Ein stechender Schmerz zuckte durch seinen Kopf; fast wäre ein Schmerzensschrei über seine Lippen gekommen. Er fixierte mit zusammengezogenen Augen die Gegenstände in dem kleinen Raum – und dann hatte er wieder alle Energie aufzubringen, um einen Ausruf der Verblüffung zurückzuhalten. Unweit von ihm an der Wand stand ein Kasten, über dessen Rand ein Arm heraushing. Ein menschlicher Arm! Eliot merkte erst jetzt, daß er den Colt noch in der verkrampften Rechten hielt. Wie von Geisterfingern berührt, zog sich seine Kopfhaut zusammen. Nur ein schwacher Lichtschein von nebenan fiel hier in die Kammer und erfaßte nicht ganz den Kasten, streifte nur mit einem Schimmer den Arm da drüben. Im nächsten Augenblick hatte sich der Inspektor von der Wand gelöst und kroch auf den Knien weiter. Geduckt 144
bewegte er sich links an der Kammerwand vorbei und hatte dann die Kiste erreicht. Langsam richtete er sich auf. Es war ein Mann, der da in der Truhe lag. Eliot blickte über den rissigen Holzrand und sah in das wächserne Gesicht eines Toten. Er erkannte den Mann trotz der schwachen Beleuchtung sofort: Es war José Sillot, der Mann, den er wie eine Stecknadel gesucht hatte! Plötzlich verdunkelte sich der Eingang. Ness wirbelte herum und – sah Corys Konturen in der eingerissenen Tapetentür auftauchen. »Keiner rührt sich!« drang da aus dem Nebenraum die röhrende Stimme Snyders. »He, Sweety, schwing deinen Hintern herum und zeig mir deinen Pullover von vorn! Vorwärts! So, ja – na, das klappt ja. Pralle Ware ist das, kann sich sehen lassen! – Keiner rührt sich! Wer sich einbildet, hier was ändern zu können, wird zu diesem dreckigen Polizeikadaver nebenan gelegt!« Eliot Ness kauerte neben der Kiste mit dem Toten und starrte auf die Frau, die in der eingebrochenen Tapetentür stand; das Licht floß an ihren Umrissen vorbei und verdunkelte den kleinen Raum. Mit dem nächsten Blick hatte der Inspektor festgestellt, daß es hier kein Fenster, sondern nur eine Deckenluke gab – einen handbreiten Schlitz, der mehr der Belüftung als der Beleuchtung dieses Raumes dienen sollte. Das schmale Fenster stand einen Spaltbreit nach oben offen. Was war hier geschehen? 145
Und wichtiger: wie kam man hier aus dieser Falle heraus? Im nächsten Augenblick konnte Snyder in der Tapetentür auftauchen. – Mit der Maschinenpistole! Wieviel Patronen sind noch in der Colt‐Automatic? In beizenden Tropfen rann dem FBI‐man der Schweiß durch die Brauen in die Augen. Hölle! Wie lange war es eigentlich her, daß er telefoniert hatte! Die Polizei mußte doch endlich kommen! Yeah, in der Stadt wäre sie natürlich längst an Ort und Stelle gewesen. Aber hier draußen mußte sie erst mal ihren Weg finden durch dieses Ödland am See. Weg von der Kiste! Aber wohin? Wieder links neben die Tür. Kaum hatte er den Platz erreicht, als neben Corys Gestalt der riesige Schatten eines Mannes in den kleinen Raum fiel. Das Mädchen wurde brutal zur Seite gestoßen, und dann tauchte der Lauf einer Maschinenpistole am zerfetzten Rahmen der Tapetentür auf. Hart fiel das Stakkato der Schüsse in den Raum. Das war ein Fehler, den der Gangster Snyder sofort zu bereuen hatte. Trotz ihres heißen Laufes wurde die Waffe gepackt und mit einem unwiderstehlichen Ruck nach vorn gerissen. Snyder reagierte um den Bruchteil eines Augenblicks zu spät, als er die MPi schließlich losließ. Er war schon mit der linken Schulter und dem Kopf am Türrahmen, wo ihn eine stählerne Faust packte und nach vorn schleuderte. Er stürzte mit dem Kopf gegen die Truhe. Das dumpfe Geräusch ließ den Inspektor die Zähne 146
aufeinanderpressen. Da federte der Gangster unerwartet schnell wieder hoch und warf sich herum. Und diesen Angriff startete er gekonnt. Er täuschte einen Ausbruch nach links vor, warf sich dann aber urplötzlich nach rechts und prallte hart mit dem G‐Mann zusammen. Ness verspürte einen Stoß gegen den Kopf, der vom Huf eines auskeilenden Hengstes gekommen zu sein schien, taumelte zur Seite und riß mit letzter Energie den Schädel zurück. Das war ein Glück! Denn Snyders Stilett durchstach an der gleichen Stelle die dünne Tapetenwand. Nur weil der Verbrecher den Arm nicht rasch genug aus der Bresche zurückziehen konnte, fand der angeschlagene FBI‐Agent zu klarer Übersicht zurück. Der harte Schlag mit der Colt‐Automatic gegen die Schläfe ließ Manuel Snyder röchelnd zusammenbrechen. Bis in seine letzten Tage verzieh sich Ness den Fehler nicht, den er jetzt bereits zum zweiten Male machte; er hatte abermals die Frau vergessen! Und Corys Warnruf kam zu spät. Peggy, die die Leute drinnen auf ihrem Weg zur Tapetentür bis hierher mit dem Revolver zu tödlichem Schweigen gezwungen hatte, tauchte jetzt hinter dem G‐ man auf. Ihre Kugel stieß ihn nach vorn. Er warf sich herum und feuerte nur noch im Unterbewußtsein zurück. Aber es war keine der Kugeln des FBI‐Inspektors, die das schmalbrüstige Mädchen ausgeschaltet hatte – es war 147
ein schwerer Stilaschenbecher, den die couragierte Cory blitzschnell vom Rauchtisch gerissen und der Frau mit dem Revolver ins Genick geschleudert hatte. * Lähmende Stille im ganzen Haus. Die zu Tode erschrockenen, längst völlig ernüchterten Menschen im Wohnzimmer lauschten mit angehaltenem Atem nach nebenan. Selbst der Mut der kleinen Cory war verraucht; auch sie rührte sich nicht mehr von der Stelle. Da schlug das »Unkraut aus Norwegen« – wie der Zeitungsmann Matherley seinen »Freund« Eliot Ness später einmal nennen würde – die Augen erneut auf. Neben ihm lag Snyder an der Wand – reglos, wie tot. In der eingebrochenen Tür war noch immer der verkrümmte Körper des Malers zu sehen. Drüben aus der Truhe hing der Arm des toten Mordschützen aus der Alhambra‐Bar. Und hinter Lubbers Körper war die zwanzigjährige Freundin des Malers zusammengebrochen. Eliot Ness richtete sich auf und lehnte sich gegen die kühle Wand. Alles drehte sich vor seinen Augen. Übelkeit stieg in ihm auf. Der Streifschuß am Hinterkopf, den Snyder ihm beigebracht hatte, war ein Nichts gegen den Schmerz in der rechten Hüfte. Heiße Angst stieg in ihm hoch, und eine Ohnmacht wollte ihn anspringen. Sie haben mich fertiggemacht in 148
ihrer Kate am See, die Hunde aus der Alhambra. Wie ein Nachtwandler hatte er den Weg hierher zu dem gespenstischen Harry Lubber gefunden – hatte die Spur des Nebelmörders entdeckt – und war in der Falle erstickt worden. Er sah förmlich die Schlagzeilen vor sich, die der große Matherley im Morgengrauen auf die Weltstadt loslassen würde: Der überschlaue Ness stieß auf Dynamit! FBI‐Agent im Nest der Nebelmörder‐Bande gekillt! Bande! War es denn eine Bande? Weshalb hatten sie Sillot umgebracht? War er überhaupt umgebracht worden? Ness stieß sich von der Wand ab, torkelte ein paar Schritte vorwärts und riß Snyder vom Boden hoch. Als der zu sich kam, klickte ein stählernes Handschellenpaar um seine Gelenke. Der Inspektor stieß ihn vorwärts, bückte sich dann nach der Küchenhilfe, die so plötzlich verborgene Talente offenbart hatte, wie sie in Chicagos Unterwelt zweifellos sehr geschätzt wurden. Er fesselte auch sie. Snyder starrte mit verquollenem Gesicht vor sich hin. Dann, als er sich nach dem Inspektor umsah, stieß er heiser durch die zusammengebissenen Zähne: »Elender Polizeihund! Du kommst doch nicht weit!« Peggy kam erst zu sich, nachdem der FBI‐Mann ein Glas Wasser über ihr Gesicht gekippt hatte. Sie wollte sich aufrichten und bekam plötzlich Cory ins Blickfeld. 149
»Das verdanke ich nur dir, du Hure!« Cory starrte sie entgeistert an. Eliot blickte von einer zur anderen. Da sagte einer der Gäste, ein langaufgeschossener Mann mit wilder Mähne und braunen Hundeaugen: »Sie hat dieses Satansweib mit dem Ascher niedergeschlagen, genau in dem Moment, Inspektor, in dem Peggy Sie abknallen wollte.« Eliot nickte. »Dachte es mir.« Dann sah er Cory an. »Vielen Dank. – Und aus der Beleidigung, die ein Gangsterliebchen einem hinwirft, macht man sich nichts!« – Als er mit den beiden an der Zimmertür war, blickte er sich noch einmal um. Cory sah ihm aus großen Augen nach. »Meine Adresse wissen Sie ja nun.« Das Mädchen schluckte. »Ja, Inspektor.« »Schade«, entgegnete er halblaut. »Hemingway war mir lieber.« * Wo zum Teufel blieb die Polizei? Ness sah sich um und blickte in die bleichen Gesichter der Gäste, in denen immer noch das kalte Grauen stand: Nebenan in der Kammer lagen zwei Tote. Eliot wischte sich übers Gesicht. Er hatte Snyder und Peggy zusammengekettet. Die beiden waren entschärft. Mit haßerfüllten Blicken beobachteten sie den G‐man. »Es bleibt dabei, Ladies und Gentlemen«, wandte er 150
sich an die übrigen, »Sie müssen hierbleiben, bis die Polizei eintrifft.« Nach diesen Worten schob er das Gangsterpaar durch den kurzen Korridor zur Tür. Plötzlich blieb er stehen. »Wollen Sie Ihre Mäntel haben?« Peggy nickte. »Welcher ist es?« »Der grüne da.« Eliot zog ihn unter dem Wust der Mäntel hervor und legte ihn der Frau um die Schultern. Dann sah er Snyder an. Es war Peggy, die durch den Mundwinkel zischte: »Seiner ist der braune da ganz unten. Ja, der da.« Eliot Ness schluckte. Aus schmalen Augen blickte er auf den abgetragenen Trenchcoat, den ihm das Mädchen bezeichnet hatte. »Ist das seiner?« Mit heiserer Stimme hatte er es hervorgebracht. Die Frau nickte. Tiefe Gleichgültigkeit stand in ihrem jungen Gesicht. Da nahm der Inspektor den Trenchcoat vom Haken. Es gab keinen Zweifel: es war der gleiche Mantel, der schon gestern da hing und aus dem er den schwarzen Handschuh genommen hatte. Er tastete die Taschen ab und fand den linken Handschuh. Mit einer Stimme, der seine große Erregung nicht anzuhören war, sagte er: »Es ist nur ein Handschuh drin.« Da hob der Gangster vor ihm den Kopf und fletschte die Zähne: »Wie könnte es anders sein, Mr. Chicago – wo Sie mir 151
ja den anderen gestohlen haben.« Eliot blickte ihn schweigend an. Da schrie Snyder plötzlich unbeherrscht los: »Yeah, es ist mein Mantel! Und es war mein Handschuh! Daß du ihn gefunden hast, war märchenhaftes Pech. Wie du überhaupt hergefunden hast, ist mir ein Rätsel. Aber es bleibt Harrys Leistung, daß er dich vom Park abgeschleppt hat, wo du verfluchter Spürhund nicht aufgeben wolltest.« So war das also. »Und weshalb haben Sie Sillot ermordet?« fragte der G‐man schnell. »Ermordet?« giftete der Verbrecher, »quetsch doch nicht so dicke Brocken daher, Schnüffler! Sillot war ein Idiot. Er hat die Nerven verloren und Henreidt vor deinen Augen abgeknallt. Dann rannte er kopflos ins Haus und brachte dich so auf unsere Spur.« »Und Sie haben die Moreland und auch Gerdy Belem erwürgt, Snyder?« Da zog ein bestialisches Grinsen über das fahle Gesicht des Gangsters. Er stieß den Kopf vor und schrie: »Ja, ich! Ich war es! Es wird dir aber kaum noch etwas nützen.« »Und was war mit Harry?« »Er war ein Idiot, ein Trottel, der nicht schnell genug tat, was ich ihm befahl. Er war dumm wie Sillot.« Wie war die Malerfarbe an Snyders Handschuh gekommen? Als hätte der Verbrecher den Gedanken des Polizeioffiziers erraten, spie er jetzt förmlich hervor: 152
»Wenn ich nicht ab und zu eines seiner verkorksten Bilder an den Mann gedrückt hätte, wäre er doch verhungert.« »Und ihr mit ihm!« Snyder senkte den Kopf. »Was denn«, röhrte er durch den linken Mundwinkel, »wenn er meine Puppen haben wollte für seine blöden Akte, hatte er schließlich auch die Pflicht, für mich zu arbeiten.« War es zu Ende? Ness blickte zur Tür. Wo bloß die Polizei blieb! Wie lange dauerte das denn? Wieviel Zeit war seit seinem Telefongespräch verstrichen? Es waren nur wenige Minuten seitdem vergangen. Und die Polizei war mit fünf Fahrzeugen im Eiltempo unterwegs. Aber es war trotzdem noch nicht zu Ende. Eliot schob die beiden auf die Tür zu. Da sagte Snyder: »Lassen Sie das Girl frei, Ness. Es hat nichts damit zu tun.« Der Inspektor überhörte diese Worte. Denn etwas Sinnloseres hätte Snyder kaum sagen können. Diese blutjunge Gangsterbraut war gefährlich wie ein Mann, wie dieser Manuel Snyder selbst. »Und noch was, Ness. Damit Sie mich nicht für einen Schrägen halten: ich hab’ die beiden Girls nicht gegriffen, weil ich ein Lustmörder bin.« Das Licht aus dem Wohnraum fiel jetzt voll auf sein grinsendes Gesicht. Ein Flimmern stand in seinen dunklen Augen. Tief hing ihm 153
das zerzauste Haar in das geschwollene Gesicht. »Ich brauche Kies. Nichts weiter.« »Kies?« wiederholte der G‐man entgeistert. »Kies, von einem kleinen Büromädchen? Von einer Stewardeß?« »Na und?« zischte der Mörder, »ist es nicht völlig einerlei, woher die Kohlen kommen. Ich brauche ganz einfach Geld. Harry hatte nichts, Sillot nicht, und bei Gomez war sowieso nichts zu holen. Das Ei mit Henreidt hatte Sillot vermasselt – na, was also?« Deshalb hatte dieses menschliche Raubtier im Nebel eines Chicagoer Parks zwei junge Frauen erwürgt – weil er Kies brauchte – ein paar Dollar… Draußen zogen leise die Bremsen eines Wagens an. Eliots scharfem Ohr war das Geräusch nicht entgangen. »Vorwärts!« befahl er und schob die beiden der Tür entgegen. Peggy blieb stehen. »Ich will meine Handtasche haben!« »Vorwärts!« Eliot dirigierte sie zur Tür, öffnete und schob die beiden hinaus. Er hatte nur knapp drei Schritte vor die Tür getan, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Er flog herum und sah aus dem Dunkel eine Gestalt auf sich zuspringen. Es war zu spät, dem Anprall auszuweichen. Er wurde niedergerissen. Mit einem Ruck zog er die Beine an und stieß sie mit äußerster Kraft von sich. Der Angreifer wurde zurückgeschleudert. Eliot spürte das Blut in seinen Adern gerinnen, als er 154
nach seinem Revolver tastete und feststellen mußte, daß er die Waffe beim Sturz verloren hatte. Da tauchte noch ein zweiter Mann hinter ihm auf dem Splitt auf. »Macht ihn fertig!« schrie Snyder geifernd. »Los, Mac, knall ihn ab!« »Keine Kanone«, kam es in gebrochenem Englisch vom Gartenweg zurück. »Idiot!« giftete der Würger. »Dann schlag ihm den Schädel ein! Schnell, die Polente kann jeden Augenblick hier sein. Und er kennt alle eure Namen. Mensch, tu doch was! Nimm einen Stein!« Die beiden Männer verharrten auf ihren Plätzen und fixierten den G‐man. »Ist er tatsächlich allein?« forschte Mac vorsichtig. »Yeah! Los, Ed, servier ihn ab! Mach doch zu, jede Sekunde ist kostbar!« Ed schnarrte mit kehliger Stimme: »Allein ist der? Und hat dich, Harry und José geschafft?« »Er hat Sillot ermordet«, sagte der Inspektor da mit gedehnter Stimme. »Lüge!« schrie Snyder. »Er selbst hat ihn gekillt, der Hund! Und Harry hat er mit Dum‐Dum ins Gesicht geschossen! Macht doch ein Ende! Harkt ihn auseinander!« Da kam der Mann aus dem Dunkel des Türwinkels vorsichtig näher. »Hat er keine Waffe?« erkundigte er sich argwöhnisch. 155
»Hätte er noch eine, lebtest du nicht mehr, Holzkopf«, röhrte Snyder wütend. »Womit hat er Harry denn ins Gesicht geschossen?« hechelte Mac. »Hat der Mensch Worte«, stieß Snyder rasend hervor, »er hat sein Blei verschossen! Auf ihn! Oder wollt ihr alle auf dem Drahtstuhl schmoren!« Das ging den beiden Banditen ebenso unter die Haut wie die Erwähnung, daß der »Bulle« ihrem Freund Harry mit Dum‐Dum ins Gesicht geschossen hätte. Sie stürmten vorwärts. Snyder riß die Frau mit sich zur Seite, so daß auch Mac freie Bahn gegen den Polizisten hatte. Ed war eher da. Eliot Ness erwartete ihn mit eisiger Kälte, ließ ihn bis auf Griffweite herankommen und stieß ihn dann mit einer langen Linken hart zurück. Da aber hing ihm Mac wie mit Zentnergewichten im Genick. Der FBI‐man schleuderte ihn mit einem gewaltigen Überwerfer von sich gegen eine der steinernen Teppenstufen, die zum Hauseingang führten. Dabei geriet er selbst ins Stolpern, fiel vornüber, und sofort tauchte Ed wieder vor ihm auf. In seiner Rechten funkelte ein Messer. »Endlich!« geiferte Snyder mit sich überschlagender Stimme. »Jag dem Hund das Stilett in die Kehle!!« Da duckte Ed sich nieder und stürmte in plötzlichem Zickzacklauf auf den Inspektor zu. Eliot wich erst im allerletzten Augenblick zur Seite und wirbelte dann herum, um den ihn anspringenden 156
Mann mit einem knackenden Handkantenschlag niederzustrecken. Aber die Gefahr war noch nicht vorüber. Snyder hatte sich, die Frau mit sich zerrend, in den Rücken des Inspektors geworfen und stieß ihn mit einem Kopframmer vorwärts. Es ging alles so rasend schnell, daß Eliot mit diesem blitzartigen Angriff nicht gerechnet hatte. Er stürzte auf die Treppe, und von da schnellte ihm Mac wie ein Gummiball entgegen. Der erste Faustschlag traf Eliots Jochbein, der zweite warf den Kopf des angeschlagenen G‐man nach hinten, und dann stieß Mac den Fuß nach vorn. Instinktiv schnappte Ness mit beiden Händen und eingeknicktem Körper nach und bekam das Bein des Gegners zu packen. Aber Mac entwand sich ihm und sprang ihn wieder an. Er erwies sich als ein ausdauernder Kämpfer. Eliot wich einem schweren rechten Haken aus, tauchte einen pfeifenden Linkshänder ab – prallte dann aber voll in einen Nachschlag hinein, der seinen rechten Kinnwinkel traf. Aus! Er sackte ins linke Knie… und sah Ed von der Seite heranhinken. Der Verbrecher hatte einen schweren Stein aus der Wegumsäumung gerissen. »Ja!« schrie Snyder wie irrsinnig, »ja!« Ed riß den Stein hoch. Mit fast übermenschlicher Willensanstrengung warf sich Eliot Ness zur Seite. Da jagte ihm der Schmerz in der 157
Hüfte, wo ihn vorhin die Kugel getroffen hatte, einen lähmenden Stich durch den ganzen Körper. Er sank zur Seite. Ed kam an ihn heran. Ein Fußtritt traf den Hals des FBI‐Agenten. Ein zweiter seine Rippen. »Dein Stein! Nimm doch den Stein!!« kreischte Snyder. Ed bückte sich erneut taumelnd nach dem Saumstein. Dies war die mörderischste Sekunde, die der junge FBI‐Inspektor Eliot Ness bisher erlebt hatte. Es schien zu Ende zu sein. Aber der Lenker der Geschicke hoch oben weit über der schweren Nebelwand schien es anders beschlossen zu haben. Urplötzlich spürte der Mann am Boden seinen Körper wieder, warf sich instinktiv nach vorn und riß den Banditen mit dem schweren Stein nieder. Als Ed hochkam, rammte der G‐man ihn mit einem verzweifelten Kopfstoß in den Leib nieder, stolperte selbst und sah plötzlich den anderen wieder herankommen. Da! Er zuckte zusammen. Unter seiner Linken lag der Revolver! Er riß ihn hoch. Mac stand wie festgewachsen da und starrte auf die Waffe. Auch Ed bewegte sich nicht. »Hände hoch!« keuchte Eliot Ness. Die beiden nahmen die Hände in Schulterhöhe. Scheinwerferlicht tastete über die herbstdürren Hecken. Ein Wagen kam heran und hielt vorm Garten. Ein zweiter folgte. Polizeipfeifen! Hastende Schritte. Der erste, der neben dem Inspektor auftauchte, war ein dicklicher Mann mit einem weichen Schlapphut. Mit 158
keuchendem Atem stieß er hervor: »Hallo, Boß. Ich bin ja auch für Frischluftbetätigung. Aber weshalb Sie dazu so weit herausfahren, werde ich nie begreifen.« Es war Kommissar Pinkas Cassedy. Seine scharfe Lampe blitzte auf, und ihr greller Strahl betastete die Gesichter von Ed und Mac. »Ah, zwei von den Hancoks. Kein schlechter Griff, Mister Chicago…« Der Nebelmörder war gefaßt – und niemand kannte den langen Weg, der so oft aussichtslos schien, den der zähe G‐man Eliot Ness jedoch unbeirrbar bis zu seinem Ende gegangen war. Der junge Special‐Agent des FBI hatte seinen ersten schweren Schlag gegen die Chicagoer Unterwelt geführt. Aber es war nur ein Nadelstich gegen einen Elefanten. Die gewaltige Armee der Gangster dieser Stadt war auf ihn aufmerksam geworden, was keineswegs nützlich für ihn war. Im Vergleich mit dem schillernden Al Capone war selbst ein kaltblütiger Nebelmörder eine Randerscheinung. Solche Täter kamen und gingen, während das große organisierte Verbrechen sich unmerklich ausbreitete. Und der König der Chicagoer Unterwelt richtete sich ganz gemächlich ein in seinem Reich. Es war die Ruhe vor dem Sturm des Al Capone. – E N D E –
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In 14 Tagen erscheint
Aufgeschlitzt! Roman von Al Cann Auf der Landstraße am Howell Airport wird die Leiche des siebenundzwanzigjährigen Kraftfahrers Edward Jackson gefunden. Der Körper des Toten befindet sich in einem entsetzlichen Zustand. Es wird vermutet, daß der Mann von einem Unbekannten überfallen wurde. Dieser Mord, von dem die Chicago Post in knalligen Lettern berichtet, ist der Beginn einer Serie von grausamen Morden, wie sie Chicago in seiner ganzen Geschichte noch nicht erlebt hat. Ein irrsinniger Mensch schleicht durch die Straßen der Millonenstadt, deren Einwohner bald am Rande einer Panik stehen. Der Verbrecher hinterläßt bei seinen Morden nicht eine einzige Spur. Ein Fall, wie ihn die Polizeigeschichte noch nicht erlebt hat! Selbst Eliot Ness, der Gegenspieler des großen Al Capone, droht zu verzweifeln und seinem erst kürzlich aufgekommenen Spitznamen Mr. Chicago wenig Ehre zu machen. Denn immer mehr Menschen werden
Aufgeschlitzt! Bei Ihrem Zeitschriftenhändler erhältlich 160
Al Capone Nr. 2
Aufgeschlitzt
von AL CANN Seit Tagen hatte der Regen zum erstenmal ausgesetzt. Er schien in Chicago zum Winter zu gehören. Da, wo sich der Tinley Creek unter der Straße am Howell Airport entlangzog, stand im tiefen Schlagschatten der Bäume ein Wagen. Es war ein Chevrolet mittlerer Qualität und nicht allerneuester Bauart. Hinter seinem Lenkrad saß ein Mann, der angestrengt quer über die Brücke zur anderen Straßenseite hinübersah. Er war mittelgroß, hatte schütteres aschblondes Haar und ein blasses Gesicht. Die dunklen Augen standen etwas vor und waren nur dünn mit Wimpern besetzt. Das Gesicht wirkte irgendwie schlaff und wies verweichlichte Züge auf. Der Mann trug einen dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine korrekt gebundene dunkelgraue Krawatte. Mit seinen kurzen, knotigen Fingern umspannte er das Lenkrad und blickte unverwandt auf das Liebespaar, das sich nicht eben zurückhaltend miteinander beschäftigte. Scharf und deutlich konnte er alles gegen den hellen Nachthimmel erkennen. Robson Finder hatte schon eine Stunde hier gewartet. 161
Es war sicher das fünfte oder sechste Mal, daß er hier herausgefahren war, um die Stelle drüben an der Brücke zu beobachten, wo er schon zweimal das Paar gesehen hatte. Einunddreißig Jahre alt war Finder. Er stammte aus Plymouth im Staate Indiana. Seit einiger Zeit lebte er hier in Chicago bei der jüngeren Schwester seines verstorbenen Vaters, die ihn in ihrem Haus in den Hickory Hills aufgenommen hatte. Finder war eine Zeitlang drüben in Indiana Fotograf auf einem Flugplatz gewesen, wo man ihn jedoch wegen der schlechten Bilder nicht mehr länger beschäftigen wollte. Dann war er in eine große Firma eingetreten, bei der er in der Registratur gearbeitet hatte. Hier in Chicago hatte er auch rasch eine neue Stelle in einer Registratur gefunden. Es gehörte zu den Seltsamkeiten im Leben des einzigartigen Verbrechers Robson Finder, daß er in seiner Stellung durch den Tod eines älteren Kollegen aufgerückt und Abteilungsleiter geworden war. Er galt in seiner Firma als ein korrekter, ordentlicher, stets sauber gekleideter »junger Mann« – bei dem nur das Attribut jung nicht mehr ganz zu passen schien. Sein blasses Gesicht wirkte ältlich. Er sah aus wie ein Mann in den späten Vierzigern, wozu auch seine etwas steifen Bewegungen paßten. Er war an diesem Tag genau dreißig Jahre und elf Monate alt! Und was sehr viel wesentlicher war, als daß man ihn für einen korrekten Angestellten hielt, war die Tatsache, daß er bis zu diesem Tag als unbescholten galt. Aber noch in dieser Stunde würde Robson Finder 162
einen Doppelmord verüben! Was ihn wirklich veranlaßt hatte, zu der einsamen Stelle an dem wenig benutzten Flugplatz hinauszufahren, ist niemals ermittelt worden. Man irrt auch, wenn man annimmt, daß er einer jener abartigen Typen war, denen es ein Bedürfnis ist, Liebespaare zu beobachten; nein, darum ging es Finder absolut nicht. Er hatte etwas ganz anderes vor… Fast eine halbe Stunde verharrte er auf dem dunklen Flur hinterm Steuerrad und belauerte das Paar drüben, das sich völlig unbeobachtet fühlte. Da ertönte in der Ferne das unverkennbare Signal eines Überlandbusses. Gleich darauf blitzten auch die Scheinwerfer durch die Bäume; die dünnen Strahlenfinger tasteten zu dem Paar hinüber, das sich von der Brücke gelöst und langsam an die Haltestelle gegangen war. Mit einem ächzenden Rattern kam der uralte Bus heran und hielt. Noch einmal verabschiedete sich der junge Mann mit einem Kuß von der Frau, winkte ihr nach und blickte dem Bus nach. Er stand noch einen Augenblick da, griff dann in die Taschen seines Dufflecoats, nahm seine Zigaretten heraus, und gleich darauf blitzte das Feuerzeug vor seinem Gesicht auf. Dabei sah der Beobachter drüben, daß es gar kein so sehr junger Mann mehr war. Er wirkte etwas dicklich, war nicht sonderlich gut gekleidet und trug trotz der kühlen Witterung weder Hut, noch Schal, 163
noch Handschuhe. Als die Zigarette brannte, setzte er sich mit schleppendem Schritt in Bewegung. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, hatte Finder neben sich auf die Sitzbank gegriffen, seine braune viereckige Tasche herangezogen und einen Gegenstand aus ihr herausgeholt, der fortan das Symbol seines furchtbaren Lebens sein sollte. Es war ein Messer. Erst bei näherer Betrachtung konnte man feststellen, daß es kein gewöhnliches Messer war, sondern ein Skalpell, wie es Chirurgen für ihre Operationen benötigen. Immer noch hatte Finder den Mann scharf im Auge. Mit der Linken griff er nach der Tür, öffnete sie und verließ den Wagen auf der Seite, die der Straße abgekehrt war. Er rechnete damit, daß der Mann drüben auf der anderen Brückenseite bliebe. Aber das war ein Irrtum. Er kam herüber, und plötzlich sah er den Wagen. Er schien zu stutzen, ging dann aber weiter. Mit eisiger Ruhe verharrte Finder hinter dem Fahrzeug und wartete, bis der Mann vorüber war. Dann machte er plötzlich einen Schritt nach vorn. Der einundvierzigjährige Donald Lester hatte das Geräusch gehört und fuhr erschrocken herum. »He, wohl übergeschnappt, was?« entfuhr es ihm. Finder verharrte reglos auf der Stelle. Lester, der in einer Fabrik drüben am Westrand der Stadt als Falzer arbeitete, riß die Augen weit auf, um die Gestalt des anderen besser erkennen zu können. Aber 164
Finders Gesicht war im Dunkeln – und wenn der Arbeiter es jetzt gesehen hätte, würde er wahrscheinlich sehr erschrocken sein. Tage, Wochen, ja, vielleicht Monate hatte Robson Finder auf diese Minute gewartet. Ein geradezu dämonischer Trieb hatte ihn dazu gebracht, die Tat, die nun vor ihm lag, zu planen und auch auszuführen. Es war eine so irrsinnige Tat, daß niemand sie zu begreifen vermochte. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen, und seine etwas vorstehende Unterlippe hing herunter. Sein Atem ging stoßweise. Finder war aufs höchste erregt. Er hielt die Linke, für Lester unsichtbar, dicht neben dem Oberschenkel, die Hand um den Griff des Messers gekrampft. Kein Muskel rührte sich an ihm. Da sagte Lester mit heiserer Stimme: »Was wollen Sie, Mensch?!« Finder rührte sich auch jetzt noch nicht. In dem Arbeiter stieg Angst auf, die mit Wut gemischt zum Ausbruch kam. Er krächzte: »Mann, sehen Sie bloß zu, daß Sie weiterkommen.« Dabei machte er den Fehler, auf Finder zuzugehen. Der Mann aus den Hickory Hills hatte in eisiger Ruhe bis zu diesem Augenblick gewartet. Dann stieß er zu. Die Spitze der Klinge traf auf den Oberschenkel des anderen auf, und mit einem Ruck riß der Verbrecher das teuflisch scharfe Instrument hoch. Lester taumelte zurück und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Dann brach er 165
zusammen, schrie stöhnend weiter, schlug mit dem Kopf auf den harten Boden und rutschte schließlich zur Seite, wo er nur noch röchelte. Wie versteinert stand Finder da und blickte aus harten Augen auf den Unglücklichen nieder, der hier am Straßenrand vor ihm sein Leben aushauchte. Finder rührte sich immer noch nicht. Da drang plötzlich ein Geräusch an sein Ohr, das ihn aus seiner Erstarrung riß. Fast hätte er das Auto überhört, das herankam. Die Scheinwerfer tasteten sich durch das Unterholz und geisterten über die nächste Kurve auf dem Asphalt bis zur Brücke hinüber. Noch war der Wagen etliche hundert Yards entfernt und hatte die Kurve nicht erreicht. Eine wilde Panik erfaßte den Verbrecher. Er bückte sich nieder, packte den Reglosen, zerrte ihn von der Straße weg um den Wagen herum, stieß den Kofferraumdeckel auf und hob den Mann von der Erde auf. Der Körper des Reglosen schien Bleigewicht zu haben. Aber die Angst gab Finder doppelte Kräfte. Er zwängte den Toten in den Kofferraum und wollte den Deckel zuschlagen. Aber es ging nicht. Irgend etwas klemmte. Finder riß den Deckel noch einmal hoch, um ihn mit aller Wucht nach unten zu schlagen. Wieder ohne Erfolg. Jetzt hatte der Wagen drüben die Kurve erreicht. Mit ratterndem Motor kam er näher. Sein Scheinwerferlicht fraß sich grell über die Straße, erfaßte auch diese Seite der Brücke und das Auto. 166
Schweiß stand dem Verbrecher in großen Tropfen auf der Stirn. Er hatte den Atem angehalten und preßte beide Hände auf den Kofferraumdeckel, der sich nicht schließen lassen wollte. Jetzt war der schwere Wagen herangekommen. Ein Diesel, der mit tuckerndem, asthmatischem Motor bis auf die Höhe des Chevrolets fuhr und dann plötzlich mit quietschenden Bremsen und dröhnendem Aufbau anhielt. Aus dem Fahrerfenster blickte der Schädel eines Mannes hervor. »Was passiert?« »Ja«, entfuhr es Finder. Und im nächsten Augenblick hätte er sich für diese idiotische Antwort selbst ohrfeigen mögen. »Nein, nein, es ist alles in Ordnung.« »Geht der Deckel nicht zu?« fragte der Mann oben vom Fahrersitz her. »Doch, doch, schon.« »Warten Sie, ich werde helfen.« Finder hatte das Gefühl, daß er tausend Klafter tief in den Boden versinken müßte. In diesen Sekunden, in denen der Lkw‐Fahrer Eddie Jackson, ein siebenundzwanzigjähriger bulliger Mensch, vom Fahrerhaus stieg und die wenigen Yards bis zu dem Chevrolet hinüberging, war eisige Leere im Gehirn des Mörders. Er begriff weder, was geschehen war, noch, was jetzt geschehen würde. Da war Jackson neben ihm. Groß, breit, etwas plump. Er meinte mit gutmütiger Stimme: 167
»Na, dann lassen Sie mich mal ran.« Er riß den Deckel hoch – und hielt wie versteinert inne. Der Verbrecher war einen halben Schritt zurückgetreten und hatte den Atem angehalten. In seiner linken Hand war immer noch das Skalpell. »He!« stieß der Lkw‐Fahrer da mit heiserer Stimme tödlich erschrocken hervor, »was ist denn das?!« Finder verharrte wie angewachsen dicht hinter ihm. Da ließ der andere den Deckel los und wandte sich um. »Aber – das ist doch…« Er wischte sich mit seiner schweren Rechten durch das plötzlich heiß gewordene Gesicht. Zu grausig war das, was er da gesehen hatte. Zu grausig, als daß er es so rasch zu begreifen vermochte. »Mann…« Da fiel der Krampf wie eine zersprungene Eisenklammer von Finder. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß er die Linke vor und riß das Skalpell hoch. Jackson schrie auf wie ein waidwund geschossenes Tier. Die mörderisch scharfe Klinge hatte das starke Leder seiner Hose wie Papier zerschnitten. Fast millimetergenau an der gleichen Stelle war sein Leib aufgerissen – wie vor Minuten der des Arbeiters Lester. Die Klinge war jedoch diesmal nicht so tief gedrungen wie vorhin bei Lester und riß die Schlagader nur an. Jackson drang mit einem wilden, unartikulierten Schrei auf den gespenstischen Mann ein, schlug ihm die 168
Faust gegen den Schädel, daß er zurücktorkelte. Finder wich aus, tastete sich an dem kühlen Blech des Wagens entlang und sah plötzlich, daß der andere, der ihm folgte, in das linke Knie einbrach und versuchte, sich an der hinteren Wagentür festzuklammern – den Kopf ins Genick warf, um noch einmal markerschütternd aufzuschreien. Dann fiel er nach vorn, schlug mit einem dumpfen Geräusch aufs Gesicht, und blieb reglos neben dem Wagen liegen. Sofort kam Leben in Finders Gestalt. Er lief um den Wagen herum, setzte sich hinters Steuerrad und startete den Motor. In panischer Hast preschte er davon. Er hatte schon einige hundert Yards zwischen sich und den Tatort gebracht, als ihm plötzlich der Tote im Kofferraum einfiel. Er stieg so scharf in die Bremsen, daß sie blockierten und der Wagen sich fast überschlagen hätte. Er sprang heraus, lief nach hinten und hob den Deckel etwas an. Im fahlen Schein einer Straßenlaterne sah er ein grauenhaftes Bild: das entsetzlich verzerrte Gesicht des Toten. Sekundenlang starrte Finder es an. Dann beugte er sich nach vorn und zerrte dem Ersatzreifen unter den Körper des Toten weg. Damit rutschte die Leiche zur Seite – und jetzt ließ sich der Kofferraum schließen. Finder fuhr weiter. Ohne Eile und Ziel ließ er den Wagen durch die Straßen rollen, bis er vor sich das Wasser des Calumet Lake in der Ferne schimmern sah. Aber die Straßen waren noch zu belebt. Plötzlich sah er eine düstere Seitenstraße, lenkte hinein und stellte am 169
Ende fest, daß es eine Sackgasse war. Hier unten gab es keine Häuser mehr, nur noch Gesträuch, durch das man zum Ufer kommen konnte. Er ging zum Kofferraum, zerrte die Leiche heraus und schleppte sie zu den Büschen hinüber. Nur etwa sechs oder sieben Schritt zog er den Körper des Toten hinein, ließ ihn dann los und ging zum Wagen zurück. Die 74th Street im Stadtteil Hickory Hills war eine stille Straße, in der Mrs. Finder ein kleines Haus gemietet hatte, das an die Häuser der Pionierzeit erinnerte. Fenster, Türrahmen und die Stützbalken des Balkons waren leuchtend weiß lackiert, ebenso die Gartenpforte und die Zaunpfähle. Alles war sauber und ordentlich, wie es sich für die Finders seit eh und je gehört hatte. Das Toben und Heulen, das Robson Finder bis zu dieser Stunde seit Tagen in sich verspürt hatte, war zur Ruhe gekommen – zu einer seltsamen, krankhaften Ruhe. Völlig kraftlos fühlte er sich, als er jetzt nach Nordwesten durch die Stadt fuhr, um zu den Hickory Hills zu kommen. Als er den Wagen verlassen hatte, sah er oben im Wohnzimmer Licht. Er blieb einen Augenblick im Schein der Laterne stehen und blickte an sich hinunter. Dann erst ging er auf das Haus zu, zog seinen Schlüssel, öffnete und trat ein. Wie immer schlug ihm auch diesmal ein Geruch von Äpfeln und Küchendünsten entgegen, der diesem Haus und vor allem seiner Besitzerin, Mrs. Dorothy Finder, eigen war. Der Mann hatte den Trenchcoat im Wagen liegen 170
gehabt, trug ihn jetzt überm Arm und hängte ihn an die Garderobe. Mit der Linken fuhr er sich über das schüttere Haar, warf noch einen prüfenden Blick in den Garderobenspiegel und wollte durch den unteren Korridor auf die Toilette zugehen. Da aber hörte er Schritte auf der Treppe, und gleich darauf drang ihm die Stimme einer Frau ans Ohr. »Robby, bist du da?« »Ja«, entgegnete er ungehaltener als er es sonst tat. Wie sie ihm mit ihren ewigen Fragen auf die Nerven ging! Wer sollte es denn sonst schon sein? Ihr Mann war seit fünfzehn Jahren tot. Kinder hatte sie keine gehabt, und seit der Hund im vergangenen Jahr auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen war, gab es ja außer ihm niemanden mehr, den man im Haus erwarten könnte. Dorothy Finder kam die Treppe hinunter. Sie war eine ziemlich große Frau mit schmalen, hängenden Schultern, graubraunem Haar und grauen Augen, die allein verrieten, daß die Frau noch nicht so alt sein konnte, wie ihre übrige Erscheinung Glauben machen konnte. Sie hatte kein allzu schweres Leben hinter sich, aber nachdem ihr Mann nach fünfjähriger Ehe schon gestorben war, war ihr Dasein in recht einseitigen Bahnen verlaufen. Sie bezog eine mäßige Rente, von der sie einigermaßen leben konnte, und als dann vor einiger Zeit der Neffe aus Indiana gekommen war, hatte sie nichts dagegen gehabt. Er war ein ordentlicher, ruhiger Mensch, und wenn er auch nicht allzu gesellig war, so hatte sie doch bisher 171
niemals Grund gehabt, sich über ihn zu beklagen. »Ich werde dir das Essen fertigmachen, Robby«, meinte sie. »Ziemlich spät kommst du heute. Hast du wieder Überstunden gemacht? Wozu denn? Du verdienst doch so schlecht gar nicht. Du solltest dir das abgewöhnen. Wie wäre es eigentlich, wenn du dir endlich einmal eine feste Braut anschaffen würdest? Wie ist es? Sag mal, ich habe das Gefühl, daß sich da schon längst etwas tut. Ich glaube, du bist ein Heimlicher, du solltest ruhig die Karten auf den Tisch legen…« Und so redete sie weiter, während sie in die Küche ging und dort mit den Töpfen herumhantierte, den Eisschrank öffnete, die Milch herausnahm, das Brot und die Butter. Währenddessen stand Robson Finder auf dem dünnen Haargarnläufer in der Mitte des Korridors unter der alten Lampe, die noch aus den Zwanziger Jahren stammte, und hatte die Augen geschlossen. Die Linke hatte er geballt und die Zähne zusammengepreßt. Vor einer Dreiviertelstunde hatte er am Südwestrand der Stadt zwei Menschen umgebracht. Mit dem Skalpell hatte er ihre Leiber aufgeschlitzt. Ein Schauder rann bei dem Gedanken an die Tat über seinen Rücken. Graute ihm vor sich selbst? Vor seiner fürchterlichen Tat? Wer wollte diese Frage beantworten? Es hatte ihn dazu getrieben, das zu tun, was er getan hatte – und 172
wenn er nicht geistesgestört war, dann bereute er es auch nicht. Jahre später haben zwei New Yorker Mediziner versucht, das »Phänomen« Finder zu ergründen. Aber auch ihnen glückte es nicht restlos. Unter den Gangstern Amerikas nimmt er heute noch eine düstere Sonderstellung ein. Leider sollte die Zahl seiner Opfer noch größer werden… Am Morgen des nächsten Tages fand der Abteilungsleiter Rob Finder auf seinem Schreibtisch die Chicago‐Post. Er blickte auf die Titelseite, sah sich dann um und spürte, wie ihn die ältliche Miß Goddram neugierig betrachtete. »Was gibt’s, Miß Goddram?« fragte er mit seiner dünnen, wenig klangvollen Stimme. »Nichts, Mr. Finder, ich wollte nur fragen, ob Sie eineTasse Kaffee möchten?« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Ich dachte nur, vielleicht fühlen Sie sich nicht gut.« »Wieso denn das?!« Argwohn stieg ihm auf: Ob man mir etwas ansieht? »Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?« »Ja, ja«, entgegnete er, nahm die Zeitung auf, ging damit zum Fenster und blätterte sie durch. Ja, da stand es – groß und deutlich: Auf der Landstraße am Howell Airport wurde die Leiche des 173
siebenundzwanzigjährigen Kraftfahrers Edward Jackson gefunden. Der Körper des Toten befand sich in einem entsetzlichen Zustand. Sein Leib war vom rechten Oberschenkel an bis über den Nabel aufgeschlitzt. Der Mann ist verblutet. Es wird vermutet, daß er von einem Unbekannten überfallen wurde. Am Abend dieses Tages, als Finder von der Arbeit nach Hause kam, fand er seine Tante unten in der Wohnstube neben der Küche vor, wo sie in ihrem alten grünen Plüschsessel saß und im Schein der Tischlampe ihre Zeitung las. Ohne den Neffen besonders zu begrüßen, sagte sie: »Weißt du, da ist wieder so eine furchtbare Sache passiert. Da haben sie doch einen Mann gefunden, dem der ganze Unterleib aufgeschlitzt wurde…« Wortlos ging der Neffe an ihr vorbei in die Küche, öffnete den Eisschrank und nahm die viereckige Milchflasche heraus, um sie wie jeden Abend zu öffnen und wie jeden Abend langsam leerzutrinken, ehe er sich ans Abendbrot machte. Dorothy Finder war von ängstlicher Natur. Dennoch hatte sie eine unheilbare Vorliebe dafür, abends am Kamin zu sitzen und die gruseligen Mordberichte zu lesen, die die Boulevard‐Presse lieferte. Es gab, wie allenthalben auf der Welt, auch in Chicago mehrere Blätter, die den diesbezüglichen Bedarf der Bevölkerung jederzeit zu decken wußten. Und es kam niemals vor, daß die Weltstadt Chicago in dieser Hinsicht nichts zu 174
bieten hatte. * Erst zwei Tage später fanden sie die Leiche des Arbeiters Donald Lester in einem Gestrüpp nahe am Lake Calmut. Spielende Kinder hatten den Leichnam, der sich in einem entsetzlichen Zustand befand, gefunden. Auch das hatte der Abteilungsleiter Rob Finder morgens in seinem Büro drüben im Zentrum der Stadt gelesen, und abends las ihm Mrs. Dorothy Finder die gleiche Story, nur breiter ausgewalzt, aus ihrer Boulevardzeitung vor. Schweigend stand der Mörder in der dunklen Küche und trank seine Milch. Aus dem Nebenraum ertönte die Stimme der Tante. »Stell dir vor, der Mann ist auf die gleiche Weise aufgeschlitzt worden wie neulich der andere drüben am Howell Airport. Die Polizei vermutet einen Zusammenhang zwischen den beiden Verbrechen.« Das Rascheln der Zeitungsblätter zeigte Finder an, daß Tante Dorothy das Blatt zur Seite gelegt hatte. »Das ist ja entsetzlich«, hörte er sie sagen, »denk dir bloß mal: regelrecht aufgeschlitzt – mit einem Messer!« Finder schwieg. »Was sagst du dazu, Robby?« »Ja«, sagte er nur, während er die leere Milchflasche auf den Tisch stellte. Er blieb noch im Halbdunkel der Küche stehen und sah auf das Lichtviereck, das die 175
Wohnzimmertür bildete. Der Schein der grünen Lampe warf ein warmes Licht auf all die veralteten Gegenstände, die Mrs. Dorothy Finder in ihrem Haus angehäuft hatte. Sie war eine etwas wunderliche alte Dame, aber im Grunde war ganz gut mit ihr auszukommen. Niemals hätte die Frau geahnt, daß sie einen Mörder in ihr Haus aufgenommen hatte… Einen Mörder – und ihren eigenen Mörder! * In den nächsten Tagen wurde Finder von einer seltsamen Unruhe erfaßt. Überall glaubte er, die Polizei zu sehen. Morgens, wenn er aus dem Haus kam, um zu seinem Wagen zu gehen, wenn er in der Stadt an einer Ampel hielt und wenn er aus dem Garagenhaus kam, um zu seiner Arbeitsstelle zu gehen, wenn er die Post durchsah – und immer, wenn sich die Tür zu seinem Büroraum öffnete. Niemals war ihm Mary Goddram mehr auf die Nerven gegangen als jetzt. Das untersetzte, sommersprossige, dickliche, ältlich wirkende Mädchen, das immer einen leichten Geruch von Schweiß um sich verbreitete, wurde ihm plötzlich unausstehlich. Und eines Morgens blickte er sie mit schiefgelegtem Kopf nachdenklich an. Was die lebenshungrige Mary Goddram wohl gesagt hätte, wenn sie auch nur die Spur eines der Gedanken des Mannes hätte lesen können! Sie wäre 176
höchstwahrscheinich in panischer Furcht aus seiner Nähe geflüchtet. Die Polizei hatte die Fahndung nach dem Aufschlitzer in großer Aktion aufgenommen. Aber bisher noch ohne Erfolg. Es stand fest, daß die beiden Morde nicht nur einen Zusammenhang miteinander hatten, sondern von ein und demselben Täter ausgeführt worden waren. Aber es war die bewußte Stecknadel im Heuhaufen, die es zu suchen galt. Ein einzelner Mensch in der Millionenstadt Chicago war nicht so leicht aufzuspüren… Der Mörder von den Hickory Hills wurde von Tag zu Tag unsicherer. Das geringste Geräusch ließ ihn zusammenfahren; er befürchtete ständig, daß es jemand merken müsse. Als an diesem Morgen plötzlich die Tür seines Büroraumes geöffnet wurde und Mr. Henderson, der stellvertretende Manager der Firma, hereintrat, zuckte Finder zusammen und stand sofort auf. Henderson blickte ihn verwundert an. »Was gibt’s denn, Rob? Irgend etwas nicht in Ordnung?« »Nicht in Ordnung?« stotterte Finder und schüttelte den Kopf – so schnell, daß der Direktor ihn jetzt fast etwas bestürzt anblickte. »Ist Ihnen nicht gut, Finder?« »Doch, doch, sehr gut, Mr. Henderson, ganz ausgezeichnet.« 177
»Hören Sie, Rob«, wandte sich der Direktor mit besorgter Miene an ihn, »ich glaube, Sie sollten einen Arzt aufsuchen.« »Einen Arzt? Weshalb denn. Wie komme ich denn dazu, einen Arzt aufzusuchen!« Henderson zog die Brauen zusammen, schüttelte den Kopf und verließ den Raum. Schweißnaß ließ sich Finder auf seinem Platz nieder. Er spürte die Blicke der drei Frauen, die mit ihm im gleichen Raum arbeiteten, auf seinem Gesicht. Da warf er den Kopf hoch, und seine Augen begegneten denen Mary Goddrams. Das Mädchen wandte sich erschrocken ab, als es die Augen des Mannes sah. Da sprang er auf, nahm Hut und Mantel und stürzte hinaus. Der Mann im Fahrstuhl blickte ihn auch an. Jedenfalls hatte Finder das sichere Gefühl, daß es so war. Er atmete auf, als er unten auf der Straße stand, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und sah sich nach allen Seiten um. Schräg gegenüber war ein großes Polizeirevier. Er starrte wie fasziniert auf das Schild mit der Nummer 56. Ganz mechanisch setzte er sich jetzt in Bewegung, überquerte den Fahrdamm – und wäre fast von einem schweren Buick überfahren worden. Der Fahrer streckte den Kopf aus dem Fenster und brüllte ärgerlich: »Mensch, mach doch die Augen auf, wenn du über die Straße trottest!« Finder hatte gar nicht hingehört. Auch auf der 178
anderen Seite wäre er fast von einem Auto gestreift worden. Er betrat den Bürgersteig und blieb vor dem Eingang des Polizeireviers stehen. Langsam setzte er dann Schritt vor Schritt und stand schließlich in dem hohen dunklen Korridor. Links an einem grauen Brett waren große Plakate angeheftet, auf denen ein Raubmörder gesucht wurde, daneben war die Leiche eines Kindes zu sehen und wieder daneben eine Bekanntmachung, auf der in großen Lettern mitgeteilt wurde, daß der Kindesmörder Harry Topkin auf dem Elektrischen Stuhl seine Schuld gesühnt hatte. Der Elektrische Stuhl! Finder spürte, daß ihm der Unterkiefer zitterte, Schweiß rann aus seinen Achselhöhlen am Körper entlang. Auf weichen Knien wandte er sich um und schwankte aus dem Korridor heraus. Da kam unten ein Polizeifahrzeug vorgefahren und blieb auf pfeifenden Pneus stehen. Zwei Polizisten sprangen heraus und kamen auf ihn zu. Finder krampfte seine Linke um das Geländer, das auf die Straße hinausführte, und starrte den beiden Polizisten aus weit geöffneten, glasigen Augen entgegen. Der erste rannte an ihm vorbei, und der zweite blieb stehen. »He, was ist denn mit Ihnen, Mister? Ist Ihnen schlecht? Kommen Sie mit.« »Nein, nein, mir ist nicht schlecht«, stammelte Finder. »Lassen Sie mich, mir ist nicht schlecht.« »Ach was, kommen Sie mit!« 179
Da riß sich Finder so derb los, daß der Polizist ihn kopfschüttelnd anblickte. »Komisch! Leute gibt’s… Dabei hätte Ihnen ein Schluck aus unserer Arzneipulle bestimmt gutgetan.« Finder war schon auf dem Bürgersteig und setzte eilig einen Fuß vor den anderen. An der nächsten Straßenecke blieb er stehen. Er wagte kaum, sich umzudrehen. Wenn der Polizist noch im Eingang des Reviers stand und ihm nachblickte, was dann? Er machte ein paar Schritte in die Seitenstraße hinein und mußte sich gegen ein Schaufenster lehnen. Plötzlich zuckte er zusammen. Im großen Glas der Scheibe sah er ganz deutlich die Konturen eines Mannes hinter sich – eines Mannes, der eine blaue Schirmmütze trug, eine Uniform und links auf der Brust den Polizeistern. Ganz langsam wandte Robson Finder sich um. Er blickte in das Gesicht des Polizisten, der ihn auf der Treppe des Reviers angesprochen hatte. Finder schluckte. »Was – wollen Sie von mir?« Der Polizist blickte ihn unverwandt an, dann legte er seine Rechte unter Finders linkes Ellbogengelenk und zog ihn vom Fenster weg. »Kommen Sie mit.« Finders Kopf sank auf die Brust hinunter. Schweiß ließ ihm das Hemd am Rücken festkleben. Die Füße wollten ihm den Dienst versagen. Willenlos ließ er sich von dem Polizisten fortführen. Der war nur zwei Häuser 180
weitergegangen und schob dann eine Tür auf. Während er mit der Linken auf eine Reihe von Tafeln deutete, sagte er: »Da, Doc Mulligan, der wird Ihnen helfen. Er ist ein tüchtiger Arzt. Wir vom Revier kennen ihn und rufen ihn öfter. Sie brauchen keine Treppe zu steigen, es ist gleich da die Tür.« Der Mörder stützte sich mit beiden Händen auf das Geländer und wagte nicht, den Kopf zu heben. »Nein«, stammelte er, »es ist schon gut, vielen Dank. Ich brauche den Arzt nicht mehr.« Der Polizist zog die Schultern hoch und ging. Erst nach Minuten wandte Finder sich um und trat auf die Straße hinaus. Als er den Polizisten nirgendwo mehr sah, atmete er auf und setzte seinen Weg fort. Vielleicht hätte er doch den Arzt aufsuchen sollen; der hätte ihm möglicherweise helfen können… Aber gab es in der Medizin ein Mittel gegen ein schlechtes Gewissen? Hätte ihm dieser tüchtige Dr. Mulligan eine Spritze gegen die Verzweiflung geben können? War es überhaupt Verzweiflung, die ihn ansprang? Hatte er wirklich ein schlechtes Gewissen? War es nicht vielmehr lediglich die blanke Angst vor dem Entdecktwerden? Eine Dreiviertelstunde später stand er vor den Anlagen des Hickory Hills‐Clubs. Seine Augen tasteten die sauberen rotbraunen, geschlängelten Wege ab, die zum Klubhaus hinüberführten. 181
Irgendwo da drüben unter dem langen, flachgestreckten Dach arbeitete sie! Wenn er die Augen schloß, sah er sie genau vor sich. Sie war nicht sehr groß, hatte aber eine voll erblühte Figur, einen prächtigen Busen und geschwungene Hüften. Die Kleider, die sie immer etwas kurz trug, zeigten ihre geradezu herausfordernd schöngewachsenen Beine. Ihr Gesicht war etwas puppenhaft und wurde von einem großen wasserhellen Augenpaar überstrahlt. Die Nase war klein und stupsig, der Mund dagegen voll und lebensfroh. Tiefschwarzes, nachgefärbtes Haar umgab das hübsche Mädchengesicht mit weiten Locken. Die neunzehnjährige Ruth Forrester arbeitete an der Theke des Klub‐Restaurants. Robson Finder war seit dem Tag, an dem er sie zum erstenmal gesehen hatte, unsterblich in sie verschossen. Er war Klubmitglied geworden, obgleich ihm derartige Verbindungen überhaupt nicht lagen. Er war absolut unsportlich, spielte weder Tennis, Hockey, Hallenhandball noch Tischtennis noch sonst irgend etwas. Er gehörte zu jenem überflüssigen Drittel aller Klubmitglieder, die sich eben nur mit dem Dazugehören eifrig beschäftigten. Es waren Menschen, die meist an der Bar saßen, dumme Reden führten und alles und jedes kritisierten. Da es zudem meistens Männer waren, gehörte nicht zuletzt die hübsche Ruth Forrester zu dem Kern ihrer Gespräche. Finder hatte sich immer von allen ferngehalten, saß meist abseits der Theke vor seinem Long Drink und 182
starrte über den Rand des Glases hinweg das Mädchen an. Gerade der Platz an der Stirnseite der langen, schmalen Theke ermöglichte es ihm, einen Blick auf die Gestalt Ruth Forresters zu werfen, die ständig hin und her laufen mußte, um die Gäste an der Bar zu bedienen. Aber die hübsche Ruth hatte keinen Blick für den korrekt angezogenen Robson Finder. Sie war in einen breitschultrigen blondhaarigen Burschen verliebt, der als Tenniscrack des Hickory Hills‐Clubs galt und um dessen Zuneigung sie von den meisten weiblichen Mitgliedern des Klubs sehr beneidet wurde. Es hatte angefangen zu regnen. Wie mit feinen Bindfäden rann es durch die dürren Äste und Zweige der Bäume auf den erstarrten winterlichen Rasen herunter. Es rieselte auf die letzten Blätter in den Büschen und raschelte im Laub. Finder ging langsam am Wegrand vorwärts. So dicht blieb er am Rain, daß es aussah, als fürchte er, diesen Parkweg zu beschreiten. Er hielt nicht auf den Eingang des Klubhauses zu, sondern ging, wie er es oft getan hatte, in einem Halbkreis herum, bis er die Rückseite erreicht hatte. Hier grenzten die gepflegten Tennisplätze an der Anlage des Klubhauses, und von den dichten Lamicabüschen gedeckt, die noch immer mit gelbgrünem Laub besetzt waren, konnte er sich bis an eines der Fenster heranschleichen, von wo aus er einen Blick in den holzgetäfelten Restaurationsraum hatte. 183
Nur wenige Gäste saßen an den Tischen, und an der Theke stand nur ein einzelner Mann. Ein hochaufgeschossener Bursche mit blondem Haar und frischem rötlichem Gesicht. Es war Rodger Abelman, der Tenniscrack. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn mehrere Leute an der Theke gestanden hätten, mit denen sich Ruth hätte beschäftigen müssen. So aber mußte der heimliche Beobachter am Fenster peinvoll mit ansehen, wie das hübsche Mädchen den großen blonden Burschen anlächelte und wie Ruth es zuließ, daß er plötzlich nach ihrer Hand griff und sie mit seiner Rechten fest umschloß. In Finders Brust krampfte sich etwas zusammen. Er wandte sich ab und trat unter dem vorspringenden Dach wieder in den Regen hinaus. Langsam schlenderte er unter den Bäumen davon. * Es war neun Tage vor Weihnachten. Draußen, dicht beim Sportplatz von Stickney, beim Clearing Industrial District, hatte er anderthalb Stunden im nieselnden Regen gestanden, nur etwa zwanzig Schritt von seinem Wagen entfernt. Das dichte Buschwerk hinter ihm verdeckte zur Straße hin seine Gestalt. Es war eine einsame, verlassene Gegend hier draußen im Industriegebiet, und nur selten kam jemand vorüber. 184
Aber der Mann aus den Hickory Hills wartete. Und dann kam sie. Er hatte sie schon an drei Tagen vorher beobachtet, als er mit dem Auto die Straße entlangfuhr und sie auf dem Bürgersteig sah. Sie war ziemlich groß, hatte den Mantelkragen aufgeschlagen und eine Tasche in der Linken. Ihr Gesicht konnte er nicht genau sehen. Aber an ihrem federnden Schritt sah er, daß sie jung war. Es war die siebenundzwanzigjährige Margret Turger. Sie arbeitete bei der Summers Rogest Company, wo sie in einer Abendschicht bis um zehn Uhr beschäftigt war. Dann verließ sie allabendlich das Werk, um zwischen dem Industriegelände und dem großen Sportplatz von Stickney durchzugehen, bis sie die Cicero Avenue erreichte. Von da brachte sie dann der Bus hinauf nach Norden. Sie wohnte oben beim Columbus Park. Margret Turger war verheiratet, Mutter eines zweijährigen Kindes und Ehefrau eines Arbeiters, der sie nur ungern auf diese Arbeitsstelle gehen ließ, vor allem, da er selbst in Nachtschicht arbeitete. Die einundsechzigjährige Mutter Margret Turgers gab unterdessen auf das Kind acht. Weder die alte Frau noch das Baby noch der Ehemann sollten die junge Frau lebend wiedersehen. Margret war in Gedanken versunken. Der Regen hüllte sie fast ein, und sie dachte, wie wohl die meisten Menschen zu dieser Zeit in der großen Weltstadt, an das bevorstehende Weihnachtsfest. Viel zuwenig Geld hatte sie zusammenbekommen. Sie würde ihrem Mann nur 185
eine kleine Freude machen können – und Mutter nur mit einem winzigen Geschenk bedenken. Aber das war ja alles unwichtig. Im nächsten Jahr würde es besser werden. Plötzlich schrak die junge Frau zusammen. Drüben von den Büschen auf der anderen Straßenseite hatte sich eine Gestalt gelöst, die mit raschen Schritten über die Straße kam. Die Frau stand wie angewachsen da und starrte dem Mann entgegen. Es war ein mittelgroßer Mensch, der einen dunklen Mantel trug, die Hände in den Taschen vergraben hatte, den Kragen aufgeschlagen und den Hut tief in die Stirn gezogen. Als er ihren Gehsteig fast erreicht hatte, wandte sie sich um und hastete davon. Der Mann folgte ihr. Sie hörte seinen keuchenden Atem hinter sich und spürte zu ihrem Entsetzen, daß ihre Kräfte rasend schnell nachließen. Dabei war sie sonst eine durchaus sportliche junge Frau, die sich noch vor wenigen Jahren etwas darauf zugute getan hatte, daß sie eine flotte Handballspielerin und gute Läuferin war. Als sie aber jetzt den keuchenden Atem ihres Verfolgers hinter sich hörte, waren ihre Kräfte urplötzlich erlahmt. Sie strauchelte, und dann war der Mann bei ihr und blieb vor ihr stehen. Sie kauerte am Boden und wagte sich nicht zu erheben. Plötzlich bekam sie einen derben Stoß gegen die rechte Schulter und fiel zurück. 186
In der nächsten Sekunde gellte ein furchtbarer Todesschrei über den im gespenstischen Nachtlicht daliegenden Sportplatz von Stickney! Der Mörder starrte auf sein Opfer nieder, wandte sich um und flüchtete zu seinem Wagen. In rasender Geschwindigkeit verließ er die Gegend, bog in die Cicero Avenue ein und fuhr hinunter nach Hometown, wo er sich in einem Automatenrestaurant eine Tüte mit Pommes frites kaufte. Er aß zwei, drei von den heißen Kartoffelstäbchen und warf die Tüte dann achtlos neben sich auf einen der hohen, schmalen Tische. Dann trat er wieder in die Regennacht hinaus und ging zu seinem Wagen zurück. * Der Aufschlitzer ist wieder unterwegs! Die Weltstadt nahm jetzt ernstere Notiz von dem dritten Mord, den der unheimliche Verbrecher ausgeführt hatte. Aber es sollte noch ein weiterer Mensch sein Leben lassen müssen, ehe Chicago erwachte. Es war zwei Tage später. Der Mörder Finder hatte, nachdem er von seiner Arbeitsstelle gekommen war, im Garagenhaus seinen Wagen geholt und war sofort hinaus zu den Hickory Hills gefahren. Aber nicht etwa nach Hause, sondern er war in die Anlagen des Golfklubs gegangen und hatte 187
sich wieder an sein Beobachtungsfenster gestohlen. Zu seiner Verblüffung sah er, daß der Restaurationsraum leer war. Leer – bis auf Ruth! Sie stand hinter der Theke, hatte den Kopf in beide Hände gestützt und las in einem Journal. Da löste sich der Mann vom Fenster, ging um das Haus herum und betrat es durch den vorderen Eingang. Er warf seinen Hut auf die Garderobe und kam im Schlenderschritt auf die Bar zu. Ruth Forrester hob den Kopf und lächelte ein wenig, als sie ihn bemerkte. »Ah, Mr. Finder. Sie sind der erste Gast heute abend.« Und ich werde auch der letzte sein – ging es durch seinen Kopf. Er schob sich an die Theke, zog sich auf einen der hohen, opernrot gepolsterten Barhocker und stützte seinen rechten Ellbogen auf die Kunststoffplatte der Theke ab. »Was darf’s denn sein?« »Wie immer.« »Entschuldigen Sie, ich weiß nicht mehr, was Sie bevorzugen, Mr. Finder«, sagte das Mädchen. Und das zu Recht, denn Ruth hatte hier einige hundert Leute im Klub zu bedienen, von denen sie sich unmöglich merken konnte, welches Getränk sie bevorzugten. »Einen Longdrink«, preßte er durch den rechten Mundwinkel. Ruth blickte ihn einen Moment an, nickte dann 188
freundlich und mixte ihm das Getränk. Er saß eine Viertelstunde schweigend an der Theke und blickte zu ihr hinüber, sah, wie sie das Journal studierte, und spürte einen Blutstrom zu seinem Herzen schießen, wenn sie ihm hin und wieder zulächelte. Plötzlich erhob er sich, nahm ein paar Geldstücke aus der Tasche und legte sie auf die Bar. »Ich muß gehen.« »Scheußliches Wetter, nicht wahr?« sagte sie und blickte an ihm vorbei durch die dunklen Fenster hinaus, wo die wenigen Lichter, die im Restaurationsraum brannten, nur ein paar Yards vor dem Haus erhellten. »Ja, ekliger Regen.« Er blieb noch einen Moment stehen und sagte, ohne sie anzusehen: »Ist es nicht langweilig für Sie?« »Was?« »So allein hier in dem Laden.« »Ach, ich bin nicht allein, wissen Sie. Mr. Hunter ist ja drüben in der Küche, und unten im Keller sind die beiden Jungen, die mit dem Aufstapeln von Kisten beschäftigt sind. Außerdem kommen ja immer wieder Gäste.« Sie strich sich mit einer koketten Bewegung eine Locke aus der Stirn und fügte hinzu: »Mr. Baimann ist auch schon hiergewesen.« Mr. Baimann war der Vorstand des Golfklubs Hickory Hills. Finder kannte ihn so gut wie jeder andere, der hier verkehrte. Aber die Tatsache, daß der Klubvorstand schon hiergewesen war, bedeutete für ihn ebenso wenig den Anstoß zu dem, was er vorhatte, wie ihn die 189
Bemerkung des Mädchens abschreckte, daß der Koch noch in der Küche beschäftigt war und die beiden Flaschenschlepper im Keller arbeiteten. Er reichte ihr über die Theke seine kurzfingrige Hand und hatte ein süßliches Lächeln im Gesicht. »Würden Sie mir vielleicht draußen Licht machen?« Er wußte genau, daß sie dazu mit durch den dunklen Vorraum gehen mußte, um zu dem Schalterkasten zu kommen, der unpraktischerweise nicht in der Nähe ihrer Theke war. »Aber natürlich, Mr. Finder.« Sie trippelte auf ihren hochhackigen Absätzen vor ihm her auf die Portiere zu, die zum Vorraum führte. Wie hübsch sie gewachsen ist! zuckte es dem Verbrecher durch den Kopf. Sie hat eine wundervolle Figur. Später, nachdem sich die Wogen der Erregung über das Verbrechen, das sich hier abgespielt hatte, geglättet haben sollten, blieb eines ewig ungeklärt: Wie hatte der Mörder den Nerv aufbringen können, hier im Klubraum das Verbrechen auszuführen, wo er doch jeden Augenblick gewärtig sein mußte, dabei überrascht zu werden. In der Küche, die knapp dreißig Schritt von hier entfernt lag, arbeitete der Koch; nicht weit von der Bartheke entfernt war die Mahagonitür, die zu den Kellerräumen hinunterführte, wo die beiden Jungen noch beschäftigt waren; und nur sieben Schritt von der kleinen Ruth Forrester entfernt war der große Glasvorbau des Eingangs, durch den jeden Augenblick ein Besucher hereinkommen konnte. 190
In dem Moment, in dem Ruth sich dem Schalterkasten näherte, spürte sie, daß der Mann hinter ihr war. Instinktiv drehte sie sich um. Da preßte ihr der Verbrecher hart die Rechte auf den Mund, stieß ihren Kopf gegen den Schalterkasten und holte mit der Linken zu seinem fürchterlichen Todesstreich aus. Mit einem gurgelnden Laut sackte das Mädchen zusammen. Der Gangster preßte der Sterbenden die Hand auf den Mund und schleppte sie zum Eingang hinaus auf den Vorplatz. Da zog er sie, wie später an den Schleifspuren festgestellt wurde, an den Büschen entlang bis zu dem überdeckten türlosen Schuppen, in dem die Segeltuchplane für die Tennis‐ und Golfplätze lagen. Er riß eine der Planen herunter und wickelte den Körper des Mädchens hinein. Das war die Minute, in der Ruth Forrester starb. Der Verbrecher hatte den Nerv, mit seiner Last über den Mittelweg dem Ausgang zuzueilen, in dessen Nähe er seinen Wagen verborgen hatte. Es war mehr als ein Zufall, daß ihm auf diesem immerhin nicht kurzen Weg niemand begegnete. Es war schon ein Unglück, daß niemand ihn bemerkt hatte, als er das Klubhaus und überhaupt das Gelände des Hickory Hills‐Clubs betrat. Aber daß ihn auf seinem Fluchtweg niemand mit seinem Opfer gesehen hatte, das vermochte später keiner zu begreifen. Finder hatte die Leiche des Mädchens in den Kofferraum des großen Wagens gepreßt und fuhr ohne 191
Eile davon. Als er die Ecke der Roberts Road erreicht hatte, bog er nach links ein und gleich wieder rechts ab. Dann war es nicht mehr weit bis zu der kleinen Straße, in der das Haus seiner Tante stand. Er blickte zu den Fenstern im Obergeschoß hinauf, als er anhielt. Nirgends brannte mehr Licht. Er wußte, daß Tante Dorothy seit Tagen an einer Grippe litt, oben im Bett lag. Nicht, daß er etwa seinen Plan darauf gegründet hätte. Er hatte überhaupt keinen Plan. Was er tat, geschah planlos und instinktiv. Er schleppte den Körper der Toten um das Haus herum und ließ ihn vor der Kellertür liegen. Dann ging er zurück, nahm den Hausschlüssel, öffnete vorn die Tür und betrat wie immer das Haus. Einen Augenblick blieb er stehen und lauschte hinauf. Da oben alles still war, ging er in die Küche und nahm die Milch aus dem Eisschrank. Aber er trank nur ein paar Schlucke und ließ sie dann stehen. Ohne Eile ging er hinaus, lauschte wieder ins Haus, und als er auch jetzt nichts hörte, öffnete er vorsichtig die Tür zum Keller. Wenige Minuten später lag das graugrüne Leinenbündel vor ihm auf der Werkbank seines verstorbenen Onkels im vorderen Kellerraum. Er hatte die kleine Fünfzehn‐Watt‐Birne an der Decke angeknipst und griff jetzt mit seinen knotigen Fingern nach der Plane, um sie auseinanderzuziehen. Das Gesicht des Mädchens schien völlig unberührt von dem zu sein, was mit ihm geschehen war. Es sah aus wie das Gesicht einer Schlafenden. Aber die kleine weiße 192
Schürze, die sie über dem schwarzen kurzen Kleid trug, war über und über mit Blutflecken bedeckt. Die ganze Plane um sie herum ebenfalls. Mit kalten, glasigen Augen stand der Mörder da und blickte auf sie nieder. Plötzlich öffneten sich seine Lippen. »Da hab’ ich dich also, da hab’ ich dich!« Das trübe Licht der schwachen Lampe warf einen gespenstischen Schein auf die makabre Szene. In dem kleinen Kellerraum, in dem einst der alte Finder nach getaner Arbeit seinem Hobby, der Holzschnitzerei, nachging, hatte sein Neffe eine schaurige Szenerie des Todes aufgebaut. Auf der Werkbank lag auf dem graugrünen Leinentuch, das die Initialen des Hickory Hills‐Clubs trug, die Leiche der Ruth Forrester. Ihr Gesicht hatte eine wächserne Farbe angenommen. Der Mund hatte sich etwas geöffnet, und die weißen Zähne blitzten zwischen den blaßrosa Lippen hervor. Sie war seine Traumfrau gewesen, die hübsche Ruth Forrester. Aber sie hatte ja nicht freiwillig zu ihm kommen wollen. Sie hatte nach diesem Gecken Ausschau gehalten, nach diesem strohblonden Burschen, der nichts anderes konnte, als einem Tennisball den richtigen Drall zu versetzen. Wenn er redete, war es der reinste Unsinn. Er hatte das Gehabe eines Playboys, und wahrscheinlich war es das, was dem hübschen Ding den Kopf verdreht hatte. Es hatte beiden nichts genützt, daß sie ihn verachtet hatten! Sie hatten ihn nicht verachtet – weder der 193
Tennischampion Abelman noch die kleine Ruth Forrester. Sie hatten ihn eben nur nicht beachtet, weil nichts Beachtenswertes an ihm war. Jedenfalls hatte er sie jetzt hier bei sich liegen. Tot auf der Werkbank. »Hab’ ich dir nicht gesagt, daß ich eigentlich Arzt sein könnte, daß ich längst hätte ein großer Chirurg sein können, wenn mein Vater nicht so verblendet gewesen wäre? Hab’ ich dir nicht gesagt, daß ich lange Zeit auf der Station VII des Krankenhauses in Plymouth in der Chirurgie geholfen habe?« Er feuerte die hastig herausgestoßenen Worte der Toten ins Gesicht. Ja, er war Stationshelfer gewesen, ehe er sich zum Fotografen berufen gefühlt hatte. Anderthalb Jahre hatte er bei den Operationen in der chirurgischen Abteilung zugesehen, kleine Handreichungen machen dürfen, die ungefährlich waren. Er hatte die geschickten Hände des Chirurgen beobachtet, wie er das Skalpell über die menschliche Haut führte, wie er dann den Hilfsbedürftigen die Haut auftrennte, um ihnen durch die Schnitte seines Messers Linderung ihrer Leiden, Heilung und Rettung zu bringen. Hatte etwas davon in seinem Kopf herumgespukt, als es ihn zu seinen fürchterlichen Taten trieb? Das Gehirn – wie mag es aussehen? Ich habe niemals eine Gehirnoperation erlebt – gärte es in seinem Schädel. Er schlug die Plane weit auseinander und beugte sich dichter über den Kopf der Toten. In diesem Augenblick rutschte der rechte Arm der 194
Leiche vom Oberkörper herunter und pendelte an der Plane vorbei an der Werkbank herunter. Finder war zurückgefahren. Mit erschrockenem Gesicht stand er da und starrte auf sein Opfer. In plötzlich aufsteigender panischer Angst packte er mit fliegenden Händen die Leinwand zusammen, wickelte die Leiche ein und schleppte sie aus dem Kellerraum hinaus in den Hof. Als er zurückkam, war es fast halb eins. Er hatte die tote Ruth Forrester an die gleiche Stelle geschleppt, an die er den toten Donald Lester gebracht hatte. Da wurde sie dann auch nach vierundzwanzig Stunden gefunden. * Ein Mann stand vor einem dunklen Hausgang und blickte über das regennasse Pflaster der South Shore Drift am Rainbow Park. Es war ein hochgewachsener Mann im Trenchcoat mit aufgeschlagenem Mantelkragen, den Hut tief in die Stirn gezogen. Das Licht der Straßenlaterne beleuchtete seine Gestalt nur spärlich. Er hatte ein scharfkantig geschnittenes Gesicht, das von einem hellen Augenpaar beherrscht wurde. Es war das Gesicht des FBI‐Agenten Eliot Ness. Des »Norwegers«, wie der einunddreißigjährige Inspektor von seinen Kollegen genannt wurde. Der Sohn norwegischer Eltern war nach längerem Dienst bei der Stadtpolizei zum FBI gekommen und hatte ganz plötzlich 195
von dem obersten Chef, der ein erfahrenes Auge für seine Leute hatte, den Vertrauensposten hier in Chicago am Oakwood Cemetery bekommen. Eliot Ness war Leiter einer Spezialabteilung geworden, die sich hauptsächlich mit Mord zu beschäftigen hatte. Noch vor zwei Monaten hatte niemand in der Weltstadt den jungen G‐man Eliot Ness gekannt. Aber der aufregende Fall des Nebelmörders, der sich vor Wochen in Chicago abgespielt hatte und von Ness gelöst worden war, hatte ihn bekannt gemacht. Und niemand anders als sein erbitterter Gegner Rufus Matherley, ein prominenter Journalist von der Chicago News, hatte den Namen Mr. CHICAGO für ihn geprägt. Matherley, von Haus aus ein hervorragender Zeitungsmann, von Charakter aber ein cholerischer Poltergeist, fühlte sich von der schweigsamen, etwas stoischen Art des neuen FBI‐Chiefs am Oakwood Cemetery abgestoßen. Ihm gefielen die Methoden des jungen Eliot Ness nicht, und er stand nicht an, dies in seinem weit verbreiteten Blatt zum Ausdruck zu bringen. Als Eliot Ness allerdings den Nebelmörder entlarvt hatte, hatte Matherley auch nicht mit Lob zurückgehalten; letzten Endes war er einfach nicht darum herumgekommen. Seit der Ergreifung dieses Verbrechers war es still geworden in den Räumen des grauen, mietskasernenähnlichen Baues am Oakwood Cemetery. Der Alltag hatte mit den üblichen Arbeiten seinen Fortgang genommen. Recherchen wurden durchgeführt, 196
verjährte Morde wieder »aufgeforstet«, wie es in der Sprache des Federal Bureau of Investigation hieß, und Mordverdächtige wurden weiter unter die scharfe Lupe genommen. Bis dann vor elf Tagen der Mord an dem Rauschgifthändler Waterby oben im neunundvierzigsten District die Aufmerksamkeit des FBI erregte. Waterby war Engländer, der sich mit Harald Justice, einem berüchtigten Rauschgiftboß aus Chicago, zerstritten hatte und höchstwahrscheinlich von dessen Gang aus dem Wege geräumt worden war. Eliot Ness hatte genau elf Tage gebraucht, bis er den Gangster Justice zur Strecke gebracht hatte. Es war jedoch alles sang‐ und klanglos, ohne jede Dramatik abgegangen. Justice hatte unter dem Druck der Belastung den Mord gestanden. Aber Eliot Ness war noch hinter einem Mann namens Bedford her, der mit Justice Geschäfte gemacht und wahrscheinlich hier unten am Rainbow Park eine Wohnung hatte. Er war kein sehr wichtiger Mann, dieser Bedford, und hatte wohl mit dem Mord an Waterby gar nichts zu tun, aber es gehörte zu den Eigenheiten des Polizeioffiziers Eliot Ness, auch der kleinsten Spur nachzugehen. Eben diese Eigenschaft sollte ihm später, bei der größten Auseinandersetzung seiner Karriere, gegen den berüchtigten Al Capone behilflich sein. Denn einem Gangster von der Gerissenheit eines Al Capone ein Delikt nachzuweisen, war fast unmöglich, mit den Maßstäben normaler Polizeiarbeit nicht zu leisten. Vom Charakter her paßten die beiden Gegenspieler Eliot Ness 197
und Al Capone eigentlich trefflich zueinander… Da trat aus dem Eingang einer Schenke ein etwas dickleibiger, ziemlich kurz geratener Mann mit einem stämmigen Körper, schob seinen regennassen Hut aus der Stirn und feixte dem Inspektor entgegen. Er hatte ein Gesicht wie eine Billardkugel, schwere schwarze Augenbrauen, gutmütige Augen und eine Nase, die verriet, daß er in jüngeren Jahren wohl dem Handwerk der Boxer nicht sehr fern gestanden haben mochte. Es war Inspektor Pinkas Cassedy. Der rundliche Mann war der Vertreter des Chef‐ Inspektors Ness; war im Gegensatz zu diesem schon seit sechzehn Jahren beim FBI. Cassedy war, als der junge Inspektor Ness ihm hier vor die Nase gesetzt wurde, nicht sonderlich begeistert gewesen, hatte dann aber einsehen müssen, daß der große Boß oben in Washington höchstwahrscheinlich wieder einmal eine ausgezeichnete Nase mit diesem Griff bewiesen hatte. Denn Cassedy gehörte zu den Leuten, die sehr rasch die Fähigkeiten des Eliot Ness erkannten. »Was Neues?« fragte der Chef. Cassedy schüttelte den Kopf. »Nein, die da drinnen kennen ihn nicht.« Der Chef‐Inspektor blickte die Straße hinunter, griff dann in seine Reverstasche und zog eine dünne schwarze Virginia heraus, die er sich zwischen seine großen, kräftigen weißen Zähne schob. Ganz unvermittelt fragte er dann: »Was Neues in der Sache Hickory Hills?« 198
Cassedy schüttelte den Kopf. Zounds! Der Chef hatte ihn schon gestern danach gefragt. Die Sache war aufsehenerregend, zweifellos, aber sie ging das FBI nichts an. Das war ein Fall, um den sich die Stadtpolizei zu kümmern hatte. Aber Pinkas Cassedy kannte seinen Boß. Er wußte, daß es unmöglich für ihn war, an einer solchen Sache kein Interesse zu nehmen. Das, was dieser scheußliche, vertierte Verbrecher da seit vierzehn Tagen aufstellte, würde mit schwarzen Lettern in die Kriminalgeschichte Chicagos eingezeichnet werden. »Nein, Boß, noch keine Spur von diesem Schlächter!« Es war eine Weile still. Eliot Ness stand bewegungslos da und blickte auf das nasse Pflaster, das Gesicht, das Cassedy von der Seite betrachtete, wirkte wie aus Hartholz geschnitzt. Worüber dachte er nach? Über den Unmenschen, der im Westend der Stadt wieder eine Frau aufgeschlitzt hatte? Pinkas Cassedy hatte den Boß am Vormittag beobachtet, wie er die Polizeimeldungen darüber studierte und dann die Fotos der jungen, hübschen Ruth Forrester betrachtet hatte. Ness blieb noch fast eine Stunde vor der dunklen Toreinfahrt stehen und schlenderte dann mit Cassedy durch den Rainbow Park am Ufer des Michigan entlang. Unten an der Ecke der 73rd Street tauchte der kleine Hoppers, den Ness hin und wieder wegen seiner Unauffälligkeit zu Beschattungen benutzte, vor ihnen auf. »Irgend etwas erfahren?« 199
»Leider nicht, Mr. Ness.« »Es ist gut, Sie können nach Hause gehen.« Wenige Minuten später erschien an der Ecke einer düsteren Hafengasse der lang aufgeschossene Kommissar Dan O’Connor, einer der tüchtigsten Männer im Stab des Inspektors Ness. Leider hatte auch er nichts über den Verbleib von Bedford herausbringen können. »Gehen Sie nach Hause«, sagte der Inspektor auch zu ihm. O’Connor nickte und schob davon. Die beiden schlenderten weiter die Gasse hinauf und kamen schließlich in das Gebiet in der Nähe des South Shore Country Clubs. Es gehörte zum Yacht Harbour (Jachthafen). Der neue, zählederne Chef‐Inspektor vom Oakwood Cemetery strich noch eine ganze Weile, gefolgt von seinem Schatten Cassedy, hier am Jachthafen herum und kehrte erst kurz vor Mitternacht in die 71. Straße zurück. Der Bau, in dem die Spezialabteilung des FBI untergebracht war, lag direkt mit seiner Rückfront an dem großen Friedhof von Oakwood, was dem Büro seinen etwas makabren Namen gegeben hatte. Während der dicke Cassedy in sein Büro abschob, betrat der Inspektor sein Vorzimmer, blieb einen Moment vor dem Tisch stehen, an dem seine Sekretärin arbeitete, blickte auf die Aktenstöße und sah obenauf ein Papier mit der sauberen, etwas nach links fallenden Schrift des Mädchens. Mr. Hancok anrufen. 200
Ness nahm sofort den Telefonhörer auf und ließ sich mit Jeff Hancok in der technischen Abteilung unten verbinden. Wie in fast allen Räumen der Spezialabteilung des FBI hier am Oakwood Cemetery gab es auch in der technischen Abteilung Nachtdienst. Hancok war sofort am Apparat. »Ja, ich wollte nur sagen, daß Sie recht gehabt haben, Mr. Ness. Die Fingerabdrücke von Justice sind auf Waterbys Wagenschlag ganz klar herausgekommen.« »Was ihr Brüder unter klar versteht«, meinte Ness, der genau wußte, mit wieviel Arbeit das Ergebnis verbunden war, das ihm der brave Mann jetzt da mitgeteilt hatte. Er bedankte sich, legte den Hörer auf und ging hinüber in sein Zimmer. Es war ein großer, einfacher, kahler Raum, der ihn hauptsächlich wegen seiner hohen grauen Wände und wegen der schmalen Fenster ärgerte. Auch die kleinen Kakteen, die er sich da hingestellt hatte, vermochten das Bild nicht zu ändern. Und wenn man erst am Tag einen Blick hinaus durch die Scheiben auf die trübseligen, endlosen Gräberreihen des Friedhofs warf, dann war der Eindruck, den das Büro machte, voll abgerundet. So nüchtern und schweigsam der »Norweger« auch war, so war er doch der Ansicht, daß das Büro und der Ausblick auf den düsteren Friedhof alles andere als ermutigend für die Arbeit, die hier getan werden mußte, seien. Das FBI hätte sich weiß Gott eine andere Stelle für die neue Spezialabteilung aussuchen können. Ein Mann sollte in passender Umgebung wirken 201
können, und wer immerzu auf einen Friedhof starrte, der muß ja auf trübselige Gedanken kommen. Im großen und ganzen aber focht den langen Ness dergleichen nur wenig an. Er zog einfach die dünnen, fadenscheinigen Vorhänge zu und beugte sich über seine Arbeit. Er hatte auf seinem harten, lehnenlosen Hocker Platz genommen und blickte auf die Aktenstöße, die vor ihm lagen. Mechanisch öffnete er den ersten, las ihn an, schloß ihn wieder, nahm den zweiten auf und ackerte sich so bis zum fünften »Befund« durch. Es waren alles Dinge, die sich im Laufe der vergangenen Monate hier ereignet hatten. Dinge, die nicht welterschütternd waren, die aber eine zähe Verfolgung erforderten. Und dafür war Eliot Ness der richtige Mann. Der oberste Chef hatte es klar erkannt – und auch Pinkas Cassedy wußte es. Einer, der es noch nicht wußte, schien der große Rufus Matherley drüben in dem Wolkenkratzer der Chicago News zu sein. Aber Rufus Matherley war seit einiger Zeit still, denn es gab keinen Grund, über den neuen Chef‐Inspektor der Spezialabteilung des FBI zu meutern. Plötzlich schob Eliot mit der Linken die Aktenstapel zur Seite, zog mit spitzen Fingern der Rechten eine Zeitung unter den Papierbogen auf der rechten Schreibtischseite hervor und blickte darauf nieder. Es war die Abendausgabe der Chicago‐News, die ihm seine Sekretärin, ehe sie das Haus verließ, noch hingelegt hatte. Eliot Ness las diese Zeitung seit dem Tag, an dem Rufus 202
Matherley sich als ein so scharfer Gegner erwiesen hatte, mit besonderer Aufmerksamkeit. AUFGESCHLITZT! In großen Lettern stand es da. Darunter folgte ein Artikel, der der Bevölkerung von Chicago das letzte Verbrechen des Gespenstermörders vor Augen führte. Die schöne Ruth Forrester aus den Hickory Hills war das neueste Opfer des Schlächters vom Westend geworden. Der Artikel war mit beispielloser Meisterschaft abgefaßt und trug unten die Initialen R.M. – was nichts anderes bedeutete als Rufus Matherley. Er war schon ein tüchtiger Journalist, der bullige Mann aus dem dreiundzwanzigsten Stockwerk der Chicago News. Es war spät, als der »Norweger« draußen vor den Anlagen des Hickory Hills‐Clubs ankam. Er ließ seinen alten, unmodernen Ford ziemlich weit vom Eingang stehen und betrat die Anlagen. Wie in Gedanken versunken schlenderte er über die regenfeuchten roten Wege auf das Klubhaus zu. Weshalb war der Klub eigentlich niemals verschlossen? Das waren doch auch Dinge, die man bedenken mußte. So etwas lockte doch Leute wie diesen Schlächter geradezu an. Ness stand vor den dunklen Fenstern des Restaurationsraumes und ging um das Klubhaus herum. Nirgends gab’s einen Hund, der die Schritte des 203
nächtlichen Besuchers dem Wächter hätte melden können. Wo war der überhaupt, der Wächter des Klubs? Als Ness sich von der Seitenfront des Hauses entfernen wollte, hörte er plötzlich drüben bei den Gerätehäusern ein Geräusch. Er blieb im Schlagschatten einer Rotbuche stehen, unter der im Sommer die Klubmitglieder an bunten Tischen saßen. Drüben aus dem Dunkel eines der Gerätehäuser kam ein alter Mann. Er hatte einen schleppenden Schritt, und hinter ihm trottete mit gesenktem Kopf ein müder Hund. Ness wartete, bis der Mann in einem der anderen Schuppen verschwunden war und wollte dann die Anlage verlassen. »He!« gellte da plötzlich ein scharfer Ruf hinter ihm her. Er wandte den Kopf und sah drüben in einer der Türen der Gerätehäuser im schwachen Licht einer Neonröhre den Mann stehen, den er vorhin beobachtet hatte. Eliot ging auf ihn zu. Der Mann wich langsam zurück und griff nach dem Türdrücker. »Was suchen Sie hier?« stieß er krächzend hervor. Als der Inspektor in den Lichtkreis gekommen war und das schwache Licht sein Gesicht traf, schob der Alte seine gelbe Klubmütze hoch und stieß plötzlich hervor: »Eliot Ness!« 204
Der Inspektor blickte ihn verwundert an. Da meinte der Alte grinsend: »Ja, da staunen Sie wohl, was? Der alte Webster hat ein gutes Gedächtnis.« »Woher kennen Sie mich?« »Na, hören Sie, im vergangenen Monat war Ihr Bild doch oft genug in den Zeitungen. Besonders die Chicago News hat sich doch herzerfrischend mit Ihnen beschäftigt.« Ein winziges Lächeln stand in den Augenwinkeln des FBI‐Mannes. Und Websters Gesicht spiegelte jetzt helle Neugier. »Sie sind wegen des Mordes hier, nicht wahr?« »Nicht wegen des Mordes, Mr. Webster.« »Sondern?« »Wegen des Mörders!« »Wegen des Mörders?« Webster schluckte. »Haben Sie schon eine Spur?« »Leider nein. Und leider ist es nicht mein Fall.« »Nicht Ihr Fall? Ist denn nicht alles Ihr Fall?« Ein dünnes Lachen kam von den Lippen des Polizeioffiziers. »Nein, Mr. Webster, wo kämen wir hin, wenn sich einer mit allem befassen müßte.« »Ach, richtig, ja, Sie sind ja vom FBI. Aber ich finde, das hier ist doch furchtbar genug, daß man auch das FBI einschalten sollte.« »Es handelt sich bei der Zuständigkeit nicht um die Schwere eines Falles, Mr. Webster«, sagte der Inspektor, 205
schob seine Hände tief in die Manteltaschen und blickte zum Klubhaus hinüber. »Sagen Sie, ist das hier immer so unbewacht?« »Unbewacht? Na hören Sie, ich bin doch da! Nun ja«, setzte er etwas leiser hinzu, »unsere beiden jungen Leute haben Urlaub.« »Jetzt, um diese Zeit?« »Ja, im Sommer können Sie sich das nicht leisten. Was meinen Sie wohl, was dann hier los ist. Im übrigen – es ist hier sehr schön im Sommer, Sie sollten mal herauskommen.« »Das werde ich sicher tun.« »Hat man denn noch gar nichts gefunden?« erkundigte sich Webster mit vorgebeugtem Kopf und in fast vertraulichem Ton. Ness zog schweigend die Schultern hoch. Da meinte der Alte: »Nein, nein, das ist hier sonst ganz gut bewacht. Sie dürfen nicht vergessen, unsere beiden Burschen gehörten früher selbst zu unseren Aktiven. Sie sind noch verhältnismäßig jung, widmen sich der Sache hier mit Feuereifer. Ich gehöre natürlich schon zum alten Eisen, bin seit sechsunddreißig Jahren hier, hab’ früher auch das Racket geschwungen.« Langsam schlenderten sie nebeneinander dem Ausgang zu. Da blieben sie stehen, und Webster meinte: »Wenn ich irgend etwas höre, soll ich Sie dann anrufen?« »Ich glaube, es genügt, wenn Sie die Polizei anrufen, 206
falls Sie etwas in Erfahrung bringen, was mit dem Mord zusammenhängt.« »Ich weiß nicht«, brummte der Platzwart, während er sich durch den nassen Kragen fuhr, »ich glaube, ich werde doch Sie anrufen…« * Fast um die gleiche Stunde, in der der FBI‐Inspektor Eliot Ness die Anlagen des Klubs verließ, hielt in dem kurzen Ende der 74. Straße vor dem Haus der Witwe Finder ein Wagen. Es war ein Chevrolet. Der Mann, der ausstieg und mit müden Schritten auf die Gartenpforte zuging, blieb einen Augenblick stehen, sah die Straße hinunter, schob dann die Pforte auf und betrat den Vorgarten. Rob Finder kam wie jeden Abend in letzter Zeit spät nach Hause. Plötzlich wurde sein Blick durch einen Lichtschimmer angezogen, der drüben links über die zugedeckten Rosen aus einem der Kellerfenster kam. Wie elektrisiert stand der Mann da und starrte auf den diffusen Schein. Dann stürmte er auf die Haustür zu, öffnete sie, riß die Kellertür auf und hastete die Treppe hinunter. Am Eingang zu dem offenen Keller, in dem früher der alte Finder seinem Hobby nachgegangen war, blieb er stehen und starrte mit harten Augen auf die Gestalt der Frau, die da vor der Werkbank stand und ihn unverwandt ansah. Es war Dorothy Finder. Ihr hageres, kränkliches 207
Gesicht war wie aus Wurzelholz geschnitten und schien um ein Jahrzehnt gealtert zu sein. Sie hatte die Haare nur lose aufgesteckt und trug über ihrem Nachtgewand eine breite dunkelgraue Wollstola, in die sie ihre Hände verkrampft hatte. Finder schluckte. Dann stieß er heiser hervor: »Was hat denn das zu bedeuten, was suchst denn du hier? Um diese Zeit?« Der Adamsapfel an dem dünnen Hals der Frau rutschte auf und ab. Sie sagte nichts. Der Mann spürte eisiges Unbehagen in sich aufsteigen. »Was willst du hier? Weshalb treibst du dich um Mitternacht hier im Keller herum?!« Da sprangen die Lippen der Frau plötzlich auseinander, und spröde kamen die Laute aus ihrer Kehle: »Der linke Schuh der Ruth Forrester wurde vermißt, als ihre Leiche am Calumet Lake aufgefunden worden ist. Es war ein kleiner schwarzer Stöckelschuh mit überlangem Absatz. Aus feinem Lackleder. Mit einer schwarzen Perle an der Spitze…« Mit monotoner Stimme hatte sie die Worte hervorgebracht; wie riesige Bleiklötze standen sie jetzt im Raum zwischen den beiden Menschen. Fahles Licht ergoß sich über den engen Kellerraum. Die Frau stand mit dem Rücken zu der hölzernen Werkbank und regte sich nicht. Drüben in der offenen Tür verharrte der Mann im dunklen Mantel, die Hände in den Taschen, den Hut tief ins Gesicht gezogen. 208
Rob Finder hatte verstanden. Aber er begriff nicht. Was war geschehen? Wie hatte sie darauf kommen können? Das Ungeheuerliche vermochte er nicht zu fassen: Sie war dahintergekommen. Hatte ihn durchschaut. Alles entdeckt! In seinem Hirn schlug es Alarm. Seine Nerven wollten nachgeben. Nur mit Mühe vermochte er die Zähne aufeinanderzupressen und die geballten Fäuste in den Manteltaschen zu halten. Fünf Schritt von ihm entfernt stand die große, hagere Frau und starrte ihn aus entsetzten Augen an. »Ein kleiner schwarzer lacklederner Stöckelschuh, mit einer Perle an der Spitze –« Finder schluckte. Er starrte auf den Adamsapfel, der an dem schlaffen Hals der Frau mit einer irren Bewegung auf und nieder zuckte. Plötzlich spürte er, daß seine Hände zu zittern begannen. Schweiß stand auf seiner Stirn. Aber immer noch verharrte er im Türrahmen. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Wie konnte sie ihm denn auf die Spur gekommen sein? Wo er doch so vorsichtig war. Der Schuh! Hatte er tatsächlich den Schuh übersehen? Oder war es nur ein Trick? Ein raffinierter Trick dieses alternden Weibes, das ihm da nachspionierte! »Ich weiß nicht, was du da redest«, stieß er heiser hervor. »Du bist krank; geh sofort hinauf in dein Zimmer!« »Wie du plötzlich mit mir redest, Robby«, kam es leise von den Lippen der Frau. 209
Wieder war es einen Augenblick still. »Ich weiß nicht, was du hast, Tante Dorothy. Du bist krank, du mußt hinaufgehen. Vorwärts!« Als er auf die zugehen wollte, zuckte plötzlich ihre Linke, die unter der Stola verborgen war, hervor, und Finder sah einen kleinen schwarzen Lacklederschuh darin. Einen Lacklederschuh, der einen übergroßen Stöckelabsatz hatte und an dessen Spitze eine kleine schwarze Perle angeheftet war. Totenblaß war das Gesicht des Mordes geworden. Seine dünnen Lippen waren blutleer und schmal wie ein Strich, ihre Winkel zogen sich nach unten. Die Augen, die vielleicht auch sonst einen leicht froschigen Ausdruck hatten, traten jetzt noch weiter hervor und schienen nur noch mit einem Drittel in ihren Höhlen zu liegen. Da sprang der Eispanzer, der das Herz der entsetzten Frau seit ihrer furchtbaren Entdeckung ergriffen hatte, plötzlich auseinander. Angst stieg in ihr auf und wollte ihr die Kehle zudrücken. Finders Lippen zitterten. Er fletschte die Zähne und krächzte mit halberstickter, völlig veränderter Stimme: »Was hast du irres Weib vor?« »Du bist ein Mörder, Robson Finder, ein Mörder…« Da schnellte er auf sie zu. Aber mit einer blitzartigen Bewegung hatte sie den Schuh hochgerissen und hieb ihn ihm ins Gesicht. Hart von dem scharfen Absatz im äußeren linken Augwinkel getroffen, wich er zurück und vermochte 210
einen Schmerzensschrei nicht zu unterdrücken. Vor seinen Augen schwamm alles. Dorothy Finder stürmte an ihm vorbei, konnte ihn zur Seite stoßen, hatte die Kellertreppe erreicht – und hörte dann seine hastenden Schritte hinter sich. Er ergriff sie am Arm und stieß sie brutal gegen die Wand. »Tante Dorothy«, keuchte er. »Mörder!« hechelte sie ihm mit fliegendem Atem entgegen. »Mörder! Und dich habe ich wie einen Schoßhund gehätschelt.« »Tante Dorothy, laß dir doch erklären…« »Erklären?« unterbrach sie ihn mit keuchender Stimme und wurde noch immer von seiner Rechten hart gegen die feuchte Flurwand gepreßt, »du bist ein Mörder, ein bestialischer Mörder!« »Nein!« schrie er da, »nein!« »Ich weiß, daß du von ihr geschwärmt hast, ich habe in deinem Zimmer ihr Bild gefunden. Du hast es aus ihrer Handtasche gestohlen.« »Nein, das ist nicht wahr, das ist Lüge! Ich habe es von Abelman, er selbst hat es mir geschenkt.« »Mach mir nichts vor. Ich kenne dich, ich habe das rosafarbene Hemd in deinem Schrank gefunden, die linke Manschette ist voller Blutspritzer.« »Ich habe es aber doch nicht an jenem Abend getragen…« Eine verzweifele Lache brach aus der Kehle der Frau. »Nein, nicht an jenem Abend, aber an dem Abend, an dem du die beiden armen Teufel auf der Landstraße am 211
Howell Airport umgebracht hast!« Da prallte er zurück. »Aus!« keuchte er. »Jetzt hast du selbst dein Todesurteil gesprochen.« Die Frau vermochte sich nicht zu rühren. Wie versteinert stand sie da. Da warf er sich ihr entgegen. Das Messer blitzte in seiner Linken auf, und im nächsten Augenblick gellte ein markerschütternder Todesschrei durch das kleine Haus in der 74. Straße. Von zwei entsetzlichen Schnitten getroffen stürzte die Frau die Kellertreppe hinunter. Als ihr Röcheln endlich erstarb, kam Leben in die erstarrt dastehende Gestalt ihres Mörders. Er machte sich an die Arbeit – und es war eine gründliche Arbeit! Nicht die geringste Spur im Keller wies auf die Tragödie hin, die sich da zwischen den beiden Menschen abgespielt hatte. Finder hatte die Tote vors Haus geschleppt und stürzte dann zum Telefon. Nicht ganz vier Minuten später hielt der Polizeiwagen vor der Tür. Mit geisterbleichem Gesicht berichtete der Mörder den drei Polizisten, daß er bei seiner Heimkehr die Frau genauso, wie sie da lag, tot vor der Haustür gefunden hatte. Dorothy Finder war ermordet worden. In den Morgenblättern wurde in großen Spalten von ihrem Tod berichtet. Es war kurz vor acht, als Robson Finder den Eingang des großen Bürohauses betrat und auf die Aufzüge zuging. 212
Wenige Schritte vor ihm ging unter den anderen Leuten, die den Treppen und Aufzügen entgegenströmten, Mary Goddram. Plötzlich trat von der untersten Treppenstufe ein hochgewachsener, schlanker Mann auf den Mörder zu. Er tippte an den Hut und sagte mit ruhiger, halblauter Stimme: »Mein Name ist Ness. Ich möchte einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Mr. Finder, wenn Sie gestatten.« »Ness?« Der Gangster schluckte. Er hatte ebenso schlagartig wie in der vergangenen Nacht der Klubwächter Webster begriffen, wen er da vor sich hatte. »Eliot Ness?« »Ja, kommen Sie doch bitte mit.« Finder war nicht fähig, auch nur eine Geste des Widerstandes zu machen. Er ging neben dem Inspektor her dem Ausgang zu und war erstaunt, hier draußen keine Polizisten vorzufinden. Eliot Ness deutete nach links die Straße hinunter. »Es regnet gerade nicht, vielleicht können wir ein Stück miteinander gehen. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Ihre Arbeit beginnt um acht, und es sind noch einige Minuten bis dahin.« Finder hatte das Gefühl, daß ein Mühlstein von seiner Seele gerutscht war; er befürchtete fast, daß der Mann neben ihm den Lärm hören mußte, den dieser abgerutschte Mühlstein verursachte. Er atmete auf, sog die Luft tief ein und tastete seine Taschen nervös nach Zigaretten ab. Als er eine gefunden hatte, zündete er sie 213
an und meinte: »Sie haben also den Mordfall aufzuklären, Mr. Ness?« »Nein, das ist Aufgabe der Stadtpolizei«, kam es gedämpft zurück. Verdammt! Was hatte das zu bedeuten? Er war in der vergangenen Nacht noch anderthalb Stunden lang auf dem Revier von einem Polizeileutnant und zwei Sergeanten vernommen worden. Um sechs Uhr in der Frühe waren sie schon wieder im Haus und hatten ihn fast eine Stunde lang aufgehalten. Was veranlaßte jetzt den FBI‐Mann, sich um den Fall zu kümmern? »Ich habe nur eine Frage, Mr. Finder«, sagte Eliot Ness, während er sich einen Zigarillo anzündete. »Sie haben niemanden bemerkt, als Sie die Leiche Ihrer Tante fanden?« »Nein, das habe ich doch Leutnant Wolters erklärt, ein halbes Dutzend mal habe ich es ihm erklärt, Inspektor.« »Ja. Und im Haus haben Sie keine Veränderung vorgefunden?« »Nein.« »Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, Mr. Finder, weshalb Sie immer noch drüben in Indiana gemeldet sind?« Finder erschrak bis ins Mark. Das also hatte der große Spürhund schon herausgefunden! »Ach, wissen Sie, es ist in gewisser Weise nur eine Nachlässigkeit von mir…« »Ja, das kann sein«, entgegnete der Inspektor. »Es gibt eine Menge Leute, die in dieser Hinsicht ziemlich 214
nachlässig sind. Aber es kann Ihnen einmal Ärger bringen.« »Ja, ja, ich werde das natürlich sofort in Ordnung bringen.« »Sie werden draußen in dem Haus wohnen bleiben?« »Ja, es gehörte nicht meiner Tante, aber es ist nicht teuer in der Miete. Und damit Sie gleich auch darüber Bescheid wissen, Inspektor: meine Tante hat nicht das mindeste an mich zu vererben.« Ein feines Lächeln spielte um die Mundwinkel des Norwegers. »Ich weiß, Mr. Finder, und entschuldigen Sie die Störung.« Er tippte grüßend an den Hutrand und wandte sich ab. Finder starrte ihm nach, beobachtete den federnden, elastischen Gang des Polizeioffiziers und preßte die Zähne hart aufeinander. Das FBI hatte sich also eingeschaltet. Das erfüllte ihn mit mehr Angst als alles andere, was sich in der vergangenen Nacht abgespielt hatte. Verflucht, es war doch nur ein Unglück gewesen, das alles mit Tante Dorothy. Nie und nimmer wäre er auf den Gedanken gekommen, seine eigene Tante zu töten. Zu töten… Ja, er hatte getötet. Niemals bisher war es ihm so recht zum Bewußtsein gekommen. Er hatte sie alle getötet, die Leute, deren Namen er erst durch die Zeitungen erfahren hatte: den Arbeiter Donald Lester, den er mit dem Mädchen an der Brücke draußen am Flugplatz beobachtet hatte. Dann diesen aufdringlichen 215
Kraftfahrer, der selbst schuld an seinem Ende war. Weshalb hatte er sich auch um Dinge gekümmert, die ihn nichts angingen. Was ihn dann an die schmale, abgerissene Straße zwischen dem Stickney‐Sportplatz und dem Industrie‐Gebiet geführt hatte, um auf Margret Turger zu warten, das hätte er niemals zu erklären vermocht. Und an Ruth Forrester mochte er gar nicht mehr denken. Ein Würgen stieg in seine Kehle. Er wandte sich um und ging wieder auf den Eingang des großen Bürohauses zu. Als er oben an seinem Schreibtisch saß, tanzten die Zahlen vor seinen Augen auf dem Papier herum und schienen sich nicht ordnen lassen zu wollen. Fünf Tote! Eine irrsinnige Bilanz. Als damals in Plymouth der Hosenmacher Jerry Flimbush die Frau getötet hatte, war der junge Robson Finder entsetzt gewesen. Tag und Nacht hatte er an die scheußliche Tat denken müssen. Man hatte den zerschossenen Schädel der Frau in allen Zeitungen sehen können. Und er, Robson Finder, war einer der Lautesten gewesen, die den Strick für den kleinen Hosenmacher gefordert hatten. Fünf Tote! Das war selbst für Chicago aufsehenerregend. Hatte er Aufsehen erregen wollen? Nein, Arzt – Arzt hatte er werden wollen. Chirurg! Ein Mann, der den anderen die Leiber aufschnitt, der das scharfe Messer 216
führte, der im weißen blutbespritzen Kittel vor dem Operationstisch stand. Finder wischte sich über die plötzlich schweißnasse Stirn. »Es ist selbst für Chicago eine Sensation«, flüsterte er tonlos vor sich hin. Dann erschrak er, weil er bemerkt hatte, daß sich Mary Goddram nach ihm umblickte. Fünf Menschen hatte er mit dem Skalpell getötet. Hatte er denn töten wollen? Chirurg wollte er doch werden! Chirurg, wie Fen Duncan in Plymouth, bei dessen oft tödlich ausgehenden Operationen er oft als Sanitätshelfer zugegen war. Fünf Tote! Die beiden Männer, die er getötet hatte, waren nur Schemen für ihn gewesen, blaß und ungreifbar. Fast waren sie schon aus seinem Gedächtnis geschwunden. Die Frau in Stickney geisterte auch nur wie ein Nebelschleier durch sein Hirn. Auch Tante Dorothy konnte er aus seinem Gedächtnis wischen. Nicht aber die kleine Ruth Forrester. Immer und immer wieder war es die gleiche Gedankenfolge, die vor ihm herzog. Denn er konnte in Wirklichkeit keinen vergessen. Weder die beiden Männer noch die Frau an dem Fußballfeld von Stickney noch Tante Dorothy, geschweige denn Ruth Forrester! Sie waren immer um ihn herum, sahen ihn mit vorwurfsvollen, glasigen Augen an, schreckten ihn mitten aus der Arbeit hoch und rissen ihn nachts aus dem Schlaf. Aber er empfand nicht etwa Reue wegen der 217
Verbrechen. Auch nicht wegen des Mordes an Ruth Forrester. Nein, er ärgerte sich nur, daß er den weißen Arztkittel, den er sich schon Ende November gekauft hatte, in jener Nacht im Keller nicht angezogen hatte, als er Ruth Forrester vor sich auf der Plane liegen hatte. Ganz friedlich hatte sie ausgesehen, als sie endlich vor ihm gelegen hatte. Und dann tauchte doch wieder das entsetzlich verzerrte Antlitz des Mannes vor ihm auf, das ihm im Laternenschein aus dem Dunkel des Kofferraumes entgegengrinste. Es war das Gesicht des Arbeiters Donald Lester. In den Zeitungen hatte gestanden, daß er Mitte der Vierzig war, also kein Jüngling mehr. Demnach höchstwahrscheinlich auch verheiratet. Trieb sich da in der Novembernacht mit einem jungen Ding herum, mit seiner Geliebten! Wie hatte Dr. Duncan doch gesagt: »Wir verrichten eine notwendige Arbeit mit dem Skalpell!« Dieser Donald Lester war wahrscheinlich ein Lüstling gewesen, ein Wüstling. Er hatte seine erotischen Freuden, die er an der Brücke des Tinley Creeks verbotenerweise genossen hatte, mit dem Leben bezahlen müssen. Und er, Rob Finder, hatte für den Ausgleich gesorgt – stellvertretend gewissermaßen für Doc Duncan. Er hatte die leidende Menschheit um einen Wüstling verringert. Das war die Philosophie eines Wahnwitzigen. Wie Feuerpfeile schossen die Gedanken im Hirn des Mörders hin und her. Plötzlich tauchte das hagere, kantige Gesicht eines hochgewachsenen Mannes vor ihm auf. Ein scharfes, eindringlich beobachtendes Augenpaar fixierte 218
ihn forschend. Es waren die Augen des FBI‐Inspektors Eliot Ness! Die Tatsache, daß das FBI sich eingeschaltet hatte, schreckte Rob Finder aus seinem dumpfen Brüten auf. Da war er an einen Punkt angelangt, der ihn empfindlich wie ein Nadelstich traf. »Ich muß doch zu einem Arzt gehen«, flüsterte er vor sich hin, »Ich bin wahrscheinlich krank.« Mit der Hypophyse stimmt bei den meisten Menschen etwas nicht, hatte er Doc Duncan nach irgendeiner Operation mal zu seinem Assistenten sagen hören. Man müßte diesen Hirnanhang der ganzen Menschheit gleich von vornherein operativ entfernen. »Duncan ist ein brutaler Schlächter«, hatte der Assistent später zu einer Schwester gesagt. Ein Schlächter! Auch ein Wort, das sich in Finders Hirn eingebrannt hatte. Aber daß sie ausgerechnet den scharfen Ness auf die Sache angesetzt hatten! Diese Tatsache bereitete ihm arges Unbehagen. Mr. CHICAGO – hat die Presse ihn einmal genannt, als er den Nebelmörder gejagt hatte. Gejagt – und gestellt hatte! Hatte nicht auch er eine Hypophyse, dieser drahtige, lange Ness? War er nicht damit auch ein Leidender? Mußte die Menschheit nicht von ihm befreit werden? Wieder mußte sich Finder den Schweiß von der Stirn wischen. Man braucht nur starke Nerven! Das war eine der Parolen Doc Duncans gewesen. Starke Nerven, das 219
ist alles… Es war kein Fall für das FBI. Alles, was Eliot Ness tat, tat er rein privat. Aus purem Interesse des geborenen Polizisten. Er hatte in sieben Stunden Rob Finders Leben wie mit einem Röntgenapparat durchleuchtet. Aber da gab es nichts, was den Mann belastet hätte. Er war ein ordentlicher, sauberer Mensch, der sich niemals etwas hatte zuschulden kommen lassen. So wurde jedenfalls von allen Seiten berichtet. Nein, die Aufschlitzer‐Morde im Westend von Chicago waren kein Fall fürs FBI. Und dennoch interessierte sich der Spezial‐Agent Eliot Ness für den Mann aus Plymouth im Staat Indiana, der hier lebte, ohne gemeldet zu sein. An sich fiel diese Tatsache in das Interessengebiet des Büros, aber Finder war zu gut beleumdet in jeder Hinsicht, als daß der Inspektor eine Angriffsfläche gefunden hätte. Und der furchtbare Tod von Finders Tante, bei der er ja gelebt hatte, war ihm sichtlich nahegegangen. Welchen Menschen würde ein solches Erlebnis nicht umwerfen. Der Inspektor richtete sich auf und trat an das Fenster, um auf den düsteren Friedhof hinauszublicken. Wollte denn die Sonne überhaupt nicht mehr kommen? Hatte sie dieses elende Chicago vollkommen vergessen? Diese Steinwüste, dieses Meer von Häusern? Der November war voller Nebel gewesen, und der Dezember schien im Regen ersticken zu wollen. Da wurde angeklopft, und eine hübschgewachsene 220
junge Dame trat ein. Es war Ruth Everett, seine Sekretärin. Sie brachte ihm eine Nachricht aus South Bend, Indiana, wo vor sieben Jahren ein Mädchen mit einer Schnittwunde im Unterleib am Stadtrand aufgefunden worden war. Es war die dreiundzwanzigjährige Josephine Lamberty gewesen. Sie hatte ihre Verletzungen überlebt, über den Täter hatte sie nichts aussagen können. Eliot Ness hatte sofort seinen Apparat spielen lassen, als ihn die Morde im Westend der Stadt zu interessieren begannen. In wenigen Stunden hatte er Dutzende solcher Nachrichten bekommen. Wie viele Menschen waren allein in Chicago schon mit Schnittwunden aufgefunden worden! Wie viele Frauen waren von Wüstlingen, Geistesgestörten und Eifersüchtigen mit Messerstichen lebensgefährlich verletzt oder auch getötet worden. Ihre Zahl ging weit in die Hunderte. Trotzdem hatte es sich der G‐man Eliot Ness zur Gewohnheit gemacht, sofort alles, was einen besonderen Fall berühren konnte, scharf und eingehend abzutasten. Ganz automatisch hatte er deshalb auch Robson Finder durchleuchtet und Anfragen an die Zweigstellen des FBI in Indiana gerichtet. Auch ganz spezielle Anfragen waren darunter. Der Inspektor war überzeugt, daß im Laufe des Tages noch Dutzende von Antworten auch aus dem nördlichen Indiana kommen würden. Das war alles Routinearbeit. Sie hatte zwar noch keinen Fall gelöst, aber schon zur Lösung Hunderter von Fällen beigetragen. Einer der drei Apparate links neben ihm schrillte. 221
Eliot nahm prompt den falschen Hörer auf, griff dann nach dem nächsten und hatte die Stimme eines älteren Mannes am Ohr. Er erkannte ihn sofort. Es war Webster, der Platzwart vom Hickory Hills‐Club. »Mr. Ness«, krächzte der Alte in die Muschel, »sind Sie es persönlich?« »Ja, Mr. Webster, was gibt’s denn?« Der Alte atmete hörbar auf. »Es ist gut, daß Sie es persönlich sind, Mr. Ness. Hier ist einer, der mir nicht gefällt. Vielleicht wäre es gut, wenn Sie einmal kommen könnten. Ich möchte nichts Näheres sagen.« Dazwischen schrillte plötzlich einer der anderen Apparate. Es war das weiße Gerät, das am Tischrand stand. Ness beugte sich sofort vor, griff nach dem Hörer und sprach noch in die weiße Muschel hinein: »Ich muß leider unterbrechen, Mr. Webster. Sie hören von mir.« Dann nahm er den weißen Hörer auf. »Hier Amt A I«, drang es monoton an sein Ohr, und gleich darauf war die Stimme des allerhöchsten Chefs zu hören. »Ness, nur ein Tip: Dutch Lemberg soll in New York gelandet sein.« »Thanks«, entgegnete der Inspektor und hörte noch den kurzen Gruß, dann das Klicken in der Muschel. Der Chef hatte eingehängt. Er war übrigens der Präsident des Bureau of Investigation. Es kam sehr selten vor, daß er hier einmal anrief, und wenn, dann war es sicherlich nichts Unwichtiges. Der alte graue Mann oben an der Spitze des berühmtesten Polizeiapparates der Welt hatte 222
sein hervorragendes Auge schon allein durch die Tatsache bewiesen, daß er den jungen Eliot Ness als einen überragend tüchtigen Mann bereits in frühester Zeit erkannt hatte. Dutch Lemberg! Der Marihuana‐Lord, wie er in den Kreisen der Unterwelt genannt wurde. Ness wußte, daß das FBI ihm seit Jahren auf der Spur war; und wenn es um ihn ging, setzte der oberste Chef alles in Bewegung. Dutch Lemberg war fast so ein Kaliber wie Al Capone, dem es wahrscheinlich gar nicht in den Kram paßte, wenn ihm hier der Marihuana‐Lord ins Gehege kam. Doch der Gangster‐König konnte sich fürs erste zurücklehnen – der tüchtige Eliot Ness würde die Arbeit sozusagen für ihn erledigen. Der junge FBI‐Inspektor konnte nicht ahnen, wie wachsam die Chicagoer Unterwelt sein Tun verfolgte. Es war Eliot klar, daß der Boß ihm den Tip nicht umsonst gegeben hatte! Er nahm den Hausapparat heran und wählte die Nummer vier. »Cassedy.« Es war die Stimme seines Stellvertreters. »Kommen Sie einen Augenblick zu mir herüber, Pink.« Als der dicke Inspektor eintrat, berichtete Eliot von dem Anruf aus Washington. Cassedy zog sein ohnehin ziemlich langes rotes Ohrläppchen fast bis zur rechten Schulter hinunter und kniff das linke Auge ein. »Ei, Deibel, ist das ein scharfes Ei! Das bedeutet also, daß Sie nach New York fliegen werden.« 223
»Rufen Sie O’Connor«, sagte der Inspektor, während er zum Schrank ging und seinen Mantel herausnahm. Wenige Augenblicke später trat der lange Kommissar Daniel O’Connor ein. »Sie müssen sofort nach New York fliegen, Dan.« Eliot Ness sagte es, während er sich den Hut aufsetzte und einen kurzen Blick in den Spiegel warf, der in die Tür des Schranks eingelassen war. O’Connor tauschte einen Blick mit Cassedy. Der kniff jetzt beide Augen ein und rümpfte die Nase. Aber er sagte nichts. Ness schloß den Schrank, ging zum Fenster, warf noch einen Blick über die Gräberreihen, die in der Dunkelheit nur noch schwach zu erkennen waren, und sagte dann wie zu sich selbst: »Dutch Lemberg soll in New York aufgetaucht sein. Sie fliegen sofort hin, Dan, halten die Ohren auf und geben mir gleich Nachricht. Ich werde in Kürze auch dort sein.« »All right, Mr. Ness«, entgegnete Kommissar O’Connor. Dann deutete er eine Verbeugung an und entfernte sich. Cassedy rieb sich das Kinn und blickte in die Augen seines Chefs. Aber auch jetzt sagte er noch nichts. Eliot zog sich den Hut tiefer in die Stirn und sagte, während er zur Tür ging: »Bestellen Sie meinen Wagen und kommen Sie mit.« »Wo geht’s hin?« erkundigte sich Cassedy jetzt nun doch, weil er seine »Marschausrüstung« 224
dementsprechend einzurichten hatte. »Nicht weit, wir fahren nach Hickory Hills. Da gibt’s einen schönen Golfplatz.« * Der alte Webster kam ihnen auf dem roten Weg in den Anlagen schon entgegen. Als er sah, daß der Inspektor nicht allein war, blieb er betreten stehen. »Das ist Inspektor Cassedy«, erklärte der Chef‐ Inspektor und deutete auf seinen Begleiter. »Sie können also ruhig sprechen, Mr. Webster.« Der alte Platzwart warf dennoch einen argwöhnischen Blick auf Cassedy, trat dann dicht an Eliot Ness heran und bedeutete ihm, sich etwas niederzubeugen. Dann tuschelte er ihm geheimnisvoll ins Ohr: »Geräusche – drüben im Haus.« »Ist denn da jetzt geschlossen?« »Ja, heute ist geschlossen. Es sind Geräusche, sie scheinen mir aus dem Keller zu kommen.« »Vielleicht sind es Ratten«, meinte Pinkas Cassedy ungerührt. Webster warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ratten haben wir hier nicht, Mister!« Eliot Ness hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt und hielt auf das Klubhaus zu. Als er bis auf achtzig Schritt herangekommen war, blieb er stehen. Er hatte einen winzigen Lichtschein bemerkt, der aus dem kleinen Kellerfenster kam, aber sofort wieder verlosch. 225
Eliot wartete, bis Cassedy und der Alte herangekommen waren, und flüsterte seinem Begleiter dann zu: »Da unten ist jemand im Keller.« Er blickte den alten Platzwart an, als er fragte: »Ist es vielleicht einer von Ihren Leuten?« »Von unseren Leuten? Das kann ich mir nur schwer vorstellen.« »Wohnt noch jemand außer Ihnen hier auf dem Gelände?« »Nein, niemand.« Der Inspektor näherte sich vorsichtig dem Haus und ließ sich die Eingangstür öffnen. Dann passierte er die Stelle, an der die unglückliche Ruth Forrester ermordet worden war. Auf Zehenspitzen durchquerte er den Restaurationsraum, riß dann die Tür zum Keller auf und stürmte mit seiner Stablampe hinunter. Das Bild, das ihn hier erwartete, veranlaßte ihn, stehenzubleiben. In einer offenen Nische neben dem Flaschenkeller sah er einen Mann und ein Mädchen auf einer Couch liegen. Da das Bild offensichtlich friedfertiger Natur war, wandte sich der Inspektor ab und ging wieder zur Treppe. Mit weit aufgerissenen Augen starrten der Mann und das Mädchen, die durch sein plötzliches Auftauchen tödlich erschrocken waren, hinter ihm her. Dann brachte der Mann seine Kleidung in Ordnung und folgte dem Inspektor die Treppe hinauf. Oben traf ihn grell die Stablampe Cassedys. 226
»Johnny!« entfuhr es Webster. »Sie kennen den Mann?« erkundigte sich Ness. »Aber ja, das ist Johnny Lipman.« »Einer Ihrer Leute?« »Ja, einer meiner Leute«, stieß der Alte heiser hervor. »Möchtest du mir vielleicht erklären, was du da unten suchst?« »Er war mit einem Mädchen da«, sagte der Inspektor und wandte sich ab, um auf den Ausgang zuzugehen. Da hörte er den Alten hinter sich knurren: »So sieht das also aus! Du treibst dich in der Nacht hier mit Weibern im Klubhaus herum. Du weißt genau, daß Mr. Baimann das strengstens verboten hat. Aber dir ist ja kein Verbot heilig, elender Bursche. Sieh bloß zu, daß du auf dem schnellsten Weg mit deiner Dirne verschwindest. Los, Miß, kommen Sie herauf.« »Sie ist nicht ganz angezogen«, stotterte Lipman, während er sich mit zitternden Händen eine Zigarette anzündete. »Das ist mir egal, meinetwegen kann sie halbnackt heraufkommen, aber sie verschwindet aus dem Haus!« Als die beiden gegangen waren, standen Ness, Cassedy und der alte Platzwart vor dem Klubhaus und blickten hinter den beiden her. »Es ist trotzdem gut«, sagte der Alte, »daß Sie gekommen sind, Mr. Ness. Ich hatte ohnehin über ihn mit Ihnen sprechen wollen.« Cassedy zündete sich eine dicke helle Zigarre an und kratzte sich im Genick. Er wurde das Gefühl nicht los, 227
daß sie hier von diesem Mann nur aufgehalten wurden. Dabei gab es doch jetzt Wichtigeres zu tun. Washington hatte Ness darauf aufmerksam gemacht, daß Dutch Lemberg in New York aufgetaucht war. Und wenn man sich in Washington deswegen an den Spezialagenten Eliot Ness wandte, dann war das sicherlich nicht zufällig geschehen. »Das ist ein ganz verdächtiger Kerl, sage ich Ihnen«, fing der Alte wieder an, »er gefällt mir schon lange nicht. Ganz davon abgesehen, daß der Gauner verheiratet ist.« »Das will ja nun nichts besagen«, unterbrach ihn Eliot Ness. »Vielleicht nicht. Aber es sind da noch eine Menge anderer Dinge.« »Zum Beispiel?« forschte Ness, und es schien, daß er nicht allzu interessiert war. Der Alte sabbelte eine Weile herum und führte dann die Herren auf ihren Wunsch um das Klubhaus zu den Gerätehäusern und an den Tennisplätzen vorbei. Eine Viertelstunde später waren sie wieder auf dem großen Weg, der zum Eingang führte. Eliot, der ganz links am Wegrand gegangen war, blieb plötzlich stehen. »Was gibt’s denn?« fragte Webster, als er sah, daß der FBI‐Mann sich auf den Boden niederbeugte. Cassedy bedeutete ihm, zu schweigen. Denn auch er hatte jetzt die Schleifspur entdeckt, die Eliot Ness bereits untersuchte. Die Stablampe blitzte auf, und Ness folgte der 228
deutlichen Schleifspur ins Gebüsch. Gleich darauf traf der scharfe Strahl des Lichts auf einen menschlichen Körper, der vor den Männern im Gebüsch lag – unweit des weißen Zauns und des Klubgeländes. Es war eine Frau. Sie mußte noch sehr jung gewesen sein. Ihr Kamelhaarmantel war blutbefleckt. Die Polizei war sieben Minuten später an Ort und Stelle. Alle Spuren wurden festgehalten, fotografische Aufnahmen gemacht und das Gelände mit größter Sorgfalt untersucht. Jeder Quadratzentimeter wurde durchforscht. Ness hatte den Polizeileutnant, der auf seinen Anruf hin gekommen war, über seine Entdeckung informiert. Der untersetzte, stiernackige Mann blickte finster auf die Tote nieder. »Sie ist aufgeschlitzt worden. Der Arzt hat es eben festgestellt. Also wieder derselbe Kerl.« »Wer weiß«, meinte der FBI‐man, während er sich mit der Rechten das Kinn rieb. Da trat der alte Webster an ihn heran und knurrte: »Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung ist.« »Mit wem?« Ness blickte sich nach dem Platzwart um. »Mit Lipman.« »Wieso? Glauben Sie, daß er hier dahinter steckt?« »Hier – hinter all den Morden steckt er, sage ich Ihnen. Verlassen Sie sich darauf. Der Kerl taugt nichts. Ich habe es längst gewußt. Er ist mir schon immer verdächtig 229
gewesen. Wer weiß, was er mit dem Girl vorhin im Keller tatsächlich vorhatte.« »Sie glauben, daß er erst hier die Frau umgebracht hat und dann mit einem anderen Mädchen in Ihren Keller gekrochen ist?« »Dem traue ich alles zu. Noch ganz andere Dinge traue ich dem zu!« keuchte der Alte erregt. Obgleich Eliot Ness Websters Ansicht nicht teilte, machte er den Polizeileutnant auf Johnny Lipman aufmerksam. Der siebenunddreißigjährige Hilfsplatzwart Lipman wurde sofort von einem Polizeiaufgebot gesucht. Als Cassedy und Ness dann draußen auf der Straße standen, fing es an zu regnen, und zwar wie mit Bindfäden. Cassedy hatte seinen erloschenen Zigarrenstummel noch im Mundwinkel, als er sagte: »Also dieser Lipman.« Ness winkte ab. »Ich glaube das nicht. Ich habe vielmehr das Gefühl, daß der Alte auf ihn eifersüchtig ist. Vielleicht ist Lipman auf Websters Posten scharf.« Die nächste Überraschung war die, daß Johnny Lipman nirgends gefunden werden konnte, weder bei sich zu Hause noch in den Schenken der Umgebung. Wenige Minuten vor zwölf kehrte Eliot Ness noch einmal allein mit seinem Wagen zum Golfplatz zurück. Er ging durch die Anlagen und machte einen Bogen um das Klubhaus, um von der Rückseite heranzukommen. Am gleichen Fenster, an dem der Mörder Finder gestanden hatte, stand jetzt der FBI‐man und blickte in den Schankraum. Was er da sah, ließ ihn starr 230
stehenbleiben. Drüben an einem der dunklen Tische hockte ein Mann, hatte den Kopf auf beiden Armen liegen und schien zu schlafen. Neben ihm blinkten in dem diffusen Licht, das durch die Fenster in den flachen, langgestreckten Raum drang, mehrere Flaschen. Der Inspektor nahm die Colt‐Automatik aus der Tasche und klopfte damit gegen eine der Scheiben. Der Mann drüben am Tisch rührte sich nicht. Da wiederholte der Inspektor sein Klopfen. Als auch jetzt keine Antwort kam, zertrümmerte er die Scheibe, öffnete das Fenster, stieg ein und hatte den Mann am Tisch noch nicht ganz erreicht, als der urplötzlich hochsprang und dem Inspektor entgegenhechtete. Es war nur ein kurzer, steif angewinkelter Haken, der krachend gegen sein Jochbein prallte, und der Mann sackte mit einem ächzenden Laut zusammen. Ness zerrte ihn vom Boden hoch, preßte ihn gegen einen der Tische und schickte ihm den scharfen Lichtstrahl der Lampe ins Gesicht. Es war Johnny Lipman. Ness war nicht sonderlich erstaunt darüber. Er ließ die Lampe über den Tisch gleiten und packte den Mann dann am Arm, um ihn zum Eingang zu zerren. Lipman torkelte vor ihm her, mußte sich immer wieder an der Wand abstützen und wäre sicher an der Tür gestürzt, wenn der Inspektor ihn nicht aufgefangen hätte. Dann aber riß er sich plötzlich los und sprintete 231
davon. Er war keineswegs betrunken, das hatte Ness schon vorhin gemerkt. Mit langen Tigersätzen folgte der Inspektor ihm über den weiten Vorplatz des Klubgebäudes, fast hatte er ihn erreicht, da schlug Lipman plötzlich einen Haken nach links. Ness stoppte, wandte sich in die neue Richtung – und wäre um ein Haar in eine Sprunggrube gestürzt. Lipman hatte ihn mit größter Raffinesse dahin gelotst. Ness konnte sich eben noch zur Seite werfen, sprintete weiter, und jetzt hatte er den anderen erreicht, riß ihn nieder und preßte ihn an die Erde. Lipman machte noch einen verzweifelten Versuch, durch einen Beinstoß freizukommen, aber ein schwerer Faustschlag gegen seine Schläfe warf ihn besinnungslos zur Seite. Keuchend richtete sich der Inspektor auf und schlug sich den nassen Sand aus den Beinkleidern. Dann nahm er Lipman die gelbe Klubmütze vom Kopf, brachte sie an eine Wasserpfütze, füllte sie und goß ihm das kühle Naß übers Gesicht. Der kam zu sich, duselte etwas vor sich hin, zog sich auf die Ellbogen und starrte den großen Mann, der im Dunkel vor ihm stand, entgeistert an. »Verflucht«, stieß er hervor. »Stehen Sie auf, Lipman.« »Verdammt, was wollen Sie von mir?« »Weshalb sind Sie ins Klubhaus zurückgekommen?« »Weil ich nicht nach Hause gehen kann.« 232
»Weshalb können Sie nicht nach Hause gehen?« »Ich habe meine Miete nicht bezahlt, wenn Sie es genau wissen wollen«, krächzte der Mann, während er den Kopf abwandte und die Hände hinten in die Hose schob. Trotz der kühlen Jahreszeit trug er nur seine blaue Jeansweste, auf der hinten die Initialen des Hickory Hills‐Clubs zu sehen waren. »So, Ihre Miete haben Sie nicht bezahlt. Ich weiß, daß Sie sich jetzt nicht mehr wundern werden, wenn ich Sie frage, weshalb Sie das nicht getan haben.« »Weil ich kein Geld habe.« »Und weshalb haben Sie kein Geld? Sie verdienen doch hier ganz ordentlich, wie ich gehört habe.« »Ganz so ordentlich ist das nicht. Der Alte, der verdient genug. Aber ich nicht.« »Ah, scharf auf seinen Posten, was?« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Inspektor.« »Dann will ich Ihnen sagen, wovon ich spreche, Johnny Lipman. Vor anderthalb Stunden ist drüben neben dem Eingang im Gebüsch die Leiche einer Frau gefunden worden.« »Eine Frau? Ellie?« stieß er entgeistert hervor. Eliot richtete den scharfen Lichtschein der Lampe erneut auf das Gesicht des Golfplatzhelfers. »Ist sie – tot? Aber das ist doch nicht möglich, ich habe sie doch bis auf die Straße begleitet und bin dann drüben hinter den Gittern entlang zum Golfplatz gelaufen. Als ich sah, daß Sie sich vom Haus entfernten, bin ich zurückgekommen.« 233
»Und wollen Sie mir auch sagen, wie Sie hereingekommen sind?« »Sie haben doch gesehen, daß der Eingang offen war.« »Ja, als wir beide jetzt rausgingen, da war er offen. Aber als wir ihn vorhin verließen, hat Mr. Webster abgeschlossen.« »Ja, ja, ich habe einen Schlüssel.« Er griff nach seiner gelben Mütze mit dem großen Schild, spürte, daß sie naß war, und schleuderte sie wütend von sich. »Sie haben sich also einen Nachschlüssel anfertigen lassen.« »Ja. Aber jetzt sagen Sie mir, was mit Ellie ist.«, »Sprechen Sie von dem Mädchen, mit dem Sie unten im Keller waren?« »Ja, von wem denn sonst?« »Es ist nicht die Frau, die ich in dem Gebüsch gefunden habe. So, und jetzt kommen Sie mit, Lipman. Ihre Frau wird auf Sie warten.« »Aber, Inspektor, ich – ich verstehe Sie nicht. Sie glauben doch nicht etwa, daß ich etwas mit der Sache zu tun habe.« Er streckte plötzlich den rechten Zeigefinger aus und deutete zu den Gerätehäusern hinüber. »Da sollten Sie sich lieber mal um Webster kümmern. Der Bursche hat es faustdick hinter den Ohren. Der steigt hier die halbe Nacht durchs Gebüsch. Wer sagt Ihnen, daß er es nicht gewesen ist? Der alte Lustmolch ist seit dem Mord an Ruth Forrester noch völlig aus dem Häuschen. Ich könnte mir vorstellen, daß der so etwas ganz gern mal nachmachen würde. Sie sollten ihn mal sehen, wenn 234
im Sommer die Girls hier…« »Kommen Sie mit, Lipman«, unterbrach ihn der Inspektor mit schroffer Stimme. »Ja, ja, ich komme schon. So ist das also. Jetzt hat er nicht nur Ruth Forrester gekillt, der alte Schurke, sondern auch noch eine andere Frau. Ich wüßte bloß gern, wer sie gewesen ist. Weiß man es schon?« Der Inspektor gab ihm keine Antwort. »Ich wette, daß es der Alte gewesen ist, diese elende Ratte, dieser Schnüffler; hinter jedem Weibsbild ist er her. Wenn hier im Sommer die Frauen im Restaurantbetrieb aushelfen, da schleicht er immer hinter ihnen her. Einmal hab’ ich ihn mit Sarah Corter überrascht, wie er mit ihr in einem der Gerätehäuser verschwand…« Ganz weit war jetzt jeder Verdacht von Robson Finder entfernt. Die achtundzwanzigjährige Ehefrau Mabel Sonthous war auf dem Weg zu ihrem Liebhaber gewesen, als der Mörder sie überfallen hatte. Und der Liebhaber der Ehefrau Mabel Sonthous war der fünfundfünfzigjährige Garagenbesitzer Jeffrey Brown, der Mabels Mann, den neunundzwanzigjährigen Gene Sonthous, als Fernlastfahrer beschäftigte. Es war eine tödliche Laune des Schicksals, die die ungetreue Ehefrau da auf einem Seitenweg ihres Lebens so furchtbar überrascht hatte. Noch in der gleichen Nacht tauchte der Inspektor, der in der Nachbarschaft der Ermordeten von einer Frau etwas über das Verhältnis zu Jeffrey Brown erfahren 235
hatte, an der Garage auf und holte den Besitzer aus dem Bett. Jeffrey Brown war ein etwas dicklicher, aber recht gut aussehender Mensch mit kahlem Schädel und einem freundlichen Wesen. Er war zu Tode entsetzt, als er von dem Inspektor erfuhr, um was es sich handelte. Dann gab er zu, mit Mrs. Sonthous seit zwei Jahren ein Verhältnis zu unterhalten. Mit gesenktem Kopf stand er da, krampfte die Hände um die Lehne eines Sessels und starrte vor sich hin. »Well, ich habe heute nacht auf sie gewartet, und sie kam nicht. Als ich daheim bei ihr anrief, war sie nicht da.« Der Inspektor ersparte sich die Frage nach dem Ehemann. Er konnte sich denken, daß Brown diesen weit weg wußte, wenn er sich mit dessen Frau traf. »In wenigen Minuten wird die Polizei hier sein, Mr. Brown.« »Und?« stammelte der Garagenbesitzer. Der Inspektor zog die Schultern hoch. »Es wird Ihnen wohl kaum erspart bleiben, die Polizisten zu begleiten.« Wer hatte Mabel Sonthous getötet? Sowohl die Polizei als auch Inspektor Cassedy neigten zu der Ansicht, daß hier ein zweiter Triebverbrecher am Werk war, der den anderen imitierte. Aber Eliot Ness schüttelte den Kopf. Für ihn stand es fest, daß hier ein und dieselbe »Handschrift« geschrieben 236
worden war. Und er irrte sich nicht. Es war Robson Finder gewesen, der in dieser Nacht wieder den Weg zum Golfklub genommen hatte. Mabel Sonthous war auf dem Gang zu ihrem Liebhaber gewesen, als er ihr ganz in der Nähe des Eingangs zu den Klubanlagen begegnete. Wie ein Rausch war es über ihn gekommen. Er hatte sie angefallen und gegen den weißen Zaun gedrückt, der die ganzen Anlagen umgab. Ehe die wie gelähmt Dastehende einen Laut über die Lippen bringen konnte, hatte er ihr die Rechte auf den Mund gepreßt, den Kopf gegen die mannshohen Holzlatten gedrückt und mit der Linken zu seinem tödlichen Hieb ausgeholt. Der starke Kamelhaarmantel mußte ihn dabei gestört haben. Der untere Knopf fehlte. Wahrscheinlich hatte der Mörder den Mantel aufgerissen. Die Tote hatte schon in dem Gebüsch gelegen, als der Inspektor mit seinem Begleiter zu den Anlagen hinauskam. Daß Ness die Schleifspur nicht gleich bei seinem Kommen bemerkt hatte, lag an dem alten Platzwart, der ihnen auf dem Weg entgegengekommen war und Eliots Aufmerksamkeit voll in Anspruch genommen hatte. John F. Webster, dreiundsechzig Jahre alt, geboren in Cicero, Chicago. Der Inspektor saß noch um drei Uhr in seinem Büro und studierte die blauen Zettel, die auf seinem Schreibtisch eingetroffen waren. Der Nachtdienst arbeitete auf vollen Touren. 237
* Sechs Tote – die makabre Bilanz des Mörders wuchs – und noch ein weiterer Mensch sollte seinem fürchterlichen Trieb zum Opfer fallen. In der Frühe des nächsten Morgens wurde der Inspektor von einer üblen Überraschung begrüßt. Als er nämlich auf die Straße trat und an einem Zeitungsverkäufer vorbeikam, sah er auf der Titelseite der Chicago News die Schlagzeile: Mr. CHICAGO auf Abwegen! Es war niemand anders als sein alter »Freund« Rufus Matherley, der hier wieder zum Schlag gegen ihn ausgeholt hatte. Irgendwie mußte der alte Fuchs Wind davon bekommen haben, daß Eliot Ness sich in den Fall eingeschaltet hatte. Der Artikel, den der berühmte Kriminalreporter da in den Morgen der Weltstadt schleuderte, hatte es jedenfalls in sich. Kein Wort dagegen über die Machenschaften eines gewissen Al Capone. War Rufus Matherley von dem schillernden Clan‐Chef etwa geschmiert worden? Ausgewogene Berichterstattung sah auf alle Fälle anders aus. Und das Netz, das Al Capone bereits zu diesem Zeitpunkt in der Gangsterwelt spannte, war es bestimmt wert, journalistisch näher verfolgt zu werden. Schon kurz nach neun wurde Ness aus Washington angerufen. Obgleich er davon überzeugt war, daß man im Amt A I über den Artikel Matherleys bereits im Bilde 238
war, wurde er überhaupt nicht angesprochen, denn der Anruf des Generalsekretärs bezog sich lediglich auf Dutch Lemberg. Cassedy, der gerade im Zimmer war und durch den Lautsprecher die Stimme des Generalsekretärs mithören konnte, stellte mit größtem Unbehagen fest, daß Eliot Ness in eisiger Ruhe erklärte: »Ich werde nach New York fliegen, nur im Augenblick gibt’s hier etwas Wichtigeres für mich zu tun.« »Gibt es Wichtigeres zu tun, Mr. Ness, als sich um Dutch Lemberg zu kümmern?« »Ja, Mr. Miller«, versetzte Eliot Ness, und gleich darauf hängte er ein. Das Unbehagen war in Cassedy fast bis zur Unerträglichkeit gestiegen. »Entschuldigen Sie, Boß«, meinte er jetzt, »aber ich glaube…« »Ich weiß, was Sie glauben, Pink. Aber tun Sie mir einen Gefallen, gehen Sie nach Hause und schlafen Sie erst mal ein paar Stunden.« Er hatte ja selbst nicht geschlafen, der zähe Ness – und deshalb dachte Pinkas Cassedy auch nicht im Traum daran, sich aufs Ohr zu legen. Er blieb im Büro. Es war nicht leicht, eine Spur des Aufschlitzers zu finden. Der Mann arbeitete mit einer traumhaften Raffinesse und einer tödlichen Sicherheit. Nirgends hatte er auch nur die kleinste Handhabe hinterlassen, die auf ihn hätte weisen können. Zwar waren mehrfach Schuhspuren gefunden worden, aber sie 239
waren überall so undeutlich, so verschwommen und vom Regen verwischt, daß sie keinen brauchbaren Hinweis mehr boten. Die Fingerabdrücke, die man genommen hatte, halfen auch nicht weiter, da sie teils verwischt und im übrigen in keiner Kartei der Welt verzeichnet waren. Eliot Ness mußte befürchten, daß das Beispiel des »Schlächters von Hickory Hills«, wie er in der Tagespresse bereits genannt wurde, Schule machen könnte. Denn Greueltaten dieser Art fanden in einer Weltstadt leider Gottes immer wieder Nachahmung. Zu oft hatte sich das schon erwiesen. Der Tod von Mabel Sonthous kam für Eliot Ness auf das Konto des gleichen Mannes, der Lester, Jackson, die Turger, Ruth Forrester und Dorothy Finder getötet hatte. Aber die Gefahr, daß die Aufschlitzmorde jetzt Nachahmer finden könnten, brachte eine große Schwierigkeit für die Polizei mit sich: Sie würden zwangsläufig die Spur des echten Mörders verwässern, weil es dann zu viele Spuren gab. Aber noch ein siebenter Mensch sollte das Opfer des Wahnwitzigen von den Hickory Hills werden! Immer wieder trieb es den Verbrecher in die kalte Dezembernacht hinaus. Es war am Silvesterabend, als er unten im Stadtteil Alsip in der Nähe der Lane School in einer einsamen Straße die neunzehnjährige Jane Holbom sah. Sie erinnerte ihn mit ihrer Figur an Ruth Forrester. Finder hatte in seinem Wagen gesessen und seit einer ganzen Weile die Straße beobachtet. Da vor und hinter 240
ihm auch Autos standen, in denen sich aber niemand befand, wie er sich überzeugt hatte, fiel er hier mit seinem Wagen nicht auf. Übrigens hatte er den Chevrolet nach dem Mord an Ruth Forrester einer so gründlichen Reinigung unterzogen, daß selbst den Argusaugen der Spezialisten vom FBI nichts daran hatte auffallen können. Eliot Ness hatte diese natürlich beordert, alles, was mit Finders in Berührung gekommen war, einer scharfen Prüfung zu unterziehen. Und das FBI untersuchte sehr gründlich! Es war zu diesem Zeitpunkt geradezu schon ein Wunder, daß von dem Mörder nicht die geringste Spur zu finden war. Später vermochte es niemand mehr zu begreifen, wie das überhaupt möglich war. Es konnte einem Mann vielleicht bei einem einzelnen Mord, den er mit sehr viel Vorbedacht geplant hatte, gelingen, sämtliche Fährten zu verwischen; aber selbst das war schon sehr schwierig. Wie es aber einem Mörder möglich sein konnte, sieben Menschen umzubringen, ohne dabei die geringste greifbare Spur, die auf ihn wies, zu hinterlassen, das verstand niemand. Das Teuflische dabei war, daß Robson Finder sich nicht einmal sonderliche Mühe gegeben hatte, alle Spuren zu beseitigen. Jedenfalls am Anfang nicht. Später hatte er dann mit der Säuberung des Kofferraumes schon gründlichere Arbeit geleistet. Jane Holbom kam mit ihrem neuen Fahrrad, das sie zu Weihnachten von ihren Eltern bekommen hatte, die Straße heruntergefahren. Sie liebte es nicht sehr, durch 241
diese abgelegenen Gegenden und Straßen zu fahren, in denen nur selten eine Laterne einen kleinen Lichtkreis warf; aber sie konnte dadurch ein ganzes Stück Weg abschneiden. Sie wollte hinauf in die 122. Straße, wo sie von einer Freundin erwartet wurde, mit der sie nach Hazel Green fahren wollte, um bei gemeinsamen Bekannten den Silvesterabend zu verbringen. Jane Holbom sollte ihr Ziel nicht mehr erreichen. Kaum hatte sie den Wagen passiert, als der Mann heraussprang, ihr folgte und sie wie ein Raubtier an die Erde riß. Aber der siebente Anschlag des Wahnwitzigen von Hickory Hills sollte nicht in gewohnter Weise glücken. Zwar war das Mädchen hart auf den Boden aufgeschlagen, sprang aber gleich wieder hoch, und als es in der linken Hand des Mannes das Messer blitzen sah, schlug es instinktiv die kleine, hartlederne Handtasche, die es um das rechte Handgelenk hängen hatte, nach vorn und traf Finder hart seitlich am Kopf. Er wich benommen einen Schritt zurück, sprang dann wieder vor und stürzte sich auf die Strauchelnde. Noch einmal wurde er von der Handtasche am Kopf getroffen. Vielleicht hätte er mit seinem Skalpell weniger leichte Arbeit gehabt, wenn das unglückliche Mädchen nicht ausgerechnet ein verhältnismäßig leichtes Kostüm für den Silvesterabend angelegt hätte. Der dunkle Mantel stand offen, und das scharfe Messer zog über den gelben Satin eine blutige Spur. Ein gellender Schrei brach durch die Nacht, aber Jane 242
Holbom, die seit einer Reihe von Jahren einem Sportverein unten in Crestwood angehörte, verteidigte ihr Leben mit der Kraft der Verzweiflung, schlug dem Mann jetzt mit beiden Händen gegen die Brust, vermochte ihn zurückzudrängen und sprang trotz ihres wahnsinnigen Schmerzes zu ihrem Fahrrad, mit dem sie flüchtete. Finder starrte hinter ihr her, rannte dann zu seinem Wagen, sprang hinein und, anstatt ihr zu folgen, wendete er das Fahrzeug und jagte mit pfeifenden Pneus in die entgegengesetzte Richtung davon. Nicht allzuweit von der Stelle entfernt, an der er gewendet hatte, stand der neunundfünfzigjährige Joseph Lincoln, dem das pfeifende Geräusch des Wagens an die Nerven ging. »Idiotischer Silvesterscherz«, krächzte der Mann vor sich hin und – setzte seinen Weg zur nächsten Schenke fort. Jane Holbom hatte die Costnerstreet hinter sich gebracht, zog schwankend eine Kurve bis in die nächste Straße, wo sie vor einer kleinen Schenke vom Rad stürzte. Sie richtete sich wieder auf und torkelte zum Entsetzen der Menschen blutüberströmt in die Summer‐ Bar. Mit leichenblassen Gesichtern sahen die Menschen, die hierhergekommen waren, um einen frohen Abend zu verbringen, die Verblutende. Ein Mann fing sie auf und trug sie in den Nebenraum, wo die Wirtin sie auf ein Sofa niederlegte. 243
Es war ein wahrer Glücksumstand, daß im Nachbarhaus ein Arzt wohnte, der sofort kam und zu seinem grenzenlosen Schrecken die entsetzliche Schnittwunde entdeckte, die sich von der rechten Leiste bis hinauf über den Nabel zog. Eliot Ness erhielt die Nachricht schon kurze Zeit später. Als er mit dem Streifenwagen eintraf, blickte die unglückliche Jane Holbom ihm aus glasigen Augen entgegen. Sie hatte keine Schmerzen mehr. Der Arzt hatte sie ihr genommen. Aber sie hatte auch keine Chance mehr. Sie lag im Sterben. Obgleich es ihm bitter ankam, trat der Inspektor an ihr Lager heran, kniete sich neben ihr auf den Boden und fragte mit leiser Stimme: »Kannten Sie den Mann?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »War es ein junger Mann?« Jane versuchte verzweifelt, die Schultern hochzuziehen. Der Arzt trat an den FBI‐Mann heran. »Es hat doch keinen Zweck, Inspektor.« Winzige Schweißperlen standen auf der Stirn des G‐ man. Diese Frau war der einzig lebende Zeuge, der mit dem gefährlichen Gangster zusammengekommen war. Mit einem Mann, der seit einer ganzen Reihe von Tagen durch die Weltstadt geisterte und sieben Menschen gerissen hatte, als wäre er ein Raubtier. Eliot Ness sah, daß die Frau in den letzten Zügen lag. Er wollte sich 244
aufrichten und seine Fragen einstellen, aber war er nicht verpflichtet, alles zu tun, um die Menschheit vor dem mordenden Raubtier zu schützen? »Haben Sie Schmerzen, Miß?« Das Mädchen schüttelte leicht den Kopf. »Dann verhalten Sie sich nur ruhig, Sie werden es schon überstehen. Es ist nicht so schlimm, sagte mir der Doktor. – Vielleicht könnten Sie uns doch etwas helfen, Miß Holbom. Antworten Sie mir einfach mit einer Kopfbewegung auf meine Fragen. War es ein kleiner Mann?« Sie schüttelte den Kopf. »Ein großer?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Also ein mittelgroßer Mann. Ob er dunkel oder blond war, konnten Sie nicht sehen?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Kam er in einem Wagen?« Das Mädchen nickte. »Er sprang Sie aus einem Wagen an?« Wieder nickte Jane Holbom. »Den Typ des Wagens kannten Sie nicht? Wahrscheinlich war es viel zu dunkel in der Straße.« Wieder schüttelte Jane den Kopf. Der Arzt, der hinter dem Inspektor stand, krampfte die Hände zusammen. Er wußte ja, um was es ging. Er wußte, weshalb der Mann da vor ihm das sterbende Mädchen mit seinen bohrenden Fragen quälte. Als Eliot seine nächste Frage aussprechen wollte, sah er ein Zucken in den Augen der 245
Sterbenden. Er richtete sich auf und nahm den Hut ab. Da schob sich der Arzt rasch an ihm vorbei und beugte sich über die Frau. Es dauerte nur noch wenige Augenblicke, dann hatte die unglückliche Jane Holbom ausgelitten. Und der Teufel von Hickory Hills hatte sich sein siebentes Opfer geholt! * Der Inspektor verpflichtete die Anwesenden – den Arzt, die Wirtin und den Mann, der die Frau hereingebracht hatte, den Tod des Mädchens geheimzuhalten. Es war selbstverständlich, daß die drei anwesenden Polizisten schweigen würden. Über Pinkas Cassedy brauchte man in dieser Hinsicht kein Wort zu verlieren. »Wir haben vielleicht eine Chance, eine winzige Chance, den Täter anzulocken. Diese Chance wäre die Behauptung, daß Jane Holbom noch lebt.« »Um Himmels willen«, krächzte der Arzt da neben ihm, »das ist doch nicht Ihr Ernst, Mr. Ness.« »Doch, es ist mein Ernst«, entgegnete der Inspektor rauh. »Es ist die einzige Chance; und die tote Jane Holbom muß uns dazu verhelfen.« »Und wie lange wollen Sie diese Lüge aufrechterhalten?« versuchte der Arzt aufzubegehren. »Solange es nötig ist, Doc.« »Das werden ihre Eltern kaum mitmachen.« »Ich muß es darauf ankommen lassen.« 246
Die Adresse des Mädchens war rasch ermittelt. Sie hatte in ihrer Handtasche einen Ausweis, und Eliot Ness war eine Viertelstunde später vor ihrem Haus. Es war ein großes Etagenhaus unten in der Kilpatrick Avenue in Crestwood. Auf der vorletzten Etage des siebengeschossigen Baues fand der Inspektor an der Tür das Namensschild der Familie Holbom. Er drückte auf den Klingelknopf und hörte einen schlurfenden Schritt im Gang. Gleich darauf stand ein Mann in den Fünfzigern mit angegrautem Haar und hagerer Gestalt vor ihm. Er trug eine Krawatte, ein weißes Hemd und einen dunklen Anzug – weil Silvester war. »Entschuldigen Sie die Störung, Mr. Holbom, ich muß einen Augenblick mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Ness, ich bin –« Da zog der Mann die Brauen zusammen und hob die linke Hand bis in Schulterhöhe. »Ness? Eliot Ness?« »Ja«, entgegnete der Inspektor und war wieder erstaunt, daß ihn jemand erkannte. »Ich habe Ihr Bild in den vergangenen Monaten in den Zeitungen gesehen und – aber um Himmels willen, weshalb kommen Sie her?« »Es handelt sich um Ihre Tochter.« Der FBI‐Mann hatte es so leise wie möglich gesagt, und dennoch hatte die Frau, die jetzt im Hintergrund des Korridors auftauchte, seine Worte gehört. Sie mußte sich vor Schreck an die Wand stützen, und ihre Linke tastete 247
nach dem Herzen. »Jane, was ist mit ihr?« stammelte sie. Der Inspektor trat in den Korridor und schob die Tür hinter sich zu. Er hatte den Hut in beiden Händen und blickte die Frau fest an. »Es ist eine schwere Aufgabe für mich, Ihnen die Botschaft zu überbringen, Mrs. Holbom, daß Ihre Tochter einen Unfall hatte.« »Einen Unfall! Um Gottes willen!« Die Frau kam schreiend heran. »Sagen Sie die Wahrheit, Inspektor! Sie ist tot! Jane ist tot! Es ist ihr etwas passiert – was ist ihr passiert? Ist sie überfahren worden?« »Nein, sie ist nicht überfahren worden«, sagte Holbom da und blickte auf den Inspektor. »Wenn sie nämlich überfahren worden wäre, käme ein Polizist und nicht der FBI‐Inspektor Eliot Ness in unser Haus.« Es war also doch ein Fehler, daß er gekommen war. Er hätte einen der Polizisten schicken sollen. Wie wollte er diesen Leuten, die den lähmenden Schrecken kaum zu verwinden vermochten, wie wollte er ihnen die Genehmigung abringen, den Tod ihrer Tochter zu verschweigen? Er brauchte eine volle Stunde dazu, um wenigstens den Mann für sich zu gewinnen. »Ich weiß, wie schwer es Ihnen fällt, Mr. Holbom«, sagte er. »Aber ich bitte Sie inständig, mir die Erlaubnis zu geben, den Tod Ihrer Tochter noch geheimzuhalten. Nur so haben wir eine Chance, weitere Untaten zu verhüten…« 248
Endlich nickte der Mann müde. »Meinetwegen.« Als die völlig zusammengesunkene Frau jetzt aus dem Sessel aufblickte und noch einmal aufbegehren wollte, begütigte sie der Mann, indem er beruhigend auf sie einsprach. »Laß nur, Mutter, Mr. Ness hat recht. Vielleicht ist es wirklich eine Chance, dieses Untier zu stellen. Er wird sonst noch mehr Menschen töten, noch mehr Mütter zur Verzweiflung bringen…« Die Holboms gaben ihr Einverständnis – und Eliot Ness gab per Funk die Nachricht weiter. Die Presse erhielt sie noch in der gleichen Stunde: Unten in Alsip ist die neunzehnjährige Jane Holbom von dem Aufschlitzer überfallen und schwer verletzt worden. Sie liegt mit lebensgefährlichen Verletzungen im Haus ihrer Verwandten. Wo dieses Haus lag, das hatte Eliot Ness ganz genau bestimmt. Es war ein kleines Haus, das südwestlich vom Tinley Creek in der Nähe der Ridgeland Avenue stand – ein kleines, zweigeschossiges Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende. Es gehörte einem Fotografen namens Porter, den Eliot Ness irgendwo einmal kennengelernt hatte. Er erinnerte sich jetzt an das Haus und suchte Porter sofort auf. Der war mit dem Plan augenblicklich einverstanden und sicherte absolute Verschwiegenheit zu. So war denn das Haus, in dem die angeblich noch lebende Jane Holbom lag, bekannt geworden. Ness hatte dafür gesorgt, daß ein einigermaßen intelligenter Mensch 249
das Haus leicht finden konnte. Weil das Mädchen sich noch in Lebensgefahr befände, so hatte er mitteilen lassen, habe man es nicht nach Hause bringen können, sondern bei seinen Verwandten in der Ridgeland Avenue untergebracht. Eliot Ness hatte eine Falle gestellt. Am nächsten Abend, als er mit Cassedy aufbrach, um hinaus nach Alsip zu fahren, wurde er wieder durch ein Telefonat aufgehalten. Es war erneut der Generalsekretär vom Amt A I in Washington. Er war sehr kurz angebunden und teilte dem jungen Inspektor Ness mit, daß er sich unverzüglich persönlich um den vermutlich in der Bronx untergetauchten Marihuanahändler Dutch Lemberg zu kümmern hätte. »All right, Mr. Miller. Es ist bald soweit.« »Bald soweit«, giftete der hohe Beamte durch den Draht zurück. »Hören Sie, Ness, wenn Sie glauben, daß Sie da drüben die Puppen nach Belieben tanzen lassen können, dann haben Sie sich geirrt. Das ist bei uns nicht drin. Auch ein Chefinspektor hat sich nach den Instruktionen zu richten, die er aus Washington erhält. Hoffentlich wissen Sie, was das zu bedeuten hat.« »Durchaus, Mr. Miller«, entgegnete Ness und drückte den Hörer auf die Gabel. Cassedy fuhr sich unbehaglich durch den feucht gewordenen Kragen. »Damned, Chef, wenn das Ding man nicht schiefgeht!« »Meine Sorge. Im übrigen habe ich Nachricht von O’Connor bekommen, daß er einen Mann beschattet, den er im Verdacht hat, mit Lemberg in Verbindung zu 250
stehen. Das ist schon eine Menge wert. Mehr hätten wir höchstwahrscheinlich auch nicht geschafft.« Obgleich dies so sein konnte, war der Inspektor Pinkas T. Cassedy davon nicht so ohne weiteres überzeugt. Denn offensichtlich hielt nicht nur er diesen Eliot Ness für einen überdurchschnittlich begabten G‐man. * Das große Warten in der Nähe der Falle dauerte bis drei Uhr in der Nacht. Dann ließ Eliot Ness sieben seiner Beamten abziehen und blieb allein mit Pinkas Cassedy zurück. Aber der Mann, auf den sie warteten, kam nicht. Und Eliot Ness brannte es auf den Nägeln: er mußte nach New York. Das war das eine. Das andere war, daß Rufus Matherley spätestens nach vierundzwanzig Stunden merken würde, daß es mit der »noch lebenden« Jane Holbom nicht ganz stimmte. Ein Mann wie Matherley brachte alles heraus. Trotzdem blieb der »Norweger« eisern. »Wir werden die gleiche Falle morgen nacht wieder aufstellen«, sagte er, als er im Nieselregen des Morgengrauens langsam die Straße hinunter schlenderte. Auch jetzt hatte er das Haus keineswegs unbewacht zurückgelassen. Denn Kommissar Lock blieb zusammen mit Longfield und O’Keefe weiter in unmittelbarer Nähe des Anwesens, um es im Auge zu behalten. 251
Der Tag kroch im Schneckentempo dahin. Bei jedem Telefongerassel zog der Inspektor die Brauen zusammen, da er befürchten mußte, daß es wieder Washington sei. Als es auf Feierabend zuging, rief er Ruth Everett zu sich ins Zimmer. »Passen Sie genau auf, was ich Ihnen jetzt sage, Ruth. Wenn wieder ein Anruf für mich kommt, sagen Sie, daß ich bereits weg wäre.« Das Mädchen nickte und fragte dann mit unsicherer Stimme: »Aber wenn man Näheres wissen will?« »Sie wissen nichts Näheres.« »Es ist gut, Mr. Ness.« »Einen Augenblick noch, Ruth.« Ness erhob sich, trat ans Fenster und sah wieder den unvermeidlichen Friedhof mit seinen trostlosen Gräberreihen vor sich. Mit einem Ruck wandte er sich um. »Es kann sein, daß ich Pech habe.« Das Mädchen schluckte und blieb an der nur angelehnten Tür stehen. Es wußte genau, was der Chef meinte. Jeder im Haus wußte, daß er seit gestern gegen eine Anweisung von Washington handelte. »Ich hoffe nicht, Mr. Ness«, sagte Ruth leise, »und Mr. Cassedy hat vorhin erklärt, daß Sie überhaupt kein Pech haben könnten.« Ein Lächeln stahl sich aus den Augenwinkeln über das Gesicht des Inspektors. »Dann weiß er mehr als ich…« Wieder war die Dunkelheit über die große Stadt 252
hereingebrochen. Millionen Lichter zuckten auf und erhellten eine neue Welt. Chicago zeigte in der Nacht ein anderes Gesicht als am Tag. Es war gemein, brutal, gefährlich… Der Mann, der da am Westrand der Stadt seit einiger Zeit sein teuflisches Unwesen trieb, war ja nur einer der düsteren Elemente, die die Nächte von Chicago so gefährlich machten. Aber der Aufschlitzer aus Hickory Hills war zweifellos einer der bösartigsten Mörder, die dieses Chicago jemals gesehen hatte. Als der Inspektor in die Nähe von Alsip kam, mußte er an einer Straßenkreuzung in der Nähe des Merionette‐ Parks anhalten. Es war an der Kreuzung Morgan Park Avenue und 119. Straße. Rechts war ein hell erleuchteter Kiosk, und der Inspektor überflog von der Straße her die riesigen Schlagzeilen der Abendzeitungen. Plötzlich glaubte er, nicht richtig gesehen zu haben. Auf dem Titelblatt der Chicago News stand in deutlichen Lettern: Der saure Bluff des Eliot Ness! Und im Untertitel war zu lesen: Der große Mr. Chicago will einen Gangster mit einer toten Frau bluffen. Das war Rufus Matherleys Geschoß. Er hatte zurückgeschlagen. Irgendwie hatte er herausgefunden, 253
daß Jane Holbom tot war. Weil ihm das nicht mitgeteilt worden war, sprühte er vor Zorn. »Na«, hörte Ness den dicken Cassedy da gerade neben sich sagen, »vielleicht kommt er ja heute.« Da stieß der »Norweger« seinen Begleiter an. »Werfen Sie mal einen Blick auf die Schlagzeile der Chicago News, Pink.« Cassedys Kopf flog herum. Seine Augen glitten suchend über die neuen Zeitungen. Und dann hatte er die Schlagzeile der Chicago News erfaßt. »Verdammt, dieser Schweinehund!« entfuhr es ihm. »Ja, unser Freund Matherley schläft eben nicht«, versetzte der Inspektor und brachte den Wagen wieder in Gang, da die Ampel auf Grün sprang. Jetzt konnten sie nur noch hoffen, daß der Mörder kein Zeitungsleser war. Aber diese Hoffnung war gleich Null, denn die Einwohner von Chicago waren eine ausgesprochene Zeitungslesergemeinde. Vielleicht die riesigste Gemeinde der Welt in dieser Hinsicht. Seit den Tagen, da Babe Calumet, der Bandenführer unten aus der Doty Avenue am Calumet Lake, die Stadt in Atem gehalten hatte, interessierte man sich in Chicago für das, was die Zeitungen zu berichten hatten. Es war viele Jahre her, seit Babe Calumet die Stadt in Aufruhr gebracht hatte, aber die Chicagoer hatten diese aufregende Zeit nicht vergessen und aus ihr gelernt. Inzwischen waren Eliot Ness und Pinkas Cassedy bei dem Haus angelangt, wo der »Norweger« noch einmal seine Falle gestellt hatte. 254
* Robson Finder durchmaß mit großen Schritten die Wohnstube in dem Haus, in dessen Keller er vor wenigen Tagen seine eigene Tante ermordet hatte. Es war seit diesem Tag etwas Seltsames mit ihm vor sich gegangen. Hatte er anfangs bei den ersten Menschen, die er mit seinem mörderischen Skalpell ins Jenseits befördert hatte, immer noch ein dumpfes Gefühl von Schuld empfunden und ein schlechtes Gewissen mit sich herumgeschleppt, so hatte sich das grundlegend geändert. Vielleicht waren es die bestialischen Taten selbst, die ihn völlig umgeformt hatten. Ein zynischer Zug war in sein sonst immer verschwommenes Gesicht getreten, und seine Augen wurden von einem kalten Glanz beherrscht. Die Morde hatten aus Robson Finder einen anderen Menschen gemacht – einen reißenden Wolf, der sich jetzt bereits eine Freude daraus machte, seine Verfolger an der Nase herumzuführen; den es mit wilder Genugtuung erfüllte, daß nicht nur die gesamte Polizei dieser Stadt, sondern sogar das FBI vergebens nach ihm fahndete. Da wurde die leise Musik, die aus dem kleinen Radio der toten Dorothy Finder in den Wohnraum kam, unterbrochen. Die monotone Stimme des Ansagers drang an das Ohr des Mörders. … konnte mit dem Leben davonkommen. Ob sie ihre schweren Verletzungen jedoch überleben wird, ist mehr als ungewiß. Sie 255
liegt jetzt im Haus… Der Mörder hatte den Schritt verhalten und lauschte mit angehaltenem Atem. Damned, wie hatte er nur vergessen können, die Radionachrichten zu hören! Er war niemals ein großer Freund vom Fernsehen gewesen und hatte den alten Apparat auch deshalb heute nicht angestellt. Aber die Radionachrichten, die mußte man hören! Was er da erfahren hatte, war ja mehr als wichtig für ihn. In Sekundenschnelle hatte er Hut und Mantel an sich gerafft und war draußen im Vorgarten. Hier allerdings verlangsamte er seinen Schritt, ließ alle Hast beiseite und ging auf seinen Chevrolet zu. Als er hinterm Steuer saß, war eisige Ruhe in ihm eingekehrt. Langsam ließ er den Wagen hinunter nach Alsip rollen. Als er sich der genannten Straße näherte, dachte er jedoch nicht daran, etwa auszusteigen, sondern fuhr weiter – und zwar so langsam, daß er die Häuser links und rechts, die hier nur vereinzelt in ihren kleinen Gärten standen, genau beobachten konnte. Da entdeckte er drüben auf der linken Straßenseite ein kleines zweigeschossiges Haus, das hinter hohem Buschwerk lag. Das mußte es sein! Er hatte seine Fahrt unmerklich so verlangsamt, daß er jäh erschrak, als plötzlich vor ihm auf der Straße rotes Licht aufblitzte. Instinktiv trat er die Bremsen so scharf durch, daß 256
Finder fast mit dem Kopf über das Steuerrad an die schräge Windschutzscheibe gestoßen wäre. Der Motor war abgewürgt worden. Immer noch stand vorn das grelle Licht auf der Straße und blendete ihn. Polizei! hämmerte es in seinem Schädel. Ich bin in eine Falle geraten! Mit glasklarer Deutlichkeit begriff er, was geschehen war. Da trat auch schon links an den Wagenschlag ein Mann heran, der eine Taschenlampe in der Hand hielt. Finder griff nach der Fensterkurbel. Da aber hatte der Mann schon die Tür geöffnet. »Polizei. Würden Sie sich bitte ausweisen.« »Ausweisen?« stotterte Finder. Aber dann hatte er sich gefangen. Der Gedanke, der urplötzlich durch sein Hirn schoß, war überwältigend. »Was heißt hier ausweisen, Mann. Ich suche Inspektor Ness, und da ich annehme, daß Sie zu seinen Leuten gehören, möchte ich Sie bitten, mich unverzüglich zu ihm zu führen.« Der FBI‐Agent Joseph Lock blickte den Mann verblüfft an. Er hatte ihn augenblicklich erkannt. Es war niemand anders als Robson Finder. Zwar gehörte Finder für die Leute vom FBI bis zu dieser Stunde nur zum Kreis derjenigen, die mit den Morden irgendwie in Berührung gekommen waren und Lock war nicht der Mann, der sich über die Dinge keine Gedanken machte. Auch er hatte schon über diesen Finder nachgedacht. Er war allerdings dabei zu keinem sonderlich positiven Ergebnis gekommen: Zu wässerig, zu nichtssagend war dieser 257
Robson Finder ihm gewesen. Und jetzt tauchte er plötzlich hier vor dem Haus auf, vor dem Eliot Ness seine Falle gestellt hatte. »Ja, das werde ich tun«, sagte er sofort, und wartete, bis Finder ausgestiegen war. Als sie auf den Bürgersteig zugingen, um sich dem Gartentor zu nähern, bemerkte Finder, daß ihm noch zwei Männer folgten, und vorn am Zaun sah er eine weitere Gestalt aus dem Dunkel auftauchen. Er schluckte. Glühend heiß stieg es ihm in die Kehle. Er war keineswegs davon überzeugt, daß der große Bluff, zu dem er da eben ausgeholt hatte, gelingen könnte. Ganz im Gegenteil hatte er das todsichere Gefühl, verloren zu sein. So wurden seine Schritte, als sie sich dem Hause näherten, immer langsamer. Joseph Lock war schon einige Schritte vor ihm, blieb stehen und sah sich nach ihm um. Da wurde drüben die Haustür geöffnet. Finder sah sofort, daß der hochgewachsene, schlanke Mann, der im Türrahmen auftauchte, Eliot Ness war. Lock trat auf ihn zu und sagte mit halblauter Stimme: »Mr. Finder ist hier. Wir haben ihn auf der Straße angehalten.« »Moment mal, das stimmt nicht, Mann«, protestierte Finder sofort, wobei er sich dazu aufraffte, eine möglichst klare und sichere Stimme hören zu lassen. »Ich fuhr sehr langsam, da ich nicht genau wußte, wo ich Sie finden konnte, Inspektor; und außerdem möchte ich Sie bitten, Mister, dem Inspektor zu sagen, was ich Ihnen sofort 258
erklärt habe.« Eliot Ness blickte Joseph Lock schweigend an. Der stieß sich den Hut aus der Stirn und sagte, während er die Hände hinter den Gürtel seines Trenchcoats schob: »Mr. Finder erklärte, daß er zu Ihnen geführt werden wollte.« »Und zwar unverzüglich!« setzte Finder mit scharfer Stimme hinzu. Es war einen Moment still vor dem kleinen Haus. Der »Norweger« blickte in das vom schwachen Lichtschimmer nur matt beleuchtete Gesicht Finders. Dann nickte er und sagte: »Kommen Sie herein, Mr. Finder.« Er ging vor ihm her, öffnete die Tür zu einer kleinen Wohnstube, die einfach eingerichtet war, und deutete auf einen Stuhl. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Finder blieb stehen. »Inspektor«, sagte er, als er bemerkte, daß Lock und zwei der anderen FBI‐Agenten an der offenen Tür stehenblieben, »ich bin hergekommen, weil ich es einfach nicht ausgehalten habe, als ich erfuhr, daß der Mörder meiner Tante noch auf freiem Fuß ist. Und dann habe ich mir gesagt, daß es eine Dummheit sein muß, im Radio bekanntzugeben, daß die Frau hier noch nicht tot ist. So etwas birgt doch die Gefahr in sich, den Mörder anzulocken. Ich bin hergekommen, weil ich auf den Mann warten wollte – und ich bin sicher, daß auch Cole Abelman kommen wird. Und wenn der andere kommt, Inspektor, dann schlagen wir ihn tot – wie eine Ratte 259
schlagen wir ihn tot, Inspektor…« Das Netz war eingeholt, und der Fisch, der sich in ihm verfangen hatte, war nur ein blinder Fisch. Die Polizei konnte nichts mit ihm anfangen. Der Trick, mit dem sich Finder herausgewunden hatte, war einfach verblüffend. Als der Inspektor spät in der Nacht mit Pinkas Cassedy auf dem Heimweg war, meinte der dicke FBI‐ Mann: »Und was jetzt, Eliot?« Der Chef‐Inspektor schwieg. Mit düsterem Gesicht blickte er auf die Straße. In der Morgenstunde des nächsten Tages schrien die Schlagzeilen, die Rufus Matherley verfaßt hatte, in das erwachende Chicago: Der Trick des Eliot Ness ging daneben. Kein Fisch schwamm in seine Reuse! Jawohl, Reuse schrieb er. Es sei eine Reuse gewesen, in der sich nur ein armer Teufel verfangen hätte, der den Mörder seiner Tante stellen wollte… Der große Eliot Ness hätte wieder einmal im Trüben gefischt. Es konnte kaum lange dauern, bis man in Washington von den Dingen erfuhr, die sich hier ereignet hatten. Und daß es ein Fehlschlag war, den Eliot Ness da geführt hatte, ließ sich kaum leugnen. Den ganzen Tag über war der Inspektor nicht im Büro, und er sorgte dafür, daß auch Cassedy unterwegs zu tun hatte. Als sich die beiden am späten Nachmittag gegen 260
halb sechs oben in Cicero trafen, sagte Ness plötzlich zu Cassedys Verwunderung: »Ich fahre jetzt in die Hickory Hills hinaus und nehme ihn fest.« »Wen?« stotterte Cassedy. »Robson Finder.« Eliot Ness fuhr allein. Unterwegs hatte er den Polizeifunk eingeschaltet, und als er in die Nähe von Hickory Hills kam, hörte er plötzlich die nüchterne Stimme des Ansagers berichten: In der Leavitt Avenue in Dixmoor wurde eine Frau mit erheblichen Schnittverletzungen aufgefunden. Sie starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Mit eisigem Gesicht setzte der Inspektor seinen Weg zu den Hickory Hills fort. Das Haus in der 74. Straße war unbeleuchtet. Der Mann, den er suchte, war nicht daheim. Ness setzte sich wieder in den alten Ford und fuhr zu den Klubanlagen hinüber. Als er den Park durchmessen hatte und an den Lichtschein herankam, der aus den Fenstern des Klubhauses fiel, war er nicht allzu sehr erstaunt, den Gesuchten an einem der Tische sitzen zu sehen. Finder saß vor dem blonden Abelman und pokerte mit ihm. Der Inspektor betrat das Restaurant und blieb an der Eingangstür stehen. Finder erhob sich sofort. 261
»Inspektor!« entfuhr es ihm. Dann schluckte er und deutete mit dem Daumen der Rechten auf den Tenniscrack. »Das ist Cole Abelman.« »Ich kenne ihn«, versetzte Ness, nickte Abelman zu und sagte. »Hallo, Cole.« Es war einen Augenblick still an dem Tisch, und die Musik, die aus dem Automaten kam, verstummte im gleichen Augenblick. Die neue Bedienung drüben an der Bar, eine hochgewachsene Brünette, blickte zu den drei Männern hinüber. »Na, bei der ersten Runde?« Damit hatte Eliot Ness seine Erkundigung nicht ungeschickt formuliert. »O nein«, entgegnete Abelman, »wir hocken schon seit zwei Stunden hier. Er hat mir schon eine ganze Menge Dollars abgeluchst. Allerdings habe ich auch zweimal gewonnen.« Er lachte und strich mit einer müden Bewegung über seine Stirn. Also seit zwei Stunden saß er schon hier! Die Frau drüben in Dixmoor war erst vor einer Viertelstunde gefunden worden, und wie der Inspektor inzwischen durch Rückfrage erfahren hatte, konnte der Überfall kaum mehr als eine Stunde her sein. Finder kam also nicht dafür in Frage! Diese Erkenntnis ließ ein ganzes Kartenhaus für Eliot Ness zusammenstürzen. Er nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz und sah den beiden eine Weile zu. Da meinte Finder plötzlich: 262
»Wollen Sie eine Runde mitspielen?« Der Inspektor nickte. Interessenlos nahm er an dem Spiel teil, gewann und verlor mit abwechselndem Glück. Als er sich gegen acht Uhr erhob, stand auch Finder auf. »Ich komme mit.« Er verabschiedete sich von Cole und folgte dem Inspektor hinaus. Langsam schlenderten die beiden nebeneinander über den breiten roten Parkweg dem Ausgang zu. Draußen auf dem kleinen Parkplatz standen sie noch eine Weile zusammen und unterhielten sich. Das heißt, im Grunde war es Finder, der sprach. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, schnippte das Zündholz von sich und sagte: »Es ist furchtbar. Ich kann es nicht vergessen. Nicht den Mord an der kleinen Ruth hier und nicht das gräßliche Verbrechen an meiner Tante. Manchmal denke ich, ich könnte es niemals überwinden.« »Wir müssen alles überwinden, dazu sind wir auf dieser Welt«, entgegnete der Inspektor ruhig. »Wenn wir es einmal nicht mehr können, ist ohnehin alles zu Ende.« »Ja, das ist es wohl«, setzte Finder leise hinzu. * Als Finder am nächsten Morgen zur Arbeit fuhr und seinen Wagen im Parkhaus abgestellt hatte, ging er nebenan an einem Zeitungskiosk vorbei. Mit großen Schlagzeilen schrie es ihm da von allen Blättern entgegen: 263
Wieder Frauenmord im Südwesten der Stadt! Der Aufschlitzer hat erneut zugeschlagen! Und von der Titelseite der Chicago News brüllte den Vorübergehenden in flammendem Rot förmlich die Schlagzeile entgegen: Der Aufschlitzer macht weiter! Und Mr. CHICAGO schläft! Finder trat an den Zeitungsstand heran und las einen der Berichte. Als er sich abwandte, flüsterte er tonlos vor sich hin: »Elender Stümper!« Damit meinte er den Mann, der in Dixmoor die Frau angefallen hatte. Als er sein Büro betrat, sahen ihn seine Kollegen an. Die Goddram, die ihr Faible für ihn nicht verbergen konnte, blickte ihn mitleidig an. Wie sah er aus! Müde und übernächtigt. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, und seine Wangen schienen eingefallen zu sein. Was mochte er nur haben? Am Abend des übernächsten Tages war Eliot Ness draußen auf der großen Archer Avenue, wo er seinen Wagen zwischen den Bäumen abstellte und hinüber zum Friedhof ging. Langsam schlenderte er an der Hauptseite entlang auf die 79. Straße zu. Kurz hinter der Ecke des Bethania Cemetery verhielt er plötzlich den Schritt. Nur wenige Yards von ihm entfernt lehnte ein Mann an dem 264
niedrigen Zaun und starrte zu den düsteren Grabsteinen hinüber, die aus dem Dunkel des Friedhofs herüberblickten. Der Inspektor blieb fasziniert stehen und sah den Mann an. Es war ein mittelgroßer Mensch, der einen dunklen Mantel trug, einen dunklen Hut und wohl auch einen dunklen Anzug. Er hatte die Unterarme auf den Zaun gestützt, die Hände zusammengekrampft und starrte zu den Gräbern hinüber. Es war Robson Finder. Der Inspektor verharrte minutenlang auf dem Fleck und beobachtete den Mann drüben am Kirchhofsgatter. Dann, als der sich schließlich von dem Holz löste, ging der Inspektor auf ihn zu. Finder mußte ihn gesehen haben. Er hob den Kopf und nahm die rechte Hand in Schulterhöhe. »Hallo, Eliot«, sagte er mit dumpfer Stimme. Der FBI‐man hatte ihn jetzt erreicht. »Evening«, erwiderte er den Gruß. »Na, noch etwas Luft geschnappt?« wollte er die makabre Szene, die er beobachtet hatte, abschwächen. Finder schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keine Luft geschnappt, Inspektor. Ich bin hierhergegangen, weil da drüben zwischen den schwarzen Grabsteinen irgendwo eine Grube ist, in der ein Mensch liegt, der mir sehr nahe stand. Und weil ich es ganz einfach nicht verwinden kann… verstehen Sie?« Der Inspektor schwieg. Erst nach einer Weile sagte er: 265
»Es tut mir leid, Rob. Sie sollten vielleicht mal ein paar Tage ausspannen.« »Ausspannen?« kam es da fast schrill von den Lippen des Mörders. »Wie haben Sie sich das gedacht, Inspektor? Denken Sie, daß ich es mir leisten könnte, einfach ein paar Tage nicht zu arbeiten! Die da drüben in der Versicherung, diese fetten Bonzen, sie würden mich hinauswerfen. Einen Kerl, der mit dem Leben nicht fertig werden kann, den können sie nicht brauchen. Jawohl, so etwas würden sie sagen, so wie sie es damals mit dem armen Mathersmith gemacht haben. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Dem Alten war die einzige Tochter gestorben, nachdem seine Frau auch schon von einer Seuche dahingerafft war.« Finder wunderte sich selbst, woher ihm plötzlich diese Erfindungs‐ und vor allen Dingen diese Redegabe kam. Er redete sich in einen regelrechten Rausch hinein. Schweigend hörte ihm der Inspektor zu. Dann wandte Finder sich plötzlich um, ging mit schwankendem Schritt wieder auf das Friedhofsgatter zu, beugte sich darüber und ließ den Kopf hängen. Ein Schluchzen erschütterte seinen Körper. Der Inspektor war ihm gefolgt und blieb hinter ihm stehen. Da hörte er den Mann mit erstickender Stimme sagen: »Ich will zu meiner Tante! Sie war mein alles, Vater und Mutter! Ich will auch sterben, Inspektor…« Nur noch zwei größeren Gangstern sollte es gelingen, den scharfen Wolf, der bereits auf ihrer Fährte saß, 266
vorübergehend in ähnlicher Weise abzuschütteln. Das waren dann aber auch schon die gefährlichsten Gangster, die Amerika jemals erlebt hat: John Dillinger und Al Capone. * Es schien dem Verbrecher Robson Finder in gewisser Weise zu glücken, das Mitleid des FBI‐Inspektors Eliot Ness zu erregen. War es Freundschaft, was die beiden Männer jetzt miteinander verband? Wer hätte das zu diesem Zeitpunkt sagen können! Fest stand, daß Eliot Ness schon am darauffolgenden Spätnachmittag Finder in eine Kinovorstellung begleitete und anschließend in einer kleinen Schenke in Riverside ein Bier mit ihm trank. Dabei brannte dem Inspektor der Fall mit den fürchterlichen Aufschlitzer‐Morden unter den Nägeln. Und drüben in New York wurde er erwartet, um die Spur des gefährlichen Rauschgifthändlers Lemberg aufzunehmen! Jede Minute, die er sich im Büro aufhielt, bebte er insgeheim vor dem Klingeln des Telefons. Aber das Amt A I schwieg. Hatte es bereits den Stab über dem jungen Spezialagenten gebrochen? War er schon in Ungnade gefallen? Es wäre ja auch kein Wunder gewesen. Denn wo käme das Federal Bureau of Investigation hin, wenn es Leute beschäftigte, die nach ihrem eigenen Kopf handelten, die 267
die Befehle, die von oben kamen, nicht augenblicklich ausführten und andere Dinge für wichtiger erachteten! Der Sonnabend war herangekommen. Pinkas Cassedy lebte in ständiger Unruhe, in einer Art Angst – Angst um den Chef, den er insgeheim so ins Herz geschlossen hatte. Damned, die von da oben würden ihn wegfegen wie einen leeren Karton, und dann würden sie ihm, Cassedy, hier einen scharfen Bullen hinsetzen, einen jener Kerle, wie er sie zu Dutzenden drüben in New York kennengelernt hatte. Das bedeutete dann nicht nur, daß hier eine unangenehme Zeit anbrach, sondern es bedeutete das Ende der so hoffnungsvoll begonnenen Karriere des jungen Eliot Ness; und genau das war es, was Pinkas Cassedy zutiefst bedauerte. Daß es ihm aber auch nicht gelungen war, den »Norweger« zurechtzurütteln! Wie in Trance ging er umher, sprach mit niemandem und war auch kaum anzusprechen. Es ging etwas Seltsames von dem hochgewachsenen Mann mit dem kantigen Gesicht und den kühlen Augen aus. Etwas, das bereits seine Strahlenfinger nach dem sonst so unkomplizierten Pinkas Cassedy ausgestreckt hatte. Er war der erste Mensch, der von Eliot Ness in einen unsichtbaren Bann geschlagen wurde. Es war der gleiche Bann, in den der so unscheinbar wirkende Norweger schon in absehbarer Zeit eine ganze Welt schlagen würde… Aber noch standen seine Sterne an einem düsteren Himmel – und der Koloß drüben in dem Zeitungstrust, 268
Rufus Matherley, war sein erbitterster Gegner. Weder Eliot Ness noch Pinkas Cassedy noch sonst jemand hat jemals begreifen können, was den mächtigen Matherley zu einer derartigen Gegnerschaft getrieben hatte. War es bereits etwas von der unsichtbaren Strahlkraft, die dieser Eliot Ness verbreitet, und die den feinfühligen Zeitungsmann Matherley berührt hatte? War es das, was Matherley instinktiv zu seinem Gegner werden ließ? Haßte er es, den Stern eines so genialen Mannes aufgehen zu sehen? Es war gegen sieben Uhr! Ness saß noch an seinem Schreibtisch und arbeitete Akten durch. Es gab immer Akten durchzuarbeiten hier auf diesem Posten: tausenderlei Dinge, die von anderen Menschen getan werden könnten, sie wurden hier dem Chef‐Inspektor der Spezialabteilung zugeschoben. Well, Pinkas Cassedy nahm dem Boß allerhand ab, aber es blieb doch noch immer eine ganze Menge übrig. Dinge, die von ihm persönlich abgezeichnet werden mußten, die der gründliche, pflichtbewußte Mann also vorher eingehend geprüft haben mußte. Da schrillte das Telefon. Ness blickte auf den Apparat und wartete. Wieder schrillte die Glocke, und ihr hartes Geräusch drang ihm fast schmerzhaft in die Nervenbahnen. Mit der Linken griff er schließlich nach dem Hörer und brachte ihn an sein Ohr. »Ja?« 269
»Hallo, Eliot, sind Sie selbst am Apparat?« Es war die Stimme Robson Finders. »Ja.« »Was gibt’s denn?« Es war einen Moment still, und dann schien ein Seufzer durch die Leitung zu dringen, der das Ohr des FBI‐Mannes erreichte. »Ich – ich dachte, vielleicht könnten wir zusammen etwas unternehmen. Es ist so ein langer Abend, und…« »Es ist gut, Rob«, sagte der Inspektor. »Wann wollen wir uns treffen?« »Ist mir egal. Soll ich in die Stadt kommen?« »Gut. Ich habe noch eine Weile hier zu tun. Vielleicht könnten wir uns um acht drüben am Marquette‐Park treffen. Sie wissen doch, in der kleinen Schenke in der St. Louis‐Avenue.« »Geht in Ordnung, vielen Dank…« Sie hatten ein Bier getrunken und waren dann zu Fuß hinauf in die 55. Straße gegangen. An der Ecke der großen Western Avenue blieb Finder stehen und deutete auf eine Kinoreklame. »Ach, wenn ich die halb ausgezogenen Weiber sehe, dann wird mir schon übel. Am liebsten ginge ich ein Stück spazieren, wenn Sie nichts dagegen haben, Eliot.« »Natürlich nicht.« Sie schlenderten durch die dunklen Straßen des Kedzie‐Bezirks und wieder bis hinunter zum Marquette‐ Park, in dessen Nähe sie auf einem Parkplatz ihre Wagen abgestellt hatten. 270
Finder hatte den FBI‐man keineswegs angerufen, weil er sich etwa wirklich einsam fühlte. Auch vor dem Friedhof neulich hatte er nicht zufällig gestanden. Er war schon zweimal vorher dorthin gegangen, in der Hoffnung, daß man ihn da beobachten würde. Und der große Wolf, der seine Fährte immer zu finden wußte, hatte ihn ja auch dort getroffen. Heute hatte der Mörder den Inspektor angerufen, weil er die Absicht hatte, Schluß zu machen. Das heißt, Robson Finder wollte den Polizeioffizier Eliot Ness umbringen. Sehr vorsichtig erkundigte er sich jetzt, ob irgend jemand etwas davon wüßte, daß er hier mit ihm den Abend verbrächte. Er hatte seine Fragen so geschickt formuliert, daß man schon sehr mißtrauisch sein mußte, wenn man Argwohn schöpfen wollte. Als Finder schließlich erfahren hatte, daß niemand mehr im Büro gewesen war, daß also auch niemand Bescheid wußte, was der Inspektor heute abend vorhatte, stand der Entschluß des Mörders fest. Er war am Nachmittag, den er ja wie jeden Samstag freihatte, hier durch diese Gegend gegangen und hatte sich den Platz genau angesehen, an dem es geschehen sollte. Und sehr geschickt hatte er dem Inspektor selbst die Wahl zugeschoben, den Ort zu bestimmen, an dem sie sich treffen wollten. Denn er hatte gehofft, daß Eliot Ness hier wieder mit ihm zusammentreffen würde, wo sie ja schon einmal gewesen waren: in dieser stillen Ecke am Marquette‐ Park. 271
Langsam schlenderten sie durch eine stille düstere Straße, in die der Verbrecher den Inspektor sehr vorsichtig manövriert hatte. Als sie sich dem einsamen Hofplatz näherten, der wie eine Zahnlücke in der Häuserreihe klaffte, tastete sich die Linke des Mörders in die Tasche und spannte sich um den kühlen, schlanken Griff des Skalpells. Auch diesmal hätte Rob Finder keinen wirklichen Grund angeben können, weshalb er ein Menschenleben auslöschen wollte. Er war ihm doch gar nicht mehr gefährlich, dieser Eliot Ness! Aber es war da etwas anderes, das Finder zur Tat trieb. Er mußte an die Stunde denken, in der Ness so plötzlich im Bürohaus vor ihm aufgetaucht war und ihn abgefangen hatte. Es war die erste Begegnung der beiden gewesen, in der der FBI‐ Agent ihm nur eine Frage hatte stellen wollen. Der G‐ man hatte Finder damals mit seinem Auftauchen einen furchtbaren Schrecken eingejagt – und dafür sollte er jetzt büßen! Es war ein Schreck gewesen, der dem Mörder immer noch in den Knochen steckte. Es war da etwas, was von diesem Norweger ausging und ihn mit eisiger Kälte berührte, wann immer er ihm begegnete. Selbst ein Al Capone würde später einmal von einem solchen Schrecken berichten können. Eliot Ness hatte etwas Einzigartiges an sich, das die Gangster zur Weißglut und ins Schwitzen brachte. Sie machten dann zwangsläufig den entscheidenden Fehler, auch die gerissensten unter ihnen. Dagegen gefeit war wirklich nur einer – der große Al Capone. 272
Doch auch Rob Finder war eine echte Gefahr. Als er neulich im Klubhaus aufgetaucht war, hatte es Finder auf einmal regelrecht in der Kehle gewürgt; und selbst, als er friedlich neben ihm am Tisch saß und sein Bier trank, war es da, stand zwischen ihnen und schien nach Finder greifen zu wollen. So war in ihm der unfaßliche Entschluß gereift, Eliot Ness zu töten; und wie immer hatte er auch diesmal alles bis ins Kleinste vorbereitet – und doch war einiges anders. Er war bereits am Nachmittag hier gewesen und hatte sich den Ort genau angesehen und eingeprägt, an dem es geschehen würde. Der lange Mantel des Inspektors könnte ein Hindernis sein. Deshalb war es ihm schon vorm Einbiegen in diese Gasse gelungen, Ness dazu zu überreden, den Mantel doch zu öffnen; es war ja ein lauer Abend, direkt schon vorfrühlingshaft für diesen Januartag. Ness war dem Vorschlag seines Begleiters nachgekommen, hatte seinen langen Trenchcoat geöffnet, und das war genau das, was der Mörder brauchte, um sein Skalpell zum tödlichen Stoß ansetzen zu können. Ich werde ihn auslöschen – vernichten werde ich ihn, damit es ihn nicht mehr gibt, damit ich nicht mehr anzurufen brauche, damit ich nicht mehr zu befürchten brauche, daß er so urplötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor mir erscheint und mich mit seinen bergseekühlen Augen ansieht. In den Minuten damals drüben am Friedhof, da hatte ihn eisiges Grauen gepackt, als er ihn plötzlich an der Ecke neben sich auftauchen sah. Dabei hatte er doch 273
gehofft, daß er kommen möge, um ihn dastehen zu sehen. Mit magnetischer Kraft schien es ihn da hinausgezogen zu haben. Zu dem Bethania‐Gottesacker, wo er auf ihn gewartet hatte, um ihm diese Komödie vorzuspielen. Wie gut er ihn doch bereits kannte! Sie hatten jetzt den einsamen Hofplatz erreicht und mußten nur noch den Eingang des letzten Hauses passieren. Finder ging nun eine Spur schneller, so daß er einen halben Schritt vor dem Inspektor war. Ness, der rechts neben ihm ging, ahnte nicht, daß der andere sich vorbereitete, um zum Todesstreich gegen ihn ausholen zu können. Das Gesicht des Verbrechers hatte sich auf eine geradezu gespenstische Weise verändert; ganz klein und zusammengeschrumpft wirkte es. Die Augen waren schmale Schlitze, der Mund strichdünn und seine Winkel hart nach unten gezogen. Es ist meine größte Stunde! dröhnte es in seinem Hirn. Es gilt, einen gefährlichen Wolf auszulöschen. Einen gewaltigen Stoß muß ich ihm versetzen; ich muß das Messer blitzschnell hochreißen. Die Straße war so dunkel, daß man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Mit großem Geschick hatte der Mörder noch einen halben Schritt nach vorn gemacht. Jeder Muskel in ihm war jetzt gespannt. Im nächsten Augenblick mußte er sich herumwerfen, um zum Stoß auszuholen. Es war ein Stoß, auf den seine Opfer niemals gefaßt waren, denn der Angriff, den ein Mensch überhaupt zu befürchten hat, der kam meistens von der 274
hochgerissenen Hand des Gegners. Anders aber hielt es der Aufschlitzer. Seine Hand wurde in einer Art Tiefschlag von unten hochgeführt. Sein tödlicher Hieb, der gegen den unteren Teil des Leibes seines Opfers gerichtet war, konnte von den ahnungslosen Opfern kaum wahrgenommen werden. Schon saß die mörderisch scharfe Klinge den Getroffenen im Körper und riß ihnen den Leib auf. Ness schien nichts gemerkt zu haben. Er war jetzt einen Schritt seitlich hinter Finder und blickte auf den düsteren Hofplatz, auf dem alte Lastwagen abgestellt waren und Autowrackteile zerstreut umherlagen. So, jetzt ist es soweit! zuckte es im Hirn des Gangsters auf. In dem Moment aber, in dem er sich herumwerfen wollte, um dem Inspektor entgegenzuschnellen, um ihn mit seinem Überfall zu überrumpeln – da blitzte hinter ihnen im Treppenhaus plötzlich Licht auf. Stimmen wurden laut, und mehrere junge Leute quollen förmlich aus der Haustür auf den Bürgersteig, um lärmend stehen zu bleiben. Auch die beiden Männer waren stehengeblieben. Während Finder sofort herumgefahren war, drehte sich Eliot Ness nur langsam um. Der Verbrecher war schweißnaß, das Hemd klebte ihm am Körper, und unter den Achselhöhlen rann ihm das Wasser herunter. Sein Gesicht war mit einer Schweißperlenschicht bedeckt, als sähe man es durch Ornamentglas, und das Blut hämmerte ihm in harten Stößen bis in die Kehle, bis in die Schläfen hinauf. 275
Da wandte Eliot Ness ihm plötzlich das Gesicht zu. »Geht’s Ihnen nicht gut, Rob?« kam seine Stimme wie von weit her an das Ohr des Verbrechers. Der schüttelte den Kopf, griff mit der Rechten in den Mantel und zog ein weißes Taschentuch hervor, mit dem er sich das Gesicht abtupfte. Langsam setzten sie ihren Weg fort. Wie verkrampft spannte sich immer noch die linke Faust mit den knotigen Fingern des Mörders um den Griff des Skalpells. Aber er hatte für den Moment den Nerv verloren. Als sie den Park erreicht hatten, blieb Ness stehen, schob beide Hände in die Manteltaschen und deutete zu den Anlagen hinüber. »Wollen wir noch einen Augenblick hinübergehen?« Finder schüttelte den Kopf. »Nein, thanks. Ich bin auf einmal müde, elend müde…« * Es war kurz vor sieben Uhr am nächsten Morgen. Eliot Ness, der sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen hatte, nachdem er sich am Marquette‐Park von Finder getrennt hatte, war zu den Hickory Hills hinausgefahren und hatte dann am Harlem Airport seinen Wagen abgestellt. Noch nicht vierundzwanzig Stunden nach dem letzten Mord, den nach Finders Ansicht ein »elender Stümper« begangen hatte, war das FBI auf die Spur eines 276
siebenundzwanzigjährigen Mechanikers gekommen, der Herb Nugent hieß. Er arbeitete auf dem Harlem‐Airport in Nachtschicht und hatte seit der Abendstunde, in der der Mord verübt worden war, seine Arbeitsstelle nicht mehr aufgesucht. Einer der größten Fehler, der immer wieder von Verbrechern nach der Tat begangen wird. Eliot Ness hatte die Spur zu dem Mann gefunden und selbstverständlich tiefstes Stillschweigen darüber walten lassen. Weder die Presse noch sonst irgend jemand hatte darüber etwas in Erfahrung bringen können. Aber wo war dieser Herbert Nugent? Ness hatte herausgefunden, daß er am Summet Denkmal drüben in der 58. Straße eine Freundin hatte. Aber so sehr auch G‐ man Joseph Lock die Häuserfront beobachtete, es ließ sich keine Spur des Verdächtigen finden. Die vier Spezialagenten vom Oakwood Cemetery hatten das einzige Foto, das von dem Verdächtigen aufgetrieben werden konnte, gesehen, wußten also, wie der Mann aussah. Die Bewachung des Hauses oben am Summet Denkmal wurde Tag und Nacht unauffällig fortgeführt, und auch der Harlem Airport wurde unentwegt im Auge behalten. Aber der Verdächtige ließ sich nirgends sehen. Eliot Ness hatte das Leben Herbert Nugents gründlich durchleuchtet, und das, was dabei zum Vorschein kam, belastete den Mann schwer. Er war mitten im düsteren Cicero in der 22. Straße geboren, in einer Ecke, die damals noch zu den größten Slums und den dunkelsten Gegenden Chicagos überhaupt gehörte. Schon als 277
Sechzehnjähriger hatte er in der Laramie Avenue einen Neger mit einem Messer lebensgefährlich verletzt und wurde anderthalb Jahre darauf auf der Pulaski Road von zwei Polizisten dabei überrascht, als er einen Überfall auf einen halbwüchsigen Jungen mit einem Messer beging. Er hatte zwei Jahre dafür im Zuchthaus gesessen und war nach seiner Freilassung dazu übergegangen, das, was er im Zuchthaus gelernt hatte, nämlich Feinmechanik, beruflich anzuwenden. Er arbeitete erst auf dem Midway Airport und kam dann auf den Harlem Airport, wo er bis jetzt gearbeitet hatte. Es lag zwar nichts weiter gegen ihn vor, aber das, was man aus seiner Vergangenheit wußte, war schlimm genug, ihn schwer zu verdächtigen. Die Fingerabdrücke waren zwar nicht eindeutig, aber der zähe Norweger hatte schließlich soviel an Beweismaterial gegen ihn zusammengetragen, daß es nur noch galt, den Verdächtigen zu finden. Ness hatte das Flugplatzgelände jetzt hinter sich und schlenderte in die kleine Nottingham Avenue, die im Norden des Fluggeländes lag, wo er kurz vor der 85. Straße im Hausflur neben einer Schenke stehenblieb. Der kleine schlitzäugige David Ogden, ein Spitzel, den das FBI hin und wieder benutzte, hatte ihm mitgeteilt, daß Nugent die Schenke zuweilen aufsuchte, weil er ein Verhältnis mit der Inhaberin hatte. Dieses Verhältnis hielt Nugent noch neben seiner Bekanntschaft mit dem Mädchen oben am Summet Denkmal aufrecht. Es schien ziemlich unwahrscheinlich zu sein, daß sich der Gangster, der ja jetzt flüchtig war und sich wohl auch 278
hinreichend verdächtig gemacht hatte, ausgerechnet hierher kommen würde. Es war kurz nach elf Uhr, als der Inspektor plötzlich drüben an einem Spalt, der zwischen zwei Häusern klaffte, die Gestalt eines Mannes auftauchen sah. Er trug einen Hut und einen dunklen Mantel, dessen Kragen er hochgeschlagen hatte. Suchend blieb er einen Augenblick stehen und beobachtete die gegenüberliegende Straßenseite. Als ein Auto mit seinen Scheinwerfern den Bürgersteig abtastete, verschwand er wieder im Dunkel des Häuserschachtes. Kaum war der Wagen vorüber, da tauchte er wieder auf wie eine Ratte und spähte erneut zur anderen Straßenseite hinüber. Wieder kamen zwei Wagen, und als die Straße dann einen Moment still und fast dunkel da lag, schnellte er mit weiten Sätzen wie eine Katze hinüber und verschwand im Hauseingang neben der Schenke. Eliot Ness wartete einige Sekunden, ging dann an der Schenke vorbei und betrat den dunklen Hausgang. Da war alles still. Vornübergebeugt setzte der FBI‐Agent seinen Weg durch den Flur bis zur Treppe fort. Die Tatsache, daß sich kein Geräusch im Hausflur vernehmen ließ, war mehr als gefährlich für ihn, denn er wußte ja, daß der Mann das Haus betreten hatte, und er konnte ganz unmöglich schon irgendwo hinter einer Tür verschwunden sein. Dafür war zuwenig Zeit geblieben. Also stand er jetzt hier irgendwo in einer dunklen Nische. Wenn es wirklich der Mann war, der die Frau unten in 279
Dixmoor getötet hatte, dann war er auf alles gefaßt, und man mußte mit allem bei ihm rechnen. Der Inspektor bewegte sich mit dem schleppenden Schritt eines Beinverletzten vorwärts und hatte jetzt die hölzerne Treppe erreicht. Die Stiegen knarrten unter seinem Gewicht. Nur locker faßte die Rechte nach dem Geländer. Es war ziemlich weit bis zum ersten Treppenabsatz, und den konnte der Mann, der vorhin das Haus betreten hatte, vielleicht schon erreicht haben. Gegen das schmale Fenster, das zum Hof ging, fiel nur diffuses Licht vom Nachthimmel ins Treppenhaus. Links und rechts neben dem Fenster gähnten düstere Ecken. Irgendwo da konnte er stehen. Eliot bewegte sich langsam weiter um die Biegung des Geländers herum, als er plötzlich ein Geräusch hinter sich vernahm. Er tat, als hätte er es nicht gehört und schlurfte weiter. Aber seine Ohren waren sperrangelweit offen. Er hatte den Atem angehalten, und jeder Muskel in ihm war aufs äußerste gespannt. »He!« hörte er da plötzlich eine unterdrückte Stimme. Er blieb stehen und drehte sich langsam um, verharrte aber so, daß das Licht, das durch das Hoffenster in den Korridor fiel, ihn nicht mehr erfaßte. »Ist da jemand?« fragte er mit verstellter Stimme. »Los, rück ein paar Bucks heraus«, schnarrte es ihm da aus dem Dunkel entgegen. »Wie belieben?« fragte er im Ton eines älteren Mannes. 280
»Stell dich nicht so blöd, Mensch! Spuck ein paar Dollars aus!« »Ein Überfall?« stotterte der G‐man. »Ja, ein Überfall – und wenn du nicht schnell machst, Alter, hast du ein Stück Metall zwischen den Rippen!« Der Mann machte jetzt einen Fehler und trat aus dem Dunkel heraus, so daß der Inspektor ihn gegen das schwache Lichtviereck des Fensters sehen konnte. Das metallische Geräusch, das entstand, wenn ein Stilett aufgeklappt wurde, schlug Ness entgegen. Der Inspektor hatte die Linke in der Manteltasche um den Knauf der Colt‐Automatik gespannt. Da warf sich der Fremde urplötzlich nach vorn und traf mit seinem Kopf das rechte Schienbein des Inspektors. Ness war auf diesen blitzartigen Angriff vorbereitet und konnte sich mit der Linken am Geländer fangen. Da hatte der andere seine Beine umspannt und riß ihn mit sich auf den Treppenabsatz zurück. Mit einem Faustschlag konnte Ness den Gegner von sich stoßen. Beide waren sofort auf den Beinen. In der rechten Faust des anderen blinkte das Messer. »Was soll der Blödsinn«, versetzte der Inspektor, immer noch mit verstellter Stimme. »Ich habe gesagt, du sollst ein paar Bucks auspacken«, zischelte ihm der Fremde drohend zu. »Da du dazu nicht bereit warst, wirst du mir jetzt deine ganze Brieftasche geben.« »All right«, erklärte Eliot, während er mit der Rechten 281
in die Tasche griff. »Augenblick, ich hole sie mir – und wenn du glaubst, daß du irgend welche faulen Eier loslassen kannst, dann hast du Pech, Brother. Ich bin…« »Ich weiß, wer du bist«, entgegnete der Inspektor jetzt mit schneidender Schärfe, »du bist Herbert Nugent!« Der andere wich zurück – und da handelte der Inspektor. Er riß das linke Bein hoch, und seine Schuhspitze traf genau das Handgelenk des Banditen. Das Messer flog hoch und zischte dicht an Ness vorbei, um hinter ihm gegen die Wand zu prallen. Da aber hatte sich der Verbrecher schon gefaßt und warf sich nach vorn. Jetzt zeigte sich, daß der ehemalige Messerstecher und Zuchthäusler Herbert Nugent ein gefährlicher Fighter war. Er riß das rechte Knie hoch, suchte einen Tiefstoß anzubringen, wurde aber von einem linken Hammer des FBI‐Agenten zurückgestoßen. Wieder kam er heran und schlug eine blitzschnelle Doublette, die jedoch ihr Ziel verfehlte. Dafür fintete der Inspektor links, riß dann einen rechten Haken nach innen, der mit krachendem Geräusch am linken Jochbein des Getroffenen detonierte. Nugent torkelte zurück, prallte gegen die Fensterbank, kam noch einmal nach vorn und suchte wieder einen Kopframmer anzubringen, dem er erneut das rechte Knie nachziehen wollte, um den Gegner mit dem unfairen Stop mattzusetzen. Der G‐man konnte dem Kniestoß ausweichen, mußte aber dafür einen der Faustschläge hinnehmen, der ihm 282
den Schädel erdröhnen ließ. Sein Gegner war wirklich ein harter Brocken. Ein neuer, blitzschnell geschlagener Schwinger landete fast voll auf der Halsschlagader des Inspektors, aber instinktiv nahm Ness den Kopf zurück, wich dem nächsten Hieb, der ebenfalls als Doublette kam, aus, um nicht erneut von einem schweren Treffer überrascht zu werden. Dafür stieß er die Linke wie ein Florett nach vorn, traf das Brustbein des Gegners – und da hatte sich der andere im Hechtsprung an ihm vorbeigeworfen, packte die blinkende Klinge und schnellte damit hoch. Er war wirklich ein verdammt gefährlicher Gegner, dieser Herbert Nugent! Aber in dem Augenblick, in dem er die Klinge mit der Rechten hochriß, schmetterte der G‐man einen steifen linken Haken nach innen, der unter dem hochgerissenen Arm des Gegners vorbeipfiff und den Kinnwinkel Nugents traf. Der Kopf des Gangsters wurde herumgeworfen. Ein röchelnder Laut brach aus seiner Kehle. Es sackte in das linke Knie. Da wurde oben im Haus eine Tür geöffnet. Eine heisere Männerstimme brüllte: »Was ist da unten los?« Noch einmal versuchte Nugent, sein Geschick zu wenden. Er fuhr hoch, duckte sich, stieß das Messer vor – aber er hatte kein Glück. Auf der gleichen Stelle in seinem Gesicht detonierte ein linker Haken und riß ihm jetzt die Beine weg. Vornüber fiel er auf das Gesicht, mit 283
dem Schädel prallte er dabei gegen das Treppengeländer. Der FBI‐Mann entwand ihm sofort das Messer und schleppte ihn die Treppe hinunter. Unten auf der Straße war Nugent noch immer groggy, stand aber auf den Beinen. Die Arme hingen ihm wie paralysiert am Körper herunter. Der G‐man brachte ihn in den Lichtkreis der Schenke und stieß ihn gegen einen Laternenpfahl. »Herbert Nugent, Sie sind wegen Mordes verhaftet.« Von der anderen Straßenseite kam ein Mann heran, der glaubte, daß hier jemand überfallen würde. Als er eingreifen wollte, hatte Nugent bereits Handschellen um beide Gelenke. Der Inspektor hielt dem Mann, der an ihn herantrat, seine Marke hin. »FBI.« Der andere schluckte. »Damned, was ist passiert?« »Sie werden es morgen todsicher in der Zeitung lesen«, entgegnete der Inspektor, während er den Mörder wegzog, »und wenn Sie besonders gründlich informiert werden wollen, dann würde ich Ihnen die Chicago News empfehlen…« * Das erwachende, gespannt aufhorchende Chicago erfuhr, daß ein Mann gestellt worden war, dem einer der Aufschlitz‐Morde nachgewiesen werden konnte. Aber Rufus Matherley hatte die Nachricht nur sehr dürftig gebracht. Der alte Kriminalreporter schien 284
offenbar noch nicht überzeugt zu sein. Chicago aber glaubte, aufatmen zu können. Und der untersetzte Mann, der eben aus dem Rancok‐ Parkhaus trat und vor dem Zeitungskiosk stehenblieb, hatte ein diabolisches Lächeln um die Mundwinkel stehen. Robson Finder wußte jetzt, daß er gewonnenes Spiel hatte. * Eliot Ness hatte das Gebäude am Oakwood Cemetery kaum betreten, als aus der Pförtnerloge ein kahlköpfiger Mann auf ihn zutrat. »Es ist schon zweimal für Sie angerufen worden, Chef.« »Ja, es ist gut«, entgegnete der Inspektor, ohne von dem Angebot Gebrauch zu machen, gleich von der Pförtnerloge aus zu telefonieren. Er nahm auch nicht den Fahrstuhl, sondern ging die zwei Stufen bis zu seinem Geschoß hinauf, betrat mit blassem Gesicht sein Vorzimmer und grüßte freundlich die kleine schwarzhaarige Sekretärin, die ihn besorgt anblickte. »Guten Morgen, Mr. Ness. Es ist bereits zweimal…« »Ich weiß«, versetzte er und war schon hinter einer Zimmertür verschwunden. Es dauerte nur sieben Minuten, da schrillte der Apparat. Aber es war Pinkas Cassedy. »Ich wollte nur sagen, Boß…« 285
»Ich weiß, Washington hat angerufen, nicht wahr?« »Nein, das wollte ich nicht sagen«, versetzte Cassedy, »sondern nur, daß Sie da eine verdammt gute Nase gehabt haben. Ich meine, gestern nacht. Schade nur, daß ich nichts davon ahnte.« »Es war nicht sehr wichtig, Pink«, kam es halblaut zurück, »sonst hätte ich Sie mitgenommen.« »Na hören Sie, ich fand es verdammt wichtig, wo wir uns so lange mit der Sache herumgeplagt und Sie sich damit auch noch in Ungnade gebracht haben.« »Leider war es viel weniger wichtig als Sie glauben, Pink«, entgegnete der Inspektor und hing ein. Pinkas Cassedy glaubte nämlich wie jeder andere in dieser Stadt – bis auf einen Mann –, daß Herb Nugent der seit Wochen fieberhaft gesuchte Aufschlitzer wäre. Und wenn man sagt, daß nur einer es nicht glaubte, so ist das nicht ganz richtig: denn auch Robson Finder wußte, daß es nicht stimmte – daß es nur ein kleiner Fisch war, ein erbärmlicher Stümper, der versucht hatte, ihn nachzuahmen –, den man da gegriffen hatte, und auch das stimmte noch nicht, denn es gab noch einen Mann in der Weltstadt, der nicht überzeugt war: Rufus Matherley, der Zeitungsmann. Noch ehe das Telefon schrillte und Washington sich meldete, trat die kleine Ruth Everett an die Tür und sagte: »Da ist jemand, der Sie sprechen möchte, Mr. Ness.« Der FBI‐man stand in der Fensternische und blickte auf die grauen Gräberreihen des Friedhofs hinaus. Ohne 286
den Kopf zu wenden, sagte er zur grenzenlosen Überraschung seiner Sekretärin: »Wenn es Mr. Matherley ist, dann bitten Sie ihn nur herein.« »Ja«, stotterte Ruth, »der ist es tatsächlich.« Ness wandte den Kopf und blickte das verschüchterte Mädchen mit einem feinen Lächeln an. »Also, ich lasse bitten.« Da stampfte der Fleischturm auch schon herein, schob sich seinen zerfledderten Hut aus weichem Manchesterstoff aus der Stirn, öffnete seinen Kragen und trat mit hochrotem Gesicht an den Schreibtisch des Inspektors. »Ness, ich muß mit Ihnen sprechen!« »Sie sind bereits dabei, Mr. Matherley.« »Reden wir nicht lange herum. Sie haben den Kerl also gegriffen.« »Ich habe einen Mann gestellt, der einen Mord begangen hat«, entgegnete der Polizeioffizier vorsichtig. Matherleys Gesicht verzog sich zu einem bösen Grinsen. Er fletschte die Zähne und fauchte: »Hören Sie, Ness, mich können Sie nicht bluffen. Das ist nicht der Kerl, der all die anderen aufgeschlitzt hat.« »Ich habe es auch nicht behauptet, Mr. Matherley.« Da riß der schwere, hünenhafte Journalist auf der anderen Seite des Schreibtisches die Augen auf und hatte den Mund so weit offenstehen, daß seine gelben Zähne sichtbar wurden. Er torkelte drei Schritte zurück und prallte gegen die Armlehne des grünen Sessels, der vor 287
dem Schreibtisch stand. »Nehmen Sie doch Platz, Mr. Matherley.« »Was sagen Sie da?« stammelte der Zeitungsmann, »das ist doch nicht Ihr Ernst!« »Mein voller Ernst.« »Aber Sie haben doch erklärt…« »Ich habe nichts weiter erklärt als das, was ich Ihnen eben wiederholt habe, Mr. Matherley.« Da sank der Journalist in den Sessel. Das gequälte Möbelstück gab unter dem gewaltigen Gewicht ein verzweifeltes Ächzen von sich. »Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten, Mr. Matherley?« »Woher wissen Sie, daß ich Zigarren rauche!« giftete der Redakteur und setzte dann gleich hinzu: »Außerdem rauche ich seit langem nicht mehr. Genau gesagt, seit drei Stunden!« »Dann wird’s Zeit, daß Sie Ihren Entschluß wieder aufheben.« Matherley hatte seine gewaltigen roten, behaarten Hände um die Sessellehnen gespannt, als er jetzt den Kopf vorstieß und bellte: »Hören Sie, Ness, Sie sind nicht der Mann, der mich foppen kann! Sie werden das noch bereuen!« Damit riß er sich hoch und stampfte wie eine Elefant hinaus. Nach einem leisen Klopfen wurde die Tür wieder geöffnet. Ruth Everett stand da und blickte besorgt zu ihrem Chef hinüber. »Er ist gegangen, Mr. Ness.« 288
»Ich habe es bemerkt.« »Kann ich irgend etwas tun?« »Vielleicht gelingt es Ihnen, mir einen Kaffee zu machen.« Aber es gelang der Sekretärin nicht, denn sie war noch nicht draußen, als das weiße Telefon auf dem Schreibtisch des Inspektors schrillte. Die scharfe Stimme des Ersten Sekretärs im Amt A I von Washington drang an das Ohr des Norwegers. »Ness, nachdem Sie Ihren Kopf ja jetzt durchgesetzt haben, was Ihnen hier oben noch einmal nachgesehen wird, weil Sie zufällig Erfolg hatten, wird erwartet, daß Sie um die Mittagsstunde in New York eintreffen. Sie können das leicht, denn die Maschine fliegt in anderthalb Stunden!« Klick! Mr. Miller hatte eingehängt. Der Inspektor fuhr sich mit der Linken über das Gesicht und blickte dann zu den Aktenbergen, die sich hier offensichtlich über Nacht mit schöner, gleichmäßiger Selbstverständlichkeit von selbst anhäuften. Der Spezialagent Thomas Lundgreen, der in New York auf dem Flughafen wartete, sah, daß die Mittagsmaschine den erwarteten Mann aus Chicago nicht mitgebracht hatte. Der Tag war vergangen. Gegen Abend begann es zu regnen. Ness hatte sich mit einer kurzen Unterbrechung neun Stunden durch die 289
Aktenberge gewühlt, die vor und neben ihm lagen. Jetzt erhob er sich, öffnete das Fenster und blickte hinaus. Bleigrauer Himmel hing über der Weltstadt. Der Abend war dennoch mild und weich. Tief sog der G‐man die Luft in seine Lungen. Dann wandte er sich um, ging zum Telefon und wählte eine Nummer. »Ja«, kam sofort die Antwort. »Hallo, Rob, hier ist Ness. Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang? Ich habe den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen. Wollen wir uns wieder am Marquette‐Park treffen?« Finder, der gerade ein feudales Abendbrot eingenommen hatte und in einem der alten Sessel seiner Tante saß, hatte den Telefonhörer vom Ohr genommen und starrte entgeistert darauf nieder. Eliot Ness hatte er längst vergessen. Das, was da in der vergangenen Nacht geschehen war, hatte ihn in einen regelrechten Rausch des Triumphes versetzt. Sie hatten den Falschen gegriffen und hielten den für den Aufschlitzer. Aber nun wieder dieser verfluchte Eliot Ness! Finders Lippen öffneten sich, und leise brachte er hervor: »Ja, es ist mir recht. Wann wollen wir uns treffen?« »Vielleicht in einer Stunde, so gegen acht?« »Geht in Ordnung.« Es waren wenige Minuten vor acht Uhr, als der G‐man 290
seinen Wagen in einer Parklücke abstellen konnte. Er schlenderte an der Autokolonne, die hier allabendlich am Straßenrand stand, entlang und konnte den Chevrolet Finders nirgends entdecken. Von einem anderen Wagen aus wurde er beobachtet. Doch Al Capone blieb an diesem Abend noch stumm. Es interessierte ihn, wie der junge FBI‐Inspektor sein Opfer in die Falle schnappen lassen würde. Ein fast detektivisches Interesse des großen Gangster‐Königs für einen völlig unvergleichlichen Fall. Viel besser und scharfsinniger als etwa Rufus Matherley wußte er die Fähigkeiten des Mr. Chicago einzuordnen. Der große Al Capone war sich nicht zu schade, seinen künftigen Widersacher zu studieren. Der blickte sich im Moment noch unschlüssig um auf der Suche nach Finder. Da hörte er plötzlich hinter sich aus den Anlagen die Stimme des anderen: »Hallo, Eliot, ich bin schon eine ganze Weile hier.« Langsam hielt der Inspektor auf ihn zu. Wer später darüber nachdachte, daß Eliot Ness nicht erst jetzt, sondern gestern schon vor dem verwahrlosten Grundstück wußte, daß Finder es auf sein Leben abgesehen hatte, der verstand diesen Mann noch weniger, als ihn Rufus Matherley verstand. Langsam ging er auf Finder zu und blieb dann vor ihm stehen. »Hallo, Rob.« »Hallo, Inspektor.« Finder schluckte. Wieder hatte ihn das eiskalte Gefühl angesprungen, 291
das ihn jedesmal traf, wenn Eliot Ness in seiner Nähe auftauchte. Heute, heute muß es geschehen! Sie schlenderten durch die Anlagen und sprachen von belanglosen Dingen. Ness war von dem großen Weg in einen kleinen düsteren Seitenpfad abgebogen, als Finder plötzlich unvermittelt fragte: »Sagen Sie, Inspektor, denken Sie auch zuweilen an den Tod?« Ness blieb stehen, wandte den Kopf dem anderen zu und zog schweigend die Schultern hoch. »Ich denke oft daran!« sagte Finder wie zu sich selbst. »Oft bis in die späte Nacht hinein, wie es so ist, wenn man plötzlich weiß, daß es zu Ende geht – daß alles vorüber sein wird. Da steht man da, oder viel wahrscheinlicher liegt man, und sieht seine letzte Minute auf sich zukommen. Es muß doch fürchterlich sein.« »Wer weiß«, versetzte der Inspektor. »Und vielleicht ist es überhaupt das Beste am Leben, daß niemand weiß, wie seine letzte Minute aussehen wird.« Langsam hatten sie ihren Weg fortgesetzt. Da drüben, unter der schweren Rotbuche, da ist es dunkel. Da muß es geschehen! dröhnte es im Schädel des Mörders. Wieder hatte er das Messer umspannt und war bereit zu dem schon so oft geübten tödlichen Stoß. Plötzlich blieb der Inspektor stehen. »He, was ist denn das?« sagte er und deutete auf eine dunkle Spur, die sich über den hellen Sand zu den Büschen hinüberzog. 292
Auch Finder war stehengeblieben und blickte auf den dunklen Streifen. »Das ist eine Schleifspur!« stieß er heiser hervor. »Sieht ganz so aus.« Der Inspektor näherte sich der dunklen Spur und ging gebückt auf den Grasrand zu, der sich scharf zum Weg hin absetzte. »Das führt zu den Büschen hinüber«, sagte er leise. Finder war ihm unwillkürlich gefolgt. Ness hatte die Büsche jetzt erreicht und griff nach den nassen Zweigen. »Die sind ja frisch abgeknickt«, preßte Finder erregt hervor. »Wir müssen leise sein«, raunte ihm der Inspektor zu, ging voran und zwängte sich durch die Büsche, und noch ehe sie den Stamm der schweren Rotbuche erreicht hatten, sahen sie es beide: Dicht vor dem Fuß des Baumes lag ein menschlicher Körper. Es war eine Frau. Der Inspektor ließ seine Stablampe aufleuchten und tastete damit ihren Körper ab. Es war eine junge Frau, höchstens fünfundzwanzig. Sie sah gut aus, trug einen Regenmantel, und ihr dunkles, offenes Haar fiel in weichen Locken von ihrem Kopf auf den feuchten modrigen Boden. Da öffneten sich plötzlich ihre Lippen. Sie stieß einen ächzenden Laut hervor. Finder spürte, daß es ihm eiskalt über den Rücken rann. Er, der selbst mehrfach solche Situationen geschaffen hatte, verspürte plötzlich ein ungekanntes Grausen. 293
»Sie lebt!« Eliot Ness richtete sich auf. »Hier, nehmen Sie die Lampe und bleiben Sie bitte bei ihr. Ich muß sofort Hilfe holen.« Finder hörte die davonhastenden Schritte des Inspektors und die zurückschlagenden Zweige des Gebüschs. Dann war er allein mit der leise ächzenden Frau. Sekundenlang lauschte er noch den Schritten des Inspektors nach und stand dann wie steif im Dunkeln vor der Frau. Hatte er sich vorhin getäuscht? Oder war die Ähnlichkeit wirklich vorhanden? Da die Frau jetzt schwieg, ließ er den Lichtstrahl der Stablampe des Inspektors aufblitzen und richtete ihn voll auf ihr Gesicht. Sie hatte die Augen geöffnet und blinzelte in den grellen Lichtschein. »Ruth!« entfuhr es ihm. Fasziniert und tödlich erschrocken zugleich durch die Ähnlichkeit, die die Frau da am Boden mit der toten Ruth Forrester hatte, verharrte er auf der Stelle. Die Lampe war verloschen. Plötzlich öffnete sie die Lippen. »Ich – bin überfallen worden. Der Mann hat mich hierhergeschleppt – ich bin aber nur leicht verletzt. Hoffentlich findet Ihr Begleiter – bald Hilfe – einen Arzt.« Einen Arzt! Hilfe wollte sie haben, von einem Arzt. Von einem Könner wie Doc Duncan vielleicht? 294
Diese Hilfe konnte auch er ihr bringen. Der Gedanke, der erst ganz hinten im äußersten Winkel seines Hirns geboren wurde, drang unaufhaltsam vorwärts, bis der vorn hinter seiner Stirn stand und Gewalt über den Mann bekam. Das Schicksal hat sie mir zugespielt! Das kann kein Zufall sein! Ich bin dazu ausersehen, Arbeit zu verrichten, die ich als Chirurg auch hätte tun müssen. Auserwählt bin ich dazu! Der abartige Mann glaubte tatsächlich, was in seinem Kopf vorging. Wieder ließ er den Lichtstrahl aufblitzen und traf damit das Gesicht der Frau. »Haben Sie – Schmerzen?« preßte er heiser durch die Zähne. »Nein, danke, es geht«, ächzte sie. »Ich habe gerade mit meinem Bekannten übers Sterben gesprochen«, sagte Finder wie zu sich selbst, ohne den Blick von der Frau zu lassen. Hart traf der starke Strahl der Stablampe erneut das Gesicht am Boden. Die Augen des Verbrechers folgten den Linien dieses Antlitzes, glitten über die Augen zu der Nase und dem vollen Mund. »Sie sehen aus – wie sie«, brach es da rauh aus der Kehle des Mannes. Die Frau schwieg. »Wie Ruth! Genauso hat sie ausgesehen, als sie vor mir lag. Nie werde ich das Bild vergessen. Aber sie wollte mich nicht, und sie glaubte nicht, daß ich ein Arzt bin, ein großer Arzt. Sie hätten es alle nicht geglaubt, die andern…« »Ich – verstehe Sie nicht«, ächzte die Frau. 295
»Sie werden mich gleich verstehen«, gab er mit vibrierender Stimme zurück, während er mit der Linken das Skalpell aus der Tasche zog. »Das heißt, Sie brauchen mich nicht mehr zu verstehen – ich werde Sie erlösen.« »Erlösen?!« »Ja, von Ihren Leiden und von diesem Leben überhaupt. Ich bin nämlich Arzt. Ich werde Sie erlösen, wie ich all die anderen erlöst habe.« Das Skalpell blitzte in seiner Hand. Da schlug ein hartes, metallisches Geräusch an sein Ohr. Sein Schädel fuhr herum. Der grelle Strahl einer starken Lampe traf sein Gesicht. Und dann war die Stimme des Spezialagenten Eliot Ness an seinem Ohr: »Robson Finder, Sie sind wegen mehrfachen Mordes und Mordversuches festgenommen!« Finder kniete immer noch auf dem linken Knie am Boden und starrte in den grellen Lichtstrahl. Die linke Hand umkrampfte noch immer das Skalpell. Die Worte, die da sein Ohr trafen, schienen aus weiter, weiter Ferne zu kommen. Ganz unzweifelhaft war es die Stimme des FBI‐Mannes. In diesem Augenblick sprang die Frau neben ihm hoch. Sie trat aus dem Lichtschein und war verschwunden. Immer noch kauerte Finder an der Erde. Er begriff nur ganz allmählich: Eine Falle! Wieder eine Falle, die Eliot Ness gestellt hatte. Doch diesmal war er hineingefallen. Die eiserne Klappe war zugeschlagen! 296
»Stehen Sie auf, Finder!« Der Verbrecher stützte sich mit beiden Händen auf den Boden, blickte unter dem linken Ellbogen zurück und sah hinter dem Baumstamm jetzt die massige Gestalt von Pinkas Cassedy auftauchen. Es war also eine vollendete Falle! Der Inspektor hatte ihn bewußt hierher geführt. Auf einmal wußte er auch, daß Ness die Falle schon gestern ausgelegt hatte, nur hatte er, Finder, nicht angebissen, als der G‐man ihn fragte, ob sie noch in den Park hinübergehen wollten. Er hatte nicht eine Spur von Mitleid mit ihm gehabt, der eiskalte Eliot Ness, all die Zeit über! Er war nicht auf seine Tricks hereingefallen, hatte sich nicht durch das Theater am Bethania‐Friedhof täuschen lassen. Auch der Mord des »Stümpers« Nugent hatte ihn nicht von der richtigen Fährte abbringen können. »Heben Sie die Hände hoch«, drang die metallische Stimme des Polizeioffiziers an sein Ohr. Finder hatte sich taumelnd aufgerichtet. Mit gesenktem Kopf starrte er auf seine Linke, in der er noch das Skalpell hielt. Es ist aus! hämmerte es in seinem Hirn – zu Ende! Die Uhr ist abgelaufen – der scharfe große Wolf hat mich zur Strecke gebracht! Plötzlich begriff Robson Finder auch glasklar, weshalb Eliot Ness diese unendliche Geduld aufgebracht hatte. Er brauchte sie ganz einfach, weil er einen Beweis haben mußte, einen echten Beweis, der vor Gericht unumstößlich war. Er hatte bisher keine Spuren finden können, die die Täterschaft von Robson Finder erwiesen. Ein Mann, der ein Skalpell führte und damit Schnitte in anderer Leute 297
Leiber zog, berührte ihre Körper nicht mit seinen Fingern, hinterließ also keine Fingerabdrücke. Und es war mit dem Teufel zugegangen, daß der Aufschlitzer bisher auch sonst keinerlei Spuren hinterlassen hatte. Weder brauchbare Schuhabdrücke noch sonst irgend etwas. Aber der unbeirrbare Mann vom Oakwood Cemetery hatte mit seiner Ausdauer den Sieg errungen. Nur Bruchteile von Sekunden waren seit dem Augenblick vergangen, an dem Finder sich erhoben hatte. Noch immer unklammerte seine Linke das Messer. Vielleicht sah der Inspektor es nicht – es war auch völlig einerlei. Er würde das Skalpell hochreißen und es sich durch die eigene Kehle ziehen. Nie und nimmer würde er auf den Elektrischen Stuhl steigen! In dem Augenblick aber, in dem seine Hand hochschnellte, bellte vor ihm aus dem Lichtstrahl heraus ein Schuß auf. Ein fürchterlicher Schmerz schoß durch seinen linken Arm; die Kugel hatte sein Handgelenk getroffen. Das Skalpell lag mehrere Schritte hinter ihm am Baumstamm. Cassedy bückte sich und hob es auf. Dann trat er von hinten an den ächzenden Mörder heran und legte ihm schwer die Rechte auf die Schulter. »Kommen Sie, Finder.« Halb ohnmächtig vor Schmerz und Benommenheit torkelte der Mörder durch die Gasse, die ihm der Inspektor und die Frau bahnten, hinaus auf den Weg. Er ahnte nicht, daß es die winzige blaurote Spur in seinem linken Augenwinkel gewesen war, die ihn zu Fall 298
gebracht hatte. Die Spur, die von Ruth Forresters Bleistiftabsatz stammte, den Dorothy Finder ihrem Neffen ins Gesicht gestoßen hatte, ehe sie starb. Eine hauchdünne Spur nur – aber sie war Eliot Ness nicht entgangen, als er Finder am Morgen nach der Tat erstmals sah. – E N D E –
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In 14 Tagen erscheint
Boß Drenkhan kassiert Roman von Al Cann Die Jagd nach dem Gangster‐Chief Jake Drenkhan ist der erste Zusammenprall von Eliot Ness alias Mr. Chicago mit einer Verbrecherbande. Der FBI‐Man ahnt selbst noch nicht, daß gerade Banden einmal sein Schicksal werden. Das Bandentum Chicagos nimmt immer mehr zu, und die Zeit der perfekt organisierten Gangs bricht an. Unter dem großen Al Capone werden sie ihren eindrucksvollen Höhepunkt erleben. Es ist kein Zufall, daß genau zu dieser Zeit die Sternstunde des Eliot Ness beginnt. Der FBI‐Chief ist der einzige, der Al Capone auf Augenhöhe begegnet. Einstweilen jedoch hat er ein anderes Problem:
Boß Drenkhan kassiert… Bei Ihrem Zeitschriftenhändler erhältlich
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Al Capone Nr. 3
Boß Drenkhan kassiert
von AL CANN Es war ein ganz feines, nadelspitzes Gerät, das der Fremde ihm vors Gesicht hielt. Bernie Tucker spürte, daß ihm der Schweiß aus allen Poren trat. Er hielt den Atem an und starrte auf die winzige Kanüle. Er spürte förmlich, daß in ihr der Tod lauerte. Wie war das eigentlich alles gekommen? Es war kurz nach zwei gewesen, die Zeit, um die er die Bar meistens schloß. Er hatte zusammen mit Viola die Stühle auf die Tische gestellt und war dann zum Eingang gegangen, um abzuschließen. In diesem Augenblick hatte sich der Mann an ihm vorbeigedrängt. Es war ein untersetzter Mensch in den Dreißigern, mit einem breiten Gesicht und tiefliegenden Augen. Als er sich an dem Wirt vorbeischob, schlug diesem ein merkwürdiger Geruch entgegen, der ihn an Heu erinnerte. Tucker war so verblüfft, daß er erst, als der Mann schon hinter ihm im Schankraum war, die Tür wieder aufriß und auf die Straße deutete. »Es tut mir leid, wir haben nicht mehr geöffnet.« »Schließen Sie die Tür!« Wie ein Befehl war es aus dem 301
schmallippigen Mund des Fremden gekommen. Als Tucker dieser Aufforderung nicht gleich nachkam, schob der andere die Tür mit dem Fuß zu. Achtundvierzig Jahre alt war Bernard Tucker. Vor sieben Jahren hatte er zusammen mit Viola, seiner fünfzehn Jahre jüngeren Frau, die Hold in‐Bar in der 30. Straße in Cicero gekauft. Der ehemals sehr verrufene Stadtteil inmitten Chicagos hatte in den letzten Jahren durch die vielen Häuserabrisse und Neubauten ein völlig neues Gesicht bekommen. Unweit der großen Odgen‐ Avenue, ganz in der Nähe des Bahnhofs, lag die Hold in‐ Bar. Sie hatte früher einem Boxer gehört, einem Mittelgewichtsmeister, der sich zu Tode getrunken und die Bar einer alten Frau vermacht hatte, von der es hieß, daß sie einmal seine Freundin gewesen sei. Von dieser Mrs. Snyder hatte Tucker die Bar erworben. Es waren ausschließlich seine Ersparnisse aus dreiundzwanzig harten Jahren, in denen er sich quer durch die Stadt gekellnert hatte. Die blondhaarige Viola hatte er ein paar Jahre vorher kennengelernt. Sie arbeitete an der Theke einer Bar drüben in Stickney, in der auch er in Nachtschicht beschäftigt gewesen war. Well, man hätte auch eine Bar mieten können. Aber es war seit eh und je Bernies Traum gewesen, eines Tages einmal etwas Eigenes zu haben. Und das hatte er an einem Januartag vor sieben Jahren dann ja auch geschafft. Aber die Bar des Boxers erwies sich als nicht besonders zugkräftig, und Tucker hatte sehr viel hineinstecken müssen, um überhaupt das Existenzminimum zu schaffen. Mit der 302
Zeit hatte er dann einen Kundenkreis geworben und konnte heute auf eine gewisse kleine Rücklage zurückblicken. Dennoch, ein reicher Mann war er nicht und würde er hier wohl auch nicht werden. Pulvertrocken war sein Mund. Seine Zunge klebte wie ein ausgedörrtes Blatt an seinem Gaumen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er in die flimmernden gelben Lichter des Fremden, der jetzt dicht vor ihm stand. Wieder schlug ihm der merkwürdige Geruch von Heu entgegen. Da bückte sich der andere blitzschnell und schob mit der rechten Hand einen der Türriegel vor. »Wo ist Ihre Frau?« Viola war nicht seine Frau. Zum Heiraten gehörte nach Meinung Tuckers eine Menge Geld; und seit er nach ein paar Jahren die Scheidung gegen Mary durchgebracht hatte, dachte er nicht mehr ans Heiraten. Ob Viola vielleicht doch daran dachte? Merkwürdig, daß ihm jetzt plötzlich dieser Gedanke durch den Kopf zuckte. Was ging es den anderen an, ob Viola seine Frau war oder seine Freundin. »Sie ist schon gegangen.« »Ich habe nicht gefragt, ob sie schon gegangen ist, sondern wo sie ist«, schnarrte der andere. Tucker deutete mit dem Kopf zur Zimmerdecke. »Oben – wird sie sein.« »Sind Sie sicher?« »Ja. Was sollte sie auch hier noch? Sie hat schließlich 303
von zwei Uhr nachmittags hier hinter der Theke gestanden. Eine lange Zeit, wie Sie zugeben werden müssen.« »Los, kommen Sie mit.« Nachdem sich der Fremde mit einem raschen Blick davon überzeugt hatte, daß die schweren roten Vorhänge alle zugezogen waren und man von draußen keinerlei Einblick haben konnte, schob er Tucker vor sich her der Theke entgegen. Der Wirt schluckte schwer. Er glaubte, begriffen zu haben. Es war ein Überfall! Blitzartig fiel ihm Joe Bladford ein, ein Schankwirt drüben aus der 28. Straße, bei dem vor zwei Wochen um die gleiche Stunde eingebrochen worden war. Nicht nur, daß die Gangster oder der Gangster die gesamte Kasse hatten mitgehen lassen, Bladford war auch noch von einem Schuß am Kopf verletzt worden, der ihn zwar glücklicherweise nicht getötet, seinen Sehnerv aber so empfindlich getroffen hatte, daß er zeitlebens an einer Augenschwäche leiden würde. Bladford war ein junger Mann von dreißig Jahren, der den größten Teil des Lebens noch vor sich hatte. Und nun war ihm das passiert. Wie oft hatten Bekannte ihm geraten, sich einen Revolver zu kaufen. »Jeder in Amerika besitzt einen Revolver«, pflegte sein Freund Armstrong zu sagen. Auch Doc Braddock, der hier immer seinen Aperitif trank, hatte ihn darauf hingewiesen, daß es in Chicago notwendig für einen Barwirt wäre, eine Waffe zu besitzen. 304
Aber was hätte ihm jetzt die Waffe genützt? Der Mann stand vor ihm und fixierte ihn aus kalten, bernsteinfarbenen Lichtern. Vielleicht hätte man es sich zur Gewohnheit machen sollen, abends, wenn die Schenke geschlossen wurde, mit der Waffe zur Tür zu gehen. Aber was brachte das ein? Was hätte er, Bernard Tucker, gegen diesen Gangster machen sollen? Man brauchte sich diese Type doch bloß anzusehen. Der Kerl war wahrscheinlich zu allem entschlossen. Merkwürdig, von welcher Eiseskälte man plötzlich erfüllt war, wenn man wußte, daß es womöglich zu Ende ging. Wie anders hatte Tucker sich das doch immer vorgestellt. Es war sein größtes Grauen. Schon seit Ende seiner Zwanziger Jahre hegte er eine unabwendbare Furcht vor dem Tod im Altersbett. Es graute ihm vor dem Gedanken, eines Tages irgendwo in einem gardinenlosen Raum mit kahlen, hohen Wänden neben anderen Sterbenden liegen zu müssen, neben Männern in den Siebzigern, die verbraucht waren und den Tod erwarteten. Er würde dann da liegen, vielleicht noch nicht so zerschlagen wie die anderen, aber doch ebenso unfähig, sich von seinem Lager zu erheben. Es war dann nichts weiter als ein Warten auf das Ende. Die letzte Station! So nannte er es bei sich. Es waren die trübsten Gedanken des Bernie Tucker. Erst Viola hatte diese dunklen Gespenster seit vielen Jahren aus seinem Hirn vertrieben. Sie hatte mit ihrer Jugend sehr viel Frische in 305
das Leben des alternden Barbesitzers gebracht und ihn unbewußt damit verjüngt. Aber plötzlich war der Gedanke an den Tod wieder da. Glashart und deutlich stand er vor ihm. Der Mann wird seinen Revolver ziehen und mich niederknallen. Aber was nützt ihm das? Er muß an die Kasse. Die ist automatisch gesperrt, und wenn er das Geld haben will, dann braucht er mich dazu. Meine Kenntnis von dem Schloßmechanismus. Ein Gangster dieses Schlages weiß so etwas. Also habe ich noch eine Chance – wenn es auch nur eine winzige ist. Da stieß der andere ihn derb in die Seite. »Öffnen Sie die Kasse!« »Was soll das heißen?« Plötzlich hatte der Eindringling einen Gegenstand in der Hand, den er blitzartig hochriß. Dicht vor den Augen des Barbesitzers gähnte das schwarze winzige Loch der Kanüle – und dahinter war ein metallener Ring, der eine kurze Glaskammer abschloß. Eine Injektionsspritze – und ohne Zweifel mit einem tödlichen Gift gefüllt. Tucker schluckte schwer. Er warf einen verzweifelten Blick gegen die Decke. Da verspürte er plötzlich einen stechenden Schmerz in seinem linken Fuß. Der Verbrecher hatte ihm einen seiner schweren Schuhe auf den Fuß gesetzt. »Keine Blicke zur Decke, Tucker, von da kommt dir keine Hilfe. Mach dir keine Hoffnungen! Los, öffne die 306
Kasse!« Der Barwirt stierte wie ein hypnotisiertes Kaninchen die Schlange an, die ein winziges, nadelfeines Auge hatte. Und dahinter warteten zwei Kubikzentimeter eines tödlichen Gifts. »Wird’s bald!« Da fiel der Bann von Bernie Tucker ab. Er nickte, wandte sich zur Seite und ging auf steifen, gefühllosen Beinen um die Theke herum. Als er die Kasse erreicht hatte, blieb er einen Augenblick stehen und warf einen Blick über die linke Schulter in das Gesicht des Banditen. »Wer sind Sie?« Der zischte ihn an: »Sind Sie verrückt? Glauben Sie vielleicht, daß ich Ihnen meinen Ausweis zeigen werde? Öffnen Sie die Kasse!« Tucker nickte wieder, und während er die Rechte nach dem Patentgriff ausstreckte, sagte er wie zu sich selbst: »Also tatsächlich ein Überfall!« Da nahm der Gangster den Kopf zurück und zugleich auch die Nadel, die nur um Millimeter über dem linken Wangenknochen des Barwirts geschwebt hatte. »Sind Sie verrückt? Was fällt Ihnen ein, Mensch? Mein Name ist Tadden. Ich komme lediglich, um Sie als neues Mitglied in unser Syndikat aufzunehmen.« Syndikat! Wie ein Faustschlag traf ihn dieses Wort. Mit einem Schlag hatte er begriffen. Das, was sich da jetzt in seinem Schankraum abspielte, war schlimmer als ein gewöhnlicher Überfall, bei dem er vielleicht sein Leben 307
riskierte und seine heutige Tageskasse verlor. Denn »das Syndikat« war nichts anderes als der übliche Deckname für eine skrupellose Verbrecherbande, die sich das Ziel gesetzt hatte, die Schenken eines bestimmten Distrikts in gewissen Zeitabständen aufzusuchen, um da ihre Prozente zu kassieren. Diesmal irrte Bernie Tucker sich nicht. »Wieviel haben Sie heute eingenommen?« schnarrte Tadden, und es sah so aus, als ob er die Lippen dabei gar nicht bewegte. Tucker bemerkte, daß er die Injektionsspritze immer noch in der rechten Hand hielt. Wenn er sie jetzt auch nicht mehr neben dem Gesicht des von ihm Bedrohten schweben ließ, so befand sie sich doch immer noch in so bedrohlicher Nähe, daß neue Schweißperlen auf die Stirn des Wirtes traten. »Ich weiß es nicht genau.« »Sie wissen es schon genau. Bei diesen Patentkassen weiß man nach dem letzten Knopfdruck genau die Summe.« »Ich habe sie ganz sicher gewußt, es aber nicht für wichtig genug gehalten, sie mir zu merken.« »Öffnen!« Die Kasse sprang auf; unten im letzten Feld leuchtete eine rote Ziffer auf: 391,60 Dollar. Der Gangster nickte. Dann murmelte er etwas vor sich hin und schnarrte: »Macht achtzig Dollar!« »Wie soll ich das verstehen?« entgegnete Tucker. »Ganz einfach. Das Syndikat verlangt zwanzig 308
Prozent.« »Zwanzig Prozent?« Wieder waren die flimmernden Lichter des Gangsters vor ihm. »Haben Sie etwas dagegen?« »Das ist ja ungeheuer viel.« »Finden Sie? Wir nicht. Dafür gehören Sie zum Syndikat und haben allen Nutzen, den Ihnen das Syndikat zu bieten hat.« »Welchen – Nutzen?« wagte der Schankwirt zu fragen. »Sie werden durch das Syndikat geschützt.« »Vor wem?« »Es gibt immer Dinge, vor denen man geschützt werden muß. Zum Beispiel der Staat – oder ein anderes Syndikat.« »Aha, well, wenn es also zwanzig sind, dann haben Sie sich trotzdem geirrt, denn zwanzig Prozent von dreihunderteinund…« »Halt’s Maul! Beim Syndikat wird immer nach oben abgerundet.« Tucker nickte. Unsägliche Furcht hatte seine linke Körperseite regelrecht paralysiert. Er spürte förmlich die Injektionsspritze, die der andere immer noch in der angehobenen Rechten hielt. »Los, raus mit den Bucks! Aber ein bißchen dalli!« Tucker ließ die Kasse aufspringen, und ehe er hineingreifen konnte, hatte der andere mit der Linken einen raschen Griff hineingetan. »Fünfzig, siebzig, achtzig. So, stimmt genau.« Mit zwei 309
Schritten trat er zurück. »Von heute an wirst du alle vierzehn Tage mit den zwanzig Prozent um die gleiche Zeit bereit sein. Und nun noch eine Kleinigkeit«, fügte er mit plötzlich süßlicher Stimme, sehr viel leiser und fast freundlich hinzu: »Wenn es dir einfallen sollte, irgendeine Dummheit zu machen, die dem Syndikat nicht gefallen könnte, dann – du weißt ja Bescheid.« Er hob die Injektionsspritze bis über den Kragen des Barwirts. »Alles rollt ohne jeglichen Ärger ab, wenn du keinen Verrat versuchst. Zu deiner Information will ich dir noch sagen, daß deine Telefonleitung abgehört wird und daß du sowie deine Frau bewacht werden. Es hat also absolut keinen Zweck, daß du irgend etwas unternimmst; es wäre in jedem Fall dein eigenes Unglück. Vergiß nicht: heute in vierzehn Tagen. So long.« Nach diesen Worten verließ der Mann, der sich Tadden nannte, mit raschen Schritten die Schenke. Sekundenlang stand Tucker wie versteinert da. Dann packte er plötzlich den großen bleiernen Zettelaufspießer, rannte zur Tür und riß sie auf. Aber die Straße war leer. Bis zur Ecke war niemand zu sehen. Eine große schwarze Limousine bog vorn in die Odgen‐Avenue ein und surrte lautlos über den regennassen Asphalt vorüber. * Drei Monate waren seit diesem Ereignis vergangen. Mit unheimlicher Pünktlichkeit stellte sich der Abgesandte 310
des Syndikats alle vierzehn Tage ein und kassierte. Bernie Tucker war zu dem Schluß gekommen, zu dem die meisten anderen bedrohten Schankwirte in Chicago schon längst gekommen waren: daß es keinen Zweck hatte, irgend etwas gegen das Syndikat zu unternehmen. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen oder gar zur Polizei zu rennen, denn das Syndikat hatte etliche Wirte derart bestraft, daß den anderen die Lust zu irgendwelchem Aufbegehren schnell vergangen war. Ob das Telefon wirklich bewacht wurde, wußte Tucker nicht, aber er hatte auch keine Möglichkeit und keinen Mut, sich davon zu überzeugen. Heute war Samstag. Es waren wegen des schlechten Wetters nicht allzu viele Gäste da, und Tucker konnte schon kurz nach eins schließen. Viola stand noch an der Theke und blickte ihn aus müden Augen an. »Geh schon hinauf, ich komme gleich nach«, forderte er sie auf. Die Frau blickte ihn nachdenklich an und meinte dann: »Ich weiß, du willst bestimmt noch an der Buchhaltung arbeiten. Aber laß doch, du kannst morgen früh damit anfangen. Wir sind lange genug auf den Beinen, Bernie.« Der Mann nickte. »Ist gut. Geh nur, ich komme gleich. Ich will nur noch abschließen.« Er machte sich allein daran, die Stühle auf die Tische zu stellen, weil er es sich seit einiger Zeit angewöhnt 311
hatte, Viola so schnell wie möglich hinaufzuschicken, denn sie sah in letzter Zeit sehr blaß aus. In dem Augenblick, in dem er auf die Tür zugehen wollte, wurde sie aufgestoßen, und ein Mann drängte sich herein. Tadden! Tucker erschrak bis ins Mark. »Sie? Was wollen Sie denn?« entfuhr es ihm. »Halt’s Maul!« herrschte ihn der Gangster an. Wie immer schlug dem Wirt, als sich der andere an ihm vorbeigezwängt hatte, der scharfe, aufdringliche Geruch von altem Heu entgegen. Tadden blieb gleich hinter ihm stehen, und Tucker wußte, daß er die Injektionsspritze in der rechten Hand hatte. »Was wollen Sie?« keuchte der Wirt. »Die Zeit ist noch nicht um.« »Doch! Sie ist um!« hechelte ihm der Gangster dicht vorm Gesicht entgegen. Tucker schluckte. »Was soll das heißen? Sie sind erst vor einer Woche hiergewesen.« »Das hat sich jetzt geändert.« »Wieso?« forschte der Wirt, wobei Angst in ihm aufstieg. Dennoch hegte er die winzige Hoffnung, daß das Syndikat den Zeitpunkt des Kassierens jetzt verlegt hatte. Aber er sollte bitter enttäuscht werden. Der Gangster schnarrt: »Jetzt wird wöchentlich kassiert.« 312
»Wöchentlich?« »Ja, wöchentlich.« »Aber das ist doch unmöglich.« »Halt’s Maul! Los, zur Kasse!« Auf müden, weichen Knien ging Tucker zur Kasse und löste die Endsummen aus. Hundertzweiundsiebzig Dollar. Zwanzig Prozent davon wanderten in Taddens Tasche. Der Wirt stotterte: »Aber das ist doch unmöglich. Sie sehen selbst, welch eine schlechte Einnahme ich trotz des Wochenendes gehabt habe. Wenn Sie jetzt jede Woche kommen, um zu kassieren, dann kann ich einpacken.« »Was soll das heißen?« »Bedenken Sie doch die hohe Steuer, die auf uns lastet. Die Nachtbars werden seit dem vergangenen Jahr um drei Prozent höher besteuert als vorher.« »Uninteressant. Ich komme jetzt wie gewohnt, nur eben jede Woche.« »Da ist unmöglich.« Da zuckte die Spritze hoch. Ein winziger Tropfen drang aus der Kanüle. Ganz dicht vor Tuckers Gesicht. Er schluckte. Pulvertrocken war seine Kehle wieder. Scharf drang ihm der Heugeruch in die Nase. »Was ist das?« keuchte er. Der Verbrecher nahm die Spritze etwas herunter und hatte plötzlich wieder seinen unangenehm jovialen Ton: »Ja, vielleicht ist es ganz gut, wenn du das weißt. Das 313
ist nämlich Cupadin. Eine ziemlich unangenehme Sache.« Nach diesen Worten ging er zur Tür, blieb dann noch einmal stehen, wandte sich um und meinte: »Also, du weißt Bescheid: in einer Woche! Und keine Dummheiten!« Nach diesen Worten fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. In dieser Nacht fand Bernard Tucker keinen Schlaf. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere, starrte an die Decke, und immer wieder folgten seine Augen den scharfen Lichtstreifen, die die vorüberirrenden Autos über seine Zimmerdecke zeichneten. Gegen vier Uhr stand er auf, ging ins Bad, putzte sich die Zähne und schleppte sich dann hinunter. Er nahm einen roten Fire‐Point aus einer dickglasigen vierkantigen Flasche, zog dann die Unterlagen für seine Buchhaltung aus einer Lade und machte sich beim Schein einer kleinen, grün abgeschirmten Lampe an die Arbeit. Als Viola am anderen Morgen gegen neun aufstand, fand sie ihn noch über den Büchern. »Bernie! Wie siehst du aus?« »Wieso?« fragte er und nahm die Brille ab, die er seit einiger Zeit tragen mußte, um die Zahlen deutlich erkennen zu können. »Ganz blaß! Du solltest zum Arzt gehen.« Er erhob sich und trat an einen der kleinen Spiegel, die zwischen zwei Fenstern in die Wand eingelassen waren. Tatsächlich, bleierne Blässe bedeckte sein Gesicht. Er fuhr sich erschrocken durch den schweißnassen Kragen und wandte sich nach Viola um. 314
»Weißt du was, ich rufe sofort Doc Braddock an und frage ihn, ob du kommen könntest. Er hat bestimmt nichts dagegen«, erklärte sie besorgt. »Nein, nein, nicht anrufen. Ich kann ja so zu ihm gehen.« »Gut, wie du willst. Soll ich mitkommen?« »Nein, bleib nur hier.« Eine halbe Stunde später verließ er das Haus, ging die Straße hinunter, und als er die Ecke der Odgen‐Avenue erreicht hatte, wandte er sich um. Nicht ganz dreißig Schritt hinter ihm stand ein Mann vor der Etalage einer Bijouterie. Ein hochgewachsener Mann im Regenmantel, etwas füllig, nicht mehr der Jüngste. War das einer vom Syndikat? Schon gleich in der Woche nach dem ersten Besuch Taddens hatte er die Probe aufs Exempel gemacht. Er war hinausgegangen und hatte bald bemerkt, daß er tatsächlich verfolgt wurde. Wohin er auch ging, er wurde immer beschattet. Wie war das möglich? Wie konnte sich eine Bande so etwas leisten? Entweder verfügte das Syndikat über eine solche Unmenge von Leuten, daß es jedem einen Schatten nachschicken konnte, oder aber die Zahl der Opfer war so gering, daß man sie mühelos überwachen konnte. Als er ein Stück die Odgen‐Avenue hinuntergegangen war, verschwand er plötzlich in einem Hauseingang. Hastig eilte er zwei Etagen hinauf, blieb dann stehen und lauschte in den Treppengang. 315
Es rührte sich nichts. Fast zwanzig Minuten harrte er in dem kühlen, unfreundlichen Haus aus und ging dann wieder hinunter. In dem Augenblick, als er auf die Straße trat, sah er den freundlichen, etwas beleibten Mann im Regenmantel drüben auf der anderen Straßenseite an einer Bushaltestelle stehen. Kein Zweifel: Das Syndikat wachte. Zehn Minuten später stand er vor dem Haus des Arztes. Melvin Braddock MD, so stand es vor dem Haus des Arztes. Melvin Braddock war ein Mann in den Vierzigern, hochgewachsen, mit angegrauten Schläfen und schütterem Haar. Er war Junggeselle und lebte auf der zweiten Etage eines verhältnismäßig neuen Hauses, wo er auch seine Praxis hatte. Eine ältliche Frau öffnete dem Schankwirt und blickte ihn unfreundlich an, als sie hörte, daß er den Arzt zu sprechen wünschte. »Der Doktor ist sonntags nicht zu sprechen. Das sollten Sie wissen. Kommen Sie morgen wieder.« Sie wollte die Tür schließen, aber Tucker hatte seinen Fuß dazwischengesetzt. »Augenblick, Madam, der Doktor ist ein Freund von nur.« »Ach, das kenne ich, das sagen viele.« Wieder wollte sie die Tür schließen. Aber Tucker ließ sich nicht abschütteln. »Ich muß mit ihm sprechen!« 316
»Was fällt Ihnen ein? Ich werde die Polizei rufen. Wie können Sie es wagen –« »Mel!« rief Tucker da laut in den Hausgang. Da wurde hinten die Tür des Badezimmers geöffnet, und die hohe Gestalt des Arztes trat heraus. Mit raschen Schritten kam er zur Tür. »Was gibt’s denn? Du bist’s, Bernie? Was ist passiert? Komm rein.« Er schloß den Gürtel seines dunkelroten Bademantels und gab der Frau einen Wink, sich zu entfernen. Schweißnaß ging Tucker vor dem Arzt her; als sie in den Wohnraum gekommen waren, sank er in einen Sessel. »Es tut mir leid, Mel, daß ich dich störe, aber… ich muß endlich mal mit einem Menschen reden.« »Was hast du denn?« Tucker berichtete, was es zu berichten gab. Aufmerksam hörte der Arzt ihm zu. »Das ist ja eine ungeheuerliche Geschichte.« »Ja, und ich bin auch nicht gekommen, weil ich hoffte, daß du mir helfen könntest…« »Nein, das kann ich auch nicht. Aber es ist trotzdem gut, daß du gekommen bist. Über solche Sachen muß man sich einmal aussprechen; und vielleicht ist es ganz gut, daß ich Bescheid weiß. Wie, sagtest du, roch das Zeug, das der Kerl dir unter die Nase hielt?« »Ich weiß es nicht, aber es erinnerte mich irgendwie an einen starken Geruch von altem Heu. Wahrscheinlich ist es Blödsinn, aber es erinnerte mich einfach deshalb 317
daran, bevor ich hier festen Fuß faßte, wie du ja weißt; da habe ich öfter bei Bauern im Heu geschlafen. Wenn das Heu ziemlich alt ist und in muffigen Räumen lagert, dann hat es diesen merkwürdigen scharfen Geruch.« »Das ist gar nicht so falsch«, entgegnete er Arzt, und Tucker sah, daß er einen Schein blasser geworden war. »Kennst du das Zeug etwa?« »Ich glaube, ja. Und wenn es das ist, was ich meine, dann ist es ziemlich gefährlich. Es heißt Cupadin und…« »Ja, genauso nannte er es, ich hatte bloß den Namen vergessen. Was ist das für ein Zeug?« »Also, tatsächlich«, versetzte Braddock sehr ernst, »dann kann ich dich nur zu äußerster Vorsicht mahnen. Dieses Cupadin ist ein teuflisches Gift, verwandt mit dem gefürchteten Pfeilgift Curare. Sieh bloß zu, daß du mit dem Zeug nichts zu tun bekommst. Schon ein Milligramm davon bewirkt eine Art Nervenlähmung und fürchterliche Schmerzen.« Tucker fuhr sich mit dem Mittelfinger der Rechten unbehaglich durch den auf einmal sehr eng gewordenen Kragen. »Das ist ja scheußlich.« Der Arzt nickte. »Warte, ich hole dir was.« Er kam mit einer Schachtel Tabletten zurück. »Das sind Beruhigungspillen. Sie sind ungefährlich. Vielleicht solltest du abends hin und wieder eine nehmen. – Weiß Viola davon?« »Kein Wort. Um Himmels willen, ich möchte es nicht. 318
Sie ist sowieso so abgearbeitet und blaß. Wenn ich daran denke, wie schön sie war…« Melvin Braddock lächelte. »Das ist sie immer noch, Bernie. Da kannst du beruhigt sein.« * Es blieb dabei; Tadden kam pünktlich jede Woche und kassierte. Wobei es nicht blieb, waren die zwanzig Prozent. Eines Tages forderte er dreißig. Das war der Tag, an dem Tuckers Geduld riß. Er holte urplötzlich aus und versetzte dem Gangster einen Schlag, der ihn zurücktaumeln ließ und vor der Theke zu Fall brachte. Tadden lag, auf dem rechten Ellbogen gestützt, am Boden; in der angehobenen Hand blinkte die Spritze. Eisiger Schreck lähmte alle Glieder des Barwirtes. Er vermochte sich nicht zu bewegen. Mit geweiteten Augen starrte er auf den Verbrecher. Der hatte den Mund zu einem winzigen Strich zusammengezogen. Viele kleine scharfe Falten zogen sich von diesem dünnen Strich ins Gesicht. »Was hast du da gewagt, Dreckskerl!« Plötzlich flog die kleine Spritze vorwärts und blieb im linken Wadenmuskel des Wirtes stecken. Selbst durch den starken Stoff der Tweedhose hatte sie sich ihren Weg in die Haut des Getroffenen gebahnt. Der Schmerz war nur winzig, und Tucker wäre auch gar nicht in der Lage 319
gewesen, einen Schrei auszustoßen. Zu sehr war er noch vom Schreck benommen. Tadden erhob sich, kam blitzschnell heran und zog die Spritze zurück. »Wenn du Glück hast, hast du nur wenig abbekommen, andernfalls steht dir einiges bevor. So, und jetzt kommen wir zur Sache.« Als er sah, daß Tucker auf einmal vor Schmerz das Gesicht verzog, in sich zusammensank und den Kopf hart gegen die Rückwand der Theke stieß, trat der Gangster kaltblütig an die Kasse, tippte die rote Leuchtzahl der Schlußsumme selbst und kassierte mit eisiger Ruhe dreißig Prozent. Während er um die Theke herumging und sich dem Ausgang näherte, sagte er leutselig: »Es ist ganz gut, daß du jetzt mal Erfahrung mit der Antwort des Syndikats auf Ungehorsam machst. Verhalte dich ruhig, dann wird das Gift am wenigsten Gewalt über dich gewinnen. Es wird ein paar Krämpfe geben, und nach ein paar Stunden kannst du mit Besserung rechnen. Wenn du etwas mehr davon abbekommen hast, mußt du mit ein, zwei Tagen rechnen. Es geht eben nicht anders. Und denk daran: halt’s Maul! Sonst geht’s dir schlecht, noch sehr viel schlechter als jetzt. Und übrigens: wenn dir irgend etwas an deiner Frau liegt, dann hältst du dein Maul eisern dicht. Ist das klar?« Lautlos verschwand der Gangster aus der Schenke. Dreieinhalb Stunden wurde der Schankwirt von fürchterlichen Krämpfen gepeinigt, aber er wagte nicht, 320
einen Arzt zu rufen. Ratlos stand Viola an seinem Bett. Er hatte ihr befohlen, nichts zu unternehmen. »Ich verstehe dich nicht, Bernie«, sagte sie, als der Morgen zu grauen begann. »Braddock würde doch sofort kommen. Er ist doch mit uns befreundet.« »Du bleibst hier!« »Ich könnte ja telefonisch…« »Du rührst mir das Telefon nicht an!« »Aber, um Himmels willen, was ist denn geschehen?« stammelte die Frau. »Sei still!« Es war die fürchterlichste Nacht seines Lebens. Niemals zuvor hatte er ähnliche Qualen durchzustehen gehabt. Am nächsten Morgen schien alles vorüber zu sein. Als er sich dann aber erhob und aufstehen wollte, spürte er, daß sein linkes Bein, sein linker Arm, überhaupt seine ganze linke Körperhälfte einschließlich der Gesichtsmuskeln wie taub waren. Es dauerte Tage, bis er die Nachwirkungen des teuflischen Lähmungsgiftes überwunden hatte. Das Syndikat hatte ihm einen Denkzettel erteilt. Es waren keine feinen Mittel, die das Syndikat einsetzte. Diese Organisation war in nichts zu vergleichen mit dem legendären Al Capone – und dennoch gefährlich. Der Gangsterkönig selbst ließ andere im Trüben fischen. Sie alle konnten ihm nicht das Wasser reichen, aber irgendwann einmal nützlich für ihn sein. Al Capone würde das Gangstertum zur vollen Meisterschaft bringen; ein Künstler, der ein Gangster war. Fast 321
vornehm hielt er sich einstweilen noch zurück. Aber er war schon bereit für die ganz große Nummer, der Alfonso Capone… * Woche für Woche stellte sich der Gangster Joseph Tadden mit größter Pünktlichkeit ein, um die dreißig Prozent für das Syndikat zu kassieren. Der Sommer kam und verging, und der Herbst schlich vorüber. Es war an einem trüben Winterabend, als der untersetzte Mann vom Syndikat plötzlich unerwartet nach Feierabend in der Tür erschien. »Morgen ist doch erst der Tag«, entfuhr es dem Wirt. »Richtig. Aber der Tag wird jetzt verlegt. Ich werde jetzt immer einen Tag früher kommen.« »Weshalb?« Sofort nachdem er diese Frage ausgesprochen hatte, wurde Tucker klar, wie unsinnig sie war. Aber wenn er geglaubt hatte, daß es nur um eine Verlegung des Kassiertages ging, so wurde er erneut schwer enttäuscht. Diesmal sogar besonders schwer, dann Tadden erklärte mit rauher Stimme: »Das Syndikat muß jetzt vierzig Prozent kassieren.« »Vierzig? – Sind Sie wahnsinnig, Tadden? Das kann nicht Ihr Ernst sein! Nein, nein, das glaube ich Ihnen nicht.« »So?« »Ich habe Sie im Verdacht, Tadden, daß Sie das Syndikat betrügen wollen.« 322
Er war nicht mehr zurückzunehmen, der Satz, den er da ausgesprochen hatte, und der Gangster maß ihn aus ganz schmalen Augen. In seiner rechten Hand blinkten die beiden Metallkappen der Injektionsspritze. Ein Lichtstreifen zuckte über die Kanüle. Langsam, wie ein Raubtier, kam der Bandit näher. Der Wirt wich zurück. Seine linke Hand umspannte instinktiv eine Stuhllehne. »Mach dich nicht lächerlich, Tucker. Ehe du den Stuhl angehoben hast, habe ich dir die Spritze ins Gesicht geworfen; und was dir dann blüht, das kannst du dir vorstellen.« »Verdammtes Schwein!« Eine verächtliche Lache brach von dem dünnlippigen Mund des Verbrechers. »Stell dich nicht an, du wirst es verschmerzen können.« »Nein, das kann ich eben nicht!« »So, und weshalb nicht?« »Weil ich das Geld ganz einfach nicht mehr habe.« »Mach dich doch nicht mausig, Mensch. Wir wissen genau, daß dir der Laden gehört.« »So? Dann wißt ihr mehr als ich. Ich habe zwar einen Teil der Kaufsumme selbst aufgebracht, aber ich habe zweiundsiebzigtausend Dollar dazu aufnehmen müssen. Wenn ihr es nicht glaubt, könnt ihr euch bei der Bank of Illinois erkundigen. Sie liegt unten in der Waterloo Street. Schätze, daß euer Boß sie kennen wird.« »Wie dem auch sei; es ändert nichts an der Tatsache, 323
daß das Syndikat vierzig Prozent kassiert. Alles andere geht mich nichts an.« »Das kann ich mir denken. Es geht Sie nichts an, weil Sie die Sorgen ja nicht zu tragen haben…« Es blieb dabei: Vierzig Prozent! Das Syndikat hatte in einem knappen Jahr einen Würgegriff um seine Opfer gelegt, der den Betroffenen die Luft abzuschnüren drohte. Vierzig Prozent, das war bei den meisten schon ein gewaltiger Schlag, bei einigen von ihnen fast tödlich. Denn nicht alle, die von dem Syndikat erpreßt und bedroht wurden, waren in der Lage, einen solchen Prozentsatz zu zahlen. Die vierzig Prozent gingen ja nicht etwa vom Reingewinn ab, sondern von der eingenommenen Summe; und das Syndikat hatte mit der Zeit herausgefunden, welches die besten Tage für die einzelnen Kunden waren. So war es im »Hold in« Bernie Tuckers nicht etwa der Samstag, sondern der Dienstagabend. Mit großer Genauigkeit hatte das Syndikat das studiert. An diesem Tage wurden regelmäßig zwischen vier‐ und fünfhundert Dollar in der Bar eingenommen. Für eine so kleine Schenke war der Betrag immerhin nicht unerheblich. Und vierzig Prozent davon – das war mehr, als Tucker im Durchschnitt in der ganzen Woche erübrigen konnte. Hinzu kam die Befürchtung, daß der Würgegriff des Syndikats sich noch verschärfen würde. Wieder war ein Dienstagabend herangekommen. Der Tag war kalt gewesen, und draußen rieselte feiner 324
Schnee, dessen Flocken einen wirbelnden Tanz um die Straßenlaternen vollführten. Es war ein schlechter Tag gewesen für die Hold in‐Bar. Mit verkrampftem Gesicht stand der Wirt hinter der Theke und blickte zur Tür. Es war wenige Minuten vor zwei. Der letzte Gast hatte eben die Schenke verlassen. Plötzlich stürmte der Wirt vorwärts und schlug die Tür ins Schloß. Er warf die beiden Riegel vor und lehnte sich gegen den Türrahmen. Den Kopf zurückgelegt, atmete er tief ein. Dann spannte sich seine rechte Hand um den Griff des Stiletts, das er sich vor wenigen Stunden gekauft hatte. Er glaubte ganz sicher zu sein, daß ihn niemand beobachtet hatte, als er wie ein Irrer durch das Warenhaus geflüchtet und seinem Bewacher entkommen war, um in einer Nebengasse in einem Waffengeschäft das italienische Stilett für sieben Dollar zu erstehen. »Es ist dein Glück, Junge, daß du nicht gekommen bist, du hättest den heutigen Tag nicht überlebt«, flüsterte er vor sich hin. Plötzlich packte ihn eisiges Grauen. Drüben, links hinter der Theke, öffnete sich die braune Mahagonitür, auf der das große M (for Men) stand. Tucker hielt den Atem an. Leise ächzten die beiden Türangeln. Quälend langsam wurde die Tür geöffnet. Dann war plötzlich eine knochige, langfingrige Hand zu sehen, die einen blinkenden Gegenstand umspannte. Die Injektionsspritze! 325
Tucker hatte das Gefühl, das Herz müßte ihm stehenbleiben. Mit zusammengepreßten Zähnen beobachtete er, wie der Mann drüben aus der Tür kam. Es war nicht Tadden. Es war ein großer, schlanker Mensch Anfang der Vierzig mit einem hageren Gesicht und dunklen Augen. Er trug einen grauen Hut und über dem linken Arm einen grauen Regenmantel. Sein Anzug war dunkel, sein Hemd weiß und seine Krawatte blauweiß gestreift. Er machte einen gepflegten Eindruck, und der Wirt erinnerte sich, daß er ihn noch vor einer Dreiviertelstunde an der Theke gesehen hatte. Aber daß der Mann in der Toilette verschwunden war, hatte er nicht beobachtet. Ein zynisches Grinsen lag auf dem Gesicht des anderen, und mit wenigen Schritten war er neben der Theke. »Tut mir leid, Tucker, aber mein Freund Tadden konnte heute nicht kommen. Mein Name ist übrigens – Smith. Einfach Smith. Leicht zu merken und nicht zu verwechseln. Ich nehme an, es freut dich, mich kennenzulernen.« Der Wirt stand wie versteinert da und stierte auf den Gangster, der jetzt neben der Theke stand und ihn aus kalten Augen fixierte. »Na, Bernie, willst du mir keinen Drink anbieten?« »Was wollen Sie?« »Ich denke, das solltest du doch wissen. Ich sagte doch, mein Name ist Smith. Ich bin vom Syndikat.« Vielleicht war diese Eröffnung noch ein besonderer 326
Schlag für Bernie Tucker; hatte er doch seit langem den winzigen Gedanken irgendwo in den letzten Winkeln seines Gehirns gehegt, daß all das mit dem Syndikat vielleicht nicht stimmte, sondern nur eine Erfindung dieses Joseph Tadden wäre. Daß es sich da also nur um einen einzelnen Gangster handelte, der sich das ungeheure Gaunerstück geleistet hatte, hier einen Menschen auf so fürchterliche Weise zu erschrecken und zu erpressen. Das Auftauchen dieses zynisch grinsenden, knochigen Mannes aber war für Tucker der Beweis dafür, daß Joseph Tadden nicht etwa ein Einzelgänger war. Das Syndikat schickte ihm den zweiten Mann. »Was wollen Sie?« preßte er durch die Zähne. Da löste sich Smith von der Theke, machte ein paar Schritte auf ihn zu, legte den Regenmantel auf einen Tisch, und blitzschnell flog die knochige linke Hand in Tuckers Gesicht. Die Ohrfeigen waren so hart, daß der Getroffene vor Schmerz hätte aufschreien mögen. Wie mit einem Holzstock geprügelt, flog sein Kopf hin und her. Als der andere endlich von ihm abließ, hatte Tucker das Gefühl, daß der Gangster ihm mindestens fünf Zähne ausgeschlagen hätte. Der bittere Geschmack von Blut war auf seiner Zunge. »So, und jetzt zur Kasse, Brother«, sagte Smith, und wieder stand das grausame Grinsen in seinem Gesicht. Bernard Tucker zahlte. Er zahlte weiter – obgleich er jetzt wußte, daß er es nicht würde durchhalten können. Er hatte tatsächlich damals bei der Bank of Illinois ein großes Darlehen aufnehmen müssen, als er den Kauf der 327
Bar durchgeführt hatte. Viola wußte gar nichts davon. Es war ganz ausgeschlossen, bei einem derartigen Aderlaß, wie ihn das Syndikat jetzt vornahm, durchstehen zu können. Die Abzahlungssumme bei der Bank war zu groß, als daß er auf die Dauer weiter existieren könnte. Für seinen persönlichen Bedarf nahm er schon seit langem so gut wie nichts mehr aus der Kasse, aber er sah darauf, daß Viola in nichts beschränkt wurde. Glücklicherweise war die blonde Viola Faber eine Frau, die ziemlich anspruchslos war. Dennoch mußte es ihr langsam auffallen, daß er jeden Cent zur Seite legte. Längst hatte Tucker es aufgegeben, noch irgend jemanden um Rat oder um Hilfe zu fragen; und was ihm auffiel, war die Tatsache, daß der Arzt Melvin Braddock seine Schenke nicht mehr aufsuchte. Die Angst vor dem Syndikat hielt ihn fern. Tuckers Leben war düster geworden. Sein Gesicht hatte eine graue Farbe angenommen, und tiefe Falten zerfurchten die Stirn. Fast über Nacht waren seine Haare an den Schläfen grau geworden. Der noch vor einem knappen Jahr so jugendliche Mann wirkte jetzt verbraucht und hinfällig. Viola Faber sah es mit zunehmendem Schrecken. Sie liebte diesen Mann wirklich und litt um ihn. Aber da er in sich verschlossen war und offensichtlich über nichts sprechen wollte, und da sie sein Schweigen respektierte, schwieg auch sie. Das Leben der beiden unglücklichen Menschen in der 30. Straße des großen Chicago zerfiel von Tag zu Tag. 328
Und dann kam der Abend, an dem Tadden, der nun wieder wöchentlich die vierzig Prozent kassieren kam, unerwartet in der Bar auftauchte. Er war wieder kurz vor Feierabend – aber es war nicht der übliche Tag des Kassierens. An diesen Tagen nämlich verspürte der Salooner schon am frühen Morgen, wenn er aufstand, einen dumpfen Druck im Magen und einen Schmerz im Genick. Aber heute war erst Montag. Tadden schob sich an ihm vorbei und warf die Tür ins Schloß, kickte mit dem linken Absatz den Riegel unten vor und verzog auf eine unangenehme Weise den Mund. »Ich brauche einen Drink.« »Was soll das heißen?« »Los, stell dich nicht so an, ich brauche sofort einen Drink!« »Weshalb kommen Sie heute?« »Es hat sich etwas geändert.« Der Wirt schluckte schwer. Der Speichel wollte gar nicht mehr durch die Kehle; wie zugeschnürt war sie ihm. Tadden ging mit raschen Schritten an ihm vorbei auf die Theke zu, nahm eine Flasche Scotch und kippte sich ein halbes Wasserglas voll. Als er es anhob, hielt er plötzlich inne und blickte auf den Mann drüben an der Tür. In der rechten Hand des Schankwirts blinkte ein großes Stilett. Das leise Klicken, das beim Aufschnappen entstanden war, hatte den Gangster aufmerksam gemacht. 329
Der ließ das Glas sofort fallen, und seine Linke zuckte in die Jackentasche. Ein zweiläufiger Derringer‐Revolver steckte in seiner nach vorn gestoßenen Faust. »Die Sache steht jetzt eins zu null für mich, Tucker. Du kannst dir das überlegen. Ich an deiner Stelle wäre vernünftig.« »Weshalb sind Sie heute gekommen?« »Weil das Syndikat ein paar Bucks mehr braucht.« »Wie soll ich das verstehen?« keuchte der drangsalierte Mann. »Wir wollen nicht lange herumreden, Tucker, die Leute zahlen jetzt alle freiwillig fünfundvierzig.« »Fünf – fünfundvierzig!« keuchte der Salooner. Dann machte er ein paar torkelnde Schritte zur Seite und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Immer noch spannte sich seine rechte Hand um das Messer. »Ich denke, du wirst vernünftig sein, Tucker«, sagte der Verbrecher von der Theke her, während er sich ein neues Glas nahm, den Revolver wegschob und in langsamen Schlucken trank. »Andernfalls würde ich dir raten, morgen vormittag mal einen kleinen Spaziergang in die 29. Straße hinunterzumachen, wo ein Kollege von dir, ein gewisser Jeffreys, wohnt. Vielleicht siehst du ihn dir einmal an – ihn und seinen Laden…« Er mußte fünfundvierzig Prozent zahlen. Und am nächsten Vormittag las er es in der Zeitung: Der Schankwirt Jeroboan Jeffreys war in den späten Nachtstunden hinter seinem Haus gestürzt und hatte sich dabei eine Lähmung zugezogen, die es ihm 330
unmöglich machte, zu sprechen oder auch nur ein Glied zu rühren. Tucker hob den Kopf und stierte benommen durch die Ornamentglasscheiben auf die Straße. Wie Schemen huschten die Autos und die Menschen draußen vorbei. Da saß er hier mitten in der Weltstadt Chicago, und der Würgeengel einer Gangsterbande hatte ihm eine eiserne Klammer um die Kehle gelegt. Eine Klammer, aus der es kein Entkommen gab. Er würde in ihr ersticken. Fünfundvierzig Prozent verlangte das Syndikat, und wer sich widersetzte, wurde bestraft wie der Schankwirt Jeroboan Jeffreys. Und die Auflagen des Syndikats verschärften sich noch. Es wurden keine Prozente mehr erhoben, sondern feste Summen – Summen, die für jeden Betrieb eigens festgelegt worden waren. Die Summe, die der Salooner Bernard Tucker zu entrichten hatte, war derart hoch, daß er vor Schreck erstarrte. Er war gar nicht in der Lage, eine solche Summe auch nur einen Monat lang zu zahlen, ohne einen totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu erleben. Eine seltsame Apathie hatte den so plötzlich alternden Mann erfaßt. Er ging wie im Traum umher, sprach nur selten mit jemandem und erinnerte sich an gar nichts mehr. Die Bande, die da irgendwo in Cicero ihren Kopf hatte, war auf dem Vormarsch, hatte die Existenz des Bernard Tucker – und zwangsläufig auch die seiner Lebensgefährtin – vernichtet. Völlig apathisch hockte der Mann hinter der Theke, stierte vor sich hin, reichte den 331
Gästen die gewünschten Getränke und kassierte das Geld. Bei den hohen Steuern, die ohnehin im Staate Illinois erhoben wurden, war es ein absoluter Irrsinn, von irgend jemandem auch nur eine annähernd so große Summe zu verlangen. Und ein Ende war nicht abzusehen. Da beschloß Bernie Tucker in einer dämmrigen Vormittagsstunde, seinem Leben ein Ende zu machen. In diesem Augenblick läutete sein Telefon. Er saß in dem kleinen Nebenraum, in dem er meist seine Kontorarbeiten verrichtete, und blickte überrascht auf den grünen Apparat, der neben dem normalen Telefon auf dem Schreibtisch stand. Er nahm den Hörer ab und vernahm die erregte Stimme einer Frau. »Bitte, Mr. Tucker, kommen Sie schnell!« »Wer ist denn da?« »Mrs. Wibram…« Nellie Wibram war eine Frau, die zusammen mit ihrem Mann ein paar hundert Yards weiter die Straße hinunter an der nächsten Ecke ein Restaurant betrieb. »Was ist denn geschehen, Mrs. Wibram?« »Gangster – Gangster sind im Haus, schnell!« »Rufen Sie sofort die Polizei.« »Nein, wir haben schon festgestellt, wenn wir die Nummer der Polizei drehen, ist sofort einer von den Gangstern da.« »Das ist doch nicht möglich, das bedeutet ja, daß die Polizei…« 332
»Ja, bitte, Sie sind unsere einzige Rettung!« »Aber wie kommen Sie denn gerade auf mich?« stammelte Tucker. »Bitte, ich flehe Sie an, jeden Augenblick kann es zu Ende sein. Sie haben meinen Mann furchtbar zugerichtet.« »Ja, aber…« Er hatte den Telefonhörer aufgelegt und stand an seinem Schreibtisch. Unschlüssig blickte er durch die Scheibe in den engen grauen Hof, in dem ein kümmerlicher Fliederbusch sein Leben fristete, ohne jemals zur Frühlingszeit auch nur eine einzige Blütendolde zu zeigen. Wibram, das war der große blonde Mann, der mit der hübschen dunkelhaarigen Frau die Eckschänke betrieb; ein Restaurant, das vormittags schon geöffnet wurde und nachts um zwölf schloß. Die Wibrams machten ein ganz gutes Geschäft, weil schräg gegenüber ein riesiger Büroturm war und weil sie dadurch eine Menge »Hinterland« hatten, wie es im Fachjargon hieß. Viel mehr, als eine Nachtbar wie das »Hold in« jemals haben konnte. Teufel auch, was mochte bei den Wibrams passiert sein? Die Polizei konnten sie nicht rufen. Nun ja, niemand verstand das besser als er. Aber wie hatten sie ihn da anrufen können? Ach ja, es war diese idiotische Leitung, die Clark Wibram damals vor drei Jahren einmal angebracht hatte. Quer über die Gärten mit Erlaubnis der anliegenden Hauseigentümer hatte er die 333
kleine Privatleitung in einer Silvesterlaune zu den Tuckers legen lassen. Damals war es eine Spielerei gewesen, die der Amateurfunker ausprobieren wollte. Erst jetzt senkte Tucker den Kopf und starrte auf den verstaubten grünen Apparat. Wie war denn das möglich? Es war tatsächlich das Spielzeug, das die Wibrams ihnen damals gebracht hatten und das man eine Zeitlang zu allerlei Spaßen benutzt hatte, zum letztenmal Silvester, als in der Stadt niemand mehr wegen der überlasteten Leitungen telefonieren konnte. Der grüne Apparat, daß er daran niemals gedacht hatte! Er trat an den Wandschrank, nahm Hut und Mantel heraus und ging zur Tür, die in den Hof führte. Dann blieb er stehen. Ja, er hatte das Messer. Seine rechte Faust spannte sich um den kühlen Hirschhorngriff. Aber was hatte er denn vor? Er wollte an den Höfen vorbeigehen und… Ja, und was dann? Er wußte es selbst nicht. Schon fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Er trat in das dunkle Hofviereck, ging an der Kolonie von Mülleimern vorbei, die einen penetranten Geruch verbreiteten. Dann hatte er das Hofende erreicht und öffnete das ächzende Metalltor. Es war eine schmale Gasse, die hier von den beiden Hofmauern gebildet wurde Die Höfe von der 29. Straße grenzten auf der anderen Seite daran. Senator McCuffy war seit langem dabei, diese alten Höfe abreißen zu lassen, mit ihnen natürlich auch die Häuser. Das bedeutete Wegzug. Die meisten Leute waren gar nicht so schockiert von dem 334
Vorgehen des fortschrittlichen Senators, denn es hieß, sie bekamen eine hübsche neue Wohnung, die dann meistens auch größer, luftiger und sonniger war. Aber wie sah das für einen Mann aus, der sein ganzes Geld hier in eine Bar gesteckt hatte, die seine Existenz bedeutete? Er konnte nicht einfach in eine andere Gegend ziehen, in eine luftige Wohnung; er brauchte die Bar – und die Kunden, die den Weg dahin fanden. Was nützte es ihm, selbst wenn man ihm an einer anderen Ecke eine neue Bar zuwies. Er brauchte seine mühsam herangeholten und gepflegten Gäste. Sein ganzer Lebensstil war darauf abgestellt, mit etwa zweimal dreißig oder vierzig Leuten zu verkehren, die ihn in gewisser Weise am Leben erhielten. Er war kein Mann, der noch einmal etwas Neues aufbauen konnte. Zu sehr hatte ihn das Syndikat in diesen neunzehn Monaten ausgelaugt. Neunzehn Monate, das war eine Zeit, die einen Mann zugrunde richten konnte. Er hätte es früher selbst nie für möglich gehalten. Inzwischen hatte er die Höfe, die zwischen seinem Haus und dem der Wibrams lagen, hinter sich gebracht. Er stand vor der metallenen, zerkratzten und mit allerlei Unsinn von Kinderhand bekritzelten Tür und lauschte. Direkt vor seinem Gesicht war ein großer Hund gemalt, unter dem das Wort Mollew stand. Kinder mußten das gemalt haben. Es galt wahrscheinlich dem dreizehnjährigen Sohn der Wibrams. Daneben war der Torso einer Frau gezeichnet mit einem unflätigen Spruch, den eine Erwachsenenhand verfaßt hatte. 335
Tucker senkte den Kopf. Was wollte er eigentlich hier? War er wahnsinnig geworden? Er hatte sich durch ein Haustelefon zu einem Weg hinreißen lassen, der sein Ende bedeuten mußte. Es stand doch zu befürchten, daß die Leute, die die Wibrams bedrohten, die gleichen waren, die auch an seinem Lebensnerv nagten. Wollte er etwas tun, wozu er in seinem eigenen Haus nicht in der Lage gewesen war? Und was – was könnte er denn tun? Plötzlich sah er einen bläßlichen Jungen auf sich zukommen, der mit klammen Händen ein Luftgewehr umspannte. »Mister – Mister Tucker«, stammelte er. »Mollew!« Tucker blickte auf den Jungen hinunter. »Was ist denn?« »Sie schlagen Vater drinnen, zwei Männer! Sie schlagen ihn tot!« »Wo ist deine Mutter?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist sie oben in unserer Wohnung und hat abgeschlossen. Ich habe versucht, hineinzukommen, aber es meldet sich niemand.« »Deine Mutter hat mich vor wenigen Minuten angerufen.« »Angerufen?« »Ja, über das kleine Telefon, das dein Vater vor ein paar Jahren gelegt hatte; erinnerst du dich? Ihr habt doch Silvester über den Draht zu uns hinübertelefoniert.« »Ja, ja.« Plötzlich gewahrte er das Gewehr in den Händen des 336
Jungen. »Was hast du da?« »Es ist mein Gewehr.« Der Junge preßte es an sich. »Was hast du vor, Mollew?« »Ich werde jetzt hineingehen und auf den Mann schießen, auf den großen, der Vater ins Gesicht geschlagen hat, und dann erschieße ich den kleinen.« Tucker schluckte und brachte dann rauh hervor: »Komm, wir wollen gehen.« Sie durchquerten den Hof und fanden die Tür zum Haus versperrt. Da nahm Tucker das Gewehr aus der Hand des Jungen und zertrümmerte die Scheibe zum Küchenraum. In dem Augenblick, in dem er sich über das Sims ziehen wollte, wurde die Tür geöffnet. In ihrem Rahmen stand der lange, knochige Smith. Als er Tucker bemerkte, nahm er einen Revolver hoch. Tucker warf sich sofort zurück. Neben ihm am Boden lag das Gewehr. Er ergriff es instinktiv in dem Augenblick, in dem Smith sich über das Sims beugte. Erst sehr viel später, als er noch einmal an diesen Platz zurückgekehrt war, begriff er, weshalb Smith ihn nicht sofort sehen konnte. Ein Mauervorsprung hatte seine Gestalt, die neben dem Sims hinuntergerutscht war, völlig verdeckt. Dafür aber hatte der lange Smith den jungen Wibram gesehen. Er griff mit seinen knöchernen Händen sofort nach dem Kind und schlug in sein Gesicht. Der Junge schrie auf. Smith preßte ihm die Linke vor den Mund und blickte an der kahlen Front des 337
Hauses hinauf. Als sich nirgends ein Fenster öffnete, packte Smith das Kind und wollte es über das Sims zerren. In diesem Augenblick mußte Smith den Mann neben dem Mauervorsprung entdeckt haben. Vielleicht auch nur einen Schuh von ihm oder einen Arm oder ein Knie. Jedenfalls warf er sich herum und griff in seine linke Tasche. Mit einer Behendigkeit ohnegleichen nahm er ein metallenes Gerät heraus, das er auf der Fensterbank aufschlug. Der Deckel sprang hoch, und der Gangster hatte eine Injektionsspritze in der Hand. – Er schob mit dem Daumen die gläserne Presse hoch. Ein winziger Strahl mit wasserheller Flüssigkeit zuckte aus der Kanüle und spritzte bis auf Tuckers Mantelrevers. Der scharfe Geruch von altem, fauligem Heu drang dem Schankwirt in die Nase. In seiner rechten Armbeuge klemmte das Luftgewehr. Smith kam gebeugt auf ihn zu. Sah er das Gewehr nicht? Oder ignorierte er es? Hielt er es für ein Spielzeug? Tucker wußte selbst nicht, wie er dazu kam: Jedenfalls hatte sich sein Zeigefinger um den Abzug gespannt, und plötzlich machte es: flopp! Der knochige Gangster zuckte zusammen; die Spritze fiel aus seiner Hand. Mit der Rechten griff er sich an die Kehle, schwankte zurück und rutschte langsam an der Fensterwand nieder. Mit kalkigem Gesicht blieb er da hocken. Tucker kniete wie versteinert am Boden. Da erschien 338
der Junge am Küchenfenster. »Schnell, Mr. Tucker, kommen Sie!« Tucker verharrte immer noch wie erstarrt am Boden. Dann aber richtete er sich auf, warf einen Blick an der Häuserfront hinauf, und als er auch jetzt nirgends ein Gesicht entdecken konnte, zog er sich über das Fenstersims und stand in dem großen dunklen Küchenraum des Restaurants. In der rechten Hand hielt er immer noch das Luftgewehr. »Schnell!« rief ihm der Junge zu, der in der halboffenen Tür zum Korridor stand. Da wurde das Kind zurückgerissen, und im Türrahmen tauchte Tadden auf. Tucker schluckte; eisige Angst würgte in seiner Kehle. Er hatte draußen auf den Mann geschossen und ihn an der Kehle getroffen, vielleicht tödlich verletzt. Und jetzt stand ihm Joe Tadden gegenüber, der hartgesichtige Abgesandte des Syndikats, der ihn Woche für Woche in eisigen Schrecken versetzte, der ihn selbst auch schon mehrfach geschlagen und sogar getreten und angespuckt hatte. »Tucker!« entfuhr es Tadden. »Was hast du dreckiger Hund mit Wibram gemacht«, brach es heiser von den Lippen des Schankwirts. »Bist du verrückt, Tucker? Was fällt dir denn ein? Wie kommst du dazu, dich hier einzumischen? Wibram, diese dreckige Ratte, wollte nicht zahlen. Da haben wir ihn eben etwas frikassieren müssen.« »Wir? Du – und Smith?« 339
»Ja, ich und Smith. Übrigens, wie kommst du hier rein?« »Durch das Fenster da drüben.« Plötzlich bemerkte der Gangster in der rechten Armbeuge des Wirts das Gewehr. Bleierne Blässe überzog sein breites Gorillagesicht. »Ach, du bist bewaffnet«, stieß er durch die zusammengebissenen Zähne. »Ja«, kam es schroff vonTuckers Lippen. »Ich bin bewaffnet, und ich habe bereits deinen Freund Smith niedergeknallt!« Er wußte selbst nicht, wie solche Worte über seine Lippen kommen konnten. Ein Zittern war in seinen Knien und ein heißes Gefühl in seiner Kehle. Angst! Wilde Angst brannte in ihm und jagte glühende Stöße zu seinem Herzen. Ich stehe das hier keine fünf Sekunden mehr durch, keine fünf Sekunden! Da zuckte urplötzlich die rechte Hand Taddens in die Tasche. Er hatte den Griff nicht ganz so gut wie Smith heraus, aber auch er brachte die Cupadin‐ Injektionsspritze blitzschnell aus der Tasche. Als er sie hochreißen wollte, wich Tucker zur Seite. Das heimtückische Wurfgeschoß zischte dicht an seinem Gesicht vorbei und zerschellte an einem Schwedenhänger über dem Herd. Tucker sah plötzlich rot. Alle Angst war von ihm gewichen. Er wußte nur noch, daß der Mann im nächsten Augenblick bei ihm sein und ihn niedermachen würde, 340
wie er höchstwahrscheinlich Wibram niedergemacht hatte. Deshalb sprang er mit einem Elan vorwärts, den er sich selbst gar nicht mehr zugetraut hätte – und rammte dem Gangster den Lauf der kleinen Büchse ins Gesicht. Tadden, der ebenfalls gerade zum Sprung ansetzen wollte, wurde voll getroffen und stieß einen fürchterlichen gurgelnden Schrei aus. Der Gewehrlauf war ihm mit voller Wucht in den Mund gedrungen. Ruckhaft zerrte Tucker die Waffe zurück. Mit einem wilden Schrei stürzte sich der Gangster auf ihn und griff mit beiden Händen nach seiner Kehle. Aber noch hatte Tucker das Gewehr in der Hand, riß es zurück und stieß es dem Verbrecher mehrmals in den Leib. Dann schwanden ihm die Sinne unter dem Würgegriff des Gangsters. Er fiel zurück – und bekam etwas Luft – über sich das schweißige Gesicht des Gorillas, dessen Griff plötzlich nachgelassen hatte. Wie ein Bleiklotz lastete das Gewicht des Verbrechers auf ihm. Doch plötzlich rutschte Taddens Körper zur Seite. Noch ungläubig blickte Tucker zu dem anderen hinüber und sprang dann mit einem Ruck auf. Mit glasigen Augen verharrte der Junge im Türwinkel, er hatte die infernalische Szene beobachtet. »Sie haben ihn geschafft, Mr. Tucker!« schrie das Kind hysterisch. Bernie Tucker wich zurück bis zum Herd, prallte gegen den metallenen Umlauf und hätte sich fast an der Platte verbrannt. »Was – ist mit ihm?« 341
Der Junge kam langsam heran, beugte sich über Tadden und rief dann mit vor Erregung bebender Stimme: »Er ist tot!« Er schlug die Hände zusammen und wollte zur Tür. Dann blieb er plötzlich stehen. »Drüben im Arbeitszimmer, da liegt Vater vorm Tisch.« Tucker aber rührte sich noch nicht von der Stelle. Er starrte unverwandt auf Tadden. Es konnte doch gar nicht möglich sein, daß sein Quälgeist da an der Erde lag. Tot! Endlich löste sich der Krampf von ihm. Er lief durch den Korridor in den Arbeitsraum und sah Clark Wibram vor seinem Schreibtisch an der Erde liegen. Sein Gesicht war blutüberströmt. Tucker, der niemals Blut hatte sehen können, zerrte den wie leblos Daliegenden zum Bad und wusch ihm das Gesicht ab. »Clark! Clark!« rief er immer wieder. Plötzlich schlug der Mann die Augen auf. »Tucker? Du?« »Ja, ich bin’s. Komm, du mußt aufstehen. Es ist etwas passiert!« »Was – passiert? Ja, ich weiß, das Syndikat war da. Ich konnte nicht zahlen. Da haben Sie mich – aber wieso – wieso bist du hier? Wo sind denn die beiden?« Tucker richtete sich auf. Schweiß rann in kleinen Bächen von seiner Stirn durch die Brauen in die Augen. Da rief der Junge von der Tür her: »Sie sind tot, Vater! Beide tot! Mr. Tucker hat sie erschossen!« 342
Wibram richtete sich auf die Knie auf, wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und keuchte: »Was ist los?« »Sie sind tot! Mr. Tucker hat sie erschossen.« Es war fast Jubel, der da in der Kinderstimme mitklang. »Bist du wahnsinnig! Sei still, Junge.« Wibram richtete sich auf, stand taumelnd vorm Waschbecken, klammerte sich mit beiden Händen am Porzellan fest, beugte sich nieder und ließ das Wasser über seinen Nacken rinnen. Als er sich aufrichtete, lief das Blut immer noch aus zwei Wunden an der Stirn und einer Wange. »Was ist los, Tucker?« brach es ächzend aus seiner Kehle. »Ich weiß es nicht. Ich hatte dem Jungen das Gewehr abgenommen, um die Scheibe zu zertrümmern. Als sich Smith dann auf mich stürzte, drückte ich ab.« »Was denn, mit dem Ding da? Aber – aber wo, wo ist er denn, Smith, und der andere, dieses Scheusal?« Der Junge lief voran. Wibram folgte ihm. Und dann hörte Tucker, der noch im Bad stand, die Stimme Wibrams aus der Küche: »Allmächtiger, er hat ihn erschlagen! Mit dem Gewehr erschlagen!« »Nein, Vater, er hat ihm das Gewehr ins Gesicht gestoßen – und in den Bauch.« Als Tucker in der Küchentür erschien, sah er den Gangster Joseph Tadden immer noch an der gleichen Stelle vorm Herd liegen. Er hatte ein kalkiges Gesicht, und ein fingerbreiter Blutsstrom rann aus seinem linken 343
Mundwinkel. Wibram stand am Fenster und hatte sich hinausgebeugt. Jetzt zuckte er zurück. »Tatsächlich, der andere liegt draußen. Mensch, Tucker…« Aber die große Minute des Bernard Tucker war zu Ende. Er mußte sich am Türpfosten stützen, um nicht umzusinken. Seine Knie wollten ihn nicht mehr tragen. * Wohl oder übel hatte der »Überfall« der Polizei gemeldet werden müssen. Die beiden Gangster wurden abgeholt. Was aber sowohl Wibram und noch mehr Tucker am Abend dieses Tages mit eisigem Grauen erfüllte, war die Nachricht, daß weder der lange Smith noch der Gorilla Tadden tot waren. Smith hatte eine schwere Halsschlagaderverletzung, und Tadden würde wohl in seinem Leben kein deutliches Wort mehr sprechen können. Die beiden lagen mit ihren lebensgefährlichen Verletzungen im St. Patrick‐Hospital. Als Mrs. Wibram, die sich noch mit heißen Worten über das grüne Telefon bei ihrem Nachbarn bedankt hatte, diese Nachricht über den gleichen Apparat an den Schankwirt durchgab, war es sieben Uhr. Der Betrieb im »Hold in« lief heute besonders gut, und der Salooner hatte alle Hände voll zu tun. Er war gar nicht besonders erfreut, als er von Viola in den kleinen Arbeitsraum gerufen wurde, wo er an dem grünen Apparat verlangt 344
wurde. »Was ist denn mit denen plötzlich los?« meinte Viola, »daß sie mitten im Jahr anrufen. Ich wundere mich überhaupt, daß die Kinder den Draht noch nicht zerstört haben.« »Ja, ein wahres Wunder«, murmelte Tucker, als er den Raum verließ. Die nächsten Stunden verbrachte er in einem Zustand, den man nur mit einem Rausch vergleichen konnte, obgleich er keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Aber es geschah nichts. Auch nicht, als er kurz nach zwei die Bar schloß. Als er die Tür verriegelt hatte, drehte er sich um und starrte mit ergebener Miene auf die Toilettentür. Aber auch da rührte sich nichts. Er mußte doch jeden Augenblick herauskommen, der Mann, der sich da versteckt hatte. Natürlich würde es nicht Smith sein, denn er lag ja im St. Patrick‐Hospital unter dem Sauerstoffzelt. Auch Tadden konnte es nicht sein. Aber irgendein anderer von der Bande. Doch die Tür blieb zu. »Los, komm!« schrie er da plötzlich los. »Komm schon –!« Nichts rührte sich. Da stürmte er los, stolperte über einen Barhocker, lag am Boden und hatte sich einen großen Splitter in den rechten Handballen gerammt. Mit blutunterlaufenen Augen starrte er zur Toilettentür, die immer noch geschlossen war. Dafür öffnete sich am anderen Ende des 345
langgestreckten Barraumes die Tür zur Treppe. Eine Frau erschien in ihrem Rahmen. Mit aufgelöstem, langem blondem Haar stand Viola Faber da, schob den schwarzen Morgenmantel um ihre gutgewachsene Figur und blickte entgeistert auf den Körper des Mannes, der drüben hinter dem Stirnende der Theke lag. »Bernie!« Sie stürzte auf ihn zu und beugte sich über ihn. »Bernie, was ist passiert?« Viola fürchtete nichts anderes, als daß Tucker einen Schlaganfall erlitten hätte. Aber zu ihrer größten Verwunderung richtete er sich auf, schob sie zur Seite, trat hinter die Theke und goß sich einen Fire‐Point ein, den er auf einen Satz hinunterkippte. Das rotschimmernde Getränk brannte heiß in seiner Kehle und rann in seinen Magen hinunter. »Sieh in der Toilette nach, ob da noch jemand drin ist.« Es kam nicht selten vor, daß sich abends einer der Gäste in angetrunkenem Zustand auf einer Toilette eingeschlossen hatte und versehentlich da eingeschlafen war. Aber weder auf der Damen‐ noch auf der Herrentoilette war jemand zu finden. Als Tucker seine Lebensgefährtin zurückkommen sah, blickte er ihr aus glasigen Augen entgegen. Sie legte ihre Hände, die trotz aller Arbeit so gepflegt waren, auf das Ebenholz der Theke. »Bernie, willst du mir nicht sagen, was los ist?« Der Mann schüttelte den Kopf, und die Haarsträhnen fielen ihm in die feuchte Stirn. 346
»Was ist passiert?« »Ich kann es dir nicht sagen.« »Du regst dich doch nicht etwa wegen des Überfalls bei Wibrams so auf?« »Nein, nein, was haben wir damit zu tun?« »Was wollte Nellie Wibram denn vorhin?« »Frag doch nicht, bohr doch nicht, ich kann dir doch nicht antworten!« schrie er plötzlich unbeherrscht los. Sie wandte den Kopf und blickte an ihm vorbei auf eines der Fenster, in dessen Ornamentsgläsern sich die Lichter der Straße widerspiegelten. Plötzlich glaubte sie, die Konturen eines Mannes draußen vorm Fenster erkennen zu können. Sie erschrak. »Bernie!« Der Mann hob den Kopf. Sofort folgte er der Blickrichtung ihrer Augen – und auch er sah die Gestalt des Mannes draußen vorm Fenster. »Los, geh rauf und schließ die Tür ab.« »Wir müssen die Polizei rufen!« »Nichts wirst du tun!« »Bernie –« Viola blickte ihn fassungslos an. Sie dachte nichts anderes, als was sie seit einiger Zeit schon dachte: Er ist in irgendeine dunkle Sache verstrickt. Doch dabei dachte sie nicht an Erpressung durch ein Gangstersyndikat, sondern daß Bernie sich mit einem Verbrecher oder einer Verbrecher‐Clique in dunkle Geschäfte eingelassen haben könnte. »Geh schon!« herrschte er sie an. 347
Aber sie blieb stehen. »Ich habe gesagt, du sollst raufgehen!« Erschrocken blickte sein Gesicht, das ihr plötzlich völlig entstellt zu sein schien; das Gesicht eines Fremden. Wie konnte sich ein menschliches Antlitz so sehr verändern? Aber sie hatte sich für heute etwas vorgenommen, und sie blieb dabei. »Ich bleibe, Bernie.« Da war die Gestalt des anderen draußen plötzlich verschwunden. »Ich werde bleiben«, wiederholte sie, »was auch geschieht.« »Und wenn ich dich bitte, zu gehen?« Viola schluckte, schob sich seine Haarsträhne aus der Stirn und entgegnete: »Ja, wenn du mich bittest, dann gehe ich natürlich. Aber ich bin deine Frau, Bernie. Auch wenn wir keinen Ehering tragen. Ich bin deine Frau – vergiß es nicht!« »Ich weiß es doch. Das ist es ja eben.« »Was ist es ja eben?« »Daß ich es dir nicht sagen kann.« »Das ist dein Irrtum, Bernie. Du mußt es mir sagen.« In diesem Augenblick brüllte draußen eine ganze Salve von Schüssen auf. Scherben klirrten – Glasstücke prasselten durch den Raum. Die Flaschen auf dem Bord hinter der Theke wurden zertrümmert und zerplatzten mit ohrenbetäubendem Krachen. Die große Spiegelscheibe im Bord selbst riß auseinander. Der Raum 348
war in Sekunden mit einer Wolke von Pulver erfüllt. Dann war alles still. Wie aus Stein gemeißelt verharrte Viola Faber am Stirnende der Theke. Ihr Gesicht blutete. Auch an ihrer linken Schulter war ein sengender Schmerz. Aus glasharten Augen blickte sie auf den Körper des Mannes hinter der Theke. Da lag er zusammengekrümmt, reglos, ein menschliches Bündel von Leblosigkeit. Alles, was die blonde Viola Faber in ihrem Leben geliebt hatte. Erst nach Sekunden sank sie in die Knie, beugte sich nach vorn und starrte wieder in das Gesicht des Mannes. »Bernie!« kam es lautlos über ihre Lippen. Plötzlich zuckte sie zusammen. Die Augenlider des Mannes waren zurückgeschlagen. Wie große gläserne Kugeln lagen die Augen in ihren Höhlen. Die Lippen öffneten sich. »Geh – schnell weg hier«, flüsterte er nach Atem ringend. Sie schüttelte den Kopf. Tränen rannen aus ihren Augen salzig auf sein Gesicht. »Nein, Bernie, ich bleibe hier bei dir.« * Als der Tag graute, schlug der Schankwirt Bernard Tucker die Augen auf. Er blickte gegen eine weiße Decke, und seine Augen tasteten schimmernd weiße Wände ab. Er wollte sich aufrichten. Aber ein sengender Schmerz durchzuckte seinen Körper. Er ging nicht. Er war an ein 349
Bett gefesselt. Aber wo? Das war doch nicht sein Schlafzimmer? Wo war Viola? Erst nach und nach drangen die Geschehnisse des vergangenen Tages und der Nacht wieder in seine Gedankenbahnen ein. Die furchtbaren Minuten drüben bei den Wibrams, und dann die Schüsse in der »Hold in‐Bar«. Was war mit Viola? Mit einem Ruck versuchter er sich aufzurichten – aber mit einem ächzenden Schmerzenslaut sank er zurück. Da wurde die Tür geöffnet, und eine Frau in der weißen Tracht einer Krankenschwester kam lautlos an sein Bett. Ein faltenzerschnittenes, freundliches Gesicht blickte ihn an. »Sie sind aufgewacht, Mr. Tucker?« »Was ist mit meiner Fr… mit Viola?« »Miß Faber wartet draußen. Wenn es Ihnen bessergeht, darf sie Sie besuchen.« »Bessergeht? Was ist denn passiert?« »Sie sind verletzt worden.« »Und sie? Viola?« »Ihr ist nichts passiert. Ich sagte ja, sie ist draußen.« »Bitte, holen Sie sie herein, Schwester.« Die blonde Frau trat mit ernstem Gesicht in den kahlen Raum und kam auf Zehenspitzen an das Bett des Mannes. »Bernie.« Sie legte ihre kühle Hand auf seine Stirn. 350
»Viola«, kam es leise über die blutleeren Lippen des Verwundeten. »Was ist passiert?« »Es war ein Überfall. Du bist verletzt worden.« »Wo?« »Am Gesicht und an der Brust.« »Am Gesicht? Das kann nicht schlimm sein, sonst würde ich es merken. Aber an der Brust – das stimmt nicht, du willst sagen, in der Brust.« Die Frau nickte beklommen. »Links?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, rechts. Aber die Kugeln sind schon heraus.« »Kugeln? Also mehrere.« »Zwei. Aber du kannst von Glück sagen. Professor Goddard hat Doc Leitner mit der Operation beauftragt. Es ist der beste Spezialist in ganz Chicago, wie ich erfahren habe. Er hat die beiden Geschosse herausgeholt, ohne die Wundkanäle zu vergrößern. Er sagte, daß du durchkämst.« Ein leises Lächeln zuckte über das blasse Gesicht des Mannes. Dann nickte er. »Ja, ich werde durchkommen. Aber dann? Was ist dann…« Die Frau zog ratlos die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht. Es wird sich finden.« Es war einen Augenblick still. Dann wurde die Tür geöffnet. »Sie können noch zwei Minuten bleiben, Miß Faber«, drang die kühle Stimme der Schwester in den 351
Krankenraum. »Ja, es ist gut«, entgegnete Viola. »Du hast gehört, daß ich gleich gehen muß. Bitte, sei vernünftig. Sag mir, in was du da verwickelt bist.« Da schüttelte er den Kopf. »Das hat keinen Sinn.« Und plötzlich bemerkte er mit Schrecken, daß die Frau auf einer ganz falschen Fährte zu sein schien. »Aber, Viola, was hast du von mir gedacht? Nein, ich bin in kein Verbrechen verwickelt – im Gegenteil – ich werde erpreßt. Aber mehr kann ich dir nicht sagen, und mehr könnte ich dir nicht sagen – ohne nicht auch dich zu gefährden. Du hast gesehen, die schrecken vor nichts zurück. Sie haben Wibram zugerichtet wie ein Stück Schlachtvieh. Wenn ich nicht dazugekommen wäre, hätten sie ihn totgeschlagen.« »Du? Du bist dazugekommen? Du warst der Mann, von dem da in der Zeitung die Rede ist?« »Ja, ich. Und ich habe dafür gesorgt, daß der Junge auf dem schnellsten Weg aus dem Haus verschwand und zu Verwandten kam, damit sie ihn nicht ausfragen konnten über mich. Sie haben es trotzdem erfahren. Wahrscheinlich hat Wibram nicht dichtgehalten.« »Oder die beiden Männer im Krankenhaus haben geredet.« »Die können noch nicht reden. So schnell nicht. Vielleicht nie mehr.« »Aber sie leben.« »Ich weiß, aber sie können nicht sprechen…« 352
Es war kurz vor Abend, als der Arzt noch einmal kam. »Wird schon wieder werden, Mr. Tucker. Sie haben einigermaßen Glück gehabt. Aber ein paar Tage müssen Sie sich schon gedulden.« Der Arzt war gegangen; die Schwester sah noch einmal nach ihm. »So, nun hoffe ich, daß Sie eine gute Nacht haben. Sie haben ja etwas gegessen, das ist die Hauptsache.« Und plötzlich, ehe sie den Raum verließ, sagte die Schwester: »Hier bei uns ist in der letzten Zeit überhaupt der Teufel los. Oben im Geschoß über Ihnen liegen zwei Männer, die an einem Überfall beteiligt waren…« Jäh zuckte der Verletzte hoch und saß kerzengerade in seinem Bett. Weit offen waren seine Ohren. Mit belegter Stimme fragte er: »Wissen Sie die Namen der beiden?« »Natürlich. Joseph Tadden und Nataniel Smith.« Tucker glaubte, von einem elektrischen Schlag getroffen worden zu sein. Er schloß die Augen und mußte sich mit den Händen in die Laken krallen, um nicht zurückzufallen. Die Schwester blickte ihn verwirrt an. »Was haben Sie denn?« »Ach, ich mache mir nur Gedanken um meine, na, Sie wissen schon, um Fräulein Faber.« »Machen Sie sich keine Gedanken, Mr. Tucker. Schlafen Sie erst einmal gut. Der Doktor hat gesagt, Sie brauchen keine Sorgen zu haben.« Mit einem 353
freundlichen Kopfnicken verließ sie den Raum. Ja, der Doktor hatte gesagt, er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Lächerlich. Was wußte denn der Doktor von dem, was geschehen war? Tadden und Smith waren im gleichen Hospital! Der Gedanke elektrisierte ihn förmlich. Er war in Gefahr! Es würde nicht lange dauern, bis die beiden erfuhren, daß er hier war. Und auch, wenn sie selbst nicht in der Lage waren, ihm etwas anzutun, so waren es die anderen, die es erfahren würden. Denn es war klar, daß Tadden und Smith von ihren Leuten bewacht wurden. Nichts würde das Syndikat rascher herausbringen, als daß er hier im gleichen Hospital lag. Und dann war sein Schicksal besiegelt. Plötzlich saß er auf der Bettkante. Die Beine baumelten wie leblos herunter. Der Gang zum Schrank war mühselig. Er kleidete sich ächzend an, stülpte seinen braunen Hut auf den Kopf und ging mit schwankenden Schritten zur Tür. Der Korridor war riesenlang, und die Treppe schien meilenweit entfernt zu sein. Die ersten Lichter flammten in den Gängen auf. Irgendwo öffnete sich eine Tür, und ein Mann im Morgenmantel kam heraus und schlurfte eng an der Wand des Ganges entlang, als befürchte er, auch die Mitte des Korridors zu betreten. Tucker hatte die Treppe erreicht und schleppte sich hinunter. Zwei Stockwerke mußte er schaffen. Zweimal kam eine Schwester an ihm vorbei, die ihn 354
glücklicherweise nicht kannte. Unten blieb eine ältere Schwester stehen und blickte ihn kopfschüttelnd an. »Wo wollen Sie hin?« »Ich haben noch einen Freund besucht. Es tut mir leid, daß ich so lange geblieben bin.« »Aber, um Himmels willen, jetzt ist doch keine Besuchszeit mehr.« »Ich weiß, ich weiß, es geschieht auch nicht wieder«, ächzte er, schleppte sich an ihr vorbei und hatte die Pförtnerloge erreicht. Der kahlköpfige Mann mit der Brille war gerade in sein Zeitungsblatt vertieft und verfolgte die neuesten Baseballergebnisse. Glücklicherweise war er so sehr damit beschäftigt, daß er den Mann gar nicht bemerkte, der das Hospital verließ. Viola hatte sorgenschwer den Heimweg angetreten. Das, was Bernie ihr da anvertraut hatte, war ihr an die Nieren gegangen. Lieber Himmel, was war da wirklich geschehen? In größter Sorge hatte sie die restlichen Stunden des Tages mit Buchhaltungsarbeiten zugebracht, auf die sie sich gar nicht gut verstand. Als es Abend geworden war, saß sie noch darüber. Da schrillte die Glocke. Sie fuhr hoch, lief zur Tür, griff nach dem Messingknopf, hielt dann aber inne. Da wurde draußen angeklopft. »Viola! Mach auf!« Sie zog die Kette zurück und riß die Tür auf. Mit geweiteten Augen blickte sie den Mann an, der da vor ihr 355
stand. Es war Bernie. »Um Himmels willen! Wo kommst du her?« »Welche Frage? Wo soll ich schon herkommen?« knurrte der Mann und schleppte sich an ihr vorbei. Jetzt erst hatte Viola sich gefaßt und half ihm ins Schlafzimmer. Lautlos sank er auf sein Bett. »Ich muß einen Arzt holen«, stammelte die Frau. »Laß dir das ja nicht einfallen«, krächzte Bernie. »Es braucht niemand zu wissen, daß ich hier bin.« »Aber das werden sie schnell genug wissen.« »Sei still und setz dich her zu mir, ich werde dir jetzt etwas erzählen.« Und nun berichtete er ihr alles, was geschehen war. Voller Schreck hatte die Frau seinen Worten zugehört. »Aber was soll denn geschehen?« stammelte sie entsetzt. »Das weiß der Herrgott. Ich weiß es nicht.« »Aber es muß doch irgend etwas geschehen.« »Bin ich Eliot Ness?« stieß der Mann verzweifelt durch die Zähne. »Habe ich überhaupt eine Möglichkeit, gegen diese Leute vorzugehen?« »Aber du mußt mit der Polizei sprechen.« »Mit der Polizei? Das wäre unser Ende…« Es war eine bange Nacht, die die beiden Menschen über ihrer geschlossenen Bar verbrachten. Bei jedem Geräusch schreckte Viola hoch und hielt die Hand beruhigend auf die Stirn des leise stöhnenden Mannes. Dann endlich kam der Tag. Kurz vor acht Uhr klingelte es. Viola ging zur Tür, ließ aber die Sperrkarte 356
vor. Als sie öffnete, zuckte ihr ein Revolver entgegen. Eine behaarte Faust spannte sich um ihre rechte Hand. »Öffnen!« schlug es ihr entgegen. Mit zuckender Hand zog sie die Karte zurück. Der Mann, der ihr entgegentrat, war ziemlich groß und hatte breite Schultern. Sein Schädel war vierkantig und mit kurzem, nach vorn gebürstetem Haar besetzt. Das Gesicht sah aus, als wäre es aus einzelnen Gesteinsstücken zusammengesetzt. Ein hartes, brutales Männergesicht. »Wo ist er?« Viola schluckte. Dann stieß sie plötzlich einen Schrei aus. Hart prallte die linke Hand des Mannes in ihr Gesicht. Er stieß den Revolver vor und herrschte sie an: »Ich habe gefragt, wo er liegt.« Da wurde die Schlafzimmertür aufgerissen. Tucker stand seltsam verkrümmt da und stierte aus geweiteten Augen auf den riesigen Menschen, der vor Viola stand. Der hatte den Kopf gewandt. Eine höhnische Lache zuckte um seinen breiten Mund. »Ah, da bist du ja, Tucker.« »Wer sind Sie?« stieß der Schankwirt hervor. »Ich könnte es für mich behalten«, entgegnete der grobschlächtige Eindringling. »Aber damit du Bescheid weißt, mein Name ist Drenkhan, Jake Drenkhan.« »Kommen sie vom Syndikat?« 357
»Vom Syndikat? Ich bin das Syndikat!« Tucker klammerte sich mit beiden Händen an den Messingknopf der Tür. Drenkhan packte ihn brutal am Revers seines Nachthemds und zerrte ihn mit einem Ruck zu sich heran. »Es ist dir doch klar, daß du verloren bist!« »Weshalb bin ich verloren? Was habe ich getan, Mr. Drenkhan?« »Halt’s Maul!« herrschte ihn der Gangster an und schlug ihm mit der Linken so hart ins Gesicht, daß der Verwundete zurücktaumelte. Viola sprang den Verbrecher mit dem Mut der Verzweiflung an, wurde aber von einer wieselflinken Bewegung Drenkhans überrascht. Er packte sie an der linken Schulter und schleuderte sie gegen die Wand. Es gab ein hartes Geräusch, daß Tucker verzweifelt zusammenzuckte. Er raffte sich hoch und stand auf schwankenden Beinen da. »Wir wollen es kurz machen«, röhrte der Gangsterboß, »du hast Tadden und Smith umgelegt. Ich bin deshalb hier.« »Ich habe sie nicht getötet«, stieß der Schankwirt hervor. »Ich bin Wibram nur zu Hilfe gekommen, weil sie ihn bestialisch schlugen, weil sie ihn totgeschlagen hätten, wenn ich nicht eingegriffen hätte.« »Ach, und deshalb hast du dem einen eine Kugel in den Hals gejagt und dem anderen den Gewehrlauf in die Fresse gerammt, daß er niemals wieder richtig schlucken kann.« 358
Tucker spürte, wie der Schweiß ihm aus allen Poren drang. »Ich bin von Ihren Leuten niedergeschossen worden, Mr. Drenkhan.« Der Gangster winkte ab, zog einen Sessel heran und ließ sich darin nieder. Seine riesigen Beine streckte er weit von sich. »Bleib mir im Blickfeld, Girl!« herrschte er Viola an, »sonst knallt’s!« Tucker gab ihr einen Wink, und sie blieb neben ihm vor dem Bett stehen. »Ich sagte schon«, begann Drenkhan wieder, »wir wollen es kurz machen. Ich bin nicht gekommen, um hier ein paar Kugeln zu verschicken. Dafür habe ich Leute. Du wirst bezahlen, Tucker.« »Wie soll ich das verstehen?« »Für jeden zehn Mille. Du wirst zugeben, daß ich da keinen Wucherpreis fordere.« »Ich begreife nicht«, stammelte Tucker. »Du wirst sehr schnell begreifen! Und wenn es etwas damit hapert, helfe ich nach.« Tucker schüttelte den Kopf. Er verstand immer noch nicht. Da federte der Gangster hoch und schlug ihm die linke Hand mehrmals klatschend ins Gesicht. Tuckers Schädel flog hin und her. Er hatte das Gefühl, daß ihn sämtliche Backenzähne ausgeschlagen wurden. »Für jeden zehntausend habe ich gesagt. Und zwar schnell!« Endlich hatte Bernie Tucker verstanden. Der 359
Verbrecher verlangte von ihm für jeden seiner ausgefallenen Leute zehntausend Dollar. »Ich habe das Geld nicht.« Diesmal schlug Drenkhan härter zu. Der Schankwirt brach in die Knie. Heftig schnitt der Schmerz in seine Wunde, und das Blut hämmerte ihm bis in die Schläfen. »Sie Unmensch!« stieß die Frau hervor, »er ist verwundet!« »Was kümmert es mich. Für jeden zehntausend, und zwar schnell!« »Wir haben das Geld nicht – im Haus«, stotterte die Frau. »Well, dann werdet ihr es besorgen, und zwar bis heute abend. Wenn die Dunkelheit hereingebrochen ist, bin ich wieder da.« Er ging mit raschen, federnden Schritten zur Tür, blieb da stehen und wandte sein Gesicht noch einmal über die linke Schulter zurück. Wieder zuckte das höhnische Lächeln um seinen übergroßen, groben Mund. »Ich sagte, daß ich heute abend zurückkomme. Und sollte einer von euch beiden auf den albernen Einfall kommen, die Polente zu informieren, dann reiß ich euch die Haut in Streifen vom Leib, verlaßt euch darauf. Und – Tucker, bleu deiner Süßen ein, daß sie sich auf jeden Fall danach richtet. Wenn sie nämlich glaubt, mich an der Nase herumführen zu können, werde ich sie für ein paar Wochen mitnehmen; und was ihr dann blüht, das kann sie sich höchstwahrscheinlich kaum vorstellen. Wir haben da so ein paar Jungs draußen im Camp, die 360
wochenlang kein Girl gesehen haben und ganz scharf auf so etwas Blondes sind. Ich könnte mir vorstellen, daß sie eine Menge Spaß an deiner Freundin hätten, Tucker.« Nach diesen Worten fiel die Tür hinter dem Gangster ins Schloß. Wie versteinert verharrten die beiden unglücklichen Menschen nebeneinander. Schließlich richtete sich Viola auf und brachte Bernie wieder ins Bett. Es war kurz nach Mittag. Tucker war vor Erschöpfung eingeschlafen. Viola stand im blauen Mantel an der Tür und blickte zu ihm hinüber. Wenn er nur etwas schlafen würde, dachte sie. Dann ging sie hinaus, verriegelte die Tür sorgfältig hinter sich und klingelte an der Tür ihrer Nachbarin. Die ältliche Mrs. Johnson blickte ihr teilnahmsvoll entgegen. »Ich habe von dem Unglück gehört, das Ihren – Mann betroffen hat. Es tut mir wirklich sehr leid.« »Sie könnten mir einen Gefallen tun, Mrs. Johnson. Ich muß schnell einmal weg. Bitte, achten Sie etwas auf die Tür. Es könnte sein, daß jemand klingelt, und ich möchte doch nicht, daß Mr. Tucker aufsteht.« »Ist in Ordnung. Sie können sich auf mich verlassen.« Viola ging bis zur Odgenstreet und stieg da in das erste Taxi. Der Fahrer war ein Mann mit angegrautem Haar und dunklem Gesicht. »Ich möchte…« Sie blickte sich um und entdeckte ein schwarzes Cabrio, das ihnen folgte – um mehrere Straßenecken herum. »Bitte«, stammelte sie, »fahren Sie 361
mich zur Polizei.« Der Mann warf einen Blick in den Spiegel und nickte dann. »Ja, Miß, wie Sie meinen.« »Nein, warten Sie. Nicht zur Polizei einfach, ich meine – sehen Sie, daß uns der schwarze Wagen folgt?« Der Mann warf einen Blick in den Spiegel. »Ja, er ist mir auch schon aufgefallen.« »Es sind Gangster, sie verfolgen mich!« Diesmal warf der Fahrer direkt einen erschrockenen Blick in den Rückspiegel. Dann meinte er: »Dann müssen Sie doch auf dem schnellsten Wege zur Polizei!« Es war ein Name, der durch Violas Kopf geisterte. Ein Name, den Bernie ausgesprochen hatte, als er ihr am Morgen endlich alles berichtet hatte. Es war der Name Eliot Ness! Es gab sicher nicht viele Menschen in der Weltstadt Chicago, die diesen Namen nicht kannten. Seit der junge FBI‐Inspektor den berüchtigten Nebelmörder gejagt und gestellt hatte, war er als Mr. Chicago in aller Munde. Die Zeitungen, die ihn erst so angegriffen hatten, waren schuld daran, daß die Bevölkerung seinen Namen besser kannte als den des Oberbürgermeisters oder den des wichtigsten Senators. Seit Bernie diesen Namen erwähnt hatte, spukte er im Kopf der jungen Frau herum. Sie würde zu Eliot Ness gehen. Fest hatte sie es sich vorgenommen. Aber jetzt, da sie im Taxi saß und auf dem Weg war, wußte sie gar 362
nicht, wie sie das anstellen sollte. »Nein, nicht einfach zur Polizei. Das nützt mir nichts«, sagte sie. »Ich muß zu – Eliot Ness.« Fast hätte der Fahrer auf die Bremse getreten. »Zu wem?« »Zu Eliot Ness. Kennen Sie ihn nicht?« »Doch, doch, wer kennt den nicht. Aber, sagen Sie mal, Fräulein, was wollen Sie denn bei dem?« »Ich muß mit ihm sprechen. Wissen Sie, wie ich zu ihm kommen kann?« »Ja, das weiß ich zufällig. Mein Bruder hat ihn einmal gefahren. Da müssen wir zum Oakwood Cemetery. Aber das ist doch das FBI?« Fast andächtig hatte der Fahrer das letzte Wort ausgesprochen. »Bitte, fahren Sie mich hin!« »Ich glaube, Sie legen vorher noch Wert darauf, daß wir den Schatten da hinter uns abschütteln.« »Wenn das möglich ist, wäre ich Ihnen sehr dankbar, denn wenn es nicht geht, kann ich es auch nicht wagen, auszusteigen, um irgendwo hinzugehen.« »Ich werde sehen, was ich tun kann.« Der achtundvierzigjährige Mann, der da hinterm Steuerrad der großen gelben Taxe saß, hatte schon nach der übernächsten Straße das schwarze Cabrio abgeschüttelt. Er verstand sich auf so etwas. Es war wenige Minuten nach ein Uhr, als das Taxi vor dem Gebäude der FBI‐Spezialagentur in der 71. Straße mit quietschenden Bremsen hielt. Viola bat den Fahrer zu warten, und der kluge Mann 363
fuhr zwei Häuser weiter. Für den Fall, daß er doch verfolgt wurde, sollten die Gangster nicht gleich feststellen, wohin sein Fahrgast gegangen war. Es war für den Fahrer nichts Besonderes, was hier geschah, denn die Stadt Chicago wurde vom Verbrechen so heimgesucht, daß es einfach schon zum Leben dieser Stadt zu gehören schien. Viola Faber betrat das Haus und erkundigte sich unten beim Pförtner nach Eliot Ness. »Mr. Ness?« meinte der Mann und kraulte sich in seinem grauen Haarkranz, »tja, das ist nicht so ganz einfach. Sind Sie angemeldet?« »Angemeldet? Wie soll ich angemeldet sein? Ich muß mit ihm sprechen.« »Ja, das geht nicht so leicht. Wenn jeder, der was auf der Leber hat, Mr. Ness sprechen wollte, käme er höchstwahrscheinlich mit vierundzwanzig Stunden am Tag nicht aus.« »Aber es ist etwas Wichtiges!« stieß die Frau verzweifelt hervor. »Natürlich, es ist immer wichtig. Nun, warten Sie mal, setzen Sie sich da drüben hin, ich werde mal oben in seinem Vorzimmer anrufen.« Es war Ruth Everett, die er an die Leitung bekam. Sie konnte ihm nur sagen, daß der Chef nicht im Haus war. »Ach ja, richtig«, meinte er dann und blickte auf seine Anwesenheitsliste. »Er ist gar nicht im Haus.« »Und wann kommt er wieder?« »Weiß ich nicht.« 364
»Du lieber Gott«, stammelte Viola, wandte sich ab und preßte die Hände ineinander. Da hörte sie den Pförtner sagen: »Vielleicht können Sie noch einmal wiederkommen.« »Nein, das kann ich nicht. Kann ich dann vielleicht seinen Vertreter sprechen?« »Das ist Mr. Cassedy. Ich glaube, der wird auch nicht da sein; außerdem geht das nicht so einfach, Fräulein. Es kann hier nicht jeder einfach hereinkommen und mit den Chefs sprechen wollen. Wo kämen wir da hin?« »Aber es ist furchtbar dringend. Ein Menschenleben hängt davon ab.« In diesem Augenblick hatte ein großer, schlanker Mann den Eingang betreten, blieb einen Augenblick in der Halle stehen und kam dann auf die Pförtnerloge zu. Er hatte helles Haar und ein eckiges, gut gezeichnetes Gesicht, in dem ein blaues, auffallend klares und kühles Augenpaar stand. Er trug einen Trenchcoat und hatte den Hut tief in die Stirn gezogen. »Vielleicht wollen Sie einen Augenblick mit mir sprechen, Miß«, hörte Viola es da auf einmal hinter sich sagen. Sie wandte sich um und blickte in die kühlen Augen des Fremden. »Nein, ich – es tut mir leid, es ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muß unbedingt mit Eliot Ness sprechen.« »Um was geht es denn?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Mein – Mann ist in Gefahr.« 365
»Ja, wenn Sie natürlich nicht sprechen wollen, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.« »Aber ich muß doch mit…«, sie winkte ab. »Ich wollte mit Eliot Ness sprechen, aber ich sehe schon, es geht nicht.« »Aber Sie sprechen doch bereits mit ihm«, hörte sie da die krächzende Stimme des Pförtners. Violas Kopf flog hoch. Sie blickte in die kühlen Augen des großen Mannes, der vor ihr stand. »Sie – Sie sind Eliot Ness?« Der Chef‐Inspektor nahm den Hut ab. »Ja.« Ein Mühlstein fiel ihr plötzlich von der Seele. Aber dann erinnerte sie sich ihres ganzen Elends, das sie hierhergetrieben hatte, und sie berichtete mit hastigen Worten. Der berühmte Polizeioffizier hörte ihr ruhig und geduldig zu. Viola hatte das Gefühl, daß eine große Sicherheit und wohltuende Ruhe von ihm ausging. Als sie eine Dreiviertelstunde später in das Haus zurückkam, lief sie beschwingt die Treppen hinauf. Eliot Ness hatte sie angehört. Ob er etwas tun konnte, wußte sie nicht. Aber irgendwie fühlte sie sich erleichtert. Er hatte sie wissen lassen, daß das, was hier geschah, ins Zuständigkeitsgebiet der Stadtpolizei gehörte. Mit einigen Worten hatte er ihr auch klargemacht, für welche Verbrechen das FBI zuständig sei. Im Grunde konnte er ihr also wahrscheinlich gar nicht helfen, aber dennoch fühlte sie sich erleichtert. Als sie auf die Wohnung 366
zuging, wurde nebenan die Tür ihrer Nachbarin geöffnet. Mrs. Johnson streckte den Kopf heraus und lächelte. »Ich habe die ganze Zeit aufgepaßt. Es ist alles in Ordnung. Niemand hat Mr. Tucker gestört.« »Vielen Dank, Mrs. Johnson.« Sie öffnete bei sich und hatte kaum zwei Schritte in den Raum getan, als die Tür hinter ihr zugeschlagen wurde. Mit totenblassem Antlitz starrte sie in das harte, wie aus Stein geschlagene Gesicht Jake Drenkhans. Wie war er hereingekommen? Die Tür war doch zu. Und Mrs. Johnson hatte nichts bemerkt. »Wo warst du?!« herrschte sie der Gangster an. Viola wich zwei Schritte zurück und stieß hastig hervor: »Wie kommen Sie in unsere Wohnung?« Da war der Mann mit einem Riesenschritt bei ihr und schlug ihr seine linke Hand so hart ins Gesicht, daß ihr Kopf zur Seite flog. »Ich habe gefragt, wo du warst?« »Ich hatte einige Besorgungen zu machen.« »Was für Besorgungen?« »Ich war bei der Schneiderin, beim Friseur und habe auch einige Kleinigkeiten eingekauft.« »Wo sind die Sachen?« »Hier, ich habe sie in der Tasche«, sagte sie, und glücklicherweise stimmte das, denn sie hatte noch einige kleine Dinge eingekauft, die sie in der Handtasche trug. Rezeptfreie Medizin, die sie aus der Apotheke geholt hatte. 367
»Wo warst du?« forschte Drenkhan erneut mit jetzt drohender Stimme. Trotzig bückte sie ihn an. Da griff er in die Tasche, holte ein kleines Fläschchen heraus und träufelte einige Tropfen davon auf ein Tuch. Dann trat er an Viola heran. Sie versuchte auszuweichen. Er brachte sie zu Fall, stürzte sich über sie und preßte ihr das Tuch aufs Gesicht. Instinktiv wollte die Frau es von Mund und Nase reißen, aber der brutale, schwergewichtige Mann preßte ihr beide Arme herunter. Es dauerte nur einige Sekunden, und Viola Faber sackte willenlos in sich zusammen. Es ist niemals geklärt worden, wie es Jake Drenkhan gelang, mit der Frau ungesehen aus dem Haus zu kommen. Wahrscheinlich hatte Mrs. Johnson ihre ohnehin nicht sehr sorgfältige Aufsicht über die Tür der Nachbarsleute, nachdem Viola selbst zurückgekommen war, aufgegeben. Die Methoden eines Scheusals wie Jake Drenkhan waren weniger zivilisiert als die regelrecht feinsinnige Masche eines anderen aufstrebenden Syndikatchefs – Al Capone hätte Wege und Mittel gefunden, seinen Willen durchzusetzen, an die Drenkhan gar nicht dachte. Für Al Capone war einer wie Drenkhan jemand, der der Branche durch seine widerliche Brutalität schadete. Er brachte die Unterwelt selbst noch in Verruf. Al Capone verachtete einen solchen Rivalen nur. Und wünschte Chef‐Inspektor Eliot Ness im stillen Erfolg. 368
* Tucker hatte die Geräusche im Korridor gehört. Er schleppte sich vom Bett zur Tür und starrte auf den Gang. Da lag Violas heller Hut am Boden und auch ihr kleines weißes Spitzentaschentuch. Er hatte sich also nicht verhört, sie war hier. Nach wenigen Minuten wußte er jedoch, daß Viola entführt worden war. Lähmender Schreck erfüllte ihn. Fast eine halbe Stunde hockte er auf einem türkischen Sitzkissen im Korridor und stierte benommen vor sich hin. Dann ging er zur Tür und lauschte hinaus. Nichts war zu hören. Im Schneckentempo krochen die übrigen Stunden des Tages dahin. Als sich die Nacht über Chicago gesenkt hatte, befiel den geschwächten, kranken Mann urplötzlich eine furchtbare Todesangst. »Er hat sie geholt – und er wird auch mich holen! Ich muß weg, weg von hier!« In diesem Augenblick wurde vorn an die Tür geklopft. Mit schweißnassem Körper stand Tucker da und starrte auf die Wohnungstür. Ganz langsam bewegte er sich vorwärts und riß sie plötzlich auf. Ein Mann trat ein. Tucker holte zum Schlag aus. Aber der Mann fing seine Hand auf und schob ihn zurück. 369
Da war die Kraft des Schankwirts am Ende. Er sackte in die Knie und wäre sicher vornüber hingefallen, wenn der Fremde ihn nicht aufgefangen hätte. Er sah die Schlafzimmertür offenstehen und schleppte Tucker hinüber. Der schlug die Augen auf. »Eins kann ich euch sagen«, keuchte er. »Er wird euch alle stellen, Drenkhan und auch dich, mein Junge, verlaß dich drauf. Er wird euch holen…« In diesem Augenblick zerbarst im Nebenraum eine Scheibe. Der Fremde war mit einem gewandten Satz hinterm Schrank und deutete mit dem Zeigefinger warnend auf die Lippen. Tucker saß mit kreidebleichem Gesicht im Bett, stützte sich auf die Ellbogen und starrte auf die Tür zum Nebenzimmer. Die wurde aufgerissen. Ein Mann stand in ihrem Rahmen. Er war hager, mittelgroß und hatte ein verschlagenes Gesicht. Die Nase war kurz, und die Augen, die eine dunkelgraue Färbung hatten, standen zu nahe beieinander. Er hatte kurzes, struppiges Haar und trug einen grauen Anzug. Einen Mantel und einen Hut schien er nicht bei sich zu haben. Es war der Gangster Jerry Fiske. Er warf einen kurzen Blick durch den Raum und trat dann an das Bett heran. »Los, wo ist das Geld?« »Geld? Wovon sprechen Sie, Mann«, ächzte Tucker, der nichts begriff. Da tauchte in der offenen Nebentür ein zweiter Mann 370
auf, der anscheinend mit Fiske hereingekommen war. Es war Daniel Rademacher, ein Gangster, der schon seit Jahren mit Fiske zusammenarbeitete. Rademacher war etwa siebenundzwanzig, breitschultrig und ebenfalls untersetzt. Er trug einen dunklen Anzug und schwarze Turnschuhe. Offensichtlich war er draußen an der Regenrinne hinaufgestiegen und hatte das Fenster zerstört, denn vorn auf seinem schwarzen Anzug war alles mit Glassplittern übersät. Rademacher blieb am Fußende des Bettes stehen und Fiske vorn neben dem Nachttisch. »Wir wollen die Sache kurz machen, Junge.« »Was wollt ihr von mir?« keuchte Tucker. »Das wirst du schon wissen.« In dem Augenblick, in dem Fiske zum Schlag ausholte, gab es drüben neben dem Schrank ein Geräusch. Die beiden Gangster fuhren herum. Rademacher sah den Mann im Trenchcoat nur für den Bruchteil eines Augenblicks an, schnellte dann vorwärts und hechtete ihm entgegen. Er war ein mit allen Wassern gewaschener Mann, der Bandit Daniel Rademacher, aber als er jetzt versuchte, mit der »Holländischen Nuß« den Fremden niederzurammen, hatte er kein Glück. Der Fremde wich einen halben Schritt zur Seite und fing den Gangster mit einem schweren linken Haken ab, der krachend gegen Rademachers Wangenknochen prallte. Der Getroffene war so benommen, daß er auf alle viere fiel und den Kopf nicht anheben konnte. 371
Fiske schien von den Fähigkeiten seines Partners so überzeugt zu sein, daß er ruhig abgewartet hatte. Als Rademacher jetzt stürzte, glaubte Fiske nicht richtig zu sehen. Das konnte doch wohl nicht möglich sein: Dan mit einem Schlag von den Beinen geholt! Mit einer raschen Bewegung zog Fiske ein Wurfmesser aus der Tasche und schleuderte es nach vorn. Es zischte dicht über den weggeduckten Kopf des Fremden. Der kam mit ruhigem Schritt um das Bett herum, ging an Rademacher vorbei und blieb anderthalb Schritt vor Fiske stehen. »Ach, unser Freund Jerry Fiske, wenn ich nicht irre.« »Was denn, du kennst mich? Das ist dein Tod!« hechelte der Ganove. Er warf sich zur Seite und zog bei dieser Bewegung einen Revolver aus dem Schulterhalfter. Aber in den zweifellos gekonnten Fallwurf des Gangsters hinein zischte gedankenschnell der rechte Uppercut des Fremden. Er traf Fiske genau an der Kinnspitze, schien ihn regelrecht hochzuheben und warf ihn dann mehrere Yards zurück. Rademacher hatte sich umgedreht, kam auf das linke Knie und blickte aus glasigen Augen zu dem Fremden hinüber. »Damned«, entfuhr es ihm jetzt, »Eliot Ness!« Fiske lag betäubt am Boden. Rademacher kam auf die Beine, stand schwankend da, fuhr sich mit der Rechten durchs Gesicht und schüttelte den Kopf. »In was für eine Tüte sind wir denn da gelaufen, Inspektor?« 372
»Los, heben Sie ihn auf!« befahl der FBI‐man dem Gangster. Rademacher ging zu Fiske, richtete ihn in sitzende Stellung auf und schüttelte seinen Kopf hin und her. Als das nichts half, gebot ihm der Inspektor: »Versuchen Sie’s mit ein paar kräftigen Ohrfeigen, das wirkt immer.« Tatsächlich kam Fiske schon nach wenigen Schlägen zu sich, rappelte sich sofort hoch und wollte sich erneut auf den Fremden stürzen. Aber Rademacher hielt ihn zurück. »Augenblick, Jerry. Im Moment ist die Rille verstopft. Der Mann da ist Eliot Ness.« Fiske zog die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ja, bin ich denn ganz und gar verrückt gewesen! Tatsächlich, Mr. CHICAGO!« Bernie Tucker hatte während des kurzen, aber um so eindrucksvolleren Auftritts mit weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem in seinem Bett gesessen und von einem zum anderen geblickt. Jetzt haftete sein Auge voll auf dem hochgewachsenen Mann, den der Gangster Daniel Rademacher Eliot Ness genannt hatte. War das ein Spuk? War es vielleicht ein neuer Trick des Syndikats? Es konnte doch gar nicht möglich sein, daß dieser Mann da Eliot Ness war. Aber er war ja im Gegensatz zu den anderen durch die Tür gekommen. Er hatte angeklopft. Sollte Viola…? »Wo ist Miß Faber?« erkundigte sich der FBI‐man da. 373
»Sie sind also tatsächlich Eliot Ness«, stotterte Tucker, während er sich auf den Bettrand setzte. »Ja, und jetzt beantworten Sie bitte meine Frage, Mr. Tucker.« »Ich weiß es nicht. Sie ist kurz nach Mittag weggegangen.« Mit raschen Griffen hatte der Polizeioffizier die beiden Gangster in Handschellen gelegt. Dann beugte er sich zum Telefon. »Ich darf es einmal benutzen?« »Natürlich.« Es war nur ein kurzer Anruf, und wenige Minuten später wurde geläutet. Ness schob die beiden Gangster hinaus und übergab sie da dem dicken Inspektor Cassedy. »Lassen Sie die beiden Burschen gleich zu uns in den Käfig bringen.« »All right, Boß.« Ness kam noch einmal zurück. Er blieb einen Augenblick gedankenvoll auf der Schwelle zum Schlafzimmer stehen und sah Tucker nachdenklich an. »Sie war bei mir.« »Viola? Bei Ihnen?« »Ja. Und ich sagte ihr, daß es nicht meine Sache ist. Sie müßte sich an die Polizei wenden.« »Sie ist nicht da.« Der Inspektor warf einen forschenden Blick zurück in den Korridor und fragte: »Wie hieß der Mann, der das Geld von Ihnen wollte?« 374
»Drenkhan, Jake Drenkhan.« »Well, ich werde sehen, was ich tun kann. Bleiben Sie nur ruhig im Bett.« »Ruhig? Wie kann ich denn ruhig bleiben, Inspektor, wo meine – Braut entführt worden ist, und wo ich mit dem Schlimmsten rechnen muß. Wenn Sie gehört hätten, was der Kerl uns angedroht hat. Er hätte draußen vor der Stadt einige Boys, die wochenlang kein Mädchen gehabt hätten…« Er unterbrach sich, schluckte schwer und wischte sich mit dem Ärmel seines Schlafanzugs die dicken Schweißperlen von der Stirn. »Außerdem bin ich doch auch hier keine Minute meines Lebens sicher.« »Jetzt sind Sie sicher, Mr Tucker.« »Ha, ich verstehe, Sie haben einen Mann vor der Tür gelassen. Gut, das ist in Ordnung. Aber Sie haben ja selbst gesehen, daß die Burschen alle Eingänge zu finden wissen.« »Alle Eingänge zu Ihrer Wohnung werden von jetzt an bewacht.« Der G‐man tippte mit einem kurzen Gruß an den Rand seines Hutes und ging. So gut dieser Überfall für Tucker abgelaufen war – die Sorge um Viola brachte ihn an den Rand der Verzweiflung. Schweißnaß lag er auf seinem Bett und starrte gegen die Decke. * Der Norweger, wie Eliot Ness wegen seiner 375
norwegischen Abstammung von Freund und Feind genannt wurde, machte sich auf den Weg zum St. Patrick‐Hospital. Smith war gar nicht vernehmungsfähig, und Tadden blickte dem Inspektor finster entgegen. »Der große Eliot Ness«, quetschte er durch die Zähne. »Welch eine Ehre!« Der FBI‐man, der von einem Arzt an das Krankenlager des Gangsters geführt worden war, hatte wenig Hoffnung, etwas aus diesem Mann herauszubekommen. Er sagte nur: »Es geht um die Frau, Tadden. Ich muß sie finden.« »Dann suchen Sie mal, Inspektor, es wird ein interessantes Spiel werden.« »Sie nehmen den Mund sehr voll, Tadden. Wenn Sie hier herauskommen, werden Sie ins Untersuchungsgefängnis gebracht, und auf dem Weg dahin sind Sie in größter Gefahr, von Ihrem Boß gleich ins Jenseits befördert zu werden.« »Weshalb?« »Weil Sie einen Fehler gemacht haben. Sie wissen selbst, wie Drenkhan so etwas bestraft.« »Drenkhan?« stotterte der Verbrecher verblüfft, »wie kommen Sie auf ihn?« »Meine Sache. Und Ihre Sache ist es jetzt, mir zu sagen, wo ich ihn finden kann.« »Ich weiß es nicht.« »Sie wissen es. Machen Sie die Zähne auseinander, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.« 376
»Ich weiß es nicht, und ich werde es Ihnen auch nicht sagen. Sie können mich doch nicht schützen, wenn er mich abknallen will.« »Wenn ich weiß, wo er ist, kann ich Sie sehr wohl schützen, Tadden.« »Kein Wort bringen Sie aus mir heraus. Ich bin doch nicht irrsinnig!« Der Chef‐Inspektor von der Sonderabteilung des FBI am Oakwood Cemetery versuchte es noch auf dreierlei Wegen, aber der Gangster Joseph Tadden war so hart gesotten, daß nicht das geringste aus ihm herauszuholen war. Nach Einbruch der Dunkelheit des gleichen Tages stellte der von Ness in den Hof des Hospitals beorderte lange O’Connor einen Mann, der sich auf den Lieferanteneingang des Krankenhauses zuschleichen wollte. Es war ein zweiundzwanzigjähriger Bursche, der sich Lothar Fricsay nannte. Ness, der ihn wenige Minuten später unten im Büro des Chefarztes vernahm, spürte sofort, daß der Mann zum Syndikat gehörte. »Hören Sie genau zu, Fricsay, was ich Ihnen jetzt sage: Wenn Sie die Zähne nicht auseinandermachen, wird der Richter kaum Gnade mit Ihnen haben. Es ist eine Frau entführt worden. Zwei schwere Überfälle wurden von Ihrem Syndikat durchgeführt, und vielleicht interessiert es Sie auch, daß der Salooner Clark Wibram vergangene Nacht ermordet wurde.« Fricsay starrte den FBI‐man erschrocken an. 377
»Das ist nicht wahr!« »Es ist wahr; und Sie wissen, was es bedeutet. Sie selbst können wegen Mordes angeklagt werden.« »Ich, ich war es doch nicht…!« »Vielleicht nicht, aber das müßten Sie erst beweisen.« »Nein, Sie, Sie müssen mir beweisen, daß ich es war!« »Irrtum, Fricsay. Außerdem vergessen Sie, daß Sie von zwei Leuten beschuldigt worden sind.« »Ich, beschuldigt – des Mordes! Tadden, dieses Schwein, nur er kann es gewesen sein!« »Also stimmt es doch, daß Sie zu ihm wollten.« »Nein, das stimmt nicht!« »Ich weiß, Sie erzählen es mir ja seit einer Viertelstunde. Aber eben haben Sie seinen Namen genannt. Machen Sie kein Theater, Fricsay, und versuchen Sie nicht, mich hinter den Busch zu führen. Ich weiß genau, was hier gespielt wird. Aber Sie haben Pech gehabt. Da Drenkhan Sie schon vorgeschoben hat, werden Sie es auch sein, der für ihn auf den Heißen Stuhl steigt.« Der Bursche erbleichte. Er blickte hastig von einem zum andern und begann plötzlich zu zittern. »Ach, so ist das, Drenkhan will mich die Kastanien aus dem Feuer holen lassen. Well, dann tut es mir leid, dann muß ich reden.« »Das möchte ich Ihnen auch geraten haben. Wo ist die Frau?« »Das weiß ich nicht.« Der Inspektor wandte sich mit einer abrupten 378
Bewegung nach Cassedy um. »Ich habe keine Zeit, Cassedy, mich mit dem Mann abzugeben. Bringen Sie ihn ins Untersuchungsgefängnis und heften Sie das rote Blatt an seine Zelle.« Nach diesen Worten verließ er den Raum. Fricsay stierte wie fiebernd in Cassedys Augen. »Was hat das zu bedeuten – das mit dem roten Blatt?« Cassedy, der dem Verbrecher die Handschellen umgelegt hatte, zog die Schultern hoch. »Du wirst es schon erfahren.« »Sagen Sie es mir, Mr. Cassedy!« »Nur keine Aufregung. Das rote Blatt bedeutet in der Amtssprache des FBI soviel wie: Stark mordverdächtig!« Da sank der Gangster Lothar Fricsay auf einen Stuhl. Er stierte dösig vor sich hin, und schließlich bellte er: »Sie ist im City Depot VII.« »Wo ist dieses Depot?« forschte Cassedy völlig ruhig. »Sie werden es nicht finden.« »Verlassen Sie sich drauf, daß wir es finden; und nun machen Sie endlich die Zähne auseinander.« Der junge Verbrecher beschrieb dem Inspektor den Weg zu dem von ihm erwähnten Banditen‐Quartier. »Interessant. Ich hoffe, Fricsay, daß Sie die Wahrheit gesagt haben. Wenn es nicht so ist, werden Sie kaum Gelegenheit haben, sich darüber zu freuen.« Durch den mutigen Gang der blonden Viola Faber hatte sich das FBI eingeschaltet – und gleich mit dem richtigen Mann. Eliot Ness ging mit der ihm eigenen Energie daran, den Gangster Drenkhan zur Strecke zu 379
bringen. Aber es sollte ein harter Gang werden. Er hatte es hier nicht, wie in seiner bisherigen Laufbahn, mit einem einzelnen Banditen zu tun, sondern mit einer Bande. Es heißt zwar immer, daß Bandenspuren leichter zu finden sind, und Kämpfe gegen Banden daher rascher beendet werden könnten – in diesem Fall aber sollte sich das als Irrtum erweisen. Das City Depot VII, von dem Lothar Fricsay gesprochen hatte, lag in der 24. Straße, und zwar da, wo die 8. Avenue sie kreuzte. Eliot Ness betrachtete das Haus von weitem, schickte dann Cassedy und O’Keefe zur Vorderfront und O’Connor in den Hof des Nebenhauses. Donald Longfield sowie Joseph Lock kamen mit ihm. Ness hatte sich mit einiger Mühe Eingang zum Hof des Anwesens verschafft, das ihm der Gangster Fricsay beschrieben hatte. Es war ein sechsgeschossiges Haus, das hier zwischen Wolkenkratzern inmitten des alten Stadtteils Cicero stand. Hier also sollte sich das Depot VII befinden. War es das Hauptquartier des Syndikats? Oder nur eine Ausweichlage, wie es in Gangsterkreisen üblich war. Es würde sich rasch herausstellen. Der Inspektor gelangte ins Haus, ohne von jemandem bemerkt zu werden. Lock und Longfield waren an der Hoftür zurückgeblieben. Er selbst lauschte in den Korridor und drückte dann auf den Lichtschalter. Zwölf Familien wohnten hier in sechs Etagen. Ungeeigneter konnte ein Haus für ein Gangsterlager 380
kaum sein. In diesem Augenblick wurde die Haustür vorn geöffnet, und Pinkas Cassedy stampfte mit seinem schweren Körper in den Hausgang. »Boß?« »Ja, was gibt’s?« »Habe eben über Funk am Wagen Nachricht erhalten. Fricsay scheint es sich überlegt zu haben. Er hat ausgesagt, daß wir in die 2. Straße gehen müßten. Und zwar soll es das Haus mit der Nummer 279 sein.« »Ich fahre sofort hin. Sie bleiben mit O’Keefe und Longfield hier!« »Wollen Sie allein hin?« forschte Cassedy, der seinen Boß sonst auf fast allen Wegen begleitete. »Ja, ich werde allein fahren.« Nachdem er in seinen Wagen an der Straßenecke gestiegen war, gab Cassedy Joseph Lock einen Wink. »Los, fahren Sie hinter ihm her.« Lock kratzte sich im Genick. »Das ist so eine Sache, Inspektor.« »Haben Sie nicht gehört? Das ist ein dienstlicher Befehl!« »Klar«, grinste Lock, und er wußte ja auch, daß Cassedy es gut meinte. Der neue Chef‐Inspektor, der erst seit wenigen Monaten hier bei der Spezialabteilung am Oakwood Cemetery saß, hatte es zum erstenmal mit einer echten Bande zu tun. Die Drenkhan‐Gang würde ihn auf Granit beißen lassen. Das stand für den erfahrenen FBI‐man Cassedy fest. Andererseits gehörte 381
Cassedy zu den ersten Leuten, die das große Talent des jungen Eliot Ness erkannt hatten. Er spürte, daß in diesem Mann etwas Besonderes steckte. Da hatte der Große Boß oben in Washington kein schlechtes Auge bewiesen, als er Ness hier auf diesen Posten setzte. Aber weder der oberste Chef des Federal Bureau of Investigation drüben in Washington, noch die Spürnase des Inspektors Cassedy ahnten etwas von der wirklichen Karriere, die dieser Eliot Ness machen sollte, keiner von ihnen wäre auf den Gedanken gekommen, daß dieser Mann einmal der bedeutendste Polizeioffizier der USA werden sollte. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg, und die Hindernisse, die sich vor dem Norweger aufbauten, waren gerade heute besonders groß. Der Weg, der ihn von hier bis zu dem infamsten und sagenhaftesten aller Gangster, Al Capone, und zu dem unerhörten John Dillinger führen sollte, war noch weit. Was Eliot Ness nicht ahnte, war die Aufmerksamkeit, die das Verbrechergenie Al Capone ihm hier schon schenkte. Der berüchtigte Gangster hatte einen siebten Sinn, seine gefährlichsten Gegner als solche wahrzunehmen. Eliot Ness hätte es nicht für möglich gehalten, welche Lektion ihm Al Capone einmal erteilen würde. Mit seinem ziemlich unmordernen Ford‐Zweisitzer preschte er durch die Straßen des O‐Distrikts, durch Cicero, bis er die Hausnummer 279 in der 2. Straße passierte. Es war ein etwas zurückliegendes dreigeschossiges 382
Haus, das in einer typischen Abbruchsgegend lag. Das sah schon eher nach »Syndikats‐Quartier« aus. Ness ließ seinen Wagen ein Stück die Straße hinunter stehen, ging ins Nachbarhaus, fand aber die Kellertür verschlossen. Da er unbedingt in den Hof kommen mußte, versuchte er es ein Haus weiter. Auch da war die Tür verschlossen. Die Leute schienen hier ziemlich vorsichtig zu sein. Er konnte es nicht riskieren, ein weiteres Haus aufzusuchen, da die Gangster ihr Quartier wahrscheinlich unter Bewachung hielten. Deshalb setzte er den Schloßöffner an. Leider war dieses Gerät keineswegs völlig geräuschlos – und prompt öffnete sich im Parterregeschoß eine Tür. Ein Mann erschien im dunklen Korridor, und gleich darauf flammte Licht in allen Etagen auf. Es war ein Mann in den Fünfzigern, mit schütterem Haar, Brille und blassem Gesicht. Er hatte eine Zeitung in der Hand und lauschte ins Haus. »Was war da bloß, Kate?« fragte er in die Wohnung zurück. Die keifende Stimme einer Frau war zu hören. »Komm rein, und iß dein Abendbrot zu Ende. Das Zeug wird ja kalt. Glaubst du, ich möchte es noch einmal aufwärmen! Erst läßt du mich wegen deiner Zeitung eine halbe Stunde warten, und jetzt läufst du im Hausflur rum.« Eine hagere Frau mit zerzaustem Haar erschien in der Wohnungstür. »Komm endlich!« Vielleicht hätte der Mann nicht so rasch aufgegeben. Aber unter diesem massiven Druck verzichtete er auf eine weitere Nachforschung. 383
Eliot Ness, der an der Kellertür gestanden hatte, atmete auf. Er öffnete die Tür, betrat den Keller und fand unten die Tür zum Hof prompt versperrt. Ein Schlüssel steckte auch nicht. Er suchte mit seiner winzigen Stablampe die Wand neben der Tür ab, aber von einem Schlüssel war nichts zu sehen. Leider mußte er also auch hier wieder seinen Schloßöffner anbringen. Das Geräusch drang erneut durchs Haus. Aber diesmal ließ er sich keine Zeit. Er öffnete die Tür, zog sie rasch hinter sich zu und war draußen in der Deckung der Mülltonnenbatterie, ehe im Hauflur wieder das Licht aufflammte. Mit einem Sprung war er an der Mauer und schwang sich in den Nachbarhof. Es war sicher die schmutzigste Ecke von ganz Chicago, in die er hier geraten war. Fäulnisgerüche schlugen ihm entgegen. Fiepend schoß eine Ratte dicht vor seinen Schuhspitzen aus einem Müllhaufen quer über den Hof. Im Nachbarhaus hörte er Stimmen laut werden. Er passierte diesen Hof und wollte sich gerade in den Hof des Hauses 279 schwingen, als er da die Hoftür knarren hörte. Dicht an die Mauer gepreßt, blieb er stehen. Er vernahm einen schlurfenden Schritt und dann zog der Tabakduft einer Zigarette zu ihm hinüber. Der Mann drüben in der Hoftür spie geräuschvoll aus, und gleich darauf wurde dieTür ins Schloß gezogen, ohne verriegelt zu werden. Nanu, sollte man ausgerechnet da drüben weniger 384
vorsichtig sein? Eliot wartete einen Augenblick, zog sich dann im Klimmzug bis an den Mauerrand und blickte auf die Rückfront des kleinen Hauses. Im ersten Stock brannte hinter zwei Fenstern Licht. Mit einem Schwung war der FBI‐Agent über die Mauer, kam aber so unglücklich auf, daß er auf dem rechten Fuß einknickte. Er richtete sich auf und spürte sofort, daß er sich verletzt hatte. Das Bein wollte ihn nicht richtig tragen. Er massierte den Wadenmuskel und hätte sich verwünschen können, daß er so unglücklich bei seiner Landung hier im Hof aufgekommen war. Aber das Gerümpel hier hinter der Mauer war derart unübersichtlich, daß eine geschicktere Landung nach einem solchen Schwung kaum möglich gewesen wäre. Allerdings war er auch besonders unglücklich aufgekommen, nämlich auf einem wackligen Stein, der hier im Dunkeln neben Kisten und Kästen an der Mauer lag. Der Inspektor mußte sich schon sehr anstrengen, nicht zu humpeln, als er sich jetzt der Hoftür näherte. Viel Zeit ließ er sich dazu, fast eine Viertelstunde. Inzwischen hatte er den Hof einer genauen Prüfung unterzogen. Hier gab es einen kleinen Geräteschuppen, in dem ein Besen, eine Schaufel und ein alter Ascheimer standen. Sonst nichts, nichts, jedenfalls nichts, das etwa auf das Quartier einer Gangsterbande schließen ließ. Er trat lautlos in den Hausflur ein. Kalter Tabakrauch, vermischt mit üblen Küchendünsten, schlug ihm 385
entgegen. Es war so, wie er vermutet hatte: es mußte ein Einfamilienhaus sein, denn unten führten vom Korridor drei Türen ab. Eine der Türen stand offen. Als Ness sie erreicht hatte, blickte er in eine Küche. Die hölzerne Treppe, die ins erste Geschoß hinaufführte, war so alt, daß er befürchten mußte, Geräusche zu verursachen, die überall im Haus gehört wurden. Dennoch riskierte er es. Dicht am Geländer entlang tastete er sich hinauf. Der schmerzende rechte Fuß machte ihm das nicht leicht. Als er das Obergeschoß erreicht hatte und in den Hausgang lauschte, drangen plötzlich Stimmen an sein Ohr. Die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Was da hinter einer der nächsten Türen geschah, war so eindeutig, daß er am liebsten umgekehrt wäre. Eines stand fest, die Frau da drinnen wurde keineswegs vergewaltigt. Trotzdem sagte sie jetzt mit heiserer Stimme: »Brutaler Kerl!« »Halt’s Maul!« entgegnete der Mann. Irgendein Gegenstand im Zimmer polterte mit dumpfem Geräusch zu Boden. »Du wirst deinen Lohn schon kriegen!« »Ach, blas’ dich doch nicht so auf, glaubst du vielleicht, Jake wäre aus Gold!« »Weder Jake interessiert mich noch sonst irgend jemand hier bei euch.« »Ach, bist wohl was Besseres, he?« »Verschwinde«, krächzte die Frau mit 386
rauchverkratzter Stimme. Klatsch! knallte eine Ohrfeige in ihr Gesicht! Ein leises Stöhnen war die Antwort. Da war der Inspektor an der Tür und öffnete sie. Das Bild, das sich ihm da bot, war wenig angenehm. Links auf einer abgesteppten kamelfarbenen Couch saß eine Frau. Sie war dunkelhaarig, und sicher war sie einmal hübsch gewesen. Dreißig mochte sie etwa sein. Unter der aufgerissenen Bluse blickte eine volle Büste hervor, die offensichtlich gutgeformt war. Der schwarze Rock war hochgerutscht, ihre Schuhe lagen am Boden. Mit einer raschen Bewegung zog sie die zerfetzte Bluse am Hals zusammen und den Rock mit einem nutzlosen Versuch auf die Oberschenkel. Schreck stand in ihren Augen. Der Mann, der neben der Couch stand, hatte einen hochroten Schädel, in dem ein opalfarbenes Augenpaar blinkte. Er war mittelgroß und mochte etwa fünfundvierzig Jahre alt sein. Es war der ehemalige Kellner Dave Callinger, der seit anderthalb Jahren zum Drenkhan‐Syndikat gehörte. Mit gesenktem Kopf stierte er den Fremden an, der da so plötzlich in der Tür aufgetaucht war. Dann riß er mit einer blitzschnellen Bewegung eine Lade auf, aber das metallische Klicken, das von der Tür her kam, ließ ihn in der Bewegung innehalten. Er wandte den Kopf und sah in der rechten Hand des Fremden einen Revolver. »Ah, ging ja ziemlich schnell!« Eliot schloß mit dem Fuß die Tür hinter sich. 387
Da flötete die Frau: »Wohl von der Konkurrenz, Süßer, was?« »Halt’s Maul!« herrschte Callinger sie an. Dann nahm er die Hand aus der Schublade und kam langsam auf Eliot Ness zu. Der schob den Revolver mit eisiger Ruhe in die Manteltasche zurück. Callinger blieb zwei Schritte vor ihm stehen. »Was willst du?« »Ich suche Jake Drenkhan und Viola Faber.« Es schien dem Inspektor, daß ein Schatten über das Gesicht des Mannes geflogen wäre. »Drenkhan? Bist du verrückt?« »Absolut nicht. Wo ist er?« »Wer schickt dich?« »Beantworten Sie meine Frage!« Scharf wie Pfeile kamen die Worte von den Lippen des FBI‐Mannes. Callinger grinste, urplötzlich aber ließ er sich nach vorn fallen und suchte, die Beine des Eindringlings zu packen. Es gelang ihm nicht. Eliot ließ einen harten Handkantenschlag auf Callingers linke Schulter fallen und hatte den Mann damit im Moment abgeschüttelt. Da aber wurden nebenan Schritte laut, und die heisere Stimme eines Mannes war zu hören. »Dave, was ist los?« »Hilfe!« schrie Callinger. Die Tür wurde mit einem Fußtritt gesprengt. Der Mann, der in ihrem Rahmen stand, hatte die Figur eines Preisboxers. Sein Haar war auf Streichholzlänge 388
geschoren und wuchs ihm bis in die Stirn. Es war ein richtiges Bullbeißergesicht, das der Gangster Derrik Marcusow hatte. Er war siebenundzwanzig Jahre alt und »arbeitete« seit einem Jahr für das Syndikat. Hinter ihm kam ein jüngerer Bursche, der ebenfalls eine athletische Figur hatte. Es war Ive Dolpan. Die beiden warfen einen raschen Blick über den Raum, und dann stampfte Marcusow vorwärts. »Wer ist denn das hier, Biggy?« wandte er sich an die Frau, ohne sie anzusehen. »Du hast Besuch? Ich dachte, du machst einen auf Liebe.« »Was weiß denn ich? Der Kerl stand plötzlich in der Tür und schlug auf Dave ein.« »Ah, wohl von Spartacus?« Der G‐man blickte ihn ruhig an. Marcusow war jetzt bei ihm. »Vorsicht, er hat einen Revolver«, flötete die Frau. »Er wird kaum dazu kommen, ihn zu ziehen«, bellte Marcusow und warf sich dem Inspektor entgegen. Eliot Ness wich zur Seite. Da aber prallte völlig unerwartet Dolpan wie ein Geschoß von der Tür her mit einem artistischen Hechtsprung in seine Flanke. Eliot wurde zur Seite geschleudert und stieß mit Marcusow zusammen. Der holte zu einem fürchterlichen Schwinger aus, den der Inspektor noch abducken konnte. Aber wieder war Dolpan da, der offensichtlich sehr viel schneller als Marcusow war. Er versuchte, dem Gegner an die Kehle zu packen. Eliot hämmerte ihm mit voller Wucht einen schweren 389
Rechtshänder auf die Herzspitze und Dolpan knickte zusammen. »So«, bellte Marcusow, der von der Wucht seines eigenen Schwingers zu Boden gerissen worden war, aber wieder auf den Beinen stand, »jetzt sollst zu Derrik Marcusow kennenlernen!« Er stampfte zurück, kam auf Ness, der herumgewirbelt war, zu und schlug einen pfeifenden linken Haken nach vorn, den Ness abduckte. Diesem Schlag ließ der Gorilla sehr viel schneller als vorhin einen rechten Haken folgen, den der G‐man noch mit dem Ellbogen abblocken konnte. Es war ein schwerer Schlag, und Ness spürte ihn durch den Arm bis in die Brust. Zounds! Diesem Muskelklotz durfte er keine Zeit mehr lassen. In den Augen des Gorillas vor ihm blitzte es auf. »Come on, Boy, will sehen, was du schlucken kannst.« Da nahm der FBI‐Agent die angehobenen Arme herunter. Prompt fiel der Gorilla auf den gefährlichen Bluff herein und riß einen linken Schwinger nach vorn. Unter dem Schlag aber krachte ein schwerer Rechtshänder des Polizeioffiziers auf die linke Brustseite des Gangsters. Der Hieb war so knallhart und zielgenau gewesen, daß Marcusow nicht nur durchgeschüttelt, sondern auch kalkweiß im Gesicht wurde. Auf schwankenden Beinen stand er da; und als er die Arme zum neuen Angriff hochnehmen wollte, traf ihn der Spezialschlag des Norwegers, der kurze linke Haken, an der Kinnspitze und warf ihn von den Beinen. 390
In diesem Augenblick sprang Callinger vom Boden hoch, rannte zur noch offenstehenden Schublade und griff hinein. Er brachte den Revolver auch noch heraus und riß ihn herum. Aber da peitschte ihm aus der rechten Faust des Inspektors schon der Schuß entgegen. Ein tierischer Schrei brach aus der rauhen Kehle des getroffenen Gangsters. Er torkelte zurück und rutschte an dem Türpfosten zum Nebenzimmer in sich zusammen. Marcusow hatte sich wieder hochgerappelt. Mit dösigen Augen stand er da und glotzte den Fremden an. »Damned, ich habe gar nicht gewußt, daß die bei Spartacus so harte Leute haben«, krächzte er mit schwerer Zunge. »Nehmen Sie die Hände hoch!« forderte der Inspektor ihn auf. »Was denn, der Tanz ist schon zu Ende?« »Ich denke ja«, entgegnete Eliot Ness. Dann trat er auf den Riesen zu und schlug ihm eine Handschelle ums rechte Handgelenk. Die zweite Klammer befestigte er an dem linken Arm Dolpans, der immer noch benommen am Boden kauerte. Callingers Gesicht war wachsbleich geworden. Der Inspektor trat zu ihm und legte auch ihm eine Handfessel an. Dann zerrte er ihn vom Boden hoch. »Wer ist sonst noch im Haus?« forschte er mit einem Blick auf die Frau. »Außer mir niemand, Süßer.« 391
»Wo ist Drenkhan?« »Drenkhan? Wer ist das?« »Stellen Sie sich nicht dümmer als Sie sind. Wo ist er?« »Ich weiß es nicht.« »Hören Sie genau zu, Biggy, ich weiß, daß hier eine Frau festgehalten wird…« Die Gangsterbraut vermochte einen Ausruf des Schreckens nicht zu verbergen. Eliot nahm den Revolver hoch. »Die Frau ist entführt worden. Wenn Sie sich des Kidnappings mitschuldig machen wollen, dann können Sie jetzt schweigen.« Da stieß Biggy hastig hervor: »Sie ist gleich hier gegenüber in einem Zimmer eingesperrt – aber ich habe nichts damit zu tun!« »Verdammte Hure!« bellte Callinger. Eliot trieb die drei Männer auf den Gang und forderte die Frau auf, ebenfalls hinauszugehen. »Öffnen Sie drüben die Tür!« Er selbst blieb hinter Callinger stehen, mit dem schußbereiten Revolver in der Hand. Die Frau nahm einen Schlüsselbund und öffnete die bezeichnete Tür. »Holen Sie sie heraus!« befahl Ness. Er war selbstverständlich auf eine unangenehme Überraschung gefaßt. Auch darauf, daß noch weitere »Bestattungsmitglieder« des Syndikats auftauchten. Statt dessen aber trat mit blassem Gesicht und wirrem Haar Viola Faber in den Korridor. Sie warf einen Blick über die 392
Männer, und dann hatte sie den Inspektor entdeckt. »Eliot Ness!« entfuhr es ihr. Die drei Gangster standen wie angewachsen da. Dann stieß der verletzte Callinger heiser hervor »Eliot Ness! Das ist es also. Dann möchte ich nur wissen, welches Schwein uns verpfiffen hat…« Obgleich er in größter Gefahr war, unten im Haus noch aufgehalten zu werden, führte Ness die drei Gefangenen auf die Straße. Viola Faber ging hinter ihm. Als sie auf den Gehsteig traten, kam ein Mann, der an einer Laterne gelehnt hatte, heran. Es war Joseph Lock. Ness blickte ihn nur an und schüttelte dann den Kopf. »Wohl Langeweile gehabt, was?« »Nein, Boß, aber Mr. Cassedy meinte…« »Ich weiß, was Mr. Cassedy meinte. Nehmen Sie die Leute hier mit.« Dazu war Joseph Lock der richtige Mann. Er hatte an der nächsten Straßenecke seinen »Blechkasten« stehen, in den mit etwas gutem Willen ein ganzes Dutzend solcher Gestalten hineingegangen wären. Er schob einen nach dem anderen hinten in die Ladentür, riegelte ab und fuhr los. Der alte Lastwagen, den Eliot Ness angeschafft, und den niemals jemand beim FBI hatte ausstehen können, tat wieder mal seinen Dienst. Der Inspektor stand neben der Frau an der Straßenecke und blickte dem Wagen nach. Viola sagte mit heiserer Stimme: »Ich danke Ihnen, Mr. Ness.« 393
»Wie geht’s Ihnen?« »Gott sei Dank gut.« »Drenkhan, wo ist er?« »Ich weiß es nicht. Er hat mich nur bis da drüben an die Ecke gebracht, wo mich zwei von den Kerlen in Empfang nahmen, Callinger und Dolpan.« »Und weiter?« »Sie hatten mich in das Haus zu bringen. Um Mitternacht wollte er selbst kommen…« Er kam nicht um Mitternacht, und auch nicht später. Das FBI hatte die ganze Gegend umstellt. Aber Jake Drenkhan blieb aus. * Als Eliot Ness am nächsten Morgen zur Hochbahn ging, um zum Büro zu fahren, sah er auf dem Bahnsteig am Zeitungskiosk plötzlich seinen Namen. Er blieb stehen, wandte den Kopf und las auf der Schlagzeile der Chicago News: Eliot Ness fischt im trüben! Er kaufte die Zeitung und las den Artikel. Es war ein Schlag seines alten Gegenspielers Rufus Matherley. Der wortgewaltige Redakteur einer der größten Zeitungen der USA hatte wieder einmal Wind von einer Sache bekommen, die ihn nichts anging. Leider hatte er nicht ganz unrecht, als er behauptete, daß Eliot Ness sich in Dinge eingeschaltet hatte, die noch in den Befugnisbereich der Stadtpolizei gehörten. Wenn 394
tatsächlich ein Gangstersyndikat die Schankwirte eines Viertels in Cicero bedrohte, dann war es zuerst Aufgabe der Stadtpolizei, sich darum zu kümmern. Geschickt schürte der Journalist das Feuer der alten Rivalität zwischen dem FBI und der Stadtpolizei. Er erreichte mehr damit, als man hätte meinen sollen. Denn auch bei der Stadtpolizei hatte der junge FBI‐ Chefinspektor Eliot Ness nicht lauter Freunde. Man hatte es gerade dort nicht gern gesehen, daß das FBI am Oakwood Cemetery diese Sonderabteilug errichtete und sie obendrein noch mit einem so jungen Mann an der Spitze besetzte. Eliot Ness, so hatte man bald herausgefunden, war ein Spezialagent gewesen, der hauptsächlich vom Schreibtisch aus einige verzwickte Fälle gelöst hatte. Daß der große Chef des FBI diesen Mann zum Chef‐Inspektor gemacht und hier an die erste Stelle der neuen Spezialabteilung am Oakwood Cemetery gesetzt hatte, paßte eigentlich niemandem. Dann aber hatte der unscheinbare Sohn norwegischer Eltern im vergangenen November den gefährlichen Würger am Washington‐Park gegriffen und bald darauf den unheimlichen Aufschlitzer aus den Hickory Hills. Die Manier, in der er es getan hatte, zeugte von einer genialen Eigenwilligkeit, die selbst sein Widersacher Matherley hatte loben müssen. Aber sobald er etwas tat, der verhaßte Ness, was irgendwie angegriffen werden konnte, dann war die Meute sofort auf dem Plan. Der Artikel Matherleys war gespickt mit Angriffen. Er forderte nicht nur den Senat auf, sondern auch den 395
Oberbürgermeister und den Chef der Stadtpolizei, sich um diesen Fall zu kümmern. Man solle seine eigenen Rechte wahren, wenn man sich weiterhin behaupten und nicht von kleinen Seitenläufern und Einzelgängern überholt werden wollte. Oh, er fing es geschickt an, der große Matherley. Im Grunde waren es spielerische Fingerübungen, die der einflußreiche Redakteur gegen Eliot Ness vornahm. Auch die Chicago News rüstete bereits für die gigantische Auseinandersetzung zwischen dem FBI‐ Inspektor und dem großen Gangsterkönig Al Capone. Der war gerissen und clever genug, um die schreibende Zunft für seine Zwecke und gegen das FBI zu gewinnen. An allen Fronten war Al Capone aktiv, und fast überall war er siegreich. Rufus Matherley merkte gar nicht, daß auch er nur das Werkzeug Al Capones war. * Gelassen schob der Inspektor indessen die Zeitung in die Tasche und fuhr zu seiner Arbeitsstätte. Es war ein trüber Tag, und der Februarhimmel über Chicago zeigte sein typisches Gesicht. Ness betrat das alte graue Haus in der 71. Straße und benutzte statt des Aufzugs wie immer die Treppe. Oben in seiner Etage herrschte der übliche Betrieb. In seinem Vorzimmer saß die hübsche kleine schwarzhaarige Ruth Everett und stand wie jeden Morgen, wenn er eintrat, unwillkürlich auf und nickte ihm freundlich zu. 396
Dann stand er in seinem Zimmer an dem hohen, vorhanglosen Fenster und blickte hinaus. Der Anblick, der sich ihm draußen bot, war nicht eben angenehm: Endlose kahle Gräberreihen eines uralten Friedhofs – eine prächtige Aussicht von einem Arbeitsraum! Kein Wunder, daß das Haus nicht von Privatleuten gemietet wurde. Der richtige Fang für das FBI. Der Inspektor setzte sich an den Tisch, sah die Morgenpost durch und bearbeitete dann bis fast gegen zehn Uhr Akten. Dann nahm er die Nachrichtenmappe wieder auf und flog die Mitteilungen durch, die Antworten auf Fragen waren, die er an die einzelnen Dienststellen geschickt hatte. Drenkhan, Emil, las er da. 69. Straße 384, vierte Etage. Daran war ein Zettel geheftet. »War schon dort, ist ein blutjunger Mensch von sechzehn Jahren, lungenkrank und ohne Anhang. C.« Cassedy war also schon dort gewesen. Drenkhan, Joana, lebt im Altersheim drüben im Westen der Stadt. O’Keefe war bei ihr. Sie hat keine Verwandten mehr. Ihr jüngerer Bruder ist vor dreißig Jahren nach Europa ausgewandert und im letzten Krieg gefallen. Drenkhan, William, gestorben am 16. Oktober vor fünf Jahren. Noch weitere sieben Drenkhans hatte das große Chicago aufzuweisen. Aber es war keiner darunter, der auch nur die leiseste Hoffnung hätte aufkommen lassen, den Mann zu verbergen, den Eliot Ness suchte. Zweimal las er den Bericht durch, den Cassedy auf 397
seinen Hinweis hin bei den Maklerbüros abgegeben hatte. Wenige Minuten nach elf hielt er mit seinem Wagen draußen im Westen der Stadt in der kleinen Villenstraße, die nach dem Präsidenten Roosevelt benannt worden war. Es war eine hübsch angelegte Straße, an die nur Grundstücke grenzten, die mit eleganten weißen Bungalows bebaut waren. Er schlenderte die Straße hinauf und blieb vor dem Grundstück Nummer 17 stehen. Ein großer, sauber angelegter Vorgarten führte vom Jägerzaun bis zum Haus hinüber. Ness öffnete die Gartenpforte und schritt über feinen roten Splitt auf das Haus zu. Auf sein Klingeln meldete sich niemand. Da ging er um das Haus herum. An der östlichen Hausecke stockte plötzlich sein Fuß. In einem Glaskasten lag eine Frau in einem Liegestuhl. Sie war jung, bildhübsch, hatte wasserstoffblondes Haar und so wenig an, daß der Inspektor sich fast ein wenig schämte, sie zu beobachten. Die Schöne nahm nicht etwa ein Sonnenbad, sondern hatte hier draußen unter der Glasveranda eine Höhensonne installieren lassen, unter der sie sich genüßlich rekelte. Ness ging zurück und versuchte es wieder mit der Klingel. Ohne Erfolg. »Hallo!« rief er deshalb. Es dauerte nicht lange, und er hörte Schritte im Haus. Ein winziger Spion in der Tür wurde betätigt, was dem 398
G‐man nicht entging, und dann wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet. Ness hatte seinen Hut abgenommen. »Entschuldigen Sie, Miß, ich suche einen Bekannten, Mr. Drenkhan.« »Drenkhan? Kenne ich nicht.« Sie hatte eine dunkle Stimme, die einen Mann schon irritieren konnte. »Nanu, er müßte doch hier wohnen.« »Hier wohnt niemand, der so heißt.« Ihr Blick glitt forschend über die eindrucksvolle Gestalt des Mannes. Dann schien die wasserstoffblonde Schönheit wohl zu dem Schluß gekommen zu sein, daß er keinen gefährlichen Eindruck machte. Mit spitzen Fingern nahm sie die Kette zurück und öffnete. Der Inspektor blickte sie betroffen an. Denn sie war wirklich von geradezu aufregender Schönheit. Ihr Gesicht war von der Höhensonne gebräunt, und die großen hellblauen Augen leuchteten ihm wie Aquamarine aus einem dichten, langen Wimpernkranz entgegen. Die Nase war fein geformt und der Mund groß und voll. Eine Doppelreihe ebenmäßig gewachsener perlengleicher Zähne blitzte ihm entgegen, als sie jetzt über sein etwas bestürztes Gesicht lächelte. »Mein Name ist Carolyn. Wenn Sie hereinkommen wollen…« Eliot trat in den Korridor, und die Frau ging mit schwingenden Hüften vor ihm her. Allmächtiger! Sie hatte nur einen ganz kurzen gelben Bademantel übergezogen; es war unmöglich, den Blick von ihren 399
langen, schlanken Beinen zu nehmen. Sie öffnete eine Flügeltür und deutete in den Wohnraum. »Bitte, kommen Sie herein, Mister.« Die Stimme war geradezu betörend, vor allem, wenn man dabei solche Frauenbeine anstarren mußte. Äußerste Vorsicht, Junge, mahnte sich der Inspektor selbst! Das hier waren nämlich die schlimmsten Fallen, die es überhaupt geben konnte. Die Frau war von hinreißender Schönheit – ganz ohne Zweifel. Aber wie viele Männer waren schon durch einen solchen Anblick zu Fall gebracht worden! Ness blieb beharrlich an der Haustür stehen und sagte mit ruhiger Stimme: »Nein, ich möchte Sie nicht aufhalten, Miß Carolyn. Ich suche Mr. Drenkhan.« Die Frau blieb an der Flügeltür stehen, hob ihre Arme etwas an und schüttelte dann lächelnd den Kopf. »Aber hier wohnt kein Mr. Drenkhan. Vielleicht hat er einmal hier gewohnt, vor uns.« »Und Sie heißen Drompieter, wie an der Tür steht?« »Nein, noch nicht. Mein Bräutigam heißt so.« »Und wo ist Ihr Bräutigam?« forschte der Polizeioffizier höflich. »Ich weiß es nicht. Er ist viel unterwegs.« Sie kam langsam und mit schaukelnden Hüften auf ihn zu. Ihre edelgeformten langen Beine, die in hochhackigen Pumps steckten, blickten frech unter der allzukurzen Badejacke hervor. Einen Schritt vor ihm blieb sie stehen. Es lag plötzlich 400
etwas Herausforderndes in ihrer Haltung. Die weiten Revers der Badejacke standen offen und ließen mehr von den Attributen ihrer weiblichen Schönheit sehen, als dem jungen FBI‐man zu dieser Morgenstunde zuträglich war. Er schluckte und hob die Augen, um ihren Blick zu suchen. Aber was ihm da aus den glimmenden Aquamarinen der Frau entgegenfunkelte, mußte vulkanischen Ursprungs sein. Die Stimme des Inspektors klang etwas belegt, als er jetzt versuchte, bei der Sache zu bleiben. »Sie kennen also niemanden, der Drenkhan heißt?« Das Gesicht der Frau bewegte sich nicht. Nur ihre Lippen, die gerade geschlossen waren, öffneten sich und zeigten die schimmernden Zahnreihen. Es war ein diabolisches Lächeln, das dem Mann da die Füße wegziehen wollte. Wieder mußte Eliot Ness schlucken. Weshalb stehe ich Idiot hier? Ich bin doch offensichtlich im falschen Haus – und wahrscheinlich schon nach Punkten geschlagen. Aber war er wirklich im falschen Haus? Das Gesicht der Frau war jetzt so dicht vor ihm, daß ihm ihr schweres Parfüm berauschend entgegenschlug. Er war schon bis an das weißlackierte Holz der Tür zurückgewichen. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann, Mister…«, war ihre dunkle Stimme wieder da, »aber ich kenne wirklich niemanden, der so heißt. Und mein Bräutigam ist auch nicht da.« 401
»Ich glaube, er ist öfter nicht da, Miß Carolyn«, forschte der Inspektor und hatte wieder etwas von seiner Fassung zurückgewonnen. Es blitzte kurz in Carolyns Augen auf, und dann grub sich eine winzige, sehr hübsche Unmutsfalte zwischen ihre sauber gezupften hohen Brauenbögen. »Woher wissen Sie das?« »Ich glaube, das ist nicht schwer zu erraten.« »Sie haben recht«, brachte die Frau jetzt etwas gequält hervor, »und deshalb freue ich mich über jeden vernünftigen Menschen, der mich besucht. Meine Freundin Marion sagt immer, daß die Zeit nur so vorüberfliegt und man alt wird, ohne es zu merken. Seien Sie also nett, kommen Sie auf einen Drink herein.« Weshalb sollte er ihr das eigentlich abschlagen? Sie war ja wirklich bezaubernd, wenn vielleicht auch etwas dumm. Allerdings nicht zu dumm, ihre Reize mit einer Raffinesse ohnegleichen auszuspielen. Irgendwo in seinem Innern warnte ihn etwas, ihrer Einladung ins Wohnzimmer zu folgen. »Nur auf einen Drink«, flüsterte Carolyn. Sie hatte ein paar Schritte vorwärts gemacht, blieb dann stehen und wandte ihm ihre linke Seite zu. Sie hatte das rechte Bein etwas vorgestellt und das linke Knie durchgedrückt. Sie schien gar nicht zu bemerken, daß sich dadurch ihre hinreißend geformte Büste, die nur in einem winzigen weißen Halter lag, vorn aus der offenen Badejacke hervordrängte. »Nein, vielen Dank, Miß Carolyn«, brachte der Mann 402
mit belegter Stimme hervor, »ich habe wirklich wenig Zeit.« Wieder die winzige Unmutsfalte zwischen den Brauen der Frau. »Schade, ich hätte mich gern ein paar Minuten nett unterhalten.« »Worüber zum Beispiel?« fragte er mit dem Mut eines Löwenbändigers. Ein berückendes Lächeln flog über ihr hübsches Gesicht. Langsam kam sie zurück, schaukelte mit dem Oberkörper hin und her und setzte ihre gepflegten Hände auf die Hüften. »Ich denke, da gäb’s ganz sicher einiges, finden Sie nicht, Mister…« »Ach ja, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Eliot.« »Eliot? Ein hübscher Name.« »Finden Sie?« »Auf jeden Fall. – Wie wär’s nun mit dem Drink?« »Leider habe ich keine Zeit«, suchte er erneut der Schlinge auszuweichen, »ich muß Drenkhan finden. Es ist eine ganz wichtige Sache. Übrigens, es könnte natürlich sein, daß er Grund hat, einen anderen Namen zu führen. Vielleicht ist Ihr Freund Drompieter der Mann, mit dem ich sprechen muß.« »Das glaube ich nicht. Jules hat bestimmt keinen Grund, seinen Namen zu ändern. Er ist Kaufmann und macht gute Geschäfte.« »Ja, das glaube ich«, sagte er, während er einen Blick 403
auf die luxuriöse Einrichtung des Hauses warf. Rechts führten die manschettenlosen Stufen einer Mahagonitreppe ins Obergeschoß, und auf einer dieser Stufen tauchte jetzt ein großes Windspiel auf, das den Fremden neugierig musterte. »Das ist Collie, mein einziger Freund. Komm, sei lieb, geh hinauf, Frauchen kommt bald nach.« Der Hund trollte sich lautlos davon. »Sagen Sie, Miß Carolyn, haben Sie ein Bild von Mr. Drompieter?« »O ja, kommen Sie nur mit.« Wohl oder übel folgte er ihr jetzt bis an die Wohnzimmertür, blieb aber zwischen den beiden weißlackierten, mit gediegener Messingarbeit kunstvoll besetzten Flügeln stehen. Die Frau machte ein paar Schritte vorwärts, wandte sich dann lächelnd nach ihm um und schüttelte den Kopf. Sie ging zu einer Kredenz, nahm aus einer Lade ein Album hervor und kramte plötzlich aufgeregt darin herum. »Nanu, das Bild war doch vor ein paar Tagen noch da! Ich habe es doch selbst gesehen.« Ihr lieber Jules hatte es ihr also weggenommen. »Passen Sie auf, ich werde ihn Ihnen beschreiben. Er ist ziemlich groß, etwa so groß wie ich, breitschultrig und hat ein eckiges Gesicht. So ganz jung ist er nicht mehr. Ich denke, er geht auf die Fünfzig zu.« »Nein, Jules ist noch keine Fünfzig.« »Nun ja. Er sieht ja nicht schlecht aus. Das Haar ist kurz geschoren, und seine Augen sind ziemlich hell, 404
wasserhell. Stimmt’s?« »Ja, so ähnlich könnte es sein, aber diese Beschreibung paßt wohl auch auf eine ganze Menge anderer Leute.« Spielte sie ihm eine Komödie vor? Versuchte sie, ihn an der Nase herumzuführen? Fest stand, daß dieses Haus von einem John S. Drenkhan vor einem Dreivierteljahr von einer Maklerfirma drüben in der City gemietet worden war. Natürlich konnte dieser John S. Drenkhan es weitervermietet haben. Es gab viele Leute in Chicago, die auf diese Art ihr Geld verdienten. Aber irgendwo in seinem Innern spürte der Kriminalist, daß er hier doch auf einer heißen Fährte war. Wenn diese Frau ihn abzuschütteln und zu täuschen versuchte, dann machte sie es, weiß Gott, sehr geschickt. So viel harmlose Freundlichkeit ließ sich so natürlich doch kaum spielen. Wenn sie tatsächlich die Freundin Jake Drenkhans war, dann hatte der Syndikats‐Boß damit keinen schlechten Geschmack bewiesen. »Nehmen Sie einen Whisky oder einen Sherry?« fragte sie, und wieder machte ihm ihre dunkle, lockende Stimme zu schaffen. »Es tut mir wirklich sehr leid, Miß«, entgegnete Eliot, »aber ich trinke überhaupt keinen Alkohol.« »Nicht?« spöttelte sie verwundet. »Ja, wo gibt’s denn so was? Warten Sie, dann hole ich Ihnen einen Saft. Ich habe wunderbaren Johannisbeersaft im Eisschrank.« Mit ihrem hüftschwingenden Gang schwebte sie förmlich über den weichen Teppich davon. Gleich darauf hörte er sie irgendwo draußen in der Küche hantieren. 405
Links auf der Kredenz, wo sie eben gestanden hatte, lag eine kleine lederne Zigarrentasche. Ob sie Drenkhan gehörte? Eine Zigarrentasche war doch ein höchst persönlicher Gegenstand, und Leute, die zu Besuch kamen, würden kaum hier ihre Zigarrentaschen deponieren. Mit einem raschen Griff nahm er sie an sich und schob sie in die Tasche. Das war kaum geschehen, als sich die Tür auch schon wieder öffnete und die hübsche Carolyn mit einem großen Glas Saft hereinkam. »So, das ist für Sie.« Sie setzte es auf einen kleinen schwarzen Marmortisch und lud ihn ein, im Sessel Platz zu nehmen. »Es tut mir leid, Miß Carolyn, aber ich habe tatsächlich gar keine Zeit. Ich muß sehen, daß ich Drenkhan finde. Es ist äußerst wichtig. Sie können mir also wirklich nicht helfen?« »Nein«, sagte sie, »wirklich nicht.« Damit ging sie zur Kredenz zurück, öffnete die beiden Türen, und unter vier Spiegeln kam eine große, versenkbare Bar zum Vorschein. Sie nahm einen Whisky und prostete im zu. Als das scharfe Getränk durch ihre Kehle geronnen war, goß sie sich gleich noch einmal ein. Irrte er sich, oder zitterte ihre Hand wirklich, die jetzt das Glas hielt? Er sah es sofort, daß sie das Trinken nicht gewohnt war, denn sie verzog das Gesicht nach jedem Schluck und hatte Mühe, ein Husten zu unterdrücken. Irgend etwas hatte sie erregt. Eliot Ness war nicht eingebildet 406
genug, sich vorzustellen, daß es seine Gegenwart war – also die Gegenwart eines Mannes, die sie so unruhig machte. Es mußte etwas anderes sein. Carolyn ließ sich in dem Sessel nieder, wobei das weiße, flauschige Badejackett mit der Krone über der linken Brust, die er jetzt sah, noch höher über die Oberschenkel hinaufrutschte. Es wäre wirklich ein Martyrium geworden, wenn er im Sessel ihr gegenüber Platz genommen hätte. Deshalb ging er zur Tür, deutete eine Verbeugung an und erklärte: »Ich danke Ihnen für die Einladung zum Drink, Miß Carolyn, aber leider muß ich weg.« »Warten Sie«, sagte sie, stand auf und kam ihm mit raschen Schritten nach. Als er die Hand nach dem Messinggriff der weißlackierten Doppeltür ausstrecken wollte, schob sie ihren linken Arm plötzlich vor die Tür und stellte sich zwischen ihn und die Türfüllung. Da sie ziemlich groß war und durch die hohen Stöckelabsätze noch größer wurde, war ihr Gesicht nahe vor dem seinen. Er brauchte den Kopf nur etwas zu senken und blickte in ihr flimmerndes aquamarinfarbenes Augenpaar, über das sich die Lider halb gesenkt hatten. Jetzt öffnete sich der volle rote Mund mit den blitzenden Zähnen. Stille herrschte in dem großen Wohnraum. Eine Stille, die für den FBI‐man belastend war. Da legte die Frau ihre weichen, nackten Arme um die Schultern des Mannes und brachte ihr Gesicht noch 407
näher an ihn heran. »Ich bin so einsam«, kam es flüsternd über ihre zitternden Lippen; ihre feinen Nasenflügel vibrierten leise. Es ist manches über den großen Eliot Ness geschrieben worden, auch über seine Beziehungen zum weiblichen Geschlecht – und was darüber erforscht worden sein soll und vor allem gemutmaßt wurde, grenzt teilweise ans Lächerliche. Der »Norweger« hatte durchaus eine gesunde Vorliebe für das andere Geschlecht. Es darf sogar vermutet werden, daß er eine ausgesprochene Schwäche dafür hatte. Aber der sehr disziplinierte Polizeioffizier hatte diese Schwäche immer zu beherrschen gewußt. Auch jetzt, in dieser heißen Minute, als er hier vor der üppigen, bildhübschen Carolyn stand, sprang ihn das Verlangen an, der Verlockung nachzugeben. Aber mit einem energischen Griff schob er sie zur Seite und öffnete die Tür. »Es tut mir leid, Miß Carolyn, aber ich habe es wirklich eilig.« Zornesröte überflammte plötzlich das Gesicht der abgewiesenen Frau. »Ich weiß, die Männer haben es immer eilig. Auch die netten.« Er war schon an der Haustür, wandte sich noch einmal um und entgegnete: »Schade, daß Sie mir nicht sagen konnten, wo Drenkhan ist.« Da machte sie ein paar rasche Schritte in die Diele 408
hinaus und erklärte mit vor Erregung bebender Stimme: »Ich wüßte es mindestens so gern wie Sie, Mr. Eliot, aber er hat es mir nicht gesagt – und er ist schon seit einer Woche nicht mehr gekommen. Nicht einmal angerufen hat er. Wofür halten die Männer einen bloß?!« In die nach diesen Worten eingetretene Stille sagte der Inspektor mit kühler Stimme: »Ich bedaure, daß ich jetzt gehen muß. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.« »Ich weiß nicht, ob das einen Sinn hat«, entgegnete sie ebenso kühl und schnippste mit den Fingernägeln, wobei sie sich abwandte. »Jules ist ein netter Bursche. Er ist freundlich, und er hat mir vom ersten Augenblick an gefallen. Ich habe Männer, die Zigarren rauchen, immer gern gehabt. Auch mein Vater rauchte Zigarren. Schade, daß Sie keine rauchen.« Das lederne Zigarrenetui brannte dem Inspektor in der Tasche. Er deutete noch einmal eine Verbeugung an, und als er hinausgehen wollte, hörte er die Frau sagen: »Und das von vorhin, ich meine, das an der Tür – vielleicht können Sie es vergessen. Ich kann nämlich – keinen Whisky vertragen.« Als er sich umblickte und in ihre Augen sah, konnte er zu seiner Verwunderung ehrliche Besorgnis darin erkennen. Da zauberte der kühle Norweger ein freundliches Lächeln auf sein Gesicht und versetzte: »Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen, Carolyn.« Sofort flog wieder ein Lächeln über ihr Gesicht, und rasch kam sie zur Tür und reichte ihm die Hand. 409
»Auf Wiedersehen. Vielleicht sehen wir uns ja wirklich einmal wieder. Und wenn Jules kommt, was soll ich ihm dann sagen?« »Nichts. Ich werde ihn schon treffen.« * Schon eine Stunde später hatten die Spezialisten im Labor des FBI festgestellt, daß auf der ledernen Zigarrentasche die gleichen Fingerabdrücke hafteten, die in der Wohnung Bernie Tuckers an der Tür abgenommen worden waren, und die sich auch auf dem lackledernen Kleidergürtel Viola Fabers wiedergefunden hatten. Eliot Ness war nicht allzusehr erstaunt, als diese Tatsache klar wurde. Der Mann, der den Bungalow draußen am Westrand der Stadt gemietet hatte, war der gesuchte Jake Drankhan. Er hatte das Haus noch unter seinem Namen gemietet und dann, als er eingezogen war, einfach einen anderen Namen angenommen. Ein primitiver Trick, der jedoch immerhin so viel nützte, daß der Mann nicht gleich gefunden werden konnte, falls er überhaupt mal gesucht wurde. Aber Jake Drenkhan wurde jetzt gesucht. Nellie Wibram, die Frau des ermordeten Restaurantinhabers in Cicero, hatte den Mörder gesehen – wenn auch nur von hinten. Die Beschreibung paßte verdächtig genau auf Jake Drankhan. Wie groß war das Syndikat? Wieviel Männer 410
beschäftigte es? Hatten die Schläge, die der FBI‐Agent Eliot Ness gegen die Gang geführt hatte, ihre Besetzung bereits so stark reduziert, daß der Boß alles allein tun mußte? Nach den bisherigen Erfahrungen, die die Polizei in Chicago mit den zahllosen Banden gemacht hatte, die sich auf derartige Erpressungen verlegten, mußte damit gerechnet werden, daß auch das Drenkhan‐Syndikat noch über eine ganze Anzahl von Mitgliedern verfügte. Es mußte also mit weiteren Verbrechen gerechnet werden. Das Schlimmste war, daß von Drenkhan nicht die mindeste Spur aufzufinden war. Es war ganz klar, daß er nicht mehr in das Haus drüben am Westend der Stadt zurückkehren würde. Auch ein so süßer Lockvogel wie die blonde Carolyn würde ihn nicht mehr dazu bewegen, auch nur in die Nähe des Hauses zu kommen. Nur kurze Zeit, nachdem Ness den Bungalow verlassen hatte, ließ er über Funk einige Beamte kommen, die das Anwesen im Auge behielten. Schon am frühen Nachmittag erfuhr er, daß Carolyn das Haus verlassen hatte. Sie war in Richtung Innenstadt gefahren und hatte auf der South Parkway Avenue Einkäufe gemacht, um dann gegen vier Uhr in der Vencennes Avenue in ein Café zu gehen. Hierher folgte ihr der Spezialagent Joseph Lock. Er berichtete sofort zum Oakwood Cemetery, daß sie weder telefoniert hatte, noch mit irgend jemandem sprach. Sie saß da und las illustrierte Zeitungen. Der Inspektor brauchte nur eine knappe Viertelstunde, 411
bis er im Café war. Es war ein großes Etablissement, in dem er nicht sofort auffiel. Er setzte sich so, daß er Carolyn beobachten konnte, ohne befürchten zu müssen, von ihr entdeckt zu werden. Sie blieb bis halb fünf, zahlte dann, stand auf und ging. Er glaubte schon, daß sie das Café verlassen würde, sah aber plötzlich zu seiner Verblüffung, daß sie sich zur Seite wandte und schnurgerade auf seinen Platz zuhielt. Aus kühlen Augen blickte sie ihn beinahe feindselig an. »Ich habe nicht geahnt, Mr. Eliot, daß Sie so ein zäher Verehrer sein könnten.« Mit einer schnippischen Bewegung wandte sie sich zur Seite und verließ das Café. Eliot holte sie draußen ein und blieb ein Stück neben ihr. »Weshalb gehen Sie so schnell!« fragte er. »Lassen Sie mich zufrieden. Ich kann keine Leute leiden, die einen erst in eine peinliche Situation bringen, dann jedoch kneifen, um einem anschließend heimlich zu folgen.« Der G‐man zwang sie, vor einem Schaufenster stehenzubleiben. »Wo ist Jake Drenkhan?« »Ich kenne keinen Jake Drenkhan! Wenn Sie von Jules sprechen, so sagte ich Ihnen schon, daß ich nicht weiß, wo er ist. Doch jetzt möchte ich Sie bitten, mich nicht länger zu belästigen, sonst rufe ich die Polizei.« Joseph Lock, der herangekommen war und in unmittelbarer Nähe am Schaufenster stand, meinte, ohne den Kopf nach ihr umzuwenden: »Ist schon hier.« 412
»Was soll das bedeuten?« stieß die Frau hervor. »FBI«, erklärte Eliot Ness mit ruhiger Stimme. »Nein«, stammelte die Frau entgeistert. »Doch, Miß Rooter«, sagte Lock, denn inzwischen hatte das FBI den Namen der blonden Schönheit, die da draußen in der eleganten Villa wohnte und aus dem Stadtteil Blue Island stammte, längst ermittelt. »FBI – was hat denn das – ich meine – Sie nannten sich doch – ach, jetzt begreife ich. Sie sind Eliot Ness!« Der Inspektor nickte. »Ja, Miß Rooter. Ich möchte Sie bitten, mitzukommen.« »Mitkommen? Ich bin also – verhaftet?« »Nein, Sie sind nicht verhaftet.« »Und weshalb muß ich dann mitkommen?« fragte sie naiv, wobei sie ihn aus geweiteten Augen anblickte. »Es geht um Jake Drenkhan. Er hat drüben in Cicero einen Mann ermordet.« »Jules? Nein, nie würde er das tun!« Die einstündige energische Vernehmung der blonden Carolyn Rooter ergab nichts. Sie hatte den Mann, wie sie angab, tatsächlich unter dem Namen Jules Drompieter in einem Restaurant unten in Blue Island kennengelernt, und Drompieter, der sich ihr als Kaufman vorgestellt hatte, lud sie schon nach wenigen Wochen ein, zu ihm hinaus in die Villa zu ziehen. Es lag nicht im Charakter der Carolyn Rooter, lange nein zu sagen. Ihre Behauptung, daß sie nicht viel mehr von diesem seltsamen Jules Drompieter wußte, als sie angab, klang durchaus glaubhaft. Eliot Ness ließ sie nach einer Stunde 413
wieder gehen. Selbstverständlich folgte ihr ein Mann. Joseph Lock blieb ihr auf den Fersen. Vorsichtshalber hatte der Inspektor auch Ted O’Keefe auf ihre Spur gesetzt. Die Frau fuhr nach Cicero. Lock hatte Mühe, ihr zu folgen, als sie die Hochbahn verließ, denn sie ging schnell und war plötzlich in einem Warenhaus verschwunden. Aber es war nicht so leicht, einen Mann wie den FBI‐Spezialagenten Joseph Lock abzuschütteln; er fand sie in der zweiten Etage vor einem Schuhstand wieder und hätte sie dann durch den Aufzug fast wieder verloren. Unten aber stand Ted O’Keefe, fing sie gewissermaßen ab und folgte ihr, nachdem er Lock informiert hatte. Carolyn Rooter betrat in der Nähe der Odgen Avenue ein Hochhaus, wo sie bis zum Dachgeschoß hinauffuhr. Sie klopfte an die Tür, an der ein kleines Schild mit der handgeschriebenen Aufschrift Drompieter angebracht war. Es dauerte eine Weile, dann wurde ihr geöffnet. Ein schmalgesichtiger Mensch mit einer Nickelbrille stand da und blickte sie an. Er hatte schütteres aschblondes Haar, einen hageren Körper, trug blauweißrote Hosenträger und verbeulte Hosen, die von den Trägern fast bis unter die Achseln gezogen wurden. Er hatte den Kragen offenstehen und war unrasiert. »Du? Was willst du denn hier?« »Ich muß mit dir sprechen, Gil«, sagte sie. Als sie in der Wohnung war, alarmierte O’Keefe den 414
Chef. Eliot Ness konnte nicht so schnell durch das Gewühl der Straßen kommen, wie er es gewünscht hätte, und traf erst eine halbe Stunde später ein. Auf sein Läuten wurde sofort geöffnet. Carolyn stand vor ihm. Ihr Gesicht war kalkig, und hektische rote Flecken brannten auf ihren Wangen. Sie wirkte auf einmal wie eine Wachsfigur. Ness blickte über ihre Schulter hinweg und sah hinten vorm Sofa die Gestalt eines Mannes liegen. O’Keefe, der auch einen Blick in den Raum geworfen hatte, sagte sofort: »Das ist er, Chef.« Eliot schob die Frau sanft in den Raum zurück, so daß O’Keefe den Eingang versperren konnte und ging dann auf das Sofa zu, vor dem der Mann an der Erde lag. Seltsam zusammengekrümmt lag er auf einem alten, abgetragenen Teppich, und als der Inspektor ihn auf den Rücken wälzte, sah er, daß auch sein Gesicht fürchterlich verzerrt war. Schaumspuren standen auf seinen Lippen, und die Nickelbrille lag mit einem zertrümmerten Glas neben dem Sofa. Ness richtete sich auf und blickte die Frau an. »Er ist tot.« »Ich befürchtete es«, versetzte sie mit bebender Stimme. »Haben Sie etwas dazu zu sagen?« forschte O’Keefe. Carolyn Rooter überhörte diese Frage und blickte den Inspektor an, als sie sagte: »Ich saß vor ihm am Tisch. Plötzlich nahm er eine kleine Flasche aus der Tasche und 415
setzte sie an die Lippen. Ich glaubte, nicht richtig zu sehen, als er aus dem Sessel fiel, gegen das Sofa rutschte und verkrümmt auf der Erde liegenblieb. Sekundenlang starrte ich auf ihn, dann wollte ich flüchten. In dem Moment, in dem ich zurTürklinke griff, läuteten Sie.« Diese Geschichte konnte stimmen – und sie konnte auch nicht stimmen. »O’Keefe, sorgen Sie dafür, daß hier alles aufgenommen wird«, ordnete der Inspektor an. »Und Sie, Mr. Lock, bringen Miß Rooter wieder zum Oakwood Cemetery.« Es wurde sehr schnell festgestellt, daß der junge Mann, den die Freundin des Gangsters Drenkhan aufgesucht hatte, durch eine ungeheure Dosis Strychnin gestorben war. Wie es wirklich dazu gekommen war, konnte vorerst noch nicht ermittelt werden. Es sei denn, man wollte den Behauptungen Carolyn Rooters Glauben schenken. Die Frau saß blaß, aber gefaßt vor dem Schreibtisch von Pinkas Cassedy, und der löcherte sie mit seinen Fragen. »Er war damals bei Jules, als ich ihn unten in Blue Island kennenlernte; und er ist mehrmals draußen bei uns gewesen. Er ist der einzige Mann, den ich von den Bekannten Drompieters kenne.« Die Identifizierung des Toten dauerte genau eine Stunde und sieben Minuten. Dann hatte der größte Polizeiapparat der Welt herausgefunden, daß der strychninvergiftete, kränklich aussehende Mann Hilmar 416
Drenkhan hieß. Das war die größte Überraschung bisher überhaupt. Er war also ein Verwandter des gesuchten Syndikat‐Chefs. Weshalb hatte er sich das Leben genommen? Stimmte die Erklärung der Frau, daß er plötzlich nach der Flasche gegriffen hatte, um sich ihren Inhalt über die Lippen zu kippen? Sie behauptete, ihm von dem Besuch in der Villa draußen berichtet zu haben, erklärte, daß er nach dieser Nachricht plötzlich aschgrau geworden wäre und unruhig hin und her gelaufen sei. Er hatte immer wieder versucht, eine Nummer anzurufen, bei der er jedoch keine Antwort erhielt. Nach einer Weile hatte er sich dann an den Tisch gesetzt und eine Zigarette geraucht. Noch ehe sie verraucht war, hatte er, ohne etwas zu sagen, die kleine braune Flasche aus der Tasche gezogen und ihren Inhalt ausgetrunken. Danach hätte sich der Mann, der auch den Namen Drenkhan trug, selbst das Leben genommen. Carolyn Rooter wurde festgenommen. Sie protestierte nicht, als sie Eliot Ness ihre Verhaftung aussprechen hörte. Ganz langsam hob sie den Kopf und blickte ihn an. Das Flimmern war aus ihren Augen gewichen. Nur eine große Leere gähnte darin. »Schade, Sie haben mir so gefallen«, murmelte sie vor sich hin. Als sie abgeführt wurde, blickte der Inspektor hinter ihr her. »Fragt sich nur, um wen es schade ist«, kam es tonlos über seine Lippen, als sie schon draußen war. Sämtliche Spuren schienen im Sand verlaufen zu 417
wollen. Sie endeten immer wieder vor einem Nichts. Der einzige Mann, der Auskunft hätte geben können, hatte sich das Leben genommen. Und ob es wirklich so war, wußte niemand. Gleich nach der Vernehmung der Frau kehrte Eliot Ness in die Straße zurück, in der Drenkhans Bruder die Dachwohnung innegehabt hatte. Er bewachte das Haus bis spät in die Nacht hinein und ließ dann Cassedy zurück, der bis vier Uhr auf dem Posten blieb und die Wache an O’Connor übergab. Auch den ganzen Tag über wurde das Haus bewacht. Ohne Erfolg. War er schon wieder gewarnt? Hatte er unsichtbare Drähte zu all seinen »Außenstellen«? Jake Drenkhan kam nicht. Nicht draußen in die Villa am Westrand der Stadt und nicht hierher in das Haus, wo sein Bruder gelebt hatte; auch nicht in das City‐Depot und nicht in die Straße, in der Bernie Tucker noch voller Angst auf ihn wartete. Der brutale Bandenboß, der einen Menschen ermordet, ein zweites Menschenleben auf dem Gewissen, mehrere Mordanschläge verübt und eine ganze Reihe von Leuten grausam gequält hatte, schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Aber daß es nicht so war, sollte sich noch am Abend dieses Tages zeigen. Als Eliot Ness die 30. Straße von der Ecke der 50. Avenue her betrat, preschte plötzlich ein schwerer Wagen heran, aus dem ein wildes 418
Maschinengewehrfeuer abgegeben wurde. Mit einem wahren Panthersatz hatte sich der Inspektor über ein eisernes Geländer auf eine Kellertreppe geworfen, die glücklicherweise hier in der alten Bauweise vorn vor den Häusern zu den Kellerräumen führte. Wie wilde Hummeln schlugen die Geschosse dicht über ihm auf den Asphalt und den Zement der Kellertreppenumrandung. Kaum war die Garbe verrauscht, zog der Wagen, der während der Schießereien etwas langsamer gefahren war, mit pfeifenden Pneus um die Kurve. Ness zuckte hoch und jagte dem Gefährt blitzschnell zwei Schüsse aus seiner Colt‐Automatic hinterher. Die Menschen, die in diesem Augenblick auf der Straße gestanden hatten, verharrten wie versteinert vor Schreck auf der Stelle und starrten zu dem Mann hinüber, der auf der vorletzten Stufe der Kellertreppe kniete und den rauchenden Revolver noch in der Hand hielt. Sieben Minuten später fand Eliot Ness in der 50. Avenue, knapp zwölf Yards von der Ecke entfernt, einen Glassplitter und gleich darauf einen zweiten. Zwar nur winzige Splitter, aber beide stammten aus einer Autoscheibe. Die Kugel des Inspektors hatte also nach menschlichem Ermessen die hintere Seitenscheibe des Wagens durchschlagen. Vielleicht hatte sie einen der Insassen verletzt. Sofort ging die Meldung an sämtliche erreichbaren 419
Ärzte der Stadt durch den Äther: Wenn sich irgend jemand bei einem Arzt verbinden ließ, dessen Verletzung auf eine Schußwunde hindeutete, wäre sofort Meldung zu erstatten. Die Ärzte der Weltstadt Chicago sahen in einer solchen Anweisung nichts Außergewöhnliches. Dergleichen kam häufig vor. Boß Drenkhan hatte zugeschlagen. Viele Monate lang hatte er kassiert, und jetzt schlug er zu. Doch nicht etwa auf eines seiner Opfer, sondern den Schlag hatte er gegen seinen gefährlichsten Gegner, den FBI‐Inspektor Eliot Ness geführt. Der »Norweger« wußte jetzt, daß seine Vermutung richtig war: das Syndikat war noch längst nicht dezimiert oder etwa gar kampfunfähig. Da gab es noch Leute, die fuhren, und noch welche, die schossen; es war unwahrscheinlich, daß Drenkhan den Überfall, selbst fahrend und schießend, durchgeführt haben sollte. Nach allem, was er sich bisher geleistet hatte, glaubte der Inspektor ohnehin nicht, daß sich der Bandenchef persönlich an dem Überfall beteiligt hatte. Aber die Warnung war deutlich: der Syndikats‐Boß hatte sich nicht gescheut, auf offener Straße und noch vor Einbruch der Dunkelheit einen Überfall auf den bekannten Polizeioffizier durchzuführen. Schon die Nachtausgabe der Chicago News brachte die Nachricht unter der bemerkenswerten Schlagzeile: Mister Chicago überlebte MG‐Garbe. Darunter im Untertitel stand in immer noch fetten Lettern zu lesen: Eliot Ness kämpfte in Cicero gegen Schatten! 420
Die Leute am Oakwood Cemetery waren durch den kaltblütigen Überfall auf den Inspektor schockiert; auch Pinkas Cassedy zog die Stirn in besorgte Falten, als er von dem Gangsterstück erfuhr. »Der Boß hat Nerven wie Stahltaue«, meinte O’Keefe. »Ja, das ist richtig«, entgegnete O’Connor, »aber deshalb ist seine Haut keine Panzerplatte. Beim nächstenmal können wir ihn mit sieben Löchern ins Leichenschauhaus bringen.« Dieser Jake Drenkhan war der gefährlichste Mann, mit dem der junge Eliot Ness bisher zu tun hatte. Es war die erste Bande, die den Kampf gegen das FBI aufnahm – einen Kampf mit allen Konsequenzen. Die oberste Dienststelle in Washington hatte natürlich von den Vorgängen Bericht bekommen und ließ den jungen Inspektor wissen, daß er sich persönlich zurückhalten sollte. Es lag den Männern im Amt A I nichts an einem toten Eliot Ness. Männer wie er würden noch sehr wichtig sein. Mit einem Al Capone konnte es kaum einer aufnehmen. Er war seinen Feinden haushoch überlegen. Al Capone genoß das Leben in vollen Zügen. Mochten sich die anderen Gangster abstrampeln – ein Jake Drenkhan war für ihn nur ein kleiner, unbedeutender Wicht. Al Capone rüstete für den ganz großen Schlag. Er sollte das FBI einmal in den Grundfesten erschüttern. * 421
In der zweiten Etage über einem großen Lichtspieltheater mitten im Zentrum der Stadt saß ein riesiger Mensch in einem schweren Klubsessel. Er hatte kurz gestutztes aschblondes Haar und ein Gesicht, das aussah, als wäre es aus Steinstücken zusammengesetzt worden. Ein hartes, kantiges, brutales Männergesicht. Es gehörte dem Gangsterboß Jake Drenkhan. Der riesige Bandenführer hatte seine langen Beine von sich gestreckt und spannte seine Hände um die schwer gepolsterten Armlehnen des Sessels. Sein Blick flog von einem der drei Männer, die vor ihm standen, zum anderen. »Die Sache sieht mulmig aus«, preßte er durch den linken Mundwinkel. »Wir haben jetzt einen Wolf auf den Fersen, der nicht zu unterschätzen ist.« »Aber, Boß«, meinte einer der drei anderen, ein kleiner, spindeldürrer Mensch im dunkelblauen Anzug und mit dunkelblauem Borsalino, weißer Krawatte und gestreiften Hemd, »ich denke, wir sollten uns da keine Sorgen machen. Das haben wir doch nicht nötig.« »Halt’s Maul, Luciano! Eliot Ness ist der gefährlichste Polizeihund in ganz Chicago.« »Und wenn schon! Wir fürchten ihn nicht«, entgegnete Luciano. Drenkhan kam mit einem Ruck aus seinem Sessel hoch, trat vor den kleinen, etwas ölig wirkenden Italo‐ Amerikaner und brüllte ihn an: »Wenn ich sage, daß der Hund scharf ist, dann ist er scharf – und ihr habt euch darauf einzustellen! Wenn du 422
besser gezielt hättest, Jeff, wären wir ihn jetzt los.« Ein lang aufgeschossener Mensch mit einem Vogelkopf, der auf der Tischkante saß, fuhr sich unbehaglich durch den Kragen. »Beim nächstenmal wird’s eine Zwölf, Boß«, schnarrte er. Drenkhan winkte ab und sah den Dritten an, der auf einer Sessellehne hockte und beide Hände tief in die Taschen geschoben hatte. Es war ein glattrasierter Bursche von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, muskulös und gut angezogen. »Offi, du weißt Bescheid. Die Sache kann diesmal nicht schiefgehen. Wir müssen den Kerl ein für allemal loswerden. Es hat keinen Zweck, wenn wir uns darauf verlassen, daß er immer in die leeren Quartiere läuft.« »Ich bin sicher, daß es diesmal klappt«, entgegnete Offi. »Und wenn’s nicht klappt«, drohte der Gangsterboß, während er eindringlich einen nach dem anderen ansah, »dann traut euch nicht mehr vor meine Augen.« Die drei nickten beklommen. Das Syndikat des Gangsters Jake Drenkhan wollte also erneut zum Todesstreich gegen den unbequemen Gegner ausholen. Eliot Ness hatte Carolyn Rooter freigelassen. Oben, im dreiundzwanzigsten Stockwerk des Wolkenkratzers der Chicago News saß ein Mann wie ein riesiger Fleischturm und kochte vor Wut: Rufus 423
Matherley. Er hämmerte mit schweißnasser, gefurchter Stirn einen Artikel in seine vorsintflutliche Underwood‐ Maschine, in dem er Inspektor Ness die schwersten Vorwürfe wegen seines Verhaltens machte. Carolyn Rooter war unschuldig. Eliot Ness war fest davon überzeugt. Er ließ sie dennoch beschatten. Sie fuhr hinaus in die Roosevelt‐Allee, holte ein paar persönliche Sachen ab und kehrte dann nicht wieder in den eleganten Bungalow zurück, sondern fuhr nach Blue Island, wo sie die alte Wohnung wieder bezog, die sie früher innegehabt hatte. Rufus Matherleys Angriff richtete sich nicht nur gegen die Freilassung der Carolyn Rooter, sondern gegen das Eingreifen des FBI überhaupt. »Ness ist für die Erpressergeschichten in Cicero nicht zuständig!« trompetete er. Aber er irrte sich. Der junge Hilmar Drenkhan, der in seiner Dachkammer mit einer Überdosis Strychnin den Tod gesucht hatte, stammte nicht aus Chicago, sondern aus Detroit. Nachforschungen ergaben sofort, daß auch Jake Drenkhan dorther stammte. Aber er war schon vor sechzehn Jahren weggezogen, wohingegen sein Bruder erst vor kurzer Zeit nach Chicago gekommen war. Hilmar war ebenso wenig in der Stadt gemeldet wie Jake Drenkhan. Jetzt hatte das FBI einen echten Grund, einzugreifen. Rufus Matherley erfuhr es zu spät; das entfachte seineWut noch mehr. Luciano, Jeff Bellman und »Offi« James O’Hara hatten mit ihrem Überfall auf den Inspektor keinen Erfolg; denn 424
so sehr sie auch versuchten, das Gebäude am Oakwood Cemetery im Auge zu behalten – der Erwartete tauchte nicht auf. Zwar hatte das Gebäude nur zur linken Seite noch einen Ausgang, aber auch den hatte Eliot Ness nicht benutzt. Wie er überhaupt aus dem Haus herausgekommen war, blieb dem Syndikat ein Rätsel. In der Abendstunde dieses Tages hatte der Inspektor plötzlich das Gefühl, daß es besser sei, das Haus einmal auf einem neuen Weg zu verlassen. Den Weg allerdings, den er gewählt hatte, konnte niemand beobachten – und hätte ihn auch kaum jemand gutgeheißen. Er öffnete das Flurfenster im Hochparterre – nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß ihn niemand sehen konnte –, stieg auf das Sims, zog das Fenster hinter sich zu und sprang in den Friedhof hinunter. Wie ein nachdenklicher Besucher schritt er durch die Gräberreihen. Drüben am Ausgang des Friedhofs hätte ihn sicherlich niemand vermutet. Luciano, Offi und Jeff warteten vergeblich. Drenkhan raste, als er von dem neuen Mißerfolg erfuhr. Er ruhte nicht; über einen langen Arm und einen weiten Weg versuchte er, einen der Leute, die in dem Büro am Oakwood Cemetery beschäftigt waren, zu bestechen. Es war ein Mann, der häufig auf dem Turf und bei den Buchmachern gesehen wurde. Er hatte nur einen geringen Verdienst und stach einem Mann wie Drenkhan bald in die Augen. Der Verbrecherchef ließ ihn von Luciano und Offi zu sich schleppen. »Wir wollen es kurz machen«, begann er sofort. »Ich 425
brauchte Informationen über die Familie Ihres Chefs.« »Über Mr. Ness?« stammelte Gilbert Poul. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Mister…« »Halt’s Maul, Mann! Du hast die Chance, dich und deine Familie damit zu sanieren.« »Mich und meine Familie? Ich verstehe Sie nicht.« »Du befindest dich hier in einem Syndikat. Ich denke, du verstehst mich.« Gilbert Poul hatte endlich verstanden. Er schluckte und versprach, am anderen Tag Informationen zu bringen. Aber das, was er bringen konnte, war mehr als kläglich. Eliot Ness hatte keine Familie. Es hieß, daß er eine Freundin hätte, die Ann Elkinson hieß und am Nordrand der Stadt wohnte. Die Adresse wußte Poul noch nicht. Aber er versprach, auch sie noch beizubringen. Daraufhin ließ man ihn wieder los. Es mutet heute seltsam an, daß es auch beim FBI Leute gab – und möglicherweise auch noch gibt – die bestechlich waren. Vor solchen Individuen ist wahrscheinlich keine Institution der Welt sicher. An diesem Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, war Eliot Ness draußen in der 30th Street, nicht sehr weit von der Hold in‐Bar Bernie Tuckers entfernt. Er lehnte in einem dunklen Hauseingang und beobachtete die Straße. Wahrscheinlich würde jeder andere es längst aufgegeben haben, immer wieder dieses Straßenstück zu beobachten. Aber Eliot Ness verfügte über eine Beharrlichkeit, die einmalig war. Für ihn war 426
Bernie Tucker der zentrale Punkt, um den alles kreiste. Hier hatte Jake Drenkhans Syndikat am härtesten zugeschlagen, und hier hatte es auch selbst den ersten Schlag versetzt bekommen. Daß es der stille Bernie Tucker war, der zu diesem Schlag ausgeholt hatte, beweist, in welch einem verzweifelten Zustand er sich befunden haben mußte. Er lag jetzt oben in seiner Wohnung, bewacht von zwei FBI‐Leuten. Es war ein wahres Wunder, daß es ihm nach den Anstrengungen und Strapazen, die er selbst noch nach seiner Verwundung hatte auf sich nehmen müssen, nicht schlechter ging. Es fing an zu regnen. In feinen lästigen Fäden hatte der Februar‐Dauerregen eingesetzt. Ness schlug sich den Kragen hoch und schob die Hände in die Taschen. Was die Kühle nicht vermocht hatte, schaffte auch der Regen nicht, der G‐man blieb auf seinem Posten. Wahrscheinlich war diese Zähigkeit ein Schlüssel zu seiner Persönlichkeit, denn seine großen Erfolge hat der »Norweger« ganz sicher nicht aus dem Handgelenk schütteln können. Mehrere Stunden stand er schon da und dachte noch nicht daran, zu gehen, als urplötzlich in unmittelbarer Nähe an der Häuserfront der schwere Schritt eines Mannes zu hören war. Eine riesige Silhouette tauchte vor ihm auf. Eliot blieb ruhig stehen. »Was machen Sie hier?« forschte der Fremde unverschämt. 427
»Ich warte.« »Auf wen?« »Auf ein Mädchen.« »Ein Mädchen? Wie heißt es?« wollte der andere barsch wissen. Es war ein Mensch von zwei Meter Größe. Er hatte einen kantigen, massigen Schädel und trug einen breitrandigen Hut. Von seinem Gesicht war nichts in der Dunkelheit zu erkennen. Der Kopf ging halslos in breite Schultern über. »Los, auf wen warten Sie, habe ich gefragt!« »Sie heißt Juliette Ferringer. Wohnt da drüben auf der dreizehnten Etage. Haben Sie es etwa auch auf das Girl abgesehen?« Eliot wies mit dem Kopf auf einen Wolkenkratzer. »Reden Sie doch keinen Blödsinn, Mensch!« herrschte ihn der Hüne an. »Sie warten auf den Boß!« Ein Feuerstrahl zuckte durch die Nervenbahnen des FBI‐Agenten. Was hatte das zu bedeuten? Hatte das Syndikat ihn aufgespürt? »Los, kommen Sie mit!« »Hören Sie, Mister, ich habe Ihnen gesagt, daß ich hier auf ein Girl warte; und wenn Sie etwa die Absicht haben sollten, mir auf die Nerven zu fallen, dann gibt’s Ärger.« Der andere stieß eine verächtliche Lache aus. »Machen Sie kein Theater, Mensch! Ich weiß genau, daß Sie Gilbert Poul sind.« Fast wäre dem Inspektor ein Ausruf der Verwunderung entwischt. Gilbert Poul, das war doch der 428
Mann, der unten in der Pförtnerloge seit einem halben Jahr aushalf; ein Mann, dessen Papiere ihm nicht sonderlich gefallen hatten, als er vom Personalchef am Oakwood Cemetery eingestellt wurde. Sollte sich die Drenkhan‐Gang etwa mit diesem Menschen in Verbindung gesetzt haben? Poul glich dem Inspektor in keiner Weise. Vielleicht aber hatte der Hüne, der ihn hier abholen wollte, eine schlechte Beschreibung von ihm bekommen. »Los, Mensch, stellen Sie sich nicht so an und kommen Sie mit! Der Boß wartet schon auf Sie. Und wenn Sie Eier haben wollen, dann spucken Sie heute die Adresse aus.« Was war das? Blitzschnell jagten sich die Gedanken des Inspektors in seinem Kopf. Was tat sich da? Wie weit war Gilbert Poul in den Fall verstrickt? Hatte Drenkhan ihn in eine Klemme gebracht? Der Gorilla packte ihn am Arm, aber Ness kam freiwillig mit. Er ging vor ihm her quer über die Straße und folgte ihm durch eine Toreinfahrt in einen weiten Hof, in dem es fast unheimlich still war. Etliche Lagerhäuser standen hier, und eines davon war im Neuaufbau. »Vorwärts, da rein«, befahl der Mann und deutete mit dem Kopf auf einen dunklen Eingang. Eliot ging mit einem unguten Gefühl voran. Als sie in den Hauseingang kamen, schlug ihm von oben die dröhnende Stimme eines Mannes entgegen: »Plecap, bist du’s?« »Ja, Boß, ich habe ihn. Er wartete drüben.« 429
»Was, bist du verrückt? Ich habe eben Nachricht bekommen, daß der Hund gekniffen hat!« Drenkhan! zuckte es durch das Hirn des Inspektors. Solange er ihn auch gesucht hatte, jetzt konnte er es einfach nicht wagen, weiterzugehen. Er warf sich herum, versetzte dem Gorilla einen fürchterlichen Magenhaken und stürmte an ihm vorbei auf den Ausgang zu. Da waren hinter ihm auf der Treppe trommelnde Schritte zu hören. Eliot wußte, daß er die Toreinfahrt kaum noch erreichen konnte, deshalb warf er sich hinter eine große Tonne, die unweit der Toreinfahrt stand, und blieb reglos liegen. Jetzt tauchte drüben neben dem gestürzten Gorilla die Gestalt des Mannes auf, der von oben heruntergerufen hatte. Es war nur ein spärlicher Lichtschimmer, der ihn in der Tür traf. Mit gespreizten Händen und vorgestrecktem Kopf stand er da. Da riskierte der Inspektor es. Er hatte die Stablampe in der Linken, schob sie hoch, richtete sie zielgenau auf das Gesicht des Mannes und knipste sie an. Wie eine kalkige Maske riß der scharfe Lichtstrahl das Antlitz aus der Dunkelheit. Es war ein grobes, wüstes Gesicht, das so aussah, als wäre es aus einzelnen Gesteinsstücken zusammenzementiert worden. Die Augen waren verquollen und das Haar kurz gestutzt; der Mund war wulstig und die Haut von scharfen Falten zerschnitten. Jake Drenkhan! Da stand er also. 430
Nur für einen Moment hatte Ness die Lampe eingeschaltet. Sofort erlosch sie wieder. Drenkhan hatte sich gleich nach dem Aufblitzen zurückgeworfen und bekam dabei einen halben Mauerstein zu fassen, der hier am Eingang lag. In wilder Wut schleuderte er ihn zu der Teertonne hinüber. Ein dumpfes, blechernes Dröhnen war die Antwort. Da richtete sich der Inspektor auf. Er war jetzt überzeugt, daß der Gangsterboß außer Plecap keine weiteren Leute hier hatte. Langsam ging er um die Regentonne herum. Drenkhan blieb sekundenlang stehen, warf sich dann aber zurück in den Eingang. Ness tigerte los und folgte ihm. Als er den Eingang erreicht hatte, stolperte er über den sich gerade aufrichtenden Plecap. Der ehemalige Boxer sprang sofort auf die Beine und schlug instinktiv auf den G‐man ein. Ness konnte den Schlag abtauchen, riß dafür eine harte Doublette zum Schädel des Banditen, die so genau traf, daß Plecap vornüber in den Hof stürzte und schwer betäubt liegenblieb. Eliot lauschte in das große dunkle Lagerhaus, in dem Drenkhans Schritte verklungen waren. Wohin war er geflüchtet? Die Treppe hinauf oder rechts den Gang hinunter? Es wäre ziemlich unsinnig gewesen, wenn er die Treppe hinaufgerannt wäre. Das war dem Inspektor sofort klar, denn oben gab es höchstwahrscheinlich nirgends einen Ausweg. Deshalb würde er sich 431
wahrscheinlich hier in den schmalen Korridor gewandt haben, der durch die ganze Länge des Lagerhauses führte. Mit äußerster Vorsicht verfolgte der Polizeioffizier diesen Weg, an dessen Ende er eine nur angelehnte Tür fand. Minutenlang verharrte er auf der Stelle und lauschte angestrengt. Nicht das geringste Geräusch war zu hören. Dennoch war zu befürchten, daß sich der Gangster genau hinter dieser Tür befand. Urplötzlich stieß Eliot die Tür mit einem gewaltigen Ruck auf. Sie schlug mit hartem Anprall hinten gegen, und ein erstickter Laut war zu hören. Ness setzte augenblicklich in einem federnden Sprung durch die breite Öffnung, kam auf ein Brett, das die Arbeiter hier auf einem Balken liegen hatten, und da er weit hinter der Brettmitte landete, wirkte es wie eine Wippe und schleuderte ihn etliche Yards zurück. Hart schlug er auf den feuchten, frisch zementierten Boden. Eine wilde Lache scholl hinter ihm her, und dann flogen zwei Steinstücke zu ihm hinüber; eins traf ihn am rechten Fuß. Ausgerechnet am gleichen Knöchel, den er sich beim Sprung über die Mauer angeknackst hatte. Wieder zischte ein Stein auf ihn zu, schlug vor ihm auf dem Boden auf und prallte dicht neben ihm gegen einen Pfeiler. Der Inspektor hatte nicht ahnen können, daß er hier in einen unfertigen Neubau geraten war. So lange hatte er 432
diesen Jake Drenkhan gesucht und gejagt; und nun, wo er ganz plötzlich durch den Irrtum eines Syndikat‐ Mitglieds an ihn geraten war, da mußte er gleich zu Beginn des Kampfes mit diesem gefährlichen Mann so unglücklich stürzen. Er richtete sich auf und stand sofort hinter der Säule. »Hör zu, Brother!« bellte Drenkhan, »ich vermute, daß du etwas ausspionieren wolltest. Aber das wird dir schlecht bekommen. Entweder du kommst jetzt freiwillig heraus, oder ich pumpe dich so voll Blei, daß du in keinen Sarg mehr paßt. Verstehst du!« Drenkhan wußte also nicht, wen er hier vor sich hatte. Vielleicht war das noch eine Chance. »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Der Mann erzählte mir da irgendeinen Blödsinn«, entgegnete Ness, »und schleppte mich hier in Ihren Hof. Was soll der ganze Kram? Wenn Sie vielleicht glauben, daß ich bei Ihnen einbrechen wollte, dann irren Sie sich.« »Los, komm raus!« Drenkhans Stimme hatte einen etwas weniger scharfen Ton angenommen. Mit der Linken hatte er seinen Remington‐Revolver aus dem Halfter gezogen und hob ihn an. In dem Augenblick, in dem sich der Mann drüben hinter der Säule sehen ließ, würde er ihm ein Stück Blei in den Schädel jagen. Auch Eliot Ness hatte seinen Revolver gezogen. Aber obgleich er jetzt stark durch den Fuß benachteiligt war, mußte er dennoch, den Paragraphen des FBI folgend, versuchen, den Gangster lebend in seine Gewalt zu bekommen. Es sollte der schwerste Gang werden, den 433
der junge Eliot Ness bisher durchzustehen hatte. Jake Drenkhan war nun in die 30. Straße gekommen, um zu kassieren. Er hatte sein bisher unauffindbares Domizil in der Odgen‐Avenue verlassen, weil er sich fest vorgenommen hatte, bei Tucker »Schlußbilanz« zu ziehen. Er war fest davon überzeugt, daß die beiden Tuckers das Geld beschafft haben würden. Anschließend hätten sie nicht etwa die versprochene Ruhe vor ihm gehabt, sondern wären von ihm getötet worden. Es war weniger das Geld – denn davon besaß Drenkhan mehr als genug – es war vor allem der Wunsch, diesen verfluchten Nachtbar‐Salooner für das, was er ihm zugefügt hatte, zu bestrafen. War Jake Drenkhan vielleicht unvorsichtig geworden? Er hatte sich hier auf einem der Höfe in einem leeren Lagerhaus neben dem Neubau aufgehalten und Plecap, einen seiner Leute, auf die Straße geschickt, um auf Gilbert Poul zu, warten, der ihm die Adresse von der Freundin des Inspektors liefern sollte. Es war der Gangster Luciano, der seinem Boß inzwischen die Nachricht übermittelt hatte, daß Poul ausgeblieben war. Der Spitzel, den sie am Oakwood Cemetery zu haben glaubten, hatte also versagt. Auf diese Weise geriet der nicht mehr vorsichtige Gangster Plecap, der unten die Straße indessen bewacht hatte, zufällig an den falschen Mann, an den FBI‐Offizier Eliot Ness. Der Inspektor war an den Löwen herangekommen – und befand sich jetzt selbst in großer Gefahr. Der verknackste Fußknöchel war es, der ihn am offenen 434
Kampf hinderte. Er nahm den Hut ab und schob ihn vor. Sofort zuckte drüben das blaßblaue Mündungsfeuer auf, bellende Schüsse peitschten durch den Lagerhausneubau. Eliot duckte sich nieder und feuerte unten links von der Säule zurück. Aber eine dröhnende Lache tönte durch das neungeschossige Haus. Gegen jeden anderen hätte der Inspektor dennoch jetzt einen offenen Feuerangriff gewagt und wäre auch humpelnd vorwärts gesprungen. Aber dieser Drenkhan war ein Mann, der zweifellos mit allen Wassern gewaschen war. Demgegenüber stand die Befürchtung, daß Plecap jeden Moment auftauchen konnte. Eliot Ness war also doch gezwungen, den tausendfach im Camp des FBI oben bei Shenandoah geübten Feuerausfall zu riskieren. Er feuerte, sprang mit einem weiten Satz nach links hinüber, kam auf und verspürte erneut einen so stechenden Schmerz im Knöchel, daß er auf dem verletzten Bein einknickte. Der Gangster feuerte zurück, sprang dann vor die Säule, stieß den Colt wieder vor – und da machte es hart und metallen: Klick! Drenkhan hatte sich verschossen! Jetzt durfte ihm keine Zeit gelassen werden. Eliot federte hoch und hechtete ihm entgegen. Er traf ihn mit dem Kopf in der Flanke und riß ihn nieder. Der starke Gangster war sofort wieder auf den Beinen, stieß den ihn erneut anspringenden Mann zurück, und wieder kam Ness so unglücklich auf den Fuß auf, daß er 435
einknickte. Aber mit dem Mut der Verzweiflung sprang er hoch und – fing einen schweren rechten Cross ein, der ihn hart über der Kinnlade traf und ihm fast das Bewußtsein raubte. Er prallte zurück, stürzte und konnte sich eben noch mit den Ellbogen am Boden abfangen. Der Colt rutschte ihm aus der Hand. Da hechtete der Verbrecher ihm entgegen und griff mit seinen gewaltigen Pranken nach der Kehle des Gestürzten. In diesem Augenblick war das Leben des Eliot Ness keinen roten Cent mehr wert. Er versuchte, die Knie anzuziehen, aber es gelang ihm nicht. Da riß er den Kopf mit aller Gewalt nach vorn und traf mit seiner Stirn das Nasenbein des Verbrechers. Der gab aufstöhnend nach und sprang hoch. Eliot wollte das auch, aber wieder versagte sein rechter Fuß. Er knickte ein und stolperte nach vorn. Jetzt versetzte ihm der Gangster einen Fußtritt, der ihn an der Schulter traf und zurückwarf. In diesem Augenblick tauchte Fred Plecap im Eingang zum Lagerhausneubau auf. Er hatte den Gegner erkannt und feuerte sofort. Die Kugel streifte sengend den rechten Oberarm des FBI‐Mannes. Der aber bekam seinen Revolver auf einmal zu packen und stieß ihn vor. Orangerot zuckte die Mündungsflamme hoch, der Gangster Plecap stieß einen gurgelnden Schrei aus und stürzte über die Bretterrampe durch das Treppenloch ins Kellergeschoß hinunter. Nur diesem Zwischenfall verdankte Jake Drenkhan, daß er jetzt nicht ins Hintertreffen geriet. Denn er wäre 436
der nächste gewesen, der von dem Revolver des Gegners bedroht worden wäre. Mit einem Fußtritt schleuderte er dem FBI‐man die Waffe aus der Hand. Eliot schnappte reaktionsschnell nach dem rechten Bein des Gangsters und riß ihn mit einem Ruck an die Erde. Er konnte nur noch kniend oder an der Erde liegend kämpfen. Ein Mann, der nur ein gesundes Bein hatte, war stehend kein Gegner mehr für einen Jake Drenkhan. Es war ihm gelungen, den Banditen neben sich auf den noch feuchten Zementboden zu zerren. Drenkhan schlug mit beiden Fäusten wie irrsinnig auf ihn ein. Immer wieder versuchte er, auf die Beine zu kommen, aber Ness hinderte ihn daran. Und als Drenkhan jetzt mit der Rechten zu einem weiten Schwinger ausholte, flog gedankenschnell der kurze, steif angewinkelte linke Haken wie ein Blitz an den Schädel des Gangsters und riß ihn nieder. Eliot Ness stand auf, lehnte sich nach Atem ringend gegen die Säule und wartete. Drenkhan kam wieder zu sich, schüttelte sich wie ein Hund und starrte den harten Gegner benommen an. »Stehen Sie auf, Drenkhan!« Der Gangster hob den Kopf. »Wer sind Sie?« »Eliot Ness.« Der Mörder hatte das Gefühl, von einem Keulenschlag niedergeschlagen zu werden. Diese beiden Worte hatten ihn vernichtender getroffen als der furchtbare Faustschlag. »Los, gehen Sie voran!« befahl jetzt der Inspektor, dem 437
daran liegen mußte, den Gangster nicht merken zu lassen, daß er das rechte Bein nicht sicher bewegen konnte. Drenkhan ging mit torkelnden Schritten voran und näherte sich dem Eingang. Und da war sie, die zweite Falle! Drenkhan kannte sie, weil er den Neubau, kurz bevor er sich in dem nebenanliegenden alten Lagerhaus für heute etabliert hatte, einer Untersuchung unterzogen hatte. Er führte den ihm folgenden, der wegen seines schmerzenden Fußes zu sehr auf den Boden achtgeben mußte, auf eine Wippe. In dem Augenblick, in dem er selbst deren Ende erreicht hatte, sprang er plötzlich nach links. Eliot Ness flog hoch und wäre sicher auch durch den Schacht in den Keller gestürzt, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich im letzten Augenblick mit den Händen am Rand des zementierten Treppenschachtes zu fangen. Drenkhan warf einen Blick zurück und sah eine Wolke von Staub aufsteigen, hörte das Poltern in der Tiefe, das von dem Brett verursacht wurde und – er sah die beiden Hände nicht, die sich am feuchten Zement festklammerten. Mit weiten Sätzen stürmte er vorwärts. Eliot Ness hing über dem Untergeschoß und zog sich mit einem Klimmzug hoch. Fast wäre er noch abgerutscht, aber es gelang ihm, das linke Bein über den Zementboden zu schieben. Er zerrte sich hoch und stürmte trotz des schmerzenden Beines an der Wippe vorbei über lose herumliegende Mauersteine, 438
Moniereisen und leere Zementsäcke – zum Hoftor. In diesem Augenblick hörte er die pfeifenden Pneus eines Wagens vorn vor der Toreinfahrt. Zwei Männer in Polizeiuniform kamen ihm im Hof entgegengestürzt. Der dreißigjährige Sergeant Botters warf sich sofort auf ihn und stieß ihn auf die Erde. Eliot riß sich wieder hoch. »FBI«, sagte er. »Ich bin Eliot Ness. Jake Drenkhan ist vor wenigen Sekunden hier aus dem Tor geflüchtet.« Da stieß Botters ihn mit dem ausgestreckten Arm wieder auf den Boden. Eliot stützte sich auf die Ellbogen und blickte kopfschüttelnd zu dem Sergeant hoch. »Sie verlieren kostbare Zeit, Mister. Ein Mörder namens Drenkhan…« »Was sagen Sie, Eliot Ness?« knurrte Botters böse, während er seinen Kameraden anstieß. »Hast du das gehört? Das ist doch das tollste Ei, das mir jemals untergekommen ist. Eliot Ness! Mensch, was fällt Ihnen denn ein. Was glauben Sie, wie die Boys beim FBI sich freuen werden, hier einen Doppelgänger von ihrem Boß gefunden zu haben. Los, Mensch, stehen Sie auf!« Was der Inspektor auch versuchte, Sergeant Botters wollte keine Vernunft annehmen, und sein Kamerad hatte nichts zu bestimmen. Es war eine der unglücklichsten Stunden, die Eliot Ness je erlebte. Jake Drenkhan hatte sich als der schwerste Stein erwiesen, der ihm bisher im Weg gelegen hatte. »Lassen Sie ja die Hände oben!« befahl Botters dem am 439
Boden knienden Mann. »Sonst schlage ich Sie mit diesem Gummiknüppel so lange, bis Sie sich nicht mehr rühren können.« »Lassen Sie mich meine Polizeimarke zeigen. Oder greifen Sie selbst in meine Tasche und holen Sie meinen Ausweis heraus.« »Daß ich dumm wäre«, meinte der vierschrötige Polizist. Eliot hätte sich vor Wut selbst ohrfeigen können. Diese beiden starrsinnigen Polizeibüffel hinderten ihn jetzt daran, den Verbrecher, der höchstwahrscheinlich noch in der Nähe war, zu stellen. Urplötzlich warf er sich nach vorn, packte Botters am rechten Bein und riß ihn nieder. Der andere Polizist, der sich auf ihn werfen wollte, wurde von einem Faustschlag so schwer in den Magen getroffen, daß er zusammenknickte. Botters griff zum Revolver. Ness stieß ihm die Waffe aus der Hand und brüllte ihn an: »Los, stehen Sie auf, und kommen Sie mit! Wir dürfen Drenkhan nicht entkommen lassen.« Botters sprang hoch und riß einen Faustschlag nach vorn. Aber der Mann vom FBI war schneller. Botters taumelte zurück und prallte gegen die Wand. In diesem Augenblick stoppte mit kreischenden Bremsen ein zweiter Polizeiwagen vor der Toreinfahrt. Mehrere Polizisten sprangen heraus und rannten mit vorgehaltenen Stablampen auf den Hof. »Er ist Drenkhan!« brüllte Botters. »Haltet ihn, Boys!« Die Polizisten sahen die drei Männer sofort, erkannten 440
zwei davon als Polizisten und wollten sich auf den Zivilisten stürzen. Da sprang einer vor, breitete die Arme aus und stellte sich seinen Kameraden entgegen. »Männer, das ist Eliot Ness!« rief er. Die anderen blieben stehen. Die Strahlen ihrer Lampen fraßen sich an dem Inspektor förmlich fest. Da kreischte Botters: »Ich glaube, ihr seid alle verrückt: Der Kerl ist ein Verbrecher. Er hat mich niedergeschlagen!« Da griff der Inspektor nach seinem Reversaufschlag. Schreck durchzuckte ihn: Die FBI‐Marke war verschwunden! Er hatte sie im Kampf mit dem Gangsterchef verloren. Als er die Tasche greifen wollte, rannte Botters wie ein wild gewordener Stier auf ihn los und wollte ihn niederwerfen. Eliot wich ihm aus. Botters stürzte zu Boden. Es war eine Tragikkomödie, die sich da in dem dunklen Hof von Cicero abspielte. Aber da hatte der Inspektor seine Papiere schon in der Hand. »Hier«, wandte er sich damit an einen der Polizisten. »Beeilt euch, Leute, ehe es zu spät ist. Wir müssen die verlorene Zeit aufholen.« Aber Jake Drenkhan war entkommen. In dieser Nacht fand Eliot Ness keinen Schlaf. Er lag auf seinem Bett und starrte gegen die Decke. Über und über war er mit blauen Flecken besät; sein Gesicht war voller Schrammen. Als der Tag graute, rasierte und 441
wusch er sich, zog sich an und verließ das Haus. Das erste was er sah, war der große Zeitungskiosk an der Ecke. Von der Chicago News schrie ihm die Schlagzeile entgegen: Mr. CHICAGO schlägt zwei Polizisten nieder! Rufus Matherley hatte es wieder einmal begriffen. Aus der Kette der turbulenten Ereignisse der vergangenen Nacht hatte er in der für in typischen Manier das für den Inspektor Ungünstigste herausgefischt und isoliert als Schlagzeile gebracht. Als Ness sein Büro betrat, schrillte das Telefon. Mit einer müden, hölzernen Bewegung nahm er den Hörer ab. Es war die Stimme des dicken Cassedy, die sich meldete. »Hallo, Boß, sind Sie’s?« »Yeah.« »Ich bin seit fünf Uhr in der lausigen Gegend draußen, wo Sie heute nacht gefilmt haben, und habe eben einen Mann mit einem frisch verschrammten Gesicht beobachtet. Er blickte nur für einen Moment aus seinem Fenster in der Odgen‐Avenue und zog den Kopf dann rasch wieder zurück.« »Wo sind Sie jetzt?« Cassedy beschrieb es ihm genau. »Ich bin sofort bei Ihnen.« Es war acht Uhr dreizehn, als Eliot Ness vor der großen Papierhandlung Warveller in der Odgen‐Avenue aus dem Wagen stieg. Sein Fuß schmerzte immer noch 442
scheußlich. Er ging dicht an der Hauswand entlang, bis er die Tür erreicht hatte. Cassedy war schräg gegenüber in einem Restaurant, wo er seit der Öffnung des Lokals am Fenster Platz genommen hatte. Er sah den Wagen des Inspektors ankommen und stellte zu seinem Schrecken fest, daß der »Norweger« zielstrebig auf das bewußte Haus zuhielt. War er denn des Teufels? Er lief ja direkt in die Höhle des Löwen. Eliot öffnete die Haustür und betrat den Korridor. Der Mann, dessen frisch zerschrammtes Gesicht Cassedy entdeckt haben wollte, hatte aus einem der Fenster im zweiten Stock geblickt. Im zweiten Stock auf der rechten Seite. Als Eliot den Fahrstuhl auf dieser Seite verließ, sah er ein Schild mit dem Namen Humphrey an der Tür. Er läutete. Es wurde nicht geöffnet. Da setzte er seinen automatischen Türöffner auf das Schloß. Mit einem dröhnenden Krach zerbarst das Schloß. Als die Tür aufsprang, tauchte hinten im Korridor die riesige Gestalt eines Mannes auf. Drenkhan! Als der Gangster in der aufgesprungenen Wohnungstür die Gestalt des FBI‐Mannes sah, starrte er ihn wie ein Gespenst an. »Ness!« Nur dieses eine Wort brach über seine Lippen. »Ja, ich bin’s, Drenkhan. Ich komme zur zweiten und letzten Runde!« 443
Fassungslosigkeit stand in den geweiteten Augen des Gangsterchefs. »Du mußt irrsinnig sein!« Der Polizeioffizier verharrte reglos im Eingang. Plötzlich zuckte es listig über das Gesicht des Verbrechers. »Du hast Pech gehabt, Ness. Ich begreife zwar nicht, wie du mich hier gefunden hast, aber es wird dir auch nichts nützen, hergekommen zu sein. Ich weiß nämlich, daß du allein bist. Die Straße wird von fünf Winkeln aus von meinen Leuten bewacht. Tja, das hättest du wohl nicht erwartet?« Immer noch verharrte der FBI‐man schweigend in der offenen Tür. Plötzlich machte Drenkhan zwei Schritte vorwärts, stützte sich mit der Linken gegen die Wand und brüllte los: »Was willst du überhaupt?!« »Ein Versprechen meines Freundes Bernie Tucker erfüllen, Drenkhan.« »Tucker? Dieser armselige Wicht. Wenn ich dich ausgelöscht habe, dann werde ich diese Wanze abkassieren. Sieh hier, Ness! Meine linke Hand sitzt auf einem Knopf, auf einem kleinen, unauffälligen schwarzen Knopf.« Diese Worte hatte er noch mit einem süßlichen Lächeln ausgesprochen. Jetzt aber fiel ihm dieses Lachen aus dem Gesicht, und mit zynischer Stimme erklärte er: »In wenigen Sekunden wimmelt es hier von Männern des Syndikats. Es ist aus, Ness, aus und vorbei. Ich bin 444
neugierig, was dein Freund Matherley morgen für eine Schlagzeile für deinen Tod finden wird.« Immer noch verharrte der Inspektor bewegungslos in der Tür. Er wußte nicht, ob das mit dem Alarmknopf nur ein Bluff war – und er gedachte, nichts mehr zu riskieren. Langsam ging er vorwärts. Drenkhan wich zurück. Überall konnte hier ein Hindernis lauern. Aber der »Norweger« blieb auf seinem Weg. Als er Drenkhan bis an das äußerste Ende des Flurs getrieben hatte, sagte er mit ruhiger Stimme: »Nehmen Sie die Hände hoch, Drenkhan.« In diesem Augenblick waren Geräusche im Treppenhaus zu hören. Eliot machte zwei Schritte vorwärts, und dabei bemerkte der Bandit, daß er nicht sicher auf den Füßen war. Vorn im Hauseingang tauchte eine Frau auf. Groß, silberblond und ziemlich hübsch. »Jean!« rief sie erschrocken. Der Inspektor blickte sie an. Ein Typ wie die platinblonde Carolyn Rooter, dachte er. Sie nannte ihn nicht Jake und nicht Jules, sondern Jean. »Schnell!« brüllte Drenkhan. »Komm rein und schließ die Tür!« »Bleiben Sie stehen, Miß«, kam da die Stimme des Inspektors hart zu ihr hinüber. »Was soll das bedeuten, Jean? Was…« »Der Mann ist ein Verbrecher! Siehst du nicht, daß er 445
einen Revolver hat? Los, komm endlich rein, dumme Ziege, und schließ die Tür!« »Das sind also die Leute, die auf Ihr Alarmsignal gekommen sind, Drenkhan. – Los, nehmen Sie die Hände hoch!« gebot Ness. »Was wollen Sie!« schrie da die Frau, während sie in den Flur gelaufen kam. »Verschwinden Sie sofort aus meiner Wohnung!« »Ah, es ist Ihre Wohnung. Tut mir leid. FBI. Dieser Mann ist Jake Drenkhan. Er ist ein Mörder…« In diesem Augenblick setzte der Verbrecher alles auf eine Karte. Er sprang vorwärts, schlug einen Haken und suchte den FBI‐man zu Fall zu bringen. Aber ein zweites Mal war der »Norweger« nicht bereit, sich den Trumpf aus der Hand reißen zu lassen. Er schob den Colt in die Tasche, fintete mit der Linken nach vorn und riß dann von der rechten Schulter her einen linealgeraden kurzen Rechtshänder nach vorn, der voll auf der Kinnspitze des Verbrechers detonierte. Jake Drenkhan stürzte über die Absatzenden zurück und schlug mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden auf. Auf der Treppe war jetzt der schwere Schritt eines Mannes zu hören, und gleich darauf tauchte in der immer noch offenen Wohnungstür die massige Gestalt Pinkas Cassedy auf. Der »Dicke« schob sich den Hut zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Damned! Sie sind also tatsächlich der kaltnervigste 446
Bursche, der mir jemals untergekommen ist. Ich beobachte den Laden hier seit Stunden, und Sie laufen wie der Briefträger hinein…« * Der Gangsterboß Drenkhan hatte ausgespielt. Mit seinem Ende war auch sein infames Syndikat zerschlagen. Bernie Tucker bekam sein Geld zurück – und aus der Kasse Drenkhans noch Zinsen dazu. Und der Mann oben im dreiundzwanzigsten Stockwerk des gigantischen Zeitungshauses hämmerte eine neue Schlagzeile in die Weltstadt, die nicht zur Ruhe kam: Mr. CHICAGO mit dem Nerv eines Höhlenbewohners! Der zähe Mann von Oakwood Friedhof holte sich den Mörder lebend aus der Gosse! So war er eben, der seltsame Mr. Matherley. – E N D E –
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In 14 Tagen erscheint
Wie Mary Tissot starb Roman von Al Cann Er führte ein bescheidenes Leben, der Lehrer Terence Chester, und er greift skrupellos zu, als sich ihm die Chance bietet, ein Vermögen zu ergaunern. Er läßt jegliche Hemmungen fallen und lädt drei Morde auf sein Gewissen. Aber wenn er geglaubt hatte, daß sein verbrecherischer Plan perfekt sei, so belehrte ihn der Gangsterjäger Eliot Ness eines Besseren. Der Widersacher des großen Clan‐Chefs Al Capone kennt sich in jedem Bereich der Polizeiarbeit exzellent aus. Fast alle Verbrecher bringt er zur Strecke – und er ahnt,
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