Ich brauche dich – heute Nacht
Marie Ferrarella
Tiffany Duo 047–01 01/92 Scanned & corrected by SPACY
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Ich brauche dich – heute Nacht
Marie Ferrarella
Tiffany Duo 047–01 01/92 Scanned & corrected by SPACY
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Wie kann ein Mann nur so hinreißend verführerisch und doch so kalt wie ein Eisberg sein! Das fragt sich die temperamentvolle Drehbuchautorin Annie, als sie den Schriftsteller Marcus kennenlernt, dem sie bei der Arbeit an einem Drehbuch helfen soll. Weiß dieser rätselhafte Mann, in dessen kobaltblaue Augen sich Annie spontan verliebt hat, überhaupt nicht, was Leidenschaft ist? Erst als die beiden bei einem Ausflug in ein Unwetter geraten und zusammen in einem Zimmer übernachten müssen, lernt annie den wahren Marcus kennen. Wie im Rausch erlebt sie mit ihm eine unvergeßliche Nacht der Ekstase. Doch Marcus hat Angst vor seinen Gefühlen. Aber der Liebe zu Annie kann er nicht entfliehen...
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1. KAPITEL „Weshalb kann ich das Drehbuch nicht selber schreiben? Schließlich stammt der Roman von mir." Diese Frage ging Marcus Sullivan nicht aus dem Kopf, während er ruhelos in seinem Wohnzimmer auf und ab lief. Zum erstenmal hatte er sie vor mehr als einem Monat bei einem Mittagessen mit seinem Literaturagenten gestellt. Sie, hatten über einen Film nach seinem Roman „The Treasured Few" gesprochen, der seit über einem halben Jahr auf der Bestsellerliste der „New York Times" stand. Aber Richard war unerbittlich geblieben. Er hatte die Fingerspitzen zusammengelegt, die Augenbrauen in die Höhe gezogen und seinen wichtigsten Autor eindringlich angesehen. „Mein lieber Marcus", hatte er erklärt. „Sie sind ein Romanschriftsteller. Für dieses Projekt benötigen wir jedoch einen Drehbuchautor. Und zwar einen sehr guten." Natürlich hat Richard recht, gab Marcus zähneknirschend zu. Aber der Roman war sein Lieblingswerk, und er wollte ihn niemand anderem überlassen, ganz gleich, wie gut er war. Außerdem lag ihm nichts am Film. Filme verführten die Zuschauer, und er, Marcus, war alles andere als ein Verführer. Richards Gesicht hatte sich unmerklich gerötet, als Marcus drohte, lieber auf das außerordentlich lukrative Honorar zu verzichten, mit dem Addison Taylor winkte. Addison hatte das beste Angebot von allen gemacht, und weder der Produzent noch Richard hatten mit dem Widerstand des Autors gerechnet. Nach langem guten Zureden hatte Richard endlich einen Kompromiß mit ihm ausgehandelt, und Marcus hatte sich bereit erklärt, dem Projekt wenigstens eine Chance zu geben. Dafür durfte er mit dem Drehbuchautor zusammenarbeiten. Nachdem er noch einmal gründlich über die Sache nachgedacht hatte, fragte Marcus sich jetzt, weshalb er sich auf die Sache eingelassen hatte, Eigentlich war es gar kein -4-
Kompromiß. Nein, in einem Augenblick der Schwäche hatte er auf der ganzen Linie nachgegeben. Und das war Richards Schuld. Diskret hatte der Agent ihn daran erinnert, daß er seinerzeit Marcus verborgenes Talent entdeckt hätte. Außerdem kenne er eine ausgezeichnete Drehbuchautorin, die er zufällig unter Vertrag habe. Am Ende hatte Marcus eingewilligt, und jetzt mußte er sehen, wie er mit den Folgen fertig wurde. Der Wind heulte um das Haus, und der Regen klatschte an die Scheiben. Die Drehbuchautorin verspätete sich bereits um eine Dreiviertelstunde, und Marcus konnte es nicht leiden, wenn man ihn warten ließ. Plötzlich sah er ein Buch unter dem Couchtisch liegen. Verärgert beugte er sich hinab und hob es auf. Er verabscheute Unordnung. Marcus betrachtete den farbenfrohen Band in seiner Hand. Es handelte sich um ein Bilderbuch, das vom vielen Umblättern ziemlich zerfleddert war. Ein Buch seines Patenkindes. Nein, Ken war nicht nur sein Patenkind, er war auch sein Mündel. Das war die juristische Bezeichnung für die beängstigende Tatsache, daß Marcus seit drei Wochen für ein anderes menschliches Wesen verantwortlich war, mit dem er absolut nichts anfangen konnte. Marcus legte das Buch ordentlich auf den Couchtisch und beschloß, es später in Kens Zimmer hinaufzubringen. Wo in aller Welt blieb diese Drehbuchautorin? Zusammenarbeit... Das war ein höchst vager Begriff. Gewiß hätte er sich die Grundlagen für das Schreiben eines Drehbuchs innerhalb kürzester Zeit aneignen können. Statt dessen erwartete Richard, daß er die Dame mit offenen Armen empfing und ihr erlaubte, ihren Namen neben seinen über die Arbeit zu setzen. Marcus liebte die Schriftstellerei. Sobald er an einem Buch schrieb,, spielten Zeit und Raum keine Rolle mehr, und er ging -5-
völlig in seiner Tätigkeit auf. Sie entschädigte ihn für die Einsamkeit seines Lebens. Manchmal verließ er sein Zimmer tagelang nicht und arbeitete wie ein Besessener, bis das Buch fertig war. Wie sollte er solch ein intimes Verhältnis zur Arbeit mit jemandem teilen? Marcus stieß einen Seufzer aus und fuhr sich ungeduldig mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. Noch fünf Minuten wollte er der Drehbuchautorin geben, dann würde er die ganze Sache abblasen. Wenn die Dame nicht einmal am ersten Arbeitstag pünktlich erschien, konnte sie garantiert nicht unter Zeitdruck arbeiten. Und ihnen blieben nur genau sechs Wochen bis zum Drehbeginn, Sechs Wochen, um einen 489 Seiten starken Roman in ein Drehbuch für einen zweieinhalb Stunden langen Film zu verwandeln. Er bezweifeite, daß das möglich war. Weshalb warte ich eigentlich noch? fragte Marcus sich. Ich werde Richard sofort anrufen. Marcus war schon auf halbem Weg zum Telefon, da läutete die Glocke. Enttäuscht blickte er zur Tür und bedauerte, daß Holly, seine Haushälterin, nicht da war, um die Frau abzuwimmeln. Es läutete erneut. Also blieb ihm nichts übrig, als die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Entschlossen durchquerte er die Diele und riß die Haustür auf. Es war nicht gerade eine einladende Geste, aber das war ihm egal. Die Frau auf der Schwelle war von Kopf bis Fuß in ein riesiges königsblaues Cape gehüllt. „Hallo", sagte sie. „Ich bin Annie de Witt." Ihre fröhliche Stimme stand in krassem Gegensatz zu dem scheußlichen Wetter. „Sie kommen zu spät", verkündete Marcus. „Sind alle Drehbuchautoren so unpünktlich?" Annie wunderte sich nicht über seinen spöttischen Ton. -6-
Richard hatte sie vorgewarnt „Natürlich - wenn ein liegengebliebener Lastwagen ihnen den Weg versperrt." Marcus wußte selber nicht, wie er sich die Drehbuchautorin vorgestellt hatte. Sicher nicht wie die Frau, die jetzt vor ihm stand. Sie war höchstens einssechzig groß und hatte blondes Haar, das unter ihrer Kapuze hervorschaute. Klatschnaß klebte es an ihrer Stirn und hing über ihre Augen. Sie sah aus wie eine nasse Katze. Marcus versperrte ihr die Tür und machte keine Anstalten sich von der Stelle zu rühren. Annie stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte ihm über die Schulter. „Ein hübsches Wohnzimmer haben Sie. Darf ich es mir mal näher ansehen?" Er entdeckte ein winziges Grübchen auf ihrer rechten Wange, während sie lachte. Annie war so zart, daß sein Ärger langsam verflog. Sie ist noch ein halbes Kind, dachte er. Erwartete Richard, daß er mit jemandem zusammenarbeitete, der vermutlich einen Kaugummi beim Sprechen aufblies? Trotzdem trat er beiseite und ließ Annie herein. Der Mann sieht besser aus als auf dem Foto, das auf der Rückseite seiner Bücher abgebildet ist, dachte Annie und betrat das Haus. Außerdem ist er viel größer, mindestens einsfünfundachtzig. Ob seine aristokratischen Züge etwas weicher wurden, wenn er lächelte? Auf dem Foto wirkte er ebenso unnahbar wie jetzt. Nun, Richard hatte ihr ja gesagt, daß die Zusammenarbeit nicht einfach werden würde. Das machte die Aufgabe um so reizvoller. Annie schob ihre Kapuze zurück, so daß ihr dichtes blondes Haar sichtbar wurde. Die Spitzen berührten die Schultern, sogen die Feuchtigkeit auf und wurden dunkler. Schwungvoll zog Annie das Cape aus. Sie trug einen engen grauen Rock, der wenige Zentimeter über dem Knie endete, und eine weiche rosa Bluse, die Marcus ausgesprochen -7-
weiblich fand. Eine Kindfrau, überlegte er. Der würde er sein Buch gewiß nicht anvertrauen. Annie sah aus, als hätte sie nicht die geringste Ahnung vom Leben. Sie sah ihn mit ihren grünen Augen an, und für einen Moment war er verwirrt. Dann merkte er, daß sie ihm das Cape hinhielt. „Richard hat mich übrigens gewarnt, daß Sie schwierig sind", stellte sie nüchtern fest und hob das Cape höher. „Wo kann ich...? Mißmutig nahm er ihr das Kleidungsstück ab. „Ich bin nicht schwierig", erklärte er und hängte das Cape an den antiken Garderobenständer neben der Haustür. „Na, wunderbar. Dann werden wir ja gut miteinander auskommen. Das wage ich ernsthaft zu bezweifeln, dachte Marcus. Er drehte sich wieder zu Annie und wollte ihr sagen, weshalb die von Richard vorgeschlagene Partnerschaft nicht klappen konnte. Doch Annie war schon ins Wohnzimmer gegangen. Marcus folgte ihr, während sie durch den Raum schlenderte, sich neugierig umsah und hier und da etwas berührte. Es war eine ganz natürliche Geste. Aufmerksam betrachtete er die zierliche Gestalt. Annie könnte eher ein Babysitter für Ken sein anstatt eine Drehbuchautorin, überlegte er. Sie war entschieden zu jung, um so gut zu sein, wie Richard behauptete. Sein Agent hatte erzählt, sie wäre neunundzwanzig, aber das war kaum möglich. Wenn doch, war sie eine ausgesprochen junge Neunundzwanzigjährige. Er, Marcus, fühlte sich erheblich älter als einunddreißig. „Haben Sie das gelesen?" fragte Annie und zeigte lächelnd auf das Bilderbuch. „Es gehört meinem Patenkind", antwortete Marcus steif und wünschte, er hätte das Buch fortgeräumt. -8-
„Ein hübsches Buch", sagte sie. „Ich kenne es." „Das ist bestimmt genau der richtige Lesestoff für Sie." Marcus war tatsächlich so scharfzüngig, wie Richard behauptete. Trotzdem war Annie nicht gekränkt. Im Gegenteil, die Antwort gefiel ihr. Sanftmütige Menschen waren ihr zu langweilig. Vor dem Kamin blieb sie stehen und warf einen kurzen Blick auf die verglühenden Holzscheite. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Sims. In einer Ecke stand eine kleine Sammlung sorgfältig arrangierter Pokale. Die Inschrift auf dem nächst stehenden wies Marcus als Sieger bei einem Langlauf aus. Vorsichtig fuhr sie mit dem Finger über den Sockel. Die Spitze wurde schwarz. „Sie wischen wohl nicht oft Staub? Verblüfft sah Marcus sie an. „Danke für die Bemerkung." Das hätte ich nicht sagen dürfen, dachte Annie und biß sich auf die Zungenspitze. Manchmal war sie wirklich zu unbedacht. Aber auf diese Weise hatte sie erfahren, was sie wissen wollte. Marcus war eine Herausforderung für sie. Doch ihr sollte es recht sein. Sie kam in Höchstform, wenn sie gefordert wurde. Jeder Auftrag war ein Abenteuer, das man genießen mußte wie das Leben selbst. Diese Begeisterung hatte sie von ihrem Vater geerbt und der sie von seinem. Anne Kathleen de Witt war eine Drehbuchautorin der dritten Generation und hatte schon eindrucksvolle Erfolge aufzuweisen. War es Argwohn, was sie in Marcus' Augen bemerkte, oder bedeutete dieser Blick etwas anderes? Es war schwer zu sagen. Seine Augen lenkten zu stark davon ab. Sie waren von einem tiefen Kobaltblau und schienen irgendeinen Schmerz zu verbergen. Schön im üblichen Sinne ist Marcus nicht, stellte Annie fest. Aber er besitzt eine ungeheure Ausstrahlung. Die Zusammenarbeit mit ihm würde Spaß machen, das spürte sie. Es würde nicht einfach werden, doch mit der -9-
entsprechenden Hartnäckigkeit würde ihr ein Drehbuch gelingen, das noch besser war als der Roman. Und gleichzeitig würde sie einen faszinierenden Mann näher kennenlernen. Gelassen setzte Annie ihren Rundgang fort und blieb am Fenster stehen. Draußen tobte noch immer der Sturm. Langsam ließ sie die Vorhänge zwischen Daumen und Zeigefinger gleiten, drehte sich herum und sah Marcus über die Schulter lächelnd an. Was in aller Welt hat sie vor?, dachte er ungeduldig. Will sie ein Inventar des Zimmers aufnehmen? „Ich habe noch nie mit jemandem zusammengearbeitet", begann Marcus das Gespräch. Er würde Annie wieder nach Hause schicken. Nachdem er sie kennengelernt hatte, wußte er, daß sein erstes Gefühl richtig gewesen war: Es würde, nicht klappen. „Das hat Richard mir gesagt." Sie ließ die Vorhänge fallen und wandte sich um. „Es ist ein bißchen wie in einer Ehe: Man muß sich große, Mühe geben." Sie hielt die Hand über eine Vase, die er als einziges Stück von Zuhause mitgenommen hatte, als er die Ostküste und die kühle Atmosphäre seines Elternhauses für immer verließ. Vorsichtshalber stellte er sich schützend davor. „Müssen Sie alles anfassen?" Annie errötete ein wenig und ließ die Hand sinken. Sie hatte gar nicht gemerkt, was sie tat. Es mußte instinktiv geschehen sein. „Entschuldigen Sie bitte. Wahrscheinlich hilft es." ` „Wobei hilft es?" Wie sollte er mit einer Frau zusammenarbeiten, die nicht einmal vollständige Sätze sprach? „Es hilft mir, Sie richtig kennenzulernen. Wieder tauchte das Grübchen auf. Selbst, mit dem von Wind und Regen zerzausten Haar sah Annie entzückend aus, das mußte Marcus zugeben. Doch hübsch oder nicht, er würde ihr sein Buch nicht anvertrauen. Dann wurde sein Roman eben - 10 -
nicht verfilmt. Es gab größere Tragödien. Plötzlich bemerkte Marcus den Goldreif an ihrem Finger. „Sind Sie verheiratet?" Ohne zu überlegen, sprach er die Frage aus. „Nein, das ist der Ring meiner Mutter. Ich trage ihn aus sentimentalen Gründen. Ich war nie verheiratet." Annie beglückwünschte sich selber, daß ihre Antwort so nüchtern klang. Einen Moment schloß sie die Augen, um die Erinnerungen zu verdrängen. Marcus konnte sich denken, weshalb sie nie geheiratet hatte. „Ich nehme an, Sie haben niemanden gefunden, der es längere Zeit mit, Ihnen aushielt." Sein Spott reizte sie und half ihr über den Schmerz hinweg. Bellende Hunde beißen nicht, dachte sie. „Nein, ich habe den Traumprinzen noch nicht gefunden, von dem die Filme der vierziger Jahre erzählen", erklärte sie keck und bat Charlie stumm um Vergebung. Diesen Herbst war es zwei Jahre her. Absichtlich drehte sie sich zu einem Gemälde an der Wand. Es stellte eine einsame Seelandschaft dar, und einen Moment fühlte sie sich genauso. „Und James Stewart ist etwas zu alt für mich", fügte sie hinzu. Da hat James Stewart aber Glück gehabt, dachte Marcus und merkte, daß Annie sich mit den Büchern beschäftigen wollte, die sich auf dem Regal an der Zimmerwand befanden. Jetzt reichte es ihm. „Setzen Sie sich jemals hin?" fragte er verärgert. Annie drehte sich herum und sah ihn schelmisch an. „Gelegentlich schon." Seine Geduld war fast zu Ende. „Wäre es zuviel verlangt, wenn ich Sie bitten würde, diese Gelegenheit möglichst bald zu ergreifen?" Annie schob das Buch, das sie gerade betrachtet hatte, in das Regal zurück. Die Bände sahen aus, als würden sie kaum - 11 -
angerührt. Las Marcus die Bücher tatsächlich, oder war das Regal reine Dekoration? „Ich mache Sie nervös, nicht wahr?" fragte sie. Wieder lächelte sie breit. Ihr Mund ist zu groß und merkwürdigerweise trotzdem attraktiv, überlegte Marcus. Ob sie ihn je ganz schloß? Wahrscheinlich wußte sie nicht einmal, wie man das tat. „Darf ich offen sein?" fragte er. „Natürlich", antwortete sie sofort. „Sie haben recht. Sie machen mich nervös." „Tut mir leid, das wollte ich nicht." Anne setzte sich auf die makellos weiße Couch. Hatte Marcus nie Gäste? Besonders einladend war das Zimmer nicht, erst recht nicht für kleine Jungen. War er etwa so einsam, wie die Seelandschaft andeutete? Die Couch war viel zu tief. Wenn sie sich anlehnte, reichten ihre Füße nicht auf den Boden. Entschlossen streifte Anne die Schuhe ab und schlug die Beine unter. „Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Füße", erklärte sie. „Nur wenn sie auf mir herumtrampeln", erwiderte Marcus schlagfertig. Ihre Miene wurde ernst, und er merkte, daß sie doch älter war als ein Teenager. „Marc... " begann sie. „Marcus" verbesserte er sie, setzte sich ebenfalls und ließ einen großen Abstand zwischen Annie und sich. „Nein", erwiderte sie und schüttelte entschlossen. den Kopf. „Der Name Marcus macht Sie noch spießiger." Ihm gefiel nicht, daß sie ihn so einordnete. „Ich nehme an, ich soll Sie Annie nennen?" Sie lachte. „Es sei denn, Sie ziehen Witty vor." „Wie bitte?" „Einige meiner Freunde nennen mich Witty." „Na, so witzig sind Sie nun auch wieder nicht." - 12 -
„Es ist eine Abwandlung meines Nachnamens", erklärte sie trocken. Marcus holte tief Luft, um das Gespräch hinter sich zu bringen, bevor Annie noch mehr reden konnte. „Ich glaube, ich muß ein Mißverständnis aufklären begann er. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn nachdenklich an. „Wieso?" „Ich habe beschlossen, das Drehbuch nicht zu schreiben." Das paßte überhaupt nicht zu dem Mann,: den Richard ihr beschrieben hatte. „Heißt das, Sie überlassen das ganze Projekt mir?" Marcus stand auf. „Ich überlasse das Projekt niemandem, sondern ziehe meine Zustimmung zurück." Das war schon eher Richards Mann. Annie schwieg einen Moment. „Haben Sie Angst?" Er bemerkte den Schalk in ihrem Blick. „Angst wovor?" fragte er. „Daß jemand außer Ihnen einen tieferen Einblick in die Charaktere bekommen könnte." Als er die Stirn runzelte, fügte sie fröhlich hinzu: „Übrigens gefällt mir Ihr Buch." „Danke." Seine Stimme klang eiskalt. „Und ich würde die Charaktere gern auf die Leinwand bringen. Dafür habe ich schon eine Menge Ideen." „Darauf wette ich." Marcus stand hoch über ihr. „Das ändert jedoch nichts an der Tatsache..." Annie ließ sich nicht beirren. Sie setzte sich auf und nahm ein besticktes Kissen in den Arm. „Wissen Sie, ich kann wirklich etwas." „Nein, das weiß ich nicht." Der Kerl ist ein harter Brocken, überlegte Annie. Aber Herausforderungen machten das Leben interessant, und sie .war entschlossen, diese anzunehmen. „Von mir stammt zum - 13 -
Beispiel das Drehbuch zu ,Verwahrloste Kinder`." Sie legte das Kissen wieder hin. „Habe ich nicht gesehen." „Kennen Sie ,Allison am Morgen`?" „Nein." „Oder ,Tränen einer Nation'?" „Auch nicht." Annie zog ihre Schuhe wieder an und merkte, daß Marcus sie dabei beobachtete. „Und wie ist es mit ‚Casablanca'?" Er sah sie vorwurfsvoll an. „Das. Drehbuch stammt nicht von Ihnen." „Nein", gab Annie vergnügt zu. „ich wollte nur wissen, ob Sie überhaupt ins Kino gehen." „Nicht oft." Marcus schob die Hände in die Taschen und verwünschte Richard in Gedanken, der ihn in diese Situation gebracht hatte. Instinktiv ging er ein paar Schritte beiseite, denn. sein Selbsterhaltungstrieb meldete sich.,„Ich beobachte lieber Menschen." „Ausgezeichnet. " Annie stand auf und folgte ihm. „Ich lasse Sie bei der Arbeit zuschauen." Konnte die Frau nicht bleiben, wo sie war? Sie beleidigte seinen Ordnungssinn schon durch ihre. Anwesenheit. Wie sollten sie da zusammenarbeiten? „So war es nicht ge..." begann er, aber Annie ließ ihn nicht ausreden. „Nein, wahrscheinlich, nicht", antwortete sie und erriet seine Gedanken. „Aber es könnte ein guter Anfang sein." Marcus fragte sich, ob. er je gegen dieses rasche Mundwerk ankäme. „Und was wäre ein guter Schluß?" Sie lächelte schelmisch. „Der Abspann des Films." Er fühlte sich langsam in die Enge getrieben. „Sie sind entschlossen, das Drehbuch zu schreiben, nicht wahr?" „Hm.“ „Und weshalb?" „Ich mag Sie, Marc Sullivan." - 14 -
Seine Augen wurden schmal. „Sie kennen mich ja nicht einmal." Wieder legte sie den Kopf auf die Seite und wirkte plötzlich gleichzeitig verletzlich und zuversichtlich. „Sie werden es nicht glauben, ich habe Ihr Buch gelesen", erklärte sie und zwinkerte ihm geheimnisvoll zu. „Ich kenne alle Ihre. Bücher." „Dann kann ich ja als glücklicher Mann sterben." Marcus machte eine kurze Pause. „Und?“ Vermutlich kam jetzt eine Lobeshymne, um ihn milder zu stimmen. Er irrte sich. „Ich glaube, Sie müßten die. Empfindungen und die Gefühle, die Sie in Ihren Büchern ausdrücken, einmal selber erleben." „Wie bitte?" stieß Marcus hervor, bevor er es verhindern konnte. Die Verärgerung war ihm deutlich anzuhören. „Wut wäre kein schlechter Anfang", fuhr Annie fort. Es kümmerte sie nicht, daß sie selber der Grund für seine Verärgerung war. „Mit etwas Glück zieht sie weitere Gefühle nach sich." Mit Worten konnte Annie umgehen, das mußte Marcus ihr lassen. Aber das reichte nicht, um ihn umzustimmen. „Unsere Zusammenarbeit würde höchstens Schwierigkeiten nach sich ziehen", stellte er fest. Sie mußte lächeln. „Das könnte auch interessant sein." Marcus merkte, daß er zu schwanken begann. Annie beunruhigte ihn auf seltsame Weise. Was hatte er zu verlieren außer etwas Zeit? Vielleicht sollte er... Nein, mit dieser Frau ein Drehbuch anzufertigen war unmöglich. ,Andererseits ... „Einverstanden` hörte er sich sagen. „Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit." „Für den Anfang." Annie ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Oder um Schluß zu machen", entgegnete er. - 15 -
„Wir werden ja sehen." Sie strahlte Marcus an, aber diesmal störte es ihn nicht.` Zu seiner Verblüffung merkte er, daß ihm ganz warm wurde. Eine innere Stimme warnte ihn, daß ihm die Sache über den Kopf wachsen könnte. Eine zweite flüsterte ihm zu, daß er sich um eine einzigartige Erfahrung brächte, wenn er diese Chance ausschlug. Und Neugier war eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit eines Schriftstellers. Trotzdem hatte Marcus den deutlichen Verdacht, daß er soeben einen Sturm in sein Haus gelassen hatte. „Da ist übrigens noch eine Kleinigkeit, Marc." Er hatte es ja gewußt. Marcus ließ Anies Hand los und sah sie eindringlich an. Gegen eine intelligente, konstruktive Kritik von Leuten, deren Meinung er achtete, hatte er nichts einzuwenden. Doch Annie gehörte nicht dazu. „Ja?" Annie spürte, daß dieser Mann nichts auf leere Komplimente gab. Und das war gut so, denn Schmeicheleien lagen ihr; nicht. „Sie könnten etwas mehr Humor gebrauchen." Marcus hatte wahre Horrorgeschichten von Schriftstellern gehört, deren Romane für die Leinwand umgearbeitet worden waren. Mit seinem Buch würde das nicht passieren. „Eines möchte ich von vornherein klarstellen, Miss de Witt..." Er überragte sie um gute fünfundzwanzig Zentimeter und blickte drohend auf sie hinab. Doch wenn er angenommen hatte, er könne Annie damit einschüchtern, irrte er sich gewaltig. Sie schüttelte den Kopf. „Wir kommen nicht weiter, wenn Sie mich ständig wie eine ältere Bibliothekarin aus einem viktorianischen Roman behandeln." Langsam reichte es Marcus. Wenn er Annie mit dem Vornamen anredete, bedeutete dies eine Vertraulichkeit, die er keinesfalls fördern wollte. Sie sagte ihm jetzt schon viel zu freimütig, was sie dachte. Er mußte unbedingt einen - 16 -
professionellen Abstand zwischen der Frau und sich wahren. Doch um weitere Diskussionen und Abschweifungen zu vermeiden, gab er nach. Zumindest fürs erste. „Also gut, Annie. Ich..." „Das ist schon besser", unterbrach sie ihn. Marcus bezweifelte dies. Es wurde höchstens noch schlimmer. Annie gehörte zu jenen Menschen, die die ganze Hand nahmen, wenn man ihnen den kleinen Finger reichte. Dessen war er gewiß. „Besser wäre es, wenn ich jetzt in meinem Arbeitszimmer sitzen und an einem neuen Buch arbeiten würde", antwortete er so kühl und würdevoll wie möglich. Daß seine Kreativität im Augenblick stark zu wünschen übrig ließ, ging sie nichts an. Annie ließ sich nicht beirren. „Das werden Sie gewiß nachholen, sobald Sie das Drehbuch vom Tisch haben", versicherte sie und schlenderte zur Couch. Unbewußt hatte sie genau die richtigen Worte gewählt. Wenn er schon nicht aus dem Vertrag herauskam, wollte Marcus das Drehbuch so bald wie möglich vom Tisch haben. Außerdem hatte er zur Zeit andere Sorgen, und mit denen kam er ebenfalls nicht weiter, wenn Annie sich ständig in seine Gedanken drängte. „Betrachten Sie das Ganze doch einmal von einer anderen Warte. Die Arbeit am Drehbuch könnte ungeahnte Fähigkeiten in Ihnen wecken", fuhr Annie fort. Langsam schob sie das Bilderbuch, das immer noch korrekt ausgerichtet auf dem. Couchtisch lag, mit der Fingerspitze zur Seite. „Es ist ein völlig neues Gebiet für Sie. Vielleicht macht es Ihnen sogar Spaß.' „Spaß..." Marcus schob Kens Buch wieder in die ursprüngliche Lage. Keinesfalls durfte Annie noch mehr Boden gewinnen. „So lustig, wie wenn man in einem Bierfaß die Niagarafälle durchquert, vermute ich." Aufmerksam sah er sie an. Annie wollte das Buch wieder verschieben, unterließ es - 17 -
aber. Sie durfte Marcus nicht ärgern, nur um ihn auf die Probe zu stellen. Außerdem wußte sie längst Bescheid. Er wehrte sich gegen jede Veränderung. „Wenn Ihnen so etwas Spaß macht, ja." Marcus hob die Hand, um das Thema abzuschließen. Er hatte etwas sagen wollen. Aber was? Annie redete so viel, daß ihm der Kopf schwirrte. Dann fiel es ihm wieder ein. „Ich werde nicht zulassen, daß Sie meine Dialoge oder Teile meines Buches verfälschen." „Ich werde sie auf keinen Fall verfälschen, Marc." Annie setzte sich erneut und sah ihn mit unschuldiger Miene an. „Ich werde sie richtig mischen." Den Teufel würde sie tun. Entschlossen setzte sich Marcus neben Annie und versuchte, die Zügel wieder in die Hand zu bekommen. Bisher hatte er bei allen Gesprächen die Oberhand behalten. Nur weil Annie schneller redete, als er denken konnte, brauchte das jetzt nicht anders zu sein. „Ich glaube, wir müssen einige Grundregeln aufstellen", schlug er vor. Dagegen war nichts einzuwenden. „Die täten jeder Partnerschaft gut." Bei Annies Worten rann Marcus ein ahnungsvoller Schauer den Rücken hinab. „In unserem Fall handelt es sich um keine Partnerschaft, sondern um eine zeitlich begrenzte..." Er stand auf und hob beide Hände. „Gemeinheit." Ein anderes Wort fiel ihm nicht ein. Annie stand ebenfalls auf und glättete ihren Rock. Sie hat tolle Beine, fiel Marcus zu seiner eigenen Überraschung auf. „Marc", sagte sie ruhig, „wir kommen nicht weiter, wenn Sie Ihre schlechte Laune an mir auslassen." „Das tue ich gar nicht.“ Doch, überlegte er, Annie hat recht. Was machte diese Frau mit ihm? Er war ein besonnener, ruhiger Mensch, der normalerweise nicht einmal die Stimme hob. - 18 -
„Dann ist es ja gut. Also, wie lauten die Grundregeln, die Sie, aufstellen möchten?" „Ich will nur..." Ach, was sollte es. Annie würde ihm jedes Wort im Mund umdrehen, und er war plötzlich furchtbar müde. Er brauchte etwas Zeit und Abstand, um mit der Situation fertig zu werden. „Wir werden sie während der Arbeit festlegen." „Wunderbar", stimmte sie ihm zu. Am liebsten hätte er ihren schlanken Hals umgedreht. „Wollen Sie gleich anfangen?" fragte Annie und öffnete den Reißverschluß der großen Aktentasche, die sie mitgebracht hatte.
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2. KAPITEL Ich könnte erst einmal einen doppelten Whiskey gebrauchen, dachte Marcus. Annie hatte ihn restlos überrumpelt. Zwar war er auf Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit einem anderen Schriftsteller gefaßt gewesen, aber er hatte einen normalen Menschen erwartet. Auf eine Frau, die unablässig redete und neben der ein Auktionator wie ein Schlaftrunkener wirken mußte, war er nicht vorbereitet. „Nein, wir beginnen erst morgen beschloß er, obwohl ihnen nicht viel Zeit zur Verfügung stand. Annie runzelte die Stirn und blickte, auf ihre Notizen. Sie hatte Marcus' Buch dreimal gelesen und wollte sich sofort an die Arbeit machen. „Auf diese Weise verlieren wir einen vollen Tag." „Mag sein", stimmte er ihr zu. „Aber es wird meinem Blutdruck guttun." Annie steckte ihre Notizen wieder ein und zog den Reißverschluß halb zu. „Ist er zu hoch?" fragte sie besorgt. Marcus überhörte ihre Besorgnis. Weshalb sollte Annie sich seinetwegen Sorgen machen? Sie waren sich völlig fremd. „Bisher noch nicht.“ „Ach so." Lachend schloß sie die Aktentasche. „Sie werden schon wieder dramatisch. Einen Moment hatte ich richtig Angst." Marcus wollte gerade zur Garderobe gehen. Verblüfft blieb er stehen. „Was heißt ,schon wieder'?" Achtlos ließ Annie die Aktentasche auf das Sofa fallen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte ihm die Hände auf die Schultern. Das war eine sehr persönliche, freundschaftliche Geste, die seiner Meinung nach alten Freunden vorbehalten bleiben sollte. Schelmisch betrachtete sie ihn. „Mein lieber Marc, Sie neigen ein wenig zur Übertreibung." - 20 -
Vorsichtig löste Marcus ihre Hände. Die Berührung war ihm längst nicht so unangenehm, wie er angenommen hatte. Ihm war, als hätten ihre Finger seine Kleidung durchdrungen und lägen auf seiner nackten Haut. Annie glich einem fremden Wesen, das sich langsam, aber sicher in sein ganzes Leben mischte. Nein, schalt Marcus stumm, so übernatürlich ist sie nicht. Sie ähnelt eher einem Bazillus. Dieser Vergleich gefiel ihm schon besser. Einen Bazillus konnte man mit zahlreichen Mitteln bekämpfen. „Ich glaube, in diesem Fall hatte ich gute Gründe dafür", sagte er. „Normalerweise bin ich ein umgänglicher Mann." Geschickt drehte sie die Hände, so daß sie nun seine hielt. „Ich würde sagen, Sie sind ein sehr verkrampfter Mann." Marcus blickte auf seine Hände. Wie hatte Annie das schon wieder geschafft? War es ein Vorzeichen dafür, was ihn erwartete? Würde sie sein Inneres nach außen wenden? „Und ich würde sagen..." Marcus schwieg, denn ein Schlüssel drehte sich: im Schloß, und jemand sagte etwas. Annie konnte nicht erkennen, ob es ein Mann war oder eine Frau. Fragend sah sie Marcus an. „Wohnt hier noch jemand?" Entschlossen machte er sich los. „Ja." In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Annie betrachtete die beiden Leute, die hereinkamen. „Hallo", sagte sie fröhlich zu Holly Hudson, einer netten untersetzten Frau von Ende Fünfzig, die einen kleinen dünnen Jungen mit riesengroßen Augen vor sich herschob. „Hallo." Holly nickte Annie zu. „Der Film ging früher zu Ende, und er wollte keine Pizza mehr essen", sagte sie zu Marcus und ließ den Blick über Annie gleiten. Mit ihrer breiten Kehrseite schob sie die Tür hinter sich zu. „Du wolltest keine Pizza essen?" Annie ging auf den Jungen zu. „Magst du etwa keine Pizza?" - 21 -
Marcus fand, er müsse seinen Patensohn warnen. Schließlich war der Kleine erst sieben Jahre alt und sicher jemandem wie Annie de Witt nicht gewachsen. Das war er mit seinen einunddreißig ja kaum. „Nimm dich in acht, Ken. Jetzt kommt die, spanische Inquisition." Unsicher blickte Ken mit seinen braunen Augen von Annie zu Marcus und wieder zurück. Holly zog ihm den Regenmantel aus. Wie eine Schneiderpuppe stand er still, bis sie fertig war. Offensichtlich hatte er nicht verstanden, was Marcus meinte. „Wer kommt?" fragte er zögernd. Annie warf Marcus einen Blick über, die Schulter zu, der ihm bewies, daß er sie enttäuscht hatte. „Wenn das Ihre Art von Humor ist, können Sie froh sein, daß ich hier bin." „Ich glaube kaum, daß ‚froh’ der richtige Ausdruck ist“, murmelte er. Annie hatte sich schon wieder zu Ken gedreht und hockte sich hin, um in Augenhöhe mit dem Jungen zu sein. „Hallo", sagte sie, „ich heiße Annie", und reichte ihm die Hand. Ken nahm sie und schüttelte sie feierlich. Das Urbild einer guten Erziehung ... Annie hatte das Gefühl, noch nie ein so altes Kind gesehen zu haben. „Und du bist..." Zwar hatte sie den Namen verstanden, den Marcus genannt hatte, aber vielleicht wollte der Kleine sich gerne selber vorstellen. „Ken Danridge." War der Junge ein bißchen schüchtern? Annie betrachtete ihn näher und merkte, daß der Grund tiefer liegen mußte. Vielleicht geriet der Junge nach seinem Patenonkel. Marcus war als Kind vermutlich ganz ähnlich gewesen. „Ich freue mich, dich kennenzulernen, Ken", sagte sie. „Warum?" Er ähnelte Marcus tatsächlich. „Weil ich hoffe, daß wenigstens ein Mensch in diesem Haus lachen kann." Da Ken - 22 -
nicht auf ihre Worte reagierte, sondern sie weiterhin ernst ansah, fuhr sie fort: „Kannst du lachen?" Seine Mundwinkel verzogen sich ein: wenig, aber seine Augen blieben ernst. Wieder nahm sein Gesicht diesen traurigen Ausdruck an. Annie spürte, einen Stich in der Brust, und sie klopfte Ken aufmunternd auf die Schulter. „Na, das müssen wir noch ein bißchen üben." Nachdenklich stand sie auf. „Gibt es auch etwas, das Sie nicht bearbeiten möchten?" fragte Marcus scharf. Jetzt war er wirklich verärgert. Auch wenn er persönlich keinen Kontakt zu Ken fand und schon als Kind nicht mit anderen Kindern zurechtgekommen war, brauchte Annie dem Jungen mit ihrem unbedachten Gerede nicht unnötig weh zu tun. Ken hatte mehr als einen Grund, ernst zu sein. Annie spürte, daß seine scharfe Bemerkung nichts mit verletztem Stolz oder Besitzanspruch zu tun hatte. War sie in ein Fettnäpfchen getreten? „Ich werde einen. Zeitplan dafür aufstellen“, erklärte sie trocken. „Hat dir der Film gefallen, Ken" fragte Marcus. Er hatte Holly mit dem Jungen ins Kino geschickt, um ihm ein bißchen Ablenkung zu verschaffen, die der Kleine dringend brauchte. Ken zuckte mit den Schultern. „Ja, es ging." Das war noch zu früh, überlegte Marcus. Er merkte, daß die Haushälterin ihn beobachtete. Seine Intimsphäre stand auf dem Spiel. „Ziehen Sie Ken bitte etwas Trockenes an, Holly, und sorgen Sie dafür, daß er etwas ißt." Holly nickte und nahm Kens kleine Hand. Sie sieht aus wie die ideale Großmutter, dachte Annie. Doch Ken schien es nicht zu merken. Gehorsam folgte er der Frau, sagte aber kein Wort. „Weshalb ist der Junge so schrecklich ernst?" fragte Annie, nachdem Holly und der Kleine verschwunden waren. Marcus wunderte sich über den Klang ihrer Stimme. Sie - 23 -
konnte also auch normal sprechen. Vielleicht kann man ja doch mit ihr zusammenarbeiten, dachte er. Das gab ihr aber noch lange nicht das Recht, persönliche Fragen zu stellen. „Ich glaube kaum, daß Sie das etwas angeht; Miss de Witt." „Annie. Vielleicht nicht", stimmte sie ihm zu. „Aber ich möchte es gern wissen. Annies Mut verblüffte ihn. Sie tat gar nicht erst so, als wollte sie sich aus seinen privaten Angelegenheiten heraushalten. Das war unglaublich - und in gewisser Weise faszinierend. „Kens Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben. Das Wetter war an jenem Tag ähnlich wie heute", antwortete Marcus tonlos. Er drehte sich zum Fenster und sah zu, wie der Regen unablässig gegen die Scheibe trommelte. Jason Danridge war sein bester Freund gewesen, der einzige, dem er sich hatte öffnen können. Sie hatten zusammen studiert, dieselben Träume gehabt und ihre Karriere auf zwei völlig unterschiedlichen Gebieten gemacht. Jason hatte schon auf dem College Football gespielt und war anschließend Profispieler geworden. Trotzdem hatten sie viel gemeinsam gehabt. Manchmal fehlte ihm Jason sehr. Aber das ahnte niemand. Wie immer zeigte er seine Gefühle nicht offen. Annie betrachtete Marcus' Rücken und bemerkte die Spannung in seinen Schultern. Instinktiv ahnte sie, daß nicht sie der Grund dafür war. Es mußte am Tod von Kens Eltern liegen. Jede andere Frau hätte jetzt geschwiegen und den richtigen Zeitpunkt abgewartet, bevor sie weitere Fragen stellte. Aber Annie mußte unbedingt noch etwas wissen, um sich ein endgültiges Bild von Marcus zu machen. Er war kein reizbarer Egoist. Es mußte mehr dahinterstecken, viel mehr. „Wie lange ist das her" fragte sie teilnehmend. Ihre leise Stimme drang in sein Bewußtsein, und Marcus - 24 -
antwortete wie von selbst: „Drei Wochen." „Und Sie haben Ken zu sich genommen?" Annie konnte sich kaum vorstellen, daß er das freiwillig getan hatte. „Jason und Linda hatten mich für solch einen Fall zu seinem Vormund bestimmt", sagte er, als erkläre das alles. Marcus erinnerte sich genau an diesen Tag. Sie hatten mehr als ein Glas auf seinen ersten Bestseller geleert, und Jason hatte lachend erklärt, jetzt könne er in Ruhe sterben. Sollte ihm und Linda etwas zustoßen, würde es Ken bei Marcus an nichts fehlen. Marcus hatte lange gezögert. Er hatte gewußt, daß weder Linda noch Jason nähere Angehörige besaßen. Jason war jener Bruder für ihn gewesen, den er nie besessen hatte. Ein Freund fürs Leben. Trotzdem hatte er das Gefühl gehabt, nicht der richtige Mann für solch eine Aufgabe zu sein. Und er hatte es gesagt. Doch Linda und Jason hatten seine Bedenken beiseite geschoben. „Wir haben niemand außer dir, dem wir Ken anvertrauen würden", hatte' Jason feierlich erklärt und war plötzlich völlig nüchtern gewesen. Tief gerührt hatte Marcus zugestimmt, und die beiden hatten ihr Testament so abgefaßt. In seiner Trauer hatte er gar nicht mehr daran gedacht. Einen Tag vor der Beerdigung hatte Jasons Anwalt ihn angerufen, um mit ihm über Kens Zukunft zu sprechen. Und jetzt war der Junge bei ihm, und Marcus hatte. nicht die geringste Ahnung, wie er ihn behandeln sollte. „Die beiden müssen viel von Ihnen gehalten haben", sagte Annie leise und legte die Hand auf Marcus' Arm. Erstaunt über das Mitgefühl in ihrer Stimme, drehte Marcus sich zu ihr. „Ja, wahrscheinlich", murmelte er. Sie nahm ihre Hand fort, denn sie erkannte, daß es ihm unangenehm war. „Sie glaubten, Sie wären in der Lage, ihren - 25 -
Sohn zu erziehen." „Wer sagt, daß ich es nicht bin?" fuhr Marcus sie an. Sie bemerkte den Zweifel in seinem Blick, bevor er sich abwandte. „Niemand", 'erklärte sie fröhlich. Wie in aller Welt waren sie auf dieses Thema gekommen? Marcus wollte nicht über Jason und Linda oder Ken sprechen. Er wollte überhaupt nicht mit dieser Frau reden. Langsam ging Annie zum Garderobenständer und holte ihr Cape. „Stammen Sie aus einer großen Familie, Marcus?" Schon wieder diese Neugier. „Nein, und Sie?" fragte er, ohne nachzudenken. Die Antwort interessierte ihn kein bißchen. „Ich auch nicht." Schwungvoll warf Annie das Cape um ihre Schultern. „Mein Bruder und ich waren allein. Aber ich habe viele Vettern und Cousinen", fügte sie hinzu. Nachdenklich sah sie in die Richtung, in der Ken verschwunden war. „Alle haben inzwischen eigene Kinder. Mein Bruder hatte zwei." Gerade wollte Marcus sie am Ellbogen zur Tür schieben, da drehte sie sich herum und überrumpelte ihn erneut. Das schien langsam zur Gewohnheit zu werden. „Vielleicht kann ich sie einmal mitbringen, damit sie mit Ken spielen." Du liebe Güte, diese Frau übernahm hier tatsächlich das Regiment. „Darüber reden wir noch." Es hatte nur eine Floskel sein sollen, damit sie schwieg. Aber Annie griff den Faden auf. „In Ordnung, morgen, wenn ich wieder da bin." Es klang, als schmiede sie schon den nächsten Plan. „Was morgen betrifft..." Wieder ließ Annie ihn nicht ausreden. „Ich finde, wir sollten lieber bei Ihnen arbeiten anstatt bei mir. Zumindest während der ersten Wochen." Sie ging ins Wohnzimmer und holte ihre Aktentasche. „Vielleicht sind Sie in den eigenen vier Wänden nicht ganz so verkrampft." Marcus hatte den Eindruck, daß eine ganze Handvoll Beruhigungspillen nicht. reichten, um ihn in Annies Nähe zu - 26 -
entspannen. „Um welche Zeit?" fragte er heiser. „Neun Uhr wäre mir recht." Er stand normalerweise um sechs auf. Das gab ihm drei Stunden Zeit, sich für Annie zu wappnen. „Einverstanden." „Dann bis morgen", verkündete sie. Stirnrunzelnd schloß Marcus die Tür. Mit etwas Glück ging die Welt bis morgen unter. Er hoffte es sehnlich. Annie verspätete sich schon wieder. Verärgert ließ Marcus den Vorhang fallen. Hatte er etwas anderes erwartet? Diese Frau machte wahrhaftig keinen zuverlässigen Eindruck. Wenn er es recht bedachte, saß er jetzt wegen des Drehbuchs in einer noch größeren Patsche als bei Vertragsabschluß. Damals hatten Jason und Linda noch gelebt, und er hätte zu seinen Freunden flüchten und seinen Ärger bei ihnen mit einem kühlen Bier hinunterspülen können, falls ihm die Arbeit mit seiner sogenannten Partnerin zuviel wurde. Ruhelos lief Marcus im Wohnzimmer auf und ab. Seit drei Wochen hatte er keine Zeile mehr geschrieben und nur an seinem Schreibtisch gesessen und auf den Bildschirm seines Computers gestarrt. Aber er mußte weitermachen. Schließlich trug er ganz allein die Verantwortung für Ken. Was in aller Welt tat man mit einem siebenjährigen Jungen, der nicht lachte und nicht spielte und nur redete, wenn er gefragt wurde? Marcus hatte nicht die geringste Ahnung, wie er Kens Schmerz lindem sollte. Zu tief saß die eigene Trauer. Vielleicht sollte er das Kind im Herbst in. eine Militärschule schicken. Dort kannte man sich mit kleinen Jungen aus. Zumindest würde er dort eine gewisse Ordnung vorfinden, an die er sich halten konnte. Marcus hörte ein Geräusch an der Tür und blickte über die - 27 -
Schulter zurück. Der Junge hatte den Kopf zur Tür hereingesteckt, verschwand aber sofort wieder. „Ken!" Mit großen Schritten durchquerte Marcus das Zimmer und riß die Tür auf. Ken war nirgends zu sehen. Enttäuscht wandte er sich ab. Ken war schon fast vierzehn Tage bei ihm, und sein Koffer stand immer noch gepackt in der Ecke. Es war, als fühle er sich wie zu Besuch und hoffte insgeheim, seine Eltern holten ihn bald wieder ab. Aber Linda und Jason würden nicht kommen. „Keiner von beiden", murmelte Marcus. Wie gern hätte er dem Jungen das Leben erleichtert, aber er fand nicht die richtigen Worte dafür. Die kamen ihm nur, wenn er schrieb. Und selbst das klappte zur Zeit nicht. Du liebe Güte, wo blieb Annie bloß? In diesem Augenblick läutete es an der Tür. Endlich! Er hörte, wie ein Topf in der Küche abgestellt wurde. „Lassen Sie nur, Holly", rief er. „Ich öffne selber." Mit finsterer Miene riß er die Tür auf. Diesmal würde er der Frau gründlich die Meinung sagen. „Na, stand wieder ein Lastwagen quer, Miss de Witt?" Verblüfft stellte Marcus fest, daß Annie nicht allein war, und seine Wut verflog. Sie hielt zwei Kinder an den Händen. Der Junge war etwas größer als das Mädchen und hatte eine große Einkaufstasche auf dem Arm. Beide Kinder waren zart und blond, und der Junge besaß ein trotzig vorgeschobenes Kinn. Ganz ähnlich wie Annie. Waren das etwa ihre Kinder? Annie öffnete den Mund und schloß ihn wieder, sobald sie Marcus' eindringlichen Blick bemerkte. Ihre Schwägerin Kathy hatte in dem Augenblick angerufen, als sie das Haus verlassen wollte, und sie gebeten, einige Stunden auf Stevie und Erin aufzupassen. Annie lehnte nie ab, wenn ein Familienmitglied ihre Hilfe brauchte. Diesmal hatte sie gezögert und sich vorgestellt, wie - 28 -
Marcus reagieren würde, wenn sie gleich die erste Arbeitssitzung absagte. Dann war ihr Ken eingefallen,, und sie hatte einen Plan gefaßt. Jetzt fürchtete sie allerdings, daß ihr Entschluß doch nicht richtig gewesen war. Marcus sah aus, als würde er ihr am liebsten den Hals umdrehen. Er mußte unbedingt bessere Laune bekommen, wenn sie zusammenarbeiten sollten. „Nein, es stand kein Wagen quer", erklärte Annie und faßte die Hände der Kinder fester. „Im Radio wurde ein Song gespielt, der mir sehr gut gefiel. Deshalb hielt ich an und hörte zu." Er starrte sie ungläubig an. „Das ist doch nicht Ihr Ernst." Das kleine Mädchen versteckte sich ängstlich hinter Annie. Er merkte es und bekam ein schlechtes Gewissen. Und noch etwas stellte er fest. Annie trug weder einen Rock noch eine lange Hose. Sie war wie zu einem Picknick gekleidet und hatte blaue Shorts sowie eine blau-weiß gestreifte Bluse an, die in der Taille geknotet war. Ihre langen schlanken Beine waren golden gebräunt. Sie besaß die schönsten Waden, die er je gesehen hatte. So ging das wirklich nicht. „Nein, das war nicht ernst gemeint. Bitte entschuldigen Sie." Annie bedauerte ihre dumme Antwort aufrichtig. Sie hatte sich über Marcus' Verhalten geärgert und daher das erstbeste gesagt, was ihr eingefallen war. Marcus schüttelte den Kopf. Er wurde aus dieser Frau nicht klug. Angriff ist die beste Verteidigung, überlegte er. Das traf in diesem Fall erst recht zu. Deshalb unternahm er einen weiteren Versuch. „Wenn wir zusammenarbeiten wollen ..." - was die Götter verhüten mögen, fügte er stumm hinzu - „müssen Sie begreifen, daß ich solch eine mangelhafte Arbeitsauffassung nicht dulden kann. Sie sollten schon vor einer halben Stunde hiersein." - 29 -
Annie verspätete sich ungern, und sie ließ sich erst recht nicht gern tadeln. Deshalb hob sie trotzig den Kopf, betrat das Haus und zog die beiden Kinder hinter sich her. „Wieso? Habe ich etwas versäumt?" fragte sie. Marcus warf die Tür hinter sich zu. Sie ging an ihm vorüber und wiegte die Hüften wie die Heldin in seinem letzten Roman. Er versuchte, es nicht zur Kenntnis zu nehmen ohne Erfolg. „Nein, aber ich verliere langsam den Verstand", murmelte er. Er deutete auf die beiden Kleinen. „Wer sind diese Kinder?“ „Schreien Sie nicht so. Sie machen ihnen ja angst." Besänftigend hob sie die Hand. „Mir übrigens auch." Letzteres bezweifelte Marcus entschieden. „Ansonsten sind dies mein Neffe und meine Nichte. Sie wissen sicher noch, daß ich gestern von ihnen erzählt habe." „Ja." Marcus erinnerte sich genau an den gestrigen Tag. Wie ein Alptraum stand er ihm vor Augen. Neugierig betrachtete er die beiden. „Allerdings hatte ich nicht erwartet, daß Sie sie auf der Stelle mitbringen würden." Annie biß sich auf die Unterlippe und fragte sich, wo Ken sein mochte. Sie blickte zur Diele, sah ihn aber nirgends. „Wegen der Kinder komme ich zu spät." Marcus sah die beiden an. Sie betrachteten ihn und sein spartanisches Zimmer neugierig. Zumindest liefen sie nicht wie ihre Tante herum und faßten alles an. Annies flapsige Bemerkung fiel ihm ein. „Die Kleinen, wollten den Song im Radio hören?" Statt gekränkt zu sein, lachte Annie. Es war ein sinnliches Lachen, bei dem ihn ein wohliges Prickeln durchrieselte. Er versuchte, es ebenfalls nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Sehr witzig, Marc Sullivan. Noch ist nicht alle Hoffnung bei Ihnen verloren", meinte Annie vergnügt. Marcus betrachtete den Jungen und das Mädchen, und seine schlechte Laune legte sich. Noch mehr Kinder im Haus. Das - 30 -
hatte ihm gerade gefehlt. Das Mädchen sah ihn mit großen Augen unsicher an. Es mußte ungefähr sechs Jahre alt sein, vielleicht auch Anfang Sieben, und erinnerte ihn an eine Puppe. Der Junge war kräftiger und fast einen Kopf größer. Er hielt seine braune Einkaufstüte mit beiden Armen, umschlungen und stand wie zum Schutz neben seiner Schwester. Das gefiel Marcus. Er mochte keine Leute, die sich leicht einschüchtern ließen. „Weshalb haben Sie..." Marcus' Stimme erstarb, denn ihm fiel ein, was Annie gestern vorgeschlagen hatte. „Ich glaube nicht; daß Ken schon soweit ist, zwei Kinder um sich herum zu ertragen, Miss de Witt." Er bleibt förmlich, dachte Annie. Das mußte sie ihm unbedingt austreiben. „Annie", verbesserte sie ihn. Sie wandte den Kopf und sah Ken, der durch die halbgeöffnete Tür schaute, der Junge hatte gelauscht: „Vielleicht sollte Ken das selber entscheiden. Na, wie ist es, Ken?" rief sie laut. Zögernd kehrte Ken zurück. Annie tat, als merke sie nicht, wie schüchtern der Kleine war. „Ken, ich möchte dir gern Erin und Stevie vorstellen." Sie legte den beiden Kindern die Hand auf die Schultern und schob sie vorwärts. „Ich glaube, ihr drei habt eine Menge gemeinsam." „Wie kommen Sie denn auf die Idee?" fragte Marcus und hatte plötzlich das Bedürfnis, Ken zu beschützen. Was bildete sich diese Frau ein? Zumindest hätte sie ihn fragen müssen, ob sie die Kinder mitbringen dürfe. „Ken, wenn du lieber nicht mit den beiden...“ wollte er dem Jungen aus der Verlegenheit helfen. Doch Annie ließ ihn auch jetzt nicht ausreden. Langsam drehte sie sich zu Marcus, legte den Kopf auf die Seite und schluckte. „Sie haben tatsächlich einiges gemeinsam. Erin und Stevie, haben ebenfalls ihren Vater verloren." Als Marcus bei ihren Worten zusammenzuckte, fuhr sie fort: „Es - 31 -
ist schon einige Jahre her, aber. vielleicht können sie trotzdem darüber reden. Manchmal bleibt einem nur das." Sie wandte sich wieder an die Kinder. „Ken, kannst du irgendwo mit Erin und Stevie spielen, während Mr. Sullivan und ich ein bißchen arbeiten? Du würdest mir einen riesigen Gefallen tun." Zögernd blickte Ken zur Treppe, dann nickte er. „Natürlich", antwortete er ernst. „Ich nehme sie mit nach oben, wenn Sie möchten." Stevie faßte seine Einkaufstüte fester und legte einen Arm um Kens Schultern. „Hast- du Videospiele?" fragte er und gab seiner Schwester ein Zeichen mitzukommen.' „Nein." Stevie dachte einen Moment nach. „Macht nichts. Ich habe meine Dinosaurier dabei. Mit denen können wir auch spielen." Weil Erin ihm zu langsam war, ließ Stevie Kens Schulter los und zog seine Schwester hinter sich her. Annie sah zu, wie die drei die Treppe hinaufstiegen. „Sie werden ihm einige Videospiele besorgen müssen", meinte sie. Diese Frau würde einen guten Feldwebel abgeben, dachte Marcus. „Noch etwas?" „Ja. Etwas mehr Freundlichkeit würde nicht schaden." Als er die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: „Ich weiß, ich bin manchmal ziemlich streng ..." Marcus hielt das für eine gewaltige Untertreibung. „Die Richterskala ist nach oben offen", antwortete er trocken. Annie gefiel es, daß er sich über sie lustig machte. „Eins zu null für Sie. Trotzdem glaube ich, daß wir besser miteinander auskommen, wenn Sie mir nicht jedesmal widersprechen; sobald ich den Mund öffne." „Und was soll ich Ihrer Ansicht nach statt dessen tun?" Plötzlich wußte Marcus es selbst. Er könnte Annie küssen. Nein, das war ein viel zu zahmes Wort. Noch besser wäre es, er nähme sie gleich ganz in Besitz. - 32 -
Wie komme ich denn auf diesen Gedanken? Marcus erschrak heftig. Er wollte Annie doch nur zum Schweigen bringen. Weshalb sollte er mit einer Frau schlafen, die ihm derart auf die Nerven ging? Annie sah ihn mit unschuldiger Miene an. „Nun,. Sie könnten mir zum Beispiel zuhören." Marcus holte tief Luft, denn beim Anblick von Annies grünen Augen hatte er zu atmen vergessen. „Sie meinen also, ich hätte die Wahl?" „Nein", antwortete sie fröhlich. „Das habe ich mir gedacht." Zu seiner eigenen Sicherheit wandte er sich ab. „Sie hätten mich wegen der Kinder anrufen sollen." Marcus hatte recht. Aber Annie war in Eile gewesen. Außerdem hätte es nichts geändert. „Meine Schwägerin Kathy hatte einen Notfall. Sie wußte nicht, wohin mit den beiden. Sie ruft mich nur an, wenn sie am Rand der Verzweiflung ist." „Die Leute rufen Sie nur an, wenn sie verzweifelt sind?" Annie sah Marcus an. Woher kam diese plötzliche Trauer in seinem Blick? „Manchmal tun sie es auch, weil es ihnen Spaß macht." Marcus konnte sich kaum vorstellen, daß jemand freiwillig mit Annie redete. Zuhören mochte noch angehen, aber reden das gab nur Ärger. Sie verließen die Diele. „Ihr Haus gefällt mir, Marc. Darf ich es mir später einmal ansehen?" Marcus überlegte erneut, ob es Sinn hatte, mit Annie zu arbeiten. Noch konnte er einen Rückzieher machen. „Falls es ein Später gibt...“ Sie, warf. ihm einen belustigten Blick zu. „Oh, das wird es.“ Es war paradox: Je ablehnender er wurde, desto entschlossener ging Annie vor. Wie war das möglich? Gehörte sie zu jenen unangenehmen weiblichen Wesen, die sich in alles einmischten? Die Kinder fielen ihm ein, die Annie mitgebracht - 33 -
hatte. „Der Vater der Kinder..." „Mein Bruder?" „Ja. Wie ist er...“ „Gestorben?" Marcus hatte das Gefühl, unfreiwillig an einem Spiel teilzunehmen, in dem er jeweils die Worte eines Partners, ergänzen mußte. „Ja." „Es fällt Ihnen schwer, das Wort auszusprechen, nicht wahr?", fragte Annie mitfühlend. „Es fällt mir schwer, die Tatsache zu akzeptieren", antwortete Marcus, ohne lange nachzudenken. Annie verstand ihn. Sie wußte noch genau, wie ihr beim Tod des Bruders zumute gewesen war und welch eine Lücke er in ihrer Seele hinterlassen hatte. „Mein Bruder starb an Leukämie. Es ging sehr schnell. Wir erfuhren erst ganz zuletzt, wie krank er war. Er hat Glück gehabt." „Glück?" fragte Marcus ungläubig. Wie konnte der Tod ein Glück sein? „Ja", antwortete Annie ruhig. „Normalerweise leiden Leukämiekranke schrecklich. Daniel hatte gerade noch Zeit, jene Dinge zu sagen, auf die es ankam, dann war alles vorbei." Mühsam unterdrückte sie den Schmerz, von dem immer ein Rest bleiben würde. „Ich habe meinem Neffen und meiner Nichte auf dem Weg hierher von Ken erzählt. Vielleicht hilft es ihm, wenn er mit jemandem in seinem Alter redet, der ebenfalls einen geliebten Menschen verloren hat. Derjenige wäre ich gern für Ken gewesen, dachte Marcus. Aber er hatte die richtigen Worte nichtt gefunden. „Vielleicht." Sie lächelte wehmütig. „Diese Antwort betrachte ich als Dankeschön." „So war sie nicht gemeint." „Ich weiß. Ich nehme, was ich bekommen kann." - 34 -
Darauf wäre Marcus jede Wette eingegangen. Er hatte das ungute Gefühl, daß die nächsten sechs Wochen eine harte Prüfung für ihn bedeuteten. Und er war sich nicht sicher, ob er sie bestehen würde.
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3. KAPITEL Annie war da, und Ken war oben beschäftigt. Es gab keine Ausrede mehr, er mußte mit dem Drehbuch beginnen. Plötzlich merkte Marcus, daß er keine Ahnung hatte, wie er vorgehen sollte. Wie arbeitete man mit einem anderen zusammen? Annie wußte es, jedenfalls behauptete sie es. Aber es ging um sein Buch, und er wollte die Kontrolle darüber nicht verlieren. Die, Hände in die Taschen gesteckt, betrachtete er den Baum auf der Vorderseite des Hauses und überlegte, was er sagen sollte. „Sie haben also mein Buch gelesen." Das war eine dumme Bemerkung, denn sie hatte es ihm bereits erzählt: Verärgert schob er die Hände tiefer. Wieder wünschte er, er hätte seine Zustimmung zu dem Drehbuch nie gegeben. Annie hätte Marcus den Anfang gern erleichtert, aber sie wußte nicht recht, wie sie an ihn herankommen sollte. Auf die freundliche Weise klappte es nicht. Es hatte den Anschein, als nähme dieser Mann absichtlich Anstoß an allem, was sie sagte. Sie mußte unbedingt herausfinden, weshalb. „Jedes goldene Wort habe. ich gelesen", antwortete sie. Er betrachtete ihre Antwort als Spott und ärgerte sich darüber. „Dann haben Sie also nichts dagegen, über die Handlung zu reden." Marcus sah Annie an und warnte sie stumm, nur keinen Einwand zu erheben. Ihre Mundwinkel zuckten. Was ist denn jetzt schon wieder so lustig? überlegte er. Das wäre eine Methode, um anzufangen, dachte Annie. Ihre Notizen und ihr tragbarer Personalcomputer lagen zwar im Wagen, aber die konnte sie später noch holen. „Nein, ich habe nichts dagegen." Steif deutete er auf das Sofa. „In Ordnung. Dann sollten wir uns setzen und mit der Arbeit beginnen." - 36 -
Annie setzte sich auf das Sofa. Sie streifte die Sandaletten ab und schlug die Beine unter, wie sie es am Vortag getan hatte. Sie sieht aus, als fühlte sie sich rundum wohl, überlegte Marcus. Leider galt das nicht für ihn. Annie lenkte ihn zu stark ab und verunsicherte ihn. Plötzlich erinnerte er sich nicht einmal mehr an die Handlung seines Buches. Was war mit ihm los? Panik erfaßte ihn. Ohne hinzusehen, setzte er sich ebenfalls und fuhr gleich darauf erschrocken wieder hoch, denn er hatte etwas Weiches berührt. Er räusperte sich und bemerkte ihren belustigten Blick. „Entschuldigung", murmelte er. „Keine Ursache. Es ist ein einfaches physikalisches Gesetz, daß zwei Körper nicht denselben Platz einnehmen können." Ihr Grübchen am Mundwinkel war wieder da, während sie lachte. Sie rutschte in eine Sofaecke und sah zu ihm auf. „Ist es so besser?" Ihr rechter Arm hing lässig über der Lehne, die Beine hatte sie untergeschlagen. Marcus hätte ihr den Hals umdrehen können, weil sie ihn so unschuldig anblickte und dabei sein Blut ins Wallen brachte. Wenn diese sogenannte Zusammenarbeit in irgendeiner Form klappen sollte, mußte er sie als neutrales Wesen betrachten. Besser noch, er hielt sie. für eine Art Herausforderung der Götter - oder seines Agenten. Ergeben setzte Marcus sich auf die Sofakante und sah sie lange eindringlich an. „Weshalb tragen Sie Shorts?" Annie blickte an sich hinab. Sie hatte sich keine Gedanken über ihre Kleidung gemacht. So war sie immer angezogen, wenn sie arbeitete. Nur mit dem Haar hatte sie sich heute etwas mehr Mühe gegeben. „Weil ich mich darin wohl fühle", antwortete sie. Marcus war gekleidet, als hätte er eine offizielle Besprechung. Sein Jackett lag über der Sofalehne. Wahrscheinlich hatte er es gerade erst ausgezogen. „Während Sie sich offensichtlich in - 37 -
Schlips und Kragen wohl fühlen.“ Marcus ging nicht auf ihre Bemerkung ein. „Darum geht es jetzt nicht. Wir sind Profis." Niemand bestritt das. Aber was hatte das mit ihrer Kleidung zu tun. „Na und?" Annie stichelte schon wieder. Wie konnte er mit ihr zusammenarbeiten, wenn sie sich ständig stritten? „Ich finde, wir sollten uns auch entsprechend kleiden." Er hatte immer einen gewissen Halt in den Sitten und Gebräuchen gefunden. Annie begriff immer noch nicht, worauf Marcus hinauswollte. „Wie die Mannequins?" „Ärgern Sie mich absichtlich?" „Nein, nicht absichtlich. Hören Sie..." Sie reichte hinüber und legte die Hand auf Marcus' Arm. „Ich glaube, wir kommen besser miteinander aus, wenn wir uns etwas lockerer geben." Sie sprach bewußt in der Mehrzahl, um höflich zu bleiben, aber Marcus wußte, daß er gemeint war. „Erlauben Sie?" Sie faßte seine Krawatte. „Mein Vater behauptete, dieses Ding wäre eher eine Schlinge als ein modisches Accessoire." Ohne Marcus aus den Augen zu lassen, löste sie den Knoten. „Es unterbindet nur den Blutkreislauf zum Gehirn." Marcus hielt ihre Hände fest. Sie waren so klein und zart. Richtig zerbrechlich. „Mein Kreislauf ist völlig in Ordnung", stellte er fest. Außer, wenn es um Sie geht, fügte er stumm hinzu. „Können wir diese Spielerei jetzt lassen und mit der Arbeit beginnen?" Ergeben hob Annie die Hände und spreizte die Finger. Die Krawatte hing locker an seinem Hals. „Deshalb bin ich ja hier." „Gut zu wissen“, murmelte er und rückte die Krawatte wieder zurecht. Es stimmt, dachte er plötzlich. Das Ding ist wirklich zu eng. Aber das wollte er jetzt gewiß nicht zugeben. Annie neigte lächelnd den Kopf zur Seite. Er würde ihr das Lächeln schon austreiben und... Marcus dachte den Satz vorsichtshalber nicht zu Ende. Er - 38 -
holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Jetzt fühlte er sich schon besser. Entschlossen hob er den Kopf. „Die Geschichte beginnt mit..." Annie sah ihn mit großen Augen an. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wolle sie genießen, was er zu sagen hatte. Aber er bekam, keinen Ton mehr heraus. Zu seinem Entsetzen war sein Kopf restlos leer. Aufmerksam beugte Annie sich vor und legte die Hände auf die Knie. Sie schien den kleinen Raum um ihn herum ganz auszufüllen. Wie hatte der Abstand zwischen ihnen verschwinden können? Marcus erinnerte sich nicht, näher an Annie herangerückt zu sein. ,,Ja?" fragte sie und nahm an, daß Marcus bewußt zögertet um sie auf die Probe zu stellen. Er wollte unbedingt erreichen, daß sie die Zusammenarbeit von sich aus aufgab. Das hätte sie auch ohne Richards Vorwarnungen gemerkt. Marcus war es noch nie so schwer gefallen, seine Gedanken zusammenzuhalten und sich auf etwas zu konzentrieren, obwohl ihm das zur zweiten Natur geworden war. Daß es diesmal nicht klappte, mußte an Annie liegen, auch wenn er nicht begriff, weshalb. „Beantworten Sie mir bitte eine Frage." „Ja, gern. Was möchten Sie wissen?' Er war am Ende seiner Geduld. „Sind Sie eine Strafe der Götter?" Noch nie hatte ihn jemand derart zur Weißglut gebracht. „Nein." Schelmisch sah sie ihn an. „Haben Sie denn eine erwartet?“ Wenn ein Mann eine Retourkutsche verdient hatte, dann er. Seine Verärgerung wuchs. Allerdings wußte Marcus nicht, auf wen er wütender war: auf Annie oder auf sich, weil er so heftig auf sie reagierte. „Nein, ich erwartete eine Schriftstellerin." - 39 -
Annie breitete die Hände aus. „Nun, die haben Sie ja bekommen." „Durchaus nicht. Bekommen habe ich entsetzliche Kopfschmerzen, die die nächsten sechs Wochen garantiert nicht wieder vergehen werden." Marcus räusperte sich erneut. Was nützte es, wenn er mit Annie stritt? Er betrachtete ihre gebräunten Beine. „Würden Sie morgen bitte eine lange Hose anziehen?" Sie lächelte befriedigt. „Lenken die Shorts Sie ab?" „Nein", erwiderte er und war sicher, daß Annie ihn längst durchschaut hatte. „Ja." Annie dachte über seine Worte nach. „Also lenken sie Sie halb ab. Das freut mich. Es macht Sie menschlich." Im Moment viel zu menschlich, dachte Marcus, und das durfte nicht sein. Vorsichtig legte sie die Hand auf seinen Unterarm und spürte, wie er erstarrte und sich anschließend große Mühe gab, seinen Körper wieder zu entspannen. Es war schön, solch eine Wirkung auf diesen Mann zu haben. Etwas an Marcus ließ ihr keine Ruhe. Das war gestern schon so gewesen, als sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Noch wußte sie nicht, was es war. „Wollen Sie mir nicht erst einmal Ihr Haus zeigen? Vermutlich werden Sie dann etwas lockerer." Marcus konnte sich gerade noch zusammenreißen. „Ich wünschte, Sie würden aufhören, mich ständig zu analysieren." „Ich analysiere Sie nicht", verbesserte sie ihn, „sondern versuche, Ihnen zu helfen." „Wenn Sie mir wirklich helfen wollen..." Kommen Sie bitte nicht wieder, hätte er beinahe gesagt. Aber das ging nicht. Deshalb griff er zur zweitbesten Antwort: „Ziehen Sie bitte in Zukunft etwas Passenderes an." „Morgen komme ich in Sack und Asche", versprach Annie und hob ergeben die Hände. - 40 -
Manche Kriege werden gewonnen, indem man den Rückzug antritt und den Kampf auf den nächsten Tag verschiebt, überlegte Marcus. Er brauchte unbedingt Zeit, um wieder klar denken zu können. „Kommen Sie, ich führe Sie herum." Annie reichte ihm die Hand, und er ergriff sie instinktiv. Die seltsamsten Gefühle durchrieselten ihn, während sie die Finger mit seinen verschlang. Sein Körper straffte sich und begann leise zu beben. Annie war viel zu nahe. Er roch den zarten weiblichen Duft ihrer Haut. Alle seine Sinne öffneten sich angesichts der Ausstrahlung, die von dieser Frau ausging. Obwohl Annie in Gedanken vermutlich ganz woanders war, strahlte sie eine ungeheure Sinnlichkeit aus: Selbst wenn Marcus vor sich hinbrütet sieht er gut aus, überlegte Annie. Vielleicht sogar besser als sonst. „Sie sind richtig süß; wenn Ihre Nasenflügel sich so blähen", stellte sie fest. Vorsichtig machte Marcus sich los und ließ ihre Hand fallen. „Ich hatte keine Ahnung, daß sie das tun." „Sie tun es." Kameradschaftlich legte sie ihm die Hand auf die Schulter. Sie war solch einen Widerstand nicht gewohnt. Die Leute mochten sie. Sie wollte doch nur gut Freund mit Marcus sein. Nein, das stimmt nicht, verbesserte die innere Stimme sie. Sie wollte mehr. Aber zuerst brauchte sie Freundschaft und Vertrauen. Alles andere nützte nichts, wenn man sich nicht gegenseitig vertraute. „Ich beiße nicht, Marc." Er zog die Augenbrauen zusammen. „Davor kann ich Sie auch nur warnen: Ich bin giftig." Unsere Zusammenarbeit wird sehr, sehr anregend werden, dachte Annie. Marcus würde sie auf Trab halten, und das gefiel ihr. Er interessierte sie als Schriftsteller und als Mann. Sie lächelte unbewußt, und ein bittersüßes Gefühl erfaßte sie. Doch sie verdrängte es sofort. Jetzt war nicht der richtige - 41 -
Augenblick dafür. „Kommen Sie. Zeigen Sie mir Kens Zimmer", forderte Annie Marcus auf und ergriff erneut seine Hand. Ihre Miene verriet ihm, daß Annie die Situation richtig genoß. Offensichtlich fühlte sie sich rundum wohl. Plötzlich merkte er, daß sein Unbehagen und seine Teilnahmslosigkeit verschwunden waren. Zumindest das hatte sie erreicht. „Hier entlang." Holly kam in dem Augenblick aus der Küche, als sie die Diele betraten. Sie sah, daß Marcus und Annie sich an den Händen hielten, doch sie verzog keine Miene. „Wie viele Personen werden zum Lunch hiersein, Mr. Sullivan?" erkundigte sie sich. Marcus machte sich sofort los. „Haben Sie vor zu bleiben, Annie?" fragte er. Bis zum Mittag waren es nur noch gut zwei Stunden. „Ich glaube, das wäre nicht schlecht", antwortete Annie nachdenklich. „Vielleicht könnten wir mit den Kindern essen." Erwartungsvoll legte sie den Kopf auf die Seite. Die Mahlzeiten mit Ken waren bisher quaivoll ruhig und förmlich verlaufen. Vielleicht würden diese Frau und die Kinder, die sie mitgebracht hatte, das Eis brechen. Wie Ken wohl mit den beiden zurechtkam? Hoffentlich besser als er mit Annie. „Wir werden zu fünft sein, Holly", antwortete Marcus endlich. Holly nickte und kehrte in die Küche zurück. „Wissen Sie was, Marc", sagte Annie und hängte sich bei ihm ein. „Noch ist nicht alles für Sie verloren.“ Wieder hing sie an ihm. Diese Frau war ja lästiger als eine Klette. „Vielen Dank für das Kompliment.“ Sie ging nicht auf seinen kühlen Tonfall ein. „Gern geschehen." Annie war einfach unmöglich. Marcus wußte beim besten - 42 -
Willen nicht, weshalb er unwillkürlich lächeln mußte. Aber es tat ihm gut. Ebenso gut wie ihre Hand auf seinem Arm. Als sie den Treppenabsatz erreichten, scholl ihnen Kinderlachen entgegen, und Marcus sah Annie verblüfft an. ,,Ist das Ken?" fragte sie und kannte die Antwort im voraus. Stevie lachte wie ein junger Eichelhäher, und Erin kicherte beinahe lautlos. „Ich weiß nicht-recht:" Als fürchtete er, er könnte sich irren, ging Marcus langsam den Flur entlang. „Er muß es sein." Mit dem Kopf gab Annie ihm ein Zeichen, die Tür, zu Kens Zimmer zu öffnen. Die drei Kinder lagen auf dem Boden und spielten mit den Dinosauriern, ohne die Stevie nie aus dem Haus ging. „Das ist ein Fleischfresser", erklärte der Junge und deutete auf die Figur, die Ken für Marcus und Annie in die Höhe hielt. „Aber ich kann ihm davonfliegen." Zum Beweis ließ er seinen Saurier durch die Luft gleiten. Um nicht zurückzustehen, verkündete Erin rasch: „Und ich bin eine Prinzessin." Stevie runzelte die Stirn. „Damals gab es noch keine Prinzessinnen", wies er seine Schwester zurecht. „Sie kann ruhig eine Prinzessin sein, wenn sie will", meinte Ken besänftigend. „Vielleicht eine Höhlenprinzessin." Annie lächelte. Ken war tatsächlich ein so gutherziger Junge, wie sie vermutet hatte. Erin gefiel Kens Vorschlag, und Stevie willigte zähneknirschend ein. Er bereitete schon den nächsten Angriff mit seinem Flugtier vor. „Wir sehen uns beim Lunch", sagte Annie zu den Kindern: Sie zog Marcus am Arm und nickte in Richtung Flur. Er folgte ihr, verblüfft und erleichtert zugleich. „Sie wußten, daß es so kommen würde, nicht wahr?" Annie nickte. „Ich habe es zumindest gehofft. Wenn es einem schlecht geht, braucht man jemanden, mit dem man - 43 -
darüber reden kann. Also bat ich Stevie, Ken von seinem: Vater zu erzählen und einmal zu überlegen, wie er den Jungen ein bißchen aufheitern könnte. Sie paßte sich Marcus' Schritt an. „Stevie nahm diese Aufgabe sehr ernst. Deshalb hoffte ich, daß es klappen würde. So einfach war das." „Ja so einfach." Mit Annie war das nicht so leicht. „Hier ist mein Schlafzimmer", fuhr Marcus fort. Unbehaglich öffnete er die Doppeltür und beobachtete ihr Gesicht. Annie schaute nicht nur hinein, sondern betrat entschlossen den Raum. Marcus hatte das Gefühl, daß sie ihn beinahe in Besitz nahm. Die Hände auf die Hüften gestützt, sah sie sich neugierig um. Ich hätte es aus einem Dutzend Zimmern herausgefunden, dachte Annie. Es paßte genau zu Marcus. Alles war sehr sauber und sehr ordentlich. Jede Falte der schwarzen Vorhänge mit dem kühnen Blumenmuster fiel korrekt. Das französische Bett mit dem passenden Überwurf war gemacht, viele Kissen lagen in exakt demselben Abstand am geschnitzten Kopfteil. Kein Hausschuh war zu sehen, keine Krawatte hing herum, keine gewechselte Wäsche lag auf der Kommode. Dies war kein Schlafzimmer, sondern ein Raum aus einem Museum. Freudlos und Ehrfurcht einflößend. Annie mußte an das Durcheinander in ihrem eigenen Schlafzimmer denken. „Schlafen Sie hier wirklich?" Marcus blieb auf der Schwelle stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Natürlich. Weshalb?" Am liebsten hätte Annie die Schranktüren aufgerissen, um sich zu überzeugen, daß die Kleidung der Größe nach aufgehängt war. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mensch so ordentlich ist." Wenn Annie es aussprach, wurde aus der Tugend ein Übel. „So etwas ist angeboren." „Muß es wohl." Sie drehte sich zu ihm. „Ich selbst lebe in - 44 -
einem mittleren Chaos." Nicht nur das, dachte Marcus. Sie verbreitete es auch um sich herum. „Nur in einem mittleren?" fragte Marcus. Zum ersten Mal erkannte Annie eine Art von Belustigung in seinem Blick. Das war eine Wende zum Besseren. Selbst schlecht gelaunt war Marcus schon sexy. Jetzt wirkte er geradezu unwahrscheinlich anziehend. „Sie haben recht", gab sie zu. „Es ist nicht nur ein mittleres." Sie kehrte auf den Flur zurück. „Trotzdem finde ich alles wieder. Wenn ich mich nicht ständig darum kümmern muß, ob alles ordentlich ist, habe ich viel mehr Zeit für andere Dinge." „Mir fällt es nicht schwer, beides miteinander zu verbinden.“ Marcus zeigte ihr das Gästezimmer, aber sie sah kaum hinein, sondern beobachtete ihn aufmerksam. „Das bezweifle ich nicht." Zumindest äußerlich traf das wohl zu. Niemand kann so ordentlich und so beherrscht sein, ohne eines Tages zu explodieren, dachte Annie. Ob sie dann gerade hier sein würde? Ein Schauer durchrieselte sie bei dem Gedanken. Gewiß kamen eine Menge Gefühle und Empfindungen an die Oberfläche, wenn Marcus sich endlich gehen ließ. Er war ein leidenschaftlicher Mann. Das ging aus seinen Büchern eindeutig hervor. Niemand konnte schreiben wie er, wenn er nicht tief im Herzen so empfand. Weil Annie ihn dazu aufforderte, zeigte ihr Marcus das ganze Haus. Sie sah sich Zimmer für Zimmer an, stellte Fragen und nickte ein paar Mal, als stimme sie einem Gedanken zu, der ihr gerade gekommen war. Die Stille wurde Marcus langsam peinlich. Er wollte wissen, was in Annies chaotischem Kopf vorging. Vorgewarnt ist gut, gewappnet, sagte er sich. Und er mußte so gut wie möglich gegen diese Frau gewappnet sein. - 45 -
Weshalb war es so wichtig, wie die Zimmer eingerichtet waren und ob er das Mobiliar ausgewählt hatte? Natürlich hatte er sich selber darum gekümmert und sich nicht auf einen Innenarchitekten verlassen. Auch das hatte sie geahnt. „Wie kommen Sie darauf?" fragte Marcus, während sie ins Wohnzimmer zurückkehrten. „Ganz einfach. Sie sind kein Mensch, der anderen solche Entscheidungen überläßt. Sie möchten selber die Kontrolle behalten." Zumindest das hatte sie begriffen. „Vergessen Sie das nie", riet er ihr, auch wenn wenig Hoffnung darauf bestand. „Ich werde es versuchen." Sie betonte das letzte Wort. Marcus war ziemlich sicher, daß es bei diesem Versuch blieb. „In Ordnung, wir haben das Haus besichtigt. Jetzt sollten wir uns endlich an die Arbeit machen." „Wie Sie wünschen." Annie ging in Richtung Haustür. „Wo wollen Sie hin?" rief er hinter ihr her. „Schnell etwas holen." Kurz darauf war Annie mit ihrer Aktentasche in der einen und einem tragbaren PC in der anderen Hand zurück. Marcus nahm ihr den Computer ab und führte sie in sein, Arbeitszimmer. „Sie sind ja plötzlich so liebenswürdig", meinte er. Das Mißtrauen war ihm deutlich anzuhören. Er glaubte nicht, daß Annie sich kommentarlos seinem Wunsch beugen würde. Das Arbeitszimmer war ebenfalls sauber und ein bißchen streng. Der Duft nach Leder, Holz und Politur milderte diesen Eindruck zwar, trotzdem wirkte der Raum genauso unberührt wie das restliche Haus. Wäre der Computer nicht gewesen, hätte Annie niemals erraten, daß Marcus hier arbeitete. Vorsichtig legte sie ihre Aktentasche auf eine Ecke des Schreibtischs und öffnete den Reißverschluß. „Ich bin immer liebenswürdig." - 46 -
„Das ist mir neu", murmelte er und stellte ihren Computer neben seinen. Ihr tragbares Gerät wirkte beinahe wie ein Spielzeug neben seiner soliden Profi-Anlage. Eigentlich, passen die Computer nicht zusammen, stellte er fest. Doch sie stammten vom selben Hersteller und sollten sich gegenseitig ergänzen. Vielleicht war das ja ein gutes Omen. Ich bin ungerecht gegenüber Annie, überlegte Marcus, aber er konnte es nicht verhindern. Tief im Inneren ahnte er, daß sein Leben nie mehr so wie früher sein würde. Neugierig betrachtete er die Blätter, die Annie in einem unordentlichen Stapel auf den Schreibtisch legte, und unterdrückte das Bedürfnis, sie sauber auszurichten. „Was ist das?" fragte er. „Das sind meine Notizen", antwortete sie fröhlich und drehte einen Stuhl so, daß er seinem gegenüberstand. In diesem Augenblick erkannte Marcus, daß er nicht nur Gefahr lief, sein früheres Leben aufzugeben. Es passierte bereits.
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4. KAPITEL Annie hatte ihn gestern ganz schön auf Trab gebracht, das mußte Marcus zugeben. Sie hatte ihm keine Zeit gelassen, darüber nachzudenken, ob er unter einer typischen vorübergehenden Schreibblockade litt oder nie eines kreativen Gedankens mehr fähig sein würde. Bis zum Abend waren ihm ein Dutzend Möglichkeiten eingefallen, diese Frau schnellstens wieder loszuwerden. Wenn das nicht kreativ war... Den ganzen Nachmittag hatten Annie und er sich gestritten. Es hatte den Anschein, als könnten sie sich über keinen einzigen Punkt einigen. Doch obwohl er sich anfänglich furchtbar geärgert hatte, war er abends richtig erfrischt gewesen. Als mache ihm die Spannung zwischen ihnen langsam Spaß. Nein, das ist nicht. richtig ausgedrückt, überlegte Marcus und rutschte unbehaglich auf dem Beifahrersitz neben Richard hin und her. Wie würde er diese Situation in einem Buch beschreiben? Es war keine normale Spannung - sie war sexuell. Das war nicht möglich. Marcus erstarrte innerlich. Doch wenn er ehrlich war... Richard und er waren auf dem Weg zu den Shalimar Studios, und er versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Wenn er es genau bedachte, war die Zusammenarbeit mit Annie gar nicht so schlimm gewesen, wie er befürchtet hatte. In ihrer chaotischen Art hatte sie einige ganz vernünftige Vorschläge gemacht. Marcus ärgerte nur, daß er ohne sie vermutlich nichts erledigt hätte. Sie war jener Ansporn, den er leider brauchte das Feuer, das ihn in Schwung brachte. Trotzdem wollte er nicht ständig auf der Hut sein, und es gefiel ihm erst recht nicht, daß er sein Werk vor den „kreativen Beträgen" eines Produzenten schützen mußte, der den Film als - 48 -
sein Eigentum betrachtete. Zu viele Köche verdarben bekanntlich den Brei. Richard hielt seinen Bentley vor dem Tor des Studios an. Ich sehe immer noch nicht ein, weshalb ich mitkommen soll, Richard", sagte Marcus zu seinem Agenten. „Schließlich zahle ich Ihnen zehn Prozent." Richard zeigte seinen Ausweis vor und wurde von einem Aufseher hineingewunken. Er schob seine Brieftasche ins Jackett zurück und antwortete: „Ich finde, Sie sollten den Mann kennenlernen, der Ihr Konto so prächtig auffüllen wird. Nun tun Sie mir den Gefallen und machen Sie ein freundliches Gesicht." Das war noch lange kein Grund, bei dem Gespräch anwesend zu sein. Erneut rutschte Marcus unbehaglich hin und her und wünschte, er wäre wieder in seinem Arbeitszimmer. „Meine Leser sorgen ebenfalls dafür, daß ich immer Geld in der Tasche habe. Trotzdem habe ich nicht das Bedürfnis, jeden einzelnen von ihnen kennenzulernen. Der rothaarige Mann lächelte einen Moment, dann wurde er wieder ernst. „Sie würden sicher anders darüber denken, wenn es sich um solch eine geradezu unanständige Summe handelte." Marcus dachte an seine schwierigen Anfangsjahre, als er noch mit einer Mahlzeit pro Tag auskommen mußte. „Geld ist niemals unanständig, Richard." Zumindest in diesem Punkt stimmte sein Agent mit ihm überein. „Wie recht Sie haben." Eine blonde Frau im Haremskostüm tauchte vor ihnen auf. Sie lehnte den Kopf zu einem großen muskulösen Mann und scherzte mit ihm. Marcus mußte unwillkürlich an Annie denken und fragte sich, weshalb. Es war schwierig genug, während der Arbeitszeit mit ihr auszukommen. Er brauchte sich nicht auch noch in der Freizeit mit ihr zu beschäftigen. Richard brachte seinen Bentley, auf den er sehr stolz war, vor einer eleganten einstöckigen spanischen Hazienda inmitten - 49 -
des Studiogeländes zum Stehen und drehte sich zu Marcus. „Also heraus mit der Sprache", forderte er seinen Klienten auf. „Seit ich Sie abgeholt habe, haben Sie noch kein Wort über Annie gesagt. Spielen Sie nicht den Eigensinnigen, dafür kenne ich Sie viel zu gut. Wie ist es gestern gelaufen?" Marcus mußte, daran denken, daß Annie ihm den ganzen Tag ins Wort gefallen war. „Sagt Ihnen der Ausdruck organisiertes Chaos etwas?" Richard zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wenn ich recht verstehe, lief es also nicht besonders gut." Kopfschüttelnd stieg er aus dem Wagen. Marcus schlug die Wagentür zu und ging mit seinem Agenten zum Eingang der Hazienda. „Das kommt darauf an." Richard läutete. Die ersten Takte des Titelsongs von „The Alamo" tönten aus dem Haus. „Worauf?" „Wie wenig Sie unter dem Wort ‚gut’ verstehen." „Sie übertreiben schon wieder." Marcus lachte kurz auf. „Das wäre in diesem Fall unmöglich." Ein Assistent von Addison Taylor; ein schlanker, intelligent aussehender Mann, der ganz in Braun gekleidet war, öffnete die Tür, begrüßte sie und bat sie herein. Gerade überquerte Marcus die Schwelle, da eilte jemand atemlos hinter ihm her. Ohne sich umzuwenden, wußte er, wer es war. „Hallo!" Annie strahlte Richard an und schob sich zwischen die beiden Männer. „Habe ich etwas verpaßt?" Die Frage galt Marcus, der sie gestern wegen ihrer Unpünktlichkeit getadelt hatte. Er warf seinem Agenten einen vorwurfsvollen Blick zu. „Sie haben mir nicht gesagt, daß Annie ebenfalls anwesend - 50 -
sein würde." Richard hob die Schultern in dem teuren Designerjackett und senkte sie wieder „Sie haben mich nicht danach gefragt." Addison Taylors Assistent führte sie einen breiten Flur erstlang, dessen Wände mit Fotos aller berühmten Schauspieler bedeckt waren, die je in einem Addison-Taylor-Film mitgewirkt hatten. Alle trugen eine persönliche Widmung. Annie sah zu Marcus auf. „Ich bin Ihre andere Hälfte. Haben Sie das vergessen?" Sie mußte sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten, und betrachtete Marcus neugierig. Er trug einen perlgrauen Anzug mit einem hellblauen Hemd und eine Krawatte von der Farbe seiner Augen. „Hübscher Anzug", stellte sie fest. Sie hatten inzwischen das riesige fensterlose Vorzimmer erreicht, in dem sich ein großer runder Schreibtisch mit drei Sekretärinnen befand. „Ihnen scheint es auch gutzugehen, Richard." „So gut das möglich ist, wenn sich zwei hochbezahlte Kunden von mir gegenseitig an die Gurgel gehen." „Bitte in der Einzahl, Richard. Ich habe nicht die Absicht, jemandem an die Gurgel zugehen. Leider hat Marc immer noch Schwierigkeiten, seine Vorurteile abzulegen." „Bitte, warten Sie hier", bat der Assistent und verschwand in einem Büro. „Meine Vorurteile?" wiederholte Marcus ungläubig. „Nun, ich habe keine", antwortete Annie mit unschuldiger Miene. „Mir macht es nichts aus, mit jemandem zusammenzuarbeiten. Wie geht es Ken?" fügte sie rasch hinzu. Ziemlich geschickt, dachte Marcus und bewunderte Annie beinahe. „Es geht ihm gut." „Das freut mich. Stevie und Erin würden sich freuen, wenn er sie besuchen würde." „Ich habe nichts dagegen." Er blickte auf Madison Taylors verschlossene Tür und fragte sich, wie lange er hier noch stehen mußte, bevor er mit einer Ausrede verschwinden - 51 -
konnte. „Und wann?" Die Frage kam unerwartet. „Was wann?" „Wann kann Ken herüberkommen?" Marcus zuckte mit den Schultern. Er hatte geglaubt, Annie mache nur zwanglos Konversation, während sie warteten. Er hätte es besser wissen müssen. Sie tat nichts ohne Grund. „Brauchen Sie die Antwort sofort?" „Das wäre nett." Marcus blickte unschlüssig drein. „Ich weiß es nicht." Annies Miene verriet ihm, daß sie eine genauere Zeitangabe wünschte. „Sagen wir Sonnabend." „In Ordnung. Ich hole ihn ab." „Meinetwegen. Weshalb grinsen Sie so?" fuhr er Richard plötzlich an. Abwehrend hob der Agent seine Hände, die für einen so kleinen Mann erstaunlich groß waren. „Oh, aus keinem besonderen Grund. Ich habe noch nie einen Film mit Katharine Hepburn und Spencer Tracy im Alltag erlebt, das ist alles.“ „Was soll das denn heißen?" wollte Marcus wissen. Waren denn alle verrückt geworden? „Sehen Sie sich einen an, dann werden Sie es verstehen, mein Lieber." Ich muß den Agenten wechseln, dachte Marcus. Wenn er dieses Spiel noch lange mitmachte, landete er garantiert auf der Couch eines Psychiaters. Der unauffällige Assistent kehrte zurück und ließ die Tür offen. „Mr. Taylor bittet Sie, hereinzukommen", erklärte er. „Na endlich", murmelte Marcus spöttisch und ging an dem jungen Mann vorüber. Annie hakte sich bei ihm ein. „Sind Sie gegen Tollwut geimpft, Marc?" fragte sie süßlich. „Wieso? Wollen Sie mich beißen?" erwiderte er schlagfertig. - 52 -
Sie lachte herzlich. „Eins zu null für Sie. Weshalb hatte ihr Lachen bloß solch eine Wirkung auf ihn? Hatte er nicht ohne Annie schon genügend Probleme? Jasons und Lindas Tod, Ken, seine Blockade beim Schreiben,... Mußte er unbedingt mit einer Frau zusammenarbeiten, die aussah, als sollte sie lieber in einem Bikini am Strand liegen? In einem kleinen dunkelroten Bikini... Marcus verdrängte das Bild, bevor er sich völlig zum Narren machte. „Sie atmen ja plötzlich so schwer", flüsterte Annie. Er blickte starr geradeaus. „Es ist ziemlich schwül." Sie sah Marcus wissend an. „Das wird gleich noch schlimmer.“ Annie ließ seinen Arm los und ging zu dem dünnen, knochigen. Mann, der hinter einem glänzenden schwarzen Schreibtisch saß. „Tag, Addison.“ Der Produzent trug eine runde schwarzgeränderte Brille und erhob sich leicht. Mit beiden Händen ergriff er ihre Hand. „Annie, Sie werden jeden Tag hübscher." Seine Herzlichkeit klang echt. Marcus betrachtete die junge Frau. Sie trug ein hübsches weißes Kostüm mit engem Rock und einer leuchtend roten Seidenbluse: Als brauche sie Farbe, um in Schwung zu kommen. „Sie kennen sich?" fragte er. Annie blickte über die Schulter zurück, und Addison ließ sie los. „Natürlich." Wieso hatte er etwas anderes angenommen? Marcus ermahnte sich, nicht die Geduld zu verlieren. Je früher dieser Besuch vorüber war, desto schneller saß er wieder an seinem Arbeitsplatz. Er reichte Addison die Hand. Für solch einen kleinen Mann besaß Taylor einen erstaunlich festen Händedruck. „Ich bin Marcus Sullivan." „Ich weiß. Wenn er lächelte, sah Addison Taylor wie ein - 53 -
Junge aus, der einen Erwachsenen spielte. „Schließlich muß ich Ihnen eine Menge Geld zahlen." Marcus sah Richard fragend an, und der lächelte geduldig zurück. Nichts konnte den Agenten erschüttern. Addison deutete auf die blauen Brokatstühle vor seinem Schreibtisch. Annie nahm den Stuhl, der dem Produzenten gegenüberstand. Das Zentrum des Sturms, dachte Marcus. „Dieses Treffen findet vor allem Ihretwegen statt, Marcus", begann Addison das Gespräch. Marcus straffte sich innerlich. Weshalb? überlegte Annie. Erwartete er einen Angriff? Was für ein schreckliches Leben, ständig auf der Hut zu sein und das Schlimmste zu befürchten. Ob Marcus immer so gewesen war? Oder hatte ihn ein bestimmtes Ereignis so mißtrauisch gemacht? Sie hörte kaum zu, was Addison sagte. Viel mehr interessierte sie der Mann, der jetzt rechts von ihr saß. „Ich möchte die Leute kennenlernen, mit denen ich arbeite", fuhr Addison fort, „und meine Gedanken mit ihnen austauschen.“ Addison Taylor sprach von Leuten, mit denen er arbeitete, und nicht von Menschen, die für ihn arbeiteten. Das gefiel Marcus; und er korrigierte seine Meinung über den Mann ein wenig. Allerdings wollte Addison seine Gedanken mit ihm austauschen. „Über den Roman, nehme ich an", antwortete Markus vorsichtig. ,,Nein, gewiß nicht. Über das Drehbuch", verkündete Addison lebhaft und rieb sich unbewußt die Hände. „Der Roman gehört Ihnen allein. „Den Film...“ Er beugte sich in seinem dickgepolsterten Sessel vor und sah das Trio an. „Den Film machen wir dagegen zu dritt." Annie merkte, daß Marcus die Vorstellung, seine Geschichte gehöre allen, nicht gefiel. Eine winzige Falte - 54 -
bildete sich über seiner Braue, und seine Miene wurde härter. Auf keinen, Fall darf es jetzt zu einem Streit kommen, überlegte sie. Obwohl Addison Taylor ein genialer Geschäftsmann war, konnte das passieren. Er besaß einen eisernen Willen und erwartete, daß man seiner Meinung zustimmte. „Über dem Titel des Films wird mein Name stehen", fuhr der Produzent fort und beschrieb mit den Händen ein unsichtbares Banner. „Deshalb werden Sie verstehen, daß ich erheblich mehr als nur Geld in dieses Projekt investiere." „Ja, sicher", sagte Marcus. Er begriff nur allzu gut, war aber nicht bereit, klein beizugeben. Manche Dinge mußten von vornherein klargestellt werden, gleichgültig, welche Folgen es hatte. „Ich, verstehe durchaus." Er blickte nach links. Annie hatte die Hand auf seinen Arm gelegt, als könnte sie ihn mit dieser kleinen Geste besänftigen. „Ich habe die Unterlagen mit Ihren Wünschen bekommen, Addison", mischte sie sich in das Gespräch, bevor die Männer zu streiten begannen. „Natürlich werden wir sie berücksichtigen." Inständig bat sie Marcus mit ihren, Blicken, unbedingt zu schweigen. „Aber meinen Sie nicht, daß Sie erst einen Entwurf des Drehbuchs haben sollten, bevor wir weiter darüber diskutieren?" „Weiter?" wiederholte Marcus. „Wir haben bisher...“ „Wir haben", unterbrach Annie ihn. „Sie vielleicht", verbesserte er sie. Ihm gefiel schon nicht, wenn man in seiner Gegenwart über seine Arbeit redete - hinter seinem Rücken mochte er es erst recht nicht. Der Druck verstärkte, sich. Annie preßte seine Handfläche fest auf die geschnitzte Armlehne. „Derzeit bin ich ein Teil dieses „Wir"', erinnerte sie ihn leise. Aber nicht mehr für lange, wenn ich es verhindern kann, dachte Marcus, „Da ist noch etwas..." „Wofür er Ihnen danken möchte", fiel Richard ein und - 55 -
übernahm Annies Rolle. Er kannte die Gefahrenzeichen bei Marcus besser als sie. „Marcus hatte keine Ahnung, was die Zusammenarbeit mit einer Partnerin bedeutet, und findet..." „...daß Sie eine hervorragende Wahl getroffen haben", ergänzte Annie. „Wie immer," Addison Taylor verzog seine schmalen Lippen zu einem breiten Lächeln, das seine Jungenhaftigkeit unterstrich. Das Produkt meines Geistes befindet sich in den Händen eines Teenagers, dachte Marcus entsetzt. „Nun, nachdem alles seinen geregelten Gang geht und Sie meine Unterlagen haben, brauche ich mich wohl nicht zu wiederholen. Wenn keiner von Ihnen etwas dagegen hat, werden wir unsere Zusammenkunft beenden. Ich erlebe zur Zeit eine Komödie in Studio 6, die alles andere als komisch ist." Addison stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Zu Marcus' Überraschung war er kaum größer als Annie. Wieder reichte ihm der Produzent die Hand. „Nett, Sie endlich kennengelernt zu haben, Marcus. Ich bin seit langem ein Fan von Ihnen." Marcus umschloß die schlanken Finger mit seiner großen Hand. „Danke." Er meinte es aufrichtig. Selbst wenn die Leute seine Bücher nicht mehr kauften, würde er weiterschreiben. Für ihn war Schreiben ebenso wichtig wie die Luft zum Atmen. Trotzdem war es schön zu hören, daß die Menschen seine Bücher mochten. Das war nicht selbstverständlich. Addison ging vor ihnen nach draußen, gefolgt von seinem Assistenten. „Was sollte das Ganze?" fragte Marcus. Er nahm Annies Arm und schob sie in Richtung Ausgang. „Was das sollte?" Annie nickte Addisons Sekretärin zu, als sie an denn Schreibtisch vorübereilten. Die Frau wunderte sich, daß Marcus sie so fest im Griff hielt. „Es ist alles in Ordnung. Er liebt den körperlichen Kontakt", - 56 -
klärte Annie sie auf. Neidisch blickte die Frau ihnen nach. Das ist ja ein Alptraum, dachte Marcus, während sie auf den Korridor traten. „Mußte das wirklich sein?" „Was?" Annie fragte sich, wie lange er dieses Tempo durchhielt. Mit der flachen Hand schob Marcus die Haustür auf und ließ Annie immer noch nicht los. „Mußten Sie derart die Aufmerksamkeit auf sich - auf uns lenken?" „Wer schiebt denn hier wen hinaus?" erwiderte sie. Als Marcus sie sofort losließ und schuldbewußt dreinblickte, tat er ihr beinahe leid. Deshalb fuhr sie fort: „Wollten Sie vorhin eine Frage stellen?" Richard war inzwischen ebenfalls herausgekommen. Er stand ein wenig abseits und beobachtete vergnügt das Wortgeplänkel. Annie hatte ihn so verwirrt, daß Marcus seine Frage vergessen hatte. Deshalb zeigte er mit dem Finger auf das Gebäude und schimpfte: „Was sollte das Getue da drinnen?" Weshalb war Marcus so eigensinnig? Begriff' er nicht, daß, sie ihm einen Gefallen getan hatte? „Wollten Sie etwa mit Addison über die Veränderungen an Ihrem Roman reden?" „Nein", stieß er hervor. „Wollten Sie ihm bestätigen, daß Sie alle seine Wünsche in das Drehbuch übernehmen werden?" Als Marcus sie nur finster ansah, fuhr sie fort: „Nun, falls Sie es nicht gemerkt haben: Ich habe Ihnen gerade eine Menge Ärger erspart. Addison ist gleich viel milder gestimmt, wenn seine Leute harmonisch zusammenarbeiten." Nach Marcus' Ansicht war das höchstens eine Hinhaltetaktik, mit der sie das Unabwendbare nur hinausschoben. „Und was passiert, wenn das Drehbuch auf seinen Tisch kommt und die Veränderungen nicht darin enthalten sind?" „Er wird keine Schwierigkeiten machen, solange die - 57 -
Geschichte in Ordnung ist." Annie strahlte Marcus an. „Vertrauen Sie mir." Das war ja das Problem: Marcus konnte Annie nicht vertrauen. Die innere Stimme sagte ihm, daß es sehr gefährlich werden konnte, wenn er es tat. Vertrauen zog Enttäuschung nach sich. „Ich nehme an, Sie haben so etwas schon erlebt", meinte er und beobachtete fasziniert, wie die Sonne in ihrem Haar spielte. Annie merkte, daß Marcus sie betrachtete, und ihr Puls beschleunigte sich einen Moment. „Ungefähr sechs- oder siebenmal." Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war erst zehn, zu früh zum Mittagessen. „Ich glaube, ich schulde Ihnen eine Tasse Kaffee." Sie lächelte vergnügt. „Mindestens." Marcus antwortete vorsichtshalber nicht auf diese Bemerkung. Plötzlich fiel ihm sein Agent wieder ein, und er wandte sich an Richard. „Kommen Sie mit?" Richard hob beide Hände. „Mir liegt nichts daran, beim Ausbruch eines Kriegs in der ersten Reihe zu sitzen. Außerdem er sah ebenfalls auf die Uhr. „Außerdem habe ich um elf einen Termin. Bringen Sie Marcus nach Hause" fragte er Annie und küßte sie auf die Schläfe. „Wenn er mich läßt...“ Marcus stutzte. Plötzlich wurde ihm klar, daß er in letzter Zeit kaum noch über sein eigenes Leben bestimmen konnte. Nicht, wenn es nach Annie ging. „Feigling", schrie er hinter Richard her. „Viel Spaß noch", rief sein Agent fröhlich zurück. Einen Moment standen Marcus und Annie sich verlegen gegenüber. Dann deutete sie nach links. „In dem Block hinter dem Filmgelände ist ein kleines Restaurant, falls es Ihnen ernst war mit dem Kaffee." Marcus hatte keine Ahnung, weshalb er diese Einladung - 58 -
ausgesprochen hatte. Vorübergehende Geistesgestörtheit schien ein Teil seines Lebens zu werden. „In Ordnung", antwortete er gleichmütig und ging zu ihrem Wagen. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich fahre?" „Wenn Sie möchten..." Annie reichte ihm die Schlüssel und setzte sich auf den Beifahrersitz. Marcus schloß die Tür etwas zu heftig und ging vorn um den Wagen herum. „Immer den anderen eine Nase voraus. Ist das Ihr Grundsatz?" „Wie haben Sie das erraten?" Annie ließ Marcus einen Moment Zeit und sah zu, wie er den Wagen startete. Seine Hände waren groß und kräftig. Sicher wußte er instinktiv, wie er eine Frau liebkosen mußte, damit sie sich nach mehr sehnte. Sie holte tief Luft, lehnte sich zurück und schob alle weiteren Gedanken beiseite. Dafür war es noch viel zu früh.
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5. KAPITEL Das Restaurant auf dem Filmgelände war hell und laut. Eine breite Theke lief an der Wand entlang. Fast alle Plätze waren von kostümierten Gästen besetzt. Annie und Marcus waren die einzigen in Straßenkleidung. Er hätte es wissen müssen. „Das Restaurant ist beinahe Tag und Nacht geöffnet und bekannt für seine Besucher." Annie nickte zu einer Ecke. Dort saßen zwei Gestalten, deren Geschlecht er nicht erraten konnte, weil sie als Früchte verkleidet waren. Fragend sah er Annie an. „Wahrscheinlich drehen sie einen Werbespot. Oder einen Science-fiction-Film." Die ganze Situation gleicht einem Science-fiction-Film, dachte Marcus. „Möchten Sie an der Theke sitzen?" Annie deutete auf zwei freie Plätze zwischen einem Kanonier und einem Wikinger. „Nein, lieber am Tisch." Schon bahnte sie sich einen Weg durch die Menge. „Ich habe es geahnt." Eine große Frau mit einer rosa Federboa um die Schultern streifte Marcus absichtlich und warf ihm einen einladenden Blick zu. Ihre Boa kitzelte ihn in der Nase, und er hätte beinahe geniest. „Ich wünschte, Sie würden aufhören, ständig meine Gedanken zu erraten", sagte er und folgte Annie. „Einverstanden, Wenn Sie etwas gegen Ihren Typ tun." „Was für ein Typ bin ich nach Ihrer Meinung denn?" Sie setzte sich an einen freien Tisch und sah Marcus mit unschuldiger Miene an. „Ein zurückhaltender." Wieder brachte sie sein Blut ins Wallen. Wären die Leute ringsum nicht gewesen, hätte er Annie an sich gezogen und sie fest auf den Mund geküsst, um ihr zu beweisen, wie zurückhaltend er war. Nein, nicht die Leute hielten ihn davon ab, es war seine Vernunft. Marcus wußte, wie gefährlich so etwas war, und er - 60 -
hatte nicht die Absicht, ohne Netz zu arbeiten. Oder doch? Weshalb saß er mit Annie hier? Holly hatte jede Menge Kaffee zu Hause. Marcus wußte keine Antwort auf diese Frage. Er hatte nur eine seltsame Vorahnung. Marcus trank den Kaffee und dachte über seine Lage nach. Der Kaffee war überraschend gut. Das kam in amerikanischen Restaurants nicht oft vor. Ein Problem war nur, daß Annie so dicht neben ihm saß. Sie brachte ihn auf Gedanken, die absolut nichts mit dem Schreiben des Drehbuchs zu tun hatten, und das durfte nicht sein. „Sind Sie oft hier?" Aus dem Mund eines Bestsellerautors war das eine erbärmliche Frage. Annie tat, als merke sie es nicht. „Nur wenn ich eine Besprechung mit Addison habe." „Kennen Sie ihn schon lange?" Der Gedanke gefiel Marcus nicht. Noch weniger gefiel ihm, daß es ihm nicht gleichgültig war. Dazu bestand kein Anlass. Endlich einmal eine persönliche Frage, dachte Annie. Die Mauer um ihn herum scheint zu bröckeln. Es wurde auch langsam Zeit. „Schon eine Ewigkeit", antwortete sie. „Früher kam Addison oft zu uns nach Hause in das Haus meiner Eltern", fügte sie hinzu. Marcus' Blick war derart düster geworden, daß eine solche Klarstellung ratsam erschien. „Er war ganz versessen darauf, alles über das Filmen zu lernen, und hatte den einzigen Wunsch, wirklich gute Filme zu drehen. Mein Vater freute sich über diesen Eifer. Deshalb nahm er Addison unter seine Fittiche und machte ihn mit vielen wichtigen Leuten bekannt." Sie beugte sich über den kleinen Tisch, der sie trennte. Marcus hätte nicht sagen können, weshalb diese Bewegung so - 61 -
vertraulich war. Langsam bekam er das Gefühl, daß Annie sogar die Lektüre eines Telefonbuchs zu einem intimen Erlebnis machen konnte. „Wenn Addison seinen Namen für einen Film nach Ihrem Roman hergibt, wird das eine großartige Sache. Er vertraut voll darauf." „Genügend, um mir alles allein zu überlassen?" „Der Mann würde nicht mal den Göttern trauen. Annie lachte. „Den allerersten Film unter seinem Namen drehte er nach einem Buch meines Vaters. Addison war überall gleichzeitig. Er führte Regie, prüfte die Kameraeinstellungen, die Drehorte etc. Kurz gesagt, er mischte sich in alles ein und ließ den Fachleuten keine Chance. Als der Streifen abgedreht war, hatte er alle verrückt gemacht, sich selber eingeschlossen. Aber es wurde ein wunderbarer Film." Annies Augen leuchteten so sehr, daß Marcus die nächste Frage unbedingt stellen mußte. „Haben Sie ein Verhältnis mit ihm?" Außerordentlich feinfühlig, schalt er sich gleich darauf. „Mit Addison?" Annie lachte erneut. Der Produzent war wie ein Bruder für sie. „Nein, nicht in dem Sinn, den Sie meinen." Sie konnte nicht widerstehen. „Wie kommen Sie auf diese Frage?" Marcus zuckte mit den Schultern und rührte bedächtig seinen Kaffee um. „Aus keinem bestimmten Grund. Es war nur so ein Gedanke." „Aha." Annie verbarg ihr Lächeln hinter der Kaffeetasse. Sie brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. Wenn sie jetzt lachte, würde Marcus aufstehen und für immer aus ihrem Leben verschwinden. „Addison hat wirklich ein sehr gutes Urteilsvermögen, Marc. An Ihrer Stelle würde ich mir seine Vorschläge - und meine - gründlich überlegen.“ Ja, das würde sie sicher tun. Aber er nicht. „Addison hat mein Buch gekauft und damit auch meine Auffassung von den Hauptgestalten." - 62 -
„Richtig", stimmte Annie ihm zu. „Aber man kann nicht beinahe fünfhundert Seiten auf die Leinwand bringen. Zumindest nicht, ohne den Zuschauern erhebliche Blasenprobleme zu bereiten." Als Marcus eine Lösung dafür vorschlagen wollte, fuhr sie rasch fort: „Abgesehen davon, lassen sich manche Dinge nicht in einen Film übertragen, so gut sie sich auch lesen." Sie ahnte, daß Marcus diese Bemerkung nicht gefiel. „Ich fürchte, wir müssen ganze Abschnitte aus Ihrem Buch streichen." Annie sprach schnell, und Marcus hatte Mühe, aufmerksam zu bleiben, um sein Buch zu verteidigen. Doch er lauschte nur wie gebannt ihren Worten. Endlich schüttelte er den Kopf, um wieder klar denken zu können. „Das klappt nie." „Was klappt nicht?" Einen Moment glaubte sie, eine Einladung in seinem Blick zu erkennen, und die Fantasie ging mit ihr durch. Vielleicht passierte ja etwas sehr, sehr Schönes zwischen ihnen. Genau das wünschte sie sich. Und sie würde erst wieder aus seinem Leben verschwinden, nachdem es geschehen war. „Das mit dem Drehbuch oder die Sache zwischen uns?“ „Zwischen uns?" Annie erriet seine Gedanken entschieden zu gut. Er hatte recht, wenn er die Zusammenarbeit beenden wollte. „Ja, zwischen uns." Sie fühlte sich stark zu Marcus hingezogen. Aber vielleicht wurde nichts daraus, weil er sich zu sehr dagegen wehrte. Noch brauchten sie beide die Lüge, um das Gesicht zu wahren. Deshalb fügte sie hinzu: „Unsere Zusammenarbeit.“ Er trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse heftig ab. „Beides wird nicht klappen." „Sie irren sich." Marcus fragte sich, ob sie je eine Antwort unwidersprochen ließ. „In welchem Punkt?" „In beiden." Sie lächelte, um das Beben zu überspielen, das - 63 -
ihren Körper durchlief. „Alles wird klappen, wenn Sie es nicht verhindern." Seine Brust wurde plötzlich eng, und sein Atem ging schwer. Annies Anwesenheit genügte, und er bekam kaum noch Luft. „Und wenn ich mich weigere, mein Buch aus der Hand zu geben und mit dem Strom zu schwimmen?" Es wäre entschieden einfacher, Annie nicht wiederzusehen. Er brauchte das Drehbuch nicht. Geld und Ruhm waren ihm gleichgültig. Er besaß von beiden mehr als genug, und weder das eine noch das andere hatte ihn glücklich gemacht. Sein Instinkt riet ihm, das Band zu kappen und das Weite zu suchen. Weshalb tat er es dann nicht? Jeder Mensch trägt einen selbstzerstörerischen Zug in sich, überlegte Marcus. Dies war seiner. „Dann werden Sie gewaltigen, juristischen Ärger bekommen. Sie haben Verträge unterschrieben, mein Lieber. Addison mag in manchen Dingen butterweich sein. Aber er nimmt sein Geschäft - und seine Verträge - sehr, sehr ernst." Annie schob ihre Tasse beiseite. „Weshalb wollen. Sie nicht mit jemandem zusammenarbeiten? Liegt es an mir?" Vor zwei Tagen', wäre es noch einfach gewesen, jetzt ja zu sagen. Diesen Zeitpunkt hatte er verpaßt. Deshalb beschloß Marcus, auf Nummer Sicher zu gehen. „Ich mag meine Gedanken nicht mit jemandem teilen. Aus diesem Grund habe ich noch nie mit einem Partner gearbeitet. Wenn er das tat, lag er wie ein offenes Buch vor Annie. Er war ihr ausgeliefert und wurde verletzlich. Und genau das wollte er nicht. Aber ich möchte, daß Sie Ihre Gedanken mit mir teilen, antwortete Annie stumm. Ich möchte wissen, was Sie denken und weshalb. Ich möchte, daß Sie mir alles erzählen. „Vielleicht ist es an der Zeit für eine neue Erfahrung." Annie reichte ihm als neue Erfahrung. Marcus dachte an - 64 -
ihren ständigen Streit über die Auslegung seines Buches. Der Schlagabtausch hatte gestern kein Ende genommen. Der Duft ihres Parfüms war ihm noch lange in der Nase geblieben, nachdem sie mit den beiden Kindern gegangen war. „Ich bin nicht sicher, ob ich Tag für Tag mit jemandem zusammenarbeiten kann.“ Das war zumindest ehrlich. Daß seine Hände in ihrer Gegenwart feucht wurden, selbst wenn er noch so wütend auf sie war, brauchte sie nicht zu wissen. Schallendes Gelächter erscholl hinten im Restaurant, und fünf Weltraummänner schlenderten hinaus. Ihre Antennen wippten beim Gehen. Annie betrachtete sie flüchtig und lächelte unbewußt. „Wir haben uns bereits auf die Grundregeln und die Haupthandlung geeinigt. Der Rest sollte nicht mehr allzu schwierig sein." War das ihr Ernst? War denn Annie gestern nicht selber dabeigewesen? Sie hatte eine Prostituierte aus einer Barszene streichen wollen, weil die Frau ihrer Ansicht nach dem sympathischen Charakter des Haupthelden schadete. Beinahe drei Stunden hatten sie darüber gestritten. „Sind Sie immer so optimistisch?" Es klang spöttisch, aber sie überhörte es absichtlich. „Fast immer. Nur wenn ich zur Vorsorge zum Zahnarzt muß, bekomme ich ein bißchen Angst. Aber dann sage ich mir: Weshalb das Schlimmste annehmen? Meistens ist gar nichts kaputt." Weil das größte Loch in Ihrem Kopf ist, hätte er beinahe geantwortet. Annie stemmte die Ellbogen, auf den Tisch, legte die Hände zusammen und stützte das Kinn darauf. Sie merkte nicht, daß die Kellnerin mit der Rechnung kam. Marcus erinnerte sie an einen herrenlosen Welpen, der viel Liebe und Verständnis brauchte. Sicher, er wollte seine Arbeit nicht aus der Hand geben, aber es steckte noch mehr dahinter. Schon bei der Lektüre seines ersten Buches hatte Annie sich - 65 -
mit dem Mann hinter den Worten beschäftigt. Nach dem sechsten Buch war sie absolut fasziniert gewesen. Und hätte sie noch Zweifel gehabt, hätte der verstorbene Jason Danridge sie ausgeräumt, der Marcus sein eigenes Kind anvertraut hatte. Annie interessierte sich nicht für American Football, doch Jasons Namen kannte sie. Die Welt hatte ihm zu Füßen gelegen, und er hätte jeden zum Freund haben können. Aber er hatte Marcus gewählt. Und das mußte einen Grund haben. Diesen Grund wollte Annie erfahren. Vielleicht erklärte er, weshalb ein so empfindsamer Mann, der so aufrüttelnde Geschichten schrieb und soviel Einfühlungsvermögen in seinen Büchern bewies, als Mensch derart abweisend blieb. Annie war der Meinung gewesen, daß sie sich nicht noch einmal himmelhochjauchzend verlieben könnte. Normalerweise war sie fröhlich und kam mit allen Menschen gut aus. Aber einen kleinen Rest von sich hielt sie zurück. Den hatte sie nur Charlie offenbart, und sie hatte geglaubt, daß er mit ihm gestorben sei. Es war schön, daß sie sich geirrt hatte. Und gleichzeitig ein bißchen beängstigend. „Nun, nachdem wir jetzt so angeregt sind..." Annie stand auf, und Marcus ging zu ihr und zog ihren Stuhl zurück. „Wie bitte?" Annie brauchte nur den Mund zu öffnen, schon war er verwirrt. „Vom Kaffee." Sie sah ihn schelmisch an. Wieder hatte er sie nicht verstanden, und er fragte sich, ob dieses Wunder irgend jemandem gelang. „Ach so." Er ließ ein Trinkgeld auf dem Tisch und führte sie hinaus. „Sind Sie bereit, wieder an die Arbeit zu gehen, oder müssen Sie es sich noch einmal überlegen?" fragte Annie. Marcus gehörte nicht zu den Menschen, die sich vor einer Verantwortung drückten. „Ich glaube, je früher wir es hinter uns bringen, desto schneller kann ich wieder ein normales - 66 -
Leben führen." Sie nahm seinen Arm und ging mit ihm zum Wagen. „Mein lieber Marc, Sie haben eine einmalige Gabe, einer Frau das Gefühl zu geben, der Mittelpunkt Ihrer Welt zu sein." Die Sonne stand hoch am Himmel, und ein leichter Dunst hing in der Luft. Der Parkplatz war mit Kies bestreut und entsetzlich staubig. „Marcus", verbesserte er sie. „Es wäre mir lieber, wenn Sie mich Marcus nennen würden." Annie steckte den Schlüssel in die Tür und sah ihn fragend an. „Nur wenn ich Sie offiziell zum Duell herausfordere. Möchten Sie wieder fahren?" Marcus wunderte sich, daß sie ihm den Wagen zweimal an einem Tag überlassen wollte, und setzte sich ans Lenkrad. „Können Sie nie ernst sein?" „Doch." Das Schloß des Sicherheitsgurts rastete hörbar ein. „Wann?" „Wenn ich arbeite. Die Arbeit ist mit sehr, sehr wichtig." Sie entdeckte Bekannte, die in das Restaurant gehen wollten, und winkte ihnen aus dem Fenster zu. „Mir ebenfalls." Marcus bog mit dem Wagen auf die Straße. „Schön, dann sind wir uns endlich über etwas einig. Der Rest wird schon kommen." Der Verkehr war ausgesprochen dicht, und sie kamen nur mühsam voran. Wie eine, Lawine", antwortete Marcus. Es wurde immer wärmer. Annie schloß das Fenster und schaltete die Klimaanlage ein. „Wir müssen unbedingt etwas gegen Ihre pessimistische Lebenseinstellung tun, Marc", erklärte sie tadelnd. „Sie könnten mir zum Beispiel sagen, daß dies alles ein Alptraum ist. Vielleicht wache ich dann voller Optimismus auf." „Nein", antwortete sie und schüttelte den Kopf. „Das hat man einmal im Fernsehen gezeigt. Niemand, hat es geglaubt." „Dann sitzen wir in der Klemme." - 67 -
„Das fürchte ich auch." Bestimmt nicht so, wie ich, dachte, Marcus. Ganz bestimmt nicht. „Kennen Sie sich mit Autos aus?" Erschrocken sah Marcus auf. Annie und er hatten sechs Stunden ernsthaft gearbeitet und sich die meiste Zeit gestritten. Erschöpft hatte er bei mehr als der Hälfte der Punkte nachgegeben. Soll sie ihren Willen bekommen, sagte er sich. Solange er noch glauben konnte, daß er sich hätte durchsetzen können, wenn er hartnäckig geblieben wäre, konnte er damit leben. Doch tief im Innern fürchtete er, daß niemand gegen diese Frau ankam. Vor fünf Minuten hatte Annie sich verabschiedet, und er freute sich auf einen ruhigen Abend. Und jetzt stand sie wieder da und sah nicht halb so müde aus wie er. „Ob ich was kann?" „Kennen Sie sich mit Autos aus?" wiederholte Annie und deutete nach draußen. „Mein Wagen steht in Ihrer Einfahrt und sagt keinen Ton." Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm, hätte Marcus beinahe geantwortet. Aber er wollte nicht gehässig sein, selbst wenn Annie es verdient hatte. „Was ist damit los?" „Wenn ich das wüßte, hätte ich Sie nicht gefragt", fuhr sie ihn an. Na, na, na, dachte Marcus belustigt. Also gab es doch etwas, das Annie aus der Ruhe brachte. Das war ermutigend. „Nein, mit Autos kenne ich mich nicht aus. Dafür um so besser mit dem Telefon." Er griff zum Hörer. „Soll ich meine Werkstatt anrufen, damit der Wagen abgeschleppt wird?" Annie nickte. Sie brauchte nicht zu fragen, ob es eine gute Werkstatt war. Wenn Marcus sein Cabrio dort reparieren ließ, - 68 -
konnte sie sich darauf verlassen. Sie warf einen Blick auf das Papier, das sauber neben dem Drucker gestapelt war. Heute hatten sie eine Menge geschafft. Es war ein guter Anfang gewesen. Vielleicht wurden sie sogar früher fertig als geplant. Ich wette, Marcus freut sich darüber, dachte Annie. „Die Werkstatt schickt morgen früh jemanden her verkündete Marcus und wollte auflegen. Annie nickte, nahm ihm den Hörer ab und blickte sich suchend im. „Wo haben Sie die Gelben Seiten?" fragte sie. Natürlich lagen die Telefonbücher bei Marcus nicht frei herum. Er zog den schweren Band aus der unteren Schublade und reichte ihn ihr. „Wen wollen Sie anrufen?" „Ein Taxi." Rasch blätterte sie die Seiten durch und fand, was. sie suchte. „Ich nehme nicht an, daß ich hier draußen kampieren soll, bis der Wagen repariert ist. Außerdem muß ich mich um meine Hündin kümmern. Sie bekommt nämlich Junge." Marcus war selten impulsiv. Das war er nur bei Jason und Linda gewesen. Bei ihnen hatte er sich geben können, wie er war. Trotzdem drückte er plötzlich die Gabel nieder und unterbrach die Leitung. Annie sah ihn an und wartete auf eine Erklärung. „Ich fahre Sie nach Hause." „Wenn es Ihnen keine Mühe macht..." antwortete sie vorsichtig, damit Marcus es sich nicht anders überlegte. „Das schon", antwortete er ungewöhnlich heftig, weil er sich über sich selber wunderte. „Weshalb..." „Wollen wir auch darüber streiten?" „Nein, nein. Einem geschenkten Gaul guckt man bekanntlich nicht ins Maul. Hier." Sie reichte ihm die Schlüssel. „Der Mechaniker wird sie morgen brauchen." Geistesabwesend steckte Marcus die Schlüssel in die - 69 -
Tasche, schrieb rasch ein paar Worte für Holly und ging mit Annie hinaus. Er wollte nicht darüber nachdenken, weshalb er ihr das Angebot gemacht hatte. Er war müde und brauchte frische Luft. Mehr steckte nicht dahinter. Marcus schaltete die Zündung ein und drehte sich zu Annie. „Wo wohnen Sie überhaupt?" Annie nannte ihm ihre Adresse in Malibu?" „Das ist in der Nähe des Strands, nicht wahr?" sagte er und fuhr los. „Nein, es ist direkt am Strand", verbesserte Annie ihn. „Nachts höre ich die Wellen ans Ufer schlagen. Das ist sehr beruhigend." Nach Charlies Tod hatte sie ausziehen wollen, weil die Erinnerungen zu schmerzlich gewesen waren. Aber sie liebte das alte Haus, und sie wußte, daß sie die Erinnerungen mitnehmen würde. Sie blieben immer ein Teil von ihr und gehörten zu ihrer Persönlichkeit. „Der Grund und Boden ist dort sehr teuer." Das stimmte. Zahlreiche Makler hatten sich schon an sie gewandt und ihr fantastische Preise genannt, falls sie das Haus verkaufen wollte. „Das Haus ist bereits lange in Familienbesitz. Mein Großvater hat es gekauft, als er hierherzog. Er hat es mir nach seinem Tod vermacht.“ Er hörte die Zärtlichkeit in ihrer; Stimme. „Haben Sie sehr an' ihm gehangen?" Marcus wußte nicht, weshalb er das fragte. Vielleicht weil er sich immer nach der Wärme einer Familie gesehnt hatte. Bei ihm zu Hause hatte man kein Gefühl gezeigt. Beide Eltern hatten sich heftig gewehrt, als er ihnen als kleiner Junge seine Zuneigung beweisen wollte. Schließlich hatte er erkannt, daß er sie durch seine Anwesenheit in Verlegenheit brachte. Deshalb hatte er das Elternhaus nach der High School verlassen und war nie mehr dorthin zurückgekehrt. Aber manchmal fehlte ihm eine Familie. Er vermißte die Nähe. Annie hatte als Kind vermutlich - 70 -
allen nahegestanden, selbst dem Postboten. Wenn Annie an ihren Großvater dachte, fielen ihr seine starken Hände ein, die sie hochgehoben hatten, und sein dröhnendes Lachen, mit dem er sie aufforderte, nach dem Himmel zu greifen. „Ja, ich habe sehr an meinem Großvater gehangen", sagte sie leise. „Für mich kam er gleich nach dem lieben Gott oder zumindest nach Walt Disney. Ich habe lange in Disneyland gewohnt, müssen Sie wissen", fügte sie hinzu. „Das hätte ich mir eigentlich denken können." „Und was ist mit Ihnen?" Marcus blickte auf die lange kurvenreiche Straße. „Was soll mit mir sein?" Annie beobachtete das Spiel der Schatten auf seinem aristokratischen Gesicht. Marcus besaß den Charakterkopf eines Dichters. Kein Wunder, daß sich ihr Puls bei diesem Mann beschleunigte. „An wem haben Sie besonders gehangen?" „An niemandem." Die Antwort klang so endgültig, daß es weh tat. "Und was war mit Jason? Haben Sie und er..." „Wir, sind zusammen zur Schule gegangen." Mehr sagte Marcus nicht. Doch gleichzeitig kehrten die Erinnerungen zurück. Seine Eltern hatten ihm die Liebe vorenthalten, deshalb hatte er sich nicht zu jenem Menschen entwickelt, derer sonst vielleicht geworden wäre. Jason hatte gemerkt, was in ihm verborgen war, und es an die Oberfläche gebracht. Wie einen Familienangehörigen hatte er ihn behandelt, und das war schön gewesen. Aber es war vorbei. „Und Sie...“ Konnte diese Frau ihn nicht in Ruhe lassen? Die anderen taten es doch auch. Nur Jason hatte nicht zugelassen, daß er sich in sein Schneckenhäuschen verkroch. Der Freund wäre auch mit jemandem wie Annie fertig geworden. Er, Marcus, - 71 -
hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. „Ich möchte nicht über Jason reden." Annie begriff, daß die Wunde noch zu frisch war. Einen Freund zu verlieren, jemanden, der einem nahestand, tat sehr weh. Das hatte sie selber zweimal erlebt. „In Ordnung, worüber wollen Sie dann reden?" „Für heute abend reicht es mir. Ich würde lieber schweigen." „Wenn Sie möchten..." „Ich möchte es." Die Stille dauerte nur rund drei Minuten, dann schaltete Marcus das Radio ein. Johnny Mathis sang einen weichen, romantischen Song, und er wechselte den Sender. Trommelund Gitarrenklänge dröhnten durch den Wagen. Zehn Minuten später hatten sie Annies Haus erreicht, und Marcus brachte sie zur Tür. „Hereinkommen möchten Sie wohl nicht?" Erwartungsvoll schaute Annie zu ihm hoch. Beinahe hätte Marcus es getan, um ihr zu zeigen, daß sie sich geirrt hatte. Aber er war müde und besaß keine Kraft mehr, weiter mit ihr zu streiten. „Ich glaube, es ist sicherer für mich, wenn ich Ihr Reich nicht betrete." Es war der reinste Selbsterhaltungstrieb, der ihn zu dieser Antwort veranlaßte. Je weniger er von Annie wußte, desto besser. Dadurch blieb die Schranke zwischen ihnen unversehrt. Nachdenklich blickte Marcus ihr in die Augen, und merkte im selben Moment, daß es ein Fehler war. Zu leicht konnte er sich in deren Tiefe verlieren. Es waren die sinnlichsten Augen, die er je gesehen hatte, und sie paßten zu Annies übrigem Körper. Instinktiv hob er die Arme und nahm ihren Kopf zwischen beide Hände. Wieder handelte er spontan. Das konnte zu einer gefährlichen Gewohnheit werden und paßte überhaupt nicht zu - 72 -
ihm. Langsam fragte Marcus sich, was für ein Mensch er tatsächlich war. Er schob die Finger in die blonden Wellen und senkte die Lippen, auf Annies Mund. So hatte er schon viele Frauen liebkost, aber er erinnerte sich an keine einzige. Diesen Kuß würde er sein Leben lang nicht vergessen. Bisher war Annie ihm wie ein Wirbelwind vorgekommen. Etwas Exotisches hatte er nicht an ihr bemerkt. Doch ihr Kuß erinnerte ihn an fremde, geheimnisvolle Länder, in denen Seide raschelte und die Luft erfüllt war von süßen Düften. Das war eine wunderbare, einzigartige Überraschung. Marcus hatte Annie küssen wollen, um seine Neugier zu befriedigen, die an ihm nagte, seit sie zum ersten Mal tropfnaß auf seiner Schwelle gestanden hatte. Jetzt reichte es ihm nicht mehr. Deshalb vertiefte er den Kuß, denn er weckte Gefühle in ihm, die er noch nie verspürt hatte. Leidenschaftlich zog er Annie an sich und wurde immer erregter. Ein Dutzend widersprüchliche Empfindungen durchströmten seinen Körper, während er ihren Mund in Besitz nahm. Immer wieder preßte er seine Lippen auf Annies Mund, gab ihn kurz frei und verschloß ihn erneut. Ihre Zungen berührten sich erst zögernd und scheu, dann immer kühner, und das Blut begann in ihren Adern zu rauschen. Weder Annie noch Marcus blieben davon unberührt. Der Kuß, den er aus Neugier begonnen hatte, wurde rasch fordernder, bis Marcus kaum noch Luft bekam und ihm der Kopf so schwirrte, daß er nicht mehr klar denken konnte. Er hatte das ungute Gefühl, ein Streichholz an eine sehr gefährliche Lunte zu halten. Die Explosion, die zwangsläufig folgen mußte, würde eine bleibende Wirkung auf sein künftiges Leben haben. Annie hatte dies nicht erwartet. Sie hatte gehofft, daß sie so - 73 -
etwas eines Tages erleben würde, war aber bisher nicht einmal in die Nähe solch einer Erregung gekommen. Ihr Kopf dröhnte wie bei einem Feuerwerk. Die Realität war versunken, wichtig war nur der Mann, der sie in den Armen hielt, dessen Körper sie stützte und verhinderte, daß sie zu Boden sank. Trotzdem glitt sie immer tiefer in einen dunklen Tunnel, an dessen Ende ein helles Licht lockte. Bebend ließ Marcus die Hände fallen und riß sich los. Wenn er jetzt nicht innehielt, würde er Annie auf die Arme heben, sie ins Haus tragen und unmittelbar hinter der Tür in Besitz nehmen. Annie wußte nicht, was sie sagen sollte; Marcus' Kuß war zu überwältigend gewesen und hatte ihr restlos den Verstand geraubt. Sie war völlig verblüfft und mehr denn je davon überzeugt, daß es diese ungeheure Anziehungskraft zwischen ihnen tatsächlich gab. Ich könnte mich jetzt entschuldigen, überlegte Marcus, oder auf der Stelle kehrtmachen und gehen. Es ist nicht auszuschließen daß Annie in dem Kuß mehr sieht, als er bedeutet hat. „Fassen Sie das nicht falsch auf", warnte er sie und war entsetzt, wie rauh seine Stimme klang. „Kann man das bei einem Kuß überhaupt?" Ihr schelmisches Lächeln verriet nicht, wie aufgewühlt sie innerlich war. Was sollte er darauf erwidern? Am besten war es, er zog sich zurück, bis er wieder klar denken konnte. „Durchaus", sagte er daher nur. „Bis morgen. „Darauf können Sie sich verlassen." Annie verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu, wie Marcus zu seinem Wagen eilte und sich schleunigst in Sicherheit brachte.
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6. KAPITEL Marcus stand an dem Sprossenfenster und starrte auf die Regenbogenfarben, die sich beim Brechen der Sonnenstrahlen in dem dicken Glas bildeten. Doch seine Gedanken waren ganz woanders. Hinter sich hörte er die gedämpften Klänge eines Oldies, an den er sich nur vage erinnerte. Annie hatte ihm dieses Zugeständnis am dritten Morgen abgerungen. Sie arbeitete besser bei Musik, hatte sie behauptet. Er war auf Beethoven gefaßt gewesen und hatte die Beatles bekommen. Trotz der Musik hörte er das rhythmische Klicken der Tasten. Annie hatte eine neue Idee und arbeitete sie aus. Obwohl sie gleichzeitig reden und schreiben konnte, unterhielt sie sich glücklicherweise nur mit dem Computer. Selbst mit dem Rücken zu ihr sah Marcus das Bild deutlich vor sich. Ein totales Chaos. Annie schrieb inmitten eines entsetzlichen Durcheinanders und merkte es nicht einmal. Stapel von Notizen waren ohne System um sie herum ausgebreitet. Auf seiner Seite des Schreibtischs herrschte dagegen peinliche Ordnung. Wenn er arbeitete, mußte alles aufgeräumt sein. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, tauchten, sein Arbeitszimmer in warmes Licht. Marcus drehte sich um und beobachtete Annie. Nach ihrer Miene zu urteilen, war sie sehr zufrieden. Schade, daß das nicht lange andauern würde. Sobald er gelesen hatte, was sie da zu Papier brachte, würden sie sich gewiß wieder streiten. Annie schreibt erheblich bessere Dialoge als ich, mußte Marcus zugeben. Die Gestaltung der Unterhaltung auf dem Papier geriet ihr zur zweiten Natur. Er selber formulierte lieber Gedanken und beschrieb Stimmungen. Auf ihre Weise ist Annie wirklich gut, überlegte er. Zwar - 75 -
anders, aber nicht schlecht. Das bedeutete allerdings noch lange nicht, daß er sie in sein Privatleben einlassen wollte. Die letzten eineinhalb Wochen waren ihm wie ein ständiger Kampf vorgekommen, und er war ganz entschieden kriegsmüde. Zum Glück war seine Schreibblockade vorüber. Zweifellos hatte sein Selbsterhaltungstrieb die Oberhand gewonnen. Wäre sein Verstand nicht wieder tätig geworden, hätte Annie ihn überrollt und ungestört weitermachen können. Annie war immer bestens vorbereitet, das mußte Marcus ihr lassen. Ausgerüstet mit ihrem PC, Stapeln von Notizen und einer geradezu sträflich guten Laune, kam sie zwar spät, aber sie kam. Offensichtlich lebte sie nach einer inneren Uhr, die noch nicht von der Umwelt verstellt worden war. Außerdem war sie entschlossen, sich nicht nur um seine Arbeit zu kümmern. Sie steckte ihre Nase auch in sein Privatleben, wie er es früher nur Jason und Linda erlaubt hatte. Nichts konnte sie davon abbringen, weder Eiseskälte noch Spott. Das Wort Intimsphäre kannte sie nicht. Sogar mit seiner Haushälterin duzte sie sich inzwischen. Zum ersten Mal seit Marcus sie kannte, machte Holly kein grimmiges Gesicht. Am wichtigsten war jedoch Annies erstaunliche Wirkung auf Ken. Sie hatte erreicht, was er, Marcus, vergeblich versucht hatte. Der Junge, der am Anfang zu schüchtern gewesen war, um sein Arbeitszimmer zu betreten, entwickelte sich inzwischen von einem stillen Gast zu einem ganz normalen siebenjährigen Kind. „Was in aller Welt ist das" hatte Marcus erst heute morgen gefragt. Schwankend unter der Last hatte Annie mit ihrer Aktentasche und - einem ziemlich großen Karton auf der Schwelle gestanden, den er ihr sofort abgenommen hatte. „Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, daß man auch - 76 -
zweimal zum Wagen gehen kann?" „Das würde viel zu lange dauern.“ Sie war ziemlich außer Atem gewesen, und ihre Stimme hatte heiser geklungen. Unwillkürlich hatte er sich gefragt, ob sie auch so klang, nachdem sie mit einem Mann geschlafen hatte. Wenn er klug war, versuchte er lieber nicht, es herauszufinden. Annie war keine Frau, die durch sein Leben ging, ohne Spuren zu hinterlassen. Das war ihm schon klar geworden, als er sie geküßt hatte. Deshalb durfte er ihr nicht zu nahe kommen. „Sie sind es doch, der immer Zeit sparen will“, erklärte sie und betrat das Arbeitszimmer. Marcus stellte den Karton auf seine Seite des Schreibtischs, denn auf ihrer war kein Platz. „Sie sparen nichts, wenn Sie sich einen Bruch heben." „Nanu, Marc." Achtlos warf Annie die Aktentasche auf den Stuhl. Sie rutschte weiter und fiel zu Boden. „Sie machen sich ja Sorgen um mich." Kokett klimperte sie mit den Wimpern und lachte leise. Wie immer erregte ihn dieses Lachen sofort. „Ich mache mir Sorgen, ob wir das Drehbuch rechtzeitig fertig bekommen." Sie zuckte mit den zarten Schultern, die heute nackt waren, denn Annie trug ein königsblaues trägerloses Oberteil. „Auch gut." Ihre Handtasche glitt ebenfalls zu Boden. „Wo ist Ken?" Marcus hätte die Sachen gern aufgehoben und ordentlich hingelegt, aber er riß sich zusammen. „Wahrscheinlich geht der Junge ungeduldig, im Wohnzimmer auf und ab und wartet auf Sie." „Zumindest einer im Haus freut sich auf mich." Annie lächelte Marcus reizend an und lief los, bevor er etwas antworten konnte. „Dann will ich ihn nicht länger auf die Folter spannen." Auf der Schwelle holte Marcus sie ein. „Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet." - 77 -
Annie hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er wippte, wenn sie sich bewegte, und erinnerte ihn an eine Werbung für Haarshampoo. „Oh, tut mir leid. Was hatten Sie gefragt?" „Ich wollte wissen, was Sie jetzt schon wieder mitgebracht haben." „Eine Videoanlage." Marcus sah sie verständnislos an. „Und was soll ich damit?" Lebte er hinter dem Mond? „Sie für, Ken aufbauen, damit der Junge üben kann." „Üben?" „Besonders originell sind Sie heute nicht gerade, Marc." Lächelnd tätschelte sie seine Wange. Die Berührung erinnerte Marcus an den einzigen Kuß, den sie getauscht hatten. Sein Blick glitt zu ihrem Mund, aber das machte die Sache noch schlimmer. Es gab keine Stelle an Annie, die er gefahrlos betrachten konnte. „Stevie und Erin würden sich freuen, wenn sie Ken bald wieder besuchen dürften." Annie hatte Ken, wie ausgemacht, am Sonnabend zu ihrer Schwägerin gefahren, und die Kinder hatten sich rasch angefreundet. Das wollte sie nutzen. „Ich dachte, sie könnten sich Videos ansehen, damit sie Sie nicht stören." „Sehr fürsorglich." Weshalb hatte Richard ihm keinen Mann geschickt? Oder wenigstens jemanden, der nicht so gut roch und nicht so zarte gebräunte Schultern besaß wie Annie. Marcus war es nicht gewöhnt, bei der Arbeit abgelenkt zu werden, und bei ihr verlor er immer wieder den Faden. Da Marcus zwei linke Hände besaß, bestand Annie darauf, die Anlage sofort selbst anzuschließen. Insgeheim freute er sich, daß die Augen des Jungen vor Freude leuchteten. Annie war wie ein Sonnenschein in sein Leben gekommen. Zumindest in Kens Leben, verbesserte Marcus sich. - 78 -
Nachdem sie ein Video-Spiel ausprobiert hatte, war Annie in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt und hatte sich mit demselben Schwung an ihr gemeinsames Drehbuch gemacht. Das Drehbuch... Seit wann war es ihr gemeinsames Drehbuch und nicht mehr ausschließlich seines? Den genauen Zeitpunkt hätte Marcus nicht nennen können. Während der letzten eineinhalb Wochen hatten sie dauernd über die Auslegung seines Textes und die notwendigen Umstellungen gestritten. Annie hatte tatsächlich die Frechheit besessen, ihm seine eigenen Gestalten erklären zu wollen. „Frauen legen die Dinge eben anders aus als Männer", hatte sie erst vor ein paar Minuten behauptet. Marcus kannte den Grund und behielt. ihn klugerweise für sich. Und noch etwas stellte er fest Ganz gleich, wie heftig die Diskussionen wurden, nur er regte sich dabei auf. Annie wurde niemals laut. Nicht einmal ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Das hatte er nur einmal erlebt, in der vorigen Woche. Genauer gesagt, vor acht Tagen bei seinem Kuß. Und er verfolgte ihn jede Nacht. „Frauen sind gefühlvoller als Männer", antwortete Marcus endlich. Annie schaute von ihrem Bildschirm auf. „Aus Ihrem Mund klingt das wie ein Vorwurf.“ „Das ist auch einer. Marcus drehte sich wieder zu ihr. „Gefühle sind gut in Büchern. Im Alltag stören sie nur. Sie trüben die Urteilskraft, so daß wir alles wie durch eine farbige Brille betrachten." „Farbe.“ Annie griff den Gedanken auf und zeigte mit dem Finger in die Luft. „Das ist das richtige Wort. Ohne Gefühle gäbe es keine Farbe, nur Grautöne." Marcus stritt mit ihr, weil sie ihn ständig reizte. Doch tief im Innern stimmte er mit ihr überein. Nur in einem Punkt - 79 -
unterschieden sie sich. Er war der Ansicht, daß Grautöne zu seinem Seelenzustand paßten, und sagte es ihr. Annie betrachtete Marcus einen Moment schweigend. Der Blick in ihren Augen gefiel ihm nicht. Er merkte, daß es in ihrem Innern arbeitete, und bedauerte, ihr seinen Schmerz gestanden zu haben. Annie stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. Doch er betrachtete diese Geste als Mitleid und wandte sich ab. Marcus hat einmal großes Leid erlebt, dachte Annie. „War es jemand, den Sie sehr geliebt haben?" fragte sie teilnahmsvoll. Marcus wollte nicht antworten, doch er wußte, sie würde ihn drängen, bis er es tat. „Wer?" versuchte er auszuweichen. „Ich erkenne den Schmerz in Ihren Augen", antwortete sie leise. „Haben Sie jemanden verloren, den Sie sehr liebten?" Plötzlich beneidete Annie die Frau, die Marcus in sein Leben einbezogen hatte. Vielleicht täte es ganz gut, wenn er mit jemandem darüber redete, dachte Marcus. Doch es fiel ihm schwer, sich einem Menschen zu öffnen. Als Kind hatte man ihm so lange eingeschärft, seine Gefühle nicht zu zeigen, daß er es am Ende nicht mehr konnte, selbst wenn er es wollte. „Es ist kein Schmerz in meinen Augen", sagte er: „Ich blinzele nur, weil die Sonne mich blendet." Er zog an der Gardinenschnur, und die Vorhänge schlossen sich und sperrten das Tageslicht aus. Annie forschte nicht weiter nach. Wenn sie Marcus zu stark drängte, stieß sie ihn nur ab. Er würde reden, wenn die Zeit gekommen war. Jeder mußte eines Tages seinen Schmerz herauslassen. „Wie Sie meinen." Zumindest gewährte sie ihm noch eine Gnadenfrist. „Danke." „Gern geschehen." Annie lehnte sich zurück, faltete die - 80 -
Finger und streckte die Arme langsam über den Kopf. Es war ein langer Tag gewesen, und sie spürte es. Marcus beobachtete sie fasziniert. Nichts auf der Welt konnte es mit Annies erstaunlich weiblichen Körper aufnehmen. Jede Bewegung von ihr war hinreißend und brachte ihn fast um den Verstand. Das quälende Verlangen ließ sich nicht mehr leugnen. Seufzend legte Marcus die Seiten nieder, die er gerade durchgeblättert hatte. „Bitte tun Sie das nicht." Verblüfft hielt Annie inne. Sie saß doch ganz friedlich auf ihrem Stuhl. „Was soll ich nicht tun?" „Sich so strecken", antwortete er hilflos. Annie entspannte sich sofort. „Macht es Sie nervös?" Erstaunt riß sie die Augen auf und war plötzlich richtig froh. „Ja." Weshalb sollte er es abstreiten? Selbst wenn er es täte, würde sie es ihm anmerken, „Das ist gut.“ Annie stand auf und ging zu ihm. „Ich muß nämlich zugeben, daß Sie mich ebenfalls nervös machen." Solch eine Frau hatte er noch nie erlebt. „Sagen Sie immer, was Sie denken?" Sie lächelte über das ganze Gesicht, und er fiel unwillkürlich ein, obwohl er keinen Grund dazu hatte. „Jetzt verrate ich Ihnen aber nicht, was ich denke", erklärte sie. Ein Dutzend Antworten fielen ihm ein, doch Marcus bekam keinen Ton heraus. Stattdessen empfand er ein ähnliches Verlangen wie vor acht Tagen. Langsam legte er die Arme um Annie und streichelte ihren Rücken. Jeden Zentimeter prägte er sich ein. Ihre nackte Haut erregte ihn so sehr, daß er sich ernsthaft Sorgen machte. Es war, als hätte er keine Kontrolle mehr über das, was er dachte und was er tat. Das war ihm noch nie passiert. Weibliche Gesellschaft war angenehm, aber er konnte durchaus darauf verzichten. Und er hatte sich stets Frauen als - 81 -
Begleiterinnen gesucht, die ihn nicht ständig analysierten. Diesmal hatte er keine Wahl. Er begehrte Annie und hatte dieses Verlangen so lange wie möglich verdrängt. Jetzt ging es nicht mehr. Er brauchte Annie nur zu berühren, schon regte sich sein Begehren und verband sich mit der Erinnerung an die Lust, die er bei ihrem ersten Kuß verspürt hatte. Er würde sie immer begehren, dagegen war nichts zu machen. Natürlich paßte Annie nicht in seine Welt. Sie bedeutete Chaos, Unordnung und ständige Spannung. Es gab tausend Gründe, sich schleunigst zurückzuziehen, und nur einen, es nicht zu tun. Aber Marcus wollte keinen Rückzieher machen. Schließlich hatte er noch nie getan, was man von ihm erwartete. Verlangend zog er Annie an sich und preßte die Lippen auf ihren Mund. Gleichzeitig verwünschte Marcus sich, daß er so schwach war, und er verwünschte Annie, weil sie ihn so schwach machte. Doch sein schlechtes Gewissen legte sich schnell. Er wollte Annie küssen und die seltsame Mischung aus Geborgenheit und atemlosen Rausch erneut spüren. Bisher hatte er so etwas Ähnliches nie erlebt und es auch nicht für möglich gehalten. Doch jetzt hielt er das Erlebnis mit beiden Händen fest und genoß es in vollen Zügen. Annie wunderte sich über die Kraft seines Kusses und die Art und Weise, wie sie darauf reagierte. Marcus rührte all jene Bedürfnisse in ihr auf, die sie tief in sich vergraben hatte. Jetzt waren sie wieder da und wurden von einem Mann an die Oberfläche geholt, der behauptete, nichts für sie zu empfinden und nichts zu fühlen. Das hatte sie ihm nie geglaubt, und nun besaß sie den Beweis. Obwohl sie eine Ahnung von Marcus' Leidenschaft aus seinen Büchern hatte, ging die Wirklichkeit weit darüber hinaus. Sein Kuß war feurig und verlangend, und ihre Knie wurden weich wie Wachs. Sie hatte - 82 -
angenommen, daß sie mühelos mit solch einer Situation fertig wurde. Nun wußte sie, daß sie sich gründlich geirrt hatte. Außerdem hatte sie Angst. Marcus brachte Empfindungen ans Licht, die sie für immer verdrängt glaubte. Obwohl sie sich freute, daß es nicht der Fall war, rief der Gedanke daran neue Ängste in ihr wach. Sie hatte jemanden verloren, den sie sehr geliebt hatte. Konnte sie solch ein Risiko noch einmal eingehen? Sollte sie es tun? Noch dazu mit einem Mann, der sie küßte, als ärgerte er sich darüber, daß er sie begehrte? Annie preßte die Finger in Marcus' Unterarme und machte sich los. Sie schloß die Augen und öffnete sie erneut, bis sie wieder klar denken konnte. „Das nächste Mal warnen Sie mich bitte vorher. Mein Luftvorrat ist zu Ende." Marcus antwortete nicht. Trotz seines Verlangens war ihm die Verärgerung immer noch anzumerken. Wie lange würde sie anhalten? Würde sie überhaupt vergehen? „Müssen wir uns auch darüber streiten?“ fragte Annie schließlich. „Wovon reden Sie?“ Er mußte sich zusammenreißen, um Annie nicht wieder an sich zu ziehen. Dabei hätte er sie am liebsten nie wieder losgelassen. Annie wußte nicht aus noch ein. Ihre Beziehung zu Marcus sollte unbeschwert und vollkommen sein. Als sie das letzte Mal geliebt hatte, war alles einfach gewesen. Jetzt war es keinesfalls so. „Sie sehen aus, als ärgerten Sie sich." „Das tue ich auch." Einen Moment ließ Marcus die Maske fallen. Er wollte Annie nicht anlügen, auch wenn es viel einfacher, gewesen wäre. „Ich will Sie nicht derart begehren.“ „Tun Sie es denn?" Ihm gefiel nicht, daß ihre Augen so strahlten. Wußte sie nicht,: daß solch ein Zustand nur kurze Zeit hielt? Daß das Glück, wenn es sich überhaupt einstellte, nicht ewig dauerte? „Ja", antwortete er endlich. „Verstehe." Ihr Herz klopfte wie wild, aber sie riß sich - 83 -
zusammen. Im Augenblick reichte ihr, daß sie wußte, was Marcus für sie empfand. Alles Weitere würde sich während der gemeinsamen Arbeit finden. Deshalb versuchte sie es mit einem Scherz. „Ich könnte morgen in Sack und Asche erscheinen." Am liebsten hätte sie Marcus gefragt, weshalb es so schlimm war, daß er sie begehrte. Aber sie hatte Angst vor seiner Antwort. „Das haben Sie schon einmal versprochen." Außerdem würde es nicht helfen. Unter ihrer Kleidung blieb Annie immer die unglaublich aufreizende, begehrenswerte Frau. Trotzdem lächelte Marcus bei dieser Vorstellung. „Ach ja, das hatte ich vergessen. Annie hätte ihm gern versichert, daß alles in Ordnung war. Aber diesmal wußte sie nicht, wie sie es anstellen sollte. „Das scheint mir auch so." Er seufzte. „Machen wir lieber mit dem Drehbuch weiter." „In Ordnung." Annie setzte sich wieder. Zum Glück war der Text, den sie vorhin geschrieben hatte, noch auf dem Bildschirm. Die grünen Buchstaben hoben sich gegen den schwarzen Untergrund ab. Sie mußte sich scharf konzentrieren, damit ihr wieder einfiel, woran sie gearbeitet hatte. „Ich finde immer noch, daß die Liebesszene vorverlegt werden muß, damit die Zuschauer neugierig werden." Wie viele Liebhaber hat Annie schon gehabt? überlegte Marcus und spürte einen Anflug von Eifersucht. Dabei ging es ihn nichts an, wer mit Annie ins Bett gestiegen war und sie geküßt und geliebt hatte. „Was verstehen Sie den von Liebesszenen?" Die Frage klang nicht so harmlos, wie er beabsichtigt hatte. Aber jetzt war es zu spät. Annie hob den Kopf, ohne Marcus zu sehen. „Genug.“ Ihre Stimme klang so melancholisch, daß er erstaunt aufsah. Am liebsten hätte er nachgeforscht und weitere Fragen gestellt. - 84 -
Aber damit stieß er nur neue Schleusen auf, die besser geschlossen blieben. Trotzdem konnte Marcus das Verlangen, Annie erneut in den Armen zu halten, nicht abschütteln. Es lag nicht nur an der Eifersucht, die er empfand. Nein, er hatte einen Anflug von Schmerz in ihren Augen entdeckt. Also hatte sie auch jemanden geliebt und wieder verloren. Gern hätte er Annie getröstet - obwohl, sie sein Leben in ein Chaos verwandelt hatte. Marcus hatte das, unbehagliche Gefühl, stetig und unabwendlich im Treibsand zu versinken. Und kein Ast oder sonstiger Gegenstand war in der Nähe, an den er sich hätte klammern können.
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7. KAPITEL Wie immer kostete es Annie große Anstrengungen, den Schmerz zu überwinden, den die Erinnerungen in ihr hervorriefen. Doch es war nicht gut, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, wenn es in der Gegenwart einen Menschen gab, der sie brauchte. Im Radio sang ein Mann ein Lied über ein Mädchen, das süße sechzehn war. Annie war schon eine ganze Weile keine sechzehn mehr, und sie hatte lange nicht mehr so für einen Mann empfunden. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Wissen Sie was, Marcus Sullivan? Wenn Sie möchten, daß ich aufgebe, müssen Sie sich schon etwas mehr anstrengen." Sie ging um Marcus herum zum Fenster und wollte es öffnen, denn sie brauchte frische Luft. „Ich habe mit den eigentümlichsten Leuten zusammengearbeitet und noch nie ein Projekt vorzeitig verlassen." Sosehr sie sich bemühte, der Fensterflügel rührte sich nicht. Marcus beobachtete Annie. Wie lange würde es noch dauern, bis sie ihn um Hilfe bat? „Im Vergleich zu denen sind Sie zahm wie ein Kater." Sie blickte um den Flügel herum. Wie in aller Welt ging er auf? „Wie soll ich denn das verstehen?" „Im besten Sinne des Wortes", antwortete sie. Ihre Unterarme spannten sich, und ein Nagel brach ab. Trotzdem rührte sich das Schiebefenster keinen Zentimeter. Annie schimpfte still vor sich hin. „Ich weiß immer noch nicht, was ich von Ihnen halten soll", gestand Marcus. Und ich sollte lieber gar nicht erst versuchen, es herauszubekommen, fügte er stumm, hinzu. „Auch nur das Beste." Sie drehte sich halb zu ihm. „Also, worin besteht der Kniff? Wie macht man das Fenster auf?" Marcus trat hinter Annie, griff zu beiden Seiten um sie herum und faßte den Rahmen an. Auf diese Weise ging es zwar - 86 -
nicht besonders bequem, aber darauf, kam es jetzt nicht an. „Sie müssen den Flügel erst auf der einen, dann auf der anderen Seite leicht rütteln. Er zeigte es ihr. „Er ist ziemlich eigenwillig." Marcus streifte ihren Körper, und sein warmer Atem strich über ihren Rücken. Jeden Augenblick konnte sie eine Gänsehaut bekommen. Eine Gänsehaut. Annie lächelte unwillkürlich bei dem Gedanken, und sie genoß die pulsierende Erregung, die ihren Körper durchrieselte. „Ebenso eigenwillig wie vieles andere hier", murmelte sie und drehte sich langsam herum, damit sie Marcus ansehen konnte. Sie standen dicht voreinander. „Sie haben eine Art, die einem ganz schön unter die Haut geht." Geistesabwesend spielte Marcus mit einer Haarsträhne, die vom Wind, angehoben wurde, der durch das offene Fenster hereinwehte. Er bemerkte das Verlangen in ihren Augen. Es war ebenso groß wie seines. Auf diese Weise kamen sie zwar mit der Arbeit nicht weiter, aber das war ihm gleichgültig. „Ich habe auch einiges dafür getan", antwortete Annie. Marcus blickte auf sie hinunter. Annie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt. Lächelnd ließ er die Hände zu ihrer schmalen Taille gleiten und legte die Finger auf die weiblichen Rundungen ihrer Hüften. Er begehrte Annie geradezu unwahrscheinlich stark. So etwas war ihm noch nie passiert. Wenn er sonst mit einer Frau ins Bett ging, dann ohne lange zu überlegen, um den Augenblick der Lust zu nutzen. Er erinnerte sich nicht, daß sein Puls dabei je so wie jetzt gerast war. Sein ganzer Körper pochte und schmerzte vor Verlangen. Annie schlang die Arme um seinen Nacken. „Küß mich, Marc. Ich kann nicht ewig auf den Zehenspitzen stehen. Gleich - 87 -
bekomme ich einen Wadenkrampf." Marcus zog sie so eng, an sich, daß er die verlockenden Rundungen ihrer Brüste an seinem Oberkörper spürte. „Das muß ich unbedingt verhindern." Zärtlich knabberte er an ihrer Unterlippe und verschloß ihren Mund. Dies tue- ich nur, weil Annie mich darum gebeten hat, sagte er sich. In Wirklichkeit küßte er sie, weil er sonst innerlich zersprungen wäre. Er staunte und war besorgt, wie schnell sein Begehren wuchs. Sobald er Annies Lippen berührte, verlor er jedes Gefühl für Zeit und Raum. Er konnte nur noch an sie denken und gab sich ganz der verzehrenden Leidenschaft hin. Einladend öffnete Annie die Lippen. Sie zitterten unmerklich. Marcus reizte ihre Zunge mit seiner und wurde immer erregter. Es war wunderbar, Annie zu küssen - sie war wunderbar. Marcus kam sich wie in einem Rausch vor und hatte das Gefühl, jeden Moment in das Universum zu entschweben. Dabei wollte er niemanden an sich heranlassen. Der Schmerz bei einer Zurückweisung war zu groß. Deshalb hatte er sein Herz schon als Kind mit einer Mauer umgeben und sich eingeredet, er brauche die Liebe nicht und wolle selber auch nicht lieben. Wenn er anfing, etwas für Annie zu empfinden, und es ihm nicht gleichgültig war, ob sie wieder ging, würde es eine Katastrophe geben. Zunächst hatten seine Eltern ihn emotional abgelehnt, später hatten Jason und Linda ihn verlassen. Das Risiko, sich zu öffnen und anschließend zum dritten Mal im Stich gelassen zu werden, durfte er nicht eingehen. Marcus holte tief Luft und gab Annies Mund frei. Verwirrt öffnete sie die Augen. Ihr Lippenstift war von seinen Küssen verwischt. „Wir dürfen das nicht", murmelte er. Annie fiel es schwer, klar zu denken. Noch schwieriger war es, die Barriere niederzureißen, die Marcus um sich aufgebaut - 88 -
hatte. „Weshalb nicht?" fragte sie. Aus tausend Gründen. Weil ich Angst habe. Weil es zwischen uns nie klappen könnte. Weil, ich zuviel für dich empfinde, dachte er. „Weil unsere Arbeit sonst nie fertig wird", antwortete er stattdessen. Wieder versteckte Marcus sich hinter einer Ausrede, und Annie blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Aber so einfach wollte sie es ihm nicht machen. Deshalb trat sie zurück und lächelte vielsagend. „Der Mensch lebt nicht nur, um zu arbeiten." Marcus fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wünschte, er könnte sein Leben ebenfalls so leicht wieder in Ordnung bringen. „Ich schon", erklärte er. Sie betrachtete ihn prüfend. Marcus kämpfte stark mit sich. „Das, glaube ich dir nicht." Seine Augen wurden schmal. Annie bildete sich ständig ein, ihn besser zu kennen, als er sich selbst. „Dann irrst du dich." Langsam schüttelte sie den Kopf. „Hm, hm." Am liebsten hätte er ihre Schultern gepackt und sie geschüttelt. „Bist du immer so selbstgefällig?" „Nur wenn ich recht habe." Marcus hatte von einer fleischigen Pflanze gehört, die eine giftige Substanz absonderte, wenn man sie berührte. Vielleicht sollte er Annie ein Exemplar davon schenken. Sie faßte alles an. Annie sah ihn immer noch an und versuchte, seine Beweggründe zu verstehen. Marcus hatte ein attraktives, ebenmäßiges Gesicht. Manchmal, wenn er es zuließ, wirkte es richtig freundlich. Doch das war selten der Fall. Nichts sollte ihn innerlich berühren, keiner durfte ihm zu nahe kommen. Vielleicht nicht einmal Ken. Und der brauchte ihn dringend, wenn ihre Menschenkenntnis sie nicht restlos im Stich ließ. Marcus innere Abwehr mußte für mehr als nur einen - 89 -
Moment zusammenbrechen. Dafür wollte sie sorgen. Um Kens willen und um ihrer selbst willen. Trotzdem bezähmte sie ihre Ungeduld. Für heute mußte sie nachgeben. Wenn sie Marcus zu sehr drängte, machte sie höchstens etwas kaputt. Entschlossen wandte Annie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu. Marcus und sie kämen erheblich schneller mit der Arbeit voran, wenn er nicht ständig mit ihr stritt. Obwohl sie seit über eine Woche zusammenarbeiteten, betrachtete er sie immer noch nicht als gleichberechtigte Partnerin. „Das ist dein Problem", erklärte sie laut. Was soll das schon wieder? überlegte Marcus. Es war ausgesprochen ärgerlich, daß Annie ihn nicht über den Fortgang ihrer Gedanken auf dem Laufenden hielt. „Mein Hauptproblem besteht vor allem darin, deinen Gedankengängen zu folgen", antwortete er gereizt. „Mir scheint, du fütterst mich nur mit einigen Brocken aus einer Unterhaltung, die sich in deinem Kopf abspielt." „Du hast völlig recht", antwortete Annie und war richtig froh, daß Marcus sie durchschaut hatte. Entschlossen drückte sie auf die Speichertaste. „Ich glaube, unser Hauptproblem besteht darin, daß du meinem Urteil nicht traust." Marcus war erleichtert, daß sie von der Arbeit sprach. Dafür besaß er zumindest eine solide Grundlage. Er sah zu, wie Annies Finger über das Keyboard glitten, und fragte: „Entschuldige bitte, aber weshalb sollte ich deinem Urteil trauen?" Annie tippte den Dateinamen ein und drückte auf die Return Taste. Der Computer begann leise zu schnurren. „Gutes Argument." „Gutes Argument?" Mißtrauisch sah er sie an. Annie stimmte ihm zu bereitwillig zu. Sie führte etwas im Schilde. „Ja. Es ist ein gutes Argument. Der Grund, weshalb du mein Urteil nicht anerkennst und mich nicht als gleichberechtigt - 90 -
betrachtest, liegt darin, daß du keine einzige Arbeit von mir kennst. Ich habe alle deine Bücher gelesen, während du nach eigenem Eingeständnis keinen meiner Filme gesehen hast." Wenn Annie sich einbildete, daß er deshalb ein schlechtes Gewissen bekam, irrte sie sich gewaltig. „Ich begreife nicht." Sie blickte auf den Bildschirm. Er war wieder leer. Zufrieden schaltete sie das Gerät aus. „Nein, aber du wirst es begreifen, nachdem du einen gesehen hast." „Nachdem ich was getan habe?" Es fehlte nicht viel, und Marcus gab einem weiteren Impuls nach und legte die Hände um ihren schlanken Hals. Vielleicht konnte er etwas herausquetschen; das mehr Sinn machte. Aber er bezweifelte es. Annie sah ihn an und wunderte sich, daß Marcus ihr nicht folgen konnte. Dabei war die Sache völlig klar. „Na, einen meiner Filme. ‚Bis morgen' läuft immer noch." „Und den soll ich mir ansehen?" Sie lächelte vergnügt. „Ja." „Wann? „Heute." „Nein." Annie stemmte die Hände in die Hüften. Wenn sie jetzt ärgerlich wurde, erreichte sie nichts. Andererseits durfte Marcus nicht mit seinem Eigensinn durchkommen. „Nachdem du einen meiner Filme gesehen hast, hörst du vielleicht auf, dich wie Moses zu verhalten, der den Menschen die Zehn Gebote bringt, und betrachtest mich nicht nur als niederen Ziegenhirten, der dir dabei zuschauen darf:" Annie faselte schon wieder. Er, Marcus, hielt sich lieber an Tatsachen. „Hirten sind Männer..." „Über das Geschlecht können wir uns später streiten. Komm jetzt." Annie ging auf seine Seite des Schreibtischs und blickte auf den Monitor. Er war leer. „Muß noch etwas gespeichert werden?" Sie wußte zwar, daß nichts mehr zu tun war. Doch - 91 -
wenn sie das Gerät ausschaltete, ohne Marcus zu fragen, wurde er bestimmt böse. „Nein, aber..." Sie waren längst nicht so weit mit dem Manuskript, wie er sich für heute vorgenommen hatte. Außerdem hatte er keine Lust, mit Annie ins Kino zu gehen. Er war immer noch der Ansicht, je weniger er über sie wußte, desto besser konnte er sie in Schach halten. „Gut." Annie schaltete den Computer aus. Marcus wußte nicht recht, ob er Annies Mut bewundern oder ihr den Hals umdrehen sollte. „Du bist mir etwas zu selbständig." „Ja ich weiß", antwortete sie fröhlich. „Das liegt an meinem Selbsterhaltungstrieb." Mit einer schwungvollen Bewegung ihrer Hüften schob sie den Stuhl unter den Tisch. „Holen wir Ken.“ Schon lief sie aus dem Zimmer. Marcus eilte ihr nach und faßte ihren Arm, um sie zurückzuhalten. „Weshalb sollen wir Ken mit in die Sache hineinziehen?" „Weil er endlich etwas mit dir gemeinsam unternehmen muß." Sofort merkte Annie, daß sie ihre Grenzen überschritten hatte. Schon wieder... „Abgesehen davon, ist es ein sehr unterhaltsamer Film", fügte sie rasch hinzu. „Ab 16 Jahren wurde er nur eingestuft, weil einige mal ‚verflucht’ und ,verdammt’ darin vorkommen. Von dir hört Ken sicher viel schlimmere Wörter." „Ich fluche nicht in Gegenwart des Jungen." „Ein sehr erfreulicher Vorsatz", meinte Annie spöttisch. „Übrigens: Redest du nur in seiner Gegenwart oder auch mit ihm?" Diese Frau kann einfach nicht anders, sie muß sich einmischen, dachte Marcus. Und es gelingt ihr immer besser. „Ich rede mit ihm", antwortete er verärgert. „Seit wann bist du Psychologin?" - 92 -
„Ich wurde 1962 geboren", antwortete Annie schelmisch. Da gab Marcus es auf. „Ken!" rief Annie, während sie die Diele betrat. Doch es kam keine Antwort. Einem Instinkt folgend, ging sie ins Wohnzimmer. Der Junge saß mit gekreuzten Beinen vor dem Fernseher. Auf dem Bildschirm machte sich gerade ein grüner Kobold mit einer Prinzessin davon. Ken drückte auf die Fernbedienung und versuchte, die Prinzessin, zu retten. „Ken, wir gehen ins Kino. Möchtest du mitkommen?" Der Junge reagierte nicht. Er hielt die Fernbedienung fest in der Hand, starrte wie gebannt auf den Bildschirm und versuchte, einen Treffer zu landen. Es mißlang. Die Prinzessin verschwand in der düsteren. Burg des Kobolds. „Na, da habe ich ja etwas Schönes angerichtet", meinte Annie zu Marcus. Der dachte vor allem an die Wirkung, die sie auf ihn hatte. „In mehr als einer Weise", murmelte er. Annie sah ihn neugierig an. Sie wußte nicht recht, ob seine Bemerkung ein Scherz gewesen war oder nicht. Aber sie ging nicht näher darauf ein. „Hallo, Ken." Vorsichtig tippte sie dem Jungen auf die Schulter. Er zuckte zusammen und merkte erst jetzt, daß er nicht allein war. „Ich glaube, du solltest mal eine Pause machen. So dringend mußt du Stevie doch nicht schlagen, oder?" Ken lächelte schüchtern und schüttelte den Kopf. Der wird einmal die Herzen vieler Mädchen brechen, dachte Annie zärtlich. Sie nahm ihm die Fernbedienung aus der Hand, legte sie auf den Fernsehapparat und schaltete das Gerät aus. „Marc und ich wollen uns einen meiner Filme ansehen. Er heißt ,Bis morgen'. Willst du mitkommen?" Ken stand auf. „Einen Film von dir?" wiederholte er. „So - 93 -
etwas wie ein Video?" „Nein, ich habe das Drehbuch dazu geschrieben. Weißt du, was ein Drehbuch ist?" Ken hatte gehört, wie Marcus sich mit einem Mann, der Richard hieß, am Telefon darüber unterhalten hatte. Besonders freundlich hatte es nicht geklungen. „Das ist die Geschichte für den Film, glaube ich." „Genau. Du weißt ja gut Bescheid", antwortete Annie und legte ihm den Arm um die Schultern. „Ich würde gern deine Meinung über den Film hören. Oder hast du etwas Besseres vor?" „Nein, bestimmt nicht!" Das Videospiel. war schon vergessen. „Dann ist es abgemacht. Wir lassen uns von Marc ins Kino einladen." Sie ging mit Ken in Richtung Tür, und der Junge strahlte über das ganze Gesicht. Marcus ließ Ken und Annie vor sich hinausgehen. Ken freute sich offensichtlich, daß er mit durfte. Die Verwandlung des zurückhaltenden, mürrischen Jungen in den ganz normalen Siebenjährigen war erstaunlich. Nur wenn er mit ihm allein war, reagierte der Kleine immer noch etwas scheu. Trotzdem war Marcus nicht auf Annie eifersüchtig. Er freute sich aufrichtig, daß Jasons Sohn sozusagen zu den Lebenden zurückgekehrt war. Daß sie dasselbe Wunder auch bei ihm vollbrachte, merkte Marcus nicht. Annie drehte sich zu ihm, während er die Haustür verschloß. „Du hast doch nichts dagegen, wenn wir meinen Wagen nehmen?“ Er stieg die drei Stufen zu ihr hinab. „Und wenn ich es hätte?" „Dann würden wir deinen nehmen Er war schon auf halbem Weg zu seinem Auto, da fügte sie hinzu: „Aber ich kenne den Weg zum Kino besser." - 94 -
Marcus wäre lieber selber gefahren. Auch im Verkehr behielt er gern die Kontrolle. Aber es gab Wichtigeres, um das er kämpfen mußte. Deshalb gab er nach und nickte Ken zu. Erfreut sah Annie, daß der Junge neben ihr auf den Beifahrersitz kletterte und Marcus die Rückbank überließ. Sie drehte sich nach hinten. „Magst du dich etwa nicht herumkutschieren lassen?" Er zog die Tür zu. „Ehrlich gesagt", antwortete er aufrichtig, „ich kann es nicht ausstehen.“ „Ach ja, ich vergaß Du willst alles unter Kontrolle behalten." Sobald Marcus angeschnallt war, schoß sie mit dem Wagen aus der Einfahrt. „Haben wir es sehr eilig?" fragte Marcus. Annie wechselte die Spur, um ein Auto zu überholen. „Nein, nicht unbedingt." Die Frau fuhr, wie sie redete. „Weshalb willst du dann unbedingt die Schallmauer durchbrechen?" „Entschuldigung." Sie nahm den Fuß vom Gaspedal. „Reine Gewohnheit. Ich fahre. immer schnell, wenn ich allein bin." „Wahrscheinlich fährst du deshalb allein", murmelte er atemlos. „Welchen Film wollen wir uns eigentlich ansehen?" Marcus hat den Titel schon wieder vergessen, dachte Annie. Das war ein eindeutiger Beweis. Was sie sagte, war ihm nicht wichtig genug, um ihren Worten besondere Aufmerksamkeit zuschenken. „Das habe ich doch gesagt: ‚Bis morgen'. Es ist wirklich ein lustiger Film." Marcus blickte aus dem Seitenfenster und sah zu, wie die Landschaft vorüberglitt. „Das hätte ich nie erraten." Annie warf einen kurzen Seitenblick zu dem Jungen neben sich. „Du kennst Marcus besser, Ken. Ist er immer so brummig, oder ist das bei mir etwas Besonderes?" „Ich glaube, du bist etwas Besonderes." - 95 -
Ihr Hals schnürte sich zusammen, als sie Kens Worte hörte. Dies war einer jener kostbaren Augenblicke, die man nicht häufig erlebte. Dankbar drückte sie dem Kleinen die Hand. „Du bist auch etwas ganz Besonderes, Ken." Marcus kam sich, beinahe wie ein Eindringling vor. Sie brauchten nicht weit zu fahren. Annie merkte sich die Kinos genau, in denen ihre Filme liefen, denn der Gedanke daran erregte sie noch immer. Diesmal lag das Filmtheater in einem gutbesuchten kleinen Einkaufszentrum. Sie parkte ihren Wagen so nahe wie möglich beim Eingang. „Bis morgen’ lief im Kino Nr. 3. „Wir sind da", verkündete sie und schaltete den Motor aus. Marcus rührte sich nicht. Während der Fahrt hatte er einen Entschluß gefaßt. Zwar wollte er sich gelegentlich tatsächlich einen Film von Annie ansehen, aber das brauchte nicht heute zu sein. Bisher hatte er selber über sein Leben bestimmt. Jetzt war sie wie ein Wirbelwind, hereingefegt und gab zu jedem Schritt ihren Kommentar. Sie war schuld, daß er sie zu den unmöglichsten Augenblicken begehrte, und sie brachte ihn völlig durcheinander. Er mußte einen festen Standpunkt einnehmen, bevor sie ihn restlos an die Wand drängte. Annie stieg aus, schloß ihre Tür und sah in den Wagen. Marcus saß noch auf der Rückbank und machte keine Anstalten, auszusteigen. Fragend sah sie Ken an. Der Junge zuckte nur mit den Schultern. „Dies ist kein Autokino, Marc. Wir müssen hineingehen, wenn wir den Film sehen wollen." Sie kannte diesen Blick. „Nicht immer." Er hatte gewußt, daß sie ihm widersprechen würde. „Weshalb sind wir dann hier?" Warum ist Marc so eigensinnig? überlegte Annie. „Weil wir meinen Film ansehen wollen." „Obwohl wir eigentlich arbeiten sollten." - 96 -
Annie wurde langsam ungeduldig. Es kränkte sie, daß Marcus den Film mit ihrem Drehbuch nicht sehen wollte. „Du wärst wohl kaum mitgekommen, wenn du es nicht gewollt hättest", stellte sie fest. „Ich wollte die Szene abschließen, an der wir gerade arbeiteten. Nach einem Kinobesuch war mir nicht zumute." Verblüfft öffnete Annie den Mund und schloß ihn wieder. Wenn Marcus ihren Film nicht sehen wollte, konnte sie es nicht ändern. „Wenn es so ist, brauchst du ja nicht mitzukommen. Aber es wäre sehr schade, umsonst hierhergefahren zu sein. „Ich gehe jedenfalls hinein." Marcus war zutiefst verärgert. Er hatte den Eindruck, an der Nase herumgeführt zu werden. „In Ordnung." Ken beobachtete Annie neugierig. Sie hätte den Jungen gern mitgenommen. Aber sie durfte sich nicht zwischen die beiden stellen. Dann wäre Ken gezwungen, sich zu entscheiden, und solch eine Belastung wollte sie ihm nicht zumuten. „Du kümmerst dich um den Jungen, ja?" sagte sie zu Marcus und tat, als bemerke sie Kens enttäuschte Miene nicht. Verblüfft sah Marcus zu, wie Annie zum Schalter ging, eine Eintrittskarte kaufte und, ohne sich noch einmal, umzudrehen, das Kino betrat. Sein Versuch, die Oberhand zu behalten, war kläglich gescheitert. Daß er sich wie ein Dummkopf benommen hatte, war ihm egal. Aber wenn er sich nicht irrte, hatte er Annie gekränkt, und das tat ihm leid. Er hatte ihr nur etwas beweisen wollen, das jetzt keine Rolle mehr spielte. Außerdem wäre er gern mit ihr ins Kino gegangen. „Mr. Sullivan?" Kens helle Stimme schreckte ihn auf. Er hatte den Kleinen ganz vergessen. „Ja?" Der Junge kletterte zu ihm auf die Rückbank. „Ich finde, wir - 97 -
sollten mitgehen." Unsicher sah er Marcus an, als hätte er Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. Das finde ich auch, dachte Marcus. „Weshalb?" fragte er neugierig. Ken brauchte eine Weile, bis er seine Gefühle in Worte fassen konnte. „Sie ist doch eine Frau, und sie ist allein", sagte er schließlich. „Müssen wir sie nicht beschützen? „Ich glaube, man sollte eher die Welt vor ihr beschützen", antwortete Marcus lachend und zerzauste Kens Haar. Der Junge lächelte schüchtern. Es war das erste Mal, daß sie körperlichen Kontakt hatten, stellte Marcus fest. Bisher war der Junge so verschlossen gewesen, daß er die Brücke zu ihm nicht hatte überqueren können. Das Gespräch über Annie hatte den Ausschlag gegeben. Das paßt wieder mal, dachte Marcus. Soviel Mühe er sich auch gab, offensichtlich konnte er sich Annies Einfluß nicht entziehen. „Möchtest du den Film wirklich sehen?" Ken nickte. „Weshalb?" „Ich gehe gern ins Kino." Wie wenig wußte er über dieses Kind, das plötzlich in sein Haus gekommen war. „Wirklich?" Wieder nickte Ken. „Daddy und ich..." Er schwieg plötzlich. „Ja?" forschte Marcus freundlich nach. Ken räusperte sich. Daddy und ich sind jedesmal ins Kino gegangen, wenn er in der Stadt gespielt hat. Manchmal sogar noch in die Spätvorstellung." Er lächelte versonnen bei der Erinnerung. „Daddy mochte am liebsten Science-FictionFilme." „Ja, das stimmt." Marcus betrachtete das kleine zarte Gesicht. Ken hatte Lindas sanfte Augen und ihre Kopfform geerbt, aber er lächelte wie Jason. Auf dem College hat mich dein Vater in alle möglichen schrecklichen Filme geschleppt. ‚Flash Gordon and the Mole Woman' war einer seiner - 98 -
Lieblingsstreifen. Ich mußte ihn mir dreimal ansehen." Ken schlug die Beine unter und setzte sich auf. „Ist das wahr?" „Bestimmt." Marcus merkte, daß der Junge ihn interessiert betrachtete. „Vielleicht können wir ihn einmal gemeinsam anschauen. Sicher gibt es irgendwo ein Video davon. „Super!" Jetzt würden sie allerdings keinen Science-Fiction-Film sehen, sondern ein Lustspiel von einer Frau, die sich derart in sein Leben gedrängt hatte, daß es längst nicht mehr zum Lachen war. „Ich glaube, wir gehen lieber hinein und suchen Annie, schlug Marcus vor und blickte zum Kino hinüber. Er stieg aus und hielt dem Jungen die Wagentür auf. Ken krabbelte hinaus. „Können wir nicht drinbleiben und uns den Film ansehen?" „Natürlich, weshalb nicht?" Vorsichtig führte er den Jungen über die Straße. „Und Popcorn dabei essen?" fragte Ken, während Marcus der Frau an der Kasse einen Zehndollarschein reichte. Marcus lächelte über Kens lebhafte Stimme. „Was wäre Kino ohne Popcorn?" Ken legte den Kopf auf die Seite und wagte sich noch etwas weiter. „Mit Butter?" „Natürlich." Glücklich betrat der Junge mit Marcus das Kino.
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8. KAPITEL Annie hielt ihre Popcorntüte auf dem Schoß. Sie hatte es nicht gekauft, weil sie hungrig war, sondern um etwas in den Händen zu haben. Bisher hatte sie das Popcorn nicht angerührt. Ihr Blick war auf die Leinwand gerichtet, doch ihre Gedanken waren bei den beiden in dem blauen Wagen auf dem Parkplatz. Vielleicht war sie etwas zu selbstherrlich gewesen. Manchmal neigte sie dazu, alles allein zu entscheiden. Annie lächelte kläglich. Nicht manchmal, eher in achtundneunzig Prozent der Fälle. Dabei wollte sie es gar nicht, es passierte einfach. Von allein, wenn ihr etwas wichtig war. Vielleicht hätte ich lieber so lange schmeicheln sollen, bis Marcus freiwillig mit ins Kino kam, überlegte sie. Das Problem war nur, daß sie nicht wußte, wie man das machte. Ihr Eifer und ihre guten Absichten waren ihr dabei im Weg. Wahrscheinlich winkte Marcus jetzt gerade einem Taxi und fuhr mit Ken im Schlepptau nach Hause. Annie ärgerte sich über Marcus, über sich selbst und über die Tatsache, daß sie ihn nicht dazu brachte, seine Gefühle ihr gegenüber einzugestehen. Dabei war sie sicher, daß er sie mochte. Doch jedesmal, wenn sie einen kleinen Schritt vorangekommen war, baute er die unüberwindliche Mauer um sich herum wieder auf, und die Feindseligkeit kehrte zurück. Annie nahm eine Handvoll Popcorn aus der Schachtel, biß auf ein nicht aufgesprungenes Korn und verzog das Gesicht. Sie nahm das Korn aus dem Mund und rollte es zwischen Daumen und Zeigefinger. Es erinnerte sie an Marcus, der sich ebenfalls selbst unter größtem Druck nicht löste. Vielleicht war er auf diese Weise glücklich, aber sie bezweifelte es. Alle Menschen wollten im Grunde ihres Herzens friedlich sein und nicht allein leben. Daran glaubte Annie fest. Deshalb wirkte sie auf die Leute ein, und ganz besonders auf Marcus. - 100 -
Abgesehen davon fühlte sie sich trotz seines abweisenden Verhaltens zu ihm hingezogen, sobald sie in seiner Nähe war. „Irgendwie und irgendwann wird es passieren", murmelte sie und merkte nicht, daß sie laut gesprochen hatte. „Was wird passieren?" Marcus fing Annies Popcorntüte auf, bevor sie auf den Boden fiel. Verblüfft sah Annie zu, wie er sich neben sie setzte. Eine ungeheure Befriedigung erfaßte sie. „Oh, lauter angenehme Dinge antwortete sie und nickte zu der Schachtel in Marcus' Hand. „Gut gefangen." „Jason liebte Passierbälle und brauchte einen Fänger zum Üben." Annie versuchte, sich vorzustellen, wie Marcus rückwärts lief, während der Freund ihm einen Ball zuwarf. Es war ein schönes Bild. Sie beugte sich vor und sah an ihm vorüber zu Ken, der rechts von Marcus saß. „Mußtest du ihm den Arm verdrehen, damit er mitkam?" „Nein, er fand, es wäre eine gute Idee." Zwei Reihen vor ihnen drehte sich jemand um und zischte verärgert. „Ich glaube, wir stören", flüsterte Annie Marcus zu. Er ist also freiwillig mitgekommen, dachte sie glücklich. Ein wahres Wunder. Marcus konnte ihr Gesicht nicht sehen. Die Szene auf der Leinwand spielte in einer mondlosen Nacht, und der Zuschauerraum lag im Dunkeln. Trotzdem hätte er sechs Monatsraten des Honorars für sein letztes Buch gewettet, daß sie außerordentlich selbstgefällig dreinblickte. Sie hatte ihn genau durchschaut. Woran lag es, daß er ihr nichts abschlagen konnte? „Jetzt bist du wohl sehr zufrieden, nicht wahr?" flüsterte Marcus ihr ins Ohr. Annie blickte weiter auf die Leinwand. Doch er spürte, daß sie den Mund verzog. „Nein, ich bin immer so glücklich." - 101 -
„Pst", zischte jemand unmittelbar hinter ihnen. „Der Mann hat recht", antwortete Annie und beugte sich zu Marcus. „Du solltest dir kein Wort von dem da oben entgehen lassen." Mit dem Popcorn in der Hand deutete sie auf die Leinwand. Plötzlich hatte sie richtig Appetit. Marcus bezweifelte, daß ihm etwas entgehen würde, wenn er ein paar Zeilen des Dialogs nicht mitbekäme. Aber er wollte fair sein und sich den Film ansehen. Außerdem war er fest davon überzeugt, daß sich die Persönlichkeit eines Menschen in der einen oder anderen Weise in dessen Arbeit spiegelte. Er wollte mehr als nur die Oberfläche dieser Annie de Witt kennenlernen. Es ließ sich nicht leugnen: Annie war ihm nicht gleichgültig. Deshalb mußte er so viel wie möglich über sie erfahren. Wissen war Macht, und die durfte er ihr nicht allein überlassen. Fasziniert beobachtete er Annie. Sie war ganz in den Film vertieft, als wisse sie nicht, wie die Handlung weiterging. Und sie strahlte jedesmal, wenn die Zuschauer im richtigen Moment lachten. Neugierig wandte er sich ebenfalls der Leinwand zu. Ohne es zu merken, wurde er selber von der Handlung gefesselt. Die Dialoge waren frisch, witzig und intelligent geschrieben. Sie konnten, sowohl die Erwachsenen als auch jüngere. Zuschauer in ihren Bann ziehen, das mußte er Annie lassen. Langsam interessierte ihn selber, was mit den Gestalten auf der Leinwand geschah und wie die Geschichte ausging. Das war keine geringe Leistung, gab Marcus im Stillen zu. So leicht war er nicht zufriedenzustellen. Wieder sah er zu Annie hinüber. Als der Abspann kam und ihr Name über die Leinwand lief, atmete sie tief durch. Marcus' Augen wurden schmal. Annie erregte der Gedanke noch immer, daß sie etwas geschaffen hatte, an dem alle Welt ihre Freude hatte. Er kannte dieses Gefühl. Etwas ganz Ähnliches hatte er selber erlebt, als sein erstes Werk von einem - 102 -
Verlag angenommen worden war. Nach dem Erscheinen war er von einer Buchhandlung zur anderen gelaufen und hatte dagestanden und verzückt die Bände mit seinem Namen betrachtet. Irgendwann im Lauf der Zeit hatte diese Erregung nachgelassen und Fleiß, Verantwortungsgefühl und der täglichen Routine Platz gemacht. Annie war zu beneiden, daß sie diese Erregung noch empfand. Annie war enttäuscht. Marcus hatte kein einziges Mal gelacht, obwohl sie die ganze Zeit darauf gewartet hatte. Der Film hatte ihm nicht gefallen, soviel war sicher. Na und? Zigtausende von Menschen mochten den Streifen. Was machte es da, wenn dieser gemeine Kerl nicht dazugehörte? Aber es war ihr nicht gleichgültig. Zusammen mit den anderen Zuschauern verließen Marcus, Annie, und Ken das Kino. Annies Augen gewöhnten sich nur langsam an die strahlende Helligkeit im Freien. Sie holte tief Luft und spürte, daß ihre Lungen schmerzten. Die beiden letzten Stunden war es beinahe unerträglich heiß gewesen. „Ich habe das Gefühl, jeden Moment zu schmelzen", erklärte sie, um irgend etwas zu sagen. Wenn Marcus sich einbildete, daß sie ihn um sein Urteil bitten würde, irrte er sich gewaltig. „Wie wäre es mit einem Eis?" Die Frage war mehr an Ken gerichtet. „Super!" Ken hätte in alles eingewilligt, was Annie vorschlug. Für ihn war sie die schönste Frau, die er je gesehen hatte, und er fühlte sich in ihrer Gegenwart wohl. Sie gab ihm das Gefühl, ihr etwas zu bedeuten. Das hatte er nach dem Tod seiner Eltern bei keinem Menschen mehr gehabt. Schüchtern ergriff er ihre Hand. Annie drückte sie und war richtig gerührt über den - 103 -
liebevollen Ausdruck in seinen Augen. „Ich habe noch nie erlebt, daß jemand ein Eis ablehnt, wenn es so heiß ist wie heute. Komm mit", sagte sie über die Schulter zu Marcus, der hinter ihnen her schlenderte. „Auf der anderen Seite des Kinos ist eine tolle Eisdiele. Sie hat eine Klimaanlage", fügte sie vielsagend hinzu. Marcus mußte sich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten. Selbst bei dieser Hitze war die Frau nicht kleinzubekommen. Der kühle Luftzug, der ihnen beim Betreten der Eisdiele entgegenschlug, war eine willkommene Erleichterung. Gleichzeitig kühlte er Marcus' hitzige Gedanken ab. Annies Oberteil klaffte leicht auseinander, während sie sich setzte, und gab für eine Moment den Blick auf den Ansatz ihrer kleinen festen Brüste frei. Ich könnte jetzt eine lange eiskalte Dusche gebrauchen, überlegte Marcus und setzte sich Annie gegenüber. Ken rutschte, ohne zu zögern, neben sie auf die Bank. Nachdem sie einen Becher nach Art des Hauses für Ken und sich bestellt hatte, lehnte Annie sich zurück und faltete die Hände auf dem Tisch. Erwartungsvoll sah sie Marcus an, doch der tat, als merke er es nicht. „Also gut, ich finde, ich habe mich jetzt lange genug zurückgehalten. „Du?" Marcus lachte auf. Der Begriff „zurückhaltend" paßte beim besten Willen nicht zu Annie. „Gut, daß du mich darauf aufmerksam machst. Ich wäre nie von allein auf den Gedanken gekommen." „Es gibt eine Menge Dinge, auf die du nicht von allein kommst." Sie beachtete seinen finsteren Blick nicht. „Ja, ich habe mich zurückgehalten und nicht gefragt, wie du meinen Film findest." „Das stimmt", gab Marcus zu. Annie wartete einen Herzschlag lang. Nichts. Am liebsten hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben. „Und?" Marcus ärgerte sie absichtlich, dessen war sie - 104 -
gewiß. Aber sie ließ sich durch sein Verhalten nicht beirren. Stolz bedeutete ihr nichts, er stand ihren Zielen nur im Weg. „Du kannst einen ganz schön in Rage bringen." Das Wasserglas in seinen Händen war angenehm kühl. Marcus hob den Kopf und sah ihr in die Augen. „Das muß ansteckend sein." Annie wollte sich nicht länger hinhalten lassen. Sie wappnete sich innerlich gegen eine ablehnende Antwort und fragte: „Also, was hältst du von dem Film?" Er zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe nicht viel von Filmen." Annie schnaufte verärgert. „Das haben wir schon früher festgestellt. Das beantwortet aber meine Frage nicht, Sullivan." „Er war besser als die meisten." Annie preßte die Hände auf ihr Herz, verdrehte theatralisch die Augen und keuchte verzückt. „Ein Kompliment! Schnell, Ken, sieh nach, ob der Himmel einstürzt!" Ken begriff, was Annie gemeint hatte, und lachte hell auf. Er schien sich nicht einmal zu wundern. Die Kellnerin staunte dagegen nicht wenig. So schnell sie konnte, stellte sie die Eisbecher auf den Tisch, warf Marcus einen vielsagenden Blick zu und eilte davon. Doch Marcus interessierte sich nicht für die Bedienung, sondern nur für die Frau ihm gegenüber. War Annie übergeschnappt? „Hast du je etwas Ernstes geschrieben?" Annie steckte den. Löffel in die Sahne. „Alles, was ich schreibe, ist ernst." Sie schloß einen Moment die Augen. Das Eis war himmlisch. ;,Das Lustspiel ist eine äußerst ernste Angelegenheit." Ob sie auch gleich am Rand der Ekstase ist, wenn sie mit einem Mann schläft? überlegte Marcus. Es war kaum zu glauben, daß sich ein Mensch so oft freuen konnte. Er riß sich zusammen. Seine Gedanken schweiften schon wieder ab. „Willst du das wirklich alles essen?" Der Becher - 105 -
war bis über den Rand mit verschiedenen Eissorten gefüllt. Sie lächelte. ;,Bis zum letzten Bissen." Marcus beobachtete sie, während er vorsichtig an der einzigen Vanilleeiskugel leckte, die er für sich bestellt hatte. Annie aß einen weiteren Löffel und genoß es, wie die kühle Creme ihre Kehle hinablief. Als sie nach rechts schaute, merkte sie, daß Ken ihr jede Bewegung nachahmte. Unwillkürlich lächelte sie. Wie konnte eine Frau derart sinnlich Eis essen? Was in aller Welt war mit ihm los? Er brauchte nur in Annies Nähe zu sein, schon regte sich sein Verlangen, und er begehrte sie auf die ungewöhnlichste Weise. Ungewöhnlich zumindest für ihn. Annie fand vermutlich nichts dabei, über und über mit Eiscreme bedeckt zu werden, damit er es ablecken konnte. Marcus holte tief Luft und versuchte, wieder klar zu denken. Es mußte an der Hitze liegen, anders war es nicht zu erklären. Um seine Gefühle richtig einzuordnen, überlegte er, wann er zum letzten Mal mit einer Frau geschlafen hatte. Aber es fiel ihm nicht ein. Nur Annies Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Es war zum Verzweifeln. Sie glaubte, er hätte etwas gesagt. Einen Moment sahen sie sich schweigend an, und die Zeit schien stehenzubleiben. Annie erkannte das heiße Verlangen in Marcus' Blick. Kobaltblaue Augen und Verlangen sind eine nicht zu überbietende und unwiderstehliche Kombination, dachte sie. „Mir schmeckt Vanille", sagte Marcus trotzig. Wenn das so weiterging, war er spätestens Ende dieses Monats schwachsinnig. Annie schlug die Augen nieder, um sich ihre Befriedigung nicht anmerken zu lassen. „Das glaube ich dir gern." Erwachsene sind merkwürdig - sogar die netten, dachte Ken - 106 -
und beobachtete die beiden. „Vanille ist lecker", stellte er fest. „Mein Daddy mochte es auch." Verstohlen beobachtete Annie den Jungen. Zu ihrer Freude bemerkte sie keinerlei Anzeichen von Trauer in seinem Gesicht. Zärtlich, legte sie den Arm um seine Schultern. „Vanille schmeckt wunderbar", stimmte sie ihm zu. „Ich glaube, dein Dad mochte lieber Pfefferminz verbesserte Marcus ihn. Ken strahlte plötzlich, denn er erinnerte sich ebenfalls. „Ja, stimmt!" rief er begeistert. Ob die beiden es merken oder nicht, sie haben viel gemeinsam, dachte Annie. Jason Danridge mußte ein kluger Mann gewesen sein., Er hatte das richtige Gespür dafür gehabt, bei wem sein Sohn richtig untergebracht war. „Annie?" fragte Ken zwischen zwei Löffeln Eis. „Ja?" „Hast du diesen Film wirklich geschrieben?" „Ja, das habe ich." Sie beobachtete Marcus. Das nachsichtige Lächeln, das sie erwartete, stellte sich nicht ein. Vielleicht machen wir ja Fortschritte, dachte sie. „Ich fand ihn wirklich toll. Vor allem den Augenblick, als das Boot mit dem Mann unterging." Ja, so etwas gefiel Jungen in Kens Alter. „Das ist eine von meinen Lieblingsszenen", versicherte sie ihm. „Und jetzt schreibst du einen Film mit Mr. Sullivan?" Er hatte die beiden darüber reden hören, konnte sich aber nicht ganz vorstellen, daß die Großen schrieben, was er auf der Leinwand sah. Annie warf Marcus einen eindringlichen Blick zu, den er nicht recht einordnen konnte. „Ich tue mein Bestes", meinte sie. „Sollte das eine Beleidigung sein?" fragte er. Bei Annie wußte er nie, woran er war. Sie schüttelte den Kopf, und eine Strähne löste sich aus ihrem Haar. „Nein, das war eine Feststellung. Sollte ich dich je - 107 -
beleidigen wollen, wirst du es schon merken." Er betrachtete ihren halb geleerten Eisbecher. Schon bei dem Anblick tat ihm der Magen weh. „Falls du nicht vorher platzt." Annie lachte nur und aß weiter. „Macht es dir wirklich Spaß, so etwas Oberflächliches zu schreiben? Marcus wußte selber nicht, weshalb seine Frage so abwertend klang. Annie war auf ihre Weise wirklich gut. Er mußte zugeben, daß das Drehbuch ausgezeichnet geschrieben war. Aber er wollte sie auf Abstand halten, und eine herablassende Bemerkung über ihre Arbeit konnte dazu beitragen. Annie durchschaute ihn und reagierte entsprechend. „Mir macht es. Spaß, gute Unterhaltung zu schreiben, Marc. Wäre es anders, würde ich es nicht tun." Er schwieg einen Moment. „Das kann dich doch unmöglich so befriedigen, wie du vorgibst. Sie sah ihn an, und Marcus fragte sich, ob sie wußte, wie verführerisch sie war. „Stell mich auf die Probe." „Wenn du wirklich so zufrieden bist", antwortete erernst, „beneide ich dich darum. Dann hast du großes Glück gehabt." Glück - was war das? Wenn sie wirklich Glück gehabt hätte, hätte sie nicht nur einen Vorgeschmack dessen bekommen, was wahre Liebe bedeutete. Beinahe hätte sie das zu Marc gesagt, denn sie empfand plötzlich das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu sprechen. Aber sie schwieg. Der Schmerz, den sie immer noch in sich trug, war etwas sehr, sehr Persönliches. Er ging niemanden etwas an. Nicht einmal gegenüber ihrer Familie hatte sie ihn gezeigt. Marcus bemerkte die plötzliche Trauer in Annies Blick und hätte sie gern nach dem Grund gefragt. Aber Ken war bei ihnen. Sicher ging es um ein Thema, über das man in Gegenwart eines Kindes nicht reden konnte. Sorgfältig faltete - 108 -
er seine Serviette und legte sie auf den Tisch. Zum erstenmal wurde das Schweigen zwischen ihnen quälend. „Hast du schon immer Drehbücher geschrieben?" fragte Marcus endlich. „Immer", bestätigte sie ihm. „Mein Großvater begann damit, als der Tonfilm noch in den Kinderschuhen steckte. Mein Dad trat in seine Fußstapfen, weil er nichts anderes tun wollte. Für mich hatte er allerdings andere Pläne. Er wünschte mir eine beständigere, sicherere Arbeit." „Aber du hörtest nicht auf ihn“, warf Marcus ein. Einen Moment hatte er Mitleid mit ihrem Vater - und jedem anderen Mann, der mit ihr fertig werden mußte. „Weshalb sollte ich einen Präzedenzfall schaffen?" Annie strich ihren Pony zurück. „Ich wählte denselben Beruf, weil Geschichten schreiben mein ein und alles war und immer noch ist. Dad und mein Großvater hatten zusammen fünf Oscars gewonnen und waren zwölfmal dafür nominiert worden. Ich habe inzwischen ebenfalls einen", fügte sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Stolz hinzu, die Marcus geradezu hinreißend fand. In gewisser Weise glich Annie einem unschuldigen Kind. Sie hob den Löffel und unterstrich damit ihren nächsten Satz. „Und dieses Projekt könnte uns den nächsten bringen." Erst später wurde Marcus klar, daß er die Bezeichnung „uns" widerspruchslos hingenommen hatte.
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9. KAPITEL Ken schaffte seinen riesigen Eisbecher, obwohl es ihn gegen Ende erhebliche Anstrengungen kostete. Aber Annie sollte nicht glauben, daß er undankbar sei. Dafür bedeutete ihm ihre Freundschaft zuviel. Annie redete auf der Rückfahrt fröhlich weiter. Marcus antwortete ihr gelegentlich, Ken sagte fast gar nichts. An einer Ampel warf sie einen Blick zu dem Jungen hinüber. Er preßte die Hände auf den Magen und hatte offensichtlich Schmerzen. Fürsorglich fuhr sie etwas langsamer. „Was ist los, Ken?" fragte Annie freundlich, als sie sich dem Haus näherten. „Du siehst ziemlich schlecht aus. Ist dir das Eis nicht bekommen?" „Solch ein riesiger Becher kann höchstens jemandem mit einem Stahlmagen bekommen", warf Marcus ein. Annie sah ihn im Rückspiegel an. „Ich habe ihn ebenfalls gegessen." „Ich gebe es auf." Marcus beugte sich zur Seite, damit er Kens Gesicht sehen konnte. Der Junge preßte die Lippen zusammen und nickte hilflos. „Du hättest nicht alles aufzuessen brauchen", erinnerte Marcus ihn. „Doch." Zwar ging es Ken jetzt schlecht, aber das Eis hatte gut geschmeckt. „Es war doch da." Annie lachte liebevoll. Sie bog in die Einfahrt und hielt den Wagen neben Marcus' dunkelblauem Cabrio an. „Ein bißchen doppeltkohlensaures Natrium, und es wird ihm gleich wieder bessergehen." Sie zog die Handbremse an und schaltete den Motor aus. „Falls keines im Haus ist, versuch es mal mit Mineralwasser." „Ich werde gleich nachschauen, ob wir so etwas haben", versprach Marcus dem Jungen. Er stieg als erster aus und öffnete Ken die Tür. Langsam kletterte der Kleine aus dem Wagen. Er sieht ganz - 110 -
grün aus, dachte Marcus und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter, „Komm, Kumpel. Mal sehen, ob wir dich wieder hinkriegen." Ob Marcus merkt, wie ungezwungen er plötzlich mit dem Jungen; umgeht? dachte Annie. Alles Steife, Unnatürliche war verschwunden. Dies war der Mann, den sie näher kennenlernen wollte. Der Marc, der es geistig mit ihr aufnehmen wollte, gefiel ihr auch. Aber der freundliche Mensch unter der Schale des ernsten, anspruchsvollen Schriftstellers weckte ihre schlummernden Gefühle. Er machte sie verletzlich und gab ihr gleichzeitig Sicherheit. Marcus blieb stehen und blickte über die Schulter zurück. „Angesichts dieser Lage sollten wir für heute Schluß machen", schlug er vor. „Wir sehen uns morgen." „In Ordnung", antwortete Annie. Es gefiel ihr sehr, daß Marcus das Wohl des Jungen über seine Arbeit stellte. Sie hatte sich nicht geirrt. Aus einem unerfindlichen Grund wollte Marcus seine netteren Züge vor ihr verbergen. Aber das war hoffentlich nur eine Frage der Zeit. Fröhlich vor sich hinsummend, fuhr Annie nach Hause. Sie war außerordentlich zufrieden mit sich und dem Leben im allgemeinen. Das Drehbuch machte langsam, aber sicher Fortschritte. Auch mit ihrem Plan, Marcus' Abwehrhaltung zu brechen, kam sie voran - wenn auch etwas langsamer. Wichtig war nur, daß sie weiterkam. Sie öffnete die Haustür und wurde gleich darauf stürmisch von einem Fellknäuel auf vier Beinen begrüßt. „Hallo, Beatrice, wie geht es meiner Kleinen?" Annie beugte sich hinunter, um den Hund hinter dem Ohr zu kraulen. Beatrice trommelte wie wild mit dem Schwanz auf den Boden. Annie betrachtete den runden Bauch des Tieres. Er hing - 111 -
beinahe bis zum Boden. „Und was macht die künftige Familie?" Den Nachwuchs verdankte Beatrice einer kurzen, aber leidenschaftlichen Begegnung mit einem Scotchterrier, der eine Straße weiter wohnte. „Er konnte dir nicht widerstehen, stimmt's? Du mußt mir deinen Trick mal beibringen." Zärtlich tätschelte sie den Hund und richtete sich wieder auf. „Komm, jetzt gibt es etwas zu fressen." Der Hund folgte seiner Herrin in die Küche. Annie füllte Beatrices Napf mit frischem Wasser und holte einen Bratenrest aus dem Kühlschrank. Seit sie Nachwuchs erwartete, entwickelte Beatrice eine ausgesprochene Vorliebe für Braten. Annie schnitt den Fleischrest in Würfel und stellte den Teller auf den Boden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich an den Kühlschrank und sah zu, wie das Tier mit gesundem Appetit fraß. „Weißt du, wir haben eine Menge gemeinsam: Wir essen beide gern, und wir haben unser Herz an Männer verloren, die vom Temperament her das genaue Gegenteil von uns sind." Annie schob die Hände in die Taschen und schlenderte langsam ins Wohnzimmer. In ihre Befriedigung mischte sich ein Anflug von Trauer. Sie wußte, daß sie Abschied von einem Abschnitt ihres Lebens nahm. Ihr Blick wanderte zu dem weißen Klavier, das ihr Vater ihr geschenkt hatte. Seit über einem Jahr hatte sie nicht darauf gespielt. Seit Charlies Tod nicht, Langsam setzte sie sich und hob den Deckel.. Charlie hatte gern gespielt. Manchmal hatte er etwas für sie komponiert, lustige Songs, die keinen Sinn ergaben und über die sie beide gelacht hatten. Nach dem Unfall hatte sie das Klavier nicht mehr anrühren können. Zögernd legte Annie die Finger auf die Tasten und begann zu spielen. Sie schloß die Augen, und die Töne kamen wie von selber. „Moon River" - eines der ersten Lieder, die sie gelernt hatte. - 112 -
Die Melodie erfüllte den Raum und hüllte sie ein. Als Annie die Augen wieder öffnete, hatte sich äußerlich nichts verändert. Nur sie. Sie klappte den Deckel zu, stand auf und nahm den Silberrahmen mit dem Foto, das auf dem Klavier stand. Ein schlanker, dunkelhaariger Mann mit einfühlsamen Blick sah sie an. Charlie. Das Foto war einige Monate nach ihrer Verlobung aufgenommen worden. Eine Woche, bevor Charlie gestorben war. Langsam strich Annie, mit der Fingerspitze über das Glas und erinnerte sich, wie sie diesen Mann liebkost hatte und ihm ganz nahe gewesen war. Das süße Gefühl war immer noch da, aber der Schmerz war verblaßt. „Ich habe einen Mann kennengelernt, Charlie", sagte sie leise zu dem Bild in ihrer Hand. „Er ist ganz anders als du, aber ich glaube, er braucht mich. Ja, ich bin sogar fest davon überzeugt, auch wenn er wahrscheinlich nicht meiner Meinung ist", fügte sie lachend hinzu. Sie drehte; den Rahmen um und löste die Rückseite. Mit bebenden Fingern nahm sie das Foto heraus und ging damit zum Couchtisch, wo ihr Album lag. „Ich werde dich nie vergessen, Charlie, aber ich muß weiterleben. Ich brauche wieder die Sonne." Sie setzte sich auf die Couch und legte das Album auf ihren Schoß. „Ich brauche Liebe und, wichtiger noch, ich muß Liebe geben." Sie blätterte den Band durch und fand eine leere Seite. „Du hast das immer gewußt, nicht wahr? Charlie hätte es verstanden, und dieser Gedanke war hilfreich. Zärtlich legte Annie das Foto auf die leere Seite und bedeckte es mit der Kunststoffolie. Dann schloß sie das Album wieder. Nein, Marc war nicht wie Charlie. Aber er war jemand, den sie lieben konnte. Unter seiner rauhen Schale steckte etwas, das - 113 -
sie anrührte und sie bewegte. Bei Charlie war die Empfindsamkeit deutlich zu erkennen gewesen, bei Marc war das nicht so einfach. Aber sie war vorhanden. Das merkte man an seinem geschriebenen Wort. Auch seine Küsse hatten es angedeutet Marcus brauchte nur etwas Hilfe, um sich zu dem Mann in sich zu bekennen. Wenn ich das nicht schaffe, dachte Annie und stand auf, gelingt es keiner Frau. Marcus wollte sich innerlich nicht so stark aufwühlen lassen, aber genau das tat Annie mit ihm. Er hatte sich an sein geordnetes, leidenschaftsloses Leben gewöhnt. In ihrer Gegenwart war er dagegen hin und her gerissen, und es genügte ein Sonnenstrahl auf ihrem Gesicht, schon wallten schlagartig Gefühlsregungen, Bedürfnisse und Wünsche in ihm auf. Das war geradezu lächerlich. Doch obwohl er die Gefahren kannte, die auf ihn lauerten, wenn er so weitermachte, konnte er nichts dagegen unternehmen. Schon als Kind hatte er erfahren, daß man nur enttäuscht wurde, wenn man seine Gefühle zeigte. Er erinnerte sich an eine Geburtstagskarte, die er seiner Mutter gemalt hatte. Sie hatte sie achtlos beiseite gelegt und ihn für die Unordnung gescholten, die er beim Hantieren mit Farbe und Wasser auf dem Tisch angerichtet hatte. So war es immer gewesen. Bei Jason und Linda hatte er erlebt, was Liebe und Wärme in einer Familie bedeuteten.. Doch seit Ken in seinem Haus wohnte, wußte er, wieviel ihm fehlte, um mit anderen Menschen normal umzugehen. Er konnte sich immer noch nicht öffnen. Niemand hatte ihm dies deutlicher gemacht als Annie. Er wußte jetzt, wie schwer es ihm fiel, andere Gefühle als Wut und Verärgerung zu zeigen. Er war es gewohnt, seine - 114 -
Empfindungen zu verdrängen. In ihrer Gegenwart hatte er dagegen das Bedürfnis, dies nicht zu tun. Doch um zu überleben, blieb ihm nichts anderes übrig. Ruhelos lief Marcus in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Vielleicht ging es ihm besser, wenn er sich in die Arbeit stürzte, ohne daß Annie ihn ablenkte. Mechanisch ging er die Seiten durch, die sie heute morgen fertiggestellt hatte, und wollte sie überarbeiten. Aber das war nicht nötig. Es war nur ein Entwurf. Manches daran mußte noch ausgefeilt werden, grundsätzlich waren die Szenen jedoch in Ordnung. Und sie spiegelten sowohl seine als auch Annies Empfindungen wider. Genau das beunruhigte ihn. Die Tatsache, daß das Drehbuch gut wurde, bewies ihm, daß seine Zusammenarbeit mit Annie klappte, Das hatte er nicht erwartet. Langsam brach seine ganze Welt zusammen. Vielleicht irrte er sich auch in anderen Punkten. Heute morgen hatte er keinen Zentimeter nachgeben wollen und sich hartnäckig an jede Bemerkung und jeden Gedanken in seinem Buch geklammert. Doch irgendwie war es Annie gelungen, manches zu mildern und anderes zu betonen. Das Wort „verändern" paßte nicht, denn Annie veränderte im Grunde nichts. Ob er es wahrhaben wollte oder nicht: Sie verstärkte seine eigene Aussage noch. Auch in seiner Beziehung zu Ken hatte sie ein wahres Wunder vollbracht. Das Unwohlsein, daß er in Gegenwart des Jungen empfunden hatte, legte sich immer mehr. Ken und er fanden in ihrer Trauer um denselben Verlust zusammen. Auch das verdankte er Annie. Bewußt oder unbewußt hatte sie ihm geholfen, sich gegenüber dem Jungen zu öffnen. Sie hatte geredet und geschmeichelt, bis sie den Riß in seinem Panzer gefunden hatte. Und dann war sie selber hineingeschlüpft. Annie... Der Name erinnerte ihn an ein kleines Mädchen mit - 115 -
krausem roten Haar und großen dunklen Augen. Diese Annie de Witt war alles andere als das. Für ihn war sie die Frau aller Frauen, eine Drehbuchautorin und ein Wirbelwind. Marcus lächelte versonnen. Eine Menge Bezeichnungen paßten zu dieser kleinen zierlichen Person, die einen entsetzlich großen Platz in seinem Leben eingenommen hatte. Dabei hatte er sich keinesfalls enger mit einer Frau einlassen wollen. Keine sollte ihm so wichtig werden, daß sie über sein Leben bestimmen könnte. Doch die schmerzliche Leere in seinem Herzen ließ ihm keine andere Wahl. Seufzend sah Marcus auf die Uhr. Diesen Zwiespalt würde er heute nicht mehr lösen. Wahrscheinlich war Annie inzwischen zu Hause angekommen. Ohne über die Folgen nachzudenken, wählte er ihre Nummer und hätte beinahe eingehängt, als er ihre weiche, sinnliche Stimme hörte. „Hallo?" Er faßte den Hörer fester. „De Witt?" entschlüpfte es ihm. Ein geborener Romantiker ist dieser Mann wirklich nicht, dachte Annie spöttisch. Was war jetzt schon wieder los? „Marc." Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Als hätte sie gewußt, daß er anrufen würde. „Einschätzbar", hatte sie ihn genannt. Am liebsten hätte Marcus aufgelegt, um ihr das Gegenteil zu beweisen. Doch er tat es nicht. „Hast du heute abend schon etwas vor?" hörte er sich fragen. Annie dachte an das alte Musical, das gleich im Fernsehen gesendet wurde, und lächelte plötzlich. „Nein." Er mußte ihr zuvorkommen, damit sie ihn auf keinen Fall zu sich einlud. „In Ordnung. Dann zieh dich an. Ich führ dich zum Essen aus." „Ich esse niemals nackt zu Abend." Sie wollte ihn necken. Doch sie beschwor ein Bild in ihm - 116 -
herauf, das sich nur schwer abschütteln ließ. Marcus stellte sich vor, wie Annie ihm nackt am Tisch gegenübersaß und der Kerzenschein auf ihre weiche, glatte Haut fiel. Vor Verlangen hielt er es kaum aus. „Marc, bist du noch da?" Viel zu sehr, dachte er und war froh, daß Annie in diesem Augenblick weit weg war. Seine Gefühle waren schon wieder mit ihm durchgegangen. „Ja, ich bin noch da", antwortete er heiser. Beatrice kam heran und wollte gestreichelt werden. Annie beugte sich zu dem Hund hinab. „Wir beide machen wirklich Fortschritte.“ Marcus merkte, daß er immer mehr an Boden verlor, und wollte nicht kampflos aufgeben. „Zur Zeit machen wir Pläne für ein Abendessen.“ „Richtig." Weshalb klang bei Annie alles, als stecke eine ganz andere Bedeutung dahinter? Vielleicht weil es in diesem Fall stimmt, überlegte Marcus: Nur wollte er es nicht wahrhaben. „Wie schnell kannst du fertig sein?" Annie brauchte nicht lange, um sich anzuziehen. „Wann kannst du hier sein?" Marcus sah auf seine Armbanduhr und rechnete kurz. „Ich hole dich in einer Stunde ab." Das war mehr als genügend Zeit. „Dann bin ich in einer Dreiviertelstunde soweit. „Also, bis gleich." Marcus legte auf und bemerkte sein Gesicht im Spiegel. „Ich bin ein Idiot", sagte er laut und; ging nach oben, um sich umzuziehen. Annie hängte ein und strahlte über das ganze Gesicht. „Das war er, Beatrice. Ob du heute abend ohne mich auskommst?" Der Hund fiepte leise. ,,Braves Mädchen." Schon schoß sie davon, um tausend Dinge in fünfundvierzig Minuten zu erledigen. - 117 -
Genau dreiundfünfzig Minuten später war Marcus da. Annie ließ ihn nicht warten. Kaum hatte er geläutet, riß sie die Tür auf. Annie war noch dieselbe wie vorher, und trotzdem sah sie anders aus. Sie hatte ihr Haar locker aufgesteckt. Marcus hatte keine Ahnung, weshalb es so reizvoll aussah. Sie trug ein leuchtend rosa Kleid mit einer Corsage, die hinten tief ausgeschnitten war. Wenn er die Hand auf ihren Rücken legte, um sie hinauszuführen, würde es ihm vorkommen, als wäre sie nackt. Schon bei dem Gedanken daran wurde ihm ganz heiß. Ihr Rock war wie ein Sarong gewickelt. Allerdings ein sehr kurzer Sarong. Annie war zwar klein, aber sie besaß ausgesprochen lange, schlanke Beine. „Weshalb starrst du mich so an?" fragte sie. Marcus' Blick gefiel ihr, und sie wollte wenigstens ein kleines Kompliment von ihm hören. „Sehe ich sehr gut aus oder katastrophal?" Verdutzt wandte Marcus sich ab, weil sie ihn ertappt hatte. „Das erste." „Ich fühle mich geschmeichelt. Du machst Fortschritte." Sie lachte leise und sinnlich, und er faßte die Blumen in seiner Hand fester. Noch hatte er ihr Haus nicht betreten. „Ich mag Blumen sehr. Sind sie für mich?" Ungeschickt drückte Marcus ihr den Strauß in die Hand. „Das war Kens Idee. „Sind die hübsch." Marcus hätte ihr einen Strauß Brennesseln mitbringen können, sie wäre ebenfalls sehr, sehr glücklich darüber gewesen. „Hast du Ken erzählt, daß du mit mir essen gehst?" Ken war in sein Zimmer gekommen, als er gerade gehen wollte. Da hatte er es ihm gesagt. Weshalb freute sich Annie so - 118 -
darüber? Nun, der Junge war ein unverfängliches Thema, und das brauchte er jetzt. „Ja", antwortete Marcus. „Er meinte, du wärest sehr nett." „Ich finde ihn auch sehr nett." Annie ließ Marcus stehen und suchte nach einem Gefäß für die Blumen. Auf dem Regal fand sie eine Vase aus Bleikristall, die ihre Mutter ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Geschickt arrangierte sie den Strauß und stellte ihn auf das Klavier. Dann drehte sie sich wieder zu Marcus. „Und was meinst du?" Marcus wünschte, er hätte einen Drink, um seine Hände zu beschäftigen. „Ich finde, er ist wirklich ein nettes Kind." „Stimmt. Aber ich fragte nach mir." Sie trat einen Schritt vor und drehte sich langsam im Kreis. Als sie ihn wieder ansah, merkte sie, daß Marcus sie argwöhnisch betrachtete. „Was denkst du über mich?" „Ich versuche, so wenig wie möglich an dich zu denken", murmelte er. „Und gelingt es dir?" Marcus hätte lügen können, aber er tat es nicht. Annie hatte ihn längst durchschaut. „Nein.“ Sie hakte sich bei ihm unter. „Das freut mich. Möchtest du noch einen Drink, bevor wir gehen?" Am liebsten gleich ein halbes Dutzend, dachte Marcus. Wie hatte er sich freiwillig in diese Lage bringen können? Aber besaß er noch einen freien Willen? Er war sich nicht sicher.' Ein Drink war verlockend. Doch wenn er jetzt Alkohol trank, verlor er am Ende restlos die Kontrolle über sich. „Nein, danke. Ich habe für neunzehn Uhr dreißig einen Tisch für uns bestellt. Wir sollten lieber losfahren." „Wie du möchtest. Sie reichte ihm einen langen Seidenschal. Da Annie stehenblieb, legte er ihr das Tuch um die Schultern. Ihre Haut war glatt und seidenweich. Marcus ließ - 119 -
seine Finger einen Moment länger liegen als nötig. „Übrigens..." begann er. Es fiel ihm nicht leicht. „Ja?" „Dies ist ein Rendezvous." Damit führte er sie zu seinem Wagen. Ohne sie anzusehen, wußte er, daß Annie still vor sich hin lächelte.
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10. KAPITEL Das Restaurant war nur schwach beleuchtet. Die Gäste an den Tischen unterhielten sich so leise, daß sie kaum zu hören waren. Marcus hatte den Eindruck, ganz allein mit Annie in der Nische zu sitzen. Trotzdem war es nicht jene Einsamkeit, die er sonst inmitten von Menschen empfand. Dies war anders, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Warum hatte er Annie eingeladen? Und weshalb fiel es ihm immer schwerer, ihr zu widerstehen? Erneut war ihm, als stecke er im Treibsand: Je stärker er sich dagegen wehrte, desto tiefer sank er ein. Was hatten Annies mandelförmige Augen an sich, daß er nicht mehr klar denken konnte? Woraus bestand diese Erwartung, die ihn erfaßte, sobald sie ihn ansah? „Du bist schrecklich still", stellte Annie beim Nachtisch fest. Sie hatte gehofft, Marcus endlich richtig kennenzulernen, nachdem er sie eingeladen hatte. Annie schien das Essen zu schmecken. Er selbst merkte gar nicht, was er auf dem Teller hatte. „Du ebenfalls. Ich hätte es nicht für möglich gehalten." Annie legte ihre Gabel hin. „Ich kann durchaus schweigen", erklärte sie. „Ich unterhalte mich nur gern - nach Möglichkeit nicht mit Filmgestalten, sondern mit lebendigen Menschen." Langsam beugte sie sich vor, und Marcus war es, als würde er wie die Kompaßnadel zum Nordpol unweigerlich von ihr angezogen. „Weshalb hast du mich eingeladen?" Weil ich nach mehr als einer Woche Zusammenarbeit mit dir am Rande des Wahnsinns bin, hätte er beinahe geantwortet. Mußte Annie so direkt sein? Ahnte sie nicht, daß er auf so eine peinliche Frage keine Antwort wußte? „Mich muß der Teufel geritten haben", sagte er endlich. - 121 -
Annie lachte und trank einen Schluck Wein. Marcus beobachtete sie, während sie schluckte, und wäre der Spur gern mit der Fingerspitze gefolgt. Noch lieber hätte er die Lippen auf ihren Hals gepreßt und sich restlos in ihrem süßen Duft verloren. Er mußte mit dieser Frau schlafen, bevor die Fantasie mit ihm durchging. Ich bin tatsächlich am Rande des Wahnsinns, dachte er. Es dauert nicht mehr lange, und ich schnappe über. „Manchmal ist der Teufel ein sehr netter Kerl antwortete Annie und sah zu, wie sich das Kerzenlicht in ihrem Weinglas spiegelte. Dann blickte sie Marcus wieder an. Er hatte wunderschöne Augen. „Sei heute abend offen zu mir, Marcus. Bitte, rede nicht um den heißen Brei herum. Du kannst dich so gut ausdrücken, aber..." Sie ergriff seine Hand, und er schloß die Finger um ihre. Es war eine ganz natürliche Geste. „In deiner Gegenwart komme ich mir ziemlich wehrlos vor", antwortete er aufrichtig. Annie schüttelte den Kopf. „Nein, du bist nicht wehrlos. Aber du versteckst dich ständig hinter Worten." Annie ist eine gute Beobachterin, stellte er fest. Sie begriff, daß er die Wörter wie einen Schutzschild benutzte, um nicht verletzt zu werden. Was wußte sie sonst noch von ihm? Annie merkte, daß Marcus sich innerlich von ihr entfernte. Sie wollte nicht ausgeschlossen werden, nicht heute nacht. „Rede mit mir, Marc. Rede offen mit mir", drängte sie ihn. „Als wären wir zwei Menschen, die sich näher kennenlernen möchten." Sie lächelte breit. „Tu einfach so." Das ist bestimmt nicht nötig, dachte Marcus. „Weshalb soll ich so tun?" „Weil dann nette Dinge passieren, die vielleicht zu einem glücklichen Ende führen.“ Das war zwar nicht, was er hören wollte, aber er mußte sich damit begnügen. Annie glaubte, was sie sagte. Er, Marcus, wußte es besser. „Es gibt, kein glückliches Ende.“ - 122 -
„Für eine Weile schon", beharrte sie. Seine Eltern, fielen ihm ein. Und das elternlose Kind, das zu Hause auf ihn wartete. Seine Verärgerung über die Ungerechtigkeit der Welt wuchs. Begriff Annie denn nicht? „Bist du wirklich so naiv?" „Nein", antwortete sie mit fester Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. „Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Du kannst dich nicht vom Leben abkapseln, nur weil es schlecht enden könnte. Man darf nicht, immer nur auf das Schlimmste gefaßt sein." „Weshalb nicht?" fragte Marcus verbittert. „Dann wird man wenigstens nicht enttäuscht." Wie tief Marcus' Wunden waren! Es mußte viel mehr dahinterstecken als der Verlust des Freundes. Wie sollte sie ihn dazu bringen, ihr zu vertrauen und ihr alles zu erzählen? „Man erlebt aber auch keine Freude", antwortete sie schließlich. Sie merkte, daß sein Blick hart wurde, und versuchte, ihn mit den eigenen Waffen zu schlagen. „Mußt du mir immer widersprechen?" fragte sie leise. Marcus trank einen großen Schluck Wein. Annie war eine unverbesserliche Optimistin. Jason und Linda hätte sie gefallen. Er mußte sich hüten, die Dinge wie sie zu betrachten. „Wahrscheinlich", stimmte er ihr zu. Annies Ärger verflog. Er hielt nie lange an. „Das glaube ich nicht."' Marcus kam es vor, als blickte Annie ihm bis ins Herz und kenne ihn besser, als er sich selber. „Was glaubst du nicht?" Die Bedienung räumte die Teller ab, doch Annie ließ Marcus nicht aus den Augen. „Daß du der Mann bist, den du vorzugeben versuchst." Er legte seine Kreditkarte auf die Rechnung, die die Kellnerin gebracht hatte. „Ich spiele dir: nichts vor." - 123 -
„Doch. Der wirkliche Mann bist du nur in deinen Büchern.“ Annie war eine zu gute Beobachterin. Sie urteilte über das Leben ebenso scharfsinnig wie über die Scheinwelt. Und sie rüttelte an seiner Festung. „Meine Bücher sind reine Produkte der Fantasie." Annie war nicht überzeugt. „Das Gefühl darin ist echt, Erzähl mir von dir“, forderte sie Marcus erneut auf. Er konnte ihr nichts von sich erzählen. Das fiel ihm zu schwer und tat viel zu weh. „Mein Lebenslauf befindet sich auf der Rückseite meiner Bücher." Das wußte Annie, sie hatte die Zeilen gelesen. Sie sagten praktisch nichts über Marcus aus weder über seine Familie, noch über seine Vergangenheit. Nur daß er im Mittleren Westen zur Schule gegangen war, hatte sie daraus erfahren. Wer war er wirklich?' Weshalb waren seine Augen so furchtbar traurig? „Ich möchte noch mehr wissen." Er antwortete nicht, und Annie faltete die Hände auf dem Tisch. „Was würde in deinem Nachruf stehen, wenn du morgen sterben müßtest?" So leicht gab Annie nicht auf, und Marcus lächelte unwillkürlich. „Ich wußte ja, daß es kein glückliches Ende gibt.“ Annie lachte leise. Wenn es um Worte ging, war sie ihm gewachsen. Vielleicht auch sonst. „Du bist unmöglich." Er prostete ihr mit dem halb leeren Weinglas zu: „Ich versuche mein Bestes." Die Bedienung nahm das Tablett mit Marcus' Kreditkarte. Annie sah einem Paar nach, das an ihrer Nische vorüberging. Hinten im Saal war eine Tanzfläche. Leise Bluesmusik scholl herüber. Plötzlich wünschte sie sich sehnlich, in Marcus' Armen zu liegen. „Wollen wir tanzen?" Das wäre ein riesiger Fehler, überlegte Marcus. Er war heute besonders verletzlich und durfte Annie auf keinen Fall in den
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Armen halten. Dankbar nahm er den Beleg, den die Bedienung ihm brachte, und unterschrieb ihn. „Ich kann nicht tanzen." Sein großer, geschmeidiger Körper war für sanfte Bewegungen und den Tanz wie geschaffen. „Das soll wohl ein Witz sein." Gab sie denn niemals auf? Viele Leute konnten nicht tanzen. „Hast du mich schon mal einen Witz machen hören?" „Nun, dann wird es höchste Zeit; daß du tanzen lernst. Komm." Annie stand auf und nahm seine Hand. Die Bedienung lächelte wissend. Marcus blieb wie angewurzelt sitzen. „Selbst wenn ich wollte, daß du es mir beibringst - wozu ich absolut keine Lust habe -, dann bestimmt nicht auf einer vollen Tanzfläche." Obwohl das im Moment vermutlich der sicherste Platz für ihn war. Annie wußte stets, wann sie den Rückzug antreten mußte. „Entschuldigung." Ergeben hob sie beide Hände und setzte sich wieder. „Ich vergaß, mit wem ich es zu tun habe. Vielleicht finden wir ein Plätzchen in deiner Abstellkammer." Er lächelte belustigt. „Die ist voll." Sie sah ihn vielsagend an. „Das dachte ich mir." Wahrscheinlich war sie vollgestopft mit Skeletten aus der Vergangenheit, die Marcus endlich verschwinden lassen mußte. Marcus fragte vorsichtshalber nicht, was Annie mit ihrer Bemerkung gemeint hatte. „Fertig?" „Nein, aber du bist es ja." Sie nahm ihre Unterarmtasche und stand auf. „Jetzt weiß ich nicht mehr über dich als vorher. Du bist ein guter Schattenboxer." „In letzter Zeit habe ich darin eine Menge Übung bekommen", antwortete er und führte sie hinaus. Die kühle, frische Luft half auch nicht. Marcus begehrte Annie immer noch. Hätte er mit ihr getanzt, hätte er sie
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anschließend garantiert mit nach Hause genommen und sie geliebt, bis sie beide erschöpft und atemlos gewesen wären. Selbst jetzt auf dem Weg durch die enge Straße zu ihrem Haus hätte er sie am liebsten gefragt, ob sie nicht zu ihm fahren wollten. Reines Begehren, redete sich Marcus ein. Und er wollte sich nicht von körperlichem Verlangen oder von Sehnsüchten leiten lassen. Das Licht auf Annies Veranda brannte. Marcus hielt seinen Wagen am Kantstein an und schaltete den Motor aus. Einen Moment saß er schweigend da und sah zu, wie der Mondschein hereinfiel. Es warf Licht und Schatten auf Annies Gesicht. Er hätte nicht sagen können, welche Seite reizvoller war. „Da wären wir sagte er endlich und umklammerte weiter das Lenkrad. „Ich habe das Haus erkannt." Marcus wollte mit hereinkommen. Weshalb bat er sie nicht darum? Niemals aufgeben, dachte Annie. Ein Hindernis hatte Marcus überwunden und war ihr auf halbem Weg entgegengekommen. Den Rest schaffte sie allein. „Möchtest du nicht ein bißchen hereinkommen?" Ja, wahnsinnig gern, hätte er am liebsten gesagt. „Es ist spät", antwortete er stattdessen. „Ich habe selber eine Uhr und weiß, wie spät es ist." Sie hob ihren linken Arm. „Danach habe ich dich nicht gefragt. Sie sah, daß er die Stirn runzelte. Wahrscheinlich war sie ihm wieder zu keck. „Also gut, dann stelle ich dir eine leichtere Frage: Machst du noch einen Spaziergang mit mir? Es ist ein wunderschöner Abend, und ich möchte nicht, daß er schon zu Ende geht." Wenn Annie ihm so ansah, konnte Marcus ihr unmöglich etwas abschlagen. Außerdem: Was würde es schaden? Er wollte ja gern noch ein bißchen mit ihr zusammenbleiben. „Einverstanden." „Eins zu null für mich." - 126 -
Annie lächelte so weich, daß Marcus ihr die Bemerkung nicht übelnahm. Er stieg aus, öffnete die Beifahrertür und nahm ihre Hand. Sie schloß die Finger um seine und ließ sie nicht wieder los. „Die Gegend hier ist wirklich sehr hübsch", erzählte Annie. „Großvater kaufte das Haus, weil er den Ozean liebte. Magst du das Meer auch?" Marcus überließ Annie die Richtung und versuchte, nicht daran zu denken, wie schön es war, Hand in Hand mit ihr zu gehen. Annie war nur für, ein paar Wochen in sein Leben getreten. Es war sinnlos, sich näher an sie zu binden. Schlimmer noch: Es wäre die größte Dummheit. „Leider habe ich nur selten Zeit, ans Meer zu fahren", antwortete er. „Marc", schimpfte sie gespielt, „wir sind in Südkalifornien. Hier ist man nirgends weiter als fünf Meilen vom Wasser entfernt. Du zerstörst ja unser Bild eines Sonnenstaates mit weißem Strand und bunten Surfbrettern." Das Licht der Laternen schien nicht sehr hell. Die Nachtluft war ziemlich warm, aber die Brise vorn Meer verhinderte, daß es zu heiß wurde. Eine richtige Liebesnacht, dachte Marcus. Reiß dich zusammen, Sullivan, schalt er sich. „Ich habe noch nie in ein bestimmtes Bild gepaßt." „Das habe ich auch nicht angenommen." Als sie am nächsten Haus entlangschlenderten, begann ein Hund, wie wild zu bellen. Marcus erschrak. „Das ist Chauncey, der Liebhaber von Beatrice", erklärte Annie. „Er ist erheblich kleiner, als er sich anhört." Marcus sah Annie erstaunt an. Sie war völlig ernst. „Wer in aller Welt ist Beatrice?" „Meine Hündin. Sie hat Chauncey ganz wild gemacht." Zärtlich lächelte Annie bei dem Gedanken an das kleine Fellknäuel. „In den nächsten Tagen bekommt sie Junge." Wenn Beatrice ihrer Herrin ähnelte, hatte der Rüde wahrscheinlich keine Chance gegen sie gehabt. „Das ist ja toll." - 127 -
„Das ist die Liebe immer." Marcus antwortete nicht. Da Annie wußte, daß er die Stille mochte, schlenderten sie eine Weile schweigend weiter. Der Spaziergang war richtig entspannend. Marcus erkannte, daß er sich in Annies Gegenwart seltsam wohl fühlte, obwohl er furchtbar gern mit ihr geschlafen und alle ihre Geheimnisse entdeckt hätte. Aber er war nicht zu einer engeren Beziehung bereit. Die Angst vor der Zurückweisung und dem Schmerz und der Enttäuschung, die sie mit sich brachte, war zu groß. Trotzdem wollte das Bedürfnis, jemandem etwas zu bedeuten und etwas Besonderes für ihn zu sein, nicht verschwinden. Sie erreichten das Ende eines langen Blocks mit einer verdunkelten Kunstgalerie an der Ecke. Im Gegensatz dazu war das Cafe auf der anderen Straßenseite noch hell erleuchtet. Fröhliche Paare saßen an den Tischen. „Ich glaube, ich bringe dich lieber nach Hause", schlug Marcus vor. Annie warf einen Blick auf das Cafe. Weshalb mochte Marcus den Anblick glücklicher Menschen nicht? „Zu mir oder zu dir?" fragte sie und zwinkerte ihm zu. „Zu deiner Türschwelle." „Du bist sehr präzise." Als er sich umdrehen wollte, stellte Annie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm scherzhaft „Feigling" ins Ohr. Marcus fühlte ihren warmen Atem, und ein Schauer rieselte seinen Rücken hinab. Er vergaß die Leute im Cafe und hatte nur noch Augen für Annie. Zärtlich nahm er ihr Gesicht zwischen beide Hände und küßte sie. Zum ersten Mal fühlte er sich heute sehr lebendig. Marcus' Kuß war grober, als Annie erwartet hatte, aber dafür um so erregender. Ihr Körper bebte vor Erwartung, während sie sich den herrlichen Empfindungen hingab, die Marcus in ihr weckte. Ohne sich dessen bewußt zu sein, stöhnte sie leise. - 128 -
Marcus spürte das leise Keuchen an seinen Lippen. Die Erregung, die es in ihm hervorrief, war auf einer normalen Skala nicht mehr zu messen. Mit beiden Händen strich er ihren Rücken hinab und genoß es, wie Annie sich an ihn schmiegte. Der Kuß, den sie ihm schenkte, war köstlicher als alles, was er heute abend erlebt hatte. Trotz. ihrer Leidenschaft besaß sie ein Urvertrauen und eine Arglosigkeit, die ihn beinahe überwältigte. Annie war verletzlich, das hatte er nicht erwartet. Und das bedeutete Verantwortung für ihn. Mit letzter Kraft machte Marcus sich von ihr los. „Gehen wir", murmelte er. „Bis ans Ende der Welt, wenn du willst." Ihr Lachen erregte ihn ebenso wie ihre Küsse. Wie in aller Welt sollte er die nächsten Wochen lebend überstehen? Er ging schneller. Annie mußte beinahe laufen, um mit Marcus Schritt zu halten. „Weshalb joggen wir plötzlich?" „Das tun wir doch gar nicht. Mir ist nur etwas eingefallen, das ich heute noch erledigen muß." Kurz darauf waren sie vor ihrer Tür. „Es war ein wunderschöner Abend, Marc. Auch wenn du Mühe hattest, aus dem Telefonhäuschen herauszukommen." Marcus wollte gerade gehen. Verblüfft sah er sie an. „Was heißt das denn schon wieder?" Schelmisch sah sie ihn an. „Erinnerst du nicht? Clark Kent, der seine Verkleidung abstreift und sich als Superman zu erkennen gibt." Zärtlich tippte sie mit der Fingerspitze auf seine Brust. „Ich weiß, daß auch in dir einer steckt. Er nahm ihre Hand fort. „Jetzt redest du Unsinn." „Das war bildlich gemeint", verbesserte sie ihn. „Trotzdem war es Unsinn", wiederholte er. Sie tat, als erschaure sie, und rieb sich die Arme. „Es gefällt mir, daß du soviel Kraft besitzt."
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„Du bist die verrückteste Frau, die mir je begegnet ist", schimpfte Marcus und hätte nicht sagen können, weshalb ihm ganz seltsam in der Magengrube wurde. „Danke." Er versuchte, so verärgert wie möglich zu schauen, aber es gelang ihm nicht. „Das war kein Kompliment." Annie merkte seinen. Augen an, daß er schwach wurde. „War es doch." Er schüttelte den Kopf. „Du legst mir schon wieder etwas in den Mund." „Wenn ich dir schon etwas in den Mund lege..." Sie reckte sich wieder auf die Zehenspitzen. „Oder zumindest in die Nähe..." Sie mußte sich auf seine Arme stützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Dann dies..." Sie bog ihren Kopf zurück, schloß die Augen zur Hälfte und öffnete einladend die Lippen. Marcus konnte der Versuchung nicht widerstehen, zumal seine Lippen noch vom letzten Kuß brannten. Er hoffte nur, er hätte sich so weit in der Gewalt, daß er sich sofort wieder losmachen konnte. Doch er irrte sich. Der rasche zärtliche Kuß glich einem unscheinbaren Gänseblümchen, das sich zum Erstaunen des Gärtners in eine riesige Sonnenblume verwandelte. Eine Kraft, mit der Annies und seine Leidenschaft aufeinander prallten, erschütterte Marcus zutiefst. Er hörte das Blut in den Adern rauschen und ließ sich in Höhen davontragen, deren Existenz er bisher eigensinnig geleugnet hatte. Jetzt mußte er einsehen, daß es sie gab. Ja, dachte Annie, ja! Sie schmiegte sich an ihn und schob die Finger in sein dichtes dunkles Haar. Sie hatte es sich nicht nur eingebildet. Das Verlangen, die Leidenschaft, das dunkle, erregende Begehren war da. Es erfaßte alle ihre Sinne und gab ihr Sicherheit, obwohl es sie bis an den Rand der Ekstase trieb. - 130 -
Hingerissen strich Marcus mit den Händen ihren Rücken hinauf, und sie klammerte sich noch fester an ihn. Wenn sie seine Arme jetzt losließ, würde sie garantiert ins Universum hinausschnellen, und niemand würde sie je wieder einfangen.' Marcus spürte jeden Zentimeter ihres Körpers. Ihm war, als stünde er am Strand, und die Welle, die eben über ihn hinweggegangen war, zog ihm nun den Sand unter den Füßen fort. Jeden Moment mußte er ertrinken. Als er endlich wieder klar denken konnte, bebte er am ganzen Körper und hielt sich kaum noch aufrecht. Er steckte in einer entsetzlichen Klemme. Er wollte dies alles nicht - konnte es nicht wollen. Und trotzdem wünschte er sich noch mehr. Entschlossen trat er einen Schritt zurück. „Du solltest jetzt schlafen gehen", erklärte er heiser. „Schließlich müssen wir morgen wieder arbeiten." „Du hast recht." Ihre Stimme war kaum zu hören. Ich glaube, das wird großartig, dachte Annie. Jeden Moment konnte etwas absolut Fantastisches passieren. Vielleicht sollte sie es etwas langsamer angehen lassen, sonst stürzte sie am Ende ab und verbrannte wie ein Meteorit in der Erdatmosphäre. Sie blieb auf der Türschwelle stehen, während Marcus zu seinem Wagen ging, und, stand noch da, als er davonfuhr. Marcus hatte keine Ahnung, wie er nach Hause gekommen war. Als er die Tür öffnete, läutete das Telefon. Genau der richtige Zeitpunkt, dachte er und fragte sich, wer mitten in der Nacht noch anrief. Nach dem siebten Läuten nahm er ab. „Hallo?" Er hätte wissen müssen, wer so hartnäckig war. „Ich finde, es ist an der Zeit, bei mir zu Hause weiterzuarbeiten", erklärte Annie. „Wir sollten gleich morgen damit beginnen." „Ich glaube, das haben wir bereits", antwortete er. Aber nur das Freizeichen war zu hören.
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11. KAPITEL Marcus konnte nicht einschlafen. Es lag nicht an dem Sturm, der plötzlich mit Donner und Blitz am Himmel aufgezogen war. Das Blut rauschte so stark in seinen Adern; daß er keine Ruhe fand. Einfacher ausgedrückt, es lag an Annie. Jedesmal, wenn Marcus die Augen schloß, sah er sie willig und einladend vor sich, und sein Mund wurde ganz trocken. Sie glich einer Sirene, die ihn lockte und am Ende ins Verderben stürzen würde. Er hatte Annie die Wahrheit gesagt: Er glaubte nicht an ewiges Glück. Glück kam in kleinen Portionen, verschwand bald wieder und ließ Enttäuschung und Leid zurück. Diese Lektion hatte er von seinen Eltern gelernt und mehr noch nach Jasons und Lindas Tod. So etwas wollte er nicht noch einmal erleben. Deshalb durfte er nichts mit Annie anfangen. Nur wußte er nicht, wie er ohne sie leben sollte. Marcus fluchte stumm und wünschte einen Moment, er wäre ein Trinker. Dann könnte er jetzt seine Sinne betäuben und seinen Verstand vernebeln. Damit löste er zwar seine Probleme nicht, aber er hätte für eine Weile Ruhe. Verärgert warf er das Laken zurück und stand auf. Da hörte er das Geräusch zum ersten Mal. Es war ganz leise, aber es hob sich deutlich gegen das laute Donnergrollen ab. Marcus horchte eindringlicher und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung die Laute kamen. Jemand wimmerte. Ken. Ohne den Morgenmantel überzuziehen, öffnete Marcus die Doppeltür seines Schlafzimmers und trat in die dunkle Diele hinaus. Da hörte er es erneut. Erst kam der Donnerschlag, dann; das ängstliche Wimmern. - 132 -
Wie oft hatte er sich als Kind nachts verkrochen und voller Angst auf den Donner gehorcht? Und niemand war gekommen, um ihn zu trösten. Das würde er nie vergessen. Marcus legte eine Hand auf den Türgriff. Dann zögerte er plötzlich, klopfte und wartete einen Moment. Der Junge sollte Gelegenheit haben, seine Tränen zu trocknen. „Ken, bist du noch wach? Ich kann bei diesem Gewitter nicht schlafen und wollte dich fragen, ob du mir ein bißchen Gesellschaft leistest." Ken wischte die Tränen mit dem Handrücken fort und atmete unregelmäßig. Sein Vater hatte gesagt, daß ein Junge ruhig weinen dürfe. Sein Freund war bestimmt anderer Ansicht. Er wollte Mr. Sullivan nicht mißfallen, denn der war alles, was ihm von seinem Vater geblieben war. „Natürlich." Marcus öffnete die Tür und hoffte, daß er den Jungen nicht verlegen machte. Ken sollte wissen, daß er nicht allein war. Allein zu sein, war das Schlimmste auf der Welt. „Danke." Er betrat das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. „Ich..." Und was jetzt? Mit Kindern kannte er sich ebensowenig aus wie mit Frauen. Er wußte nur, daß Ken ihn brauchte, und dem durfte er sich nicht entziehen. Marcus betrachtete das kleine gerötete Gesicht. Ken versuchte, so unbekümmert wie möglich zu sein, aber die Anspannung war ihm deutlich anzumerken. Marcus wurde es ganz warm ums Herz. „Willst du nicht zu, mir herüberkommen? Mein Zimmer ist größer. Dort können wir uns unterhalten." Ken lächelte erleichtert, und Marcus merkte, daß er den richtigen Ton getroffen hatte. „Worüber?" wollte der Junge wissen und kletterte aus dem Bett. Bei Mr. Sullivan fühlte er sich sicher. Der Donner würde ihm nichts anhaben, solange das Licht brannte und er mit jemandem reden konnte. - 133 -
Marcus ließ sich von seinem Instinkt leiten und strich Ken über den Kopf. „Worüber möchtest du denn reden, mein Junge?" fragte er, als sie zu seinem Schlafzimmer gingen. Ich hoffe, dir fällt etwas ein, fügte er stumm hinzu und wünschte, Annie wäre hier. Sie wurde mit so einer Situation besser fertig als er. Halb hoffnungsvoll, halb ängstlich sah Ken zu dem großen Mann auf. „Können wir über Daddy reden?" Marcus zögerte einen Herzschlag lang, denn auf diese Bitte war er nicht gefaßt gewesen. „Wenn du möchtest..." „Ja, ich möchte. Vielleicht hilft es ein bißchen." Besser konnte Ken sich nicht ausdrücken, aber Marcus verstand. Er zog das Laken beiseite und setzte sich auf den Bettrand. „Willst du hineinklettern?" fragte er. „Das Bett ist schön bequem, soweit man das von solch einem Möbel sagen kann." Nichts wollte Ken lieber, als die restliche Nacht unter Marcus' schützenden Fittichen zu verbringen. Zu Hause war er bei jedem Sturm und nach jedem schrecklichen Traum zu den Eltern gekrochen. Sein Vater hatte die Monster immer verscheucht. Sie hätten Angst vor Footballspielern, hatte er behauptet. Nachdenklich betrachtete Ken den Freund seines Vaters und überlegte; ob der ebenfalls Macht über die Monster besaß, Marcus bemerkte den fragenden Blick. „Was ist?" „Haben Monster Angst vor Schriftstellern?" Marcus begriff sofort. „Schreckliche Angst." „Wirklich?" „Ja, unbedingt." Er legte sich ins Bett und überließ Ken die Entscheidung, ob er zu ihm kommen wollte. „Schriftsteller können dafür sorgen, daß sie sich in Luft auflösen, ohne eine Spur zu hinterlassen." Ken hatte sich immer vorgestellt, daß sein Vater die Monster zusammenschlagen würde. Dies war neu für ihn. Vorsichtig - 134 -
krabbelte er in Marcus' Bett, um die Laken nicht durcheinanderzubringen. „Und wie machen sie das?" Marcus beugte sich vor, vergewisserte sich spielerisch, ob niemand horchte, und flüsterte geheimnisvoll: „Sie radieren sie einfach aus." Ken hielt die Hand vor den Mund und kicherte fröhlich. Marcus hatte noch nie ein so herzliches Lachen gehört. Außer von Annie vielleicht. Aber die rührte nicht nur sein Herz an. Unwillkürlich mußte Marcus an sie denken. Annie würde es gefallen, daß er den verängstigten Jungen zu sich geholt hatte. Doch nicht ihretwegen hatte er es getan, sondern weil er in solch einer Lage von beiden Eltern immer wieder zurückgewiesen worden war. Sie hatten ihn aufgefordert, sich wie ein Mann zu benehmen. Viele lange Nächte war er ein verängstigter kleiner Mann gewesen. „Mein Dad hatte keine Angst vor Monstern", erklärte Ken. Liebe und Wehmut lagen in seinen Worten. „Nein", bestätigte ihm Marcus. „Dein Dad hatte nur Angst vor schlechten Zensuren.“ Ken sah ihn ungläubig an. „Warum das denn?" „Weil er dann nicht Football spielen durfte." Marcus beobachtete den Jungen. Der verstand offensichtlich nicht, worum es ging. „Colleges haben bestimmte Regeln. Wer schlechte Zensuren hat, darf nicht im Footballteam spielen." „Ach so." Marcus erinnerte sich an die langen Nächte, die er mit Jason gepaukt hatte. In Mathematik und den Naturwissenschaften war der Freund nicht schlecht gewesen. Aber die Literatur hatte ihm zu schaffen gemacht. Er hatte mit ihm geübt, bis, Jason die Antworten wie ein Papagei wiederholte und am Ende sogar ein Sonett von einem Limerick unterscheiden konnte. Einfach war es nicht gewesen. Zum Dank durfte Marcus behaupten, einer Universität zu ihrem Footballstar verholfen zu haben.
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Später hatte Jason den protestierenden Marcus immer wieder mitgeschleppt, ihn ins Rampenlicht geschoben und ihm Leute vorgestellt, die er als Vorbilder für die Gestalten in seinen Büchern verwenden konnte. Plötzlich merkte Marcus, daß Ken ihm eine Frage gestellt hatte. „Was hast du gesagt?" „War Dad dumm?" Ken konnte es sich zwar nicht vorstellen, aber vielleicht wußte Mr. Sullivan es besser. ,,Dein Dad?" Marcus schüttelte den Kopf. „Nein, der war nicht dumm. Im Gegenteil, er war der schlaueste Mann, den ich je kennengelernt habe." Er meinte es völlig ernst. „Er fand Freude am Leben, genoß es in vollen Zügen und wußte, wie man das Beste daraus machte." Kens Lider wurden schwer, aber er merkte, daß der Mann neben ihm traurig war. „Können Sie diese Freude nicht finden, Mr. Sullivan?"' Marcus lachte ein wenig. „Nicht einmal, wenn du mir eine Karte dafür zeichnen würdest." Ken sah Marcus an. „Ich kann nicht gut zeichnen." Marcus zerzauste Kens Haar. „Dein Vater konnte es auch nicht, mein Junge." Wieder donnerte es heftig, und Ken duckte sich unwillkürlich. Ohne lange zu überlegen, zog Marcus ihn an sich. „Ich erinnere mich genau...“ Mit leiser Stimme erzählte er Ken Geschichten von seinem Vater, bis der Junge eingeschlafen war. Plötzlich wußte er auch das Thema für sein nächstes Buch: Er würde über Jason schreiben. Über die Freundschaft zweier Jungen, die zum ersten Mal auf sich gestellt waren und sich gegenseitig halfen, mit der Welt zurechtzukommen. Vorsichtig zog Marcus seinen Arm von Kens Schultern und gab acht, daß er ihn nicht weckte. Er deckte den kleinen Körper - 136 -
zu und merkte zu seiner eigenen Überraschung, daß er den Jungen liebte. Ja, er liebte Ken wie einen eigenen Sohn. ,,Du brauchst nie wieder Angst vor einem Gewitter zu haben", versprach er ihm. Annies Haus sah bei Tageslicht viel kleiner aus. Auch gemütlicher. Es war schneeweiß. Wahrscheinlich war es vor nicht allzu langer Zeit frisch gestrichen worden. Die salzige Luft hatte der Farbe noch nichts anhaben können. Marcus entspannte sich bewußt. Er hatte keine Veranlassung, wie ein Verehrer bei der ersten Verabredung verlegen auf der oberen Stufe zu stehen. Dies war kein Rendezvous. Das hatte er gestern abend mit Annie gehabt und es unbeschadet überstanden. Allerdings nur so gerade. Heute war ein normaler Arbeitstag. Marcus läutete, doch niemand antwortete. Er klopfte an die Tür. Nichts. Wahrscheinlich schlief Annie noch. Ungeduldig klopfte er erneut. Und noch einmal. Hatte Annie vergessen, daß er zu ihr kommen wollte, und war sie zu ihm gefahren? Nein, das war nicht anzunehmen. Gerade wollte er wieder gehen, da fiel ihm ein, daß sie das Meer sehr liebte. Hatte sie nicht eine Terrasse erwähnt? Wahrscheinlich war sie dort. Marcus ging an dem weißen Lattenzaun entlang, an dem sich unzählige bunte Blumen rankten, und erreichte die Rückseite des Hauses. Das Gelände stieg etwas an, so daß der Garten ein halbes Stockwerk höher lag. Er legte die Hand über die Augen, und blickte hinauf. Annie saß, in einem weißen Rattansessel und hielt eine Tasse in der Hand. Sie war kein bißchen erstaunt, als sie ihn sah. Die ganze Zeit hatte sie an ihn gedacht und alles um sich herum vergessen. „Hallo." - 137 -
„Hast du mich nicht gehört" wollte Marcus wissen. „Ich habe mindestens fünf Minuten lang an deine Tür getrommelt." „Tut mir leid." Sie lächelte zur Entschuldigung, und seine Verärgerung legte sich sofort. „Das Meer übertönt sämtliche Geräusche. Komm doch her!" Sie deutete auf einen Pfad, der zu der Terrassentreppe führte. Mißtrauisch betrachtete er den Weg. Die Steinplatten hörten auf halber Strecke auf. „Dann bekomme ich ja Sand in die Schuhe." Sie lächelte fröhlich. „Schütte ihn wieder aus." Marcus hätte viel lieber Annie aus seinem Kopf und seinen Träumen geschüttelt. Er lief über den Sand und stieg die Treppe hinauf: ein verdrießlicher Romeo, der zu seiner Julia ging. Doch er setzte sich nicht auf den Stuhl, den sie ihm anbot, sondern hielt seine Aktentasche in die Höhe. „Wollen wir etwa hier draußen arbeiten?" „Nein. Wir wollen erst einmal Kaffee trinken und die Aussicht genießen." Schon goß sie ihm eine Tasse ein. Offensichtlich hatte sie auf ihn gewartet. „Anschließend werden wir arbeiten." Marcus wollte es sich nicht gemütlich machen. Das konnte sonst zur Gewohnheit werden. „Ich möchte keine Zeit verlieren", protestierte er halbherzig. „Die Natur zu genießen ist niemals Zeitverschwendung." Ihm blieb nichts übrig, als sich zu setzen und den Kaffee anzunehmen. „Mach es dir bequem", forderte Annie ihn auf und lehnte sich zurück. „Ist der Anblick nicht atemberaubend?" „Ja." Aber er meinte sie und nicht die Aussicht. Annies Lippen waren leicht geöffnet, während sie auf das Meer hinaussah, dessen weißer Schaum den Strand säumte, so weit das Auge reichte. Sie hatte das Haar zurückgebunden und kaum Make-up aufgelegt. „Wirklich atemberaubend", stimmte er ihr zu. - 138 -
Sie sah ihn an und merkte, daß er nicht auf das Meer schaute. Der Glanz in seinen Augen schürte ihr Verlangen. Aber noch hielt die innere Stimme sie zurück. „Ich glaube, wir sollten jetzt an die Arbeit gehen", sagte sie. Sie stand auf und ergriff seine Hand. „Ich habe drinnen eine Ecke für uns freigemacht."... Annie öffnete die gläserne Schiebetür und führte Marcus in ihr Wohnzimmer. Im ersten Moment sah er im Dämmerlicht nichts und stolperte über etwas auf dem Boden. Eine ganze Menge liegt hier herum, stellte er fest. Offensichtlich war Annie keine fanatische Hausfrau. Doch das Bündel, das er angestoßen hatte, bewegte sich. „Vorsicht!" rief Annie und ging in die Knie. „Ist dir etwas passiert?" „Nein, alles in Ordnung", antwortete Marcus bescheiden. Weshalb lag sie auf den Knien? Er war doch nicht gestürzt. Und soweit er Annie kannte, würde sie jetzt bestimmt nicht aufräumen. Verwirrt sah sie zu ihm auf. „Dich habe ich nicht gemeint klärte sie ihn auf. „Ich rede mit Beatrice." „Mit wem?" „Mit meinem Hund. Erinnerst du dich?" Sie nahm die Hündin auf den Arm und stand auf. Zärtlich streichelte sie den Rücken und sprach beruhigend auf das Tier ein. „Beatrice kann jeden Tag Junge werfen, und ich will sie nicht aufregen." Marcus war selber nahe an einem Nervenzusammenbruch. „Ach ja: das Rendezvous mit Chauncey, das nicht ohne Folgen geblieben ist." Die Hündin hatte ein hübsches Gesicht, deshalb streichelte Marcus das Tier. Beatrice begann sofort, seine Hand zu lecken. Erschrocken wich Marcus zurück und merkte, daß Annie, ihn neugierig beobachtete. „Sie fühlte sich so rauh an", erklärte er. „Alle Hundezungen sind rauh." Annie kraulte Beatrice hinter dem Ohr. „Hat dich noch nie ein Hund geleckt?" - 139 -
„Nein." Wahrscheinlich ist sein Hund ein Musterbeispiel an guter Erziehung gewesen, überlegte Annie. Dann kam ihr ein Gedanke. „Hattest du keinen Hund?" „Nein." Niemand sollte nach Annies Meinung ohne ein Haustier sein. Die Lösung lag auf der Hand. „Wenn die Jungen da sind..." Marcus bemerkte ihren Blick und wußte, was in ihr vorging. „Nein", erklärte er und hob zur Verstärkung beide Hände. „Auf keinen Fall. Das schlag’ dir aus dem Kopf. Würdest du Lassie jetzt bitte absetzen, damit wir endlich arbeiten können?" Annie gehorchte. „Lassie wäre zu groß für mich, um sie zu tragen." Er ging nicht auf ihre Bemerkung ein. „Wie kannst du in diesem Chaos arbeiten?" Auf allen nur denkbaren Flächen standen Kleinigkeiten herum. Marcus kam sich wie in einer Falle vor, genau wie er befürchtet hatte. Er wollte nicht in solch einem winzigen Raum mit Annie sein. Es war der reinste Selbstschutz, daß seine Laune sich verschlechterte. „Ich kann überall arbeiten." Sie dachte an sein Arbeitszimmer. ,,Selbst im nüchternsten Raum. Sie erkannte die Spannung zwischen ihnen, der sie sich nicht entziehen konnte. „Küß mich lieber, damit du es hinter dich bringst, bevor wir uns an die Arbeit machen." Marcus wunderte sich schon lange nicht mehr, wie gut Annie seine Gedanken lesen konnte. Und noch weniger überraschte es ihn, wie gern er sie küssen wollte. „In Ordnung. Ich würde alles tun, damit wir das Drehbuch hinter uns bringen", murmelte er an ihren Lippen.
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Er gab Annie keine Gelegenheit zu einer Antwort. Dafür mochte er sie viel zu sehr. Ja, mehr noch, er begehrte sie, als wäre er süchtig. Noch konnte er sein Leben steuern und nein sagen. Aber er wollte es nicht. Nicht jetzt. Aufreizend langsam strich er mit den Lippen über ihren Mund, ihre Wangen und ihre Augenlider, und sein Atem ging ebenso rasch wie sein Herzschlag. Er zerrte das T-Shirt aus ihren Jeans und schob die Hände darunter. Er mußte Annie halten, sie berühren und ihre Haut fühlen. Sie keuchte und drängte sich enger an ihn, und er folgte nur noch seinem Instinkt. Beinahe ehrfürchtig glitt er mit den Händen höher, bis er die sanften Rundungen ihrer Brüste umschließen konnte. Annie wollte sich ganz den Empfindungen hingeben, die Marcus in ihr weckte. Seine Hände waren warm, zärtlich und besitzergreifend. Wie sehr begehrte sie diesen Mann. Ein heftiges Verlangen erfaßte sie, und ihr Herz schlug wie wild gegen ihre Rippen. Bisher hatte sie nur einem Mann erlaubt, sie körperlich und gefühlsmäßig derart aufzuwühlen, und sie sehnte sich danach, den letzten Schritt zu tun und erneut zu lieben. Marcus küßte sie leidenschaftlich und verzehrend. Sie spürte seine Lippen in ihrem Gesicht, an ihrem Kinn und an ihrem Hals. Überall, wo er sie berührte, pulsierte ihre Haut. Endlich preßte er die Lippen erneut auf ihren Mund. Sein Kuß war hart und ungeduldig. Immer wieder nahm er ihre Lippen in Besitz, reizte und forderte sie, bis Annie jedes Gefühl für Zeit und Raum verlor. Wenn ich jetzt nicht aufhöre, gibt es kein Zurück, dachte Marcus. Er würde sie gleich hier inmitten der Unordnung nehmen. Doch etwas, vielleicht Angst, hielt ihn zurück. Verzweifelt riß er sich los und barg sein Gesicht in ihrem Haar. Es roch nach Meer und Blumen. „Ich glaube, das haben wir hinter uns", sagte er und versuchte, seinen frenetischen Herzschlag zu beruhigen. „Machen wir uns an die Arbeit. - 141 -
Wir haben es hinter uns? überlegte Annie verwirrt. O nein, mein Freund, noch. lange nicht. Da ist noch viel, viel mehr. Aber im Moment sollte es ruhig nach Marcus' Wünschen gehen. „Einverstanden", erklärte sie, trat einen Schritt zurück und steckte das T-Shirt wieder in den Jeansbund. „Wir können am Fenster arbeiten. Von dort haben wir fast denselben Blick wie von der Terrasse." Es waren derselbe Blick und dieselbe Welt. Aber nichts würde so wie früher sein. Weder für ihn noch für sie.
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12. KAPITEL Sie kamen gut voran. Seit Wochen arbeiteten Marcus und Annie an dem Drehbuch, und es ging besser, als er erwartet hatte. Sie hielten genau den Zeitplan ein. Allerdings liegt das nicht an Annie, dachte Marcus und sah verärgert auf die Uhr. Wo blieb sie nur wieder? Noch immer stritt sie über jede Szene und jeden Dialog mit ihm. Natürlich fand sie, es wäre umgekehrt. Aber er wußte es besser. Schließlich brauchte man zwei für einen Streit. Annie bestand darauf, dem Drehbuch ihren Stempel aufzudrücken. Sie behauptete, es brauche einen weiblichen Standpunkt. Er hatte ihr klargemacht, daß das Buch auch ohne diesen Standpunkt auf die Bestsellerliste gekommen war. Doch sie hatte nur rätselhaft gelächelt, und ihre Meinung verteidigt, bis er nachgegeben hatte. Langsam blätterte Marcus die Seiten durch, die Annie gestern ausgedruckt hatte. Zähneknirschend gab er zu, daß das Drehbuch trotz der geharnischten Worte, mit denen er das Gegenteil behauptete, gute Unterhaltung wurde. Der Film würde auch anspruchsvolle Zuschauer in seinen Bann ziehen. Annie hatte das Beste aus ihm herausgeholt - zumindest auf dem Papier. Wir sind völlig verschieden, überlegte Marcus. Annie denkt beim Schreiben an die Zuschauer. Er selbst schrieb nur zum eigenen Vergnügen. Auf diese Weise berührte es ihn nicht, wenn jemand seine Arbeit nicht mochte. Er konnte sich einreden, daß er über jede Kritik erhaben war. Aber tief im Innern spürte er, daß eine Ablehnung ihn immer noch schmerzte. Marcus legte die Seiten zurück und ging zum Fenster. Wo in aller Welt blieb Annie? Sie hatte selber vorgeschlagen, heute bei ihm zu arbeiten. Inzwischen - 143 -
wechselten sie den Arbeitsplatz regelmäßig. Er hätte darauf bestehen sollen daß sie bei ihr blieben. Dann wüßte er zumindest, wo sie war. Reifen quietschten in seiner Einfahrt, und Ken eilte an seinem Arbeitszimmer vorüber nach draußen. Der Junge hatte sich gut erholt, und seine Augen funkelten fröhlich. Marcus wünschte, er hätte diese Veränderung allein erreicht. Doch er wußte, daß Annie den größten Beitrag dazu geleistet hatte. Annie, immer Annie. Nein, nicht immer, verbesserte. Marcus sich. Annie würde bald wieder gehen. Sobald das Drehbuch fertig war, würde sie ebenso rasch aus seinem Leben verschwinden, wie sie hereingestürmt war. Marcus hörte Kens Stimme. „Für mich?" jubelte der Junge. Offensichtlich hatte Annie ihm etwas mitgebracht. Nicht zum ersten Mal. Sie hatte ihm schon eine Videoanlage und eine ganze Sammlung von Kinderfilmen und Spielen geschenkt. Nach Kens Aufschrei zu urteilen, mußte es diesmal allerdings etwas ganz Besonderes sein. Aber was? Neugierig verließ Marcus sein Arbeitszimmer und betrat die Diele. Ken und: Annie standen noch an der Haustür. Holly umkreiste die beiden wie eine Glucke und hatte wie Ken nur Augen für die Schachtel, die Annie auf den Armen trug. Aus der Schachtel kam ein Geräusch. Annie sah Marcus entgegen und lächelte reizend. Damit entwaffnete sie ihn jedesmal. „Tag." Sie durfte nicht merken, daß er ungeduldig auf sie gewartet hatte, nicht nur, weil sie arbeiten mußten. „Du kommst spät." Sie hatte sich längst an diesen Ton gewöhnt. „Ich wußte im voraus, wie du reagieren würdest. „Was ich von dir nie behaupten kann. Was hast du diesmal mitgebracht?"
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"Einen kleinen Hund!" rief Ken, während eine feuchte rosa Zunge ihm durch das Gesicht fuhr. Er hatte sich auf Anhieb in das winzige Wesen verliebt. Mit leuchtenden Augen sah er Marcus an. „Geht das in Ordnung, Mr. Sullivan? Darf ich ihn behalten? Ken ist sich meiner immer noch nicht sicher, verkannte Marcus Er verhält sich weiterhin wie ein Gast, der fürchtet, beim geringsten Vergehen hinauskomplimentiert zu werden. Vorsichtig streichelte er das weiche Fellbündel. Der Welpe fuhr herum und leckte ihm die Hand. „Wenn ich nein sagte, hätte ich bis zum Ende meiner Tage ein schlechtes Gewissen." Annie lächelte zufrieden. „Wunderbar. Es hat geklappt." Sie drückte Ken die Schachtel in die Hand. „Von nun an bist du für ihn verantwortlich." Das hatte Annie ja geschickt eingefädelt. Sie wußte, daß er jetzt nicht mehr ablehnen konnte. Dabei hätte er niemals seine Zustimmung gegeben, wenn sie ihn vorher gefragt hätte. Aber er durfte Ken nicht enttäuschen, nur um die Oberhand über Annie zu behalten. Das strahlende Lächeln des siebenjährigen Jungen war ihm viel wichtiger als sein Stolz. ,,Ja", stimmte Marcus ihr zu. „Es hat geklappt. Ich nehme an, Beatrice ist bereit, sich von dem Kleinen zu trennen?“ „Dies ist der Kleinste des ganzen Wurfs. Er wird ständig von den anderen herumgestoßen. Ich dachte, Ken könnte vielleicht dafür sorgen, daß er genügend Futter bekommt." Zärtlich strich sie dem Jungen über den Kopf. Ken war so mit dem kleinen Hund beschäftigt, daß er es kaum merkte. „Einverstanden, Ken?" Der Welpe leckte ihm schon wieder das Gesicht, und Ken lachte fröhlich. ,;Ja!" Annie sah die Haushälterin an. „Sie auch, Holly?" Holly preßte die Lippen zusammen. „Darauf läuft es doch hinaus, nicht wahr? Holly muß für alles sorgen."
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Annie ließ sich nicht täuschen. Holly freute sich ebenso wie sie, daß Ken einen Hund bekam. „Nun, ich..." begann sie. Die Haushälterin hob die Hand, damit Annie nicht weiterredete. Guter Trick, dachte Marcus. Den muß ich mir merken. „Komm mit", sagte Holly zu Ken. Sie legte dem Jungen den Arm um die Schultern und führte ihn in Richtung Küche. „Mal sehen, ob ich ein Fläschchen für den Kleinen zurechtmachen kann." Das wäre geschafft, dachte Annie. Und nun zum nächsten Problem. Sie drehte sich zu Marc. „Danke, daß er den Welpen behalten darf." Marcus tat ihre Worte mit einem Achselzucken ab und ging in Richtung Arbeitszimmer. „Mir blieb ja gar keine andere Wahl." Ein härterer Mann hätte trotzdem abgelehnt. „Nein, das stimmt. Da ist noch etwas, Marc..." „O je, was kommt denn nun?" Sie, ging zu ihm und hakte sich bei ihm ein. Er war in jedem Sinn des Wortes gefangen und merkte, daß es ihm nicht unangenehm war. Wäre er aufmerksamer gewesen, hätte ihm das zu denken gegeben. „Der zweite Teil des Films spielt doch in der Nähe von Santa Barbara, nicht wahr?" Verblüfft zog Marcus eine Braue in die Höhe und fragte sich, worauf Annie hinauswollte. „Du hast gut aufgepaßt." „Spötter!" lachte sie. „Ich überlege nur, ob wir nicht für einen Tag dort hinfahren sollten, um ein bißchen die Atmosphäre zu schnuppern. Mühsam machte Marcus sich los. „Ich bin dagewesen", erklärte er. Dort oben, in einer kleinen malerischen Stadt, in die das letzte Viertel dieses Jahrhunderts noch nicht eingezogen war, hatte er die Idee zu seiner Geschichte bekommen.
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Annie war nicht bereit, sich ihren Plan ausreden zu lassen. Sie wollte mit Marcus wegfahren, und wäre es nur für einen Tag. Sie brauchten diese gemeinsame Zeit. Ein oder zwei Stunden in einem .Restaurant reichten nicht aus. „Wann war das?" „Als ich mit dem Buch begann. Vor drei Jahren. Es kann auch vier Jahre her sein." Er schaltete seinen Computer ein und setzte sich, um mit der Arbeit zu beginnen. Annie antwortete nicht. Marcus lehnte sich zurück und blickte nachdenklich auf den leeren Bildschirm. Es war lange her, daß er da oben gewesen war. Zu lange. Schön und friedlich war die Zeit gewesen. Plötzlich. verspürte er den Wunsch, Annie alles zu zeigen und das Erlebnis mit ihr zu teilen. „In Ordnung, wir werden hinfahren." „Und wann?" Die Frau war nie zufrieden. „Ich nehme an, du möchtest es noch heute." Er kannte Annie inzwischen. Das war beängstigend und erregend zugleich. Annie machte einen kläglichen Versuch, geduldig zu bleiben und sich nach ihm zu richten. „Wenn es dir recht ist ..." Marcus lachte auf und schaltete seinen Computer wieder aus. Sie würden heute bestimmt nichts mehr schaffen. „Als ob es auf meine Meinung ankäme." Annie stand auf der Schwelle. „Natürlich kommt es darauf an", antwortete, sie ruhig. Noch wichtiger war, daß ihre und seine Meinung zusammenpaßten. Beinahe könnte ich es glauben, überlegte Marcus. Vor allem, wenn ich es zulasse. Kopfschüttelnd griff er zum Telefon. „Ich muß nur noch einige Termine absagen", erklärte er.
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Gerade hatte Marcus sein letztes Telefongespräch beendet, da kehrte Annie mit einem großen Korb über dem Arm in sein Arbeitszimmer zurück „Was ist das denn?" fragte er. „Hast du noch einen Hund dabei, den du loswerden möchtest?" Er hatte immer noch nicht richtig verstanden. „Den ersten wollte ich eigentlich auch nicht loswerden." „Weshalb hast du ihn dann ...?" „Ich dachte, Ken könnte einen weiteren Freund gebrauchen. Neben dir", fügte sie nachdrücklich hinzu. Ihre Erklärung machte ihn verlegen. „Ich bin nicht..." Marcus, konnte sich nicht vorstellen, daß Ken ihn als Freund betrachtete. Annie unterbrach ihn sofort. „Ken hält dich dafür." „Wirklich?" Er wurde richtig aufgeregt. Nein, ich habe mich in diesem Mann nicht getäuscht, dachte Annie. Im Gegenteil, ich hatte sehr, sehr recht. „Ja, es stimmt." Marcus räusperte sich verlegen. „Was ist das dann?" Er nickte in Richtung Korb. „Unser Mittagessen. Holly hat uns ein Picknick eingepackt. Verblüfft starrte Marcus auf den Korb. „Holly? Meine Haushälterin, die größten Wert auf warme Mahlzeiten legt und Fast-Food-Restaurants am liebsten gesetzlich verbieten würde?" Nur Annie konnte das geschafft haben. Sein Respekt vor ihrer Überzeugungskraft wuchs erheblich. Mit dem Zeigefinger strich er, über die geflochtenen Weiden. „Ich wußte nicht einmal, daß wir einen Picknickkorb besitzen." „Ihr besitzt auch keinen - aber ich." „Du, hast ihn mitgebracht!" Annie lief wirklich zur Höchstform auf. Achtlos zuckte sie mit ihren zarten Schultern. „Für den Fall der Fälle." Sie hakte Marcus unter und schob ihn zur Tür. „Und was ist mit Ken?"
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„Er hat beschlossen bei dem Welpen zu bleiben." Annie öffnete die Haüstür. Marcus betrachtete sie mißtrauisch. „Ist dies ein Verführungsversuch?" Nicht daß er etwas dagegen gehabt hätte. Auch das war ein weiteres deutliches Zeichen dafür, daß er langsam den Verstand verlor. Annie sah ihn mit unschuldiger Miene an. „Wir wollen uns nur die Landschaft ansehen und die Stimmung in uns aufnehmen. Abgesehen davon, warst du derjenige, der sofort losfahren wollte.“ Die Haustür schloß sich hinter ihnen, und Marcus stellte fest, daß es ein herrlicher Tag für ein Picknick war. Mein allererstes Picknick, überlegte er. Es gab eine Menge Dinge, die er zum ersten Mal mit Annie tat. „Als hätte ich eine Wahl gehabt." „Nanu, Mr. Sullivan." Annie klimperte mit den Wimpern, und ihre Stimme nahm einen trägen Südstaaten-Akzent an. „Ich dachte, du gibst niemals die Fäden aus der Hand." Sie lächelte reizend. „Du bist kein Mann, der sich zu irgendetwas zwingen läßt. Du würdest nicht mitkommen, wenn du es nicht wolltest." Marcus mußte wissen, daß ihr das klar war. Sie stand neben dem Wagen und wartete, daß er die Tür aufschloß. Annie hatte recht. Er wollte diesen Ausflug mit ihr machen. Über die Gründe dafür würde er später in Ruhe nachdenken. Es war eine dreieinhalbstündige Fahrt durch dünn besiedeltes Gebiet. Unmerklich erneuerte die Landschaft Marcus' Glauben an die Natur, an das Leben und die Bedeutung der Sinne, mit denen man diese Schönheit in sich aufnahm. Als sie nach einhundertfünfzig Meilen ihr Ziel erreichten, hatte sich sein schneidender Spott fast gelegt. Je weiter sie sich von Los Angeles und seinem Haus entfernten; desto entspannter und zugänglicher wurde er. - 149 -
Er überließ Annie die Wahl der Stelle, wo sie anhalten wollten. Der Tag war viel zu schön, um Punkte für einen Sieg zu sammeln, der ihm heute nichts bedeutete. Im Gegenteil, es gefiel ihm, daß Annie und er häufig derselben Meinung waren. „Wie bitte, du hast keine Kamera dabei?" fragte Marcus, während sie Hand in Hand einen Panoramaweg hinabschlenderten, wo sich die Natur von ihrer schönsten Seite zeigte. „Ich dachte, du würdest Berge von. Fotos aufnehmen. " Er hatte ein Album auf ihrem Couchtisch gesehen, das gewiß voller Erinnerungen steckte, und beneidete sie darum. „Das tue ich auch." Mit einem Finger zeigte sie auf ihre Schläfe. „Hier oben wird alles gespeichert. Belustigt schob Marcus ihr das Haar aus der Stirn. „Und wie willst du es dort je wiederfinden?" „Sehr witzig." Annie hielt, seine Hand fest. „Du machst tatsächlich Fortschritte, Sullivan." „Bitte, nimm mir nicht den Mut." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn leicht auf die Lippen. „Auf keinen Fall, Marc.“ Der Kuß hatte eine ungeheure Wirkung auf ihn. Plötzlich fühlte Marcus, sich rundum wohl. Während sie unter den gewaltigen Rotholzbäumen entlangschlenderten, kam es ihm auf einmal vor, als sähe er alles zum ersten Mal. Es war ein wunderschöner Nachmittag, eine Verherrlichung des Lebens selbst, und die Zeit schien stillzustehen. Annie hatte Marcus' Hand genommen und ließ sie nicht mehr los, und er genoß es. Ihm war, als müßte es so sein. Einen Tag lang konnte er tun, als glaube er es wirklich. Vielleicht geriet er zu tief in diese Sache hinein. Er kannte die Gefahr, die darin steckte, Auf, dem Papier konnte er eine Situation kontrollieren und die Zügel straffer ziehen, sobald sie ihm aus der Hand glitten. Entwickelte sich etwas anders, als er wollte, brauchte er nur auf den Knopf zu drücken, und der Text
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auf dem Bildschirm war gelöscht. Im Leben war das nicht so einfach. Während er jetzt mit gekreuzten Beinen unter einem Baum saß und zusah, wie Annie das Essen auf der Decke verteilte, hatte er den Eindruck, die Henkersmahlzeit zu bekommen, bevor sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzog. Es gab kein Entkommen. Er saß in der Falle. Es sei denn, es gelingt mir, mich doch noch von dem Strick zu befreien, überlegte Marcus und trank einen Schluck Wein. Aber die Aussichten dafür waren gering. Annie redete ununterbrochen. Es störte sie nicht, daß er kaum antwortete. „Merkst du eigentlich, daß du selbst beim Kauen noch sprichst? Ich dachte, dabei würde man sich zwangsläufig verschlucken", stellte Marcus fest. „Du redest ohne Punkt und Komma." Sie nahm ihm die Bemerkung nicht übel. Langsam strich sie mit den Fingern über ihre Leinenserviette, und er fragte sich, wie es wäre, wenn sie seine Haut streichelte. „Das kommt, weil du überhaupt nichts sagst. Die Natur gleicht so etwas aus." „Mit der Natur hat das nichts zu tun", erklärte er und beobachtete sie. „Hast du Angst, mit deinen Gedanken allein zu sein?" Annie zuckte zusammen, und Marcus erkannte, daß er ins Schwarze getroffen hatte. Das war nicht seine Absicht gewesen. Er hatte Annie nicht wehtun wollen. „Manchmal." „Weshalb?" Annie blickte in die Ferne. „Das ist eine lange Geschichte." „Die du nicht erzählen möchtest?" fragte Marcus ungläubig. „Bei einer Frau, die hundertfünfzig Meilen lang ununterbrochen geredet hat, kann ich mir das kaum vorstellen.
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Sie lächelte traurig. Ein Eichhörnchen sprang von einem Baum zum anderen, stutzte plötzlich und blieb regungslos sitzen. Annie tat, als beobachtete sie es aufmerksam. „Manche Gedanken sind sehr persönlich." Sie warf dem Tier ein Stück Brot zu. Marcus traute seinen Ohren nicht. Die Seiten hatten sich verkehrt. „Bei mir hast du darauf keine Rücksicht genommen." Nervös riß Annie einen weiteren Brocken Brot ab und warf ihm dem Eichhörnchen hin. „Weil, ich dich besser kennenlernen wollte. Den Mann, den ich in deinen Büchern angetroffen hatte." Das Eichhörnchen eilte erschrocken davon, und einige Eichelhäher stürzten sich auf die Reste, die es hinterlassen hatte. Marcus legte seine Hand auf ihre. „Und wenn ich dich ebenfalls - richtig kennenlernen möchte?" Annies Herz schlug schneller. „Stimmt das? Möchtest du das wirklich?" Ja, dachte er, ich möchte es. „Ich sage nie etwas, das ich nicht meine. Für Lügen läßt uns das Leben nicht genügend Zeit." Annie gefiel diese Aufrichtigkeit. Marcus war ein guter Mensch. Einen Moment schwieg sie. Gerade wollte er eine Bemerkung machen, da sagte sie plötzlich ganz leise, als hätte sie Angst, ihre Gefühle zu verraten: „Es gab einmal einen Mann, den ich sehr geliebt habe." Marcus merkte, wie sich sein Inneres zusammenzog, und er fragte sich, weshalb ihm .Annies Worte so nahegingen. Egoistisch, wie er nun, einmal war, ertrug er den Gedanken, nicht, daß sie jemand anders geliebt hatte. Unsinn, schalt er sich. Das ist reiner Unsinn. Annie ahnte nicht, was ihm durch den Kopf ging. Versonnen fuhr sie fort „Ich dachte, Charlie wäre jener Mann, mit dem ich bis zum Ende meines Lebens glücklich sein würde. Wie im - 152 -
Märchen. Wahrscheinlich war ich ein Produkt meiner Umgebung." Ein bittersüßes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich hatte zu viele Filme gesehen." „Er hat dich verlassen?" Marcus konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann, der Annie kennengelemt hatte, sie je wieder verlassen würde Von ihm abgesehen, natürlich, aber das war eine andere Geschichte. Sie hatte nichts mit ihr zu tun, sondern ausschließlich mit ihm. Und seinem Selbsterhaltungstrieb. Annie schloß die. Augen: „Nicht freiwillig', antwortete sie endlich. „Weshalb dann?“ Auf den Schmerz in ihrem Blick, als sie die Augen. wieder öffnete, war er nicht gefaßt. „Charlie starb. Vor etwas über einem Jahr. Ganz plötzlich." Sie stieß die Worte ruckweise hervor. „Es war bei einem dieser dummen Bootsrennen. Dabei hatte er nicht einmal mitmachen wollen. Doch seine Freunde überredeten ihn. Einer von ihnen brauchte einen ersten Steuermann, oder wie man den Kerl nennt, der beim Steuern hilft." Sie sah Marcus an, und Tränen glitzerten in ihren Augen. Marcus fühlte mit ihr, obwohl, er auf den Mann eifersüchtig war, der Annie seit seinem Tod ungewollt diesen Schmerz zugefügt hatte. „Ich weiß auch nicht, wie man ihn nennt", sagte er, zog sie in seine Arme und küsste sie.
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13. KAPITEL Es war ein sanfter, zarter Kuß, der nur andeutete, was sich hinter dem Schutzwall verbarg, den Marcus keinesfalls niederreißen wollte. Mehr durfte er sich nicht erlauben. Er konnte Annie seine wahren Gefühle nicht zeigen, bevor er nicht sicher war, daß sie ihn so akzeptierte, wie er war. Falls er den Kuß auch nur ein wenig vertiefte, würde sie erkennen, wie stark er für sie empfand. Er staunte selber darüber. Ihre Lippen waren weich und nachgiebig. Er brauchte sich ihnen nur zu überlassen und... Nein, es würde kein glückliches Ende geben. Nur Narren glaubten daran. Marcus ahnte, daß Annie ihn begehrte. Oder täuschte er sich? Sie war so anders; nie wußte er, woran er bei ihr war. Die Gestalten in seinen Büchern waren ebenfalls vielschichtig, aber die hatte er in der Hand. Im wirklichen Leben war ihm so etwas unheimlich. Es donnerte leise in der Ferne, und ein Schleier legte sich vor die Sonne. Ein Sturm zog heran. Marcus küßte Annie auf die Schläfe. „Ich glaube, wir sollten aufbrechen.“ Annie seufzte leise, als er sie losließ. Sie war enttäuscht. Einen kurzen Moment war Marcus zärtlich und nett gewesen, und sie hatte gehofft, daß er die unsichtbare Linie, die sie trennte, überschreiten würde. Sie konnte doch nicht alles allein tun. Nicht, wenn es um etwas so Wichtiges ging. Jedesmal, wenn Marcus sie in den Armen hielt und sie küßte, brachte er sie näher an den, Rand der Ekstase. Diesmal wäre sie beinahe darüber hinweggetaumelt. Aber das mußte gleichzeltig mit ihm geschehen: Doch immer machte er sich im letzten Moment los, zog sich in sein Schneckenhaus zurück und ließ sie mit ihren Gefühlen allein.
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Zum ersten Mal war Annie richtig verzweifelt. Am liebsten hätte sie mit beiden Fäusten auf Marcus' Brust getrommelt und ihn angeschrien, ihr endlich zu erzählen, was ihn zu diesem Gefühlskrüppel gemacht hatte. Aber was würde das nützen? Trotzdem war sie sicher, daß Marcus sie begehrte. Sie merkte es bei jedem Kuß, fühlte es bei jeder Liebkosung und sah es in seinen Augen. Er war ein viel zu aufrichtiger Mann, um nur vorzutäuschen, daß sie ihm nicht gleichgültig war. Langsam stellte Annie die Schüsseln in den Picknickkorb zurück. Viel lieber hätte sie sie Marcus an den Kopf geworfen. Vielleicht ging er dann aus sich heraus. „Ich glaube, wir haben für heute genug Atmosphäre aufgenommen", meinte sie trocken. Erneut beugte sie sich vor, um die Picknickreste in den Korb zu legen. Der Ausschnitt ihrer Bluse gab den Blick frei auf die sanften Rundungen oberhalb ihres BHs. Marcus' Gesicht spiegelte sich in, einer Flasche. Regungslos betrachtete sie es und erkannte sein Verlangen. War es eine rein körperliche Reaktion? Oder mehr? Warum konnte er seine Gefühle nicht zeigen? Der Mann brachte sie noch zum Wahnsinn. Marcus sah zu, wie Annie den Korb füllte, und merkte, daß sie sich innerlich straffte. Ihm war klar, daß es seinetwegen geschah. Deshalb schob er die Hände tief in die Taschen und blickte in die Ferne. „Mehr als genug“, antwortete er. Was sollte das schon wieder heißen? Es wurde langsam Zeit, daß Marcus sich etwas näher erklärte. Entschlossen setzte Annie sich auf die Fersen. „Du scheinst an mir interessiert zu sein, und trotzdem weichst du zurück, sobald es ernst wird. Soll das eine Art von Spiel sein? Ist das deine Vorstellung von Vergnügen?" Ihr Schmerz und ihre verärgerte Stimme überraschten Marcus. Er wollte Annie nicht wehtun, sondern sich nur selber schützen. „Nein, es ist kein Spiel." Eindringlich sah er sie an. - 155 -
„Ich leugne gar nicht, daß du mir nicht gleichgültig bist und, daß ich mich stark zu dir hingezogen fühle, sobald ich dich küsse." Das genügte Annie nicht. Sie wollte mehr wissen. Vor allem die Gründe für sein Verhalten. „Aber?" Er stöhnte heftig. „Für eine engere Beziehung stehe ich nicht zur Verfügung.'" Annie zerrte die Wolldecke heran, legte sie zusammen: und schlug auf sie ein. Gleichzeitig wünschte sie, es wäre Marcus. „Ich hatte keine Ahnung, daß man sich für eine Beziehung zur Verfügung stellt." Verärgert warf sie die Decke oben auf den Korb. „Ach ja, es stimmt. Waschsalons sollen für die Anbahnung von Partnerschaften stark in Mode kommen. Man sagt, sie könnten sogar den Diskotheken den Rang ablaufen." Marcus versuchte seine Gefühle zu erklären, was ihm - milde ausgedrückt - sehr schwer fiel, und Anne redete von Socken, die die Leute zusammenbrachten. „Kannst du überhaupt nichts ernst nehmen?" Mit einer Hand nahm er die Wolldecke, mit der anderen den Picknickkorb. „Sei bloß froh darüber. Sonst hätte ich dir nämlich eine runtergehauen." Marcus war nicht zum Scherzen zumute. „Du hast recht, für heute haben wir genügend Atmosphäre aufgenommen." Sein Cabrio stand nicht weit entfernt auf der Straße, und er ging los. „Mein Leben, ist derzeit genügend ausgefüllt." Annie lief hinter ihm und zählte in Gedanken bis zehn. „Sicher, es quillt beinahe über", erklärte sie. Marcus reichte es. Nicht alles ging nach Annies Wünschen, auch wenn sie es glaubte. Es ärgerte ihn, daß er sich in ihrer Gegenwart nicht vernünftig ausdrücken konnte. „Ich habe meine Arbeit."
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Sie starrte auf seinen Kopf. Er war nicht dicker als der, anderer Menschen. „Ein großartiger Ersatz für das wahre Leben. Marcus warf den Picknickkorb und die Decke auf den Rücksitz. Der Korb kippte um, und der Inhalt konnte jeden Moment herausfallen. Ihm war es egal. „Außerdem muß ich für einen Jungen sorgen und weiß nicht recht, was ich mit ihm anfangen soll.“ Genügte das etwa nicht? Mehr konnte er sich wirklich nicht aufbürden, selbst wenn ihn die innere Stimme dazu drängte. „Was du mit ihm anfangen sollst?" fragte Annie ungläubig. Sie war es leid, immer nur Marcus' Hinterkopf zu sehen. Deshalb legte sie die Hand auf seine Schultern und zwang ihn, sich zu ihr zu drehen. „Das klingt ja, als wäre er ein Bausatz. Mit einem Jungen wie Ken fängt man nichts an, man liebt ihn einfach." Das versuchte er ja, aber es war nicht leicht. "Es fällt mir schwer, auf Menschen einzugehen." Annie lehnte sich an den Wagen. „Das überrascht mich nicht." Gereizt hob er beide Hände. Was erwartete sie von ihm? „Ich habe bereits beschlossen, Ken nicht auf eine Militärschule zu schicken." Verblüfft riß Annie die Augen auf. „Auf eine Militärschule?" Hatte Marcus; den Verstand verloren? Ken würde dort restlos verkümmern. „Hast du das tatsächlich ernsthaft überlegt?" „Ja." Obwohl er diesen Gedanken längst verworfen hatte, ärgerte sich Marcus über ihre Frage. Schließlich wollte er nur das Beste für Ken. Was ist dagegen einzuwenden?" Wenn er es nicht selber wußte, war ihm nicht zu helfen. Vielleicht hatte sie sich doch in ihm geirrt. „Du hast kein Herz, Marc Sullivan." Leider doch. Und es schmerzte entsetzlich. „Falsch. Ich habe eines." - 157 -
Weshalb weichst du mir dann immer aus? hätte Annie ihn gern gefragt. „Wer sagt das?" „Mein Arzt. Er, hat es auf dem Röntgenschirm gesehen:" Du liebe Güte, er redete ja beinahe wie Annie. Jetzt wurde es ernst. Annie starrte ihn an. Wie hatte Marcus auch nur einen Moment daran denken. können, den Jungen auf diese Weise aus seinem Leben zu verbannen? Aber versuchte er nicht gerade dasselbe mit ihr? „Das ist wahrscheinlich der einzige Ort, wo es sich bemerkbar macht." Sie war verrückt, absolut verrückt, wenn sie sich einbildete, diesen Mann zu lieben. Seine Unvernunft hatte sie fasziniert, mehr konnte es nicht sein. Es war ein Irrtum. So etwas kam vor. Ergeben setzte Annie sich auf den Beifahrersitz. „In Ordnung, fahren wir nach Hause." Es ist besser so, sagte sich Marcus. Sie mußten ihre Beziehung auf eine rein berufliche Basis beschränken. Er war ein Narr, wenn er geglaubt hatte, daß etwas anderes möglich wäre. Er stieg ein, steckte den Zündschlüssel ins Schloß und drehte ihn. Nichts. Der Anlasser gab keinen Laut von sich. Schimpfend versuchte Marcus es erneut. Die Stille wurde unheimlich. „Was ist los?" „Er rührt sich nicht." Der Anlasser ist nicht der einzige, der sich nicht rührt; dachte Annie. „Rüttel mal ein bißchen am Schlüssel." Annie wollte sich hinüberbeugen, um es selber zu tun. Ein finsterer Blick von Marcus genügte, und sie zog ihre Hand zurück. „Ich kann damit rütteln, soviel ich will, der Anlasser rührt sich nicht", erklärte er. Ein dicker Tropfen fiel ihr ins Gesicht, dem ein zweiter gleicher Größe folgte. Keine Minute später goß es in Strömen. Na fantastisch, dachte Annie und blickte zum Himmel. „Weiß die Wolke nicht, daß sie im Juli nicht regnen darf?"` - 158 -
Das Haar klebte ihr am Kopf. Sie sieht aus wie am ersten Tag, als sie in mein Leben getreten ist, stellte Marcus fest. Und. weshalb fand er das so hinreißend? Wie konnte er sich zu dieser Frau hingezogen fühlen, obwohl er ihr am liebsten den Hals umgedreht hätte? Er kannte sich nicht mehr aus. „Vielleicht hat sie den Reiseführer über Kalifornien nicht gelesen." Ich rede wirklich schon wie Annie, dachte er. Aber jetzt war keine Zeit, über die fatalen Folgen dieser Tatsache nachzudenken. Es goß entsetzlich, und Marcus sah nach hinten, wo das Verdeck ordentlich gefaltet hinter der Rückbank verborgen war. Annie und er waren inzwischen klatschnaß, und das Wageninnere war ebenfalls durchnäßt. Da fiel ihm etwas ein. „Unten an der Straße muß ein Haus stehen. Wollen wir hinüberlaufen?" „Und was ist mit dem Wagen?" Das Innere würde wieder trocknen. Wichtiger war, daß Annie in Sicherheit kam. „Darum kümmere ich mich später." Der Sturm wurde immer schlimmer. „Laufen wir los." Das Haus, ein, bescheidenes einstöckiges Holzgebäude, war weiter entfernt, als Marcus sich erinnerte. Als, sie es erreichten, waren Annie und er bis auf die Haut durchnäßt. Eine ältere. Frau öffnete ihnen auf ihr Klopfen und begriff sofort. „Kommen Sie schnell herein", forderte sie die beiden auf. und zog Annie ins Innere. Es störte sie nicht, daß die beiden eine Menge Feuchtigkeit hereinbrachten. „Henry", rief sie.„Es sind Gäste gekommen." „Eher halb ertrunkene Ratten", meinte Annie lachend und trocknete sich die Augen. „Guten Tag." Sie reichte der Frau die Hand. „Mein Name ist Annie de Witt, und das ist Marc...
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Die Frau nahm ihre Hand und drückte sie herzlich. „Ihr Mann?" fragte sie und strahlte Marcus an. „Ja", antwortete er. Selbst wenn man ihn das restliche Leben verhörte, würde er nicht erklären können, was ihn zu dieser Antwort bewogen hatte. Sie war ihm einfach herausgeschlüpft vielleicht weil es so am einfachsten war. Er reichte der Frau die Hand und schüttelte sie. „Ich bin Polly Flynn, und das ist mein Mann Henry." Sie nickte zu dem Mann, der gerade das Wohnzimmer betrat. Der Mann war groß und dürr und sah aus, als klapperten seine Knochen bei jedem Schritt; seine Frau war klein und rund und strahlte über das ganze Gesicht. Annie mochte die beiden auf Anhieb. „Guten Tag sagte sie zu dem Mann. „Es tut mir furchtbar leid, daß wir hier so hereingeplatzt sind." Marcus legte den Arm um ihre Taille, denn er hatte das ungute Gefühl, Annie könne jeden Moment wieder davonlaufen. „Unser Wagen ist leider eine halbe Meile von hier liegengeblieben", erklärte er dem Mann. Er blickte in das Wohnzimmer und suchte nach einem Telefon. „Dürfte ich bitte einmal telefonieren und eine Werkstatt anrufen, damit wir Ihnen nicht zu lange zur Last fallen?" fragte er. Der Mann kratzte, sich am Kopf. „Die einzige Werkstatt in dieser Gegend schließt um fünf", sagte er und sah auf seine Armbanduhr. „Es ist schon halb sechs. Ich fürchte, Sie werden kein Glück haben." „Sie können gern bei uns übernachten", schlug Polly vor: Der Blick in ihren Augen bewies, daß die Einladung aufrichtig gemeint war. „Wir besitzen ein Gästezimmer." „Das ist wirklich furchtbar nett, Mrs. Flynn", begann Annie. - 160 -
„Polly", verbesserte die Frau sie. „Wenn Sie die Nacht unter meinem Dach verbringen wollen, müssen Sie Polly zu mir sagen." „Einverstanden, Polly", erklärte Annie. „Ganz herzlichen Dank. Wir nehmen Ihre Einladung gern an." Annie schien sich mühelos mit der Situation abzufinden. Ihm, Marcus, fiel das wesentlich schwerer. „Sie nehmen uns ohne weiteres auf?" fragte er und blickte von der Frau zu dem Mann. „Sie kennen uns doch gar nicht." „Natürlich kennen wir Sie." Polly lächelte, weil Marcus so verwirrt war, und fuhr langsam wie zu einem Kind, das nicht leicht begreift, fort: „Sie haben sich gerade vorgestellt. Und jetzt kommen Sie bitte mit. Ich gebe Ihnen etwas Trockenes zum Anziehen." „Dürfen wir bitte vorher telefonieren?" bat Annie. Als Marcus sie fragend ansah, fuhr sie fort: „Wir müssen Ken Bescheid sagen." Er begriff immer noch nicht. Der Junge war doch bei seiner Haushälterin gut aufgehoben. „Weshalb?" fragte er. Wie konnte Marcus so begriffsstutzig sein? „Damit er sich keine Sorgen macht." „Ist Ken Ihr Sohn?" fragte Polly. „Sie haben recht. Kinder bekommen furchtbare Angst, wenn ihre Eltern nicht zu der ausgemachten Zeit zurück sind." Marcus mußte daran denken, was in Ken vorgegangen war, als Jason und Linda nicht nach Hause gekommen waren. Er machte sich heftige Vorwürfe, daß er so gedankenlos gewesen war. Diesmal war er Annie dankbar für ihre Umsicht. „Wir möchten ihn so schnell wie möglich anrufen", erklärte Marcus. „Selbstverständlich erstatte ich Ihnen die Kosten." „Davon kann gar keine Rede sein", wehrte Polly ab und zeigte auf das Telefon in der Ecke des Wohnzimmers.
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„Ich hätte nicht geglaubt, dal3 es heutzutage, außer in unserer Fantasie, noch solche Menschen gibt", sagte Marcus, nachdem Polly sie ins Gästezimmer geführt hatte. Behutsam schloß er die Tür und beobachtete Annie. Sie scheint sich hier häuslich einrichten zu wollen, dachte er und zog einen Hosenträger in die Höhe. Marcus trug eine weite, verblichene graue Hose mit Aufschlag, die eine Nummer zu groß war, sowie ein kariertes Hemd. Beides hatte Henry ihm geliehen, bis seine eigenen Kleider wieder trocken waren. Der Abend war viel schöner geworden, als er es sich vorgestellt hatte. Während des Abendessens hatte er eine Menge über die Familie der Frau und Henrys Beruf als Zimmermann erfahren. Die beiden Alten waren in einer kleinen Stadt in Kansas geboren und hatten dort auch geheiratet. Vierzig Jahre später waren sie nach Kalifornien gezogen und hatten sich in Santa Barbara niedergelassen. Annie zog den gewaltigen rosa Morgenrock enger, den Polly ihr beinahe aufgedrängt hatte. „Nicht alle Menschen sind so ungefällig und kalt, wie du glauben möchtest", antwortete sie und setzte sich auf das einzige Bett im Raum. „Ich möchte es nicht glauben, Annie. Es ist so", sagte er. Ihr Morgenrock öffnete sich, und einen Moment sah er ihr schlankes Bein. Dann zog sie den Rock wieder zusammen. Nervös wanderte. Marcus auf und ab. Dieser Morgenrock war nicht dazu angetan, ihm eine ruhige Nacht zu verschaffen. Dem Mann ist nicht zu helfen, dachte Annie „Kannst du mir sonst erklären, weshalb die Leute uns heute nacht aufgenommen haben?", fragte sie. „Natürlich", antwortete er trocken. „Sie sind ein Fantasieprodukt. Vergeblich versuchte er die Wirkung zu verdrängen, die ihr, Lachen auf ihn hatte. Er blickte sich in dem Zimmer um. Es war ebenso klein und gemütlich wie das übrige Haus. Die Möbel waren alt, sahen aber bequem aus. Die einzige Lampe neben dem Doppelbett - 162 -
tauchte den Raum in ein anheimelndes Licht. Außer dem Bett gab es noch einen Schreibtisch und einen Sessel, der nicht zu der restlichen Einrichtung paßte. Marcus ging zu dem Sessel. Der würde ihm heute nacht als Schlafstätte dienen müssen. Der Gedanke, das Bett mit Annie zu teilen, ohne sie anzurühren, war ebenso abwegig wie die Vorstellung, einen Schneeball in der Hölle aufzubewahren. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen." Draußen heulte der Wind. Der Regen fiel immer noch in Strömen, und Annie war froh, daß sie die Nacht im Trockenen verbringen konnten. „Worüber?" Er setzte, sich in den, Sessel. „Ich habe die Absicht, mich wie ein perfekter Gentleman zu verhalten." Ihre Auffassungen über einen Gentleman gingen offensichtlich weit auseinander. Annie war der Meinung, daß ein Gentleman seiner Dame keinesfalls das Herz brechen durfte. „Daran habe ich nie gezweifelt", erklärte sie. Weshalb sagt Annie das so kühl? überlegte Marcus. Weiß sie nicht, wie schwer es mir fällt, dem Sturm nicht nachzugeben, der in meinem Innern weit stärker tobt als draußen? „Die Hauptsache ist, wir verstehen uns." „Ich fürchte, das wird in Millionen Jahren nicht passieren", murmelte Annie. Sie betrachtete den viel zu großen Morgenrock. „Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du nicht mit unter diesen Mantel kriechen möchtest. Platz für zwei ist bestimmt darin, vielleicht sogar für drei." Sie lachte freudlos. „Lassen wir das. Wahrscheinlich habe ich dich schon wieder schockiert." Marcus ging nicht auf ihren Spott ein. Er wollte die Situation nicht ausnutzen, dafür stand zuviel auf dem Spiel. „Hör zu, ich...“ Er sah zu Annie hinüber. Sie war inzwischen ins Bett gekrochen. Der Morgenrock lag auf dem geblümten Teppich.
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Marcus spürte jeden Zentimeter seines Körpers. Mit der Zunge befeuchtete er seine Lippen, denn sein Mund war plötzlich trocken geworden. „Was machst du da?" Sie drehte sich zu ihm. „Ich dachte, das wäre unübersehbar." „Der Mantel.." „Der würde mich im Schlaf nur stören. Dafür ist es viel zu heiß." Seit es regnete, war die Luft stickig geworden. Und wie heiß es ist, stimmte Marcus ihr zu. Er mußte ständig daran denken, daß Annie unter dem Laken ganz nackt war. „Ich nehme den Sessel", erklärte er schließlich. „In Ordnung." Nichts war in Ordnung, es war die reinste Quälerei. Wenn je ein Möbelstück unbequem war, dann dieser Sessel. Annie merkte, daß Marcus ruhelos hin und her rutschte. Endlich stützte sie sich auf die Ellbogen und zog das Laken fest um ihre Brust. Marcus war ein Dummkopf, aber er tat ihr leid. „In diesem Bett ist genügend Platz für zwei, Marc", sagte sie und deutete mit dem Kopf auf die andere Seite. „Wir sind doch vernünftige, erwachsene Menschen. Unzählige Leute teilen Nacht für Nacht ein Bett, ohne miteinander zu schlafen. Sie wandte sich ab und drehte sich zum Fenster. Sie hatte Marcus das Angebot gemacht, weil keiner von ihnen sonst Schlaf bekommen würde. Wenn er sich einbildete, daß mehr dahintersteckte, irrte er sich. Sie würde ihn nicht mehr aus der Reserve locken. Marcus hatte sie so oft zurückgewiesen, daß er ruhig hinter seinem Schutzwall .bleiben konnte. Alles weitere mußte von ihm ausgehen. Es war sein Problem, wenn er aus Stein war, nicht ihres. Marcus erkannte seinen Fehler sofort. Er hatte sein Hemd ausgezogen und, sich oben auf das Bett gelegt, damit das Laken als Barriere zwischen ihnen blieb.
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Aber es half nichts. Selbst durch das Laken spürte er die Hitze, die Annies Körper ausstrahlte: Das war zuviel für einen normalen Mann. Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah zu Annie hinüber. Das Licht der Nachttischlampe spielte in ihrem Haar, so daß es an manchen Stellen golden schimmerte. Zögernd berührte Marcus es und ließ die glänzenden Strähnen durch die Finger gleiten. Sein Verlangen wuchs. „Du weißt, daß es nicht klappt.“ Annie hielt die Luft an und drehte sich langsam zu ihm. Seine Finger streiften ihre Wange, und sie mußte sich zusammenreißen, damit sie nicht vor Erwartung zitterte. „Das kommt ganz darauf an." Ihre Stimme klang rauh, und das Herz klopfte ihr bis zu Hals. „Worauf?" Marcus ließ sie nicht aus den Augen, und sie suchte in seinem Blick nach Anzeichen für einen Rückzug. Es war nichts zu erkennen. „Was du unter klappen verstehst." „Das weiß ich selber nicht. In deiner Gegenwart kann ich keinen klaren Gedanken fassen." „Weshalb nicht?" hörte Annie sich fragen. Marcus strich inzwischen mit den Fingern von ihrer nackten Schulter zu ihren Brüsten. Langsam lockerte er das Laken, und sie erschauerte innerlich. „Weil ich dich begehre." Es ließ sich nicht länger leugnen. Zärtlich küßte er Annie auf die Schläfe. „Ich möchte dich in meinen Armen halten und dich küssen, bis meine Lippen ganz wund sind.“ Sie lachte leise. „Ein schrecklicher Gedanke." Annie war wirklich unmöglich. Trotzdem hatte er noch nie eine Frau so begehrt wie sie. „Ich möchte mit dir schlafen, bis dir deine witzigen Bemerkungen vergehen.' Mit den Fingerspitzen spielte sie auf Marcus' Brust und merkte, wie sich die Muskeln unter ihrer Hand zusammenzogen. „Das könnte einige Zeit dauern.“ - 165 -
Er zog sie an sich. Die sanften Rundungen ihres Körpers erregten ihn, bis er es kaum noch aushielt. „Das muß ich wohl einkalkulieren." Annie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände. „Aber derCountdown beginnt in dieser Sekunde", flüsterte sie und drückte die Lippen auf seinen Hals. Sein Pulsschlag tat einen Sprung. Annie wußte, daß sie hemmungslos war, aber sie hatte noch nie einen Mann so begehrt - nicht einmal Charlie. Als stünde ihr Inneres in Flammen und als würde sie es keine Minute länger überleben, wenn Marcus nicht mit ihr schlief. Obwohl sie am ganzen Körper bebte, öffnete sie mit sicherer Hand seinen Hosenbund und den Reißverschluß. Mit einer einzigen Bewegung streifte Marcus das Kleidungsstück ab und stieß es ans Bettende. Sein Körper war schon aufs höchste erregt. Verzückt streichelte er Annie, bis seine Finger ihre Brust erreichten. Annie senkte die Lider, während er die sanfte Rundung umschloß. „Du weißt genau, daß das nicht richtig ist", sagte er leise. Sie sah ihn eindringlich an. Trotz seiner Worte war nur Verlangen in seinen Augen zu lesen. „Darüber werden wir uns später unterhalten;" „Mir soll es recht sein." Er glitt mit der Hand tiefer und schob das Laken beiseite. Es fiel auf den Morgenrock. Es wurde eine leidenschaftliche Nacht, wie Marcus noch keine erlebt hatte. Annies Körper, so klein und schlank er auch sein mochte, war wie für die Liebe geschaffen. Ehrfürchtig erforschte Marcus ihn und beobachtete hingerissen, wie Annie sich ihm entgegenbog und stöhnte, wenn er sie hinter das Knie, auf die Innenseite ihres Ellbogens oder in die Halsgrube küßte.
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Der Herzschlag pochte in seinen Ohren, und er konnte nicht mehr an sich halten. Mit jedem Kuß kamen sie der Ekstase näher, bis es kein Zurück mehr gab. Annie gefiel es, wie Marcus seinen nackten Körper an sie drängte, und sie konnte nicht genug davon bekommen. Sie merkte, daß er immer erregter wurde. Sein Verlangen war geradezu überwältigend. „Ich wußte es", flüsterte sie heiser. Gerade wollte er eine rosa Knospe zwischen die Lippen nehmen. „Was wußtest du?" Sie schob die Finger in sein Haar. „Daß es mit dir so schön sein würde." Langsam umkreiste er mit der Zunge die Spitze und sah zu, wie sie fest wurde. „Und woher?" Sie lächelte, und ihr Atem ging rascher. „Ich habe es in deinen Büchern gelesen." „Darauf komme ich noch zurück. Jetzt habe ich etwas Wichtigeres zu tun." Er schloß die Lippen über der anderen Spitze, und Annie stieß einen erstickten Schrei aus. Marcus hatte sich fast nicht mehr in der Gewalt, aber das machte nichts. Er genoß das elektrisierende Gefühl, das durch seine Adern rieselte. Es sollte nie mehr aufhören. Mühsam gelang es ihm, sich noch einen Moment zurückzuhalten, bis er jede Rundung ihres Körpers erforscht hatte und wußte, wie sich ihre weiche Haut dort anfühlte. Sein Verlangen wuchs ins Unermeßliche. Als Annie ihn zärtlich intim berührte und streichelte, legte er sich auf sie und drang ungestüm in sie ein. Besitzergreifend umschlang sie ihn mit den Beinen. Langsam begann Marcus sich zu bewegen und hielt ihre Hüften dabei fest. Doch er brauchte Annie nicht zu führen. Sie ahnte jede Bewegung und jeden Rhythmus voraus und strebte gemeinsam mit ihm dem Gipfel der Ekstase zu. Einmal und noch einmal und immer wieder. - 167 -
Irgendwann in der Hitze der endlosen Nacht fand Marcus, wonach er verzweifelt gesucht hatte. Die Lust erhielt eine neue Bedeutung für ihn, eine ganz andere Tragweite. Das Leben, überlegte er, während er sich Annies Umarmung hingab und ihren Duft einatmete, hat mich hochgerissen und mitten in das Zentrum eines Hurrikans geschleudert. Und er hatte sich nicht gewehrt.
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14. KAPITEL Marcus lag im Bett. Er hatte einen Arm unter den Kopf geschoben und beobachtete, wie die Schatten im Zimmer verblaßten. Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihn, und er genoß es einen Moment. Glück war etwas Herrliches und gleichzeitig äußerst Beängstigendes. Und es war sehr flüchtig. Annie bewegte sich und schmiegte sich an ihn. Es schien ganz natürlich, daß sie neben ihm lag und sich noch enger an ihn kuscheln wollte. Sie will immer weiter auf meine Seite dringen, überlegte er lächelnd. Genau wie tagsüber bei der gemeinsamen Arbeit. Er mußte seine Gefühle im Zaum halten, sonst gingen sie mit ihm durch. Marcus lachte lautlos. Die Gefühle hatten ihn längst übermannt. Es hatte keinen Sinn mehr, die Stalltür zu verriegeln, die Pferde waren lange davongaloppiert. Ihm blieb nur die Möglichkeit, sie wieder einzufangen, bevor sie uneinholbar wurden oder verletzt werden konnten. Denn das war der Lauf der Welt! Erst kam das Glück, dann das Leid. Er durfte nichts anderes erwarten. Doch trotz seiner Melancholie konnte Marcus das Glücksgefühl nicht abschütteln. Nicht solange Annie neben ihm lag. Er wollte den Augenblick genießen. Von ganzem Herzen und ganzer Seele wollte er glauben, daß das Gefühl, das er in diesem Moment empfand und das ihn während der ganzen Nacht nicht verlassen hatte, bis in alle Ewigkeit anhielt. Annie bewegte sich und griff sogar im Schlaf nach ihm. Ihre Hand berührte seine Brust, und Marcus' Herz schlug schneller. Langsam streichelte er ihre Wange und sah zu, wie sie die Augen aufschlug.
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Nicht einen Moment war Annie verwirrt. Sie wußte genau, wo sie war und weshalb. Liebevoll lächelte sie Marcus an und küßte ihn federleicht auf den Mund. „Guten Morgen.“ Er seufzte, aber diesmal war es ein Zeichen von Zufriedenheit. „Ja, es ist ein guter Morgen." Annie rutschte näher und legte den Kopf auf seine Brust. Sie hörte, wie sein Herz unter ihrer Wange schlug. Es war ein schönes, tröstliches Geräusch. Eine leichte Erregung erfaßte sie, als Marcus ihre Schulter streichelte. „Du warst es also tatsächlich letzte Nacht. Ich habe das nicht nur geträumt." „Nein, ich war es wirklich." Annie lachte leise. „Gesprächig wie immer." Marcus wollte die Gefühle nicht zur Kenntnis nehmen, die sie mit ihren Fingerspitzen in seinem Körper hervorrief. Mehr Erfolg hätte er vermutlich mit dem Versuch gehabt, einen Zweizentnerstein in .die Höhe zu stemmen. „Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll." Hieß das, daß Marcus noch nicht mit vielen Frauen geschlafen hatte? Diese Vorstellung gefiel Annie, denn sie wollte etwas Besonderes für ihn sein. „Zum Beispiel: Du warst wunderbar.“ Er lachte leise. „Du warst wunderbar." Annie hob den Kopf. Marcus plapperte ihre Worte einfach nach. „Mit Gefühl!" „Mit Gefühl", wiederholte er. Lachend schüttelte sie den Kopf, und ihr Haar fiel in weichen Wellen um ihre Schultern. „Du bist unmöglich." Sie stützte sich auf den Ellbogen, bis ihre Lippen unmittelbar vor seinem Mund waren. Prüfend sah sie Marcus an und versuchte seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Diesmal war sein Blick' nicht argwöhnisch, wie sie erwartet hatte, sondern er drückte Hilflosigkeit aus.
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Die bekomme ich auch noch weg, dachte Annie erleichtert. „Den Rest der Strecke mußt du schon allein überwinden, Sullivan", erklärte sie. „Ich glaube, das habe ich schon", murmelte er und drehte ihr Gesicht so, daß er sie küssen konnte. Noch nicht ganz, Marc, dachte Annie, aber hoffentlich bald. Einmal ist keinmal, überlegte Marcus. Annie war unwiderstehlich. Er ahnte, daß es nicht bei diesem einen Mal bleiben würde. Aber das hinderte ihn nicht, Annie erneut zu küssen. Er mußte die seltsame Stimmung in dem kleinen gemütlichen Zimmer auskosten und einen weiteren Zipfel vom Paradies erwischen, das es außerhalb dieser Wände nicht geben durfte. Alles war unwirklich: der Ort, die Frau, die Zeit. Und weil es unwirklich war, konnte er darin schwelgen und sich den wildesten Fantasien hingeben. Er konnte Annie lieben. Fantasieren hatte bisher nicht zu Marcus' üblichen Beschäftigungen gehört. Bis Annie in sein Leben getreten war, war es in mehr oder weniger geordneten Bahnen verlaufen. Jetzt befand er sich in einem Strudel, kämpfte um sein Leben und genoß jede atemlose Sekunde. Nie zuvor hatte er sich so lebendig gefühlt. Zärtlich preßte Marcus die Lippen auf ihren Mund. Annie stöhnte leise und erregte ihn dadurch noch mehr. Doch diesmal wollte Marcus es langsam angehen. Es bestand kein Grund zur Eile. Er wußte, welch eine Sinneslust sie beide erwartete. So etwas hatte er noch nie erlebt. Annie hatte dieses Wunder vollbracht. Mit ihr zu schlafen war ein Abenteuer und nicht nur ein lustvolles Erlebnis, das keine Spuren in seiner Seele hinterließ. Jede Einzelheit der vergangenen Nacht hatte sich unauslöschlich seinem Gedächtnis eingeprägt.
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Plötzlich mußte Marcus dieses Glücksgefühl unbedingt noch einmal erleben. Ganz tief wollte er in Annie eindringen, damit sie die Beine um ihn schlang und sie gemeinsam in den siebten Himmel entschwebten. Trotzdem würde er sich zurückhalten. Das machte, die Belohnung nachher umso wertvoller. Einfach war es nicht, weil Annie federleicht mit den Fingern über seinen Körper strich, bis seine Haut glühte. Sie gab ihm viel mehr, als er ihr bieten konnte, und sie liebte ihn, als wäre er für sie der einzige Mann auf der Welt. Aber Marcus hatte die Tränen in ihren Augen bemerkt, als sie von ihrem verstorbenen Verlobten sprach. War Charlie der erste Mann in ihrem Leben gewesen und er, Marcus, nur der zweite? Er wollte nicht an zweiter Stelle stehen, sondern jeden früheren Mann aus Annies Gedächtnis vertreiben und sie lieben, bis es nur noch ihn für sie gab. .Das war ihm wichtig, auch wenn er besser nicht darüber nachdachte, weshalb. Immer wieder zog Marcus sich zurück und drang tief in Annie ein. Alle intimen Stellen erforschte er, erst mit den Händen und später auch mit den Lippen und der Zunge. Annie stöhnte und wand sich unter ihm, wenn die Lust unerträglich wurde, und klammerte sich wieder an ihn, sobald die Ekstase auch nur ein bißchen nachließ. Der Boden unter ihren Füßen schien sich zu öffnen, und es gab nur Marcus, an dem sie sich halten konnte. Er nahm sie in Besitz, ohne sie zu beherrschen. Sie würde ihm gehören, solange er es wollte. Ja, noch länger: für immer. Annie schwirrte der Kopf, doch sie nahm alles glasklar wahr: Sie genoß es, wenn Marcus erschauerte, sobald sie ihn berührte, und staunte über ihre eigene Erregung. Sie brauchte keine bestimmte Technik. Wie ein Strudel riß die Leidenschaft sie mit sich fort. Jeder wollte dem anderen die größte Sinneslust bereiten. Annie bog und wand sich, während - 172 -
Marcus mit den Lippen ihren Körper in Besitz nahm und sich quälend langsam dem Zentrum ihrer Weiblichkeit näherte. Erst jetzt erkannte sie, wie sehr sie geliebt und gehalten werden wollte und wie gern sie sich von Marcus in ein wollüstiges Wesen verwandeln ließ. Mit beiden Händen krallte sie sich in das Laken, während er den intimsten Teil ihres Körpers erforschte und sie immer wieder bis an den Rand der Ekstase führte. Endlich stützte Marcus sich auf die Ellbogen und sah Annie an. Ihre Augen waren dunkel und verschleiert, und das gefiel ihm. Liebevoll schob er die Finger in ihr Haar, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und bäumte sich auf. Annie klammerte sich an ihn und unterdrückte einen Schrei, während sie fieberhaft dem Höhepunkt zustrebten. Schneller und schneller riß der Strudel sie mit sich fort. Im gemeinsamen Rhythmus erreichten sie den Gipfel der Lust, und ihre Seelen und ihre Körper wurden eins. Marcus drückte Annie an sich, obwohl er wußte, wie gefährlich es war. „Was soll ich bloß mit dir machen?" flüsterte er in ihr Haar. Annie hob den Kopf, und ihre Wange streifte sein Kinn. Langsam strich sie mit der Fingerspitze über seine Lippen. „Fürs erste hast du schon eine ganze Menge getan, würde ich sagen." Sie erkannte das Verlangen, das noch immer in .seinen Augen schwelte, und bemerkte auch die Angst. Wovor hatte Marcus Angst? Dies war die natürlichste Sache der Welt - das Schönste, überhaupt. Marcus drückte ihre Hand an seine Lippen und küßte jeden Finger einzeln. „Nein, ich wollte sagen..." Annie seufzte. Die Gegenwart kehrte zurück. „Ich weiß, was du sagen wolltest." Sie zog das Laken in die Höhe und bedeckte theatralisch ihre Brüste. „Du suchst nach einem anderen Begriff - 173 -
für das, was wir gerade erlebt haben. Vielleicht ist dir Beischlaf` lieber. Oder ,geschlechtliche Vereinigung'. Doch gleichgültig, welche Bezeichnung du dafür verwendest, Marc Sullivan..." Sie stieß ihm mit dem Finger auf die Brust, „es gibt nur eine passende, und die kenne ich.“ Annie sah richtig liebenswert aus, obwohl sie wütend war. Marcus bemühte sich, ernst zu bleiben. „Und die wäre?“ „Wir haben uns die ganze Nacht geliebt." Er zog eine Braue in die Höhe. „Und das ist etwas anderes?" „Ja, das ist etwas anderes." Weshalb tat Marcus, als wäre er begriffsstutzig? „Ich glaube nicht, daß einer von uns so etwas auf die leichte Schulter nimmt. Ich tue es jedenfalls nicht." Eindringlich sah sie ihn an. „Und du bestimmt auch nicht." Annie nahm das, was sie erlebt hatten, nicht leicht. Genau das hatte Marcus hören wollen. Ahnte sie, was es für ihn bedeutete, wenn sie ihn nach Abschluß des Drehbuchs wieder verließ? „Und vor dieser Liebe läufst du davon", schloß sie leise und lächelte so einladend, daß er sie erneut begehrte. Entschlossen zog er Annie an sich und meinte „Nun, dann wollen wir für einen weiteren Grund sorgen, schleunigst davonzulaufen.“ Annie strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, du hast recht. Sorgen wir für einen weiteren Grund." „Ich finde, wir sollten den Fynns etwas Geld dalassen“, schlug Annie vor und zog die Bürste durch das zerzauste Haar. Marcus stopfte sein frischgebügeltes Hemd in die Jeans und sah neugierig zu ihr hinüber. Für jemanden wie Annie war dies, ein erstaunlich praktischer Vorschlag. „Für neue Laken", erklärte sie und lächelte schelmisch. „Diese ..." Sie hielt eine Ecke in die Höhe, damit er das Tuch - 174 -
besser sehen konnte. „Sind schon ziemlich verschlissen." Sie rieb ihre Wange daran und sah Marcus liebevoll an. „Ob Polly mich für etwas wunderlich hält, wenn ich sie frage, ob ich die Tücher als Souvenir behalten darf?" Fasziniert hatte Marcus Annie beim Ankleiden und beim Schminken beobachtet. Natürlich hatte er nicht zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen. Doch bisher hatte er deren Gesellschaft genossen und war anschließend seiner Wege gegangen. Sosehr er überlegte, er erinnerte sich nicht, je einer Frau beim Anziehen zugesehen zu haben. Soweit er wußte, hatte er auch nie den Wunsch verspürt, sie schnellstens wieder auszuziehen, nachdem sie beide fertig waren. Verlegen fuhr er sich mit den Händen durchs Haar und versuchte, so unbekümmert wie möglich zu erscheinen. „Wahrscheinlich wird sie dich nicht für wunderlicher halten, als sie es jetzt schon tut", beantwortete er Annies Frage. Annie steckte ihren Kamm in die Handtasche. „Bin ich froh, daß sich dein Tonfall heute morgen nicht verändert hat, Sullivan. Sie beugte sich zu ihm und gab ihm rasch einen Kuß auf die Wange. „Mir gefällt dieses Wortgeplänkel nämlich. Es hält mich frisch." „Nein, es hat sich nichts verändert", murmelte er. Doch selbst wenn er es laut aussprach, wurde es nicht wahr. Es hatte sich etwas verändert, ganz entschieden sogar. Das Leben würde nie wieder so wie früher sein. Seines gewiß nicht. Das änderte aber nichts an der grundsätzlichen Lage. Am Ende würde alles auf dasselbe hinauslaufen. Er hatte einen Zipfel des Glücks erwischt, doch es würde ihm wieder durch die Finger rinnen. Genau das, was er unbedingt verhindern wollte, war passiert: er saß gefühlsmäßig in der Falle. Annie erkannte die typischen Geräusche eines Haushalts, wenn ein neuer Tag begann. „Ich glaube, die Flynns sind aufgestanden", sagte sie, legte den Morgenrock ordentlich zusammen und holte ihre Handtasche. „Wollen wir - 175 -
hinübergehen und die Werkstatt anrufen, damit möglichst bald jemand kommt und deinen Wagen wieder flottmacht?" Marcus nickte und nahm ihren Arm. Annie lächelte verstohlen über die Veränderung, schwieg aber klugerweise. Der alte Marcus hätte niemals die Initiative ergriffen. Er wäre instinktiv vor diesem körperlichen Kontakt zurückgeschreckt. Du machst Fortschritte, Marc Sullivan, sagte sie stumm zu ihm. Und du nimmst mich auf deinem Weg mit, ob es dir gefällt oder nicht. Mr. und Mrs. Flynn waren nicht nur aufgestanden. Henry hatte längst seinen Sohn angerufen. Andy und er, erzählte Polly stolz, waren längst zu dem Wagen hinausgefahren und reparierten ihn vermutlich schon, während sie sich hier unterhielten. „Es gibt nichts auf der Welt, was mein Andy nicht reparieren kann", erklärte Polly, während sie Annie und Marcus das Frühstück in der winzigen Küche vorsetzte. Der Raum reichte gerade für vier Personen. „Ich nehme an, sobald Sie gefrühstückt haben, ist Ihr Wagen wieder in Ordnung." Marcus merkte, daß er einen gesunden Appetit hatte. Normalerweise trank er morgens nur eine Tasse schwarzen Kaffee. Jetzt knurrte ihm der Magen, und er betrachtete interessiert die Pfannkuchen, den Speck und die Eier, die Polly ihm vorsetzte. Es muß daran liegen, daß Annie und ich uns die ganze Nacht geliebt haben, überlegte er. Die Liebe zehrte an der Energie eines Mannes und förderte seinen Appetit - nicht nur auf etwas zu essen, fügte er in Gedanken hinzu und warf Annie einen vielsagenden Blick über den Tisch zu. Annie lächelte nur und griff ebenso herzhaft zu wie er. Allerdings konnte sie immer essen, fiel ihm ein.
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Wie Polly vorausgesagt hatte, hörten sie einen Wagen kommen, während ihre Gastgeberin eben das letzte Geschirr abräumte. Polly lehnte Annies Hilfe ab und legte die Sachen in das altmodische Spülbecken, das ihr lieber war als eine Spülmaschine. „Ich bin zu alt, um mich noch an die neuen Geräte zu gewöhnen", erklärte sie fröhlich. Dabei war Annie sicher, noch nie eine so jugendliche Frau dieses Alters gesehen zu haben. Henry kam mit einem jüngeren, größeren und schlankeren Ebenbild von sich herein. „Dies ist mein Sohn Andy", stellte er den jungen Mann vor und reinigte seine Schuhe auf einer verschlissenen Matte vor der Tür. „Unser Jüngster." Annie schätzte Andy auf ungefähr zwanzig. Ein Kind der Liebe, überlegte sie angesichts des Alters des Ehepaars. Andy sagte nichts, sondern nickte nur schüchtern. Sie streckte ihm die Hand hin, und ihm blieb nichts übrig, als sie zu ergreifen. Schüchterne Menschen ziehen Annie unwillkürlich an, dachte Marcus belustigt. Andy hat keine Chance, ihr zu entkommen. „Haben Sie herausgefunden, was mit dem Wagen los war?" fragte Annie die beiden Männer. Das wäre eigentlich meine Sache gewesen, dachte Marcus. Aber diesmal machte es ihm nichts aus, daß sie ihm zuvorgekommen war. Vielleicht legte die Liebe mit ihr ja gewisse Teile seines Gehirns lahm. „Ja", antwortete Andy, ohne einen von ihnen anzusehen. „Ihre Batterie war leer", erklärte Henry. „Andy hat sie wieder aufgeladen. Sie dürfte eine Weile halten. Mein Sohn arbeitet stundenweise in der Werkstatt. Der Chef betrachtet ihn als eine Art Lehrling." Es war unübersehbar, daß Henry ebenso stolz auf seinen Letztgeborenen war wie Polly. „Manchmal scheint mir, daß Kirby noch etwas von unserem Jungen lernen könnte." - 177 -
„Dad..." sagte Andy mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme verlegen und wurde rot. Marcus griff in die Rücktasche seiner Jeans und zog seine Geldbörse hervor. „Was sind wir Ihnen schuldig?" Polly antwortete für die beiden Männer. Sie legte ihre große weiche Hand auf die Geldbörse und schob sie zu Marcus zurück. „Behalten Sie Ihr Geld, Marcus. Das war Nachbarschaftshilfe." Sie zwinkerte ihm zu. Polly muß in ihrer Jugend ausgesprochen charmant gewesen sein, dachte Marcus. Sie flirtete jetzt noch. „Vielleicht können Sie uns ja eines Tages ein Buch oder einen Film widmen." Offensichtlich hatte Polly große Ehrfurcht vor seiner Arbeit, während er jeden, bewunderte, der ein Auto so mühelos reparieren konnte. „Schon das nächste Buch", versprach Annie und ergriff Marcus' Arm. „Und nun müssen wir uns beeilen. Zu Hause wartet ein Drehbuch auf uns." Und wenn es fertig ist, wird alles vorbei sein, dachte Marcus. Annie tat, als habe sie sein Stirnrunzeln nicht bemerkt. Was hatte sie jetzt schon wieder falsch gemacht?
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15. KAPITEL Weshalb sagt sie denn nichts? dachte Marcus nervös. Seit einer Stunde waren sie auf dem Heimweg, und Annie schwieg beharrlich. Hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen der vergangenen Nacht? Tat ihr leid, was passiert war? Annie beobachtete ihn. Marcus blickte geradeaus auf die Straße. Über eine Stunde war seit ihrer Abfahrt vergangen, und nur das Reifengeräusch war zu hören. Weshalb sagte Marcus nichts? Sie wollte nicht als erste reden. Er sollte die Initiative ergreifen und sie wissen lassen, daß alles in Ordnung war. Dies war kein Spiel mehr. Vielleicht war es das nie gewesen. Annies Schweigen machte Marcus fast verrückt. Gern hätte er etwas gesagt, aber sie sollte den Anfang machen. Gestern hatte er den ersten Schritt getan. Das hätte ihr beweisen müssen, was er für sie empfand. Aber offensichtlich war sie nicht glücklich. Er hatte einen Fehler gemacht. Was vorige Nacht passiert war, hätte nie geschehen dürfen. Annie blickte auf ihre Hände und zerknüllte den Saum ihres T-Shirts. Wenn der Berg nicht zu Moses kam, mußte Moses eben zum Berg gehen. „Einen Dollar neunzig angesichts der momentanen Inflation, wenn ich wüßte, was, du jetzt denkst." Ihre Worte drangen nur langsam in sein Bewußtsein. Annie klang wie immer. Also hatte er recht gehabt, die letzte Nacht bedeutete ihr nichts. In Los Angeles würden sie wieder rein berufliche Beziehungen pflegen. Wie sollte er Seite an Seite mit Annie arbeiten, ohne sie zu berühren und noch einmal mit ihr zu schlafen? „Hast du etwas gesagt?" Annie schnaufte verärgert und ermahnte sich, nicht wütend zu werden, bevor Marcus Zeit für eine Erklärung gehabt hatte. Eigentlich gab es gar keine Entschuldigung dafür, wie schäbig er sie behandelte. „Würde es eine Rolle spielen?" - 179 -
Marcus verstand überhaupt nichts mehr. „Wie bitte?" Annie schaltete das Radio ein und hoffte, die fröhliche Musik würde ihre Laune verbessern. „Du bist restlos in deine eigene Welt versunken. Ist es ein privater Planet, oder kann man dich dort besuchen?" „Wovon redest du?". „Davon, daß du mich ausschließt." Marcus warf ihr einen kurzen Blick zu und sah wieder auf die Straße. Weshalb hatte er plötzlich Schuldgefühle? Dafür gab es keinen Grund. Er verringerte die Geschwindigkeit und bog um eine Kurve. „Wovon schließe ich dich aus?" Von deinem Leben, du Dummkopf, antwortete Annie stumm. „Du hast noch keine zwei Sätze gesagt, seit wir die Flynns verlassen haben." Du auch nicht, dachte Marcus, aber vielleicht ist das gut so. Die Zeit in Santa Barbara war wunderschön gewesen. Nur hatte sie nichts mit dem Alltag zu tun, und dorthin kehrten sie jetzt zurück. Das Drehbuch war beinahe fertig_ Und was kam dann? Er konnte Annie bitten, noch etwas zu bleiben, damit sie sich besser kennenlernten. Aber wenn sie ablehnte? Das durfte er nicht riskieren. Da war es schon besser, die eigenen Gefühle nicht auszusprechen. Er merkte, wie gereizt Annie war. War sie wütend auf ihn? Oder auf sich selber? Vielleicht hatte er ihr unabsichtlich wehgetan. Gab es noch eine Chance für sie beide? „Ich habe nachgedacht", sagte er langsam, um ihr eine Erklärung für sein Schweigen zu geben. „Worüber?" wollte sie wissen und hoffte, er würde weitersprechen. Noch gab sie die Hoffnung nicht auf, daß er ihr sagte, was sie hören wollte. Marcus wußte nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Deshalb antwortete er das erstbeste, was ihm einfiel. „Ich habe über das Drehbuch nachgedacht." - 180 -
Enttäuscht lehnte Annie sich zurück. Sie wollte nicht über den Film sprechen. Marcus sollte etwas dazu sagen, was letzte Nacht passiert war. Die schönen Stunden durften nicht zu Ende sein. Marcus sah zu Annie hinüber und beobachtete fasziniert, wie der Wind in ihrem Haar spielte und die Sonnenstrahlen sich in den goldenen Strähnen fingen. Wider besseres Wissen begehrte er diese Frau immer noch und hätte sie am liebsten auf der Stelle genommen. Sie fuhren an einer Reklame für ein Motel vorüber, das einige Meilen weiter vorn an der Straße stand. Sollte er dort anhalten? Sie konnten ruhig etwas später nach Hause kommen. Er hatte genügend Zeit, Annie zu lieben, bis die Sterne am Himmel standen. Marcus faßte das Lenkrad fester. Fahr weiter, ermahnte er sich. Fahr bloß weiter. Wieder dieses Schweigen. Annie drehte beinahe durch. Sie mußte unbedingt Marcus' Stimme hören - notfalls im Streit. „Glaubst du wirklich, daß das Drehbuch gut wird?" fragte sie plötzlich. Ohne seine Reaktion abzuwarten, senkte sie die Stimme und antwortete für ihn: „Sicher. Es könnte sogar noch besser werden, wenn du nicht ständig etwas verändern würdest, das völlig in Ordnung ist. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, daß Marcus sie betrachtete, als hätte sie den Verstand, verloren. Deshalb fuhr sie fort: „Du mußt endlich lernen, auch einmal nachzugeben, Marc. Manches, was in Büchern steht, läßt sich nicht auf die Leinwand übertragen." Wieder senkte sie die Stimme. „Wahrscheinlich hast du recht, de Witt. Vielleicht muß sich wirklich einiges ändern." Ein Hinweisschild zeigte an, daß es noch fünfzig Meilen bis Los Angeles waren. „Was ist denn mit dir los?" fragte Marcus erstaunt. - 181 -
Annie stellte die Füße um, um bequemer zu sitzen. „Wieso?" „Du sprichst mit dir selber." „Es bleibt mir ja nichts anderes übrig, wenn keiner mit mir redet." Marcus lachte leise. Ohne Annie würde sein Leben leer werden. „Du bist ja übergeschnappt", sagte er. „Du bist restlos übergeschnappt." Annie freute sich, daß Marcus endlich lachte. „Das ist eine meiner besten Eigenschaften." Marcus dachte an die letzte Nacht - wie er Annie in den Armen gehalten hatte und ihr Körper mit seinem verschmolzen war. „Das würde, ich nicht sagen." Annie schlug die Füße unter. „Nein? Was würdest du dann sagen?" Liebevoll, legte sie die Hand auf seinen Arm. „Ich bin auf alles gefaßt." „Annie." Marcus fühlte sich ganz hilflos. „Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll." „Was dich nicht daran hindert, mich immer wieder zu kritisieren." Sie schwieg einen Moment und fuhr leise fort: „Weißt du, daß du mich eben zum ersten Mal mit dem Vornamen angeredet hast, ohne daß ich dich dazu provoziert habe?" Das war unmöglich. Sie arbeiteten seit vielen Wochen zusammen. „Das kann nicht sein." „Es. ist so. Ich habe genau darauf geachtet." „Obwohl du ständig redest?" meinte er scherzhaft und fuhr die serpentinenartige Straße hinab. „Wann hattest du denn Zeit, mir zuzuhören?" „Ich bin vielseitig begabt." Sie zwinkerte ihm zu. Das war nicht zu bestreiten. Die Straße wurde übersichtlicher, und Marcus nutzte die Gelegenheit, um Annie anzusehen. Sie lächelte vergnügt. Am liebsten hätte er sie geküßt, bis sie es vor Verlangen nicht mehr
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aushielt. Wie gestern abend und heute früh sollte sie in seinen Armen liegen. „Begabt bist du wirklich", gab er leise zu. Annie hatte ihn innerlich in einer Weise angerührt, wie es bisher noch keiner Frau gelungen war. Das machte sie einzigartig. Das Wort „begabt" drückte dies hur ungenügend aus. „Sag ihn, noch einmal." „Was soll ich noch einmal sagen?" „Meinen Vornamen. Annie legte den Kopf an die Stütze und wartete. Im Moment mußte sie sich mit Krumen begnügen, aber das war besser als gar nichts. „Ich fürchte nämlich, ich werde ihn nicht mehr von dir hören, sobald wir wieder bei der Arbeit sind. Zumindest nicht so zärtlich." Marcus kam sich ziemlich dumm vor, aber er erfüllte ihre Bitte. Nein, ich werde nicht aufgeben, beschloß Annie. Das paßte nicht zu ihr. Marcus mochte Probleme haben, aber er stand damit nicht mehr allein da. Sie würde ihm heraushelfen. Ein Motorrad tauchte hinter ihnen auf, überholte sie und verschwand weiter vorn. Marcus merkte, daß er beinahe zehn Meilen unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit fuhr, und drückte das Gaspedal wieder hinunter. Kaum war Marcus mit seinem Cabrio in die Einfahrt gebogen und hatte den Motor abgestellt, da flog die Haustür auf. Holly auf der Schwelle, stemmte die Hände auf die Hüften und sah ihn vorwurfsvoll an. „Da sind Sie ja endlich." „Ja", antwortete Marcus und fragte sich, was in seine friedliche Haushälterin gefahren war. „Was haben Sie, Holly?" Annie sprang aus dem Wagen und lief zu der Frau. „Ist etwas mit Ken?"
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An diese Möglichkeit hatte Marcus noch gar nicht gedacht. „Ja, ist etwas passiert?" fragte er. Statt zu antworten, drehte Holly sich um und ging ins Haus. „Holly rief Marcus. Er eilte ihr nach und hielt sie am Arm fest. „Was zum Teufel soll dieses Theater? Ist der Junge krank?" Holly deutete in Richtung Wohnzimmer. „Er hockt am Fenster und rührt sich nicht von der Stelle. Wahrscheinlich sitzt er schon seit gestern abend dort", fügte sie vorwurfsvoll hinzu. Marcus wollte ins Wohnzimmer gehen, aber Annie war schneller. Sie spürte einen Stich in der Brust, sobald sie den Jungen sah. Ken saß mit dem Rücken zu ihnen und schluchzte stumm. Der Welpe schlief zu seinen Füßen. Annie kauerte sich neben den Jungen, aber er sah sie nicht an. Die Erwachsenen sollten nicht merken, daß er geweint hatte. „Ken, Liebling, was ist los?" Liebevoll legte Annie die Hand auf seinen Arm und merkte, daß Ken sich straffte. „Er hat die ganze Zeit auf Sie gewartet", erzählte Holly. Es gab keine Zweifel, zu wem sie hielt. Sie hatte den elternlosen Jungen in ihr Herz geschlossen. „Wir haben doch gestern abend angerufen, damit er sich keine Sorgen zu machen braucht", erklärte Marcus trotzig. „Ja, Sie sagten etwas von einer Wagenpanne", erinnerte Holly ihn. „Sie waren mit einem Auto unterwegs, Mr. Sullivan." Schlagartig begriffen Annie und Marcus, was in dem Jungen vorgegangen war. Marcus sah Ken an und wußte nicht, was er sagen sollte. Was nützte Logik bei einem Kind, das eine solche Tragödie hinter sich hatte. Langsam strich Annie Ken über den Kopf und merkte, daß sich der Kleine beruhigte. „Ich habe dir doch gesagt, daß wir heute im Laufe des Tages zurückkommen würden", erinnerte sie ihn leise.
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Ken schniefte. Er wollte nicht mehr weinen, aber aus irgendeinem Grund machte Annies freundliche Stimme alles noch schlimmer. „Mom und Dad haben genau dasselbe gesagt, bevor..." Seine Unterlippe zitterte, und die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. „Bevor..." Marcus und sie hatten eine leidenschaftliche Nacht verbracht, während dieser kleine Junge die Hölle durchmachen mußte. „O Ken, es tut mir schrecklich leid." Liebevoll zog Annie den Kleinen in die Arme und drückte ihn an sich. „Es tut mir sehr, sehr leid, daß du unseretwegen solche Angst gehabt hast." Einen Augenblick war nur sein Schluchzen an ihrer Schulter zu hören. Annie streichelte Kens Kopf und verbarg die eigenen Tränen, während Marcus mit Schuldgefühlen kämpfte, ohne zu wissen, weshalb. Eigentlich waren sie unbegründet. Plötzlich erkannte er, daß Ken seine Liebe und Zärtlichkeit inzwischen auf Annie und ihn übertragen hatte. Er, Marcus, würde immer für Ken da sein. Bei Annie war das anders. Der Junge durfte sich nicht so an sie klammem. Das konnte nur neues Leid für beide bedeuten. Hätte er sich bloß nicht auf das elende Drehbuch eingelassen. Aber dann hätte er die wunderbare letzte Nacht nicht erlebt. Und die war allen Schmerz wert, den die Hölle für ihn bereithalten mochte. „Ich dachte, ihr kämt nie wieder", schluchzte Ken. Annie küßte ihn auf die Stirn. „Wir werden immer für dich da sein." Dieses Versprechen würde sie halten. Ken blinzelte die Tränen fort. Der Welpe wachte auf, wedelte mit dem Schwanz und wollte auf seinen Schoß. „Versprochen?" Erwartungsvoll sah der Junge Annie an. Annie hob die Hand und erklärte feierlich: „Ich schwöre es. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du mich brauchst." Sie
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merkte, daß Marcus sie beobachtete. „Mr. Sullivan hat meine Telefonnummer." Ja, dachte Marcus, ich habe ihre Nummer. Annies Antwort bestätigte seine Vermutung. Nachdem das Drehbuch fertig war, würde sie ihr altes Leben wieder aufnehmen, und das verlief getrennt von seinem. Er hatte es die ganze Zeit gewußt. Aber nachdem Annie es ausgesprochen hatte, schmerzte der Gedanke noch mehr. Annie sah, daß Marcus' Miene erstarrte. Weshalb? Ärgerte er sich darüber, daß der Junge sie mochte? War er eifersüchtig? Es ist unheimlich schwer, dich zu lieben, Marc, dachte sie. Ich muß nicht ganz richtig im Kopf sein, daß ich es trotzdem tue. Auf meinem Grabstein soll einmal stehen: „Sie liebte nicht klug, aber von ganzem Herzen." Ergeben stand sie auf. Es war nicht einfach, solche Gefühle beiseite zu schieben. „Wollen wir ein bißchen hinausfahren und unsere Rückkehr mit einer Limonade feiern? Anschließend müssen Marc und ich wieder arbeiten und die verlorene Zeit aufholen." Sie warf Marcus einen warnenden Blick zu, ja nichts dagegen einzuwenden „In Ordnung, Sullivan? Annie übernimmt schon wieder die Regie, dachte Marcus. Aber darauf kam es jetzt nicht an. Er betrachtete Ken, und ein geradezu väterliches Gefühl erfaßte ihn. „Solange der Welpe hierbleibt.“ „Ich nehme ihn." Holly hob das zappelnde Bündel auf, das ihr zum Dank dafür sofort das Gesicht leckte. „Sie hätten ihn zumindest stubenrein machen können, bevor Sie ihn abgaben, Miss de Witt“, schalt sie spielerisch. Annie hakte sich bei Marcus ein und legte eine Hand auf Kens Schulter. „Um Mr. Sullivan um diesen einmaligen Spaß zu bringen? Niemals, Holly."
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16. KAPITEL Die Sonne schien, und draußen war herrliches Wetter. Trotzdem fröstelte Annie und rieb sich die Arme. Sie fühlte sich gar nicht wohl und beobachtete eine Drossel, die zum Himmel aufstieg und in der Ferne verschwand. War der Vogel nicht ein Sinnbild für jene Nacht, die nun schon acht Tage zurücklag? Ein kurzer Moment, ein flüchtiges Gefühl, das wie der Vogel am Horizont entflog? Vielleicht war es falsch, daß sie zuviel erwartet hatte. Annie lächelte traurig. Statt daß ihr unerschöpflicher Optimismus auf Marcus abfärbte, verfiel sie in seine düstere Stimmung. Wie hatte Marcus jeden Tag an ihrer Seite arbeiten und dennoch jene verwünschte Mauer wieder aufbauen können, hinter der er sich jetzt verschanzte? Außer wenn Ken bei ihnen war, zog der Mann sich völlig in sein Schneckenhaus zurück. Seit über einer Woche ging das so. Trotzdem war Marcus nicht ganz wieder der alte. Manchmal wurde er unsicher. Doch wie ein erfahrener Hochseilakrobat gewann er stets das Gleichgewicht zurück. Annie begriff das nicht. Es war, als hätte sie sich jenen wunderbaren Mann, der sie an den Rand der Ekstase und darüber hinaus geführt hatte, nur eingebildet. Hilflos drückte sie die Stirn an die Fensterscheibe. Sie brauchte Marcus, diesen riesigen Dummkopf. Und er brauchte sie. Sah er das nicht ein? Marcus und sie waren allein in dem großen Haus. Stevie und Erin waren heute morgen mitgekommen, und Holly war mit der Rasselbande in einen Freizeitpark gefahren. Es wäre der ideale Zeitpunkt gewesen, dort wieder anzuknüpfen, wo sie vor einer Woche aufgehört hatten. Heimlich hatte Annie darauf gehofft. Aber Marcus war noch zurückhaltender als sonst.
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Sie sah zu ihm hinüber. Marcus hatte sich über das Keyboard gebeugt und tippte einige Wörter. Sie wunderte sich immer noch, daß der Mann, der so wunderbare Bücher schrieb, nur drei Finger dafür benutzte. Verärgert schob sie ihr Haar zurück. Es stimmte, sie waren allein. Aber auch zu zweit konnte man sehr einsam sein. Und diese Einsamkeit tat weh. Langsam kehrte Annie zum Schreibtisch zurück und stellte sich neben Marcus. Sollte sie ihn auf den dicken Schädel schlagen - ein Gedanke, der ihr sehr gefiel oder alle Selbstachtung beiseite schieben und es noch einmal versuchen? Sie wählte die zweite Möglichkeit. „Es sieht aus, als könnte es ein weiterer Tag im Paradies werden.“ „Wie bitte?" Marcus blickte sie verblüfft an. Es dauerte immer eine Weile, bis er sich aus der Welt, die er in seinen Büchern schuf, wieder gelöst hatte. „Ich sagte, es ist ein wunderschöner Tag." Annie setzte sich auf die Schreibtischkante und rutschte ein Stück hinauf. Links von ihr lag sauber gestapeltt das Drehbuch. Annie merkte, daß Marcus sie argwöhnisch betrachtete, als fürchtete er, die Seiten könnten hinunterfallen. „Du hast schon lange nicht mehr gelacht, Marc." Marcus wünschte, Annie würde sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Es fiel ihm schwer genug, seinen Schutzwall aufrechtzuerhalten, weil sie ständig versuchte, ihn wieder einzureißen. „Ich wußte nicht, daß Lächeln im Vertrag inbegriffen ist." Er tippte drei weitere Wörter. Am liebsten hätte Annie den Computer ausgeschaltet, damit Marcus ihr seine volle Aufmerksamkeit zuwandte. Doch das wäre zu drastisch gewesen. „Aber es steht darin, daß du mir nur zweimal pro Arbeitssitzung den Kopf abreißen; darfst." Es hatte keinen Sinn, weiterzutippen. „Willst du mir etwas sagen?" fragte Marcus.
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„Die ganze Zeit schon." Annie beugte sich vor, und er legte schützend die Hand über den Einschaltknopf. „Im Gegensatz zu dir ziehe ich mich nämlich nicht in mein Schneckenhaus zurück", antwortete sie gepreßt. „Annie,...“ Sie hielt es nicht mehr aus. „Wo lebst du eigentlich, Sullivan?" Ungeduldig tippte sie mit dem Finger auf seine Brust. „Und komm mir jetzt nicht mit deiner Adresse. Dann garantiere ich nämlich für nichts." Marcus hatte Mühe, seine Verärgerung zu zügeln. „Ich verstehe kein Wort." Annie hätte ihn am liebsten angeschrien, um ihn aus der Reserve zu locken. Aber wozu sollte das gut sein? Sie konnte Marcus nicht aus jener Welt holen, in die er sich zurückgezogen hatte. Nicht, wenn er es nicht wollte. Aber ungestraft sollte er ihr diese Kränkung nicht antun. Aufs höchste erregt, fegte sie die Seiten, an denen sie gearbeitet hatten, mit dem Handrücken vom Tisch. „Was zum Teufel..." Marcus schob seinen Stuhl zurück und wollte das Drehbuch wieder aufheben. „Laß es, wo es ist!" fuhr Annie ihn an. So hatte er sie noch nie erlebt. Halb besorgt, halb verärgert stand Marcus auf. „Was ist denn in dich gefahren?" Trotzig hob Annie den Kopf. „Vielleicht ein verspäteter Anflug von Stolz." Marcus bemerkte die Wut, aber auch den Schmerz in ihrem Blick. War er daran schuld? Er hatte Annie nicht wehtun wollen, sondern sich zurückgezogen, bevor es zu spät war. Es war schrecklich. „Annie, ich..." Sie hatte genug von seinen Entschuldigungen. „Du blöder Kerl!" Zutiefst enttäuscht, trommelte sie mit beiden Fäusten auf seine Brust.
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Marcus hielt ihre Handgelenke fest. Sie waren längst nicht so zerbrechlich, wie sie aussahen. Er mußte erhebliche Kraft aufwenden, um sie zu halten. „Hör auf!" Verzweifelt versuchte Annie, sich loszumachen. Sie wollte Marcus noch einen letzten Schlag für all das Leid versetzen, das er ihr angetan hatte. „Ich bin keine Frau für eine einzige Nacht", schrie sie. Wie kam sie denn auf den Gedanken? Glaubte sie etwa, er hätte sie nur benutzt, um seine Triebe abzureagieren? „Das weiß ich doch, Annie." Sie zerrte weiter, kam aber nicht frei. „Weshalb behandelst du mich dann so?" Sie merkte, daß Marcus sie nicht verstand. Er war derart mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, daß er nicht begriff, wovon sie redete. „Weshalb läßt du den Dingen nicht ihren Lauf? Weshalb können wir nicht einfach weitermachen?" Annie wollte auf keinen Fall weinen. Diese Befriedigung durfte sie ihm nicht geben. Weinen konnte sie zu Hause noch lange genug. Marcus hätte nicht sagen können, wann seine Verärgerung nachließ und ein neuer Riß in seinem Panzer entstand. Plötzlich hatte er nur noch den Wunsch, Annie in den Armen zu halten und sie zu lieben, bis sie in höchster Erregung seinen Namen rief. Aber er durfte diesen Gefühlen nicht nachgeben. Die Folgen wären katastrophal. „Weill du eines Tages wieder aus meinem Leben verschwinden wirst", erklärte er und ließ sie los. Das war der Grund? Marcus wollte: nichts mit ihr anfangen, weil er das Ende fürchtete? Verwirrt sah Annie ihn an. „Nur wenn du mich fortschickst, Marc", antwortete sie leise. Zärtlich streichelte sie seine Wange und merkte, daß er ihre Hand argwöhnisch beobachtete. „Bitte, vertrau mir. Ich weiß nicht,
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was dich so mißtrauisch gemacht hat, aber vertrau mir. Laß mich in dein Leben hinein." „Ich soll dich hineinlassen?", wiederholte er ungläubig. Begriff Annie nicht? „Meine Güte, du bist ja längst drin!" Heftig preßte er die Lippen auf ihren Mund und küßte sie verzehrend. Annie schmiegte sich an ihn, um jede Sekunde und alle Empfindungen zu genießen, die er in ihr weckte. Sie wollte den Gipfel des Glücks erreichen, und kein unbedachtes Wort sollte ihr diesen herrlichen Augenblick nehmen. „Erzähl mir alles", flüsterte sie. Marcus wußte nicht, was Annie von ihm hören wollte. „Was soll ich dir erzählen? „Ich möchte alles über dich wissen, Marc. Du bist solch ein guter, aufrichtiger Mann und versuchst trotzdem, mit groben Worten die Gefühle in dir zu verdrängen." Eindringlich sah sie ihn an. „Weshalb, Marc?" „Annie. bitte nicht..." Er wandte sich ab, denn er ertrug ihren Blick nicht mehr. Immer wich Marc ihr aus, und diesmal schmerzte es besonders. Annie war viel zu verletzlich, um sich laut darüber zu beklagen. „Was soll ich nicht? Darf ich dich nicht lieben? Ich fürchte, dafür ist es zu spät." Ihre Worte klangen spöttisch, und' Marcus ahnte nicht, daß dieser Spott gegen sie selber gerichtet war. „Aber keine Sorge: Ich werde dich nicht länger belästigen." Sie biß die Zähnen zusammen, unterdrückte die Tränen und bückte sich um die verstreuten Drehbuchseiten wieder aufzuheben. Bloß nicht weinen, ermahnte sie sich. Bloß jetzt nicht weinen. „Ich mache dir einen Vorschlag", begann sie und rang nach Luft. „Es fehlt nur noch eine Filmszene. Vielleicht... Vielleicht sollte ich sie zu Hause schreiben und dir die Unterlagen anschließend mit der Post schicken." - 191 -
Sie lief davon. Zum ersten Mal in ihrem Leben lief Annie vor einer Schwierigkeit davon. Und sie verabscheute Marcus, weil er sie in diese Lage gebracht hatte. Er bemerkte ihren Schmerz und ihre Verletzlichkeit. „Annie..." Er nahm ihre freie Hand und zog Annie in die Höhe. „Ich wollte dir nicht wehtun." „Das klingt merkwürdig aus dem Mund eines Mannes, dessen Speer schon blutig ist." Nachdem ihr Inneres wie betäubt war, konnte Annie nur noch Hiebe austeilen. Marcus vertraute ihr nicht, und sie konnte ihn nicht dazu zwingen. Eine Träne, die sich nicht aufhalten ließ, stieg ihr in die Augen. Fasziniert berührte Marcus den Tropfen und ließ ihn auf der Fingerspitze zerfließen. Annie weinte seinetwegen, und letzte Woche hatte Ken dasselbe getan. Nie zuvor hatte er einem Menschen so viel bedeutet, daß er seinetwegen Tränen vergoß. Vorsichtig nahm Marcus Annie das Manuskript aus der Hand. Verwirrt sah sie ihn an. „Ich brauche die Seiten, wenn ich das Drehbuch abschließen soll, Sullivan." Achtlos legte er die Blätter auf den Schreibtisch, und sie glitten erneut zu Boden. „Später." Annie lächelte wehmütig, und ein Anflug von Hoffnung kehrte zurück. „Willst du mit mir um sie kämpfen?" „Nein." Zärtlich strich er mit den Händen über ihre Arme und merkte, daß Annie innerlich erschauerte. „Ich möchte überhaupt nicht mehr kämpfen." „Was willst du dann? Marcus' Widerstand brach zusammen. Hätte er eine weiße Flagge besessen, hätte er sie jetzt geschwenkt. Es war sinnlos, sich gegen die eigenen Gefühle zu wehren. Falls nötig, konnte er seinen Schutzwall ja später wieder aufbauen. Was er wollte? wiederholte er stumm Annies Frage. „Rate mal.“ Ohne sie aus den Augen zu lassen, knöpfte Marcus ihre Bluse auf, und Annie hatte das Gefühl, noch nie etwas so - 192 -
Sinnliches erlebt zu haben. Dieser Mann war abwechselnd ein Eisblock und ein Vulkan. Aber das war ihr egal, solange Marcus bei ihr war und er sie nur halb so stark begehrte wie sie ihn. „Keine Ahnung", antwortete sie mit unschuldiger Miene, während er die Bluse aus dem Bund zog und die Finger unter ihren winzigen BH schob. „Gib mir einen weiteren Hinweis." Der Verschluß des BHs öffnete sich, und die zarten Träger rutschten ihre Arme hinab. Mit beiden Händen umschloß Marcus Annies Brüste, und ihr Herz begann zu rasen. Sie legte die Hände auf seine Unterarme. „Ich weiß es immer noch nicht, aber mir wird langsam wärmer. Ganz entschieden sogar." Sie bog den Kopf zurück, denn Marcus drückte die Lippen auf ihre Wange und, glitt mit heißen Küssen ihren Hals hinab. Ihr Atem beschleunigte sich und wurde flacher, sobald er die empfindsamste Stelle erreichte. Verzückt stöhnte sie auf. „Hältst du nie den Mund?" „Ich habe noch tausend Fragen." Annie zerrte an seinem Hemd und zog es heraus. „Aber ich kann nicht zwei Dinge gleichzeitig tun." „Du", murmelte er und merkte, daß die Erregung auf seine Lenden übergriff und sein Inneres erreichte, „schaffst alles gleichzeitig." Annie mußte sich konzentrieren, um nicht der Flut von Gefühlen nachzugeben, die sie zu überschwemmen drohte. „Das ist das netteste, was du mir je gesagt hast." Rasch öffnete sie seine Hemdknöpfe, denn sie wollte seine nackte Brust an ihrem Körper spüren. Als Marcus die Arme um sie legte und ihren Rücken streichelte, stockte ihr der Atem. Das weiche dunkle Haar auf seiner Brust kitzelte erotisch. Verzückt warf sie den Kopf zurück. Marcus' Lippen näherten sich ihren Brüsten. Zärtlich rieb, er die Wange an der empfindsamen Haut der sanften Rundungen.
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Dann faßte er mit beiden Händen Annies Hüften und. sank langsam, auf die Knie. Annie krallte die Finger in seine Schultern. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich habe dir schon vergeben", keuchte sie. Marcus lachte leise. Er öffnete den Bund ihrer Shorts und ließ das Kleidungsstück achtlos auf den Boden gleiten. Annie war wirklich etwas ganz Besonderes. Sie begann zu zittern, während Marcus mit der Zunge tiefer und tiefer strich. Sie spürte die feuchte Wärme durch den zarten Spitzenstoff. Am liebsten hätte sie das Hindernis beiseite geschoben, aber ihre Arme waren wie gelähmt. „Ich glaube, ich begreife langsam", stöhnte sie. Ihr Hals war so trocken, daß sie kaum noch einen Ton herausbekam. Marcus streichelte inzwischen die empfindsame Innenseite ihres Schenkels, und sie hielt es kaum noch aus. Vorsichtig legte er Annie auf den Boden und kauerte sich so nahe über sie, daß die Hitze zwischen ihnen übersprang. „Annie..." Annie versuchte, trotz des Nebels, der ihren Verstand trübte, klar zu denken. „Ja?" „Halt endlich den Mund." „Mit Vergnügen." Sie zog seinen Kopf zu sich herab und küßte Marcus verzehrend, als ginge es um ihr Leben. Genauso war es in diesem Moment auch. Die Stunden vergingen. Holly wollte erst gegen sieben Uhr mit den Kindern zurück sein. Deshalb hatten Marcus und Annie genügend Zeit, sich ekstatisch zu lieben. Trotzdem hatte Annie das unbestimmte Gefühl, daß dies ein Abschied war, daß Marcus sie fortschicken würde. Und das durfte nicht sein.
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„Weißt du was?" meinte sie scherzhaft, während sie die Tür hinter dem Boten schloß, der das fertige Drehbuch zu Addison Taylor bringen sollte. „Für einen Spießer hast du dich ganz schön entwickelt." Zwar war Marcus noch nicht soweit, daß er ihr erzählen konnte, was ihn belastete, aber das würde sicher noch kommen. Marcus wußte, daß er nicht ständig an Annie denken durfte. Das machte die Trennung auf lange Sicht noch schwerer. „Dies ist doch nur ein Zwischenspiel für mich", erklärte er deshalb. Hätte. er ein Messer genommen und in ihren Körper gerammt, hätte es nicht schlimmer wehtun können. Annie holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben und nichts zu sagen, was ihr später leid tun könnte. Marcus und sie hatten miteinander geschlafen und anschließend unter diesem frischen Eindruck die letzte Szene neu geschrieben. Das Drehbuch war fertig. Addison würde es heute abend noch lesen. Alles hätte perfekt sein können. Hätte... Würde Marcus jedesmal seinen Schutzwall wieder aufbauen, nachdem sie miteinander geschlafen hatten? Bedeutete sie ihm wirklich nichts? Holly konnte jeden Moment mit den Kindern zurückkommen. Deshalb packte Annie ihre Sachen. Es gab keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Nicht wenn Marcus sich so verhielt wie jetzt. Plötzlich war sie viel zu müde, um weiterzukämpfen. „Wie soll ich nur zurechtkommen, wenn du nicht in meiner Nähe bist, um die Dinge zurechtzurücken", meinte sie spöttisch. Wenn du nicht in meiner Nähe bist... Das kann nur heißen, daß alles vorbei ist, dachte Marcus. Ihr hatte es nichts bedeutet. Er hatte ihr die Gelegenheit gegeben, dies zu bestreiten. Aber sie hatte es nicht getan. Er hatte es ja gewußt. Doch das half ihm jetzt auch nicht. „Du wirst es schon schaffen", antwortete er ruhig. - 195 -
„Das ist mir bisher noch immer gelungen." Ihre Worte klangen vergnügt, aber Annie kam sich richtig verloren vor. Marcus entließ sie aus seinem Leben. Sie wollte etwas sagen, leider wußte sie nicht, was. Bitten würde sie ihn auf keinen Fäll. Weiter, als sie schon gegangen war, durfte sie nicht gehen. In der Diele wurde es laut, und die Haustür fiel ins Schloß. Holly war mit Ken und den beiden anderen Kindern zurück. „Auf die Minute genau", erklärte Annie so fröhlich sie konnte. „Ich hole schnell meine Sachen, dann können wir gehen." Bevor ich etwas unwahrscheinlich Dummes tue, fügte sie stumm hinzu und unterdrückte die Tränen. Weinen konnte sie, sobald sie draußen war. Ken schien zu ahnen; daß es sich um keinen normalen Abschied handelte. „Kommst du nicht wieder?" fragte er. Annie hörte die Angst in seiner Stimme. „Doch." Zärtlich strich sie ihm über den Kopf. „Aber du mußt mich einladen. Ich möchte nicht einfach hier hereinplatzen. Über seinen Kopf blickte sie zu Marcus hinüber. „So etwas tue ich nie." „Ha." Mehr sagte er nicht. Sie stand auf und ging zu Stevie und Erin, die müde auf sie warteten. „So, ihr beiden. Jetzt bringe ich euch zu eurer Mutter, damit sie sich keine Sorgen macht, wo ihr bleibt." Sie sah Marcus an, wagte aber nicht, ihn direkt anzusprechen. Deshalb wandte sie sich noch einmal an Ken. „Paß gut auf Mr. Sullivan auf, Ken. Er hat manchmal zwei linke Hände." Marcus wollte Annie zurückhalten, aber sein Stolz ließ es nicht zu. Deshalb lehnte er sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Reizend wie immer." „Ich gebe mir Mühe, dich nicht zu enttäuschen", antwortete Annie. „;Adieu, Holly", fügte sie mit belegter Stimme hinzu. „Und vielen Dank für alles." Holly wartete, bis sich die Haustür hinter Annie geschlossen hatte. Dann nahm sie Kens Hand und ging mit ihm in die - 196 -
Küche. „Ich bezweifle, daß du je in deinem Leben zwei eigensinnigere, dümmere Erwachsene finden wirst als diese beiden", sagte sie so laut, daß Marcus es hören konnte. Eine frische Morgenbrise wehte vom Meer, und Annie fror, obwohl sie ein dickes Sweatshirt trug. Zum Glück wärmte die Kaffeetasse ihre Hände. Warme Hände, kaltes Herz . Die alte Redensart fiel ihr ein, und sie beobachtete zwei Möwen, die sich im Dunst verloren, der über dem Ozean hing. Ob ihr je wieder warm ums Herz werden würde? Sie bezweifelte es. Zwei endlos lange Wochen waren vergangen, und sie drehte beinahe durch. Kein einziges Wort. Keine Nachricht, keine Mitteilung, kein Vorwand. Nichts. Marcus war restlos aus ihrem Leben verschwunden. Annie trank einen Schluck Kaffee und suchte nach einem Grund, Marcus zu verabscheuen. Wut und Schmerz. empfand sie mehr als genug. Aber Abscheu wollte nicht aufkommen. Marcus war körperlich nicht mehr da. Doch in Gedanken beschäftigte er sie mehr denn je. Immer wieder fand sie einen Grund, das Haus nicht zu verlassen, um dazusein, falls er bei ihr auftauchte. Aber langsam wurde ihr klar, daß er nicht kommen würde. Das war eine bittere Erkenntnis für jemanden, der so optimistisch war wie sie. Annie blickte in die Tasse und spürte, wie der Dampf um ihr Gesicht strich. Ihr war kalt, und sie war schrecklich allein. Diesmal war sie nicht sicher, ob sie sich wieder erholen würde ob sie genügend Kraft dafür besaß. Wozu auch? Um allein weiterzumachen? Wer behauptete, es wäre besser, die Liebe kennenzulernen und wieder zu verlieren,
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als nie geliebt zu haben, war ein Dummkopf und sollte eingesperrt werden. Der Schrei zweier Möwen gellte durch die Luft. Annie sah zu, wie sie sich ins Wasser stürzten, um Beute zu fangen, und mit leerem Schnabel wieder auftauchten. Sie hob ihre Tasse und prostete ihnen zu. „Willkommen im Club!" „Redest du immer mit den Möwen?" Annie faßte die Tasse fester und ermahnte ihr Herz, nicht so zu springen. Am liebsten hätte sie gleichzeitig gelacht und geweint und auf Marcus eingeschlagen, bis er alle ihre Fragen beantwortet hatte. „Was führt dich denn her?" murmelte sie stattdessen und wagte nicht, in seine Richtung zu sehen. Annie ist kein bißchen überrascht, staunte Marcus. Es scheint, daß sie auf mich gewartet hat. Aber sie hatte ihn ja immer schon besser gekannt als er sich selber. Marcus hatte sich genau überlegt, was er sagen wollte. Annie sollte wissen, daß er furchtbare Angst hatte, einem Menschen zu nahe zu kommen - so nahe, daß er zurückgewiesen werden konnte. Aber nun war es doch passiert: Er hatte sich in sie verliebt. Und jetzt hatte er alles vergessen. Sein Kopf war so leer, wie sein Leben ohne Annie die beiden letzten Wochen gewesen war. Er hatte durchhalten wollen und sich größte Mühe gegeben. Doch schließlich hatte er eingesehen, daß es sinnlos war. Wogegen kämpfte er eigentlich? Gegen ein bißchen Glück? Hatte er den Verstand verloren? Wahrscheinlich.' Es gab keine Garantie für Glück. Er hatte Angst, Annie wieder zu verlieren. Nun, dann mußte er eben dafür sorgen, daß sie bei ihm blieb.
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Weshalb steht Marcus nur da und starrt mich an, überlegte Annie. Warum sagt er nichts? „Gesprächig wie stets", stellte sie fest und deutete zu dem Stuhl neben sich. „Setz dich, ich beiße immer noch nicht." Darauf sollte ich mich lieber nicht verlassen, dachte Marcus und setzte sich. „Das ist eine Frage der Auslegung." Annie lächelte unsicher. Zumindest hatten sie wieder eine gemeinsame Basis gefunden. Ohne die Miene zu verziehen, blickte sie hinaus aufs Meer. „Wie geht es Ken?" „Ihm geht es gut." Marcus dachte an das Gespräch, das der Junge und er gestern abend geführt hatten. „Du fehlst ihm." „Er fehlt mir auch", antwortete Annie wehmütig. Sie vermißte Ken fürchterlich. Es war merkwürdig, wie schnell manche Menschen ein Teil ihres Lebens wurden. Ein Teil von ihr. Der Wind blies ihr das Haar ins Gesicht. Sie kümmerte sich nicht darum. Gegen den Wind kam man nicht an. Auch nicht gegen sture Menschen. Wie hübsch Annie ist, dachte Marcus und betrachtete ihr Profil. Es war eine riesige Dummheit gewesen, vor ihr und sich selber davonzulaufen. Alles im Leben hatte seinen Preis. Den für Annie würde er gern zahlen, denn er wollte nicht länger in dieser Leere leben. Hoffentlich war es nicht zu spät. Aber wie konnte er Annie beibringen, daß er sich verändert hatte? Vielleicht hätte er Ken mitbringen sollen. Dem Jungen fiel es leicht, das Eis zu brechen. Annie drehte ihre Tasse; zwischen den Händen. „Mit Ken ist also alles in Ordnung?" „Ja." Noch einen Augenblick, und sie würde mit beiden Händen auf Marcus einschlagen. Meine Güte, rede doch endlich, dachte sie verzweifelt. „Ist dies ein reiner Höflichkeitsbesuch?“ „Nicht unbedingt.“
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„Was dann?" Vergeblich versuchte sie, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie immer gereizter wurde. „Ich bin gekommen - äh - weil unbedingt etwas verändert werden muß." Wieder bekam Marcus keinen zusammenhängenden Satz heraus und ärgerte sich furchtbar darüber. Annies Augen wurden schmal. Marcus war aus beruflichen Gründen hier? Natürlich - wie hatte sie etwas, anderes annehmen können. Weil' ich ein Idiot bin, schalt sie sich. Heftig stellte sie die Tasse auf den kleinen Tisch. „Das ist ausgeschlossen." Marcus hätte sie am liebsten in seine Arme gezogen und geküßt. Doch er saß nur da und sah hingerissen zu, wie Annie immer wütender wurde. „Wieso?" „Addison kann so spät .keine Änderungen mehr verlangen. Die Dreharbeiten beginnen nächste Woche. Er würde..." Sie beendete den Satz nicht, sondern stand auf, um den Filmproduzenten sofort anzurufen. Marcus hielt sie am Handgelenk fest. Annie kochte innerlich, und das gefiel ihm jedesmal. „Ehrlich gesagt", begann er, und seine Stimme wurde weich, „nicht Addison möchte etwas verändern." Annie fuhr herum. „Wer dann?" fragte sie mißtrauisch. Er ließ sie los und breitete die Hände aus. „Ich." „Du?" Annie setzte sich wieder und starrte ihn an. „Das macht doch keinen Sinn." „O doch." Marcus beugte sich vor und nahm ihre Hände. „Es macht sehr viel Sinn." Annie rief verärgert: „Ich weiß, daß du ein Perfektionist bist, Sullivan. Aber wenn der Produzent zufrieden ist und die Dreharbeiten beginnen, muß Schluß sein. Spitz deinen Bleistift, und beginn etwas Neues!" Sie wünschte, er würde ihre Hände wieder loslassen. - 200 -
„Ich meinte nicht das Drehbuch." Das einzige, was Annie sonst noch einfiel, war viel zu heikel, als daß sie sich weiter vorwagen konnte. Marcus hatte sie oft genug verletzt. Noch einmal wollte sie sich nicht die Zunge verbrennen. „Was meinst du dann" fragte sie zögernd.' „Ich möchte mein Leben verändern." „Aha." Prompt schlug ihr das Herz wieder bis zum Hals. „Und an was für eine Veränderung denkst du?" Marcus antwortete nicht sofort. Am liebsten hätte er Annies Kopf zwischen beide Hände genommen, ihre zarten Wangenknochen mit dem Daumen nachgezogen und sich vergewissert, daß dies kein Traum war. Fasziniert beobachtete er, wie ihr Gesicht sich rötete. „An so etwas wie eine dauerhafte Zusammenarbeit." Als Annie den Mund öffnete, legte er einen Finger auf ihre Lippen. „Du brauchst mir nicht sofort zu antworten." Aber Annie wollte es. Vielleicht kam diese Gelegenheit nie wieder. „Wenn ich etwas verändern soll, muß ich wissen, was vorher gewesen ist, Marc." Eigentlich sollte sie den Augenblick nutzen und keine Fragen stellen. Aber was wurde, wenn der Überschwang der Gefühle verblaßte? Irgendetwas belastete Marcus, und sie konnte nicht dagegen ankämpfen, wenn sie nicht wußte, was es war. „Sag es mir, Marc.“ Marcus begriff, was Annie wollte. Er war ihr eine Erklärung schuldig. Aber er war nicht sicher, ob er sich ihr öffnen konnte. „Da war nichts vorher." O nein, Marcus durfte ihr nicht mehr ausweichen. Annie legte ihm die Hand auf die Schulter und schmeichelte um ihrer beider willen: „Bitte, Marc." „Es stimmt, Annie." Ein rätselhaftes Lächeln umspielte seine Lippen. „Es ist wirklich nichts gewesen. Ich wünschte, es wäre anders, dann hätte ich vielleicht begriffen, was mit uns beiden - 201 -
geschehen war. Meine Eltern haben sich nie geliebt, und ich habe ebenfalls keine Liebe von ihnen bekommen. Ich war nur eine Art Anhängsel und gehörte ebenso zur Familie wie ihre Autos und ihre Kleider." Marcus schwieg einen Moment und versuchte, die Erinnerung, die ihn plötzlich befiel, zu vertreiben. „Es tat - sehr weh, so viel für Vater und Mutter zu empfinden und - nichts dafür zurückzubekommen. Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar und kämpfte gegen die Geister der Vergangenheit. „Wahrscheinlich klingt das ziemlich sinnlos." Jetzt begriff Annie. Marcus wehrte sich gegen alle Gefühle, um den Schmerz nicht zu spüren, den er tief im Innern vergraben hatte. Wie schrecklich mußte solch ein Leben für einen Jungen gewesen sein. Wenn sie ihn doch dafür entschädigen könnte. „Das macht durchaus Sinn." Marcus sah sie verblüfft an. Annie verstand ihn tatsächlich. Er stand auf und ging zum Geländer. Nachdem er Annie die Wahrheit gestanden hatte, konnte er ihr nicht mehr in die Augen sehen. „Habe ich dir schon. erzählt, daß ich Ken adoptieren werde?" „Nein", antwortete Annie und stellte sich neben ihn. Der Nebelschleier hob sich über dem Ozean. Es würde ein schöner Tag werden - ein sehr schöner sogar. „Wann hast du das beschlossen?" „Gestern abend. Ken und ich haben darüber geredet." Er drehte sich zu ihr und entdeckte nur Liebe in ihrem Blick. „Der Junge hat nichts dagegen." „Ich wüßte auch nicht, weshalb", antwortete Annie aus vollem Herzen. Zärtlich nahm er ihr Gesicht zwischen beide Hände. „Keine Einwände?" Langsam schüttelte sie den Kopf und rieb ihre Wangen an. seinen Handflächen. „Mir fallen keine ein."
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Das ließ ihn hoffen. „Wir haben gestern eine Menge geredet. Auch darüber, daß es völlig normal ist, wenn er seine Eltern vermißt, und, daß er trotzdem glücklich sein kann. Ich glaube, er wird zurechtkommen. Übrigens will er mir Football beibringen." Annie lachte. „Mut hat er ja." „Und dafür brauchen wir einen Fänger, der einiges aushält.“ Annie riß die Augen auf und tat, als wäre sie beleidigt. „War das eine Anspielung auf meine Figur?" „Nein", antwortete Marcus leise. „Das war eine Anspielung auf dein großes Herz." „Seit wann bist du denn poetisch, Marc? Das paßt gar nicht zu dir." Langsam legte er die Hände auf ihre Schultern und schöpfte neue Hoffnung. „Du hast mich verändert, Annie." Annie wußte es besser. Zärtlich drückte sie die Hand auf seine Brust, und ihr wurde ganz warm ums Herz. „Niemand kann einen Menschen verändern, Marcus. Ich habe nur etwas ans Licht gebracht, das tief in dir verborgen war." „Du bringst eine Menge ans Licht." Liebevoll küßte er sie auf die Stirn. „Seit du uns verlassen hast, fehlt bei uns der Sonnenschein, Annie. Mein Leben ist einsam und leer. Ich habe absolut, keine Fantasie und kann nicht mehr schreiben. Mir fällt nichts ein. Kein einziges Wort." Es war entsetzlich. Er hatte versucht, sich von Annie fernzuhalten, und alles verloren. „Heirate mich, Annie. Ich liebe dich. Du mußt unbedingt zurückkommen." Annie legte die Arme um seinen Hals und hätte am liebsten laut gejubelt. „Kneif mich mal." „Ich würde dich lieber küssen." Sie preßte die Lippen zusammen und tat, als überlege sie noch. „Du gehst ja mächtig ran, aber ich bin eine großmütige Frau." Sie lächelte breit. „Meine Antwort lautet ja. Sie hat immer ja gelautet." - 203 -
Marcus küßte sie und erstickte ihre weiteren Worte. Annie schwirrte der Kopf. Die Möwen, der Dunst, das weite Meer, ja, die ganze Welt drehte sich um sie herum. Rasch schloß sie die Augen, damit Marcus ihre Freudentränen nicht sah. Als sie sie wieder öffnete, glänzten sie und strahlten derart, daß sein letzter Zweifel verflog. „Ich würde gern so bald wie möglich etwas für deine Fantasie tun", meinte Annie verführerisch. Da hob Marcus sie auf die Arme. Mit der Schulter stieß er die Terrassentür auf und strich mit den Lippen zärtlich über ihren Mund „Es ist höchste Zeit, daß wir unseren Lebensstil wieder angleichen, Annie. Also los, an die Arbeit, Partner." Diesmal fiel Annie keine einzige Widerrede ein.
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Sarah, du Zauberin der Liebe
Carol Duncan
Tiffany Duo 047–02 01/92 Scanned & corrected by SPACY
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Oh, süße Sarah, du hast dich in den Falschen verliebt! Den gutaussehenden Journalisten Nick quält seine eigene Unehrlichkeit, als er spürt, daß sich die Lehrerin sarah leidenschaftlich zu ihm hingezogen fühlt. Sie ahnt nicht, daß er in ihr Leben getreten ist, um sie als Betrügerin zu entlarven. Nick will nämlich beweisen, daß sie gar keine übersinnlichen Fähigkeiten hat. Doch vom ersten Augenblick an ist Nick fasziniert von Sarahs einfühlsamer Persönlichkeit. Als sie bereit ist, ihm ihre ganze Liebe zu schenken, ist er beschämt über sein falsches Spiel und verläßt sie. Doch vergessen kann er die zauberhafte Sarah nicht. Er kehrt zurück und kommt gerade noch rechtzeitig, um ihr das Leben zu retten...
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1. KAPITEL „Janie, komm schnell. Ein Mann will Scarface fangen.“ Sarah Wilson hatte an der Küste des Beaver Lakes Brombeeren gepflückt. Nun richtete sie sich auf und tastete mit der freien Hand unwillkürlich nach dem Rücken. Dann kletterte sie vorsichtig über die schlüpfrigen moosbewachsenen Felsen, watete durch das flache Wasser und setzte den Korb mit Beeren ab bevor sie sich an den rothaarigen Jungen wandte. „Was soll das heißen, Jimmy Joe? Was für ein Mann?“ „Ein großer“, erklärte der Achtjährige aufgeregt. „Und er versucht, Scarface zu fangen. Du mußt ihn aufhalten, Janie.“ „Jetzt mal langsam, Jimmy Joe. Das wollten schon viele Angler. Bis jetzt hat es noch keiner geschafft.“ Sie strahlte Heiterkeit und Zuneigung aus. Ihre Stimme klang sicher und gelassen. Jimmy Joe sollte sich erst einmal beruhigen. „Der hier ist anders. Er trägt Gummistiefel, hat eine kleine dünne Angel und wirft sie jedesmal genau am Rand aus.“ Die Worte überschlugen sich beinahe. Sarah unterdrückte ein Lächeln. „Jedesmal? Wie lange hast du ihn denn schon beobachtet? Dabei dachte ich, du hilfst mir, Brombeeren zu pflücken.“ „Ach Janie, mein Eimer ist doch schon halbvoll.“ Schuldbewußt senkte Jimmy Joe den Kopf. „So lange habe ich gar nicht hingeschaut. Aber er zielt immer wieder in dieselbe Ecke. Das habe ich genau gesehen. Ich sag dir, der ist anders.“ „Er angelt mit Fliegen“, erläuterte Sarah geduldig. „Scarface ist nicht in Gefahr. Der alte Barsch ist viel zu gewitzt, um auf ein paar Federn hereinzufallen.“ Jimmy Joe atmete wieder gleichmäßiger. „Bist du sicher? Ganz ehrlich, meine ich.“ „So sicher, wie man nur sein kann.“ Sie strich sich eine Locke aus der Stirn und hinterließ dabei einen Streifen Brombeersaft auf der Haut. Da die Zweifel des Jungen nicht beseitigt schienen, fügte sie hinzu: „Weißt du was? Ich gehe mit und gucke mir das mal an. Aber wir müssen ganz leise sein.“ -4-
Sie betrachtete ihre fadenscheinigen Jeans, die sie bis zum Knie hochgerollt hatte, und die schmutzigen Turnschuhe, die vom Waten durchs Wasser naß waren. „So kann ich mich nicht sehen lassen. Grandma würde sagen: Ich bin nicht richtig angezogen, um jemandem vor die Augen zu treten.“ Etwas später ermahnte sie Jimmy Joe, nicht mehr zu reden. Am See waren auch geflüsterte Worte weithin hörbar. Schweigend folgte sie ihrem jungen Cousin zu seinem Versteck, einem Sassafrasdickicht auf einem Hangvorsprung mit Blick auf den See. Dort beugte sie sich vor, um einen Blick auf den Fremden zu werfen. Erschrocken zog sie sich zurück. Jimmy Joe hatte recht. Der Mann war wirklich groß. Und anders. Sarah holte unsicher Luft. Auf einmal war ihr ziemlich warm. Er war schlank, muskulös und wirkte ausgesprochen durchtrainiert. Sarah schätzte ihn auf mindestens einsachtzig. Als er mit einem kaum sichtbaren Drehen des Handgelenks die Angel auswarf, war Sarah wie gebannt von der trägen Kraft und natürlichen Anmut seiner Bewegung. Er hatte den Schwimmer genau am gegenüberliegenden Rand des Beckens plaziert. Die Neugier trieb sie vorwärts, bis Jimmy Joe warnend nach ihrem Arm griff. Sie wurde rot und schloß die Lider, um wieder zur Vernunft zu kommen. Als sie sie wieder aufschlug, sah sie unmittelbar in Jimmy Joes Augen. Ein deutliches „Ich habs ja gleich gesagt“ lag in seinem Blick. Sarah nickte ihm besänftigend zu. Sie machte sich, keine Sorgen, zumindest nicht wegen des Fisches. Ihr schnürte sich die Kehle zu. Die Wasserstiefel waren von ausgesuchter Qualität, der kesse Fischerhut aus Segeltuch war mit Fasanenfedern und Eisbärhaarbüscheln geschmückt. Sarah machte noch einmal die Augen zu, doch das Bild blieb das gleiche. Der Fremde war auf beinahe klassische Art schön. Eine, tiefe Kerbe im Kinn betonte den Ausdruck unnachgiebiger Härte. Seinem Aussehen nach hätte er gut auf das Titelblatt eines Magazins für Angelsport gepaßt. Aber Sarah spürte, daß Angeln nicht der eigentliche Grund für seine Anwesenheit war. Sie konnte natürlich nichts beweisen. Äußerlich stimmte alles. -5-
Trotzdem wußte sie, daß dies der Fremde war, der sich überall im Tal nach ihr erkundigt hatte. Er war nicht gekommen, um Fische zu fangen, sondern um sie zu finden. Sarah kroch rückwärts zurück ins Dickicht. Sie hatte genug gesehen. Der alte Barsch sollte gar nicht mit falschen Fliegen angelockt werden. Die Falle galt ihr. „Wenn du ein bißchen näher kommst, kannst du mir noch besser zugucken“, erklärte der Mann gleichmütig. Die Stimme war gerade laut genug, um im Dickicht gehört zu werden. Sarah fuhr unmerklich zusammen, Jimmy Joe wurde blaß. „Komm schon, Junge. Ich weiß, daß du da bist. Keine Angst, ich tu dir nichts.“ Er drehte sich nicht einmal um. Sarah zwang sich äußerlich zur Ruhe, doch die stand in direktem Widerspruch zu dem inneren Aufruhr, den sie empfand. Sie legte einen Finger auf die Lippen, damit Jimmy Joe sie nicht verriet, und bedeutete ihm mit einem knappen Nicken, daß er runtergehen könne. Während Jimmy Joe über den Vorsprung des Hanges kroch und sich über den roten Kreidefelsen nach unten gleiten ließ, schob sich Sarah im Dickicht nach vorn. Sie war fest entschlossen, ihren Cousin nicht aus den Augen zu lassen. Nicholas Matthias gab sich unbekümmert. Weshalb hatte sich der Junge angeschlichen? Er hatte ihn heute schon einmal beobachtet. Das war Nicholas ebensowenig entgangen wie der Zeitpunkt, als der heimliche Beobachter das Dickicht. verließ. Als Nicholas die Abdrücke von Kinderfüßen in der weichen Erde entdeckt hatte, war er erleichtert gewesen. Ein Kind war ungefährlich. Er glaubte nicht, daß ihm jemand wegen seiner Fragen nach Sarah Wilsons Verbleib feindselig gesonnen war. Sicher war er sich dessen nicht. Er hatte auf jeden Fall nichts herausgefunden und war der Lösung seiner Aufgabe nicht näher als bei der Ankunft vor zwei Wochen. Nicholas hatte den Aufenthalt in Mountain Springs, Arkansas, trotz der widrigen Umstände genossen. Die naturbelassene Landschaft war rauh, aber schön. Felsennasen aus rotem und gelbem Sandstein und grauem Granit ragten aus dem gleichmäßig grünen Weideland. Die Menschen, die hier lebten, paßten zu der Gegend. Sie waren spröde, -6-
hinter leise vorgetragenen Höflichkeitsfloskeln verbarg sich eine eigensinnige Zurückhaltung. Es überraschte ihn daher nicht, daß er nichts, aber auch gar nichts über die Frau in Erfahrung brachte, die er hier suchen wollte. Aber es enttäuschte ihn. Bis hierhin hatte er ihre Spur verfolgt, dann war sie einfach verschwunden. Er musterte den rothaarigen Jungen, der jetzt neben ihm stand und sich den roten Staub aus den Hosen klopfte. „Woran haben Sie gemerkt, daß ich hier bin?“ fragte das Kind, das er auf ungefähr acht Jahre schätzte. „Ich war leise. Grandpa sagt, ich bewege mich so lautlos wie ein Opossum.“ „Das ist wahr“, stimmte Nicholas zu. „Beim ersten Mal war ich mir noch nicht sicher. Aber als du weg warst, habe ich deine Fußabdrücke gefunden.“ „Und woher wußten Sie, daß ich wieder da bin?“ „Für so etwas habe ich eine Antenne.“ Der Junge ging um ihn herum und musterte ihn von allen Seiten. „Wo ist sie jetzt?“ „Was?“ „Na, die Antenne.“ Nicholas lachte. „Das war nicht wörtlich gemeint. Ich spüre eben, wenn mich jemand beobachtet.“ „Ach so.“ Jimmy Joe nickte verständnisvoll. „Dann sind Sie also ein Seher. Genau wie Janie.“ Handelte es sich dabei etwa um die verschwundene Sarah Wilson? Nicholas ließ sich nicht anmerken, wie sehr er sich über die beiläufige Feststellung des Jungen freute. Nach zwei Wochen vergeblichen Bemühens erhielt er nun vielleicht zufällig einen Hinweis. Einfach so. In ihrem Versteck war Sarah nahe daran, laut aufzustöhnen. Ein gefährlicheres Thema hätte Jimmy Joe wirklich nicht wählen können. Sie betrachtete den Fremden. Seine Miene war ausdruckslos geworden. „Nein, das glaube ich nicht“, erwiderte er schließlich. Das klang völlig unbeteiligt. Bildete sie sich vielleicht alles ein? Sarah preßte die Lippen aufeinander. Zum Glück hatte Jimmy Joe -7-
ihren richtigen Namen nicht gesagt, sondern die Koseform ihres Zweitnamens. So hatte er sie genannt, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Sie konnte nur hoffen, daß der Fremde keine Rückschlüsse von Janie auf Sarah Wilson ziehen könnte. Denn je länger sie den Mann beobachtete, desto sicherer war sie, daß er derjenige war, der sie suchte. Ihr stockte vor Aufregung der Atem. „Wer ist Janie?“ fragte der Fremde. „Und was ist überhaupt ein ,Seher?“ „Janie ist meine Cousine“, erklärte der Junge. „Sie weiß Sachen, die andere nicht wissen. Zum Beispiel, daß Onkel Hirams bester Jagdhund in einer Höhle festsaß, als er mal vermißt wurde. Oder, wenn Besuch kommt, der sich nicht angemeldet hat. Grandpa sagt, sie sei Seherin.“ „Ach so.“ Sarah hatte die unterdrückte Erregung in der Stimme des Fremden gehört. Aber Jimmy Joe schien nichts aufzufallen. Er fuhr unverzagt fort: „Sie merkt auch, wenn sie beobachtet wird. Beim Beerenpflücken hat sie mal gespürt, daß ein Bär näher kam. Wir sind auf einen Baum geklettert und haben lange gewartet. Auf einmal kam eine Bärin aus dem Gebüsch und ging mit ihren Jungen genau dorthin, wo wir vorher gewesen waren.“ Er legte eine kunstvolle Pause ein. „Und dann?“ drängte der Fremde, erwartungsgemäß. „Nachdem sich die Bären sattgegessen hatten, sind sie wieder verschwunden, und wir sind nach Hause gegangen. Grandpa sagt, daß Gott für uns alle genug Beeren wachsen läßt. Man muß nur warten, bis man dran ist.“ Der Mann lachte, und das Lachen milderte die harten Züge in seinem Gesicht. „Ich habe gehört, daß in dieser Gegend viele Märchenerzähler wohnen, aber daß sie schon so früh anfangen zu üben, ist mir neu.“ „Wie meinen Sie das, Mister?“ „Ich finde, daß du gut Geschichten erzählen kannst, Junge. Wie heißt du eigentlich?“ „Jimmy Joe. James Joseph Lutteral. Und Sie?“ „Nicholas Matthias. Schön, dich kennenzulernen, Jimmy Joe.“ Er -8-
streckte die Hand aus. Sarahs Cousin wischte sich die Finger an der Hose ab, bevor er einschlug. Sarah wagte kaum zu atmen. Sie sah Nicholas zum ersten Mal von vorn. Seine Augen waren dunkel und wachsam. Ihr rann ein Schauer über den Rücken. Bist du verrückt? schalt sie sich sofort. Dieser Mann kann dir gefährlich werden. Also reagier gefälligst nicht wie ein unreifer Teenager. „Angelst du auch gern?“ hörte sie ihn fragen. „Manchmal“, erwiderte Jimmy Joe lässig. „Hast du schon mal mit Fliegen gefischt?“ „Nein, nur mit Würmern. Grandpa sagt, daß die Fische hier lieber etwas Natürliches mögen.“ Nicholas schmunzelte. „Wahrscheinlich hat er recht. Ich habe es schon mit allen möglichen Fliegen versucht, aber der Barsch in dem Loch da drüben beißt einfach nicht an.“ „Ja, das hat Janie auch gemeint“, erklärte Jimmy Joe zuversichtlich. „Von Fischen versteht deine Cousine also auch was. Was hat sie denn sonst noch erzählt?“ „Nur, daß der alte Scarface zu gewitzt ist, um auf ein paar Federn hereinzufallen. Er mag nur Würmer.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Nicholas ruhig. „Der Barsch lebt schon eine Weile hier und kann noch, nicht viele Würmer am Angelhaken gesehen haben. Sonst wäre er nämlich nicht so groß und schlau geworden.“ Er grinste, als hätte er gerade eine besonders lustige Idee. „Oder fängst du ihn, fütterst ihn mit Würmern und wirfst ihn wieder ins Wasser? Nervös bohrte Jimmy Joe eine Schuhspitze in die weiche Erde. „Nein, wir fangen ihn nicht.“ Sarah spürte“ daß Jimmy Joe argwöhnisch geworden war. Das schien auch Nicholas nicht zu entgehen. Er verzog spöttisch den Mund. „Nein? Was machst du denn mit ihm? Warte, laß mich raten. Du fütterst ihn einfach, nicht wahr?“ Als Jimmy Joe schuldbewußt zögerte, lachte Nicholas laut auf. „Ich hätte dir fast geglaubt, Jimmy Joe. Einen Barsch mit Würmern zu füttern, also wirklich. Du verstehst es, die Leute an der Nase herumzuführen, -9-
junger Mann.“ „Ich führe niemanden an der Nase herum, Mister. „Deshalb bist du ja so gut. Du machst mir weis, daß man einen Barsch mit Würmern füttern kann, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Du bist wirklich begabt, Jimmy Joe Lutteral.“ „Ich habe nicht gesagt, daß ich Scarface mit Würmern füttere“, beharrte Jimmy Joe trotzig, aber auch stolz. „Jetzt soll ich wahrscheinlich annehmen, daß das jemand anders macht. Na, wer ist es denn?“ „Janie.“ Nicholas musterte den Jungen prüfend. Der wurde verlegen, wich dem Blick jedoch nicht aus. „Du sprichst von dem Barsch immer als Scarface“, meinte Nicholas. „Das heißt Narbengesicht. Warum nennst du ihn so?“ „Weil er eine große Narbe über dem Maul hat.“ „Du hast ihn aus so großer Nähe gesehen?“ „Klar.“ Nicholas beobachtete Jimmy Joe noch eine Weile, dann legte er den Kopf in den Nacken und lachte, daß die Zähne im Sonnenlicht aufblitzten. „Sie glauben mir nicht, stimmts?“ fragte Jimmy Joe herausfordernd. „Sagen wir, ich finde, daß du ein guter Geschichtenerzähler bist, Jimmy Joe.“ „Sie glauben mir also wirklich nicht.“ Nicholas sah den Zorn in seinem Blick. „Warum wirst du denn ärgerlich? Ich habe gerade zugegeben, daß du dir wunderbare Geschichten ausdenken kannst. Viel besser als die üblichen, in denen der größte Fang des Lebens immer knapp entwischt.“ „Ich habe nicht behauptet, daß er entwischt ist.“ „Damit meine ich doch nur die Märchen, die jeder Angler erzählt, Jimmy Joe.“ „Sie glauben mir nicht, Mister“, wiederholte Jimmy Joe noch einmal. Nicholas zögerte, auf seinem Gesicht zeichneten sich Unsicherheit und Bedauern ab. „Wärest du glücklicher, wenn ich jetzt sage, daß ich dir die Story abnehme?“ erkundigte er sich behutsam. - 10 -
„Nur, wenn es stimmt.“ „Das habe ich mir gedacht. Was schlägst du also vor?“ Jimmy Joe warf einen raschen Blick auf das Dickicht, dann auf den Teich, und sah Nicholas schließlich beklommen an. Das augenscheinliche Unbehagen des Jungen störte Nicholas. Er hatte ihn nicht in die Enge treiben wollen. Aber woher sollte er ahnen, daß Jimmy Joe seine Glaubwürdigkeit so nachdrücklich verteidigen würde? Er beobachtete, wie der Junge eine Weile mit sich rang und endlich zu einem Entschluß kam. Jimmy Joe drehte sich zum Hang um und rief: „Janie, du mußt jetzt rauskommen.“ „Warum rufst du deine Cousine, Jimmy Joe?“ „Weil Grandpa immer sagt, daß es nur zwei Möglichkeiten gibt, wenn einem jemand was nicht glaubt.“ „Welche denn?“ „Man kann ihn schlagen, bis er den Mund hält, oder beweisen, daß man im Recht ist.“ „Aha. Und warum möchtest du, daß Janie kommt?“ „Weil Sie zu groß für mich sind, um Sie zu schlagen.“ Nicholas hätte beinahe wieder gelacht, doch dann nickte er nur zustimmend. Er bezweifelte, daß Jimmy Joes „sehende“ Cousine die Lehrerin war, die er suchte. Trotzdem war er aufgeregt, denn immerhin bestand eine geringe Chance. Daß Sarah dem Jungen helfen mußte, hatte sie schon gewußt, bevor er sie dazu aufforderte. Das war so unvermeidlich wie die Tatsache, daß sich Nicholas Matthias vom gesamten Beaver Lake ausgerechnet jenen Küstenstreifen zum Angeln ausgesucht hatte, an dem sie lebte. Sie bahnte sich bereits einen Weg durchs Dickicht, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. Prüfend musterte sie ihr mit Brombeersaftflecken übersätes T-Shirt. Es war riesig, hatte zum Schutz gegen die Dornen lange Ärmel und verriet nichts über die sich darunter verbergende perfekte Figur. Da Sarah ziemlich klein war, wurde sie oft für jünger gehalten als siebenundzwanzig. Wenn sie dazu auch noch die in dieser Gegend übliche Mundart nachmachte, würde sie es vielleicht schaffen. Der Plan war nicht ideal, aber sie hatte keine Wahl. Sie mußte eben den Blick gesenkt und das Gesicht möglichst abgewandt halten. - 11 -
Sobald sie Jimmy Joes Ehre gerettet hätte, würde sie sich davonmachen. Der Mann, der sich nach der Lehrerin aus St. Louis erkundigt hatte, würde nicht damit rechnen, daß diese als schmutzstarrende Halbwüchsige am Seeufer entlangwatete. Am Rand des Vorsprungs hielt sie noch einmal inne. Obwohl Nicholas sie noch nicht ausmachen konnte, raste ihr Puls. Sie holte noch einmal tief Luft. Ich tue das für Jimmy Joe, rief sie sich ins Gedächtnis. Dann trat sie aus dem Unterholz. Es gab keine Möglichkeit, auf dem Weg nach unten wenigstens annähernd damenhaft zu wirken. Da sie das ohnehin nicht wollte, zögerte sie nicht, sondern setzte sich hin und rutschte auf dem Hosenboden nach unten. Sie stöhnte leise auf, als sie so unsanft landete, daß ihr Kopf nach hinten flog. Dabei begegnete sie kurz Nicholas Blick. Seine Augen waren dunkelbraun und vor Staunen weit geöffnet. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, er sähe ihr direkt ins Herz. Sie unterdrückte einen Schauer, senkte die Lider und sprang hastig auf. Nicholas hatte nicht zu hoffen gewagt, daß die „sehende“ Cousine die Frau war, die er suchte. Er wußte auch nicht so recht, wen er erwartet hatte. Aber auf jeden Fall nicht das junge Mädchen, das nun vor ihm stand. Es war nicht viel größer als Jimmy Joe und offenbar schüchtern, denn es traute sich nicht, ihn anzusehen. Soweit er das überhaupt beurteilen konnte, waren die beiden einander nicht sehr ähnlich. Bis auf die von Natur aus helle, jetzt sonnengebräunte Haut und das rote Haar. Aber während Jimmy Joes Schopf flammendrot war, war der aschblonde des Mädchens allenfalls rötlich überhaucht. Sarah tat verlegen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, dann bohrte sie die Fußspitzen in die Erde, wie sie es vorhin bei Jimmy Joe beobachtet hatte. „Ich hab dir doch gesagt, daß ich nicht richtig angezogen bin, um mich sehen zu lassen“, sagte sie vorwurfsvoll, aber nicht zu ärgerlich. Wenn sie nicht wollte, daß Jimmy Joe sie verriet, durfte sie nicht übertreiben. „Entschuldige, Janie. Ich wollte, doch nur...“ „Schon gut“, unterbrach sie ihn. Er wirkte so beschämt, daß sie ihn - 12 -
am liebsten getröstet hätte. Aber das ging natürlich nicht. „Für diesmal jedenfalls. Such jetzt ein paar Würmer, damit wir deine Geschichte beweisen können. „Na schön, Janie“, meinte Nicholas ruhig, nachdem Jimmy Joe verschwunden war. „Was machen wir zwei denn jetzt?“ Er hoffte, daß sie ihn ansähe, wenn er sie direkt ansprach. Aber sie betrachtete weiterhin ihre Fußspitzen. „Wir warten auf Jimmy Joe.“ „Und dann?“ So schnell gab er nicht auf, und diesmal behielt er recht. Sie hob den Kopf. Nicholas musterte sie so eindringlich, daß sie kaum zu atmen wagte. Rasch wandte sie sich wieder ab. „Dann füttern wir den Fisch.“ Nicholas war verwirrt. Nach ihrem Äußeren schätzte er Janie auf ungefähr sechzehn. Doch der zweite Blick in ihre geheimnisvollen grünblauen Augen bestätigte seinen ersten Eindruck. Diese Augen hatten nichts Kindliches. Sie erinnerten eher an die einer Nixe oder einer Sirene wie Lorelei. Bleib sachlich, ermahnte er sich. Er studierte sie aufmerksam. Sie trug das Haar gescheitelt und an beiden Seiten über den Ohren mit Bändern zusammengefaßt. Ihre ganze Haltung wies daraufhin, daß sie noch sehr jung war. Sie ist wirklich noch ein schüchterner Teenager, befand er. Die Gegenwart eines Fremden macht sie nervös, und sie schämt sich wegen der Brombeerspuren auf dem Shirt. Wenn sie erst einmal etwas älter ist, werden sich die Männer allerdings vor ihr in acht nehmen müssen. „Ich hab sie, Janie!“ rief Jimmy Joe in dem Moment und lief auf die beiden zu. „Drei Stück. Ist das genug?“ „Klar.“ Janie nahm die Regenwürmer entgegen. „Und jetzt?“ fragte Nicholas gespannt. Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie: „Jetzt füttere ich Scarface.“ Sarah watete ins Wasser, bis es tiefer wurde. „Kommen Sie mit“, rief sie über die Schulter zurück. „Sonst können Sie ihn nicht sehen. Aber Sie müssen hinter mir bleiben, damit er nichts merkt.“ Nicholas und Jimmy Joe folgten ihr. - 13 -
Nachdem sie die beiden aufgefordert hatte, sich ganz ruhig zu verhalten, bückte sie sich so weit hinab, daß ihr T-Shirt naß wurde. Mit der freien Hand hob sie einen Stein auf, klopfte damit erst einmal und nach einer Pause noch einmal gegen einen Felsen am Boden des Sees. Wie gebannt starrte Nicholas ins Wasser. Es war kristallklar, so daß er bis zum Grund hinabsehen konnte. Er ertappte sich dabei, daß er Janie Erfolg wünschte. Als der Fisch dann jedoch auftauchte, meinte Nicholas, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Der riesige Barsch schwamm um Sarah herum und streifte ihre Beine knapp über der Wasseroberfläche hielt sie ihm mit ausgestreckter Hand einen zappelnden Regenwurm hin. An der Seite des Fischs erkannte Nicholas den typischen dunklen Streifen, außerdem Zeichen und Narben, die zeigten, daß er schon ziemlich alt sein mußte. Am auffälligsten war die Narbe quer über dem Maul, die Jimmy Joe bereits erwähnt hatte. Als der Barsch den Wurm entdeckte, glitt er gemächlich hin. Er schnappte sich die erste Hälfte des Leckerbissens, schluckte sie herunter und widmete sich dann der zweiten. Sobald alle Vorräte verzehrt waren, drückte er sich behutsam gegen Sarahs Hand, schlug zum Abschied noch einmal mit dem Schwanz und verschwand wieder. Sarah richtete sich auf und wischte sich die Finger am TShirt ab. „Reicht das, Jimmy Joe?“ Er strahlte über das ganze Gesicht. „Danke, Janie.“ „Grandma wartet auf die Brombeeren“, mahnte sie. „Wir müssen heim.“ Auf dem Weg zum Ufer würdigte sie Nicholas keines Blickes und achtete auch nicht auf das Wasser, das ihr von den Jeans an den Beinen herunterrann. Wortlos sah er ihr nach. Er konnte immer noch nicht fassen, was er soeben beobachtet hatte. „Komm endlich, Jimmy Joe!“ rief Sarah vom Hang herab. „Gleich, Janie. Bitte!“ „Na gut.“ Sie wollte nicht zeigen, wie wichtig es ihr war, rasch wegzukommen. „Aber beeil dich.“ „Wollen Sie noch länger hier angeln, Mister?“ - 14 -
„Ich werde noch ein paar Tage in der Gegend bleiben. Aber zum Fischen suche ich mir einen anderen Platz.“ Nicholas lächelte ihm zu. „Hier ist wohl nichts zu fangen.“ Jimmy Joe machte keinen Hehl aus seiner Freude. „Eine halbe Meile von hier ist eine gute Stelle am See“, verriet er. „Sie erkennen das Loch an dem alten Baumstumpf im Wasser.“ „Hättest du etwas dagegen, wenn ich es da mal versuchte?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Wir könnten uns morgen zum Angeln treffen. Hast du Lust?“ „Das geht nicht, morgen ist kein Freitag. Aber ich kann ja zugucken.“ „Angelst du nur freitags?“ „Ja, an den anderen Tagen will Grandma keinen Fisch.“ „Und wenn du freitags nicht genug fängst?“ „Das ist noch nie passiert“, versicherte Jimmy Joe. „Jetzt muß ich aber wirklich gehen.“ Nicholas nickte. „Vielleicht bis morgen also. Und sag deiner Cousine noch einmal vielen Dank, daß sie mir das Kunststück mit Scarface vorgeführt hat.“ Er wartete, bis der Junge den Hang hinaufgeklettert und mit Janie im Dickicht verschwunden war. Dann packte er nachdenklich seine Sachen. Die Kinder, der See, die Leute hier, das alles verwirrte ihn. Ländliche Gegenden waren ihm nicht fremd. Er war selbst in einer aufgewachsen, aber hier war das anders. Das faszinierte ihn und machte ihn neugierig. Ähnlich erging es ihm mit der Frau, die er aufspüren sollte. Als Jimmy Joe seine Cousine zum ersten Mal erwähnte, hatte Nicholas einen Moment lang gehofft, die Suche sei beendet. Er hätte wissen müssen, daß es nicht so einfach war. Vor drei Tagen hätte er die Suche beinahe aufgegeben. Dann hatte er Sarah Wilsons Namen in den Steuerunterlagen des Verwaltungsbezirks gefunden. Doch auch das war merkwürdig, denn die Akten bezogen sich auf Monte Ne, einen Urlaubsort, der längst vom Beaver Lake überspült worden war. Er überlegte, ob er nach St. Louis zurückkehren und es von dort mit einer neuen Spur versuchen sollte. Nein, sagte er sich sofort. Sie ist - 15 -
hier. Ich werde weitermachen. Vielleicht habe ich Glück. Außerdem konnte er jetzt nicht fort. Irgend etwas hielt ihn hier fest. War es das Geheimnis um einen Barsch, der sich von Kindern zähmen ließ? Er wandte sich zu der Stelle um, an der er die beiden zuletzt gesehen hatte. Der Junge war wirklich nett und hatte sich sehr bemüht, sich den Triumph nicht anmerken zu lassen. Dazu gehörte Charakterstärke. Dann fiel Nicholas das Mädchen mit den unergründlichen Augen ein und wie sie den Barsch angelockt und mit der Hand gefüttert hatte. Das war einfach unglaublich.
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2. KAPITEL „T. J. läßt dir ausrichten, daß Tante Cinda dich sehen möchte“, erzählte Sarahs Großmutter, als Sarah mit Jimmy Joe zur Farm zurückkehrte. „Hat er gesagt, warum?“ „Nein. Sie meinte, du wüßtest Bescheid.“ Wie recht Tante Cinda hatte. Seit der Fremde im Tal aufgetaucht war, hatte Sarah geahnt, wie es weitergehen würde. Sie hätte es gern vermieden, doch die Begegnung am See hatte ihre Schutzmaßnahmen zunichte gemacht. Nun war es zu spät, um den Verlauf der Dinge zu ändern. Sie seufzte, doch dann fing sie Grandmas besorgten Blick auf und zwang sich zu lächeln. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen, daß sie und die ältere Schwester der Großmutter eine merkwürdige Begabung besaßen, die niemand verstand, auch Sarah nicht. Genausowenig wie das Band, das dadurch zwischen ihr und Tante Cinda geschaffen wurde. Kein anderes Familienmitglied verfügte über diese Fähigkeit, und das war wahrscheinlich gut so. Manchmal wirkte die unsichtbare Verbindung nämlich so erschreckend auf Sarah, daß sie nicht sicher war, ob sie eine weitere verkraftet hätte. Sie lenkte ihre Gedanken in andere Bahnen. „Keine Angst, Grandma, es ist schon nichts Schlimmes. Vielleicht fühlt sie sich nur einsam. Ich war schon seit ein paar Tagen nicht mehr in Hogscald.“ „Ja, vielleicht“, stimmte die Großmutter voller Zweifel zu. „Wenn du sie doch nur überreden könntest, nach Mountain Springs zu ziehen. Ich habe das schon so oft probiert. Sie ist so weit weg und hat noch nicht einmal ein Telefon. Im und ums Haus herum kommt sie zwar zurecht, aber sie hat sich nie überwinden können, den Berg hinunterzusteigen, auch wenn sie dazu sehr wohl in der Lage war.“ „Ich werde sehen, was ich ausrichten kann, Grandma. Ihr ist sicher klar, daß sie vor dem nächsten Winter da weg muß. Momentan schaut T. J. oder einer der anderen täglich bei ihr vorbei. Wenn es schneit, wird das nicht mehr möglich sein.“ Sie lächelte der Großmutter beruhigend an. „Mach dir keine Gedanken. Es wird - 17 -
schon gutgehen.“ „Fährst du jetzt los oder wartest du bis morgen?“ „Ich mach mich nach dem Abendessen auf den Weg“, erwiderte Sarah. Ihr war klar, daß Tante Cinda sie nicht ohne Grund zu sich bat. „Sonst macht sie sich am Ende Sorgen.“ Kurz vor Sonnenuntergang betrat Sarah die Veranda vor Tante Cindas Haus und spähte durch die offene Tür. Das Auto hatte sie am Ende der Straße abgestellt und war bis hierher über den Fußweg den Berg hinaufgewandert. Obwohl die Sonne schon so tief stand, war Sarah erhitzt und müde. Vor langer, langer Zeit hatte irgendein Ururgroßvater Apfelbäume , um das Haus herum gepflanzt, deren Schatten nun die Zimmer hinter den kleinen Fenstern verdunkelte. Licht brannte keines, und solange Sarahs Großtante allein war, würde sie die Petroleumlampen auch nicht anzünden, denn sie war fast blind. „Ich bin's, Tante Cinda. Sarah. Du wolltest mich sehen?“ Sie wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann sah sie sich um. Cinda Shields saß in einem Schaukelstuhl neben dem Herd und trug wie immer einen weichen Wollschal um die Schultern. Wie gekämmte Baumwolle umrahmte das silberweiße Haar das zerfurchte Gesicht. „Ich habe auf dich gewartet, mein Kind. Du weißt, warum. Also versuch gar nicht erst, mir etwas anderes weiszumachen. Du wirst ihn treffen müssen. Sarah dachte an den Fremden. Warum suchte er sie? Doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Sie hatte ohnehin keinen Einfluß mehr auf die Ereignisse. Ihr Schicksal und das des Fremden waren auf unerklärliche Weise und aus irgendeinem Grund miteinander verwoben. Sie hätte zu gern einen Blick in ihre Zukunft geworfen, so wie sie es manchmal für andere tat. - 18 -
„Warum zögerst du noch?“ „Ich habe Angst“, gestand Sarah. „Wovor? Was geschehen soll, wird geschehen.“ „Ich weiß, Tante Cinda. Aber diesmal spüre ich eine Veränderung, und ich bin mir weder sicher, ob ich das will, noch worum es sich dabei handelt. Ich kann Grandpa sagen, wo die Brille ist, Bobby Wade, daß er den linken Hinterreifen überprüfen muß, weil er ihn sonst plattfahren wird, und Onkel Hiram, daß er genug Zeit zum Heumachen hat, bevor es regnet. Aber ich habe keine Ahnung, was ich morgen zum Frühstück essen werde, beziehungsweise ob ich überhaupt frühstücken werde.“ Tante Cinda lächelte voller Verständnis und Zuneigung. „Natürlich. Sonst könntest du versucht sein, etwas zu ändern, und das wäre vielleicht nicht gut. Wenn es erforderlich ist und du etwas ändern mußt, wirst du Bescheid wissen. Im übrigen weißt du, daß das Leben einem ständigen Wechsel unterworfen ist. Was geschehen soll, wird geschehen.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Liegt es an dem kleinen Jungen aus St. Louis, bekümmert dich die Geschichte immer noch?“ „Nein. Ja. Ach, ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, Morgen und Gestern sind völlig durcheinander geraten.“ „Hast du Ärger gehabt? Hat dich jemand aufgespürt?“ „Nein, das glaube ich nicht. Ich habe mit einem Polizisten gesprochen, der mit Sam Bascomb befreundet ist. Immerhin hat er mir nicht völlig mißtraut. Es war jedenfalls anders als beim ersten Mal. Da war alles so verworren, daß ich kaum etwas erkennen konnte. Ich hatte Angst, daß mein Wissen nicht ausreichte. Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als anzurufen.“ „Das war richtig.“ „Aber ich fühlte mich so verletzlich“, sagte Sarah. Sie hatte Tränen in den Augen und hoffte, daß Tante Cinda das nicht merkte. Doch, dann fiel ihr ein, daß die alte Frau auch dann Bescheid wüßte, wenn sie nichts sah. „Die Zeit war knapp. Obwohl er Angst hatte, war er tapfer. Ich fürchtete, daß man ihn zu spät finden könne.“ „Das war jedoch nicht der Fall.“ „Nein, aber es gibt einen unklaren Punkt in der Vergangenheit. - 19 -
Vielleicht hängt das mit dem Jungen zusammen. Oder mit diesem Mann.“ „Dem kannst du nicht ausweichen.“ „Ich bin nach Hause zurückgekehrt, weil ich Ruhe brauche, Tante Cinda. Hier geht es mir gut. Draußen... Auf mich wirkt das wie ein schlechter Scherz. Zum Beispiel das Gespräch mit dem Polizisten. Ich habe ihm erzählt, was ich wußte, und ihn gefragt, ob das reiche, um den Kleinen zu finden. ,Keine Ahnung', hat er daraufhin gesagt. ,Schließlich sind Sie die Frau mit der Kristallkugel.' Dabei ist er Sams Freund.“ „Er kennt dich noch nicht lange. Hab Geduld, Sarah. Du bist den Leuten hier von klein auf bekannt, aber manche sind eben kindisch. Wenn sie etwas nicht verstehen, bekommen sie Angst, das weißt du doch. Aber du hast dein Bestes getan, mehr kann man nicht verlangen. Häufig erkennen wir anstelle des Gesamtbilds eben nur einzelne Puzzlesteine.“ Wenn es jemanden gab, der Sarahs Bedenken nachvollziehen konnte, dann war das Cinda Shields, und die besänftigenden Worte blieben nicht ohne Wirkung. .“Manchmal weiß man überhaupt nicht, was auf einen zukommt“, erklärte die Großtante. „Das Risiko muß man auf sich nehmen, ohne sich deswegen andauernd Sorgen zu machen.“ „Du meinst, ich soll mich nach meinem Gefühl richten?“ „Nach dem Gefühl, dem Instinkt, oder wie immer du es nennen willst. Niemand kann dir garantieren, daß im Leben immer alles gutgeht. Hauptsache, du hörst auf deine innere Stimme.“ Tante Cinda schwieg für einen Augenblick, und Sarah wartete geduldig ab. „Es ist gut, daß du heimgekommen bist, um dich auszuruhen. Aber jetzt mußt du den Fremden kennenlernen. Das ist wichtig.“ Sarah erschauerte. Es gab kein Zurück. Wenn der Fremde ihr das nächste Mal in die Augen sähe, würde er wissen, wer sie war. Dabei hatte sie keine Ahnung, weshalb er sie suchte, und bis sie das herausfand, mochte es zu spät sein. „Kennst du den Fremden, Tante Cinda? Weißt du, was er von mir will und warum er so wichtig ist?“ - 20 -
„Nein, ich weiß nicht mehr als du. Würde ich ihn kennen, wäre das vielleicht etwas anderes.“ „Woran hast du gemerkt, daß er mich sucht?“ „Auf die gleiche Art, wie du so etwas merkst, Kind. Obwohl das diesmal gar nicht nötig gewesen wäre, denn die Neuigkeit hat sich wie ein Lauffeuer im Tal verbreitet. Du mußt mit ihm reden, Sarah. Hast du eine Ahnung, wo er wohnt?“ „Das läßt sich rasch herausfinden, denn sein Name klingt für diese Gegend sehr ungewöhnlich“, versicherte Sarah. „Vermutlich hält er sich in einer Feriensiedlung am See auf.“ Tante Cinda lächelte kaum merklich. „Du weißt also, wie der Fremde heißt? Mit anderen Worten, du bist ihm schon begegnet.“ „Jimmy Joe und ich haben uns am See mit ihm unterhalten“, erzählte Sarah. „Aber er wußte nicht, wer ich bin. Er heißt Nicholas Matthias. Das hat er zumindest behauptet.“ Plötzlich leuchteten Tante Cindas Augen auf. „Er sieht gut aus, dieser Matthias, nicht wahr?“ „O ja.“ Die Erinnerung an seine markanten Gesichtszüge und die hochgewachsene Gestalt trieb Sarah das Blut in die Wangen. „Wie alt ist er?“ „Mitte Dreißig, würde ich sagen.“ „Er ist alleinstehend“, stellte Cinda mehr zu sich selbst fest. „Jetzt wird mir einiges klar.“ Sarah war verwirrt. Die Großtante hatte sich für das Leben in dieser Abgeschiedenheit entschieden. Innerlich nahm sie an Freude und Leid der Bewohner im Tal teil. Um Außenseiter kümmerte sie sich selten, vor allem, wenn sie sie nicht persönlich kannte. Stammte das plötzliche Wissen aus Sarahs Gedanken? Das war unmöglich, denn Sarah hatte nichts dergleichen empfunden. „Kennst du ihn, Tante Cinda? Weißt du, was er vorhat? „Ja, das ist mir jetzt klar, obwohl er davon selbst noch keine Ahnung hat. Er ist aus anderen Gründen hier.“ Sie verstummte wieder. Sarah schwieg ebenfalls. Die Großtante drängen zu wollen, wäre ohnehin sinnlos. Denn die sagte nur, was sie sagen wollte, und auch nur dann, wenn sie es für richtig hielt. - 21 -
„Magst du ihn, Sarah Jane?“ erkundigte sich Tante Cinda endlich so ruhig, daß es beinahe gleichgültig klang. Sarah hatte bis jetzt vermieden, sich diese Frage zu stellen. „Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich hatte ich zuviel Angst, um darüber nachzudenken. Er war nett zu Jimmy Joe, und Jimmy Joe war ihm zugetan.“ „Kinder haben in diesen Dingen ein sicheres Gespür. Sie lernen aus der Vergangenheit, ohne sich damit zu belasten. Das solltest du auch mal versuchen.“ „Ich nehme es mir jeden Tag vor, Tante Cinda, aber es ist schwer. Deshalb habe ich ja auch die Stelle in St. Louis angenommen.“ „Das war eine kluge Entscheidung“, bestätigte Tante Cinda. Sie sah eine Weile vor sich hin, dann kehrte sie zum Thema zurück. „Mr. Matthias ist nirgends zu Hause. Er will nach Monte Ne.“ „Monte Ne?“ wiederholte Sarah. Die meisten Leute wußten nicht einmal, daß es diesen Ort um die Jahrhundertwende herum gegeben hatte. „Monte Ne ist seit sechzig Jahren verschwunden.“ „Gerade deshalb möchte er dich vielleicht treffen. Das könnte der Teil der Vergangenheit sein, um den du dir solche Sorgen machst.“ „Ich fürchte, ich verstehe noch immer nichts, Tante Cinda.“ „Überleg doch mal. Wem hat Monte Ne gehört, bevor der See entstand?“ „Mir“, gab Sarah zu. „Zumindest ein Bruchstück des Landes, auf dem Monte Ne einmal gestanden hat. Die alte Frau nickte. „Genau, und das war nicht wenig. Du mußt mit dem Mann reden, Sarah.“ Sarah sah ihn wieder vor sich. Diesmal war das Bild so deutlich, als stünde er wirklich vor ihr, und sie kämpfte einen Augenblick gegen die Versuchung an, die Hände nach ihm auszustrecken. Als es ihr endlich gelang, die Erfindung ihrer Phantasie abzuschütteln, atmete sie erleichtert auf. „Na schön, Tante Cinda“, lenkte sie ein. Ihre Stimme klang noch immer ein bißchen unsicher. „Wenn du meinst, daß das so wichtig sei, werde ich ihn treffen.“ „Wann?“ „Nächsten Donnerstag.“ - 22 -
Nicholas Matthias sah sich auf dem Platz um. Vor dem Rathaus stand ein Farmer in blauem, Overall, das war alles. Von Sarah Wilson weit und breit keine Spur. Die Suche nach dieser Frau hatte ihn viel Zeit und Mühe gekostet. Nun schien es, als würde sie ihm auf dem Silbertablett serviert. Er lächelte in sich hinein. Der lang ersehnte Erfolg war endlich greifbar geworden. Es sei denn, jemand hatte sich mit ihm einen Scherz erlaubt. Er bezweifelte allerdings, daß sich hier jemand auf diese Art über ihn lustig machen würde. Alle Welt wußte, daß er sich überall nach dieser Frau erkundigt hatte, aber keiner der Befragten hatte je von ihr gehört. Zumindest hatten sie das behauptet. Doch dann hatte ihm jemand in der Feriensiedlung einen Zettel unter der Tür durchgeschoben: „Wenn Sie mit Sarah Wilson sprechen möchten, gehen Sie am Donnerstag um drei Uhr ins Mountain Springs Cafe und setzen sich dort in die zweite Nische.“ Die Mitteilung war nicht unterschrieben und hatte auch sonst keinen Hinweis auf den Absender enthalten. Nicholas betrat das Cafe. Trotz der für Arkansas typischen Sommerhitze besaß das Lokal keine Klimaanlage. Statt dessen drehte sich an der Decke ein altmodischer Ventilator. Die träge Bewegung schien die feuchtheiße Luft jedoch nur umzuschichten, anstatt sie zu kühlen, oder den Geruch nach gebratenen Zwiebeln und abgestandenem Zigarettenrauch zu vertreiben. Erleichtert betrachtete er die Nischen an einer der Wände. Offenbar kannte sich der unbekannte Schreiber hier aus. Ein paar Tische waren besetzt, vor allem jene beim Eingang. Die drei Nischen dagegen waren frei. Da die zweite in der Mitte lag, war es gleichgültig, von welcher Seite man zu zählen anfing. Nicholas überlegte, ob das Absicht oder Zufall war. Er sah auf die Uhr. Genau drei. Aber er hatte Zeit und würde sich - 23 -
gedulden. Bisher hatte sich Sarah Wilson seiner Suche erfolgreich entzogen. Nun hoffte er, daß das Ergebnis der Jagd so interessant war wie die Jagd selbst. Eine junge Frau mit dunklem Haar näherte sich von der Theke und fragte ihn nach seinen Wünschen. „Vorerst nur ein Glas Eistee“, erwiderte er. „Ich bin hier mit jemandem verabredet. Kurz darauf nippte Nicholas an seinem Tee und dachte an die Suche nach Sarah Wilson. Er hatte zum ersten Mal von ihr gehört, als er einen ehemaligen Armeekameraden besuchte. Inzwischen war Hoyston Polizeibeamter in St. Louis und hatte damals viel mit der Fahndung nach einem kleinen Jungen zu tun gehabt. Nicholas war dabei gewesen, als Hoyston Sarahs Anruf entgegennahm. Sie hatte den Vermißten genau beschrieben, sogar sein abgetragenes T-Shirt. Außerdem erzählte sie von einem alten Haus, dessen Fenster mit Brettern zugenagelt waren, einem altmodischen Garten voller Pfingstrosen, ländlicher Umgebung, Stadtgeräuschen und dem Geruch nach altem verbrannten Holz. Sie sagte, der Junge sei allein, ihm drohe jedoch Gefahr, sobald die Sonnenstrahlen vom Westen her durch die Spalten zwischen den Brettern vor den Fenstern drängen. Eine Hellseherin. Nicholas versuchte, seine Aufregung zu verbergen, aber Hoyston war nicht dumm. „Du hast nichts gehört“, sagte er. „Denn du bist gar nicht hier. Also los, raus. Sofort. Wir unterhalten uns später.“ Nicholas wußte, daß Hoyston es ernst meinte. Er ging hinaus und hoffte, daß der Freund sein Versprechen halten werde. Übersinnliche Kräfte hatten Nicholas schon als Kind fasziniert. Houdini, ein berühmter Zauberer, war sein Idol gewesen. Später hatte er erkannt, daß niemand wirklich zaubern konnte. Dennoch weigerte sich ein winziger Teil seines Ichs, den Glauben daran völlig aufzugeben. Er wartete auf Beweise, und auf seinen Reisen hatte er öfters welche zu finden gemeint. Einer genaueren Prüfung hatte allerdings keiner standgehalten. Eine dieser Geschichten hatte zu seinem jetzigen Beruf geführt. Bei Nachforschungen über einen Wahrsager an der Börse hatte sich - 24 -
herausgestellt, daß der Mann nicht nur ein Betrüger war, sondern auch geheime Informationen mißbraucht hatte. Die Hauptbeteiligten an diesem Schwindel wurden angeklagt und schuldig gesprochen. Durch Nicholas Berichterstattung war der Herausgeber einer großen Zeitung auf den Fall aufmerksam geworden. Er hatte Nicholas eine Stelle angeboten. Da Nicholas reine Schreibtischarbeit verabscheute, hatte er abgelehnt. Seitdem schickte ihn der Herausgeber immer wieder als freien Mitarbeiter in entlegene Orte, wo der Verlag kein Pressebüro unterhielt. In den letzten Jahren hatten sich Nicholas Artikel mit internationalen Problemen befaßt und nichts mehr mit dem Reich der Magie zu tun gehabt. Dennoch interessierte ihn das Thema, und sobald er von einer neuen Geschichte erfuhr, ging er ihr nach. Er hoffte, irgendwann doch noch auf Hintergründe zu stoßen, die sich nicht mehr erklären ließen. Diese Arbeit entspannte ihn, und er erholte sich dabei von seinen anstrengenden Aufträgen. Nicholas hatte nach dem Besuch ungeduldig auf Hoystons Anruf gewartet. Am nächsten Tag stand die Geschichte in allen Zeitungen. Die Polizei hatte den vermißten Jungen im Dachzimmer eines alten Hauses entdeckt, das halbverbrannt und verfallen allein auf einem riesigen Grundstück stand. Von einem Anruf oder dem Tip einer Hellseherin war nichts zu lesen gewesen. Ein paar Tage danach hatte Nicholas es nicht mehr ausgehalten und Hoyston von sich aus angerufen. „Seit wann gibst du dich mit Wahrsagern ab?“ fragte er. „ Heißt das, daß du mir endlich glaubst?“ „Das weiß ich nicht“, gab Hoyston zögernd zu. „Ich habe mich dreimal mit der Frau unterhalten. Beim ersten Mal haben wir uns einander nur vorgestellt, bei den restlichen Gesprächen ging es um Kriminalfälle. Das letzte hast du gehört. Ihre Angaben waren so treffend, daß ich zuerst dachte, sie sei in die Sache verwickelt. Aber das war sie nicht. Ich habe alles gründlich überprüft. Es gibt keine vernünftige Erklärung dafür. So auch diesmal. Du hast die Berichte gelesen. Das Versteck befand sich genau dort, wo sie vorausgesagt hat.“ „Von der Frau stand nichts in der Zeitung. - 25 -
„Richtig, auf ihren Wunsch hin. Sie will nicht bekanntwerden.“ „Das ist ungewöhnlich. Die Leute, mit denen ich zu tun hatte, waren verrückt darauf, berühmt zu werden.“ „Sie nicht. Sie behauptet, das würde die Konzentrations-fähigkeit stören.“ Nicholas kam aus dem Staunen nicht heraus. „Wie hast du sie kennengelernt, warum hat sie sich gerade an dich gewandt?“ „Vor ein paar Jahren hatte ich mal mit dem Sheriff aus ihrem Heimatort zu tun. Irgendwann rief er mich an und erzählte, daß eine Freundin von ihm hierher zöge. Ich mußte ihm versprechen, ihr zuzuhören und ihr Gelegenheit zu geben, ihre Fähigkeiten zu beweisen. Zum Glück sagte er nicht, welche das wären, denn sonst hätte ich ihn ausgelacht. Na ja, und dann habe ich Wortt gehalten.“ „Wie sieht sie aus, und wie heißt sie?“ „Das darf ich nicht verraten, Nicholas.“ „Komm schon, Hoyston. Du weißt, du kannst mir vertrauen. Wie soll ich sonst etwas über das Ausmaß ihrer Begabung herausfinden?“ „Nichts da“, wehrte Hoyston ab. „Wir haben eine klare Abmachung. Sie hilft mir, und ich halte ihre Identität geheim. Ich habe keine Ahnung, woher sie ihre Informationen bezieht, aber sie sind gut. Ich möchte die Verbindung nicht riskieren.“ „Was ist, wenn dein anfänglicher Verdacht zutrifft und sie in die Fälle verwickelt ist?“ „Gib dir keine Mühe, Nicholas. Ich kenne deine Überredungskünste. Die Frau ist sauber, sonst hätte sie einige Dinge bestimmt nicht erwähnt.“ „Ging es bei dem ersten Fall auch um eine Entführung?“ „Nein, um Straßenraub. Ein Allerweltsverbrechen. Das Opfer war ein alter Mann und alles andere als reich. Ohne die Hellseherin wäre die Sache nie aufgeklärt worden. Dank ihrer Hilfe haben wir nicht nur den Täter gestellt, bevor er das Diebesgut losschlagen konnte. Wir haben auch noch einen ganzen Hehlerring auffliegen lassen. Das war ein guter Fang.“ „Gibt es eine, Verbindung zwischen den Hehlern und den Entführern?“ „Nicht, daß ich wüßte. Die Kidnapper haben wir zwar noch nicht, - 26 -
aber ich kann es mir nicht vorstellen.“ „Aber du kannst dir auch nicht sicher sein“, beharrte Nicholas. „Vielleicht sind gar nicht alle Mitglieder der Bande geschnappt worden, und wer den Jungen entführt hat, weißt du noch nicht. Du willst nur nicht wahrhaben, daß eins mit dem anderen zu tun haben könnte. Immerhin hat jedesmal dieselbe Frau gesungen.“ „Ich habe sie überprüft“, protestierte Hoyston. „Sie ist über jeden Verdacht erhaben.“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht“, gab Nicholas zu Bedenken. „Aber es könnte nichts schaden, wenn ich der Sache mal nachginge. Nur so, als dein Freund.“ „Von wegen. Du bist an der Frau und der Geschichte interessiert, das ist alles. Dabei dachte ich, die Magie sei für dich gestorben, seit du dich mit ernsthaften Reportagen befaßt.“ Nicholas schmunzelte, „Momentan habe ich eben nichts Besseres zu tun.“ Hoystons Widerstand schmolz dahin, und zum Schluß gab er Nicholas den Namen und die Anschrift der Frau. „Sag bloß nicht, von wem du das weißt“, warnte er ihn. „Sarah Wilsons Freund, dieser Sheriff Sam Bascomb, ist ein harter Bursche. Er tut alles, um sie zu beschützen. Ich gebe zu, ich weiß nicht viel über sie. Nur das eine. Sie will nicht, daß jemand erfährt, wer sie ist.“ Nicholas hatte bald herausgefunden, daß sie Lehrerin an einer Schule in St. Louis war, wo sie Geschichte unterrichtete. Bevor er Kontakt aufnehmen konnte, hatte sie Missouri jedoch verlassen und war in die Sommerferien gefahren. Er hatte die Suche daraufhin in ihrem Heimatort fortgesetzt. Eine Begegnung mit Sheriff Bascomb hatte er dabei tunlichst vermieden. Der war vermutlich dennoch bestens über Nicholas Schritte orientiert. Die Jagd nach Sarah Wilson war spannend gewesen, manchmal auch enttäuschend. Nun war sie beinahe vorüber. Eventuell. Er sah wieder auf die Uhr. Fünf Minuten nach drei. So früh würde er nicht aufgeben. Er war bereit zu warten.
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3. KAPITEL Sarah betrat das Café durch die Hintertür und winkte ihrer Cousine zu. Lächelnd erwiderte Betsy den stummen Gruß, dann fuhr sie fort, die vor ihr auf der Theke aufgereihten Salz und Pfefferstreuer nachzufüllen. Eine Weile betrachtete Sarah den Mann in der mittleren Nische des Lokals. Sein Blick war auf den Eingang gerichtet. Das hellbraune Haar fiel ihm jungenhaft in die Stirn, die Züge waren so hart und unnachgiebig, wie sie sie in Erinnerung hatte. Obwohl er gleichmütig wirkte, spürte sie .die dahinter verborgene Selbstsicherheit, die ihr schon am See aufgefallen war. Er war ein zielstrebiger Mann, der nicht so schnell aufgab, wenn er sich einmal etwas vorgenommen hatte. Nachdem sie noch einmal tief Luft geholt hatte, näherte sie sich dem Tisch. Die Sohlen ihrer Sandalen waren so weich, daß die Schritte auf dem Holzboden nicht zu hören waren. Schweigend blieb sie stehen. Ihre Haltung war angespannt, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Vielleicht hatte Tante Cinda recht, und dieser Mann suchte sie aus harmlosen Gründen. Trotzdem witterte Sarah Gefahr. Nicholas Matthias beunruhigte sie auf eine Art, die sie im Zusammenhang mit Männern noch nie erlebt hatte. Sie riskierte mehr, als nur entdeckt zu werden. Aber sie hatte versprochen, mit ihm zu reden. Nun wartete sie darauf, daß er ihre Anwesenheit bemerkte. Nicholas hatte sich völlig auf die Tür konzentriert. Es dauerte eine Zeit lang, bis ihm klar wurde, daß jemand neben ihm stand. Die Kellnerin, dachte er und drehte sich zu ihr um. Im nächsten Moment hatte er die Eingangstür vergessen. Die Frau neben der Nische war zierlich und hatte eine perfekte Figur, ihre Beine waren schlank und sonnengebräunt. Die schmale Taille über den leicht geschwungenen Hüften und der sich unter einer, dünnen Bluse deutlich abzeichnende Busen verliehen ihrem Äußeren etwas aufreizend Feminines. Sie sahen einander in die Augen. Seine waren von unglaublich dunklem Braun, ihre schimmerten blaugrün. Nicholas griff - 28 -
unwillkürlich nach dem Tischrand. Die Umgebung um ihn herum schien zu versinken. Plötzlich bestand der Fußboden nicht mehr aus Holzdielen, sondern aus Uferschlamm, und die Augen der Frau waren das geheimnisvoll irisierende Wasser des Sees. „Mr. Matthias? Mein Name ist Sarah Wilson. Sie wollen mich sprechen?“ Ihre Stimme riß ihn aus den Gedanken. In diese Augen hatte er am Ufer des Sees gesehen. Aber während er Janie auf ungefähr sechzehn geschätzt hatte, war Sarah Wilson eindeutig erwachsen. In einem Punkt hatte er sich allerdings nicht vertan. Die Wirkung ihres Blicks war verhängnisvoll. Verwirrt versuchte Nicholas aufzustehen, um ihr einen Platz anzubieten. Sie faßte die angedeutete Bewegung als Aufforderung auf und setzte sich ihm gegenüber auf die gepolsterte Bank der Nische. „Sie sind Sarah Wilson?“ vergewisserte er sich ebenso ungläubig wie vorwurfsvoll. Zufrieden stellte er fest, daß sie wenigstens betreten dreinschaute. „Sie haben also gewußt, wer ich bin und daß ich Sie suche.“ „Ich wußte nur, daß sich irgend jemand nach mir erkundigt hatte. Da Fremde hier die Ausnahme sind, habe ich Sie dahinter vermutet.“ „Warum haben Sie denn nichts gesagt?“ „Weil ich mir noch nicht sicher war, ob ich mit Ihnen reden will.“ „Und was hat Sie bewogen, sich trotzdem mit mir zu unterhalten?“ Zögernd meinte Sarah: „Ein Gefühl.“ Er durchforschte ihre Miene in der Hoffnung auf eine genauere Erklärung. Aber er fand nichts als jene bange Fassungslosigkeit, die ihm schon am See aufgefallen war. Bisher hatte er sich nicht eingestanden, wie sehr ihn die Begegnung beunruhigt hatte. Ich habe mich zu ihr hingezogen gefühlt, überlegte er. Aber das wollte ich nicht wahrhaben, weil ich sie für ein Kind hielt. Nun war er erleichtert, daß er sich geirrt hatte, und das vermeintliche Kind eine sichtlich erwachsene Frau war. Irgendwann fiel Nicholas der eigentliche Grund dieses Treffens ein. Sarah Wilson behauptete, hellsehen zu können. Sie hatte alles darangesetzt, sich zu verstecken, und war dabei durchaus - 29 -
professionell vorgegangen. Sie war klüger als die meisten, die sich ihm gegenüber je mit besonderen Fähigkeiten gebrüstet hatten. Hoystons Argumente sprachen einerseits dafür, daß sie tatsächlich übernatürliche Kräfte besaß. Andererseits wußte Nicholas, daß der Freund davon nicht restlos überzeugt war. Er selbst konnte sich das ebenfalls nicht erklären. Noch nicht. Er kämpfte gegen ein leises Gefühl des Unbehagens an. Trotz seiner Bemühungen war es ihm nicht gelungen, Sarahs Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Wenn sie gewollt hätte, wäre es dabei geblieben. Statt dessen hatte sie sich entschlossen, das Schweigen zu brechen und sich mit ihm zu verabreden. Nun saß sie ihm gegenüber und musterte ihn unschuldig. Nein, das stimmte nicht ganz. Ihr Blick wirkte geheimnisvoll, fast hypnotisch, aber auch mißtrauisch. Offenbar war ihm anzusehen, was er dachte, denn in Sarahs Augen flackerte plötzlich Unsicherheit auf. Er setzte rasch eine unbeteiligte Miene auf. Sie steckt voller Argwohn, ermahnte er sich. Ich muß ihr erst einmal Vertrauen einflößen. „Eigentlich gibt es Sie gar nicht“, scherzte Nicholas. „Jedenfalls kann man in der Stadt fragen, wen man will. Eine Sarah Wilson ist hier noch niemandem begegnet, der Name ist allen Leuten völlig unbekannt.“ Sarah lächelte. „Das dürfen Sie den Leuten nicht übelnehmen. Sie sind eben mit mir verwandt.“ »Alle?“ „Ja, auf die eine oder andere Art.“ Nicholas lehnte sich zurück. Falls das stimmte, hätte sie sich versteckt halten können, bis er die Suche aufgab und wieder abreiste. Nun fragte er sich erst recht, warum sie sich freiwillig mit ihm traf. Er war aufrichtig irritiert. „Am besten erkläre ich das an einem Beispiel“, meinte sie. Sie legte seine Verwirrung offenbar falsch aus. „Der Inhaber der Feriensiedlung, in der Sie wohnen, ist zwar kein Blutsverwandter, aber sein Bruder ist der Schwiegervater meiner Cousine Maybelle. Verstehen Sie?“ Jetzt wußte er wenigstens, wer ihm den Zettel unter der Tür - 30 -
durchgeschoben hatte. Jede Wette, daß sie außerdem über jeden seiner Schritte bestens informiert gewesen war. „Dann bildet dieser Ort also eine enge Gemeinschaft“, stellte er fest. Sarah nickte. „Dann hat Sie wahrscheinlich jeder gekannt, den ich gefragt habe. Aber da Sie ein Familienmitglied sind, hat man Sie geschützt.“ „Meine Privatsphäre“, korrigierte Sarah. „Man hat mir erzählt, daß sich jemand nach mir erkundigt. Ob ich Sie sehen wollte oder nicht, blieb mir überlassen. Sie sind eben fremd hier. Verstehen Sie, was ich meine?“ „Ich glaube, ja. Werden sich die Leute denn nach diesem Treffen mit mir unterhalten?“ „Ja, aber höchstens übers Angeln oder über das Wetter.“ „Das begreife ich nicht“, sagte Nicholas. „Nachdem Sie doch selbst mit mir geredet haben...“ „Dann erst recht nicht“, unterbrach Sarah ihn. „Bisher hat Ihre Fragerei bloß Neugier geweckt. Wenn das jetzt allerdings nicht aufhört, machen Sie sich verdächtig. Schließlich hätten Sie Gelegenheit gehabt, sich direkt an mich zu wenden.“ Nicholas schmunzelte anerkennend. „Das spricht für ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl.“ „Stimmt. „Außerdem haben Sie mich ganz schön hereingelegt“, fügte er hinzu, da er ihren Plan allmählich durchschaute. „Unser Treffpunkt ist das einzige Café weit und breit, und bald werden alle wissen, daß wir hier verabredet waren. Dafür werden die drei Männer an dem Tisch da vorn schon sorgen. Wenn ich etwas über Sie erfahren möchte, muß ich Sie daher selbst fragen.“ „Richtig gab Sarah zu und lächelte ihn zufrieden an. „Also, Nicholas Matthias. Verraten Sie mir, warum Sie Sarah Wilson gesucht haben. Was wollen Sie von mir?“ Nicholas konnte nicht anders, er bewunderte Sarahs Haltung, aber auch ihr Äußeres. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie so jung und schön war. Am meisten überraschte ihn die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte. Wenn er nicht aufpaßte, würde er darüber noch den Grund seiner Reise vergessen. - 31 -
„Vor einer halben Stunde hätte ich Ihre Frage noch beantworten können. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“ Er machte eine Pause und wagte einen Blick in ihre unergründlichen Augen. „Aber ich glaube, es wird mir Spaß machen, das herauszufinden. Seit sie sich zu ihm in die Nische gesetzt hatte, verlor sie zum ersten Mal. die Fassung. „Mr. Matthias, ich...“ „Nicholas bitte.“ Sarah überlegte kurz. „Na gut. Also, Nicholas.“ „Darf ich Sie Sarah nennen?“ Sie nickte zögernd. Nicholas entschied, daß er sie fürs erste genug gedrängt hatte, und versuchte, sich zu entspannen. Er mußte für eine unbeschwerte, freundliche Atmosphäre sorgen. „Entschuldigen Sie, Sarah. Ich habe offenbar alle Regeln des Anstands vergessen.“ Er winkte der Kellnerin zu. „Möchten Sie etwas trinken? Mein Eistee war sehr erfrischend. Oder darf ich Sie zum Essen einladen? Wir könnten irgendwohin fahren.“ „Nein, vielen Dank“, versicherte Sarah hastig. „Ich möchte nichts. Nur eins. Jeder hier weiß, daß Sie sich nach mir erkundigt haben. Sagen Sie mir bitte, warum.“ Nicholas hatte sich gründlich überlegt, was er tun wollte, sobald er Sarah gefunden hätte. Wenn Hoyston recht hatte, konnte er ihr den eigentlichen Grund seiner Suche nicht nennen. Falls sie jedoch tatsächlich hellsehen konnte, würde sie sofort merken, daß er log. Er beschloß, es mit der Halbwahrheit zu versuchen. „Das ist nicht so einfach“, meinte er zögernd. Wie gut, daß er Sarahs Namen in den alten Unterlagen von Monte Ne gefunden hatte. Dadurch war er auf eine zweite Geschichte gestoßen. Sie war zwar nicht ganz so faszinierend wie Sarah Wilson, aber er war sicher, daß es sich lohnte, der Sache nachzugehen. Davon mußte er Sarah nur überzeugen. Er würde ihr sagen, daß er Journalist war und den Werdegang Monte Nes untersuchte. Erstens gehörte ihr ein Teil des Gebiets, und zweitens war sie Geschichtslehrerin. Aufgrund dieser beiden Tatsachen war es nur logisch, daß er sich an sie wandte. „Ich bin Journalist“, begann Nicholas vorsichtig, „und will einen - 32 -
Artikel über Monte Ne schreiben. Dabei brauche ich Ihre Hilfe. Soviel ich weiß, gehört Ihnen die Stadt.“ Sarah lachte leise. „Das stimmt nicht ganz. Sie wurde von einem Mann namens William Coin Harvey gebaut. Als ich geboren wurde, gab es ihn und Monte Ne längst nicht mehr. Mir gehört nur ein bißchen Land dort, wo die Stadt mal gestanden hat. Ein paar Bruchstücke, mehr ist von William Coin Harveys Traum nicht übrig.“ „Nach den alten Steuerunterlagen...“ Sie winkte ab. „Mein Name steht darin, das ist alles. Von Monte Ne ist so gut wie nichts erhalten geblieben. Es wurde größtenteils vom Beaver Lake überspült, wußten Sie das nicht?“ „Doch, aber mich interessiert das, was war, und nicht, was daraus geworden ist.“ Nicholas hatte keine Ahnung, warum, aber offensichtlich hatte er den richtigen Ton getroffen. Das Thema interessierte Sarah, ihr Mißtrauen war verschwunden. Das Zauberwort hieß Monte Ne. „Die Stadt muß einzigartig gewesen sein“, sagte er. „Ich habe gelesen, daß Leute aus aller Welt hierher kamen, um sie zu besichtigen. Und das zu einer Zeit, als die meisten noch gar nicht wußten, daß es diese Gegend überhaupt gab. Um die Jahrhundertwende muß es hier ziemlich öde gewesen sein.“ „Sie sind gut informiert, Mr. Matth... Verzeihung. Nicholas.“ „Ich habe nur die Fakten geprüft. Danach war Monte Ne mehr als eine Ansammlung von Gebäuden. Ich möchte die Atmosphäre der Stadt nachempfinden und dachte, dabei könnten Sie mir helfen. Denn Ihnen gehört ja nicht nur ein Teil des Landes, Sie sind auch Geschichtslehrerin. „Woher wissen Sie das?“ fragte Sarah verblüfft. Ihre Stimme klang angespannt, die Miene war wieder argwöhnisch geworden. Nicholas hatte das letzte Wort noch nicht ganz ausgesprochen, als er seinen Fehler bemerkte. Verflixt, warum hatte er nicht besser aufgepaßt? Er mußte sich auf die Sache konzentrieren und durfte sich nicht ablenken lassen. „In den alten Dokumenten stand eine Adresse aus St. Louis“, erklärte er schnell. „Als ich Sie dort suchte, habe ich erfahren, daß - 33 -
Sie Lehrerin sind. Aber Sie waren schon in Urlaub, und so kam ich her.“ Er war erleichtert, daß er ihr in diesem Punkt die Wahrheit sagen konnte oder zumindest eine nur wenig geänderte Version. Als er in den Akten statt der Heimatanschrift nur die Adresse aus St. Louis gefunden hatte, war er enttäuscht gewesen. Jetzt stellte sich das als Glück im Unglück heraus. Sarah dachte über seine Worte nach. Hatte Nicholas in St. Louis noch mehr über sie herausbekommen? Als er sagte, daß er Journalist war, wäre sie beinahe in Panik geraten. Wollte er wirklich einen Bericht über Monte Ne schreiben, oder war er hinter einer ganz anderen Art von Geschichte her? Nein, Tante Cinda hatte gesagt, daß er Monte Ne suchte, und sie irrte sich selten. Überrascht stellte Sarah fest, wie gern sie ihm glauben wollte. Sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen. Dieser Mann hatte etwas Ernstes und Bezwingendes an sich. Sorgsam wägte sie ihre Möglichkeiten ab. Allmählich entdeckte sie die Schwächen ihres Plans. Sie hätte sich nicht als einzige Informationsquelle anbieten dürfen. Aber das konnte sie jetzt nicht mehr rückgängig machen. Wenn sie erfahren wollte, was und wieviel er wußte, mußte sie die Unterhaltung fortsetzen. „Wie lange werden Sie für den Artikel brauchen?“ erkundigte sich Sarah. „Keine Ahnung. Ich kann mir soviel Zeit nehmen, wie Sie für mich erübrigen können. Es wird Ihnen bestimmt Spaß machen.“ „O ja, das glaube ich auch. Für Lehrer gibt's nichts Schöneres als wißbegierige Schüler. Aber ich habe noch andere Verpflichtungen.“ „Berufliche? Ich bin gern bereit...“ begann Nicholas. Sarah winkte ab. „Nein, in der Familie. Zum Beispiel Jimmy Joe gegenüber. Na ja, und ein paar anderen.“ „Mit anderen Worten, allen Bewohnern dieser Stadt. Für eine Kleinstadt ist deren Anzahl sicherlich normal, aber für eine Familie. Kein Wunder, daß ich nichts herausbekommen habe.“ Zuerst war sie verärgert, doch dann hörte sie das Lachen in seiner, Stimme und entspannte sich. Es glich einer einschmeichelnden Melodie, der man sich kaum entziehen kann, weil sie so selten - 34 -
erklingt. Freundlich meinte sie: „In einer Familie halten eben alle zusammen.“ „Das kann ich doch nicht wissen“, entfuhr es Nicholas. Als er merkte, wie schroff seine Antwort wirkte, lächelte er entschuldigend. „Verzeihung, das war nicht böse gemeint. Ich kenne das nicht, und was man nicht kennt, vermißt man auch nicht. Zumindest, solange man nicht darauf hingewiesen wird.“ Sarahs Blick wurde weich. Also hatte Tante Cinda recht gehabt. Er hatte keine Angehörigen, kein Zuhause. Obwohl sie es besser hatte, war ihr klar, was Einsamkeit bedeutete. Während Nicholas gedankenverloren schwieg, überlegte Sarah, welche Möglichkeiten sie noch hatte. Gar keine, stellte sie entmutigt fest. Die Hitze im Cafe war erdrückend, aber solange Nicholas dabei war; mochte sie nicht auf die vertraute Umgebung verzichten. Was sollte sie also tun? Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich auf den eigenen Instinkt und Tante Cindas Enthüllungen zu verlassen. „Wann wollen Sie anfangen?“ nahm sie den Faden wieder auf. „Wie bitte?“ Ihre Frage schien ihn zu überraschen. „Wann soll es denn losgehen?“ wiederholte Sarah. „Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann. Monte Ne ist für mich immer etwas Besonderes gewesen. Außerhalb unserer Gegend wissen nur wenige, daß es die Stadt überhaupt gegeben hat. Das könnten Sie mit Ihrem Artikel ändern. Monte Ne war wichtig, und das sage ich nicht nur, weil ich hier geboren bin. Es nimmt im Rahmen der Geschichte einen ganz bestimmten Platz ein.“ „Welchen?“ „Etwas zu entdecken ist die eigentliche Freude bei aller Vergangenheitsforschung“, neckte Sarah ihn. „Mir wäre lieber, Sie fänden das selbst heraus. Wenn nicht, werde ich es Ihnen erzählen. Schließlich sollen Sie bei mir etwas lernen.“ Nicholas schmunzelte. „Ich werde Sie beim Wort nehmen. Im übrigen finge ich am liebsten sofort an. Kann man vielleicht irgendwelche Überreste besichtigen?“ „An sich ist die Zeit günstig, denn das tiefstehende Wasser gibt Ruinen frei. Aber ich dachte, Ihr Interesse gelte vor allem dem Gestern und nicht dem Heute.“ - 35 -
„Die Gegenwart ist ein guter Ausgangspunkt. Können Sie tauchen? Dann schauen wir uns die Sachen mal aus der Nähe an.“ „Verglichen mit dem restlichen See befindet sich Monte Ne größtenteils in flachem Gewässer. Aber die Strömung ist tückisch.“ „Na gut, Sie kennen sich aus. Was schlagen Sie vor?“ Sarah überlegte genau. Sie hatte ihm ihre Hilfe zugesagt. Wie weit sollte sie gehen? Konnte sie ihm trauen, oder sich selbst, was ihn betraf? Er war hier fremd, und sie hatte nicht gern mit Fremden zu tun. Vor allem nicht in ihrer Heimat. Sei nicht albern, ermahnte sie sich.. Vertrauen ist fehl am Platz. Er behauptet, es ginge ihm um Monte Ne, dabei sehe ich ihm an den Augen an, daß er lügt. Ähnlich muß Eva im Paradies empfunden haben, als ihr die verbotene Frucht angeboten wurde. „Ich würde sagen, wir besichtigen zuerst die Überreste von Monte Ne, und danach gebe ich Ihnen eine Stunde Heimatkunde. Haben Sie ein Fahrzeug?“ „Natürlich, aber...“ „Ich meine einen Lastwagen oder so etwas.“ „Einen Geländewagen mit Vierradantrieb. Reicht das?“ „Ja, das wird gehen.“ Nachdem die Entscheidung gefallen war, wollte sie die Angelegenheit möglichst schnell hinter sich bringen. „Also los.“ Zwischen den verwachsenen Stämmen zweier Eichen hindurch steuerte Nicholas den Geländewagen auf einen Weg, den er ohne Sarahs Unterstützung nicht gefunden hätte. Der Wagen holperte über dicke Steine und brach immer wieder aus den tiefen Furchen aus, die den Pfad durchzogen. Sarah saß möglichst weit von Nicholas entfernt und achtete darauf, daß sich der Abstand trotz der ungestümen Fahrt nicht verringerte. Sie hätte diesem Plan nie zustimmen dürfen. Aber irgend etwas an Nicholas Art berührte und faszinierte sie so sehr, daß sie blieb, obwohl ihr Gefühl ihr riet davonzulaufen. Sie musterte ihn von der Seite. Im Profil wirkte sein Gesicht noch - 36 -
energischer und markanter als von vorn. Ihr Blick konzentrierte sich unwillkürlich auf seinen Mund. Wie mochte es sich anfühlen, von diesen Lippen geküßt zu werden, waren sie fordernd, zärtlich, einfühlsam, erregend? Erschauernd zwang sich Sarah, an etwas anderes zu denken. „Wir sind da“, meinte sie, als sie den Kamm des Höhenzugs erreicht hatten. „Parken Sie dort drüben unter den Bäumen, dann ist das Wenden hinterher einfacher.“ Nicholas sah sich ungläubig um. Überall ragten Sandsteinfelsen aus dem Boden, deren zerklüftete Oberfläche durch die alles überwuchernden Unkräuter und Wildblumen nur wenig aufgelockert wurde. Das Gras war in der gleißenden Sonne getrocknet, und in der Sommerhitze verwelkten sogar die glänzenden schmalen Blätter der bambusartigen Sträucher ringsum. „Das soll Monte Ne sein?“ fragte Nicholas mißtrauisch. Sarah lachte. „Natürlich nicht. Aber von hier aus kann man die ursprünglichen Umrisse der Stadt sehen.“ Sie sprang aus dem Wagen und wartete, bis sich Nicholas zu ihr gesellte. „Gehen wir? Aber achten Sie auf das giftige Efeu. Bei Trockenheit ist es besonders gefährlich.“ Er folgte ihr durch das Unterholz zu einer Felsnase am Rand eines Dickichts mit einem herrlichen Ausblick über das darunter gelegene Tal. Sarah wies in die Ferne auf das geschwungene Ufer des Beaver Lakes. Fast senkrecht ragten hinter der glitzernden Wasseroberfläche die scharfkantigen Felsen der Ozark Mountains empor. „Die Leute in dieser Gegend sagen: Unsere Berge sind gar nicht so hoch, aber unsere Täler sind tief, erzählte Sarah leise. „Wenn man hier steht, weiß man, was sie damit meinen.“ Nicholas schwieg und schien völlig versunken in den Anblick des Tals, das sich zu seinen Füßen erstreckte. Dann bewegte sich Sarah, und ein paar lose Steine rollten über den steilen Hang nach unten. Sofort umfing Nicholas sie mit beiden Armen und drückte sie an sich. Ihn so nahe zu spüren raubte ihr fast die Sinne. Sie begriff nicht, warum, und konnte sich das Gefühl auch nicht erklären. Aber es gelang ihr nur langsam, sich zu entspannen. - 37 -
Nicholas lockerte die Umarmung, ohne Sarah loszulassen. „Verzeihung meinte er. „Normalerweise bin ich kein Grabscher. Aber ich dachte, Sie stürzen ab.“ Seine Berührung rief beängstigende Empfindungen in ihr hervor. Sie versuchte, sie zu unterdrücken, doch sie waren stärker als ihr Wille. Nicht genug damit, stellte sie zu ihrem eigenen Erstaunen fest, daß sie sie sogar genoß. Mit einem gekünstelten Lachen entwand sie sich dem fürsorglichen Zugriff. „Ich kenne diesen Berg, seit ich laufen kann. Der Boden ist sicher. Mir wäre nichts passiert.“ „Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, entschuldigte er sich noch einmal. „Aber ich habe so lange nach Ihnen gesucht, daß ich Sie nicht schon wieder verlieren möchte.“ Sarah war dankbar, daß er seine Reaktion als Scherz hinstellte. „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich verspreche Ihnen, daß ich ab jetzt besser achtgeben werde.“ Allmählich atmete sie wieder gleichmäßig. Sie sah sich kurz um, dann ging sie zu einem großen flachen Stein, der etwas weiter vom Steilhang entfernt war. Dort setzte sie sich hin und klopfte einladend auf den freien Platz an ihrer Seite. Sie war fest entschlossen, zu vergessen, was sie in seinen Armen empfunden hatte. Aber das war nicht so einfach. Während Sarah noch darum kämpfte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, ließ sich Nicholas neben ihr nieder und zog ein Notizbuch hervor. „Auf der anderen Seite des Sees ist eine halbmondförmige Stelle, an der das Wasser dunkler ist als die restliche Oberfläche“, erklärte sie. „Können Sie das sehen?“ Nicholas beugte sich vor und spähte in die Ferne. „Nein.“ Als sie seinen Atem auf ihrer Wange spürte, rückte. sie zur Seite. „Nicht direkt am Ufer, sondern mehr zur Mitte hin.“ Er folgte der Anweisung. „Ja, jetzt sehe ich es.“ Sarah nickte beifällig. „Das ist die berühmte Lagune von Monte Ne. Bevor der Damm gebaut und der See angestaut wurde, floß durch jene halbmondförmige Rinne das Wasser, das Monte Ne schuf.“ - 38 -
„Am Ufer steht ein Turm aus Beton. Gehörte er dazu?“ „Das ist der Südturm von Oklahoma Row“, erklärte sie. „Dem Hotel stand ein zweites gegenüber, das Missouri Row. Beide waren für die landschaftlich schöne Umgebung und die elegante Einrichtung bekannt.“ „Darüber habe ich etwas in einem Heft in der Bücherei gelesen, aber ich konnte es mir nicht richtig vorstellen“, meinte Nicholas. „Kristallüster, Streichorchester, singende Gondolieri. Das klingt nach Hollywoodfilm. Wie fanden die Leute überhaupt her? Damals gab es hier doch kaum ausgebaute Straßen.“ „Richtig, und Autos waren ebenfalls rar. Deshalb hat Harvey ja auch Eisenbahnschienen nach Monte Ne verlegen lassen, Vom Bahnhof am Ende der Lagune wurden die Gäste mit echt venezianischen blumengeschmückten Gondeln direkt ins Hotel gebracht.“ „Irgendwie paßt das Bild nicht in diese Gegend.“ Sarah lachte. „Stimmt. Monte Ne war nicht das, was man in den Ozark Mountains vermutet. Der Name ist teils spanisch, teils indianisch und bedeutet soviel wie Bergquelle. Vielleicht traf er sogar zu, aber die Siedlung war zeitlos. Besser noch, sie war ihrer Zeit voraus.“ „Wieso? „Das Geheimnis müssen Sie selbst lösen.“ „Hängt das mit dem Platz zusammen, den es im Rahmen der Geschichte einnimmt?“ „Ja“, sagte Sarah. „Bei Ihrem Beruf dürfte Ihnen die Aufgabe nicht allzu schwerfallen. Sie können es allerdings nirgendwo nachlesen. Wahrscheinlich war sich ‚Coin’ Harvey noch nicht einmal darüber im klaren, was er tat.“ Sie sah, daß Nicholas sich Notizen machte. „Sie sagten, Monte Ne sei Harveys Traum gewesen. Was für ein Mensch war dieser Mann?“ „Über Harvey ist viel geschrieben worden. Er war Schriftsteller und wurde damals als Finanzgenie betrachtet. Daher auch der Spitzname ‚Coin’, die Münze. Außerdem war er William Jennings Bryans Partner und hat dessen Bewerbung um das Amt des Präsidenten unterstützt. Jedenfalls hat er behauptet, daß er die Ozarks während - 39 -
des Werbefeldzugs entdeckt hat.“ „Und dann hat er sich selbst ein Hotel dorthin gebaut“, ergänzte Nicholas nachdenklich. Sarah korrigierte ihn. „Insgesamt drei. Dazu kamen eine Bank, eine Zeitung, ein Golfplatz, ein Hallenbad, ein Kasino, ein Tanzpavillon, ein Konzertsaal, eine Bowlinganlage und eine Freilichtbühne.“ Sie lächelte. „Wie gesagt, Monte Ne war nicht gerade typisch für diese Gegend.“ Nicholas erwiderte ihr Lächeln. „Was ist passiert, was hat Monte Ne zu Fall gebracht?“ „Der erste Weltkrieg“, erzählte sie bedrückt. „Die Leute konnten oder wollten nicht mehr um den halben Kontinent reisen, um Urlaub zu machen. Eisenbahnlinie, Bank und Zeitungsverlag wurden geschlossen. Gegen Ende des Kriegs war Monte Ne so gut wie gestorben, und als die Börsenkrise kam, war es dann ganz aus.“ Sarah wandte sich zu ihm um und sah ihn an. „Und damit ist die erste Unterrichtsstunde in Heimatkunde vorbei.“ Plötzlich vergaß Nicholas, warum er hier war. Er sah nur noch das winzige Lächeln in Sarahs Gesicht, die Trauer in ihren Augen und hätte die Schatten gern verjagt. Ohne darüber nachzudenken, lehnte er sich zu ihr hinüber. Er merkte nicht, daß ihm das Notizbuch von den Knien rutschte, und achtete auch nicht auf die warnende Stimme in seinem Inneren. Als Sarah protestieren wollte, zögerte er für den Bruchteil einer Sekunde, doch dann gab er der Versuchung nach. Er beugte sich über sie und streifte mit den Lippen ihren Mund. Zuerst schien Sarah schockiert, aber während aus der zärtlichen Berührung ein behutsamer Kuß wurde, schmolz ihr Widerstand dahin, und sie erwiderte die Liebkosung mit einer Hingabe, die sie selbst überraschte. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Ihr Körper war warm und weich und verströmte ein Aroma, das Nicholas an Geißblatt erinnerte. Nicht länger Herr seiner selbst, überließ er die Kontrolle über sein Handeln den Sinnen. Während er Sarah unablässig mit den Händen über den Rücken strich, fuhr er ihr mit der Zunge über die Lippen, drang weiter vor und erforschte die - 40 -
feuchte Höhlung ihres Mundes. Sarah wehrte sich nicht. Sie hob das Gesicht und schmiegte sich in Nicholas Arme. Die Wirklichkeit ist noch viel süßer als jede Phantasie, stellte sie fest. Kein Traum konnte in ihr die Hitzeschauer hervorrufen, die nun Besitz von ihr ergriffen. Wie eine Knospe, die ihre Blütenblätter öffnet, um die Wärme der Sonnenstrahlen in sich aufzunehmen, drängte Sarah näher an die Quelle sinnlichen Vergnügens. Triff dich mit dem Fremden, er ist wichtig. Die Erinnerung an Tante Cindas Worte war der letzte klare Gedanke, den Sarah faßte, bevor alle Vernunft in einem Taumel sinnlicher Gefühle versank. Nicholas Liebkosungen löschten in Sarah alles Wissen um vergangene Erlebnisse aus. Sie kämpfte kurz gegen diese neue Art Magie an, dann ließ sie sich von ihren Sehnsüchten treiben und schwelgte in der Freude an dieser Berührung, den Küssen, dem sonnengetränkten Duft nach Männlichkeit. Zögernd ließ Sarah zu, daß die Welt um sie herum Wirklichkeit wurde. Sie spürte das Hämmern des eigenen Pulsschlags, vernahm den heiseren Schrei einer Krähe und lautes Hupen. Nicholas hatte es ebenfalls gehört. „Was war das?“ „Eine Autohupe erwiderte sie und rückte ein Stück von ihm ab. Sie wußte, daß sie diesen besonderen Zauber vielleicht nie wieder erleben würde. „Irgend jemand ist uns gefolgt.“
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4. KAPITEL Während Sarah durch das Gebüsch zurückging; erklang unablässig das Horn. Am Rand der Lichtung entdeckte sie einen staubbedeckten Lieferwagen. Sie blieb abrupt stehen. „T J.!“ rief sie dem jungen Mann zu, der lässig gegen die Wagentür gelehnt dastand und die Hand durchs offene Fenster nach der Hupe ausgestreckt hatte. „Was um alles in der Welt tust du hier?“ „Da bist du ja endlich, Sarah. Ich habe wie verrückt nach dir gehupt. Der Sheriff sucht dich.“ Sarah horchte in sich hinein. Normalerweise half ihr das, zu verstehen, was vor sich ging. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie fand nichts. „Was ist passiert?“ „Der kleine, Jerry Shelton ist verschwunden.“ Sie konzentrierte sich wieder, aber auch diesmal erreichte sie nichts. „Sarah?“ Nicholas Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Sie hatte vor lauter Anspannung nicht gemerkt, daß er neben sie getreten war. Nun fragte sie sich erschrocken, wieviel er mitbekommen haben mochte. Jimmy Joe hatte ihm von ihrer Fähigkeit zu „sehen“ erzählt. Würde er in Verbindung mit T. J.’s Mitteilung daraus irgendwelche Schlußfolgerungen ziehen? Sie sah ihn prüfend an. Seine Miene wirkte beruhigend teilnahmslos. Das ließ hoffen, daß er Jimmy Joes Schilderung nicht glaubte. „Tut mir leid, Nicholas, aber ich muß gehen“, erklärte sie. „Oh, Entschuldigung, darf ich vorstellen? Mein Cousin T J. Shields, Nicholas Matthias. Mr. Matthias will einen Artikel über Monte Ne schreiben.“ „Sehr erfreut.“ T. J. nickte Nicholas zu, dann legte er Sarah den Arm um die Schulter und sagte: „Ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich dich gefunden habe. Bitte komm mit.“ Sarah verabschiedete sich nur ungern von Nicholas, aber sie wußte, daß ihr nichts anderes übrig blieb. „Warum will der Sheriff, daß du ihm hilfst?“ fragte Nicholas. „Und woher wußte dein Cousin, wo wir sind?“ - 42 -
Trotz T J.’s beschützender Nähe bekam Sarah Angst. „Mir fehlt die Zeit, das jetzt zu erklären“, erwiderte sie hastig, dann suchte sie nach passenden Worten. „Es geht um einen kleinen Jungen, und ich bin mit der Mutter befreundet. Wahrscheinlich glaubt der Sheriff, daß ich sie ein bißchen beruhigen kann.“ T. J. räusperte sich. „Ich setze den Wagen zurück. Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Matthias. Vielleicht treffen wir uns ja ein andermal.“ „Verzeih, Nicholas. Aber ich muß wirklich gehen.“ „Kann ich irgend etwas tun? Ich könnte dich zum Beispiel begleiten, beim Suchen helfen oder so etwas.“ „Nein, du kennst dich hier nicht gut genug aus. T. J. nimmt mich mit. Trotzdem vielen Dank.“ Sie ging um den Lieferwagen herum und konzentrierte sich auf das Kind. Aber sie konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Das beunruhigte sie. „Sarah“, rief ihr Nicholas nach. „Wann sehen wir uns wieder?“ „Wie bitte?“ Sie sah sich irritiert um.. „Ach so, unser Wiedersehen. Warte mal...“ Ihr wurde klar, daß sie bis zum Wochenende keinen freien Tag mehr hatte. „Bis Anfang nächster Woche habe ich zu tun. Am besten schaust du dich in der Zwischenzeit mal im Geschichtlichen Museum in Rogers um. Die haben bestimmt Informationen über Monte Ne. Oder im Shiloh Museum in Springdale, dort gibt es eine große Sammlung alter Fotografien. Am Montag gucken wir uns dann zusammen die Ruinen an. Ich hole dich um zehn in der Feriensiedlung ab.“ „Ist dir das nicht zuviel? Ich meine, ich komme auch gern zu dir.“ „Zuviel?“ wiederholte sie abwesend. Sie versuchte, sich auf den vermißten Jungen zu konzentrieren. „Nein, nein, das schaffe ich schon.“ Als sie nach dem Türgriff langte, war Nicholas mit wenigen Sätzen bei ihr. Er öffnete die Tür, umfaßte mit einer Hand Sarahs Ellbogen und half ihr beim Einsteigen. Wo er sie berührt hatte, schien die Haut so heiß, als ob sie brenne. Sarah unterdrückte die neuerlich wachsende Sehnsucht und neigte den Kopf, damit niemand merkte, was in ihr vorging. Nicholas sah dem davonfahrenden Lieferwagen nach. Er hätte nicht - 43 -
sagen können, was ihn mehr enttäuschte, Sarahs teilnahmsloser Abschied oder die verpaßte Gelegenheit, ihre übersinnlichen Fähigkeiten in Aktion beobachten zu können. Nicht daß er von deren Existenz, überzeugt gewesen wäre, aber es gab Leute, die daran glaubten. Nach Hoystons Aussage zum Beispiel der Sheriff. Wahrscheinlich hatte er sie deshalb auch gebeten zu kommen. Nicholas Fragen war sie allerdings geschickt ausgewichen, und seine Begleitung hatte sie ebenfalls ausgeschlagen. Hoyston hatte recht. Was das Privatleben betraf, zeigte sich Sarah Wilson äußerst zurückhaltend. Obwohl er gerade ein paar Stunden mit ihr zusammen gewesen war, wußte er nicht viel mehr über sie als zuvor. Sie hielt sich in Mountain Springs auf, aber der genaue Ort wurde von ihr und den anderen Anwohnern geheimgehalten. Nicholas war nach wie vor darauf angewiesen, daß sie sich mit ihm in Verbindung setzte. Ihm fiel der vorzeitig beendete Kuß ein. Mit einer solchen Erschwernis hatte er nicht gerechnet. Zugegeben, Sarah war attraktiv. Es bestand kein Zweifel daran, daß er sich zu ihr hingezogen fühlte, und wenn er sich nicht irrte, beruhte das auf Gegenseitigkeit. Aber falls er sich wirklich mit der übersinnlich begabten Lehrerin Sarah Wilson einließ, war das mehr als ein beiläufiger Flirt. In Anbetracht dessen, was er soeben mit ihr auf dem Felsvorsprung erlebt hatte, gliche das einer Feuersbrunst, in der sie am Ende beide verbrennen mochten. Unter dem Gesichtspunkt war es vielleicht sogar gut, daß sie gestört worden waren. Dabei dachte er unwillkürlich an T. J. Shields und die besitzergreifende Art, mit der er seiner Cousine den Arm um die Schultern gelegt hatte. Nicholas hatte sich darüber geärgert, aber es hatte ihn nicht überrascht. Er war fremd, und was die Einheimischen von Fremden hielten, hatte er zur Genüge erlebt Was ihn viel mehr. interessierte, war, wie T. J. sie so mühelos in dieser Einöde aufspüren konnte. Vielleicht würde Sarah ihm diese Frage beim nächsten Treffen beantworten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich bis nächsten Montag zu gedulden. Bis dahin mußte er ein bißchen mehr über Monte Ne herausfinden. Schließlich war Sarah Lehrerin, und wenn er sich recht - 44 -
erinnerte, liebten Lehrer Überraschungsfragen. Vom Auto aus warf Sarah einen letzten Blick auf Nicholas und rieb sich dabei unwillkürlich über die Stelle, wo er sie angefaßt hatte. Wenn sie erst an den Kuß dachte. Auf dem unebenen Weg wurde der Lieferwagen so heftig durchgeschüttelt, daß Sarah unsanft aus ihren Träumen gerissen wurde. Sie stützte sich mit einer Hand am Sitz und mit der anderen am Armaturenbrett ab. In dem Moment wollte T. J. etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor. „Also, T J., jetzt erzähl mal, was mit Jerry los ist.“ „Ach, zum Kuckuck, Sarah, wenn ich das wüßte, hätte dich der Sheriff nicht gebeten zukommen.“ „Ich warne dich, T J.!“ „Schon gut, schon gut, ich habe Spaß gemacht. Da du nicht sofort danach gefragt hast, nehme ich an, daß ihm nichts zugestoßen ist.“ Sarah nickte. „Stimmt. Ich sehe nichts.“ „Clyde und der Sheriff glauben, daß sich der Kleine beim Spielen einfach ein bißchen zu weit vom Haus entfernt hat. Aber heute morgen sind ein paar Fremde vorbeigekommen, und Millie ist überzeugt, daß sie Jerry mitgenommen haben. Vermutlich hat sich der Sheriff deshalb sicherheitshalber entschlossen, dich zu rufen.“ Sarah saß eine Weile ganz still da. „Ich kann nichts feststellen“, bestätigte sie noch einmal. „Wahrscheinlich geht's ihm gut. Millie darf nicht so ängstlich sein. Im Sommer ist die Gegend eben ein beliebtes Ferienziel, dann sind viele Touristen hier. Im Winter wäre das etwas anderes.“ Bei aller Vernunft wurde Sarah das Gefühl nicht los, daß sie vielleicht nur Angst hatte, etwas zu sehen, Angst, etwas zu wissen. „Ja, das hatte ich mir auch überlegt“, sagte T J. „Aber ich, habe dem Sheriff versprochen, dich zu suchen. Möchtest du lieber durch Mountain Springs fahren und dann über den Highway oder sollen wir die alte Straße über Bald Ridge nehmen? Die ist zwar holprig, aber kürzer.“ „Bald Ridge“, erwiderte Sarah, ohne zu zögern. Kurz darauf lenkte T J. den Lieferwagen die steile Hangstraße hinauf. Die beiden waren - 45 -
still, bis T J das Schweigen wieder brach. „Was hattest du eigentlich mit dem Fremden da oben zu suchen? Das war leichtsinnig, Sarah. Die Gegend ist einsam., und du kennst den Mann nicht.“ Der mißbilligende Tonfall war so deutlich, daß sie Nicholas sofort verteidigte. „Nur weil er fremd ist, ist er noch lange kein Mörder, T J. Woher wußtest du überhaupt, wo wir waren?“ „Betsy hat gehört, daß ihr euch über Monte Ne unterhalten habt, und Luther hat gesehen, wie ihr an der Kreuzung nach Süden abgebogen seid. Daraus schloß ich, daß ihr dort hinauf wolltet. Von dort kann man die Überreste der Stadt am besten sehen. Aber du mußt wirklich vorsichtiger sein, Sarah. Du kennst den Mann doch gar nicht.“ Als die Fahrt T. J.’s ungeteilte Aufmerksamkeit verlangte, nutzte Sarah die Pause, um nachzudenken. Im stillen gab sie ihrem Cousin recht. Sie hatte tatsächlich leichtsinnig. gehandelt, aber ihr war ja nichts passiert. Zuerst war sie zwar ein bißchen nervös gewesen, doch dann hatte ihr das Treffen mit Nicholas Freude gemacht. Dann war jener Augenblick auf dem Felsvorsprung gekommen, der Moment, in dem sie merkte, daß Nicholas mehr in ihr sah als die Mitarbeiterin bei seinen Nachforschungen, und sie hatte nichts dagegen gehabt. Sie hatten die Bergkuppe erreicht, und bergab beschleunigte T. J. etwas. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. „Meinst du, der Typ könnte versuchen, uns zu folgen?“ „Das. kann ich mir nicht vorstellen. Warum?“ „Weil außer uns noch jemand den Berg hinabfährt. Als wir vorhin abbogen, habe ich eine Staubwolke gesehen. Der muß ein ziemliches Tempo drauf haben.“ „Wir, sind nicht die einzigen, die diese Abkürzung kennen“, sagte Sarah. „Nein, vermutlich nicht.“ Aber T. J. hörte nicht auf, in den Rückspiegel zu gucken. „Der Idiot fährt zu schnell“, fluchte er etwas später. Sarah sah über die Schulter zurück. Dort war nichts, doch die Anspannung in T J.’s Stimme beunruhigte sie. Plötzlich steigerte er - 46 -
das Tempo. „Bist du verrückt?, Fahr langsamer, T. J.“ „Das geht nicht. Dieser Hohlkopf kann jeden Moment hinter mir um die Kurve biegen. Der sitzt mir hinten drauf, bevor er auch nur die Chance hat zu bremsen. Wir müssen den Abstand vergrößern oder ausweichen.“ Er umklammerte das Lenkrad so fest, daß die Knöchel an den Händen weiß hervortraten. „Festhalten!“ brüllte er und riß das Steuer herum. Der Wagen schoß nach links über die Straße in eine schmale Haltebucht. Keine Sekunde, dann raste das andere Auto an ihnen vorbei. Sarah hörte ihren Cousin erleichtert aufstöhnen, dann erkundigte er sich, ob bei ihr alles in Ordnung sei. „Mir geht's gut“, versicherte sie mit zitternder Stimme. „Aber wir könnten tot sein. Wenn er uns angefahren hätte, wären wir geradeaus über den Hang nach unten gestürzt.“ „Vielleicht hätte ich den Abstand ja einhalten können. Zum Glück fiel mir im letzten Augenblick diese Bucht ein. Diese dämlichen Touristen.“ „Bist du sicher, T. J.? Hast du ihn gesehen?“ „Nein. Ich könnte nicht mal das Auto beschreiben. Vermutlich war's ein alter Lieferwagen, dunkel lackiert. Mehr habe ich nicht erkennen können. Ein Einheimischer führe hier anders. Du weißt auch nicht mehr, oder doch?“ „Ich hatte die Augen zugemacht“, gab Sarah zu. Es dauerte eine Zeit lang, bis sich Sarah und T J. soweit von ihrem Schrecken erholt hatten, daß sie weiterfahren konnten. Sarah war froh, als sie die letzte enge Brücke über dem Bergbach passierten und den Highway erreichten. Die beiden sahen sich nach allen Seiten um, aber von dem anderen Wagen war keine Spur zu sehen. „Wer immer das war, er hat's heil überstanden“, stellte Sarah fest. „Ich möchte ihm jedenfalls nicht mehr begegnen.“ „Darauf lege ich allerdings auch keinen Wert.“ T. J. lenkte den Lieferwagen in Richtung Shelton Valley. Nach wenigen Meilen kam - 47 -
ihnen das Auto des Sheriffs entgegen. Nachdem T J. gedreht hatte, hielten die beiden Autos hintereinander am Straßenrand. „Er hat kein Blaulicht an“, meinte er. „Demnach ist alles in Ordnung.“ Sarah stieg aus und wartete neben dem Wagen auf Sheriff Bascomb. Der Verdacht, daß sie so angeschlagen aussah, wie sie sich fühlte, bestätigte sich, als der ältere Freund näher kam. Sein Lächeln erlosch, und er musterte sie besorgt. „Tut mir leid, daß du dir Sorgen gemacht hast“, entschuldigte er sich. „Dem Jungen geht's gut.“ Sie versuchte zu lächeln. „Ich weiß. Wo war er?“ „Er ist auf dem Heuboden eingeschlafen und hat nicht gemerkt, daß man ihn gesucht hat. In Zukunft wird er es sich bestimmt zweimal überlegen, ob er die Katzen besucht, ohne seiner Mutter Bescheid zu sagen.“ „Das wird nicht lange anhalten, Sam. Junge Katzen und Kinder gehören nun einmal zusammen, das weißt du so gut wie ich.“ „Stimmt. Na ja, beim nächsten Mal wird Millie eben zuerst auf dem Heuboden nachschauen. Ich bedaure nur, daß ich dich umsonst alarmiert habe. Aber wenn du dir keine Sorgen um Jerry gemacht hast, was hat dich dann so aus der Fassung gebracht?“ „Wir wären vorhin beinahe gerammt worden“, erklärte T. J., der zu den beiden getreten war. „Irgendein verrückter Tourist hat die Baldstraße wohl mit einer Rennstrecke verwechselt.“ „Was ist passiert, seid ihr verletzt?“ Sam ließ sich den Vorfall genau schildern. Als er hörte, daß T. J. das Auto nicht näher beschreiben konnte, verfinsterte sich sein Blick. „Und du, Sarah?“ fragte er. „Nichts. Ich hatte vor Schreck die Augen zugemacht.“ „Ach ja“, schaltete sich T. J. wieder ein. „Weißt du wo ich Sarah gefunden habe? Auf dem Indian Bluff, zusammen mit dem Fremden, der überall hinter ihr hergeschnüffelt hat. Ich habe ihr schon gesagt, daß das leichtsinnig war, aber auf mich hört sie ja nicht. Vielleicht kannst du sie zur Vernunft bringen.“ „Jetzt reicht es aber, T. J. „, fuhr Sarah ihn an. „Du bist nicht mein Boß.“ - 48 -
Sam legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. „Beruhige dich, Sarah, er macht sich doch nur Sorgen um dich.“ Er wandte sich an T. J. „Ich bin froh, daß du sie gesucht hast. Vielen Dank. Aber jetzt geh ruhig wieder an die Arbeit, Sarah kann mit mir fahren.“ „Ja, dann...“ T. J. sah seine Cousine verlegen an. „Tut mir leid, Sarah.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß auf die Wange. „Ist schon in Ordnung, T J. Vielen Dank für alles und sei unbesorgt, Sam wird mich in die Stadt bringen.“ T. J. nickte und stieg in den Lieferwagen. Sarah rechnete fest damit, daß Sheriff Bascomb ihr ins Gewissen reden wollte, und sie wurde nicht enttäuscht. „Tut mir leid, wenn sich das anhört, als sei ich T. J.“, begann er, sobald sie auf dem Highway in Richtung Stadt fuhren. „Aber mit dem Fremden zum Indian Bluff hochzufahren, war wirklich unklug.“ „Fang nicht auch noch damit an, Sam.“ „Ja, also...“ Er räusperte sich. „Als er deinetwegen die Leute aushorchen wollte, habe ich nämlich ein paar Erkundigungen über ihn eingezogen. Er ist Journalist.“ „Ich weiß.“ Sam musterte sie verblüfft. „Und du bist trotzdem mitgegangen?“ „Er will einen Artikel über Monte Ne schreiben, Sam. Das ist alles. „Bist du sicher?“ „Ja. Tante Cinda hat auch gesagt, daß er Monte Ne sucht. Manchmal glaube ich, du bist schon genauso ängstlich wie ich.“ „Angst kann sehr heilsam sein, wenn sie dazu führt, daß man vorsichtig ist“, belehrte Sam sie. „Aber ich nehme an, du weißt, was du tust. Wie ist er denn so, magst du ihn?“ Ihre Reaktion auf Nicholas Matthias war das letzte Thema, über das Sarah mit Sam sprechen wollte. Sie brauchte bloß den Namen zu hören, und schon erinnerte sie sich an sein Gesicht. Sie konnte nur hoffen, daß Sam nicht merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. „Ich glaube, er ist ganz nett. Ihn zum Feind zu haben ist unangenehm, könnte ich mir vorstellen. Aber zu mir war er freundlich. Wir haben uns hauptsächlich über Monte Ne - 49 -
unterhalten.“ „Bleib wachsam. Soviel ich weiß, hast du schon genug Probleme mit Tante Cinda, um dich den Sommer über auf Trab zu halten.“ Sarah war klar, daß jeder im Tal um die Bemühungen wußte, Tante Cinda zum Umzug zu bewegen. „Wenn du mir in diesem Zusammenhang irgendeinen Tip geben kannst, wäre ich dir dankbar. Tante Cinda zu überreden, ihren Berg zu verlassen, ist nämlich wirklich schwierig.“ „Ja“, stimmte Sam zu. „Sie hat zeitlebens dort gewohnt und wollte nicht mal letzten Herbst weg, als das Wasser dramatisch anstieg.“ „Wie weit ist es denn zu ihr vorgedrungen? „Genau bis zum Fuß des alten Bergahorns. Am Tag darauf habe ich sie besucht. Ich wollte wissen, wie es ihr geht. Sie saß im Schaukelstuhl auf der Veranda, als sei nichts passiert. Um diese Aufgabe beneide ich dich wirklich nicht. Das ist, als wollte man den Felsen von Gibraltar an eine andere Stelle setzen.“ „Ich werde mir etwas überlegen müssen“, meinte Sarah. „Auf die anderen Familienmitglieder hört sie ohnehin nicht.“ Der Sheriff wechselte das Thema. Er wollte wissen, wie sie mit dem Kollegen in St. Louis zurechtkäme. „Ganz gut. Er wirkt nicht begeistert, aber er hält sich an die Abmachungen.“ „Das habe ich nicht anders erwartet“, stellte Sam fest. „Hoyston ist der Typ, der nur glaubt, was er sieht.“ Sarah mußte lachen. „Sei nicht so streng, Sam. Es hat eben nicht jeder eine Urgroßmutter bei den Tscherokesen.“ „Also hast du dich mir ihretwegen anvertraut. Das wollte ich dich schon immer fragen. Schließlich warst du noch ein Kind und hattest genug andere Erwachsene um dich herum. Wie alt warst du damals, dreizehn?“ „Elf, und von der Urgroßmutter wußte ich noch nichts. Aber ich mußte mit jemandem darüber reden, der nicht zur Familie gehörte, und ich hatte das Gefühl, daß du der einzige bist, der mir eventuell glauben würde. Außer dir wußte niemand, daß ich...“ Sie zögerte, es laut auszusprechen. Statt dessen fuhr sie fort: „Mir ist jedenfalls erst später klar geworden, warum meine Wahl auf dich fiel. Ich ahnte, - 50 -
daß du aufgrund deiner Herkunft noch am ehesten bereit wärest, Dinge zu akzeptieren, die man nicht beweisen oder erklären kann.“ Der Sheriff schmunzelte. „Zuerst hielt ich es für kindliche Übertreibung. Aber da wir keine Ahnung hatten, wo das Kind stecken könnte, hatten wir nichts zu verlieren.“ Er wurde wieder ernst. „Am Ende wird auch Hoyston von dir überzeugt sein. Warte nur ab.“ „Das ist, mir im Grunde egal“, gestand Sarah. „Hauptsache, er richtet sich nach meinen Informationen und hält mir die Neugierigen vom Hals.“ „Paß auf dich auf. Und sei auch mit dem Fremden vorsichtig. Wenn's Probleme gibt, kannst du jederzeit zu mir kommen.“ „Ich weiß, Sam. Das tue ich doch schon seit Jahren. „Na gut, aber vergiß es nicht.“ Erfuhr auf den Parkplatz hinter dem Café und hielt neben Sarahs Auto. „Noch mal vielen Dank, daß du sofort gekommen bist. Und wie gesagt: Paß auf dich auf, hörst du?“ „Versprochen, Sam.“ Am Wochenende war das Haus voller Besuch, und Sarah hatte viel zu tun. Trotzdem schien die Zeit stillzustehen. Sarah half der Großmutter zwar beim Zubereiten der Mahlzeiten, aber das geschah so automatisch, daß sie dabei innerlich allein und den nicht enden wollenden Gedanken ausgeliefert blieb. Sollte sie Nicholas Matthias wirklich am nächsten Montag abholen? Sie hatte versprochen, ihm die Ruinen zu zeigen, doch das konnten T. J. oder Jimmy Joe genausogut erledigen. Jimmy Joe wäre begeistert, und T. J. würde es gern tun, weil er meinte, Sarah damit vor dem Fremden beschützen zu können. Wollte sie beschützt werden? Weshalb fühlte sie sich so stark zu Nicholas Matthias hingezogen? Die Antwort war einfach. Sie mochte ihn, weil er ihr das Gefühl gab, eine Frau zu sein. Bei alledem vergaß sie nie, daß er bald wieder abreisen würde. Sobald er genug Material für seinen Artikel beisammen hätte, würde er sich verabschieden, ohne in Mountain Springs einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Nichts würde sich ändern, wenn sie sich für wenige Stunden über die sich selbst auferlegten Grenzen - 51 -
hinwegsetzte. Dieses eine Mal wurde sie so tun, als sei sie eine Frau wie jede andere. Eine Frau, die einen Mann sympathisch fand und es deshalb ab und zu genoß, mit ihm zusammen zu sein. Wem konnte das schon schaden? Ihm ganz gewiß nicht. Außerdem hatte sie ihm versprochen, ihn abzuholen. Ihr war klar, daß es sinnlos war, über eine wie auch immer geartete gemeinsame Zukunft nachzudenken. Aber ihn noch einmal wiedersehen? Das war kein Problem.
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5. KAPITEL Nicholas musterte die Frau an seiner Seite und lächelte zufrieden. Er hatte recht gehabt. Pünktlich um zehn war Sarah Wilson in der Feriensiedlung erschienen. Obwohl er fest mit ihrem Kommen gerechnet hatte, war er erleichtert gewesen, als er aus dem Fenster seiner Ferienwohnung sah und Sarah hinter der staubigen Windschutzscheibe ihres Autos erkannte. Während der letzten Tage hatte er an nichts anderes mehr denken können als an sie. Noch nie hatte er sich zu einer Frau so hingezogen gefühlt. Das war ihm allerdings auch noch nie so ungelegen gekommen wie ausgerechnet jetzt. Die falsche Zeit, der falsche Ort, die falsche Frau. Irgendwie mußte er sich aus dem Bann ihrer geheimnisvollen Augen lösen und sich statt dessen auf sein eigentliches Anliegen besinnen. Er hatte das Wochenende tatsächlich genutzt, um sich zusätzliche Informationen über Monte Ne zu beschaffen. Sarah hatte recht, der Ort nahm im Rahmen der Geschichte einen besonderen Platz ein. Er wollte einen Artikel darüber schreiben, aber auch über Sarah. Sie paßte nicht zu der Vorstellung, die man sich gemeinhin von Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten macht. Das ließ ihn mehr hoffen denn je. Er hatte das Gefühl, daß er diesmal wirklich vor einer Entdeckung stand. Zwar mahnte ihn eine innere Stimme, daß er ihr gegenüber offen sein müßte, doch die überhörte er geflissentlich. Hier ging es um eine Art übergeordneter Wahrheit. Falls Sarah übersinnliche Fähigkeiten besaß, würde sie das verstehen. Hatte sie sie nur vorgetäuscht, verdiente sie ohnehin kein Mitleid. Dieser Urlaub war ebenso interessant wie anstrengend. Nicholas mußte zwei Berichte schreiben: einen über Monte Ne und einen über Sarah. Das war schwierig genug Er nahm sich fest vor, alle anderen Wünsche zu unterdrücken und sich statt dessen mit ganzem Herzen seiner Arbeit zu widmen. Nach dem Vorfall auf dem Felsvorsprung hatte er damit gerechnet, daß sie ihm noch abweisender begegnen würde als zuvor. Aber er hatte sich geirrt. Beim Abholen hatten ihre Augen gestrahlt wie die - 53 -
eines Kindes, das sich auf eine Extrabelohnung freut. Zuerst war er enttäuscht gewesen, weil sie ihm offensichtlich nicht die gleichen Gefühle entgegenbrachte wie er ihr. Doch dann hatte er sich überlegt, daß sie ihm mit dieser freundlichen Haltung die Arbeit ungemein erleichtern würde. „Jake hat mir erzählt, der vermißte Junge sei heil und sicher aufgefunden worden“, stellte er möglichst beiläufig fest. Sie durfte nicht einmal ahnen, daß er erraten hatte, warum sie um Hilfe gebeten worden war. „Ja, bei den Katzenbabys in der Scheune“, erzählte Sarah bereitwillig. „Er war dort eingeschlafen und hat gar nicht gemerkt, welchen Trubel er dadurch verursacht hat.“ „Merkwürdig.“ Nicholas zögerte. Daß sich ein kleiner Junge zu Katzenbabys hingezogen fühlt, war klar. Hatte die Mutter das nicht bedacht, bevor sie in Panik geriet? Aber da Sarah mit der Frau befreundet war, würde sich Nicholas mit seiner Kritik nicht eben beliebt machen, und deshalb schwieg er. „Ja, das hätte sie wissen müssen“, sagte Sarah, als hätte er die Worte laut ausgesprochen. Nicholas hätte sich fast verschluckt vor Aufregung. War ihr klar, was sie tat? „Wahrscheinlich geriet Millie in Panik, weil Jerry verschwand, nachdem in der Nähe des Bauernhauses zwei Fremde aufgetaucht waren. Als sie den Kleinen zuletzt gesehen hatte, unterhielt er sich gerade mit ihnen. Augenscheinlich nicht, dachte Nicholas, da sie weiterhin auf seine Gedanken einging. Das konnte natürlich Zufall sein. „Na ja, Hauptsache, ihm ist nichts zugestoßen. Zum Glück sind nicht alle Fremden gefährlich, vor allem jetzt, wo so viele Touristen in der Gegend sind. „Stimmt, Eureka Springs zieht in den Frühjahrs- und Sommermonaten viele Urlauber an“, pflichtete Sarah bei. „Beaver Lake auch, aber Shelton Valley nicht.“ Nicholas hatte sich zu Sarah umgewandt, aber das hätte er besser bleiben lassen. Ein Blick in ihre Augen, und er rang um Fassung. Nun zwang er die Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Er - 54 -
ermahnte sich, locker zu bleiben und das Gespräch in Gang zu halten. „Eins kann ich mir nicht erklären, Sarah“, begann er vorsichtig. „Wodurch bist du eigentlich Inhaberin von Monte Ne geworden?“ Er wollte auf keinen Fall aufdringlich wirken und dadurch ihren Widerstand hervorrufen. Erst als er sicher war, daß sie nichts gegen die Frage einzuwenden hatte, fügte er hinzu: „Als du geboren wurdest, gab es die Stadt längst nicht mehr. Trotzdem steht dein Name in fast jedem Dokument, das damit zu tun hat.“ Sarah war die unmißverständliche Faszination in Nicholas Augen nicht entgangen. Um so dankbarer griff sie das vertraute Thema Monte Ne auf. Sorg dafür, daß sein Interesse daran wach bleibt, sagte sie sich. Erstens ist das ungefährlicher, und zweitens ist er aus dem Grund hier. „Das hängt mit der Denkweise der einheimischen Bevölkerung zusammen“, erklärte sie. „Mein Urgroßvater väterlicherseits hat mir das Land nämlich vererbt, weil er Fremden mißtraute.“ Nicholas lächelte. „Ich habe das Gefühl, da war mehr im Spiel als bloßes Mißtrauen.“ Die feinen Lachfalten um seine Augen vertieften sich. „Klärst du mich auf?“ Als Sarah das Lächeln erwiderte, stockte ihm sekundenlang der Atem. „Du bist wirklich klug, das habe ich von Anfang an vermutet. Aber ich bin mir nicht sicher, welche Version ich dir erzählen soll, die offizielle oder die richtige.“ „Jede Wette, daß du dich für die Wahrheit entscheidest.“ erwiderte Nicholas. Sie musterte ihn überrascht. „Woher willst du das wissen?“ „Ich hoffe einfach, daß du nie Poker spielst“, erwiderte er so entspannt, wie er sich inzwischen fühlte. Als sie nicht reagierte, ließ er das Lenkrad mit einer Hand los und strich ihr kurz über die Finger. „Was hatte Urgroßvater Wilson also mit Monte Ne zu tun?“ „Nichts.“ Sarah versuchte, nicht darauf zu achten, wie sich die flüchtige Berührung auf ihren Pulsschlag auswirkte. „Jedenfalls nicht von Anfang an. Er zählte zu den typischen Bergbewohnern die sich nur zögernd an Neues gewöhnen. Fremde lehnte er ebenso ab wie die - 55 -
Vorstellung, daß ein Teil seiner Ozark Mountains von Außenseitern in Besitz genommen wurde. Allmählich lernten die Einheimischen jedoch, mit Monte Ne zu leben. Sie nahmen an den Veranstaltungen teil und verliehen ihnen damit sogar eine gewisse volkstümliche Ausstrahlung. Nur mein Urgroßvater blieb eisern. Er ging zu keinem der Feste, nicht einmal zu dem jährlichen Liederwettbewerb. Dabei soll er meisterhaft Geige gespielt haben. Andererseits war er wohl der Ansicht, daß man eine günstige Gelegenheit beim Schopf ergreifen sollte“, schloß sie lachend. „Und das hat er sehr gewissenhaft getan.“ „Wie?“ erkundigte sich Nicholas. Er beglückwünschte sich im stillen zu dem Entschluß, den wißbegierigen Schüler zu spielen. Wenn Sarah in die Rolle der Lehrerin schlüpfte, fiel ihm der Umgang mit ihr leicht. Er konnte ihre Gesellschaft genießen und sich gleichzeitig auf sein Anliegen konzentrieren. Die Versuchung, sie zu streicheln, war dann nicht mehr so groß. „Er hat auf sämtlichen Feldern, die ihm gehörten, Mais angebaut.“ „Mais?“ „Mais“, bestätigte Sarah. „Was hat Mais denn mit Monte Ne zu tun?“ „Jetzt hör aber auf, Nicholas. Das kann man sich doch an fünf Fingern abzählen. Was macht man mit Mais?“ Nicholas wußte nicht, was sie meinte. „Na ja, man kann ihn kochen, lagern, wieder aussäen oder auch zu Mehl mahlen.“ „Du hast etwas vergessen“, sagte Sarah lächelnd. Im Geiste ging er die Liste noch mal durch, aber er fand keine weitere Möglichkeit. Außerdem ließ Sarah ihn nicht aus den Augen. Wie sollte er dabei einen klaren Gedanken fassen? „Mir fällt nichts anderes ein“, erwiderte er nach einer Weile, und das traf in mehr als einer Hinsicht zu. „Man kann ihn brennen.“ „Du meinst, zu Schnaps verarbeiten?“ „Ja. Abnehmer gab es in Monte Ne genug. Jedenfalls hatte mein Urgroßvater bald ein hübsches Sümmchen angespart. Als es dann zu dem großen Börsenkrach kam und das Land zum Kauf angeboten wurde, hat er zugegriffen. Ich glaube, es war für ihn ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, daß ihm ausgerechnet die verhaßten Fremden die Mittel gegeben hatten, das Land in Besitz zu nehmen.“ - 56 -
„Ist das die offizielle Version?“ „Nein, die richtige. Offiziell heißt es, er hätte auf einem seiner Acker einen Goldschatz gefunden.“ Sarah verstummte, als sie Nicholas grinsen sah. „Was ist daran so komisch?“ „Ich finde es merkwürdig, daß eine Geschichte, die von soviel Unternehmungsgeist zeugt, zugunsten einer anderen geheimgehalten wird, bei der alles vom Glück abhängt.“ „Du darfst nicht vergessen, daß die private Schnapsbrennerei verboten war. Wer so etwas tat, wurde von bestimmten Kreisen geächtet.“ Ihr Lächeln wirkte auf Nicholas wie das erste Sonnenlicht, das bei Tagesanbruch über einen Bergrücken strahlt. Er lächelte zurück, und plötzlich fühlte sich Sarah so wohl wie lange nicht. Alles ging gut. Sie hatte sich offenbar umsonst gefürchtet. Nicholas Matthias schien ihr die Wahrheit gesagt zu haben. Er war ein Journalist, der sich für die Geschichte von Monte Ne interessierte. In dem kurzen Augenblick, als sich ihre Blicke gekreuzt hatten, hatte sie daran gezweifelt. Wahrscheinlich war die Phantasie mit ihr durchgegangen. So wie neulich auf dem Indian Bluff. Das mußte wohl an der Hitze liegen. „Lebt deine Familie schon lange hier?“ fragte er. „Ja, so wie alle anderen Familien in Mountain Springs auch. Manchmal müssen die Jüngeren wegen der wirtschaftlichen Lage fortziehen, aber die anderen wohnen hier seit Generationen. Wenn mehr Platz für Neuankömmlinge wäre, könnten die Jüngeren ebenfalls bleiben.“ „Was ist mit deinem Cousin, der dich neulich abgeholt hat, ist der junge Mann ein einheimischer Farmer?“ „T. J.?“ vergewisserte sich Sarah verblüfft. „Er hilft auf der Farm seiner Eltern und züchtet nebenbei Pferde. Warum?“ „Nur so.“ Nicholas wunderte sich selbst über seine Frage, noch mehr aber darüber, daß Sarah die Antwort nicht erriet. „Ich hatte mir nur überlegt, ob er vielleicht einer der Jüngeren ist, die nicht fort wollen.“ „Ich glaube, T. J. hielte es anderswo nicht aus. Er ist hier zu Hause.“ - 57 -
Genau wie du, dachte Nicholas. Du lebst und unterrichtest zwar in St. Louis, aber du kehrst immer wieder hierher zurück. Woanders würdest du dich nie daheim fühlen, nicht wahr, Sarah Wilson? Er fand den Gedanken aus irgendeinem Grund bedrückend. „Was ist mit dir, Nicholas - wo ist deine Heimat?“ Nicholas zuckte mit den Schultern. „Nirgends, seit wir die Farm nach dem Tod meines Vaters aufgegeben haben. Wenige Jahre danach starb auch meine Mutter. Ich bin eine Zeitlang in der Armee gewesen. Mein Zuhause war immer da, wo ich gerade zu tun hatte. Nachdem ich den Militärdienst quittiert hatte, richtete sich mein Aufenthaltsort danach, hinter welcher Story ich gerade her war. Ich habe ein kleines Apartment in St. Louis. Dort verbringe ich die Zeit zwischen zwei Aufträgen, aber eine Heimat ist das nicht. Es ist schon vorgekommen, daß ich es ein Jahr lang nicht betrete.“ Sarah versuchte, sich das vorzustellen. „Macht dir das denn nichts aus, wenn du nichts hast, wohin du gehörst?“ „Überhaupt nicht“, beteuerte Nicholas. „Ich hatte immer das Gefühl, mein Zuhause ist dort, wo ich zufällig gerade bin.“ Das erklärt einiges, überlegte Sarah. Und es paßt zu dem, was Tante Cinda gesagt hatte. Sie wußte, nicht, wen sie mehr bedauerte, ihn oder sich selbst. „Stimmt die Richtung eigentlich noch?“ Sie sah sich kurz um. „Ja, die Straße führt direkt zum See.“ Minuten später stellte Nicholas den Wagen am Straßenrand ab. Die hoch am Himmel stehende Sonne spiegelte sich in der Wasseroberfläche des Sees. Dem vertrockneten Schlamm am Ufer unterhalb des Hangs sah man an, wie hoch das Wasser normalerweise stand. „Mir wurde erzählt, der Pegel sei gesunken, aber so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt“, sagte Sarah entgeistert. „Wie kann es dazu kommen? Schließlich haben wir erst Juni. „Mit Hilfe des Beaver Lakes wird elektrische Energie gewonnen. Daß deshalb soviel Wasser auf einmal durch den Staudamm abgelassen wird, ist allerdings ungewöhnlich.“ Ohne auf Nicholas Hilfe zu warten, sprang sie vom hohen Beifahrersitz hinab auf die Erde. Um sie herum war alles still, nur die Insekten summten, und aus dem - 58 -
Bergwald über ihnen erklang ab und zu der Ruf eines Vogels. „Schau“, meinte Sarah und wies zum Ufer. „Man kann sogar das Freilichttheater sehen. Das habe ich am Indian Bluff noch gar nicht bemerkt.“ Nicholas Aufmerksamkeit wurde von einem großen Betongebäude abgelenkt, das von einem Wall hoch über den See aufragte. „Ist das der Turm, den du mir neulich gezeigt hast der mal zum Oklahoma Row gehört hat?“ Als sich Sarah umdrehte, trat sie so ungeschickt auf, daß sie beinahe gestolpert wäre. Sofort war Nicholas bei ihr und hielt sie am Ellbogen fest. Die Berührung elektrisierte sie. Sie sah auf und begegnete seinem Blick. In seinen Augen lag ein Ausdruck aufrichtiger Besorgnis. „Hast du dir weh getan?“ fragte Nicholas. „Nein, zum Glück nicht.“ Sie senkte die Lider, dann wandte sie das Gesicht wieder zum See und betrachtete den Turm. Dennoch war sie machtlos gegen den Schauer, der ihr über den Rücken rann. Zögernd gab Nicholas sie frei. „Von hier aus ist die Ruine noch bemerkenswerter als vom Indian Bluff aus. Ist das tatsächlich die gleiche?“ „Ja, das ist der Südturm vom Oklahoma Row.“ „Können wir ihn besichtigen, vielleicht sogar hineingehen? Ich habe zwar alte Aufnahmen davon im Museum gesehen, aber das ist noch nichts gegen die Wirklichkeit. Das Gebäude zu betreten stelle ich mir noch beeindruckender vor.“ Sie musterte den See. Eine leichte Brise kräuselte die blaugrün glitzernde Oberfläche. Der Himmel war wolkenlos, das Wetter wirkte beständig. „Na gut“, erwiderte sie betont vergnügt. „Aber ich warne dich. Eigentlich gibt es dort nichts Besonderes zu sehen.“ Nicholas hätte gern gewußt, warum sie zögerte. Vielleicht seinetwegen? Er mußte zugeben, daß ihm die alten Gemäuer von Monte Ne Ehrfurcht einflößten. Sie dagegen war damit vertraut und außerdem Geschichtslehrerin. „Komm, wir gehen am Ufer entlang“, schlug Sarah vor. „Dort weht immer ein bißchen Wind.“ Er folgte ihr bereitwillig. „Der Turm steht zu hoch, um jemals - 59 -
völlig unter Wasser zu sein, nicht wahr?“ „Ja. Bei normalem Wasserstand werden die Kellergeschosse überspült, aber der erste Stock würde selbst bei Hochwasser nicht naß. Allerdings gibt es keine Stockwerke mehr. Der Turm ist hohl, ein Gerippe.“ Plötzlich blieb sie stehen und zeigte vom See fort auf eine Brücke. „Da ist sogar noch einer von den Fußgängerüberwegen. Als das Wasser das letzte Mal so tief stand, waren noch mehr da. Ich war schon gespannt, wie viele diesmal übrig geblieben sind.“ „Ging man über diese Brücken, wenn man nicht mit der Gondel fahren wollte?“ „Genau. Sie waren kleine Kunstwerke für sich. Wahrscheinlich sind sie von einem Einheimischen gebaut worden. Man kann über die Menschen in den Ozark Mountains denken, was man will, eins können sie wirklich hervorragend, und das ist das Bearbeiten von Felsgestein.“ Sie kehrten dem See in stiller Übereinkunft den Rücken zu und gingen auf die Fußgängerüberführung zu. „Stimmt“, sagte Nicholas, als sie so nahe herangekommen waren, daß man die kunstvolle Gestaltung der Brücke genauer erkannte. „Das ist wirklich eine bewundernswerte Arbeit. Wenn das ein Beispiel für die Architektur in Monte Ne ist, muß die Stadt bewundernswert gewesen sein.“ „Ja, das finde ich auch. Der Heimatverein besitzt von den meisten Gebäuden alte Fotos, jedenfalls von den wichtigsten. Aber ich habe noch nie ein Bild von den Parks gesehen. Harvey strebte nach Vollkommenheit. Vermutlich waren die Gartenanlagen mindestens genauso schön.“ Sarah mußte wider Willen lächeln. Sie wußte nicht, was heute mit ihr los war. Die Aussicht, Nicholas wiederzusehen, hatte ihr angst gemacht. Sie hatte gefürchtet, daß er das Erlebnis am Indian Bluff als Einladung auffassen und auf eine Fortsetzung drängen könnte. Oder noch schlimmer, daß er sie für eine Frau hielt, die den Austausch körperlicher Intimitäten bedenkenlos billigte. Ja, das war der richtige Ausdruck. Denn obwohl sie sich nur geküßt - 60 -
hatten, hatte diese Zärtlichkeit etwas ausgesprochen Intimes gehabt. Aber Nicholas war nicht auf den Vorfall zurückgekommen. Er hatte nichts gesagt, das ihr peinlich gewesen wäre, oder etwas getan, aufgrund dessen sie sich das unbehagliche Gefühl erklären könnte, das sie seit der Ankunft am See vergeblich abzuschütteln versuchte. Das muß an der Sonne liegen, entschied sie. Ich hätte einen Hut aufsetzen sollen. „Anscheinend sind wir nicht die einzigen, die in die Vergangenheit reisen wollen“, bemerkte Nicholas und wies auf drei Autos neben dem Turm. „Ich wußte nicht, daß Monte Ne bei den Urlauber so bekannt ist. Ein Wagen kommt aus Tennessee, der zweite aus Illinois und der dritte aus Oklahoma. Aber die Insassen sind nirgends zu sehen.“ „Das Auto aus Oklahoma zählt nicht“, sagte Sarah. „Dafür ist die Grenze zu nahe. Von dort kommen so oft Leute, daß sie für uns keine Touristen mehr sind. Wahrscheinlich sind alle auf der anderen Seite des Turms. Da liegt ein Teil des Fundaments frei, das ist bestens für ein Picknick geeignet.“ Nicholas zögerte kurz. „Heben wir uns den Turm für später auf und gehen erst mal zum Freilichttheater? Ich habe keine Lust, meine persönliche Besichtigungstour mit Fremden zu teilen.“ Damit war Sarah einverstanden, und ohne ein Wort zu sagen, änderte, sie die Richtung. Sie konnte nicht abstreiten, daß sie sich freute. Auch sie wollte niemanden dabei haben. Sie betraten das Theater dort, wo einmal die Bühne gewesen war. Die ursprüngliche Pracht des großzügig angelegten Schauplatzes war verblaßt, der Beton verfallen. Aber die mit Ornamenten verzierten Betonsitze standen in immer noch stattlichen Reihen, die sich von der Hügelkuppe bis zum jetzt so niedrigen Seeufer hinunter erstreckten. Nicholas hatte Fotos gesehen, alte Stadtpläne studiert und Sarahs Erzählungen gelauscht. Doch er begann erst jetzt das Ausmaß dessen zu begreifen, was hier geschaffen worden war. Auf einmal bedauerte er, daß das alles endgültig vorbei war und nur noch in der Erinnerung weiterlebte. Er wollte etwas sagen, aber Sarah hatte sich bereits abgewandt und - 61 -
kletterte über die Bänke den Hügel hinauf. Nicholas folgte ihr. Als sie ungefähr die Hälfte des Hangs hinter sich hatte, hielt sie inne. Nicholas wies mit weit ausholender Geste auf die Umgebung. „Ist das normalerweise alles unter Wasser?“ „Ja, meistens. Ich erinnere mich noch daran, als das Wasser das letzte Mal so tief stand, daß man die Freilichtbühne betreten konnte. Das war vor über zehn Jahren.“ Sie sprach so leise, als ob die Gegenwart die Vergangenheit sonst aus ihrem Schlaf wecken könnte. Auch Nicholas senkte die Stimme, um den Ort vergessener Träume nicht zu stören. „Ich gehe weiter. Von der Kuppe aus kann ich mir einen besseren Gesamteindruck verschaffen.“ „Gut“, flüsterte Sarah. „Ich warte hier.“ Eine Weile sah sie ihm nach, dann setzte sie sich in den Schatten einer Bank und lehnte sich mit dem Rücken an den kühlen Beton. Um sie herum surrten die Insekten, aus der Ferne erscholl der rauhe Schrei einer Krähe, kurz darauf sang in der Nähe ein Rotkehlhüttensänger. Die Geräusche von Nicholas Schritten wurden schwächer, je weiter er den Hügel erklomm. Ohne sich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren, ließ Sarah ihren Gedanken freien Lauf. Sie genoß die Einsamkeit und die scheinbar spurlos verstreichende Zeit. Wie lange sie so dagesessen hatte, wußte sie nicht. Irgendwann fiel ihr auf, daß die Vögel verschwunden waren. Kein Lied, kein Ruf, selbst die Insekten waren verstummt. Bedrohliche Stille herrschte um sie herum. Sarah lauschte angestrengt. Plötzlich hörte sie das polternde Getöse herabstürzender Felsbrocken. Ohne sich umzudrehen oder auch nur einen Augenblick zu zögern, warf sich Sarah unter die nächste Betonbank. Sie glaubte, jemanden von weitem ihren Namen rufen zu hören, aber der Lärm der rollenden Steine übertönte alles andere. Sie widerstand dem Wunsch, vor dem näher kommenden Geräusch davonzulaufen, und kauerte sich noch tiefer unter die schützende Bank. Um sie herum fielen kleine Steine und Betonbrocken herab. Der Donner wurde lauter. Wieder meinte Sarah, jemand hätte nach ihr gerufen, aber das konnte auch täuschen. Sie mußte husten und atmete dabei lauter Staub ein. Das war das letzte, woran sie sich später erinnern konnte. - 62 -
6. KAPITEL Von der Hügelkuppe aus beobachtete Nicholas entsetzt, wie eine riesige Betonplatte den Hang hinunterstürzte. Sie riß auf ihrem unheilbringenden Weg einzelne Sitze mit sich, schlug lose Teile und Steine los und ließ sich durch nichts aufhalten. „Sarah“, rief er warnend und bittend zugleich. Quer über die Bänke hinweg eilte er in ihre Richtung. „Sarah!“ Er bekam keine Antwort, hörte nur seine eigene Stimme, die im allgemeinen Getöse unterging. Kurz nachdem die Platte auf den flachen Boden, in der Mitte des Freilichttheaters prallte, erreichte Nicholas die Stelle, wo er Sarah zuletzt gesehen hatte. „Sarah“, rief er noch mal in das allmählich verklingende Echo herabpolternder Steine hinein. Nichts. Dann sah er sie merkwürdig still unter der Betonbank liegen. Er bückte sich und streckte die Hand nach ihr aus. Als er das gleichmäßige Pulsieren der Halsschlagader fühlte, atmete er erleichtert auf. Was war zu tun? Die wuchtige Bank über ihr hatte zwar gehalten, aber der Beton hatte neue Risse davongetragen. Nicholas fuhr Sarah vorsichtig mit den Fingern durchs Haar. Zum Glück schien sie keinen Schlag auf den Kopf erhalten zu haben. Er zwang sich, ruhig zu bleiben und sich auf die Regeln für Erste Hilfe zu besinnen. Bevor du sie bewegst, mußt du nach Verletzungen suchen, fiel ihm ein. Er tastete Sarah behutsam nach Knochenbrüchen ab. Als er nichts fand, stieß er einen zweiten Stoßseufzer der Erleichterung aus. Sollte er sie unter der Bank hervorziehen? Er konnte nicht wissen, ob Hals oder Rückenwirbel beschädigt waren. Doch das hielt er für unwahrscheinlich. Voraussichtlich hatte die Bank ausreichenden Schutz geboten. „Sarah?“ fragte Nicholas leise. Er sah, daß ihre Augenlider unmerklich zuckten. „Bitte, Sarah. Sag, daß du gesund bist.“ Seine Stimme erreichte sie wie aus weiter Ferne, und aus jedem Wort klangen Angst und Sorge. Dann spürte sie, daß er ihr in einer wohltuenden und tröstlichen Geste über die Stirn strich. Sie hörte erneut, daß er ihren Namen sagte, und diesmal konnte sie reagieren. - 63 -
Sie öffnete die Augen. „Sarah, was für ein Glück, du bist wieder bei Bewußtsein. Nein, beweg dich jetzt nicht. Du könntest verletzt sein.“ Sarah lag still und versuchte, sich zu erinnern. Vorsichtig drehte sie den Kopf so, daß sie Nicholas ansehen konnte. Er kniete mit kreideweißem Gesicht neben ihr. Während sie ihn beobachtete, kehrte die Farbe jedoch allmählich in seine Wangen zurück. „Hat dich irgend etwas erwischt?“ erkundigte er sich. „Nicht, daß ich wüßte.“ Behutsam schob er ihr die Arme unter den Rücken. „Ich ziehe dich jetzt unter der Bank hervor.“ „Es ist alles in Ordnung, Nicholas. Tut mir leid, daß ich ohnmächtig geworden bin. Das war irgendwie feige.“ Nachdem Nicholas ihr auf die Füße geholfen hatte, tastete er sie noch einmal gründlich nach Verletzungen ab. Sarah holte tief Luft. Das ist nicht persönlich gemeint, ermahnte sie sich. Also bleib ruhig und halt still. Trotzdem machte ihr die Berührung jeden zusammenhängenden Gedanken unmöglich. „Feige ist das falsche Wort“, stellte er fest, sobald die Untersuchung beendet war. „Wenn ich gesehen hätte, daß eine Betonplatte auf mich zukommt, wäre ich bestimmt vor Angst erstarrt. Du hattest immerhin soviel Geistesgegenwart, die einzige Möglichkeit zu erkennen, die dich retten konnte.“ Sarah mußte lachen. „Das hat nichts mit Verstand zu tun, das war Instinkt. Wenn mir Gefahr droht, laufe ich davon. In diesem Fall habe ich mich eben in mich selbst zurückgezogen.“ „Aber erst, nachdem du dich geschützt hattest. Nenn es wie du willst, ich bin jedenfalls froh über dein Reaktionsvermögen, Lady.“ Nicholas sah sich um. Er wollte wissen, wodurch das Unglück ausgelöst worden war. Die Ursache wurde ihm im selben Augenblick klar, als er begriff, daß das jeden Moment wieder passieren konnte. Durch die vielen Jahre unter Wasser hatten sich die Verbindungen zwischen den Betonplatten gelockert. Er mußte Sarah sofort von hier wegbringen. Bevor ihr klar wurde, was er vorhatte, hob er sie hoch und drückte sie an sich. - 64 -
„Mir fehlt nichts, Nicholas“, beteuerte sie. „Ich kann einwandfrei allein gehen. Laß mich los.“ „Nein, Sarah, bitte nicht. Mir zuliebe.“ Er blieb stehen und sah ihr in die Augen. „Mach dich ruhig über mich lustig. Gesund oder nicht, du hast einen Schock erlitten, und ich auch. Wir dürfen nicht länger in der Sonne bleiben. Solange ich dich spüre und in den Armen halte, habe ich das Gefühl, daß alles in Ordnung ist.“ Sein bittender Blick machte sie so hilflos, daß sie nur nicken konnte. Sie lehnte den Kopf an seine Brust und hielt sich mit einer Hand an seinen Schultern fest. Nicholas versuchte, nicht auf das Glücksgefühl zu achten, das Sarahs körperliche Nähe in ihm auslöste. „Bist du sicher, daß du nicht verletzt bist?“ vergewisserte er sich. Seine Stimme klang belegt, aber er hoffte, daß ihr das nicht auffiel. „Tut irgend etwas weh, hast du Kopfschmerzen?“ „Mir fehlt nichts. Ganz ehrlich, Nicholas. Ich kann genausogut laufen.“ Sarah unterdrückte jeden verräterischen Ton, damit Nicholas nicht merkte, wie sehr sie es genoß, von ihm getragen zu werden. Sei vernünftig und besteh darauf, daß er dich absetzt, mahnte ihr Gewissen. Doch anstatt darauf zu hören, schmiegte sie sich nur noch enger an ihn. „Laß uns den Tag gemeinsam verbringen“, bat er. Als sie überrascht aufschaute, nutzte er die Gelegenheit und hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn. Dann erklärte er: „Ich finde, für heute haben wir genug Ruinen besichtigt. An der großen Kreuzung ist ein Laden, da könnten wir haltmachen und alles Nötige für ein Picknick einkaufen. Du kennst sicherlich Dutzende schöner Plätze, wo wir essen können. Einverstanden?“ Er wartete auf eine Antwort. Als Sarah nichts sagte, fügte er hinzu: „Wenn du willst, nehmen wir Jimmy Joe mit. Er würde sich bestimmt freuen, und ich würde ihn auch gern mal wiedersehen.“ Sarah schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Grandpa hat ihn zu einer Versteigerung nach Bentonville mitgenommen.“ Die Vorstellung, mit Nicholas zum Picknick zu fahren, gefiel ihr. Sie wußte, was ,sie wollte. Hatte sie sich nicht vor kurzem überlegt, daß seine Gesellschaft nicht schaden konnte? Außerdem hatte sie heute - 65 -
nachmittag noch nichts vor. „Das ist eine wundervolle Idee“, meinte sie endlich. „Hast du eine Badehose dabei?“ Nicholas nickte. „Dann weiß ich etwas Besseres. Wir holen deine Schwimmsachen, du fährst mich zur Farm, und ich mache uns ein Lunchpaket. Und dann zeige ich dir die Stelle am See, wo ich am liebsten bade.“ Der Gesang der Vögel in den Beerensträuchern am Hang untermalte das Plätschern eines Wasserfalls. Der Fluß wand sich vom Berg durch Felsen und Geröll hinab bis in die Senke, wo sich das Wasser in einem Beckensammelte, bevor es seinen Weg ins Tal fortsetzte. Nicholas drehte sich auf den Bauch und stützte den Kopf mit einer Hand auf. „Hier ist es wirklich schön“, stellte er fest, während Sarah die Lunchreste im Korb verstaute. „Ich kann gut verstehen, daß du gern hierher kommst.“ „Das ist mein Lieblingsplatz in den Bergen“, bestätigte sie. Sie stellte den Korb beiseite und legte sich auf die Decke unter einer mächtigen Eiche. Die durch das Blattwerk dringenden Sonnenstrahlen bildeten diamantene Lichtpunkte, die über den Boden tanzten. „Als kleines Mädchen wollte ich hier wohnen“, fuhr Sarah fort. „Ich hatte vor, dort oben auf der Ebene neben dem alten Obstgarten ein Haus zu bauen. Morgens hätte ich mir einen Apfel zum Frühstück gepflückt, dann wäre ich den Berg hinuntergelaufen und hätte im Fluß schwimmen können.“ „Was nicht ist, kann ja noch werden.“ Sie sah ihn bedrückt an. „Das glaube ich nicht. Mein Onkel hatte das Grundstück wegen des fruchtbaren Bodens jahrelang gemietet. Jetzt wollen die Besitzer verkaufen, aber soviel Geld hat Onkel Hiram nicht.“ Sie lächelte spöttisch. „Außerdem werden die Äpfel ohnehin erst reif, wenn es zum Baden schon zu kalt ist.“ Nicholas fuhr ihr mit dem Zeigefinger über die Wange. „Vielen - 66 -
Dank, daß du mir den Platz gezeigt hast.“ Die federleichte Berührung beschleunigte Sarahs Pulsschlag. Achte nicht darauf, beschwor sich Sarah, während sie das Gesicht bereits weiteren Zärtlichkeiten entgegenhob. Als sie das merkte, richtete sie sich abrupt auf. „Ich fand schon immer, daß man etwas Schönes erst richtig genießen kann, wenn man es mit jemandem teilt“, erklärte sie und zog sich die Schuhe aus. „Komm, wir gehen schwimmen. Wer zuerst im Wasser ist, hat gewonnen.“ Da sie ihren zweiteiligen Badeanzug bereits anhatte, mußte sie nur noch Jeans und Shirt abstreifen, und war fertig. Sie lief zum Ufer und tauchte in das kalte Naß. Der Schock ließ sie rasch zu ihrem gewohnten Gleichgewicht zurückfinden. Sie drehte sich zum Ufer um. Amüsiert beobachtete sie, wie Nicholas auf einem Bein herumhüpfte und versuchte, sich seiner Stiefel zu entledigen. „Das ist ungerecht“, protestierte er. „Ich war noch nicht soweit.“ Sarah lachte hellauf. „Im Krieg und...“ Sie biß sich auf die Lippen. „...in der Liebe sind alle Mittel recht“, sprach Nicholas den Satz zu Ende. „Also spielen wir Krieg? Er trat mit funkelnden Augen näher. „Ich kann dich nur warnen. Wenn dir alle Mittel recht sind, gilt das auch für mich.“ Nicholas sah in den grünen Badeshorts einfach unverschämt gut aus. In der Hoffnung, daß die Kälte die erhitzten Wangen kühlen würde, glitt Sarah unter Wasser. Sie schloß fest die Augen, um Nicholas Bild, aus ihrem Kopf zu verbannen. Als sie wieder an die Oberfläche kam, setzte Nicholas gerade zum Sprung an. Es dauerte keine Sekunde, und er war neben ihr. Als er sich mit einer kurzen Bewegung das nasse Haar aus der Stirn schüttelte, versprühte er eine wahre Fontäne glitzernder Tropfen. „Schwimmen wir um die Wette zum Wasserfall und zurück?“ schlug er vor. „Diesmal will ich fair sein. Ich gebe dir Vorsprung, weil du kürzere Arme hast als ich.“ Sie schmunzelte. „Wieviel Vorsprung?“ Nicholas lächelte ebenfalls. „Du kannst von dem toten Baum am linken Ufer aus starten.“ - 67 -
Sie schätzte die Strecke von dort bis zum Wasserfall auf ein Drittel der Gesamtlänge. „Einverstanden.“ Mit lässigen Bewegungen kraulte sie zu der Uferstelle und sah sich nach Nicholas um. „Tritt nicht zu weit nach unten. Außer am Wasserfall selbst ist das Becken höchstens anderthalb Meter tief.“ Nicholas nickte. „Auf die Plätze“, begann er, sobald sie in Startposition war, „...fertig, los!“ Er beobachtete kurz ihre raschen, aber gut kontrollierten Schwimmzüge, dann folgte er ihr mit weit ausholenden kräftigen Armbewegungen. Obwohl sich der Abstand bald verringert hatte, erreichte sie die Vertiefung unterhalb des Wasserfalls vor Nicholas. Er winkte ihr kurz zu und schwamm zügig weiter. Bis sie zum Ausgangspunkt zurückgekehrt waren, hatte er Sarah überholt. „Das habe ich mir gedacht. Du bist der Typ, der auch dann weitermacht, wenn er weiß, daß er verloren hat“, meinte er, als sie schweratmend neben ihm innehielt. Sie trat Wasser, um nicht unterzugehen. „Ich bin aus der Übung. Aber du schwimmst ohnehin gut.“ Nicholas zog sie näher. „Lehn dich an mich. Dank meiner Größe kann ich hier stehen.“ „Du schwimmst wohl auf der Olympiade, was?“ Nicholas grinste. „Eher selten. Ich muß allerdings zugeben, daß ich vor Jahren mal im Schwimmverein war. Seitdem versuche ich, in Form zu bleiben.“ „Daß du mir Vorsprung gibst, hätte mich eigentlich sofort mißtrauisch machen müssen“, erwiderte sie. Sie ließ sich erschöpft an seine Brust sinken. Nun schnürte sich ihr erst recht die Kehle zu. Ihr war klar, daß sie schleunigst Abstand suchen mußte. Aber Nicholas gleichmäßiger Herzschlag übte eine hypnotische Wirkung auf sie aus. Sie entspannte sich in Nicholas beschützender Umarmung, und allmählich konnte sie auch wieder ganz normal Luft holen. „Besser?“ fragte er. Er hielt sie nicht mehr ganz so fest, strich ihr dafür jedoch mit einer Hand über den Rücken. Sarah konnte nur nicken. „Fein, dann kannst du jetzt, die Siegerehrung vornehmen.“ Ohne ihren Kommentar abzuwarten, küßte er sie mitten auf den Mund. - 68 -
Sie war keines klaren Gedankens mehr fähig. Natürlich hätte sie sich ihm entwinden können, doch sein Kuß war so verführerisch, daß sie sich ihm hilflos ausgeliefert fühlte. Nicholas Körperwärme übertrug sich auf sie und entzündete in ihr eine wahre Feuersbrunst unkontrollierbarer Gefühle. Sie hing reglos an ihm und konnte sich auch dann noch nicht bewegen, als Nicholas den Kopf hob. Er hatte sie nur flüchtig küssen wollen, spielerisch und zum Zeichen des Sieges. Doch kaum hatte er ihren Mund berührt, waren alle guten Vorsätze vergessen. Jetzt sah er sie an und versank sofort im Anblick ihrer Augen, in denen winzige grünschillernde Flammen zu züngeln schienen. Mit einem fast, verzweifelten Stöhnen beugte er sich erneut über ihre Lippen. Nach einer Weile zog er sie enger an sich und schwamm mit ihr zum Ufer. Sie hatten das Wasser noch nicht verlassen, da eroberte er ihren Mund aufs neue und unterbrach den Kontakt nur kurz, um Sarah auf die Decke zu legen. Er kniete neben ihr nieder, umfaßte ihr Gesicht mit beiden Händen und bedeckte es mit Küssen. Während er mit den Lippen die Konturen des gleichmäßigen Ovals nachzeichnete, streifte sein Atem ihre Wangen. Schließlich konzentrierte er sich wieder auf ihren Mund. Als Sarah spürte, daß Nicholas ihr Gesicht losließ, seufzte sie vor Sehnsucht nach weiteren Zärtlichkeiten. Sie ließ seinen Nacken los, strich ihm erst mit den Fingern über die Schultern, dann über den bloßen Rücken und genoß das Spiel seiner Muskeln. Er liebkoste die empfindsame Stelle seitlich an ihrem Hals, knabberte spielerisch an einem Ohrläppchen, preßte den Mund auf die Stelle, wo die Halsschlagader unter der Haut pulsiert. Während er sich neben sie legte, streichelte er sie voller Hingabe. Seine großen, kräftigen und doch so einfühlsamen Hände waren überall und nirgends zugleich, entzündeten tief in Sarah einen Funken, von dem eine Woge flüssiger Lava nach der anderen auszugehen schien. Als sie ebenfalls begann, seinen Körper mit den Fingern zu erforschen, stöhnte er verhalten auf und preßte sich an sie. Er ließ die Hände von der nackten Taille zum Busen gleiten, umfaßte die vollendeten Rundungen und massierte mit den Daumen die zarten - 69 -
Knospen durch den dünnen Stoff des Bikinioberteils hindurch, bis sie sich ihm hart und dunkel entgegenreckten. Flammen der Leidenschaft durchzuckten sie, und sie schrie leise auf vor Lust. Nicholas verschloß ihr den Mund mit einem Kuß, der sie alles um sich herum vergessen ließ. Sarah schnappte nach Luft. Sie drängte sich Nicholas entgegen, ließ sich treiben von einer nie geahnten Sehnsucht und spürte kaum, wie Nicholas bebte, während er sie eng an sich drückte. Einen Augenblick lang hielt er sie so fest umschlungen, als wollte er sie nie wieder loslassen, und die. Hitze seines Körpers verschmolz mit ihrer eigenen. Dann gab er Sarah frei. Verständnislos. beobachtete. Sarah, wie sich Nicholas am anderen Ende der Decke hinsetzte, die Beine mit den Armen umschlang und den Kopf auf die Knie stützte. Sarah schob sich verunsichert die schmalen Träger des zweiteiligen Badeanzugs zurecht. Sie und Nicholas kannten einander kaum, waren einander so gut wie fremd, und doch hätten sie beinahe... Sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Trotz der Hitze begann sie am ganzen Körper zu zittern. Ihr war klar, daß sie in Nicholas Armen jegliche Vorsicht vergessen hatte. Statt dessen hatte sie sich dem Gefühl hingegeben, unter seinen Liebkosungen dahinzuschmelzen, und sich nach noch mehr Nähe gesehnt. Es war wider alle Vernunft, aber wenn er gewollt hätte, hätte sie sich ihm geschenkt. Irgendwie mußte er jedoch gemerkt haben, daß sie anders war als andere. Ob er den Unterschied kannte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Er hatte sich zurückgezogen. Scham und Demütigung brandeten in ihr auf. „Verzeih mir bitte, Sarah“, bat Nicholas. „Das habe ich nicht gewollt.“ Seine Stimme klang rauh, sein Atem ging stoßweise. Als er aufsah, begegnete er ihrem wachsamen Blick. Ihre Lippen waren noch geschwollen von seinen Küssen, in ihren Augen brannte die Erinnerung an die soeben erlebte Leidenschaft. Er zwang sich, den Kopf abzuwenden. - 70 -
Nicholas holte tief Luft. Er ärgerte sich über sich selbst. Kaum hatte er Sarah berührt, hatte er alles vergessen bis auf die Tatsache, daß sie in seinen Armen lag. Er wußte nicht, wie er sich gegen ihre Anziehungskraft wehren oder seine Sehnsucht nach ihr unterdrücken sollte. Noch nie hatte er eine Frau so begehrt wie sie, und doch hatte er im letzten Moment verzichtet. Das war kein bewußter Entschluß gewesen, aber er hätte auch nicht sagen können, was dem nun wirklich zugrunde lag. Überlebenswille vielleicht. Nur wessen, seiner oder ihrer? „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Nicholas. Ich habe dich ja nicht gerade entmutigt.“ Ungeachtet der tapferen Worte klangen aus Sarahs Stimme Verletzlichkeit, Verwirrung und Scham. Aber kein Vorwurf, obwohl Nicholas derjenige war, der mit allem angefangen hatte. Er bemühte sich, die verschiedenen Eindrücke, zu ordnen. Nein, entmutigt hatte sie ihn nicht. Sie hatte sich ihm willig in die Arme geschmiegt und seine Liebkosungen mit einer Leidenschaft erwidert, die seiner in nichts nachstand. Darauf war er dann wiederum begeistert eingegangen. Er war genauso fassungslos wie sie und konnte auch verstehen, daß sie gekränkt war. Aber warum schämte sie sich? Plötzlich begriff er. Sie schämte sich nicht, sie fühlte sich gedemütigt. Er sah sie prüfend an. Sarah erwiderte seinen Blick, wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht. Dachte sie etwa, er hätte aufgehört, weil er sie nicht wollte? Nein, das war unmöglich. Trotzdem, ihr Argwohn, das Zögern und die Beschämung in ihrer Stimme ließen keinen anderen Schluß zu. Er und nicht sie hatte allem ein Ende gesetzt. Im entscheidenden Moment hatte er zwar nicht über die Gründe nachgedacht, aber es gab deren viele. Fehlende Begierde gehörte allerdings nicht dazu. Das Verlangen nach ihr pulsierte auch jetzt noch so heftig in seinen Adern, daß es weh tat. Das mußte er Sarah irgendwie klarmachen. „Glaub mir, Sarah“, begann Nicholas rauh. „Ich habe mich noch nie so nach einer Frau gesehnt wie nach dir. Ich möchte mit dir zusammensein, eins mit dir werden, mich in dir verlieren. Aber...“ - 71 -
Er zögerte. Wie sollte er erklären, was er selbst nicht begriff? „Es gibt gewisse Gründe, verstehst du... Mit dir wäre das alles nicht genug.“ Sarah hielt den Atem an. Sie hätte ihm gern geglaubt, doch das würde nichts ändern. „Bitte, Nicholas, hör auf“, flehte sie leise. Mit funkelnden Augen wandte er sich zu ihr um, die Hände zu Fäusten geballt. „Weißt du, was ich meine, Sarah? Zuneigung, körperliche Anziehungskraft und gegenseitiges Einverständnis sind zweifellos wichtig, aber in dem Fall reicht das nicht aus. Ich könnte nicht mit dir schlafen und dann einfach gehen. Wenn ich eines Tages fort müßte, bliebe ein Teil meines Ichs hier. Ich wäre nicht mehr ich selbst.“ Beinahe zornig fügte er hinzu: „Der Preis ist zu hoch für ein flüchtiges Abenteuer.“ „Du gehörst hierhin“, fuhr er fort, nachdem er sich wieder gefaßt hatte. „In diese Gegend, zu den Leuten, die hier wohnen. Du bist wie die Blumen, die im Schutz der Berge blühen. Ich dagegen bin ruhelos wie der Wind, der nur vorübergehend innehält und die Schönheit um sich herum genießt, bevor er weiterzieht.“ Sarah kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen stiegen. „Tut mir leid“, sagte sie leise. Ihre Stimme klang immer noch belegt, jedoch nicht mehr unsicher. Ihr Blick war voller Verständnis. Am liebsten hätte Nicholas sie einfach wieder an sich gezogen, aber er beschwor sich, vernünftig zu sein. Sie war so ehrlich, und sie sehnte sich nach ihm. O verflixt, dachte er. Wie sehr ich sie begehre. Aber sie kennt den wahren Grund meines Aufenthalts nicht. Andernfalls hätte sie nie mit mir zu tun haben wollen und mich auch bestimmt nie hierher geführt. Ich hätte sie nie in den Armen gehalten, sie nie geküßt... In der Hoffnung, daß das Wasser so kalt war, wie er es in Erinnerung hatte, sprang er auf und lief zum Fluß. Er schwamm mit kräftigen Bewegungen zum Wasserfall, tauchte dort bis zum Grund und kehrte zügig zum Ausgangspunkt zurück. Das wiederholte er noch zweimal. Sarah sah eine Weile zu. Allmählich ging es ihr besser. Sie zog Jeans und Shirt über den Badeanzug und schlüpfte in ihre Schuhe. - 72 -
Kurz darauf kam Nicholas und kleidete sich ebenfalls an. Sarah schüttelte die Decke aus und faltete sie zusammen, Nicholas griff nach dem Picknickkorb. Nach einem letzten Blick auf den Pool begannen sie mit dem Abstieg. Ab und zu sagte Sarah etwas, oder Nicholas machte eine beiläufige Bemerkung. Im übrigen verlief der Rückweg fast schweigend. Da Sarah den Weg kannte, eilte sie voraus. Dicht hinter ihr folgte Nicholas und vermied jede Berührung. Nur als Sarah über eine Wurzel stolperte, hielt er sie fest, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dann ließ er sie so plötzlich los, als hätte er sich verbrannt. Nachdem auch die kurvenreiche Auffahrt zur Farm von Sarahs Großeltern hinter ihnen lag, blieb Nicholas neben seinem Geländewagen stehen und gab Sarah den Picknickkorb. „Du fährst fort“, stellte sie fest. „Ja.“ Er versuchte zu lächeln. „Das wird wohl das Beste sein.“ Sarah betrachtete ihn forschend. „Ich kann dich verstehen“, sagte sie dann ruhig. „Das bezweifle ich. Ich verstehe es nämlich selbst nicht.“ Er hoffte inständig, daß seine Miene nicht verriet, was in ihm vorging. Warum verabschiedete er sich so plötzlich? Er hatte seine Nachforschungen bisher noch nie vorzeitig abgebrochen. Aber er hatte auch noch nie so sicher gewußt, daß das zwingend notwendig war. „Was ist mit deinem Artikel?“ Er zuckte innerlich zusammen. Sarah hatte also die ganze Zeit Bescheid gewußt. Doch dann wurde ihm klar, daß sie nicht von ihren übersinnlichen Kräften sprach, sondern von Monte Ne. Als er ihren besorgten Blick sah und die Hand, die sie ausgestreckt hatte, aber wieder sinken ließ, bevor sie ihn berührte, schnürte sich ihm die Kehle zu. „Mit dem, was ich am Wochenende herausgefunden habe, und der Besichtigung heute läßt sich. schon was anfangen“, meinte er. „Vielen Dank für deine Hilfe. Ich werde selbstverständlich dafür sorgen, daß du ein Belegexemplar bekommst.“ Er merkte selbst, wie förmlich das klang. Sarah wich zurück, als hätte er sie geschlagen. „Gern geschehen“, meinte sie ruhig und hob das Kinn ein wenig. Warum war sie so - 73 -
überrascht? Sie hatte doch von Anfang an gewußt, daß er ein Fremder war, der bald wieder abreisen würde. Einen Moment lang kreuzten sich ihre Blicke, dann wandte sich Nicholas ab und öffnete die Wagentür. Sarah trat noch einen Schritt zurück. „Leb wohl, Nicholas.“ Der leise Gruß hallte in ihm nach. Er wollte lächeln, doch der Versuch mißlang. Kurz entschlossen stieg er ins Auto und ließ den Motor an Ein letztes Winken, dann fuhr er los. Im Rückspiegel sah er, daß Sarah still dastand und den Picknickkorb mit beiden Händen umklammerte.
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7. KAPITEL Sarahs Alltag verlief wie immer in Mountain Springs. Sie war vielleicht ein bißchen stiller, in sich gekehrter als sonst, aber niemand stellte Fragen. Die Familienmitglieder ließen sie in Ruhe und halfen ihr wortlos, aber liebevoll. Nach einer Woche wagte sie zum erstenmal, über Nicholas Matthias nachzudenken. Zuerst ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie so dumm gewesen war und geglaubt hatte, daß ihr ein Tag mit ihm nichts anhaben könne. Dann fühlte sie sich nur noch einsam. Sie war es gewöhnt, allein zu sein, denn das war sie auch im Kreis der Familie immer gewesen. Mit dem Unterschied, daß sie da noch nicht gewußt hatte, wie schön es war, wenn jemand diese Lücke im Leben füllte. „Was geschehen soll, wird geschehen“, rief sie sich ins Gedächtnis und ging gelassen dem täglichen Einerlei nach. Sie setzte sich geduldig mit der kräftezehrenden Energie eines kleinen Cousins auseinander, sorgte sich um die Zukunft einer sturen Großtante, half auch sonst, wo und wann immer sie konnte, und merkte kaum, wie die zweite Woche verging. Als sie den alten Lieferwagen vorfahren hörte, trocknete sie sich die Hände ab und trat auf die Veranda, um T. J. zu begrüßen. „Hast du ein Glas Limonade für einen durstigen Farmer?“ rief er ihr zu. „Ich habe noch nie einen so heißen Juni erlebt. Wie soll das erst im August werden?“ „Komm mit, ich kann bestimmt auch noch irgendein Sandwich für dich auftreiben“, versprach Sarah. „Was machst du, um diese Zeit hier, hast du alle Kühe in Urlaub geschickt?“ „Schön wär's.“ T. J. nahm den Strohhut ab und legte ihn auf den nächsten Schrank. „Ich habe die Tiere auf Canfields Ostweide überprüft. Wir müssen sie woanders hinbringen.“ „Haben die Canfields die Weide verkauft?“ „Noch nicht, aber wenn es soweit ist, müssen wir uns beeilen. Diesen Sommer haben sie sie nur wochenweise vermietet.“ Sarah haßte die Frage, die sie jetzt stellen mußte. „Kannst du den Leuten kein Angebot machen?“ „Nein. Jedenfalls nicht vorm Herbst, und wahrscheinlich auch dann - 75 -
nicht. Nächstes Jahr sähe das schon anders aus, aber solange wollen sie nicht warten.“ T. J. ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Ach, T. J., das tut mir so leid. Was ist mit den Pferden?“ „Na ja, da wird sich schon was finden. Spätestens im Frühjahr, weil nach dem Winter mehr Weiden angeboten werden. Wenn ich keine kaufen kann, kann ich immer noch eine mieten. Jetzt habe ich sie erst mal bei Dad untergebracht. Er sagt, er hat ohnehin keine Lust, im Winter eine ganze Kälberherde durchzufüttern. Statt dessen bringen wir da die Pferde unter.“ T. J. trank einen großen Schluck Limonade aus dem Glas, das Sarah vor ihn auf den Holztisch gestellt hatte. „Ich finde das ungerecht. Jahrelang hat sich niemand um das Land gekümmert, und ausgerechnet jetzt, kurz bevor du umziehen kannst, soll es verkauft werden.“ Sie legte eine Tomatenscheibe auf das frisch zubereitete Schinkensandwich, legte es auf einen Teller und schob diesen ihrem Cousin hin. „Kopf hoch, Sarah. Vielleicht findet sich ja gar kein Abnehmer. Na ja, und falls doch, ist das auch noch kein Weltuntergang. „ Mit einem frechen Grinsen fügte er hinzu: „Nun gib schon zu, daß du ohnehin nur Angst um deinen privaten Schwimmplatz hast.“ Die fröhliche Bemerkung ließ sie insgeheim zusammenzucken. In den letzten zwei Wochen war sie trotz der Hitze nicht mehr dort gewesen. Das mußte sie heute nachmittag unbedingt nachholen. Es wurde allmählich Zeit, sich mit den Gespenstern von gestern auseinanderzusetzen. „Ich hasse nun mal die Vorstellung, daß das Land Fremden gehört“, gab Sarah lächelnd zu. „Es liegt mitten zwischen Grandpas und Onkel Hirams Grund. Deshalb müßte es eigentlich im Besitz der Familie sein.“ T J. lachte. „Nimm's nicht so schwer, Cousinchen. Irgendwie wird sich alles klären. Aber da du schon von der Familie sprichst: Hast du inzwischen etwas bei meiner Großmutter erreicht?“ Sarah zog eine Grimasse. „Sagtest du nicht, ich sollte es nicht so schwer nehmen? Der Gedanke an Tante Cindas Umzug ist alles andere als erheiternd.“ „Oje. Hast du denn schon irgendeinen Fortschritt erzielt?“ - 76 -
„Keinen einzigen. Du kannst dein Glück gern mal versuchen.“ „Als ich das Thema neulich wieder erwähnte, erklärte sie, es gäbe für sie nur einen Grund, den Berg zu verlassen, und zwar kurz vorm Tod.“ „Welchen Grund meint sie denn?“ „Das hat sie nicht gesagt, und was sie denkt, weiß ich nicht.“ Sarahs Stimme klang enttäuscht. „Du wirst es bestimmt schaffen. Auf dich ist Verlaß.“ „Wenn ich doch nur so zuversichtlich wäre wie du. Ich habe mir folgendes überlegt. Wenn auf dem Grundstück für. deine Pferderanch vielleicht ein kleines Haus steht, könnten wir Tante Cinda klarmachen, daß du jemanden brauchst, der sich um dich kümmert. Mit meinen Ersparnissen...“ „Nein, Sarah“, fiel T. J. ihr ins Wort. „Ich liebe meine Großmutter über alles. Aber sich um mich kümmern? Ich wäre nach einer Woche verrückt und du auch. Das ist unmöglich. Was sie braucht, ist eine kleine Wohnung, die nahe genug bei einem von uns liegt. Dort ist sie unabhängig und hat trotzdem jemanden, der ihr jederzeit helfen kann, wenn sie Hilfe braucht.“ Er nahm seinen Hut vom Schrank und ging mit Sarah hinaus. „Du hast recht“, gab sie zu. „Ich werde eine Wohnung für sie suchen.“ „Wahrscheinlich kommst du weiter, wenn du herausfindest, welchen Grund sie gemeint hat. Vielleicht ergibt sich dann der Rest von allein.“ „Ich hätte nichts dagegen, wenn du mich dabei ein bißchen unterstützt. Versuch doch einfach mal dein Glück.“ T. J. lachte. „Lieber nicht. Sie steckt voller Geheimnisse, und auf dem Gebiet kennst du dich eindeutig besser aus.“ Er sprang über die zwei Stufen der Veranda und schlenderte zum Auto. „Vielen Dank für die Zwischenmahlzeit“, rief er, während er den Wagenschlag öffnete. Dann drehte er sich noch einmal um. „Hast du dich übrigens wieder mit dem Journalisten verabredet? Ich meine den Typ, der hier überall herumgeschnüffelt hat.“ Sarah wurde sehr still, und es dauerte eine Weile, bis sie antworten konnte. „Der ist abgereist.“ - 77 -
„Na gut, dann ist er eben wieder hier. Ich habe nämlich heute morgen seinen Jeep gesehen.“ „Es gibt hier viele blaue Geländewagen. Falls das wirklich Mr. Matthias war, überprüft er wahrscheinlich nur noch mal ein paar Informationen für den Artikel, den er schreiben will.“ „0 Mann, jetzt tu nicht so, Sarah. Meinst du, ich hätte nicht gesehen, wie er dich anguckt? Sein Blick erinnerte mich an eine Tüte Eiscreme in der Sonne.“ Sie wollte etwas einwenden, aber T. J. winkte ab. „Also, mir kann das ja egal sein. Ich möchte nur wissen, ob du ihn treffen willst oder nicht. Ich fahre jetzt nämlich einkaufen, und falls ich ihn sehe, könnte ich ihm sagen, wo er dich erreichen kann. Sonst erkundigt er sich wieder überall nach dir, und zum Schluß redet die ganze Stadt über dich. Das hatten wir ja gerade erst.“ Sarahs Gedanken überstürzten sich. War Nicholas wieder da? Wollte er sie tatsächlich wiedersehen? Sein Abschied hatte endgültig geklungen. „Wie lautet die Antwort?“ riß T. J. sie aus ihren Überlegungen. „Willst du ihn treffen, ja oder nein?“ Sie holte tief Luft. „Falls Mr. Matthias wirklich in die Stadt zurückgekehrt ist und mich sehen will, weiß er, wo er mich finden kann erwiderte sie so kühl und unbeteiligt, wie sie irgend konnte. „Er war schon einmal bei der Farm.“ „Das habe ich nicht gewußt, Sarah Jane. Dann brauchst du meine Hilfe ja gar nicht.“ T. J. schmunzelte. „Falls er mir begegnet, sage ich also einfach guten Tag.“ „Du hältst dich da raus, Timothy James, hörst du?“ meinte sie drohend. „Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.“ T. J. stieg lachend in den Lieferwagen und ließ den Motor an. Als er davonfuhr, lachte er immer noch. Sarah saß seit zwei Stunden auf der Veranda und schnitt grüne Bohnen. Ab und zu streckte sie sich, um den Rücken zu entspannen. Die Arbeit ging ihr wie von selbst von der Hand, während sie nur - 78 -
darauf wartete, daß das Telefon klingelte. Ich rechne nicht mit einem Anruf, redete sie sich ein, doch dann mußte sie über sich selbst lachen. Nein, sie rechnete nicht damit, aber sie hoffte darauf. Außerdem war sie neugierig. Was mochte Nicholas veranlaßt haben zurückzukommen? Als es endlich läutete, sprang sie wie elektrisiert auf. Äußerlich ruhig griff sie nach dem Hörer. „Sarah? Hier ist Nicholas.“ „Hallo, Nicholas“, begrüßte sie ihn ruhig, obwohl sie den Hörer so fest umklammert hielt, daß die Knöchel der Hand weiß hervortraten. „T. J. sagte schon, daß er vermutlich deinen Jeep in der Stadt erkannt hat.“ Offenbar hielt Nicholas die Luft an, dann atmete er langsam aus. „Stimmt. Ich wußte nicht mehr, wie deine Großeltern hießen. Deshalb habe ich ihn nach der Telefonnummer gefragt.“ Sarah schwieg. Sie wollte um keinen Preis verraten, welchen Gefühlsansturm der Klang seiner Stimme in ihr auslöste. „Ich hatte keine Ahnung, daß T. J. dein Cousin ist“, fuhr er schließlich fort. Sie mußte lachen. „Das habe ich dir doch gesagt.“ „Na ja, ich war mir eben nicht mehr sicher. Ist er direkt mit dir verwandt oder nur angeheiratet“ erkundigte sich Nicholas beiläufig. Sarah lachte wieder. „Direkt. Ein Cousin zweiten Grades, um genau zu sein. Unsere Großmütter sind Schwestern. Warum fragst du, spielt das eine Rolle?“ zog sie ihn auf. „Vielleicht“, erwiderte er ernst. „Sarah, ich muß mit dir reden.“ Obwohl sie sich freute, beschloß sie, auf der Hut zu sein. Sie wußte, daß es unvernünftig war, aber sie sehnte sich danach, ihn zu treffen, und diese Sehnsucht war stärker als alle Vernunft. „Gern, Nicholas. Hast du Probleme mit dem Artikel?“ Hoffentlich hatte das normal geklungen. Sie konnte vor lauter Aufregung nicht mehr beurteilen, wie die eigene Stimme klang. „Nein, der ist fertig und sogar schon verkauft. Im September wird er veröffentlicht.“ „Ach so Dann weiß ich allerdings nicht, warum...“ „Machs nicht so spannend, Sarah. Darf ich kommen?“ - 79 -
Obwohl er eine Frage gestellt hatte, war Sarah klar, daß das Treffen für ihn bereits eine beschlossene Sache war. Zum Glück war sie allein. So sah wenigstens niemand, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. „Natürlich. Wann?“ Die Worte waren heraus, bevor sich Sarah eines Besseren besinnen konnte. Aus dem Hörer ertönte ein Geräusch, das einem erleichterten Lachen ziemlich nahe kam. „Jetzt sofort, wenn du nichts dagegen hast. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.“ „Einen Vorschlag?“ wiederholte sie. Diesmal bestand kein Zweifel mehr. Nicholas lachte. „Keine Bange, es ist nichts, was dich in Verlegenheit bringen könnte“, versicherte er. „Ich fahre jetzt los. Einverstanden?“ Erst nickte Sarah nur. Dann fiel ihr ein, daß er das nicht sehen konnte. „Ja“, erwiderte sie ein bißchen atemlos. „Also dann bis gleich.“ Am anderen Ende der Leitung legte Nicholas den Hörer auf. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, eine Art Jüngstes Gericht oder eine letzte Gnadenfrist. Noch nie war er derart verunsichert gewesen. Auf der Fahrt hierher hatte er immer nur an eins gedacht. Er mußte Sarah wiedersehen. Diesmal war er allerdings nicht nur aus eigenem Antrieb hier. In St. Louis hatte ihn sein Agent angerufen und ihm einen Auftrag angeboten. Nicholas hatte abgelehnt und statt dessen einen Artikel über Sarah in Aussicht gestellt. Er hatte darin eine ideale Verbindung zwischen Arbeit und persönlichem Interesse gesehen. Schließlich hatte er dadurch einen willkommenen Vorwand, nach Mountain Springs zurückzufahren. Nun erwog er, Sarah, die Hintergründe zu erklären, verwarf die Idee jedoch sofort. Vielleicht später. Nicht jetzt. Denn wenn sie das Treffen ablehnte, würde er nie erfahren, wer sie war und weshalb er sich dermaßen zu ihr hingezogen fühlte. Ich habe keine andere Wahl, sagte er sich, ohne auf die Stimme des Gewissens zu achten, die ihn ermahnte, Sarah nicht zu belügen. Sarah hatte kaum Zeit, sich die Hände zu waschen und umzuziehen, - 80 -
als sie Nicholas Jeep in die Auffahrt biegen hörte. Da sie wußte, daß ihre Großeltern und Jimmy Joe jeden Moment zurückkommen konnten, schlug sie einen Spaziergang vor. Zu der Stelle am Wasserfall wollte sie nicht. Jedenfalls nicht, solange sie nicht wußte, weshalb Nicholas hier war. Statt dessen schlug sie einen Weg über die Weiden zu einem Hügel ein. Die Unterhaltung drehte sich um belanglose Dinge. Es war, als hätten sie unabhängig voneinander beschlossen, die persönlicheren Themen erst anzusprechen, wenn sie einen Rastplatz gefunden hätten. Als Sarah das Tor eines Palisadenzauns entriegelte, lächelte sie in sich hinein. Sie wußte, daß Nicholas hinter ihr stand und ihr über die Schulter sah. „Was ist denn das?“ fragte er verwundert, als er hinter dem Zaun eine Laube entdeckte. „Das kommt darauf an, wen man fragt. Für meine Großeltern ist das Gerties Gartenlaube, alle anderen nennen es nur den ,Prachtbau'. Grandpa hat ihn Grandma zum ersten Hochzeitstag geschenkt. Er hat ihn einer Laube nachgebaut, die sie mal in New Orleans gesehen haben.“ „Mitten auf einer Rinderweide?“ „Die Laube in New Orleans stand an einem kleinen See. Laut Grandma wuchsen darin Seerosen, dazwischen schwammen Enten und Schwäne herum.“ Als sie Nicholas den Vortritt durch das schmale Tor ließ, streifte er mit der Hand zufällig ihren Arm. Sie erstarrte innerlich. Die Berührung war genauso atemberaubend, wie sie es in Erinnerung hatte. Sarah ging vor und wartete neben der Laube auf ihn. „Siehst du die Bodensenke am Fuß des Hügels? Darin wollte Grandpa Wasser stauen. Es war ihm nicht romantisch genug, die Laube direkt daneben zu bauen. Deshalb wählte er diesen Platz mit Blick auf den See. Leider hat er dabei etwas übersehen. In dem Becken hält sich kein Wasser, und so steht die Laube jetzt hier oben, auf einer Weide im Trockenen.“ Nicholas folgte Sarah in den sechseckigen Bau. In jeder der fünf Spalierwände war ein Fenster, darüber wölbte sich ein kegelförmiges Dach. - 81 -
„Ich bezweifle, daß Grandma den Teich vermißt“, sagte Sarah mit weicher Stimme. „Jedenfalls kommen sie und Grandpa noch oft hierher. Sie behaupten, man könne die Milchstraße von der ganzen Farm aus nicht so gut beobachten wie von hier.“ „Wahrscheinlich ist ihr der See nicht so wichtig“, vermutete Nicholas. „Was zählt, ist die Absicht.“ Sarah setzte sich auf eine der gepolsterten Bänke vor den Wänden und war erleichtert, als Nicholas nicht neben ihr, sondern gegenüber Platz nahm. „Jedenfalls halte ich diesen Ort wie geschaffen für unsere Unterhaltung“, stellte sie fest. „Auf der Farm ist nämlich immer soviel los, daß man andauernd unterbrochen wird.“ „Aha.“ Er fuhr sich unruhig mit einer Hand durchs Haar. Wie sollte er anfangen? Sarah wartete nicht lange. Sie kam direkt zum Thema. „Warum bist du hier?“ Nicholas bemühte sich, ruhig durchzuatmen. „Weil ich mußte.“ Er merkte, wie bewegt seine Stimme klang, aber das konnte er nicht ändern. Wie machte Sarah das nur? Verärgert sprang er auf und wollte auf sie zugehen. Statt dessen vergrub er die Hände in den Hosentaschen und trat an eins der Fenster. „Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, Sarah, aber ich möchte es wenigstens versuchen. Ich habe gesagt, ich sei ruhelos wie der Wind, denn ich hatte noch nie einen Ort kennengelernt, an dem ich gern geblieben wäre. Diesmal war das anders. Nach meiner Abreise rief mich irgend etwas zurück, und ich konnte an nichts anderes mehr denken.“ Er drehte sich um und suchte ihren Blick. „Nur noch an diese Gegend und an dich.“ Sarah preßte die Handflächen aneinander, damit die Finger nicht mehr bebten. Hoffentlich merkte Nicholas nicht, wie aufgewühlt sie war. Ihre Gefühle schwankten zwischen Angst und Zuversicht. Sie sah ihn stumm an. Offenbar rechnete er mit einer Antwort, aber sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Bevor sie darüber nachdenken konnte, sprach er weiter. „Ich begann den Vergleich in Frage zu stellen. Vielleicht bin ich nicht wie der Wind, sondern wie ein Samenkorn, das über Land - 82 -
getragen wird, bis es einen Platz gefunden hat, an dem es wachsen und gedeihen kann. Weißt du, was ich meine, Sarah? Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt, aber ich weiß, daß ich das herausfinden möchte.“ Die Bedeutung seiner Worte und Sarahs eigene Empfindungen vermischten sich zu einem unentwirrbaren Knäuel von Vernunftgründen und Sehnsüchten. „Was willst du damit sagen, Nicholas, was erwartest du von mir?“ „Ich möchte hierbleiben erwiderte er umgehend. „Zumindest für einige Zeit. Dann könnte ich ausprobieren, wie es sich mit dem Gefühl lebt, dazuzugehören.“ Sarah hielt unwillkürlich den Atem an und holte erst wieder Luft, als Nicholas fortfuhr: „Ich möchte weder dir noch mir weh tun, Sarah. Aber das Risiko besteht. Deshalb bitte. ich dich nur um die Chance, dich und diese Gegend kennenzulernen. Wenn dir das nicht recht ist, fahre ich wieder ab. Einverstanden? Falls ich bleibe, könntest du dann meine Freundin sein?“ Sarah schwieg. Sie konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. Die Antwort auf ihre Probleme war so perfekt, wie man es sich in einer unvollkommenen Welt nur vorstellen kann. Er wollte, daß sie einander kennenlernten. Aber wie sollte es weitergehen? Zuerst Freundschaft, und was kam danach? Was geschehen soll, wird geschehen, rief sie sich ins Gedächtnis. Inzwischen fragte sich Nicholas, ob er die falschen Worte gewählt hatte. Als sie endlich aufsah und dabei sogar lächelte, schöpfte er Hoffnung. „Bist du eigentlich sehr eigen?“ Verwirrt starrte er sie an. „Wie meinst du das?“ „Soviel ich weiß, lehnst du Wurmköder ab. Gilt das auch, wenn jemand anders damit angelt?“ Ihre Augen funkelten belustigt. „Ich wollte dich nämlich zum Abendessen einladen. Aber heute ist Freitag, da gibt's Fisch. Und den fängt Jimmy Joe. In der darauffolgenden Zeit weihte Sarah Nicholas in die - 83 -
sommerliche Betriebsamkeit auf einer Farm ein. Sie stellte, ihn den Familienmitgliedern vor und beobachtete fasziniert, wie deren natürliche Wachsamkeit gegenüber Fremden allmählich einer freundschaftlichen Haltung wich. Obwohl Nicholas in der Nähe von Eureka Springs bei einem Kollegen wohnte, kam er jeden Tag pünktlich über die von zahlreichen Urlaubern befahrene Straße nach Mountain Springs, um auf der Farm zu helfen. Sarah sorgte dafür, daß er dabei nie allein war. Sobald er in Sichtweite war, sah sie seiner hochgewachsenen Gestalt nach. Suchte er dabei absichtlich ihren Blick, war sie jedesmal wie benommen. Um so sorgfältiger vermied sie jeden körperlichen Kontakt. Ihr war natürlich klar, daß ihre Verwandten diese, Bemühungen ebenso erstaunt wie belustigt beobachteten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Angehörigen „in Sarahs eigenem Interesse“ einschalteten und deren Pläne damit nichtsahnend durchkreuzten. Als es soweit war, traf es sie trotzdem unvorbereitet. Sie stand in der Küche und spülte Geschirr ab. Plötzlich fühlte sie, daß jemand ihre Taille umfaßte und sie beiseite schob. „Laß mich das machen“, bat Nicholas, der unbemerkt eingetreten war. „Dann kannst du die Sachen wegräumen. Du weißt besser, wohin sie gehören.“ „Du willst den Abwasch machen? Wenn Grandma das sieht...“, sagte Sarah. „Die hält auf der Veranda ihren wohlverdienten Mittagsschlaf. Bin ich dir etwa nicht ordentlich genug?“ zog er sie auf. Er nahm, ein Trockentuch vom Haken und band es sich um die Hüften. „Es ist zwar schon eine Weile her, aber als ich den ersten Stapel Schmutzgeschirr abgewaschen habe, mußte ich auf einer leeren Apfelkiste stehen, um über den Spülbeckenrand zu gucken. Das ist wie mit dem Fahrradfahren. Wenn man das erst mal kann, vergißt man es nicht mehr.“ Sarah beobachtete stumm, wie Nicholas fachmännisch drei Teller abwusch und dann zum Abtropfen neben das Spülbecken stellte. Der weiße Spülmittelschaum betonte die Sonnenbräune seiner Arme. „Trockne lieber ab, sonst kommst du nicht mehr mit.“ Er - 84 -
schmunzelte. „Du kannst mir nicht ständig aus dem Weg gehen, weißt du. Deine Verwandten schließen bereits Wetten ab.“ „Das werden sie nicht wagen“, protestierte Sarah und verbesserte sich sofort: „O doch. Genau das werden sie tun.“ Sie griff schicksalergeben nach einem Geschirrtuch. Nicholas lachte. „Ich mag deine Familie.“ „Manchmal, muß ich sagen, gäbe ich ihnen am liebsten einen Tritt in den...“ „Verlängerten Rücken?“ half er aus. „Das wäre schade. Sie könnten auf die Idee kommen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Und ich, erinnere mich, daß es sich da bei dir um ein besonders hübsches Exemplar handelt.“ „Nicholas!“ Sie sah sich erschrocken um. „Keine Angst, es ist niemand da. Sie haben sich alle auf der Veranda versammelt. Außerdem war ich leise.“ Sarah entspannte sich wieder. „Sie mögen dich auch. Grandpa sagt, für einen Stadtmenschen gäbst du auf dem Traktor gar kein schlechtes Bild ab. Glaub mir, das ist ein großes Kompliment.“ „Ich bin schon als Junge Trecker gefahren.“ „Das habe ich nicht gewußt.“ Nicholas musterte sie ernst. „Wir wissen überhaupt sehr wenig voneinander, Sarah. Ich hoffe...“ „Was hoffst du?“ Ich hoffe, daß du mir vergibst, wenn du erfährst, warum ich zurückgekehrt bin, dachte er. Und daß ich irgendwann weiß, was mich an dir und dieser Gegend so anzieht. Aber er wollte nicht länger darüber nachdenken. „Daß wir das Glück haben, einander richtig kennenzulernen“, sagte er rasch und lächelte. „Ich glaube an das Sprichwort, daß jeder seines Glückes Schmied ist“, sagte Sarah. Nicholas sah sie an. Sie verlangte zuviel. Seit Tagen vermied sie jedes Alleinsein mit ihm. Wußte sie nicht, daß das genauso war, als verweigere man einem Durstenden das Wasser? War ihr nicht klar, daß Männer dazu neigten, jede Herausforderung anzunehmen? Begriff sie denn nicht, daß sie ihn sozusagen dazu aufforderte, einfach mal sein Glück zu versuchen? Ohne sie aus den Augen zu - 85 -
lassen, wischte er sich die Hände ab und streckte die Arme nach ihr aus. Wie gebannt stand sie da und sah ihn an. Sie mußte etwas sagen, irgend etwas tun. Wenigstens zurückweichen. Doch dann stellte sie fest, daß sie sich nicht bewegen konnte. Sie spürte, daß er ihr die Hände auf die Schultern legte, und atmete tief das Aroma des nach Limonen duftenden Rasierwassers ein. Er beugte sich über sie und küßte sie so zärtlich, daß die dahinter verborgene Sehnsucht allenfalls zu ahnen war. Dieser Kuß hatte nichts von dem explosionsartigen Gefühlsansturm, der die beiden am Wasserfall überwältigt hatte. Die Flamme der Leidenschaft brannte deutlich, aber kontrolliert, die sich daraus entwickelnde Hitze stand jener anderen in nichts nach. Sarahs Widerstand schmolz dahin. Nicht mehr lange, und sie warf alle Bedenken über Bord. Sie wußte, daß sie verloren war, wenn sie sich nicht von ihm löste. Daß sie es schließlich tatsächlich versuchte, war reiner Selbsterhaltungstrieb. Nicholas spürte die innere Abwehr, bevor Sarah etwas sagen konnte. „Oh, Sarah“, raunte er ihr in den noch halbgeöffneten Mund. „Die Bitte, mein Glück selbst zu schmieden, war sehr riskant.“ Er hielt sie noch einen Augenblick umfangen, dann ließ er sie los und tauchte die Hände wieder ins Spülbecken. „Schnell, trockne ab. Da kommt jemand.“ In dem Moment betrat T. J. die Küche. Nicholas wandte sich zu ihm um, damit sich Sarah im Schutz seines breiten Rückens sammeln konnte. Aber T. J. achtete nicht darauf. „Du mußt kommen, Sarah. Es geht um Großmutter:“ „O nein, nicht schon wieder“, seufzte Sarah. Sie. warf ihrem Cousin das Tuch zu und eilte hinaus. „Na, dann will ich mal“, meinte T J. lachend und begann abzutrocknen. „Schwierigkeiten?“ fragte Nicholas neugierig, doch dann besann er sich: „Verzeihung, das geht mich nichts an.“ Nachdem er die letzte Tasse gereinigt und aufs Abtropfbord gestellt hatte, lehnte er sich an die Spüle und sah T J. zu. „Das ist kein Geheimnis“, erklärte T. J. „Meine Großmutter wird alt - 86 -
und wohnt allein auf einem Berg bei Hogscald Hollow. Wir finden, sie sollte ins Tal ziehen, und bei dem Thema geht es in der Familie immer hoch her. Dabei spielt das, was wir denken, gar keine Rolle. Großmutter sagt ohnehin nein.“ „Aber warum hast du Sarah geholt? Wenn ich das richtig verstanden habe, sind eure Großmütter Schwestern. Also ist Sarah eine Großnichte deiner Großmutter. Sie ist also längst nicht so eng mit ihr verwandt wie zum Beispiel dein Vater.“ „Ja, aber Sarah ist die einzige, die in diesem Punkt für Frieden sorgen kann. Denn außer ihr ist ohnehin keiner in der Lage, Großmutter gut zuzureden. Sie sind eben beide...“ Er zögerte unmerklich, dann fuhr er fort: „Sie stehen einander sehr nahe. Das war schon immer so.“ Die winzige Pause war Nicholas nicht entgangen. T. J. hatte etwas anderes sagen wollen und sich dann eines Besseren besonnen. Aber Nicholas drängte nicht, denn schließlich ging es um eine Familienangelegenheit. Allmählich wurde ihm klar, was Sarah mit den Pflichten gegenüber Angehörigen meinte. T. J. hängte das Geschirrtuch an den Haken und winkte Nicholas zu sich. „Komm, wir gehen auf die Veranda. Inzwischen hat Sarah die Situation sicher im Griff.“ Nicholas folgte ihm lächelnd. Auf andere wirkte Sarah offenbar beruhigend, aber nicht auf ihn. Im Gegenteil.
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8. KAPITEL Sarah ließ das Haar auf dem Rückweg vom Wasserfall in der Sonne trocknen. Es umrahmte ihr Gesicht in weichen Wellen und glänzte so golden, wie Nicholas es vom ersten Treffen her in Erinnerung hatte. Auf der Auffahrt zur Farm blieb Nicholas ein, zwei Schritte hinter ihr. Er bewunderte die perfekte Rundung ihrer Hüften in den engen Jeans und den anmutigen Gang, der eine Sinnlichkeit bewies, die Sarah nicht bewußt zu sein schien. Wie hatte er nur annehmen können, daß ihm eine rein geistige Beziehung zu dieser hinreißenden Frau reichen würde? Dabei begehrte er sie mit jeder Faser seines Herzens. Seit sie sich beim Geschirrspülen in der Küche geküßt hatten, hatte sich die Situation entspannt. Nicholas hatte darauf geachtet, Sarah nicht zu bedrängen. Hier und da ein flüchtiger Kuß, eine fast zufällige Berührung, damit hatte er sich zufriedengegeben. Zumindest hätte er so getan. Aber er konnte sich noch so oft einreden, daß Sarah nicht ahnte, wie sehr er sie begehrte. Die Blicke, die sie ihm zuwarf, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, bewiesen das Gegenteil. Dann wandte er sich immer hastig ab. Sie sollte nicht merken, wie er auf das unbewußte Versprechen in ihren Augen reagierte. Dennoch war er ständig versucht, sie einfach an sich zu ziehen. Nicholas sehnte sich danach, ihr mit den Fingern durch das seidig schimmernde Haar zu fahren und zu spüren, wie sie unter seinen Liebkosungen erbebte. Er sehnte sich danach, daß sie sich unter ihm bewegte, sich ihm schenkte und zuließ, daß er eins mit ihr wurde. Nicht weit vom Farmhaus holte Nicholas Sarah wieder ein und griff nach ihrer Hand. Es war eine kameradschaftliche Geste, so wie sie unter Freunden üblich ist. Vielleicht konnte er seinen erotischen Phantasien dadurch Einhalt gebieten. Hand in Hand betraten sie die Veranda. In einer Ecke saß Jimmy Joe und schaute unglücklich drein. Sarah blieb stehen. „Was ist los, Jimmy Joe, warum bist du so traurig?“ erkundigte sie sich liebevoll „Grandma ist böse. Wir wollten zu Billy Hawkins. Aber ohne - 88 -
Tennisschuhe darf ich nicht mit, und ich finde sie nicht.“ Er schluchzte trocken auf. „Kannst du nicht die anderen Schuhe anziehen?“ „Grandma sagt, wir würden ja doch wieder im Wasser herumwaten. Die guten Schuhe könnte ich dabei nicht anlassen, und barfuß würde ich mir weh tun. Deshalb muß ich erst meine Tennisschuhe finden.“ Eine dicke Träne rollte ihm über die Wange. „Aber ich habe schon überall gesucht, Janie.“ Sie zauste ihm lächelnd die roten Locken. „Das glaube ich nicht. Wetten“ Nicholas beobachtete, wie Sarah in der Bewegung innehielt und die Augen schloß. Dann sagte sie: „Du warst gestern nachmittag am Kühlhaus. Vorgestern hat Grandpa dort eine Mokassinschlange erschlagen, und er hat dir verboten, es zu betreten, solange er das Nest noch nicht gefunden hat. Stimmt's?“ Nicholas hielt den Atem an. Den gestrigen Nachmittag hatte Sarah mit ihm verbracht. Woher wußte sie, wo sich Jimmy Joe in der Zeit aufgehalten hatte? Hatte sie das erraten? Schuldbewußt sah Jimmy Joe zu ihr hoch. „Es war so heiß, und im Kühlhaus ist es angenehm. Ich war nur ganz kurz drin.“ „Ja, bei der Hitze wirkt das Kühlhaus erfrischend, Jimmy Joe. Das wissen die Schlangen auch. Deshalb hat Grandpa dir verboten hineinzugehen. Du wirst das nie wieder tun, klar?“ Die Augen des Jungen füllten sich erneut mit Tränen. „Da habe ich doch meine Tennisschuhe vergessen. Gerade ist es mir eingefallen. Sarah seufzte. „Ich weiß. Bleib hier, ich hole sie.“ Sie verließ die Veranda und verschwand um die Ecke des Hauses. „Janie ist mir böse, stimmt's?“ meinte Jimmy Joe. „Ich glaube eher, sie macht sich Sorgen“, widersprach Nicholas. „Eine Mokassinschlange ist eine ernste Sache, und deine Cousine möchte nicht, daß dir etwas zustößt.“ Der Junge senkte den Kopf. Kurz darauf kam Sarah mit den Tennisschuhen in der Hand zurück. „Erzählst du Grandpa, was ich gemacht habe?“ fragte er. „Nicht, wenn du mir versprichst, das nie wieder zu tun. Egal wie - 89 -
heiß es ist. Abgemacht?“ „Ganz bestimmt nicht. Großes Indianerehrenwort. „ Jimmy Joe fiel ihr um den Hals. „Bitte entschuldige, Janie. Ich wollte dir keine Angst machen.“ „Ich weiß“, versicherte sie lächelnd. „Vergiß nicht, was du versprochen hast. Jetzt lauf, Grandma wartet sicher schon.“ Jimmy Joes Miene hellte sich wieder auf. „Danke schön, Janie. Ich bin sehr froh, daß du so gut sehen kannst.“ Er rannte ins Haus. Immer noch lächelnd sah ihm Sarah nach, dann wandte sie sich an Nicholas. Als sie seinem erstaunten Blick begegnete, erstarb ihr das Lächeln auf den Lippen. Er hatte alles beobachtet. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie überlegte fieberhaft. Würde es ihr gelingen, sich einfach herauszureden? „Tja, wenn man einen achtjährigen Jungen im Auge behalten will, muß man wissen, wo er eigentlich nicht stecken dürfte.“ Sie verstummte. Es war zwecklos. Die Frage fiel ihr schwer, aber sie mußte sie stellen: „Du weißt es, nicht wahr?“ Nicholas nickte. Er hatte keine Ahnung, was Sarah daran so schlimm fand. „Jimmy Joe hat es mir damals am See erzählt, erinnerst du dich? Mir ist nur nicht klar, warum du das um jeden Preis, geheimhalten willst.“ „Ich habe meine Gründe.“ „Sarah...“ „Du kennst das nicht“, unterbrach sie ihn. „Nein, und deshalb möchte ich wissen, was los ist.“ Nicholas trat einen Schritt auf sie zu. Als sie zurückwich, blieb er stehen. „Sarah, wir hatten abgemacht, daß wir einander besser kennenlernen wollen. Wie soll ich das schaffen, wenn du etwas vor mir verbirgst, das so offensichtlich zu dir gehört?“ Sarah dachte nach. „Du hast recht“, gab sie schließlich zu. „Also laß uns darüber reden.“ Sie mied seinen Blick. Auch wenn sie sich das nicht eingestanden hatte: Diesen Moment hatte sie gefürchtet, seit Nicholas zurückgekehrt war. Sie konnte ihm erklären, soviel sie wollte, er würde sie nicht verstehen. Genau wie alle anderen. Als Nicholas sah, wie bedrückt sie war, wünschte er, er hätte damit gar nicht erst angefangen. „Das soll kein Verhör sein, Sarah“, - 90 -
versicherte er freundlich. „Wenn dich das Thema so aufregt, lassen wir es einfach fallen.“ Er hielt irritiert inne. Warum hatte er das gesagt? Sarah war endlich bereit, sich ihm anzuvertrauen, da forderte er sie auf zu schweigen. Sarah widerstand der Versuchung auszuweichen. Dadurch würde sich nichts ändern. Ob sie jetzt oder später darüber sprachen, spielte keine Rolle. Sie würde sich wohl oder übel damit abfinden müssen, daß er gehen würde. Das hatte sie von Anfang an gewußt. Aber sie hatte gehofft, den Termin hinausschieben und noch ein bißchen träumen zu können. Aber wie so oft im Leben, hatte sie keinen Einfluß auf die Ereignisse. Es war besser, wenn sie die Angelegenheit sofort hinter sich brachte. „Nein, du hast recht“, erklärte sie leise. „Wir müssen darüber reden. Ich weiß nur nicht, womit ich beginnen soll. „Mit dem Anfang, sagt Alice immer.“ „Welche Alice?“ „Alice im Wunderland.“ „Mir ist nicht nach Scherzen zumute“, fuhr Sarah ihn an. Der unerwartete Angriff erschütterte Nicholas. „Mir auch nicht, Sarah. Ich wollte mich nicht über dich lustig machen.“ „Ich weiß.“ Sie ließ den Kopf hängen. „Komm, wir gehen spazieren.“ Nicholas legte ihr den Arm um die Taille. Das hatte er in den letzten Tagen oft gemacht, doch diesmal zuckte sie zurück. Aber er tat, als hätte er Nichts gemerkt, und allmählich entspannte sie sich. „Was weißt du über übersinnliche Fähigkeiten?“ erkundigte sich Sarah. Nicholas fand den Zeitpunkt nicht günstig, um ihr die ganze Wahrheit zu sagen. Das würde sie nur wieder unnötig beunruhigen. Also sagte er nur: „Hier und da habe ich natürlich etwas darüber gelesen. Aber ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der wirklich welche besitzt. Die Fälle, von denen ich gehört habe, erwiesen sich stets als Betrug.“ Das war immerhin nicht gelogen. - 91 -
„Das ist es auch meistens. Vor allem bei Menschen, die sich damit brüsten. Aber eben nicht immer. Manchmal...“ Sarah nahm allen Mut zusammen, trat einen Schritt zurück und sah Nicholas offen an. „Du mußt das verstehen, Nicholas. Ich besitze solche Kräfte. Von Zeit zu Zeit weiß ich Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Ich möchte sie oft gar nicht wissen, aber sie sind plötzlich da.“ „Erzähl mir doch einfach, was du machst. Mal abgesehen davon, daß du kleinen Jungen sagst, wo sie ihre Tennisschuhe verloren haben, oder auf Fragen antwortest, die ich noch gar nicht gestellt habe.“ „Ist das dein Ernst? Habe ich deine Gedanken gelesen?“ Nicholas wunderte sich über ihr Erstaunen. Sie war sich ihres Handelns damals nicht bewußt gewesen. Aber das hatte er darauf zurückgeführt, daß sie sich längst daran gewöhnt hatte. „Ist das so ungewöhnlich?“ „Teils, teils“, meinte Sarah. „Das heißt, ich mache das schon mal bei Leuten, die mir nahestehen. Sonst nicht.“ „Oh. Ich fühle mich geschmeichelt.“ Er sah, daß in ihren Augen Angst aufflackerte. „Du kannst also Gedanken lesen und in die Vergangenheit gucken, wie zum Beispiel vorhin. Was sonst noch?“ „Während des Studiums habe ich versucht, mich genauer zu informieren. Ich wollte wissen, welche Erklärungen auf meine Fähigkeiten zutreffen. Dabei sind mir die feinen Unterschiede klargeworden. Ich kann zwar hellsehen, aber nicht die Zukunft voraussagen. Weißt du, wie ich das meine?“ Nicholas nickte. „Du siehst, was woanders passiert und was in der Vergangenheit geschehen ist, hast jedoch keinen Einblick in Dinge, die sich noch ereignen werden.“ „Ja, so ungefähr. Manchmal kann ich die Hellsichtigkeit herbeizwingen, so wie bei Jimmy Joes Schuhen. Wenn ich außerhalb unserer Gemeinde und der Familie unter vielen Leuten bin, stürmen ab und zu Eindrücke auf mich ein, die ich nicht zuordnen kann. Obwohl ich meistens weiß, wie das Wetter am nächsten Tag wird, kann ich, die Zukunft nicht auf Wunsch voraussagen. Manchmal gelingt mir ein kurzer Blick auf andere Abläufe, oder ich werde gewarnt. Wie zum Beispiel bei der Betonplatte im Freilichttheater - 92 -
von Monte Ne.“ „Du hast gewußt, was passieren würde?“ „Nicht genau. Aber es hat gereicht, um mich rasch unter die Bank zu ducken. Meine eigene Zukunft ist mir völlig verschlossen, sonst hätte ich mir schon eine Menge Ärger ersparen können. Gelegentlich ist mir vorher unbehaglich zumute, aber ich bin mir nie sicher, ob das bereits eine Warnung oder bloß ganz normale Angst ist.“ Nicholas sah, daß sie zitterte, und legte ihr fürsorglich den Arm um die Schultern. „Ich verstehe trotzdem nicht, warum du das alles geheimhalten willst, Sarah. Schließlich ist das eine ganz besondere Gabe. Ich nehme an, daß du vielen Menschen hilfst. Wovor fürchtest du dich?“ „Vor dem Rummel in der Öffentlichkeit und vor eventuellen Drohungen. Es ist ohnehin schwierig genug, damit zu leben.“ Ihm war klar, daß sie sich das nicht einbildete, sondern aus Erfahrung sprach. Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis der Wald zu Ende war. Dann traten sie hinaus in den Sonnenschein. Vor ihnen erstreckte sich das gleichmäßige Grün der Weiden, in der Ferne sah man die Gartenlaube. „Hier bin ich sicher“, stellte Sarah plötzlich fest. „Woanders bin ich verletzbar. Als ich wegzog, um zu studieren, sah ich auf einmal Dinge, die nichts, mit mir oder meiner Familie zu tun hatten. Ich konnte sie nicht für mich behalten, weil ich dieses Wissen nicht kontrollieren konnte. Außerdem merkte ich, daß mich niemand verstand.“ Nicholas musterte sie verblüfft. „Hattest du denn vorher nicht gewußt, was mit dir los war? „O doch.“ Ihre Stimme bebte, „Mir ist seit dem neunten Lebensjahr klar, daß ich anders bin als die anderen. Damals starben meine Eltern, und ich zog zu meinen Großeltern. Vorher hatte ich meine Kräfte zwar genutzt, aber das ist mir nicht bewußt gewesen. Ich war einfach gut darin, Verlorenes wiederzufinden und, selbst bei strahlendem Sonnenschein zu wissen, ob es später regnen würde. Bevor die ersten Wolken aufzogen, hatte ich meine Spielsachen längst ins Haus gebracht.“ - 93 -
Auf dem Weg zur Gartenlaube hatte Sarah geschwiegen. Drinnen zog Nicholas sie neben sich auf eine, der gepolsterten Bänke. Diesmal zuckte sie nicht vor ihm zurück. Nach einer Weile nahm sie die Erzählung wieder auf. „Ich weiß noch, wie meine Mutter mich beim Einsammeln der Spielsachen beobachtet hat. Sie hat keine Fragen gestellt, nur die Wäsche von der Leine genommen. So als ob das etwas völlig Natürliches sei. Heute ist mir klar, daß meine Eltern Bescheid wußten. Sie wollten einfach, daß ich wie ein ganz normales kleines Mädchen aufwuchs. Wenn ich gewußt hätte, daß ich anders bin, hätte ich ihren Tod vielleicht verhindern können.“ Sie starrte eine Weile vor sich, dann brach sie in Tränen aus. Nicholas strich ihr zärtlich mit den Fingerspitzen über die feuchten Wangen. Er hätte sie gern an sich gezogen, sie festgehalten und getröstet. „Sarah, bitte... nicht weinen.“ „Laß nur, Nicholas. Das ist schon in Ordnung. Irgendwann mußte ich dir das ja erzählen. Ich besaß immer schon übernatürliche Kräfte. Meine Eltern nicht. Als sie an jenem Abend wegfuhren, war mir klar, daß sie nicht zurückkommen würden. Wenn ich etwas gesagt hätte, wären sie eventuell zu Hause geblieben. So stand ich nur an der Haustür und wußte, daß ich ab sofort allein war. Deshalb fühle ich mich an ihrem Tod mitschuldig. Ich habe es vorausgesehen und sie nicht gewarnt.“ „Mein Gott, Sarah, du warst erst acht. Wie bist du in der Nacht darauf mit deinen Ängsten fertig geworden?“ „Tante Cinda kam.“ „Ist das die alte Dame, die nicht umziehen will?“ „Richtig. Anscheinend liegt die Begabung in der Familie. Tante Cinda hat nichts vorausgeahnt, aber sie hat gespürt, daß ich in Schwierigkeiten war.“ Sarah holte tief Luft und fuhr fort: „Sie hat sich sofort auf den Weg gemacht, damit ich in dieser schrecklichen Nacht nicht allein war. Dann hat sie mich unter ihre Fittiche genommen. Die Familie hat mir die Eltern ersetzt, mich beschützt und umsorgt, und so ging das Leben weiter. Mit Tante Cindas Hilfe lernte ich allmählich, mit meinen Fähigkeiten umzugehen. Jedenfalls solange ich hier wohnte. - 94 -
Später merkte ich bald, daß ich eine Außenseiterin bin.“ Als er merkte, wie weh ihr diese Bemerkung tat, konnte er nicht mehr widerstehen. Er nahm sie in die Arme und streichelte ihr den Rücken. „Was hat dich so verletzt, Sarah?“ Die liebevolle Zuwendung tat ihr so gut, daß sie sich erleichtert an Nicholas Brust sinken ließ. „Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam“, erzählte sie mit angespannter Stimme. „Daher machte ich keinen Hehl. aus meinen Fähigkeiten. Mir war einfach nicht klar, wie unheimlich ich dadurch auf andere Menschen wirkte.“ „Hatte deine Tante dich nicht davor gewarnt?“ Ihre Augen waren dunkel wie die eines Kindes, das einen soeben überstandenen Alptraum erzählt. „Nein. Sie hat es nicht gewußt, denn sie hat nie woanders gelebt. Hier gelten wir einfach als Menschen, die ein bißchen anders sind. Dadurch entsteht ein gewisser Abstand zu Leuten, die nicht zum engeren Kreis der Familie gehören. Aber man erkennt uns an, glaubt uns und schirmt uns sogar ab. Die restliche Welt hat mich dagegen als Monster behandelt.“ „Was ist geschehen?“ fragte Nicholas ruhig. Sarah sah zu ihm auf. „Als ich noch studierte, stürzte in den Bergen nahe der Universität ein Privatflugzeug mit Regierungsvertretern ab. Plötzlich tauchten überall Leute von Presse, Funk und Fernsehen auf.“ Er konnte sich denken, wie es weiterging. „Du wurdest in die Sache hineingezogen, und alles kam heraus.“ „Ja. Ich wußte, wo sich das Unglück ereignet hatte. Um mich nicht zu verraten, sagte ich nur, wo es passiert sein könnte. Aber niemand hörte auf mich. Sie suchten den falschen Berg ab. Also mußte ich was unternehmen. Ich überredete ein paar Freunde zu einer Wanderung, und dabei stießen wir wie zufällig auf das verunglückte Flugzeug. Der Pilot war tot, aber die anderen lebten. Wir hatten sie gerade noch rechtzeitig gefunden.“ „Das hat vermutlich Aufsehen erregt.“ „Und wie. Aber das war noch nicht alles. Irgend jemand erinnerte sich an die Gerüchte, die man sich über mich erzählte. Und daraufhin fiel den Leuten vom Suchtrupp natürlich ein, daß ich ihnen, Tips - 95 -
gegeben hatte.“ Sie erschauerte. „Es war einfach grauenhaft.“ Nicholas musterte sie voller Mitleid. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie damals gewesen war. Jung, unsicher, verwirrt und von allen Seiten bedrängt. Was sollte er tun? Obwohl die Beweise fehlten, war er überzeugt, daß Sarah die. Wahrheit sagte. Sie besaß übernatürliche Kräfte. Er hatte die Möglichkeit zwar stets in Betracht gezogen, aber nie wirklich daran geglaubt. Jetzt waren alle Zweifel beseitigt, und er wußte nicht, wie er reagieren sollte. Zu alledem kam das voreilige Angebot an Jack, seinen Agenten, der natürlich eine Story von ihm erwartete. Was sollte er ihm sagen? Und was noch wichtiger war: Wie sollte er das alles Sarah erklären? „Das muß wirklich furchtbar gewesen sein“, sagte Nicholas nach langem Schweigen. „Ich wünschte, ich könnte dich über diese Erfahrung hinwegtrösten, aber das geht nicht. So kann ich dir nur versichern, wie leid mir das alles für dich tut.“ Sarah nickte. „Ich hab's überlebt, wenn auch mehr schlecht als recht. Das laufende Semester habe ich noch abgeschlossen, dann bin ich nach Hause gefahren und habe mich an der Uni von Fayetteville eingeschrieben.“ „Hast du dich da wohler gefühlt?“ „O ja, ich habe dort viel gelernt. Außerdem hatte ich es nicht so weit nach Hause. Dazu kam, daß Sheriff Bascomb in Fayetteville ein paar Leute kennt. Dadurch hatte ich immer jemanden, mit dem ich reden konnte, wenn ich Probleme hatte.“ Sie stand auf und trat an eins der Fenster. „Ich habe noch öfter schlechte Erfahrungen gemacht, Nicholas. Manche waren schrecklich, andere nur enttäuschend. Das Gerede ist dabei für mich noch nicht einmal das Schlimmste.“ „Erzähl weiter, Sarah bat er. „Vielleicht kann ich dir ja helfen. „Mir kann niemand helfen, das ist ja das Problem. Mit der Zeit ist mir klargeworden, daß mich niemand versteht. Manche behaupten zwar, daß sie es täten. Aber dann passiert irgend etwas Unerwartetes, und er... Sie ziehen sich zurück, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Deshalb fühle ich mich oft so allein.“ - 96 -
Plötzlich haßte Nicholas alle Menschen, die ihr je weh getan hatten. Er trat hinter Sarah. „Stell mich auf die Probe“, bat er leise. „Gib mir eine Chance. Sie fragte sich, ob sie das wirklich wagen sollte. Würde sie es aushalten, wenn er sie dabei auf ganz bestimmte Weise musterte? Sie schloß die Augen und nahm sich vor, daß sie nicht darauf achten würde. Obwohl sie noch immer ängstlich war, erklärte sie mit fester Stimme: „Ich erzähle dir ein Beispiel. Kurz bevor ich St. Louis verließ, wurde ein kleiner Junge entführt.“ Nicholas hielt den Atem an. Hätte er Sarah doch nicht dazu aufgefordert. Gerade hatte er sich noch erfolgreich eingeredet, daß Gerüchte und mögliche Zufälle nicht reichten, um einen Artikel zu schreiben. Nun berichtete sie von dem Fall, den er bereits kannte und der auf nachweisbaren Tatsachen beruhte. „Der Kleine war verletzt, allein und hatte Angst. Aus irgendeinem Grund konnte ich eine Zeitlang so deutlich in ihm lesen, als ob wir eins wären. Ich fühlte seinen Schmerz und die Furcht, aber ich hatte keine Ahnung, wo er war. Ich wußte nur, was er auch wußte. Doch dann sah ich plötzlich, was geschähe, wenn ihm nicht sehr bald geholfen würde.“ Als sich Sarah umdrehte, legte er beschützend die Arme um sie. „Kannst du dir vorstellen, wie mir zumute war, Nicholas? Seine Angst zu spüren war schlimm genug. Aber zu wissen, was ihm zustoßen würde, wenn ich ihm nicht half? Wenn ich seinen Aufenthaltsort nicht rechtzeitig bestimmen konnte?“ Er sah ihr an, was sie empfunden haben mußte, und zog sie noch enger an sich. Sie schien es nicht zu merken. „Zum Glück ging diese Geschichte gut aus. Ich habe jemanden angerufen, der Junge wurde gerettet. Was dabei in mir vorging, kann niemand nachvollziehen. Das kann ich auch nicht vermitteln. Außerdem gibt es Fehlschläge, die alles noch schlimmer machen. Die Schuld quält mich. Ich bin ihr hilflos ausgeliefert. Warum fühle ich Dinge, an denen ich nichts ändern kann? Das will ich nicht. Aber ich kann nichts dagegen tun.“ Nicholas suchte sekundenlang nach Worten. „Du irrst“, meinte er schließlich. „Zumindest teilweise. Ich weiß zwar nicht, was der - 97 -
Junge gefühlt und welches Schicksal ihn erwartet hat. Aber das Grauen kann ich sehr wohl nachempfinden.“ Er legte ihr die Hände auf die Schultern, trat etwas zurück und sah ihr in die Augen. „Menschen, die einander kennen und mögen, teilen solche Gefühle andauernd miteinander. Du mußt sie manchmal mit Fremden teilen. Trotzdem ist der Unterschied nicht so groß.“ Sarahs zweifelnder Blick zeigte ihm, daß sie das weder glaubte noch verstand, was er meinte. Er drückte sie wieder an sich und versuchte erneut, es zu erklären. „Wenn jemand etwas Trauriges erlebt, tut mir das leid. Das geht den meisten so. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß man davon hört oder liest, ohne etwas dabei zu empfinden. Du kannst sogar manchmal versuchen zu helfen. Gelingt dir das nicht, ist das nicht deine Schuld. Aber im Gegensatz zu einem normalen Menschen hast du immerhin die Chance.“ „Mir ist klar, daß ich mein Mitleid nicht mit deinen Empfindungen vergleichen kann“, fügte Nicholas, mit fester Stimme hinzu. „Aber eine Ähnlichkeit ist vorhanden. Der Unterschied besteht wahrscheinlich darin, daß du die Gefühle anderer deutlicher spürst, weil du besonders sensibel bist. Aber auch hier gilt, daß geteiltes Leid halbes Leid ist.“ Bevor sie ihn unterbrechen konnte, fuhr er fort: „Stößt jemandem etwas zu, den ich kenne oder mag, wächst mein Mitgefühl. Falls sich Jimmy Joe den Arm bräche, täte mir das nicht genauso weh wie ihm, aber ich könnte es nachempfinden. Bei der Erzählung vom Tod deiner Eltern hat sich mir die Kehle zugeschnürt, Sarah, und tief in mir war ein dumpfer Schmerz. Wenn man diese Art Leid teilt, läßt es sich leichter ertragen.“ Die Zuneigung in Nicholas Stimme ließ Sarah erschauern. Unwillkürlich dachte sie an das letzte Mal, als er sie so in den Armen gehalten hatte. Sie erinnerte sich an ein Gefühl grenzenloser Nähe, obwohl ihr Geheimnis noch zwischen ihnen gestanden hatte. Er sah, daß ihr Gesicht tränenüberströmt war, und suchte ihren Blick. Plötzlich war ihm, als könne er ihr bis auf den Grund der Seele schauen. Oder war es umgekehrt? Nein, dachte er. Das geht nicht. - 98 -
Mehr darf ich nicht annehmen, ohne Sarah die Wahrheit zu sagen. Doch sein Wille war nicht stark genug, um die Sehnsucht zu unterdrücken. Als er ihr die Tränen von den Wangen tupfte, seufzte Sarah leise auf. Sie hob. den Kopf, lächelte ihn an und fuhr ihm zärtlich mit dem Zeigefinger über den Mund. Nicholas knabberte spielerisch an ihrem Finger, hielt ihre Hand fest und küßte sie auf die empfindsame Innenfläche. Ohne darüber nachzudenken, schmiegte sie, sich an ihn und gab sich den berauschenden Gefühlen des Verlangens und der Vorfreude hin, die sie bisher stets unterdrückt hatte. Sie verkreuzte die Hände hinter seinem Nacken, stellte sich auf die Zehenspitzen und strich ihm mit den Lippen über den Mund! Nicholas erbebte unter der zarten Berührung. Als Sarah mit der verführerischen Liebkosung fortfuhr, beschwor er sich ein letztes Mal, vernünftig zu bleiben. „Sarah“, protestierte er, aber es klang wie ein Flehen. „Bist du dir darüber im Klaren, was du mit mir anstellst?“ „Ich weiß“, flüsterte sie, ohne ihre Bemühungen zu unterbrechen. Schließlich küßte sie ihn auf's Kinn, dann bot sie ihm den Mund zum Kuß. Nicholas preßte sie an sich und ließ seine Zunge zwischen ihre geöffneten Lippen gleiten. Sie streichelte ihm Schultern und Nacken und zupfte mit den Fingern an seinen Ohrläppchen. Die Süße ihrer Zärtlichkeiten nahm ihm den Atem, und er stöhnte halblaut auf. Der zuerst noch zurückhaltend forschende Kuß entwickelte sich rasch zu einem leidenschaftlichen Geben und Nehmen. Sarah war erstaunt, wie sanft Nicholas sie streichelte, obwohl sie deutlich merkte, wie sehr er sie begehrte. Sein Körper war wie ein Bogen gespannt und ließ die volle Kraft seiner Männlichkeit spüren. Sarah bog sich ihm noch mehr entgegen. Sie wußte nicht, ob er sie anschließend auf den Boden gebettet oder sie ihn mit sich heruntergezogen hatte. Irgendwann lagen sie jedenfalls nebeneinander auf den Kissen, die normalerweise auf die Polsterbänke gehörten. Er zog sie an sich und vertrieb mit seiner Nähe die innere Leere, die im Laufe der Zeit zu einem Bestandteil ihres Lebens geworden war. „Sarah“, raunte er ihr ins Ohr, während er ihr zärtlich das Haar aus - 99 -
der Stirn strich. Als er sah, daß sie ihm die Lippen zum Kuß bot, flüsterte er noch einmal ihren Namen, dann beugte er sich über sie. „Ich möchte dir gehören, Nicholas“, sagte sie kaum hörbar. Sie meinte nicht nur die Befriedigung des körperlichen Verlangens, das er in ihr hervorgerufen hatte. Sie weigerte sich jedoch, darüber nachzudenken, daß er die Bitte anders auffassen mochte als sie. Sein Kuß wurde leidenschaftlicher, die Begierde immer deutlicher. Er streichelte Sarah unaufhörlich, und seine Berührung steigerte ihre Vorfreude auf ein noch sinnlicheres Vergnügen bis ins unendliche. Sarah glaubte, unter seinen Zärtlichkeiten dahinzuschmelzen, und reagierte bereitwillig auf jeden Beweis männlicher Lust. Von draußen strömte der Duft wilden Geißblatts in die Laube und verstärkte Nicholas leidenschaftliche Gefühle, bis er darin zu versinken drohte. Die Welt um ihn herum schien sich aufzulösen, und die Wirklichkeit beschränkte sich auf das, was Sarah ihm wortlos mitteilte. Sie machte sich ihm verständlich durch die Liebkosungen ihrer Hände, durch die wohlklingende Musik in ihrer Stimme und die Magie, die in ihren Blicken lag. Mit vor Erregung bebenden Fingern knöpfte sie ihm das Shirt auf und tastete mit den Fingerspitzen über seine nackte Haut. Nicholas hielt sie an den Handgelenken fest und holte tief Luft. Es war ein letzter Versuch, doch noch zur Vernunft zu kommen. Aber als Sarah klar wurde, daß er sich zurückziehen wollte, protestierte sie energisch und grub ihm die Finger in die Schultern. Sie zeigte ihm eindringlich, daß sie gehalten und liebkost werden wollte, und zwar von ihm. Damit lösten sich seine Bedenken endgültig in Nichts auf. „O Sarah“, sagte Nicholas heiser. Er öffnete die restlichen Hemdknöpfe und bat: „Streichel mich.“ Sie strich ihm mit den Fingern über die Brust und umkreiste eine Zeitlang die harten Spitzen, bis er lustvoll aufstöhnte. Kurz darauf zog er sie aus und zahlte ihr die soeben erlittene süße Qual mit gleicher Münze heim. Anschließend musterte er sie eine Zeitlang schweigend, ohne sie zu berühren. „Nicholas?“ flüsterte sie. Sie war unsicher, wie sie ihre Frage formulieren sollte, aber sie wußte, daß er der einzige war, der sie - 100 -
beantworten konnte. „Keine Angst, Sarah, ich werde dir nicht weh tun. Sie begann sich unter seinen Blicken zu winden, bis er sich wieder über sie beugte. Er streichelte ihren Busen und konzentrierte sich dann auf die zarten Knospen, die sofort hart und dunkel wurden. Er küßte sie erst auf die eine, dann auf die andere Brust und tupfte ihr mit der Zunge kleine feuchte Male auf die Haut. Endlich umschloß er die Spitze einer Brust mit den Lippen und sog spielerisch daran. Er hatte nicht aufgehört, sie zu streicheln, und näherte sich dabei immer mehr dem Zentrum ihrer Lust. Als er die geheimsten Regionen ihres Körpers erreichte, stöhnte sie laut auf. Er hob erschrocken den Kopf. „Sarah, hast du noch nie mit jemandem geschlafen?“ Sie wurde verlegen. „Doch, aber so noch nie. Tut mir leid, Nicholas.“ Das Wissen, daß seine Liebkosungen Sarah dermaßen erregten, ließ ihn alle Geduld vergessen. Er legte sich auf sie und drückte sie mit seinem Gewicht in die Kissen. Er fuhr ihr mit der Zunge über die Mundwinkel und preßte ihr die Lippen auf den Mund. Er tastete mit den Händen ihren Körper ab, genoß jede Rundung, jede Höhlung, das Gefühl der seidenweichen Haut unter seinen Fingerspitzen. Die Hitze in ihr wuchs, bis sie es nicht länger aushielt. Ihre Bewegungen wurden immer ruheloser, drängender, fordernder. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. „Ich habe von Anfang an gewußt, daß mehr zwischen uns ist“, stellte er mit belegter Stimme fest. „Viel, viel mehr als körperliche Anziehungskraft und Begierde.“ In dem Bewußtsein, ihm die gleiche Freude schenken zu können wie er ihr, liebkoste und provozierte sie ihn nach Herzenslust. Sie fuhr ihm mit den Fingern über das gekräuselte Haar auf der Brust und zeichnete die Linie nach, die es zum Bauchnabel hin bildete. Als sie schließlich anfing, sich ausgiebig der vor Erregung pulsierenden Männlichkeit zu widmen, schob er ihr endlich, die Beine auseinander und bettete sich zwischen ihre Schenkel. Er drang in sie ein, und sie nahm ihn willig in sich auf. Sie stellte sich auf seinen zögernden Rhythmus ein und trieb ihn mit einem - 101 -
verführerischen Kreisen der Hüften zu heftigeren Bewegungen an. Der nicht enden wollende Sturm der Leidenschaft löste immer neue Wellen der Erregung in ihnen aus. Endlich erreichten, sie gemeinsam den Höhepunkt, erlebten die höchste Erfüllung aller Sehnsüchte, die es je zwischen einem Mann und einer Frau gegeben hat. Erschöpft lagen sie nebeneinander und hielten sich an den Händen, als müßten sie sich vergewissern, daß dies kein Traum, sondern Wirklichkeit war. Sarah lächelte. Sie wußte nicht, wie es weitergehen würde, aber sie hatte etwas, woran sie sich immer erinnern konnte.
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9. KAPITEL Sarah nahm die letzten zwei goldbraun gebratenen Hähnchen aus der heißen Pfanne und legte sie auf eine vorgewärmte Platte. Sie breitete eine weiße Serviette darüber und stellte alles zu den anderen Sachen auf den Tisch. Wie jedes Jahr, veranstaltete die Familie am vierten Juli ein Gartenfest. Die dazu erforderliche Planung hätte jeden berufsmäßigen Ausrichter kalter Buffets abgeschreckt, aber die Angehörigen waren ein eingespieltes Team. Jeder kümmerte sich um einen bestimmten Bereich. So hatte Sarah schon als Kind gelernt, mit Buttermilch bestrichene Hähnchen zu braten, eine Spezialität ihrer Großmutter. Mit dem ersten Hahnenschrei hatten sie und Grandma heute morgen die Küche betreten. Inzwischen war es zehn Uhr. Als vor einer Stunde die ersten Autos in, den Hof fuhren, hatte sie die Großmutter überredet, hinauszugehen und die Gäste zu begrüßen, während Sarah die Hähnchen fertig briet. Sie zog die Schürze aus und trat auf die rückwärtige Veranda, um ein bißchen frische Luft zu schnappen. Sie betrachtete die aus Sägeböcken und Baumstümpfen hergestellten Tische und Stühle auf der großen Wiese. Nach dem Andrang am frühen Morgen zu urteilen, war das heutige Familientreffen eins der größten seit Jahren. In der Auffahrt reihte sich bereits ein Wagen an den anderen. Nicholas blauer Jeep war noch nicht darunter. Schmunzelnd dachte Sarah daran, wie er sie angesehen hatte, als sie ihn eingeladen und gleichzeitig gewarnt hatte. „Denk dir schon mal ein paar Antworten aus. Für meine Großtanten ist das vorhandene oder auch fehlende Liebesleben der jüngeren Generation nämlich eine Angelegenheit öffentlichen Interesses, und eine alleinstehende Person gilt als Freiwild.“ Unwillkürlich fiel ihr der gestrige Nachmittag in der Gartenlaube ein. Sarah bedauerte nichts, obwohl sie sich darüber im Klaren war, daß das zauberhafte Erlebnis für sie wichtiger war als für ihn. Nicholas hatte sich ungewöhnlich nachdenklich von ihr verabschiedet. - 103 -
Sarah überlegte bedrückt, ob er den Vorfall vielleicht bedauerte oder sich Vorwürfe machte. Seit Nicholas Rückkehr nach Mountain Springs hatte ihre Beziehung einem Schwelbrand geglichen. Sie hatte gewußt, daß sie diejenige war die bestimmte, ob die Flammen endgültig entfacht würden, und sie hatte sich bewußt dafür entschieden. Sie hatte ihn haben wollen, ihn gebraucht und gewußt, daß er genauso fühlte. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, je eine so starke Zusammengehörigkeit zu erleben. Hätte sie sich gar nicht erst darauf einlassen dürfen? Ihre Verwandten fanden es sicher falsch, jedenfalls die meisten. Und Tante Cinda? Das konnte sich Sarah nicht vorstellen. Sie und Tante Cinda waren auf die gleiche Art anders. Sarah war seit langem klar, daß sie nie eine Liebe erfahren würde wie die zwischen ihren Eltern oder Großeltern. Tante Cinda hatte zwar geheiratet und eine große Familie gegründet, aber die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann war nie so eng gewesen. Nein, Tante Cinda würde sie nicht verurteilen. Sarah hatte vorübergehend eine Bindung erfahren, die mehr war als körperliche Befriedigung. Tante Cinda würde verstehen, daß sie die Gelegenheit genutzt hatte, solange das möglich war. Sie hatte nicht vor, Luftschlösser zu bauen. Irgendwann würde Nicholas wieder abreisen. Sarah schwor sich, in dem Moment stark zu sein und ihn gehen zu lassen. Daran zu denken tat weh. Sie wandte sich ab und ging wieder hinein. Heute würde die Familie sie und Nicholas nicht aus den Augen lassen. Das war schade, denn dadurch würden sie keine Minute lang allein sein. Außerdem hatten sie Jimmy Joe versprochen, abends mit ihm nach Springdale zu fahren, um T. J. beim Rodeo zuzuschauen. An diesem Tag mußten sie sich also wieder wie gute Freunde benehmen. Alles andere mußte warten. Nicholas war so oft von Mountain Springs zum Farmhaus gefahren, daß er den Weg auswendig kannte. Obwohl er auf den Verkehr achtete, war er mit den Gedanken woanders. Wie konnte er zulassen, daß sie miteinander schliefen? Aber im - 104 -
Grunde war da nichts mehr zu erlauben oder verbieten gewesen. Sie hatten beide die Beherrschung verloren. Schließlich war er nicht Superman. Er träumte seit Wochen von ihr, doch die Träume waren nur ein schwacher Abglanz dessen, was sie zusammen erlebt hatten. Eine so deutliche körperliche und geistige Harmonie hatte er noch nie erfahren. Sarah hatte ihn mit ihren natürlichen rückhaltlosen Reaktionen auf seine Zärtlichkeiten völlig in ihren Bann gezogen. Das Liebesspiel hatte einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Er wußte nicht, wie es weitergehen würde. Ihm war nur klar, daß nie wieder etwas so sein konnte, wie es vorher war. Die Erinnerung an den merkwürdigen Abschied gestern bereitete ihm Unbehagen. Sarah hatte irgend etwas gesagt, das ihn störte. Danach war sie ihm vorausgeeilt, ohne daß er Gelegenheit gehabt hätte, etwas zu erwidern. Was hatte ihn beunruhigt? Sie hatte ihm erklären wollen, warum sie ihre Begabung geheimhielt. Vor lauter Anstrengung, sich zu erinnern, zog er die Stirn in Falten. Auf einmal fiel es ihm ein. Sie hatte Angst, aufgespürt, bekannt, bedroht und öffentlich lächerlich gemacht zu werden. Bedroht? Wie hatte sie das gemeint? Er wollte keine Vermutungen anstellen, sondern Sarah noch heute danach fragen. Die vielen Leute störten ihn nicht. Irgendwann würde sich schon eine Gelegenheit bieten. Er war sich nicht sicher, warum, aber er ahnte, daß die Antwort wichtig war. Obwohl Sarah gesagt hatte, daß ihre Familie sehr groß sei, war er überrascht, wie viele Autos in der Auffahrt parkten. Er stellte den Jeep hinter dem letzten Wagen ab. Kaum war er ausgestiegen, tauchte Jimmy Joe auf und redete auf ihn ein. Sarah hätte ihn gebeten, nach Nicholas Ausschau zu halten, sie würde beim Haus auf ihn warten, und ob Nicholas bitte sein Partner beim Wettrennen auf drei Beinen sein könne, erzählte er, ohne ein einziges Mal Atem zu holen. Obwohl sich Nicholas auf Jimmy Joe konzentrierte, bemerkte er die neugierigen Blicke der Leute, die ebenfalls die Auffahrt hinaufgingen. Bis jetzt hatte er angenommen, Sarahs engere Verwandtschaft zu kennen. Wenn das hier lauter Angehörige der - 105 -
Familie Lutteral waren, hatte er sich wohl geirrt. Nervös sah er sich um. Er hätte gern gewußt, ob ihn diese Menschen guthießen, aber es irritierte ihn, daß ihm das überhaupt wichtig war. Er versuchte, die freundlichen, aber wißbegierigen Blicke zu übersehen, und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Jimmy Joe. „Ich hätte nichts dagegen, dein Partner zu sein“, sagte er. „Aber ich weiß nicht, ob ich dir eine Hilfe bin. Das ist mein erstes Wettrennen dieser Art.“ „Es reicht, wenn du besser bist als Janie. Letztes Jahr hat sie so gekichert, daß wir hingefallen sind.“ „Sarah hat gekichert?“ Nicholas musterte Jimmy Joe ungläubig. Er hatte Sarah fröhlich, heiter, nachdenklich und ernst erlebt, aber gekichert hatte sie in seiner Anwesenheit nie. „Ehrlich“, beteuerte Jimmy Joe. „Sie hat sich geschüttelt vor Lachen, bis wir auf der Wiese lagen. Dabei waren wir vorher besser als T. J. und Sally.“ „Ich glaube dir, Partner. Aber ich habe Sarah noch nie so ausgelassen gesehen.“ „Na ja, das ist sie auch selten. Aber warum fängt sie damit ausgerechnet mitten im Wettkampf an?“ Nicholas lächelte. „Also gut, Jimmy Joe. Wenn du willst, mache ich mit und werde mein Bestes tun. Ich verspreche dir, daß ich auf jeden Fall versuchen werde, nicht zu kichern.“ „Dann paß auf, daß du nicht hinter Mabel und ihren Mann gerätst“, flüsterte Sarah ihm ins Ohr. Nicholas drehte sich um. Ihr Anblick raubte ihm den Atem. Sie war wunderschön, ihr Lächeln herzlich, in ihren blaugrünen Augen lag ein Ausdruck magischer Verheißung, ganz weit dahinter verborgen allerdings auch der Schatten einer leisen Unruhe. Nicholas konnte weder den Blick abwenden, noch wußte er, ob er seiner Stimme trauen durfte. Die Luft zwischen ihnen schien zu knistern. „Du hast gesagt, ich soll ihn holen, Janie“, erklärte Jimmy Joe und brach damit den Bann. „Da ist er. Er hat mir sogar versprochen, beim Wettrennen mitzumachen.“ Verlegen fügte er hinzu: „Du bist doch einverstanden, Janie, oder? Ich hatte mir überlegt, daß du dieses Jahr - 106 -
sicher nicht mitmachen willst.“ Sarah lachte. „Das hast du richtig gemacht, Jimmy Joe. Dann kann ich euch wenigstens ordentlich anfeuern.“ Der Junge grinste erleichtert. „Tante Cinda hat übrigens gemeint, du solltest mal zu ihr kommen. Sie sitzt unter der großen Eiche. Ich gehe jetzt mit Bobby Wade Hufeisen werfen, wenn's dir recht ist. Oder brauchst. du mich noch?“ „Erst zum Lunch, vorher nicht. Lauf und amüsier dich solange.“ Sie beobachtete Jimmy Joe, bis er im Haus verschwunden war. Dann wandte sie sich langsam um. „Guten Morgen, Sarah“, grüßte Nicholas. „Guten Morgen, Nicholas“, erwiderte sie, und ein rosa Hauch überzog ihre Wangen. „Wie geht es dir? „Ich habe alles heil überstanden. Die Sache ist es wert.“ Sie sah sich erschrocken um. „Hat jemand...“ Nicholas schmunzelte. „Bis jetzt noch nicht, aber ich sehe ihnen die unausgesprochenen Fragen an.“ Er zwang sich, ruhig zu bleiben und den Abstand zu ihr einzuhalten. Zwei winzige Schritte, und er hätte sie an sich ziehen können. Sie musterte ihn verständnisvoll. „Normalerweise kommen keine Außenstehenden zum Picknick. Fast alle sind miteinander verwandt, verheiratet oder verlobt. Cousine Sue hat mal einen Freund mitgebracht. Sie mochte ihn nicht besonders, aber die ewige Bettelei um ein Rendezvous ging ihr auf die Nerven. Da hat sie ihn kurzerhand hierher eingeladen.“ Der arme Kerl hatte Nicholas Mitgefühl. „Hat es gewirkt?“ Sarah nickte. „Er hat sie nie wieder behelligt.“ „Hast du mich aus dem gleichen Grund hergebeten?“ Sie war schockiert. „Natürlich nicht. Ich hatte dich doch gewarnt.“ „Stimmt.“ Er trat neben sie und ließ beiläufig den Arm um ihre Taille gleiten. „Und ich habe es ernst gemeint. Die Sache ist es wert.“ Sarah war offensichtlich überrascht und zögerte, zog sich jedoch nicht zurück. „Na, ich weiß nicht, Nicholas. Die Party fängt gerade erst an. Jetzt muß ich dich erst mal mit Tante Cinda bekannt - 107 -
machen.“ „Ist sie tatsächlich von ihrem Berg herabgestiegen?“ „Ja, sie nimmt seit Jahren zum ersten Mal wieder am Picknick teil. Ich habe keine Ahnung, warum.“ „Du scherzt. Sie will mich kennenlernen.“ Er strich ihr beschwichtigend über den Arm. „Mach dir keine Sorgen. Man hat mir versichert, daß ich im Umgang mit reizenden alten Damen sehr geschickt sei.“ „Denk bloß nicht, daß Tante Cinda das ist, was du dir unter einer reizenden alten Dame vorstellst“, warnte Sarah. „Nein. Ich erwarte eine weise, etwas betagte Lady, die dich liebt. Warum sollte ich sie also nicht mögen? Komm, gehen wir zu ihr.“ Sie schlenderten durch den Garten zu der alten Eiche. Als Nicholas Tante Cinda entdeckte, erinnerte sie ihn an die Puppen aus getrockneten Äpfeln, die in den Souvenirläden dieser Gegend zuhauf angeboten wurden. Sie war noch kleiner als Sarah, machte einen beinahe zerbrechlichen Eindruck und saß betont aufrecht auf einem Gartenstuhl im Schatten der riesigen Krone. Ihr von weißer Spitze gesäumtes Kleid aus pastellfarbenem Batist war hochgeschlossen und hatte lange Ärmel. Trotzdem schien ihr darin nicht zu warm zu werden. Unter der altmodischen Spitzenhaube schauten ein paar weiße Locken hervor. Ein paar Leute hatten sich um sie versammelt und unterhielten sich mit ihr. Doch sobald Sarah und Nicholas näher kamen, verstummte das Gespräch, und alle sahen den beiden entgegen. Nicholas hatte das Gefühl, die alte Dame schaute ihm direkt bis auf den Grund der Seele, und es dauerte eine Weile, bis er merkte, daß sie im herkömmlichen Sinn fast blind war. Kein Wunder, daß die Familie sie dazu bewegen wollte, ins Tal zu ziehen. Wenn ihr etwas zustieße, wäre sie in der Einsamkeit der Berge so hilflos wie ein verwundeter Vogel. Sarah bahnte sich mit Nicholas einen Weg durch die Umstehenden und blieb vor Tante Cinda stehen. „Tante Cinda, ich möchte dir meinen Freund Nicholas Matthias vorstellen. Nicholas, das ist meine Großtante, Mrs. Cinda Shields.“ „Guten Tag, Mrs. Shields. Ich freue mich sehr, Sie - 108 -
kennenzulernen“, grüßte Nicholas förmlich. „Du kannst ruhig Tante Cinda zu mir sagen“, meinte sie und streckte ihm die Hand entgegen; „Ich werde dich Nicholas nennen.“ Ihre Stimme klang erstaunlich energisch und lebhaft. Nicholas zögerte. Er wußte, daß die Frauen ihrer Generation die in der Geschäftswelt unter Fremden übliche Geste des Händeschüttelns nicht übernommnen hatten. Doch dann schlug er lächelnd ein. Als sie sein Lächeln erwiderte, atmete er erleichtert auf. „Würdest du mir bitte ein Glas Limonade holen, Sarah?“ bat Tante Cinda. „Nicholas wird mir solange Gesellschaft leisten. Erst jetzt stellte Sarah fest, daß die anderen um sie herum verschwunden waren. Als sie Nicholas unsicher ansah, nickte er ihr beschwichtigend zu. „Ich bin gleich wieder da“, versicherte sie und ließ die beiden allein. „Setz dich, mein Junge“, forderte ihn Tante Cinda auf. Nicholas ließ sich vor ihr ins Gras sinken. Da sie keine Anstalten machte, die Hand zurückzuziehen, hielt er sie weiterumfangen. „Ich freue mich wirklich, Sie kennenzulernen. Sarah hat mir viel von Ihnen erzählt.“ „Tante Cinda und du, bitte.“ Sie machte eine Pause, dann lächelte sie wissend. „So, so, sie hat dir also von mir erzählt. Dadurch sparen wir vermutlich eine Menge Zeit. Und was halten Sie von meiner Großnichte?“ Er spürte, daß sie aus seinen Worten Bedeutungen herauslas, die er nicht ausgesprochen und auch nicht beabsichtigt hatte, obwohl sie zutrafen. Er sah die alte Frau bewundernd an. Ob sie ihre Unterhaltungen immer auf zwei Ebenen führte? Es würde schwierig, ja, fast unmöglich sein, ihr etwas vorzumachen. „Sarah ist ein ganz besonderer Mensch“, erklärte er. Tante Cinda hatte so lange geschwiegen, daß Nicholas schon fürchtete, die Unterhaltung sei beendet. Doch dann nickte sie unmerklich. „Was ist mit dir, Nicholas Matthias, hast du gefunden, was du gesucht hast?“ - 109 -
„Ja erwiderte er zögernd. „Jedenfalls glaube ich das.“ „Das klingt nicht sehr überzeugt. Diesmal klang seine Stimme klar und., fest. „Doch, ich bin mir sicher, Tante Cinda, aber es überrascht mich immer noch. Ich habe nämlich lange nicht gewußt, wonach ich suchte. Trotzdem habe ich genau das gefunden, was ich haben wollte. Vielleicht ist das Zufall oder auch Schicksal.“ Nicholas hatte diese Gedanken noch nie in Worte gefaßt und war verblüfft, wie klar ihm die Situation dadurch wurde. Tante Cinda nickte unmerklich. „Was wirst du jetzt, machen, nachdem du es gefunden hast?“ „Ich weiß es noch nicht, Tante Cinda“, gab er zögernd zu. „Für mich ist das alles sehr neu. Mir ist nur eins klar. Ich möchte das, was ich habe, nicht wieder verlieren.“ Die letzten Worte waren eine Herausforderung. Aber anstatt darauf einzugehen, wandte sich Tante Cinda an Sarah. Nicholas hatte nicht einmal bemerkt, daß sie sich genähert hatte. „Da bist du ja wieder, mein Kind. Du hättest dich nicht zu beeilen brauchen. Nicholas ist ein unterhaltsamer Gesprächspartner. Wir kommen gut miteinander zurecht.“ Sarah sah fragend von ihrer Großtante zu Nicholas. Sein ebenso zärtlicher wie belustigter Blick beruhigte sie. „Setz dich, Sarah. Der junge Mann hier ist groß genug. Er kann auf sich selbst aufpassen, auch bei einem alten Scheusal, wie mir“, belehrte Tante Cinda sie streng. „Außerdem hatte ich nicht vor, ihn zu fressen.“ Sarah nahm so nahe neben Nicholas Platz, daß sie bloß die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren. „Du bist eine alte Schwindlerin“, erklärte Nicholas. Er wußte, daß Tante Cinda ihn schon verstehen würde. „Denn unter deiner harten Schale steckt ein ganz weicher Kern.“ Er drückte ihr liebevoll die schmalen Finger. Tante Cindas herzliches Lachen klang durch die Sommerluft. „Dein junger Mann hat nichts von mir zu befürchten“, sagte sie zu Sarah. „Wir verstehen uns. „Er ist nicht mein... mein...“ Die Großtante ließ sie nicht ausreden. - 110 -
„Dann bist du dümmer, als ich dachte.“ Sarahs Blick war hilflos, aber Nicholas zwinkerte ihr lächelnd zu. „Wo sind eigentlich die anderen?“ fragte Tante Cinda plötzlich. „Nach all dem Theater, um mich herzulocken, sollte man annehmen, daß sie mir wenigstens etwas Gesellschaft leisten.“ „Sie sind aus Angst vor einem Blutbad geflohen“, mischte sich T. J. ein. Er hatte sich zu der kleinen Gruppe gesellt und Tante Cindas letzte Bemerkung gehört. Nun beugte er sich vor und küßte seine Großmutter auf die Wange. „Guten Morgen, Großmutter. Hast du Nicholas etwa noch nicht den Kopf abgerissen?“ „Wirst du wohl still sein, Timothy James. Wenn du so weitermachst, ergreift er am Ende vor mir die Flucht.“ T. J. lachte „Glaub. mir, Großmutter, ich bin nicht der richtige Mann, um Nicholas zu vertreiben, solange er nicht gehen will.“ Er wandte sich an Nicholas und lächelte ihn an. „Du hast also vor, es mit der ganzen Familie auf einmal aufzunehmen. Wie ist es dir dabei ergangen?“ „Gut. Nicholas erwiderte T. J.'s Lächeln. „Bis jetzt habe ich jedenfalls überlebt. Wie das nach dem Wettrennen auf drei Beinen aussieht, weiß ich allerdings auch nicht.“ T. J. wechselte das Thema. „Schön, daß du endlich mal hier bist, Großmutter. Jetzt mußt du doch zugeben, daß das Tal gar nicht so übel ist. Willst du nicht umziehen, damit sich Sarah endlich keine Sorgen mehr machen muß?“ „Halt dich da raus, Timothy James“, empörte sich Tante Cinda. „Du hast mir nichts zu sagen.“ „Das habe ich auch nicht vor. Aber wenn der Winter kommt, kannst du nicht da oben wohnen bleiben. Die Familie hat Sarah gebeten, sich darum zu kümmern, und die weiß vor Angst um dich bald nicht mehr aus noch ein.“ Seine Stimme wurde weich. „Du hast mir mal beigebracht, daß man nicht immer genau das bekommen kann, was man haben möchte. Gib nach, Großmutter. Wir wollen doch nur dein Bestes.“ Tante Cindas ärgerliche Miene war milde geworden. „Bevor der erste Schnee fällt, werde ich den Berg verlassen. Also hört auf, euch den Kopf zu zerbrechen. Alles wird gut werden.“ - 111 -
„Ach, wie ich mich freue, Tante Cinda“, sagte Sarah erleichtert. „Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Onkel Hiram will dir ein besonders hübsches großes Zimmer...“ „Bei meinem Sohne, werde ich keinesfalls wohnen. Ich habe ihn schon einmal erzogen. Das ist genug.“ Nicholas lächelte in sich hinein, als er sah, wie entschlossen die alte Dame das Kinn vorschob. „Und damit ihrs gleich wißt, zu meiner Schwester ziehe ich genausowenig. Es reicht, daß, wir zusammen aufgewachsen sind.“ „Aber Tante Cinda“ wollte Sarah protestieren. Die Großtante ließ sie wieder nicht ausreden. „Ich werde mir ein kleines Haus mieten, und ich weiß auch schon, welches.“ Verträumt fuhr sie fort: „Es ist nach Osten hin ausgerichtet, so daß morgens die Sonne in die Zimmer scheint. Die Veranda erstreckt sich über die gesamte Vorderfront, und die Eingangstür ist hellrot gestrichen. Es ist überhaupt sehr modern. Nichts mehr mit Eimer und Pfad und so. Kurz es gefällt mir und ich werde mich wohl fühlen. Obwohl es im Tal steht.“ Sarah und T. J. tauschten einen besorgten Blick. „Wo, genau, Großmutter?“ erkundigte sich T. J. „Hör endlich auf, Timothy James. Ich habe euch das erzählt, damit ihr euch keine Gedanken mehr macht. Im übrigen kann ich sehr gut allein für mich sorgen. Wenn ich das Haus brauche, wird es dasein. So, und, jetzt sprecht über was anderes. Da kommt eure Cousine mit dem spindeldürren Ehemann. Ich will nicht, daß sich das halbe Tal um meine Angelegenheiten kümmert.“ Nicholas drehte sich nach den Neuankömmlingen um. Die Frau war groß und sehr stattlich, der Mann kleiner und auffallend hager. Hastig ließ Nicholas Tante Cindas Hand los und holte Gartenstühle. Als Tante Cinda ihn mit den beiden bekannt machte, wurde ihm klar, warum Sarah, ihn so amüsiert beobachtete. Die Vorstellung, daß sich dieses äußerlich so ungleiche Paar an zwei Beinen zusammenbinden ließ, um dann an einem Wettlauf teilzunehmen, war wirklich zu komisch. „Mabel, das ist mein Freund, Nicholas Matthias“, erklärte Tante - 112 -
Cinda in einem Ton, der klar erkennen ließ, daß sie Nicholas schätzte. „Nicholas, das sind Mabel und ihr Mann Harris. Mach es dir bequem, Mabel.“ Mabel musterte Nicholas neugierig, aber Tante Cindas Worte hatten jede weiterführende Frage unmöglich gemacht. Sie nahm seine Anwesenheit daher zur Kenntnis und wandte sich an T. J. „Willst du dir das Caldwell-Grundstück wirklich entgehen lassen?“ Als sich Sarahs Miene verdüsterte, beugte sich Nicholas zu ihr hinüber und flüsterte: „Das mit dem Wasserfall?“ Sie nickte. T. J. hob ratlos die Schultern. „Mir wird nichts anderes übrigbleiben, Mabel. Ich habe vergebens versucht, es noch mal zu mieten. Sie wollen unbedingt verkaufen. Das erste Angebot wurde abgelehnt, aber sobald mehr geboten wird, ist es weg.“ „Dein Urgroßvater hat einen Fehler gemacht“, sagte Mabel zu Sarah. „Das Land hätte in der Familie bleiben müssen.“ Zum Glück mischte sich Tante Cinda ein, und Sarah blieb die Antwort erspart. „Erstens ist das lange her, und zweitens war der Tausch damals nicht schlecht, Mabel.“ Sie sah Nicholas an. „Geht und amüsiert euch ein bißchen. Mabel und ich müssen noch ein paar Leute begrüßen.“ Die drei verabschiedeten sich und wandten sich ab. Nach wenigen Schritten rief Tante Cinda ihnen nach: „Nicholas, paß gut auf Sarah Jane auf, hörst du?“ Ihm war, als striche ihm ein kühler Hauch über den Nacken. Er drehte sich um. Täuschte er sich, oder lag ein Schatten über Tante Cindas Gesicht? Das ist nur die Spitzenhaube, redete er sich ein. Aber obwohl er versprach, sein Bestes zu tun, hinterließ Tante Cindas Bemerkung ein ungutes Gefühl. Am Farmhaus sagte Sarah: „Ich muß jetzt in der Küche helfen. Kommt ihr ohne mich zurecht?“ „Na klar“, meinte T. J. „Ich, werde mich solange um Nicholas kümmern.“ Sarah sah Nicholas an. „T. J. kann dir alles zeigen. Bis nachher.“ Sie lächelte und ging davon, bevor er etwas einwenden konnte. „Na, Nicholas, wie wär's mit Hufeisenwerfen?“ fragte T. J. - 113 -
In Gedanken war Nicholas noch bei Tante Cindas Abschiedsworten. Er erwiderte abwesend: „Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht“, und starrte dabei auf die Tür, durch die Sarah verschwunden war. „Sie kommt gleich wieder“, beteuerte T. J. Er legte Nicholas eine Hand auf die Schulter und schlenderte mit ihm um das Haus herum. „Bis dahin kannst du dich ja wieder in Hufeisenwerfen üben. In dieser Gegend fangen die Jungen damit an, sobald sie groß genug sind, um eins aufzuheben.“ Nicholas fand sich mit den Gegebenheiten ab und folgte T. J. zu einem seitlich neben dem Haus aufgebauten Stand. Hab Geduld, ermahnte er sich. Du wirst die Fragen eben später stellen müssen, die dich auf der Fahrt hierher beschäftigt haben. Irgendwann wird sich heute bestimmt eine Gelegenheit bieten, um ein paar Minuten mit Sarah allein zu sein. Das hoffte er jedenfalls.
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10. KAPITEL Die Rodeo-Arena war hell erleuchtet, daß die Zuschauer nicht merkten, wie die Dunkelheit allmählich das letzte Dämmerlicht verschluckte. Für Nicholas hatte der Tag aus einer endlosen Folge von Mahlzeiten und fremden Gesichtern bestanden. Trotzdem war es ein Erfolg gewesen. Bei dem Wettrennen war es ihm und Jimmy Joe gelungen, sich von der scharfzüngigen Cousine Mabel fernzuhalten Diese Taktik hatte bestimmt nicht unerheblich zum dritten Platz bei der Siegerehrung beigetragen. Sarah hatte am Rand gewartet und die beiden kräftig angefeuert. Zur Belohnung hatte sie ihn auf die Wange. geküßt. Jimmy Joe hatte jedoch ein Stück selbstgebackenen Pfirsichkuchen vorgezogen. Nicholas zog Sarah enger an sich und atmete den Duft nach wildem Geißblatt ein, der ihrem Haar anhaftete. Er hatte sich nicht ein einziges Mal mit ihr in Ruhe unterhalten können. Vielleicht ergab sich eine Chance, sobald sie Jimmy Joe nach Hause gebracht hatten. Ohne auf die Leute zu achten, lehnte Sarah den Kopf an Nicholas Schulter. Jimmy Joe lachte laut über den Clown, der mit seinen Witzen die Pausen zwischen den einzelnen Auftritten überbrückte. Im Moment machte er die komischsten Verrenkungen, um einen aufgeregten jungen Bullen zum Ausgangstor zu locken. Das sah lustig aus, aber Sarah wußte wie gefährlich es war. Sie war froh, daß sich T. J. beim Rodeo darauf beschränkte, mit Ochsen zu ringen und Kälber mit dem Lasso einzufangen. Aus dem Lautsprecher ertönte die Stimme des Ansagers. „Hinter Tor Nummer vier bereitet sich soeben Jack Perkins vor. Er will auf Devil Boy reiten. Die meisten hier kennen Jack, er kommt aus Oklahoma. Für die, die gestern abend nicht hier waren: Jack sollte eigentlich auf Thunder reiten, aber der Stier war in der Box so wild geworden, daß wir ihm eine Spritze geben mußten. Daher hat ihn die Jury für diesen Wettbewerb gestrichen. Im nationalen Standard nimmt Jack Rang fünf ein. Er bietet immer eine gute Show.“ Lauter fügte er hinzu: „Komm raus, Jack. Wir freuen uns auf dich.“ - 115 -
T J. setzte sich auf den freien Platz neben Jimmy Joe. „Er kann von Glück sagen, daß Thunder ausfällt. Der Bulle ist verrückt, das könnt ihr mir glauben.“ „Hast du gewonnen, T. J.?“ fragte Jimmy Joe. Sein Cousin grinste. „Na ja, das Kälberfangen hat zumindest genug gebracht, um die Teilnahmegebühr zu decken. Aber er machte eine Pause und schloß triumphierend: „... ich habe drei Pferde verkauft.“ „Drei!“ rief Sarah überrascht aus. „Das ist wirklich großartig, T. J. Hast du damit gerechnet?“ „Nein, bestenfalls mit zweien.“ Er sah Nicholas fragenden Blick und erklärte: „Bei den meisten Wettbewerben werden die Pferde vom Veranstalter gestellt. Aber beim Kälberfangen und Ochsenringen reitet man auf eigenen Tieren und kann deren Fähigkeiten vorführen. Die Profis halten immer Ausschau nach einem gut trainierten Pferd.“ In seiner Stimme schwang Stolz mit. „Wenn heute abend einer von denen auf meinem Pferd gesessen hätte, hätte er damit ne Menge Geld verdienen können. Das wissen die Leute. Gerade beim Kälberfangen ist ein gutes Pferd unerläßlich, und meine Tiere sind die besten.“ „Deine Verkaufsstrategie ist völlig neu“, meinte Nicholas. T. J. lachte und wandte sich wieder an Jimmy Joe. „Für dich habe ich noch was Besonderes, Kleiner. Der Veranstalter sagte, wir könnten nach dem Rodeo beim Verladen zuschauen.“ Der Junge jubelte. „Dann kann ich mir Thunder angucken!“ „Nur aus sicherer Entfernung“, wandte T. J. ein. „Ich traue dem Bullen nicht. Er ist schon immer, hinterhältig gewesen, und jetzt ist er völlig durchgedreht.“ Sarah war froh, daß T. J. die zahlreichen Fragen von Jimmy Joe beantwortete. Die frische Abendbrise bot einen willkommenen Anlaß, sich noch enger an Nicholas zu schmiegen. Sie warteten, bis die meisten Zuschauer fort waren, bevor sie die Pferche hinter der Arena aufsuchten. Hier ging es noch geschäftiger zu als beim Rodeo selbst. Unter den lauten Rufen der Cowboys wurden Pferde und Rinder durch ein ausgeklügeltes System von Gängen zu den Transportern getrieben. Immer wieder drängten die Tiere gegen die tragbaren Stahlrohrgatter, die dann scheppernd - 116 -
aneinanderstießen: Als ein Cowboy zwei tänzelnde Pferde am Zügel vorbeiführte, wichen die drei Erwachsenen aus und achteten darauf, daß Jimmy Joe zwischen ihnen blieb. Sie bezweifelten, daß der aufgeregte Junge vorsichtig genug war, um sich nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Dafür war seine Wißbegier einfach zu groß. ,,Wo sind denn die Pferde, die immer so bocken?“ fragte Jimmy Joe. „Du hast gerade zwei der besten gesehen“; erwiderte T. J. „Die haben sich doch gar nicht aufgebäumt.“ Geduldig erklärte T. J. „Nein, das sind ja auch keine Wildpferde. Sie wurden nicht in der Prärie gefangen, sondern stammen aus einer Zucht und sind nur noch nicht zugeritten.“ Jimmy Joe schien enttäuscht. „Und wo sind die Stiere? Ich möchte zu Thunder.“ „Die sind am anderen Ende, möglichst weit weg vom allgemeinen Trubel, und werden erst jetzt verladen. Bevor wir dahingehen, mußt du mir etwas versprechen, Jimmy Joe. Keine Dummheiten. Die Bullen sind die gefährlichsten Tiere im Rodeo, sowohl in als auch hinter der Arena. Habe ich dein Wort, daß du tust, was ich dir sage?“ Er wich nicht von der Stelle, bis Jimmy Joe ernst nickte. Die ersten Stiere standen schon auf dem Lastwagen und warteten auf die Abfahrt zum nächsten Rodeo. Nicholas und Sarah folgten T. J., der Jimmy Joe an der Hand festhielt. Der Junge zog den Älteren ungeduldig mit sich. „Schnell, T. J., bitte. Sonst ist Thunder weg, bevor ich ihn gesehen habe.“ „Du hast noch viel Zeit, Kleiner“, sagte ein Cowboy, der zufällig vorbeikam. „Thunder wird erst ganz zum Schluß verladen. Wahrscheinlich müssen wir dem boshaften Ungeheuer vorher noch eine Beruhigungsspritze verpassen,“ „Tobt er denn noch immer herum?“ fragte T. J. „Toben ist gar kein Ausdruck“, erwiderte der Mann. „Der dreht total durch und gehört eigentlich längst auf die Weide. Nach dem Vorfall mit Pete Johnson wird sich bestimmt kein Idiot mehr finden; - 117 -
der dämlich genug ist, sich acht Sekunden lang, auf dem Rücken dieses Teufels halten zu wollen.“ Er sah Sarah an. „Verzeihung; Madam. Aber dafür gibt's keine vornehme Umschreibung.“ Sarah nickte verständnisvoll. Im Grunde fand sie die für einen Cowboy ungewöhnliche Höflichkeit eher lustig. Sie beobachteten, wie er mit großen Schritten davonging. Offenbar war Jimmy Joe nicht der einzige, der sich für Thunder interessierte. Vor der Abzäunung standen viele Leute und schoben und schubsten sich gegenseitig in dem Bemühen, einen Blick auf den Stier zu werfen. Jimmy Joe zerrte T J. an der Hand näher zum Zaun. In dem großen Mittelgehege, das normalerweise ein halbes Dutzend Stiere faßte, stand der Bulle im Scheinwerferlicht und betrachtete die Menschenmenge aus rotgeränderten Augen. Als die Unruhe größer wurde, senkte er schnaubend den Kopf und rannte, auf das Stahlrohrgatter zu. Die Leute sprangen erschrocken zurück. Aber dann stemmte er alle viere in den mit Sägemehl bestreuten Boden und hielt so plötzlich inne, wie er losgelaufen war. Er hob den. Kopf, trottete drohend am Zaun entlang und kehrte in die Mitte des Geheges zurück. Als er wieder zum Angriff überging, stieß jemand aus der. Menge einen Cowboyschrei aus. „Einfaltspinsel“, murmelte T. J. „Der Bulle ist doch ohnehin schon nervös genug. Komm, Jimmy Joe, wir haben genug gesehen.“. „Welcher Idiot hat das Tor entriegelt?“ gellte eine Stimme, während die Leute geschlossen zurückwichen. Geschlossen - bis auf Jimmy Joe. Er hatte sich losgerissen, und sich einen Weg nach vorn gebahnt. T J. und Nicholas waren mit einem Satz hinter ihm her. Als Nicholas hörte, wie Metall gegen Metall scheuerte, konnte er nur hoffen, daß das Geräusch durch das Schließen der Verriegelung entstanden war. In der Zwischenzeit wurde Sarah von den Menschen hin und her geschoben. Plötzlich spürte sie, daß jemand ihre Taille umfaßte, und sie atmete erleichtert auf. Doch dann fühlte sie, wie sie hochgehoben und nach vorn geschleudert wurde. Inzwischen hatte Nicholas den Jungen als erster erreicht. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und packte fest zu. Im gleichen - 118 -
Moment vernahm er den entsetzten Aufschrei einer Frau. Die Menge stöhnte auf, danach herrschte unheilverkündende Stille. Ihm wurde eiskalt. Er fuhr auf dem Absatz herum und zog Jimmy Joe mit sich. Auf dem staubigen Boden hinter dem Zaun lag eine zusammengekrümmte Gestalt. Zwei Meter davon entfernt stampfte der Stier mit den Vorderhufen auf. Sarah. Nicholas versagte die Stimme. O Gott, nein! Einem der Umstehenden drückte er Jimmy Joe in die Arme, einem anderen entriß er einen sicherheitshalber mitgebrachten Regenmantel und rannte los. Nicholas flankte über den Zaun und rief: „Hier bin ich, du räudige Kreatur. Komm her.“ Das Tier drehte den schweren Kopf in seine Richtung, dann musterte es wieder die auf der Erde liegende Frau. Laut schreiend ging Nicholas zwei, drei Schritte weiter nach vorn. Thunder sah ihm entgegen. „So ist's recht, alter Knabe. Ich bin hier.“ Er hieb mit dem Regenmantel in die Luft. Es klang wie ein Pistolenschuß. Der Stier drehte sich so schwerfällig um, als sei ihm das eigene Körpergewicht lästig. Nicholas riß den Mantel wieder mit heftigem Ruck nach unten. „Weiter so, Kumpel.“ Er ließ das Tier nicht aus den Augen. „Sarah, um Himmels willen, beweg dich nicht. Falls du mich hörst, bleib bitte ganz still liegen.“ Thunder sah unentschlossen von Nicholas zu Sarah. Um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, stieß Nicholas noch einmal einen gellenden Schrei aus. Gleichzeitig merkte er, daß jemand näher kam. „Ich bin's, sagte T. J. ruhig. „Bring Sarah hier weg.“ Als der Bulle das Haupt senkte, verstummten sie. Thunder trat einen Schritt zurück und stampfte auf, blieb aber stehen. „Nein, Nicholas. Du holst Sarah, ich kümmere mich um Thunder. Hier kenne ich mich besser aus als du.“ „Wir haben jetzt keine Zeit, uns zu streiten, T. J. Hol Sarah. Ich glaube, sie ist bewußtlos. Wenn sie zu sich kommt, könnte sie - 119 -
stöhnen oder sich sonst wie rühren, und Thunder entscheidet sich am Ende doch noch für das bequemere Opfer am Boden.“ „Na gut. Ich hoffe, du weißt, was du tust.“ „Keine Bange.“ Nicholas hatte den Blick nach wie vor fest auf den Stier gerichtet. „Halt dich bereit. Ich werde dafür sorgen, daß die Bestie auf mich zuläuft.“ „Gott beschütze dich, Nicholas. Sei vorsichtig. Die Bullenreiter sagen, er bricht meistens nach rechts aus.“ Nicholas nickte. Er wartete, bis ihm die Geräusche verrieten, daß T. J. den Zaun erreicht hatte. Im stillen schätzte er die Zeit ab, die T. J. brauchen würde, um zu Sarah zu gelangen. Die Anspannung der Menschen hinter dem Gatter war beinahe körperlich spürbar. Eine unheimliche Ruhe breitete sich aus. Schweigt, beschwor Nicholas die Leute stumm. Schweigt und bewegt euch nicht. Alles, was den Stier jetzt ablenkte, mochte ihn dazu bringen, sich erneut Sarah zuzuwenden. Hoffentlich war das den Leuten klar. Schweißtropfen perlten ihm über Stirn und Lider. Er blinzelte sie fort, ohne Thunder aus den Augen zu lassen. Vorsichtig ging e rückwärts, um den Bullen von Sarah wegzulocken. Thunder schnaubte, senkte die Hörner und setzte sich langsam in Bewegung. Nicholas verharrte reglos. Er umklammerte mit einer Hand. den Mantel und verlagerte das Gewicht auf die Fußballen. Jetzt war nur eins wichtig. Thunder durfte seine Meinung nicht ändern. Also mußte Nicholas warten, bis der Stier mit voller Geschwindigkeit auf, ihn zulief. Trotz seines beeindruckenden Gewichts würde er die Entfernung innerhalb weniger Sekunden zurücklegen. Habe ich den Abstand zum Gatter richtig in Erinnerung? fragte sich Nicholas. Er durfte sich nicht umschauen und mußte sich blindlings auf sein Gedächtnis verlassen. „Komm her, du Ausgeburt der Hölle“, schrie er und wedelte mit dem Mantel. Thunder hielt inne und blähte die Nüstern. „Na los, du elendes...“ Nicholas verstummte. Der Bulle ging zum Angriff über. Als er auf Armeslänge - 120 -
herangekommen war, schleuderte ihm Nicholas den Regenmantel entgegen und warf sich gleichzeitig nach links. Sowie er den Boden berührte, ließ er sich über die Schulter in Richtung Zaun rollen. Hilfsbereite Menschen, packten ihn an Armen und Beinen und hoben ihn über die Absperrung. Eine Weile blieb er dort liegen, sog die Nachtluft ein und wartete, daß sich seine Aufregung legte. Dann fiel ihm Sarah ein. Er saß mit einem Ruck aufrecht da und rief ihren Namen. Die Umstehenden halfen ihm auf die Füße. „Die Lady ist in Sicherheit“ „ sagte einer der Männer. „Ihr Freund hat sie aus dem Pferch geholt.“ „Wo ist sie?“ Soviel ich weiß hat man sie in einen Wohnwagen gebracht.“ Ein dunkelhaariger Cowboy begleitete Nicholas durch die Menge. Er trug die übliche Rodeokleidung und unterschied sich von den anderen nur durch ein gelbes Schild mit der Aufschrift Butler. Er gehörte also zum Rodeopersonal. Viele Menschen streckten Nicholas die Hände entgegen und wollten ihm gratulieren. Er nickte ihnen zu, während er sich bei seinem Begleiter noch einmal nach Sarah erkundigte. „Sie ist gesund und wartet mit dem anderen Mann und dem Jungen im Wohnwagen des Chefs. Ich bringe Sie zu ihr.“ Butler musterte ihn von der Seite. „Sie haben schon oft in der Arena gestanden, was?“ „Um Himmels willen, nein. Noch nie. Ein oder zweimal war ich in Südamerika, dabei, wenn die jungen Stierkälber durch die Straßen getrieben werden. Aber das sind Leichtgewichte ohne Hörner. Heute habe ich das, erste Mal Auge in Auge mit einem erwachsenen Stier gestanden, und von mir aus darf das auch gern das letzte Mal gewesen sein.“ „Das müssen phantastische Kälber gewesen sein. Mir ist jedenfalls aufgefallen, daß Sie alles richtig gemacht haben. „Das war kein Können, sondern Glück.“ Butler blieb vor einem hellerleuchteten Wohnwagen stehen. „So, da sind wir. Ihre Lady ist drinnen.“ Seine Lady... Nicholas klopfte, an die Tür und stieß sie auf, ohne ein „Herein“ abzuwarten. Er nahm die sich bietende Szene mit einem - 121 -
einzigen Blick, in sich auf. Sarah saß in einer Sitzecke auf der Bank und hatte die Finger um einen Becher gelegt, der mit dampfendem Inhalt vor ihr auf dem Tisch stand. An ihrem Haar hafteten noch Reste des Sägemehls. Sie war blaß, die Augen waren groß und ängstlich. Jimmy Joe kuschelte sich an sie und hatte bis auf die Sommersprossen ebenfalls keine Farbe im Gesicht. Die Schmutzspuren auf seinen Wangen zeigten, daß er geweint hatte. T. J. stand neben Sarah und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. „Sarah“, flüsterte Nicholas und zog die Tür hinter sich zu. Ihre Miene hellte sich auf, und im nächsten Moment lag sie in seinen Armen. Plötzlich waren sie von Leuten umgeben, deren Anwesenheit Nicholas bis jetzt nicht aufgefallen war. Man schlug ihm auf die Schulter, sprach ihm Anerkennung aus, aber Nicholas merkte das alles nicht. Sein Denken und Fühlen galt nur noch der Tatsache, daß sich Sarah wohlbehalten an seine Brust lehnte. Als er spürte, daß sie sich entspannte, lockerte er die Umarmung und sah sie an. „Wie fühlst du dich, hast du dich auch nicht verletzt?“ „Ach, Nicholas. Ich habe solche Angst um dich gehabt:“ Er strich ihr mit einer Hand über den Rücken. „Pst, jetzt ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit, und mir geht's gut.“ Nicholas nahm Sarah bei der Hand und ging mit ihr zum Tisch. Jimmy Joe machte es sich in der Ecke gemütlich, Sarah nahm neben ihm Platz, und Nicholas setzte sich ans Kopfende. Irgend jemand drückte ihm ein Glas Bier in die Hand. „Guten Abend, Mr. Matthias“, grüßte ein älterer Cowboy und ließ sich auf die Bank sinken. „Herrje, das war aber auch ein...“ Nicholas winkte ab. Das Thema würde Sarah nur zusätzlich aufregen. „Na gut. Ich wollte auch bloß sagen, daß wir uns um den Bullen kümmern werden.“ „Bringen Sie ihn nach Hause und stellen ihn auf die Weide. Dort - 122 -
wird er sich bald wohl fühlen.“ Der Mann zögerte. „Ich wollte ihn eigentlich töten lassen.“ „Warum?“ fragte Nicholas. „Für einen Stier hat er ganz normal reagiert. Wir sind schließlich in sein Gebiet eingedrungen.“ Er wandte sich an Sarah. „Sag mal, wie bist du überhaupt in das Gehege gekommen?“ Sie hob die Schultern. „Das war merkwürdig. Nachdem ich eine Zeitlang in der Menge herumgestoßen worden war, legte mir jemand die Hände um die Taille. Ich freute mich schon, weil ich dadurch Halt zu finden hoffte. Statt dessen flog ich auf einmal durch die Luft. Mehr weiß ich nicht. Ich kam erst wieder zu mir, als mich T. J. hinaustrug, und sah, wie der Stier auf dich zurannte.“ Nicholas schnappte nach Luft. „Man hat dich hineingeworfen?“ Plötzlich wurde ihm übel. Tante Cinda hatte ihn gebeten, auf Sarah aufzupassen, und er hätte beinahe versagt. Er sah sich fragend nach T. J. um. „Ja, höchstwahrscheinlich“, raunte ihm T. J. zu. „Die Riegel hatten sich zwar gelockert, aber das Gatter war zu.“ Sarah hatte ihn nicht gehört. „Es muß ein Unfall gewesen sein“, erklärte sie leise. Die beiden Männer tauschten einen vielsagenden Blick. Als hätten sie sich verabredet, standen sie gleichzeitig auf. „Los, Jimmy Joe. Das waren genug Abenteuer für heute. Ich bringe dich nach Hause.“ T. J. wartete, bis der Junge aus der Ecke herausgeklettert kam. „Du kannst mir helfen, die Pferde zu verladen.“ „Und du kommst mit mir, Sarah“, befahl Nicholas ruhig und legte ihr beschützend den Arm um die Schultern. In dem Moment tauchte Sam Bascomb in der Tür auf. Nicholas war dem Sheriff ein paarmal in Mountain Springs begegnet. Sie hatten einander gegrüßt, eine Unterhaltung hatte sich dabei nie ergeben. Er wußte nur, daß dies der Mann war, der Hoyston auf Sarah aufmerksam gemacht hatte. Sam sah sich prüfend um. Daß er sich hier außerhalb seines Bezirks aufhielt und somit keine Befehlsgewalt hatte, schien ihm gleichgültig zu sein. Schließlich lenkte er seine Aufmerksamkeit auf Sarah. „Was ist passiert, Sarah? Wie geht es dir?“ - 123 -
„Gut, Sam. Mir ist nur ein bißchen schwindelig.“ Sarahs Tonfall bestätigte Nicholas Vermutung, daß Sam ein ganz besonderer Freund war. Er konnte dessen Zorn gut verstehen, denn er fühlte genauso. Außerdem war er zutiefst besorgt. Irgend jemand hatte Sarah aus unerfindlichen Gründen. schaden wollen. Nicholas begriff einfach nicht, was einen Menschen zu einer solchen Tat veranlassen konnte. T J. schilderte kurz, was geschehen war. „Gibt es Zeugen?“ Sam musterte jeden im Raum, doch die Anwesenden schüttelten die Köpfe. „Wer war dabei? Irgend jemand muß doch was gesehen haben.“ „O Mann“, sagte jemand, dessen Stimme Nicholas nicht kannte. „Am Gatter standen mindestens zwanzig, dreißig Leute. Ein paar davon treiben sich bestimmt noch draußen herum.“ „Gut, dann werde ich mal nachgucken.“ Er wandte sich an Sarah. „Und was dich betrifft, kleine Miss, du gehst jetzt nach Hause. Wir können uns morgen weiterunterhalten.“ „Ja, Sam“, stimmte Sarah müde zu. „Nicholas, bring mich bitte heim.“ Nicholas drückte sie an sich und führte sie hinaus. Die anderen folgten. Sam, T. J. und Jimmy Joe schlugen den Weg zu den Boxen ein, Sarah und Nicholas gingen schweigend nebeneinander her zum Parkplatz. Wie gut, daß ihm nichts, passiert ist, dachte Sarah dankbar. Sie würde nie vergessen, wie angsterfüllt sie zusehen mußte, als sich der wütende Stier auf Nicholas stürzte. Nacktes Grauen hatte sie gepackt und war so übermächtig gewesen, daß es alles Denken und Fühlen beherrscht hatte, Sarah hatte nicht einmal einen winzigen Blick in die Zukunft werfen können. Mit der sich einstellenden Erleichterung wurde ihr klar, wieviel Nicholas ihr inzwischen bedeutete. Er war zu einem wichtigen Teil ihres Lebens geworden. So weit hatte sie es nie kommen lassen wollen. Als sie ihn noch nicht gekannt hatte, war sie einsam gewesen. Wie sollte das erst werden, wenn er wieder abgereist war? Zuvor hatte sie nur geahnt, daß es ihr an irgend etwas mangelte, aber sie hatte dieses Etwas nicht näher bestimmen können. Jetzt war ihr - 124 -
der fehlende Bestandteil ihrer Existenz mit erschreckender Klarheit bewußt geworden. Nicholas mußte ihre Unsicherheit bemerkt haben. Er hielt im Schatten der Haupttribüne inne und drehte Sarah so weit zu sich herum, daß er sie ansehen konnte. Das Mondlicht erhellte seine markanten Gesichtszüge, während er sie mit forschendem Blick musterte. „Stimmt irgend etwas nicht? Bist du sicher, daß es dir gut geht und du dich nicht verletzt hast?“ Seine Stimme klang liebevoll, jedes einzelne Wort verriet, wie sehr er sich um sie sorgte. Sarah hatte das Gefühl, von dieser Fürsorge umhüllt zu werden wie von einem warmen Mantel, den man zum Schutz gegen die Kälte des Winters anzieht. „Mir fehlt nichts, Nicholas. Ehrlich nicht. Nur die Knie sind mir noch ein bißchen weich, das ist alles.“ Nicholas lächelte sie zärtlich an. „Ich glaube, das ist nach allem, was du erlebt hast, nur zu verständlich.“ Dann wurde er ernst und schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht so recht fassen. „Wenn ich bedenke, was...“ Er brach mitten im Satz ab. „Wenn du was bedenkst?“ fragte sie. „Ach, nichts. Für heute reicht's. Wir können morgen darüber sprechen.“ Er machte eine Pause und verzog die Mundwinkel zu einem jener winzigen Lächeln, die wenig verrieten, aber alles zu versprechen schienen. „Ist dir eigentlich aufgefallen, daß wir soeben zum ersten Mal an diesem Tag allein sind?“ Sarah warf einen prüfenden Blick in die Runde. Die Lichter in der Arena waren erloschen. Die Weide, auf der die Zuschauer ihre Autos abgestellt hatten, lag fast leer vor ihnen. Aus der Ferne drangen die Geräusche der Tiere und des Rodeopersonals an ihr Ohr. Nichts störte die momentane Zweisamkeit. „Tatsächlich“, sagte sie und sah betont unschuldig zu ihm auf. „Und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun?“ „Oh, ich wüßte schon, was“, erwiderte Nicholas. „Und zwar das hier.“ Er beugte sich über sie und berührte ihren Mund ganz leicht mit den - 125 -
Lippen. Dann zog er sie an sich und drückte ihr seine Wange ins Haar. So verharrte er eine ganze Weile, machte sich klar, daß er nicht träumte, und gab sie schließlich zögernd frei. „Ich glaube, es wird Zeit, daß ich dich nach Hause bringe“, erklärte er mit einem Blick auf ihr von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht. „Wenn ich's mir recht überlege, war der Tag nämlich ganz schön anstrengend.“ Sie ließ ihn nur ungern los. Trotz ihrer Müdigkeit hatte seine Berührung in ihr ein Feuerwerk an Gefühlen ausgelöst, und sie fragte sich, ob er genauso empfand.
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11. KAPITEL Vorsichtig stellte Sarah ihre Kaffeetasse ab und sah Sam Bascomb entgeistert an. T. J. war in aller Frühe hier gewesen, hatte sie gründlich ausgefragt und war wieder gegangen. Daß der Sheriff ebenfalls auftauchte, bevor Sarah wenigstens frühstücken konnte, war ungewöhnlich genug. Aber was er gerade gesagt hatte, war wirklich unglaublich. „Du mußt dich irren, Sam. Warum sollte mir jemand Schaden zufügen wollen? Es war ein Unfall, was anderes kann es nicht gewesen sein.“ „Da bin ich mir nicht so sicher, Sarah. Für meinen Geschmack häufen sich die Unfälle in der letzten Zeit zu sehr.“ Er musterte sie unter zusammengezogenen Brauen. „Und sie sind alle passiert, nachdem dieser Fremde angefangen hat, nach dir zu suchen. Dabei hatte ich dich extra gebeten, vorsichtig zu sein.“ „Ach Sam.“ Sarah lächelte geduldig. „Ich weiß, wie sehr du Fremden mißtraust. Aber Nicholas ist über jeden Verdacht erhaben. Er hat mir das Leben gerettet. Ohne sein rasches Eingreifen hätte mich der Stier zu Tode getrampelt.“ „Was ist, wenn du dich irrst? Oft ist man Dingen gegenüber blind, die sich vor der eigenen Nase abspielen. Was will er noch, eine Geschichte über Monte Ne schreiben? Inzwischen hält er sich, schon so lange hier auf, daß die Zeit gereicht hätte, um die Stadt neu aufzubauen.“ „Der Artikel ist fertig und wird im September veröffentlicht, Sam. Jetzt macht Nicholas Urlaub.“ „Männer wie er machen nicht einfach Urlaub. Er hat was vor, Mädchen, sieh das endlich ein. Ich wette, daß er dabei nichts Gutes im Schilde führt.“ Sarah begann sich zu ärgern. „Du hast nicht zugehört, Sam. Es spielt keine Rolle, warum er hier ist. Nicholas will mir nicht weh tun. Niemand will das. Sonst wüßte ich Bescheid.“ „Das Argument zieht bei mir nicht, Sarah. Ich weiß so gut wie du, daß du die eigene Zukunft nicht voraussagen kannst. In diesem Punkt bist du genauso ahnungslos wie alle anderen.“ - 127 -
„Das stimmt, aber ich würde etwas spüren, das mich warnt“, widersprach sie. „Nur wenn du etwas dagegen machen kannst. Außerdem achtest du meistens nicht darauf.“ „Diese Unterhaltung ist albern, Sam. Mir will niemand etwas zuleide tun. Niemand. Am wenigsten der Mann, der sein eigenes Leben riskiert hat, um meins zu retten.“ „Hast du dir schon mal überlegt, daß das vielleicht gar kein Risiko war?“ „Hältst du es für ungefährlich, zu einem wütenden Stier in den Pferch zu gehen?“ fragte Sarah zurück. „Aha, du gibst immerhin zu, daß dir Gefahr drohte.“ „Natürlich, aber das hat niemand gewollt. Nicholas war genauso bedroht und hat mir trotzdem geholfen. Selbst wenn du der festen Überzeugung bist, daß mich jemand absichtlich hineingestoßen hat, mußt du mir erst mal erklären, warum das ausgerechnet Nicholas gewesen sein soll.“ Sams Augen funkelten triumphierend. „Der Bursche hat genau gewußt, was er tat. Zumindest hat er dem Personal erzählt, daß er in Südamerika mal Bullen gezähmt hat. Also hat er gestern gar nichts riskiert. Er mußte nur noch dafür sorgen, daß sein Auftritt echt wirkte, damit ihn niemand verdächtigte.“ „Sam... „ Er merkte, daß er sie überfordert hatte. „Tut mir leid, Sarah, ich will dich nicht ärgern. Irgend etwas geht vor. Ich bin zwar kein Seher, aber ich kläre seit über dreißig Jahren Verbrechen auf. Ich weiß, wenn eine Sache faul ist. Gestern abend bist du gerade noch einmal davongekommen. Das ist das dritte Mal in diesem Sommer.“ Sam zählte auf: „Zuerst der Vorfall am Bald Mountain, dann die Betonplatte in Monte Ne, jetzt der Stier. Einmal wäre ich bereit, an Zufall zu glauben. Vielleicht auch ein zweites Mal, aber nicht drei. Und jedesmal war dieser Journalist dabei.“ „Am Bald Mountain saß ich mit T. J. im Wagen.“ „Ja, nachdem du dich gerade erst am Indian Bluff von dem Fremden verabschiedet hattest.“ „Hätte ich dir doch nur nichts von dem Unfall im Freilichttheater - 128 -
erzählt erwiderte Sarah heftig. „Davon hätte ich auch ohne dich erfahren.“ Sarah sah ihm an, daß er sich ernsthaft Sorgen machte. Sie wußte, daß er Fremden gegenüber grundsätzlich mißtrauisch war. Außerdem war die Häufung der Unfälle wirklich ungewöhnlich. Aber in Monte Ne war sie von einer inneren Stimme gewarnt worden, und alles andere wer ohnehin gut ausgegangen. „Wir wissen, daß ein Blitz durchaus zweimal in denselben Baum fahren kann, obwohl das Sprichwort das genaue Gegenteil behauptet“, meinte sie freundlich. „Ein Tourist erkennt die Gefahr nicht und fährt zu schnell den Berg hinunter. Eine Steinplatte liegt zehn Jahre unter Wasser und löst sich aus den Verstrebungen. Eine Menschenmenge gerät in Panik und stößt dabei jemanden über den Zaun. Alle diese Unfälle lassen sich erklären.“ „Vielleicht, weil eine gründliche Planung dahintersteckt“, beharrte Sam. „Der Tourist pickt sich zufällig genau den Tag heraus, an dem du ebenfalls über die Hangstraße fährst. Die Platte löst sich ausgerechnet dort, wo du dich gerade ausruhst. Und von dreißig oder mehr Leuten, die um den Pferch herumstehen, stürzt niemand hinein, nur du. Und das ereignet sich alles innerhalb von zirka sechs Wochen. Blitze haben kein Lieblingsziel, Kleines. Irgend jemand beobachtet dich und schlägt zu gegebener Zeit zu.“ „Ich kann mich nicht vor zufälligen Unfällen schützen.“ Sarah seufzte. „Ach, was soll's, ich habe ohnehin keine Chance dich zu überzeugen, nicht wahr?“ „Genaugenommen nicht. Ich weiß, daß du deine eigene Zukunft nicht sehen kannst, und das macht mir Sorgen. Weißt du was? Ich werde diesen Journalisten überprüfen.“ Als sie protestieren wollte, winkte er ab. „Vielleicht irre ich mich, aber für mich ist er der Hauptverdächtige. Sicherheitshalber werde ich mir auch die Ewells vorknöpfen, obwohl sie seit Jahren keinen Ärger mehr gemacht haben. Ich werde das unterste nach oben kehren. Versprich mir nur eins, Sarah. Sei vorsichtig. Gib jemandem Bescheid, wenn du Mr. Matthias triffst. Ich werde ihm offen sagen, was ich denke. Wenn ich mich nicht täusche, wird er dann keinen neuen Versuch mehr wagen.“ - 129 -
Sarah hätte ihn gern umgestimmt. Sie wußte, daß er sich wegen Nicholas keine Gedanken zu machen brauchte. Sobald der von Sams Anschuldigungen erfuhr, hatte er allen Grund abzureisen. Er war ohnehin. schon länger geblieben, als sie gedacht hatte. Aber was sie auch sagte, Sam würde seine Meinung nicht ändern. Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich. Das Angebot, ihn hinauszubegleiten, lehnte er ab. „Laß nur, ich finde den Weg allein. Du mußt erst mal in Ruhe frühstücken. Und vergiß meine Bitte nicht. Paß auf dich auf.“ Vielleicht ist es gut so, dachte sie. Ich habe von Anfang an gewußt, daß, ich mich irgendwann von Nicholas verabschieden muß. Als ihr klar wurde, daß das Unvermeidliche nun kurz bevorstand, umklammerte sie die Kaffeetasse mit beiden Händen. Mit dem Verstand konnte sie den Gedanken ertragen. Ihr Herz war nicht so leicht zu überzeugen. Vor dem Farmhaus stellte Nicholas den Motor ab und blieb noch eine Weile im Wagen sitzen. Einerseits war das Gespräch mit dem Sheriff ermutigend gewesen. Sam Bascomb war überzeugt, daß die sogenannten Unfälle absichtlich herbeigeführt worden waren. Das vermuteten auch Nicholas und T. J. Sarah dagegen war unbekümmert. Andererseits verdächtigte der Sheriff vor allem ihn. Das fand Nicholas lästig, aber auch verständlich. Er war der Fremde in dieser Stadt. Was sollte er tun? Bei jedem Treffen wuchs der Wunsch, sich Sarah anzuvertrauen. Aber wenn er ihr die Wahrheit sagte, wäre sie enttäuscht und verletzt. Am Ende schickte sie ihn fort. Fortschicken? Die Familie würde ihn mit Schimpf und Schande aus der Stadt jagen. Er hatte ihr Vertrauen mißbraucht. Falls er also bei Sarah bleiben wollte, mußte er den Mund halten. Er versuchte erst gar nicht, sich weiszumachen, daß er die Hintergründe des Geschehens aufdecken wollte. Ihm war völlig klar, worum es ihm ging. Er wollte auf Sarah aufpassen. Die Story war ihm nicht mehr wichtig, aber das Problem würde er mit seinem Agenten - 130 -
lösen müssen. Sich um Sarahs Sicherheit zu kümmern war nicht einfach, solange sie darauf bestand, nicht in Gefahr zu sein. T. J. hatte gesagt, daß ihre übernatürlichen Kräfte versagten, sobald es sie selbst betraf. Einen Grund für die Übergriffe hatte er allerdings auch nicht nennen können, obwohl Nicholas immer wieder in ihn gedrungen war. Der Sheriff wiederum machte Nicholas für die Taten verantwortlich. Somit lag der Schluß nahe, daß er ebenfalls keine Ahnung hatte, wer dahintersteckte. Nicholas blieb keine andere Wahl. Er mußte Sarah endlich fragen, was sie mit den Drohungen gemeint hatte. Dabei würde er ihr weitere Geheimnisse entlocken, ohne die eigenen preiszugeben. Langsam, ermahnte er sich. Geh Schritt für Schritt vor. Erster Schritt, deck die Hintergründe der Gefahr auf. Zweiter Schritt, sag ihr die Wahrheit über dich in der Hoffnung, daß sie dich versteht. Dritter Schritt... Er weigerte sich, darüber nachzudenken. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob sie einen für beide annehmbaren Weg fänden, um sein und ihr Leben miteinander zu verknüpfen. Vor dem dritten Schritt mußte er abwarten, was sich aus den ersten beiden ergab. Nicholas stieg aus und zwang sich, sich zu entspannen. Wenn es selbst T. J. und dem Sheriff nicht gelungen war, Sarah von der drohenden Gefahr zu überzeugen, würde er das erst recht nicht schaffen. Vielleicht hatte er mehr Erfolg, wenn er das Thema beiläufig zur Sprache brachte. Aber als ihm Sarah dann gegenüberstand und er ihre von Schmerz umschatteten Augen sah, verwarf er die Idee wieder. „Was ist los, Sarah?“ Er zog sie an sich. Sarah schmiegte sich an ihn. Sie wollte die wohltuende Nähe noch ein bißchen genießen. In wenigen Minuten würde sie von Sams Verdacht erzählen, und Nicholas würde gehen. „Bitte sag etwas“, bat er. Sie löste sich schweren Herzens aus seinen Armen, wandte sich ab und trat ans Fenster. „Es ist wegen Sam“, meinte sie leise. „Er behauptet, gestern das sei kein Unfall gewesen.“ „Der Meinung bin ich auch.“ Sarah fuhr zu ihm herum. „Verstehst du denn nicht, Nicholas? Er hat dich im Verdacht.“ - 131 -
„Ich weiß. Das hat er mir heute morgen selbst gesagt.“ Sie starrte ihn so entgeistert an, daß er unwillkürlich auf sie zuging. „Ist das der Grund für deine Sorgen? Weil mich dein Freund auf seiner Liste möglicher Täter an die erste Stelle gesetzt hat? Wäre ich der Sheriff, würde ich genauso handeln. Ich bin fremd, ein Außenseiter in einer geschlossenen Gemeinschaft. Aber er hat erkannt, daß jemand versuchen könnte, dir etwas anzutun, und dafür bin ich ihm dankbar. Wir brauchen Antworten. Ich hoffe, der Sheriff wird welche finden.“ Sie lächelte. „Du bist genauso verrückt wie Sam. Es war ein Unfall. Niemand hat einen Grund, mir zu schaden.“ „Ich wünschte, du hättest recht“, sagte er. „Aber du irrst dich. Das mit der Betonplatte kann Zufall gewesen sein. Was gestern passiert ist, nicht. Das war Absicht.“ Sarah schwieg. Es irritierte, sie, daß Sam, T. J. und nun auch noch Nicholas darauf bestanden, sie sei in Gefahr. Sicher, sie bekam trotz ihrer Fähigkeiten kaum Hinweise auf die eigene Zukunft, und wenn, höchstens in letzter Minute. Aber sie hätte zumindest, ein leises Unbehagen spüren müssen, und das war nicht der Fall. Außerdem hätte Tante Cinda bestimmt etwas vorausgeahnt, selbst wenn Sarah nichts wußte. Nicholas hatte nur zwei Vorfälle erwähnt und den am Bald Mountain ausgelassen. Also hatte er davon noch nichts gehört. Nun, sie hatte nicht vor, ihm etwas zu erzählen. Das würde ihn nur noch in seiner Ansicht bestärken. Andererseits war er über Sams Verdacht nicht empört und hatte auch nicht vor abzureisen. Auf einmal fühlte sich Sarah schon viel besser. „Ich hatte Angst, du wärest wütend auf Sam und wolltest...“ „Gar nicht. Ich freue mich zwar nicht gerade, wenn mich jemand verdächtigt, der dich mag, aber ich kann es verstehen. Sam erledigt das offensichtliche zuerst, und das ist gut so. Er wird mich überprüfen und sich dann anderen Möglichkeiten zuwenden. War das der einzige Grund für deine Aufregung?“ „Ja“, gab Sarah zögernd zu. Kopfschüttelnd meinte Nicholas: „Wir kennen einander noch immer nicht richtig, stimmt's?“ Er trat zu ihr, zog sie an sich und küßte sie auf - 132 -
das seidig schimmernde Haar. Gestern abend hatte er befürchtet, sie nie wieder in den Armen halten zu können. Um so glücklicher war er jetzt, sie gesund und in Sicherheit zu wissen. Sarah fühlte, daß sie hierhin gehörte. Obwohl sie einander erst vor kurzem begegnet waren, glaubte sie in diesem Augenblick, er sei schon immer ein Teil ihres Lebens gewesen. Ihr Verstand sagte, ihr zwar, daß sie irgendwann wieder allein sein würde. Aber anstatt jetzt über das Morgen nachzudenken, wollte sie lieber das Heute genießen. Er preßte sie kurz an sich, dann lockerte er die Umarmung. „Ich hätte fast übersehen, daß, es in dieser Küche lebhafter zugeht als auf dem Hauptbahnhof“, scherzte er. „Falls du es noch nicht bemerkt hast, ich neige in deiner Gegenwart überhaupt dazu, alles um mich herum zu vergessen.“ Sarah konnte ihn gut verstehen, denn umgekehrt empfand sie genauso. Sie zweifelte nicht daran, daß die Familie wußte, was mit ihr los war. Trotzdem wurde nicht darüber geredet. Obwohl sie diese Zurückhaltung zu schätzen wußte, war ihr das jetzt nicht genug. Sie war unendlich erleichtert, daß Nicholas nicht abreiste. Jedenfalls noch nicht. Um so mehr sehnte sie sich in diesem Moment danach, mit ihm allein zu sein. „Wir machen ein Picknick am Fluß“, schlug sie vor. „Mir ist heute danach, ein bißchen zu faulenzen.“ „Sarah...“ Er zögerte. „Du hast schon etwas vor, meinte Sarah enttäuscht. „Nein. Oder doch.“ Nicholas holte tief Luft. „Ein Picknick am Fluß klingt verlockend, aber vorher muß ich mit dir noch über etwas anderes reden. Man brauchte keine übersinnlichen Kräfte, um zu merken, wie unbehaglich ihm zumute war. „Über ein Thema, das ich nicht mag“, riet Sarah. „Ja, aber es ist wichtig. Es geht um etwas, das du mal erwähnt hast. Und zwar, als du mir deine Fähigkeiten beschrieben und von deiner Vergangenheit erzählt hast.“ Sie wandte sich ab. „Du hattest recht. Das Thema mag ich nicht.“ Nicholas hätte gern eine Überleitung gefunden, um die Situation für Sarah erträglicher zu machen. Ihm fiel jedoch keine ein, und so - 133 -
beschloß er, einfach zur Sache zu kommen. „Tut mir leid, Sarah. Du hast damals gesagt, deine Kräfte könnten dazu führen, daß du bedroht wirst. Hat das schon mal jemand getan?“ „Ach nein, das war nur so eine Idee“, warf Sarah möglichst lässig hin. Sie sah Nicholas an, daß sie den gewünschten Tonfall nicht getroffen hatte. „Wenn es dir nicht ernst gewesen wäre, hättest du die Drohungen nicht an erster Stelle genannt. Entschuldige, daß ich dich danach frage. Die Antwort könnte wichtig sein.“ „Nur weil du, Sam und T. J. mir nicht glauben wollt.“ „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß du recht hast und wir uns irren. Bis wir das wissen, antworte mir zuliebe. Du hättest die Drohungen nämlich nicht ins Gespräch gebracht, wenn sie dir unwichtig gewesen wären. So, und jetzt sag mir bitte, was passiert ist. Wer hat dich wann bedroht?“ Sie fuhr herum und sah ihn an. Die eben noch empfundene Hochstimmung war erloschen. „Meistens weiß ich nicht, von wem es ausgeht“, gestand sie erbittert. „Sobald mein Name in der Zeitung steht, ist e s wieder soweit. Was glaubst du, warum ich mich verstecke? Man nennt mich eine Hexe oder Ausgeburt der Hölle. Manche sind erbost, weil ich nicht viel oder etwas nicht früh genug gesehen habe. Sah ich nichts, wurde mir auch schon unterstellt, ich hielte bewußt den Mund. Was ich auch tue, ich habe keine Chance zu gewinnen.“ Nicholas war blaß geworden und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn zu überwältigen drohte. „Ich habe nicht gewußt, daß es so schlimm ist, Sarah“, verteidigte er sich. „Habe ich dir nicht gleich gesagt, daß mich niemand versteht? Schluß jetzt, ich möchte nicht mehr darüber reden.“ Obwohl er ihr weh tat, durfte er nicht aufhören. Er mußte sie um ihrer selbst willen zwingen, ihm alles anzuvertrauen, und konnte nur hoffen, daß sie, ihn am Ende nicht haßte. „Verzeih mir, Sarah, aber das geht nicht. Denk gut nach. Irgendein Name wird dir bestimmt einfallen.“ „Warum tust du mir das an?“ Sie begann zu weinen. - 134 -
„Du willst es nicht wahrhaben, aber irgend jemand versucht, dir etwas anzutun. Das muß etwas damit zu tun haben, wer und wie du bist. Du mußt mir alles erzählen, Sarah. Zu deiner eigenen Sicherheit.“ Sie ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. „Glaub mir, ich habe meistens keine Ahnung, wer dahintersteckt. Die Briefe sind nicht unterschrieben, am Telefon wird kein Name genannt.“ „Meistens? Dann erzähl mir von denen, die selten sind.“ „Gibst du jemals auf?“ „Nicht solange du in Gefahr bist, Sarah. Ich sorge mich um dich. Bitte laß dir helfen.“ Sie zögerte. „Ich erinnere mich nur an ein oder vielleicht zwei Fälle. Meistens hatten die Ewells damit zu tun. Sam will sie sicherheitshalber überprüfen.“ Endlich kamen sie weiter. „Wer sind die Ewells?“ erkundigte sich Nicholas ruhig. „Sie wohnen oder wohnten im Nachbarbezirk. Zwischen ihnen und unserer Familie herrscht seit Generationen böses Blut. Ich weiß nicht, was den Ärger ausgelöst hat, denn er fing schon vor Tante Cindas Geburt an. Das Problem ist, daß wir ganz entfernt miteinander verwandt sind. Daher wissen die Ewells über die besondere Begabung in unserer Familie Bescheid. Sie sind, oft gekommen und haben Fragen gestellt, aber Tante Cinda hat nie etwas gesehen und ich auch nicht.“ Sarah lehnte sich zurück. „Ich habe keine Ahnung, ob der Streit dadurch entstanden ist oder ob wir aufgrund des Streits nichts erkennen können. In ihren Augen sind wir jedenfalls immer schuld, wenn ihnen ein Mißgeschick widerfährt. Davon lassen sie sich nicht Abbringen.“ „Wann ist das das letzte Mal passiert?“„ fragte Nicholas. „Vor fast zehn Jahren. Ich war damals noch ein Kind. Mit der Zeit ist die Familie kleiner geworden. Soviel ich weiß, sind die letzten Ewells vor ein paar Jahren nach Kalifornien umgezogen.“ „Warten wir also ab, was Sam über die Familie herausfindet. Du hast von zwei Fällen gesprochen. Was ist mit dem anderen?“ „Da bin ich mir nicht so sicher“, meinte Sarah zweifelnd. - 135 -
„Erzähl's mir trotzdem.“ „Ich habe vor drei Jahren mal in Tulsa unterrichtet. In der Zeit habe ich der Polizei Informationen über einen Unfall mit Fahrerflucht gegeben. Die einzige Zeugin konnte sich an nichts erinnern, bis sie unter Hypnose eine Autonummer nannte, die mit meinen Angaben übereinstimmte. Das ist bekannt geworden.“ „Wie ging es weiter?“ „Der Fahrer wurde gefunden, angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt, obwohl er behauptete, sein Wagen sei gestohlen worden.“ „Und die Drohungen?“ drängte Nicholas. „Die folgten unmittelbar auf den Zeitungsartikel. Ich wurde aufgefordert, mein Teufelswerk nicht an unschuldigen Menschen zu verrichten und ähnliches. Lauter schmutziges Zeug.“ Er zwang sich, ruhig zu bleiben. „Hast du eine Ahnung, wer dahintergesteckt haben könnte?“ „Nur eine persönliche Vermutung“, gab sie zu. „Der Fahrer war nämlich sehr religiös. Schon fast fanatisch, und in den Briefen kam immer wieder der Teufel vor.“ „Was hat die Polizei dazu gesagt? Hielt sie einen Zusammenhang für möglich?“ „Ich habe ihr gar nichts davon erzählt.“ Nicholas war fassungslos. „Oje, Sarah. Du hast verschwiegen, daß dich jemand bedroht? Warum?“ „Ich konnte nichts beweisen. Außerdem hatte ich gerade erst traurige Berühmtheit erlangt. Noch mehr dieser Art hätte ich nicht verkraftet. „ Ihr stiegen Tränen in die Augen, und sie senkte rasch den Kopf. Aber Nicholas hatte genug gesehen. Plötzlich war ihm alles klar. Der Mann hatte Sarah zutiefst verletzt. So sehr, daß sie ihre Gefühle seitdem gegen alles abschirmte, was ihr eventuell weh tun konnte. Dieser Lump hatte einiges auf dem Gewissen. „Bist du endlich fertig?“ fragte Sarah. „Fast. Wie heißt der Mann, ist er noch im Gefängnis?“ „Ja, wahrscheinlich. Er kann daher mit den Vorfällen nichts zu tun haben, Seinen Namen habe ich vergessen.“ „Kein Problem, Sam wird ihn schon herausfinden.“ „Nein. Sam - 136 -
hat, keine Ahnung, und dabei soll es bleiben.“ „Sarah...“ Sie hob abwehrend die Hand. „Wenn du ihn einweihst, setzt du ihn nur auf die nächste falsche Fährte an, und ich bekomme wieder seine Ermahnungen zu hören.“ Ihre Augen schimmerten feucht. „Das ist mir ernst, Nicholas. Es gibt keinen Grund, Sam davon zu erzählen. Ich will nicht, daß er erfährt, was... Ich habe deine Fragen beantwortet. Versprich mir, daß du Sam nichts sagst, sonst... sonst...“ Nicholas überlegte fieberhaft. Er hatte einen Freund in Tulsa, der konnte der Sache nachgehen, während Sam die Ewells überprüfte. Auf die Art wurden immerhin gleich zwei verschiedene Spuren verfolgt. „Na schön, Sarah. Wenn du das wirklich willst, werde ich Sam nichts sagen. Ich werde mich selbst ein bißchen umhören.“ „Damit vergeudest du nur Zeit.“ „Das macht nichts. Warum bist du damals nach Tulsa gezogen? Ich dachte, du wolltest damals hier in der Nähe bleiben.“ „Mir wurde dort eine Stelle angeboten, und ich habe sie angenommen. An der Universität von Fayetteville finden jährlich Abschlußprüfungen für Lehrer statt. Viele bleiben, weil der Partner oder die Partnerin noch studiert. Andere wollen dort arbeiten, um nebenbei zu promovieren. Deshalb gibt es in der Gegend mehr Lehrer als freie Stellen. Außerdem war Tulsa zwar zu weit entfernt, um täglich hin- und zurückzufahren, aber am Wochenende konnte ich jederzeit nach Hause.“ „Waren für St. Louis ähnliche Gründe ausschlaggebend?“ Sarah war dankbar, daß Nicholas das Thema gewechselt hatte. „Nein. Ich wollte meine Flügel ausprobieren. Solange ich jederzeit hierhin zurück kann, werde ich allmählich mutiger. St. Louis ist nur zirka vierhundert Kilometer von hier entfernt.“ Die Flügel ausprobieren. Nicholas ließ den Satz in sich nachklingen. Er fragte sich, ob sich unter ihrer Heimatverbundenheit vielleicht eine heimliche Wanderlust verbarg. Der Gedanke wirkte wie ein Sonnenstrahl, der nach langer Nacht durch den Morgennebel dringt. Nicholas schmunzelte unwillkürlich. „Was denkst du gerade?“ fragte Sarah. Sie hatte, beobachtet, wie sich die verschiedenen Gefühle in seiner Miene widerspiegelten. - 137 -
„Lauter Unsinn.“ Plötzlich konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er küßte sie mitten auf den Mund. Sarah war verblüfft. „Ich finde, wir sollten hier nicht...“ „Bring mich nicht vom Thema ab“, unterbrach Nicholas lachend. „Ich lasse mich immer viel zu leicht von dir ablenken.“ Er ergriff ihre Hand, trat einen Schritt zurück und musterte schweigend ihr Gesicht. Sie erschauerte. Der liebevolle erwartungsvolle Ausdruck in seinen Augen verwirrte ihr die Sinne. Doch hinter dem unausgesprochenen Verlangen lag noch etwas anderes. „Ich habe eine Idee“, erklärte er. „Laß uns fortgehen.“ Sie musterte ihn verblüfft und schüttelte den Kopf. Je länger Nicholas über den spontan erfolgten Vorschlag nachdachte, desto besser gefiel er ihm. Sarahs Verfolger wußte immer, wo sie sich gerade aufhielt, und konnte daher nach Belieben eingreifen und wieder verschwinden. Nicholas mußte Sarah dazu bewegen, eine Zeitlang unterzutauchen, damit die Gleichförmigkeit des Alltags unterbrochen wurde. Dann hätten Sam und T. J. die Zeit, die sie brauchten. „Warum nicht?“ fragte er. „Nur für ein, zwei Tage. Komm mit mir, Sarah. Bitte. Drei Tage lang. Für ein verlängertes Wochenende. Am Montag sind wir wieder hier.“ „Aber wohin denn? Wieso?“ „Wir könnten nach Eureka Springs fahren. Aus verschiedenen Gründen.“ Er streifte ihr mit den Lippen die Wange. „Das geht nicht, Nicholas.“ „Vertraust du mir nicht?“ „Nein. Ja. Doch, natürlich“, antwortete sie stockend. Nicholas lachte leise. „Du bist einfach süß, wenn du so verwirrt bist. Deshalb ziehe ich dich auch so gern auf.“ Sie trat einen Schritt zurück. „In meinem Ferienhaus sind drei Schlafzimmer, und man kann jedes abschließen“, fügte er hastig hinzu. „Du hättest die freie Wahl zwischen Einzel- und Doppelzimmer. Kein Zwang, Sarah. Ich glaube, es täte dir wirklich gut, wenn du für ein paar Tage verreist, und ich wäre in der Zeit gern bei dir.“ - 138 -
Drei Tage ohne Familie, ohne Sorgen, allein mit Nicholas? Die Vorstellung war verführerisch. Sollte sie es wagen? Er hielt ihr die Hand hin. „Wie wär's mit einem Dinner im Basin Park Hotel? Ich versichere dir, du wirst es nicht bereuen. Wir werden uns prächtig amüsieren.“
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12. KAPITEL Nicholas hätte später nicht sagen können, wann er zum ersten Mal merkte, daß er und Sarah beobachtet wurden. Solche Dinge zu spüren hatte er als Journalist gelernt. Daher war er normalerweise stets darauf gefaßt, überwacht zu werden, auch wenn die inneren Alarmglocken noch gar nicht schrillten. Diesmal traf ihn das Gefühl unvorbereitet. Sie waren kurz vor Mittag in Eureka Springs eingetroffen, und alles war verlaufen wie geplant. Als Sarah ihm die Innenstadt zeigte, hatte Nicholas darauf geachtet, daß er an der Außenseite des Bürgersteigs ging. Sie waren Hand in Hand an den Häusern aus der Jahrhundertwende vorbeigeschlendert, die sich eng an den Berghang schmiegten. Vor einem Schaufenster mit Holzschnitzereien trat Nicholas unauffällig hinter Sarah. Eine Straße weiter bewunderte sie die Auslagen einer Galerie mit Kunstwerken aus buntem Glas, während Nicholas die sich in den Scheiben reflektierende Straße beobachtete. Auf dem Spaziergang durch einen kleinen Park neben der Hauptstraße durchforschte er die Gesichter der Entgegenkommenden nach irgendwelchen ungewöhnlichen Anzeichen. „Was ist los, Nicholas?“ fragte Sarah unvermittelt. „Wonach suchst du?“ „Nichts“, erwiderte er lächelnd. Er hatte Sarah nicht überzeugen können, ihre Miene blieb zweifelnd. Nicholas ließ den Blick über die Köpfe der Passanten hinweg zur kurvenreichen Straße wandern. Der Verkehr war dicht, die Autos kamen nur langsam voran. Er sah Kombi und Lieferwagen, die üblichen Familienlimousinen, daneben vereinzelte Sportmodelle. Keines der Fahrzeuge schien besonders bemerkenswert. Lediglich ein verrosteter alter Lieferwagen zog Nicholas Aufmerksamkeit, länger auf sich. „Was hast du, Nicholas?“ erkundigte sich Sarah. „Nichts. Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne.“ Sie sollte nicht merken, was ihn beschäftigte. Aber er wurde - 140 -
das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Er sah noch einmal zur Straße. Der alte Lieferwagen verschwand gerade um eine Kurve. War er ihnen schon einmal begegnet? Wahrscheinlich. Nicholas mußte über sich selbst lachen. In Eureka Springs gab es nur diese eine Hauptstraße, und die meisten Autos schienen auf der meist vergeblichen Suche nach einem freien Parkplatz ständig hin- und herzufahren. „Ich habe nur daran, gedacht, wie gut dein Vorschlag war, am Stadtrand zu parken und von dort den Bus zu nehmen“, sagte Nicholas, und sie gingen Arm in Arm weiter. Sarah lächelte zu ihm auf. Sie freute sich, daß seine heitere Stimmung wiederhergestellt war. „Was machen wir jetzt?“ fragte Nicholas. Hoffentlich merkte sie nicht, welchen Gefühlsansturm sie mit ihrem Lächeln in ihm ausgelöst hatte. „Wußtest du schon, daß das Basin Park Hotel in den Hang hineingebaut wurde? Jede Etage hat einen eigenen Ein- und Ausgang zur Straße. Ich wollte schon immer mal im Erdgeschoß anfangen, in der ersten Etage wieder raus, in der zweiten wieder rein und so weiter. Bis ganz nach oben.“ Nicholas schmunzelte. „Das macht bestimmt Spaß. Gehen wir.“ Danach werden wir den Berg zur Hälfte bestiegen haben, fügte er im stillen hinzu. Er hatte zwar keinen eindeutigen Anhaltspunkt dafür gefunden, daß ihnen jemand folgte, aber er mochte sich trotzdem nicht leichtfertig über den Verdacht hinwegsetzen. Den Hang innerhalb eines Gebäudes hinaufzuklettern war ein gutes Ablenkungsmanöver. Im sechsten Stock wurde Nicholas einen rostigen Lieferwagen gewahr, der langsam am Eingang vorüberfuhr. War das derselbe gewesen wie vorhin? Er warf im letzten Moment einen Blick auf das Nummernschild. Aus Oklahoma also. Unwillkürlich legte er Sarah den Arm um die Schultern. Plötzlich wünschte er sich, sie wären nie nach Eureka Springs gekommen. Trotz aller Sorge bemühte er sich, die äußerliche Unbeschwertheit zu bewahren. Sie besuchten zahlreiche Boutiquen, besichtigten verschiedene Sehenswürdigkeiten und genossen die aus dem - 141 -
Stegreif aufgeführten Konzerte der Straßenmusikanten. Aber so sehr Nicholas auch versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, die innere Anspannung blieb. Selbst beim Dinner im eleganten Restaurant des Basin Park Hotels kehrte die lockere Atmosphäre zwischen ihm und Sarah nicht zurück. Als sie zu seinem Ferienhaus aufbrachen, war es längst dunkel geworden. Auf den ersten Blick sah das Blockhaus aus, als gehöre es seit Anbeginn der Zeit in diese Landschaft. Erst bei näherer Betrachtung fiel Sarah auf, daß es eins jener Fertighäuser war, aus denen die meisten Ferienhaussiedlungen in dieser Gegend bestanden. Es paßte gut zu dem dahintergelegenen Bergwald und bot einen wundervollen Ausblick auf den Kings River. Nicholas schloß auf, knipste die Lampe an und ließ Sarah eintreten. Der warme Schein tauchte das Zimmer in goldenes Licht. Vor dem offenen Kamin am anderen Ende des Raums stand eine bequeme Sitzgruppe, auf den Holzdielen lagen handgewebte Teppiche. Die Einrichtung vermittelte den Eindruck friedlicher Behaglichkeit. Erschöpft ließ sich Sarah auf einen Sessel sinken, streifte die Sandaletten ab und massierte sich die Füße. „Wanderschuhe wären besser gewesen“, stellte sie reumütig fest. „Jetzt weißt du auch, warum man Eureka Springs Little Switzerland nennt.“ Als Nicholas etwas sagen wollte, winkte sie ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. „Ich möchte mich erst ein bißchen ausruhen. Im Moment bin ich sogar zu müde, um mich zu unterhalten.“ Sie spürte, daß sein Blick auf ihr ruhte. Dennoch zwang sie sich, gleichmäßig weiterzuatmen und ruhig zu bleiben. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Daheim hatte die Aussicht auf dieses Wochenende ebenso verlockend auf sie gewirkt wie eine verbotene Frucht, nach der man sich schon immer gesehnt hat. Jetzt war sie allein mit Nicholas, ohne die vertraute Umgebung und ohne Angehörige. Angesichts dieser Wirklichkeit ließ die Begeisterung nach. Dabei hatte alles so gut angefangen. Sie waren ausgelassen gewesen wie Kinder, die unerwartet schulfrei bekommen. - 142 -
Dann war irgend etwas passiert, und Nicholas hatte sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Warum? Hätte sie nicht mit ihm hierher fahren dürfen? Was erwartete er jetzt von ihr? Nicolas beobachtete sie eine Weile, dann nahm er schweigend ihre Reisetasche und ging hinaus in die Diele. Wäre er länger dageblieben, hätte er Sarah einfach hochgehoben und ins nächste Schlafzimmer getragen. Sie brauchte Zeit, Ruhe und Sicherheit. Vor allem Sicherheit. Und er brauchte Sarah. Bei dem Gedanken schnürte sich ihm die Kehle zu. Ihre Bedürfnisse zu stillen hieß, die eigenen zu unterdrücken. Er sah keine andere Möglichkeit, ihr zu helfen. Alles andere mußte warten. Auch das Gespräch, bei dem er ihr endlich die Wahrheit über sich selbst sagen wollte. Jetzt war sie immerhin erst einmal bei ihm. „Sarah, bist du wach?“ flüsterte er, als er wieder im Wohnzimmer war. Sie lag noch genauso da wie vorhin, als er sie allein gelassen hatte. „Natürlich, ich bin nur müde.“ Und ich muß mich verstecken, dachte sie. Solange sie die Augen nicht öffnete, konnte sie so tun, als sei alles in Ordnung. „Ich habe deine Reisetasche in dein Schlafzimmer gebracht. Es liegt etwas weiter vom Bad entfernt als das andere Gästezimmer, aber das Bett ist bequemer.“ Sarah sah ihn an. Ihr Schlafzimmer? Sie war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Was hatte sie denn erwartet? Nicholas hatte von Anfang an klargestellt, daß er sie zu nichts zwingen wollte. Sie hätte also nicht überrascht sein dürfen, zumal er im Laufe des Abends immer nachdenklicher und stiller geworden war. Was sie irritierte, war seine zwischen Angriff und Rückzug schwankende Verhaltensweise und ihre eigene Unentschlossenheit. Er beobachtete ihr Mienenspiel, in dem sich das Hin und Her ihrer Gefühle widerspiegelte, und stöhnte leise auf. „O Sarah. Guck mich nicht so an.“ Erschrocken schmiegte sie sich noch enger in die Polster. „Verzeihung“, bat er. „Hinter uns liegen zwei anstrengende Tage. Du bist erschöpft. Das geht mir genauso. Ich wollte dir keine Angst - 143 -
machen.“ „Ist schon gut, Nicholas. Ich war wohl schon halb eingeschlafen und bin ein bißchen verwirrt, aber ich fürchte mich nicht vor dir. Ehrlich nicht.“ Nicholas schob die Hände in die Hosentaschen, wandte sich ab und trat ans Fenster. Draußen war alles finster. „Was hast du, Nicholas?“. „Nichts“, erwiderte er ruhig. „Es ist spät, und wir sind müde. Ich halte es für besser, wenn wir jetzt ins Bett gehen. Morgen unterhalten wir uns weiter.“ Er hörte, wie sie sich erhob, den Raum durchquerte und an der Tür innehielt. Etwas entspannter drehte er sich zu ihr um. Als er die Schatten unter ihren Augen sah, zuckte er innerlich zusammen. „Das Bad liegt hinter der ersten Tür links, dein Schlafzimmer am Ende des Flurs. Ich habe das Licht eingeschaltet.“ Sie nickte zögernd. „Danke schön. Ich finde mich schon zurecht. Gute Nacht, Nicholas.“ „Gute Nacht, Sarah. Schlaf gut.“ Er wartete, bis sie in ihrem Zimmer verschwand. Dann öffnete er geräuschlos die Haustür und trat hinaus auf die Veranda. Durch das offene Fenster schien der Mond, und eine leichte Brise bewegte die Vorhänge. Aus dem Wald erklang der Ruf eines Käuzchens. Sonst war alles still. Mit geschlossenen Lidern lag Sarah auf dem Bett und sah in sich hinein. Sie wartete auf das allumfassende Verständnis, das den Nebel der Ungewißheit in ihrem Inneren auflösen würde. Die Vergangenheit war noch nicht abgeschlossen, die Zukunft ungewiß und die Gegenwart ein sich überschneidendes geheimnisvolles Muster aus Gestern und Morgen. Alles schien stillzustehen und darauf zu hoffen, daß die Entwürfe der Vergangenheit vervollständigt werden, um die Zukunft bestimmen zu können. Sarah zwang sich, tief und gleichmäßig durchzuatmen, und versuchte den Traum zu verstehen, falls es überhaupt ein Traum - 144 -
gewesen war. Sie hatte sich schon oft gefragt, ob die nächtlichen Wachträume ein Produkt ihrer Phantasie waren, auf unbewußten Ängsten beruhten oder durch übersinnliche Kräfte hervorgerufen wurden. Die ihr durch diese Kräfte vermittelten Bilder erschienen oft unerwartet, waren aber immer deutlich und klar. Manche glichen einem einzelnen Schnappschuß in einem Fotoalbum, andere erfolgten in einer ganzen Serie wie Einzelaufnahmen zu einem Zeitlupenfilm. Sie erklärten sich nie von allein. Was vorher oder nachher geschah oder auch zum Zeitpunkt des Ereignisses selbst, war stets eine Sache der Auslegung. Auf jeden Fall wirkte Sarah in allen Szenen mit. Nicht persönlich, sondern stellvertretend für jemanden, der daran beteiligt war. Diesmal war alles anders. Die Bilder waren so unscharf, als läge ein Schleier darüber. Sie nahm selbst teil, nicht in der Rolle einer anderen Person. Auch Nicholas war da, wenn auch halb im Dunkel verborgen. Was völlig fehlte, waren Hinweise, an denen sie sich hätte orientieren können. Sie war auf sich allein gestellt. Sarah öffnete die Augen und richtete den Blick auf den Mondschein, der durch das Fenster ins Zimmer fiel. Da das Durcheinander verschwommener Bilder und wirrer Töne weder Hilfe bot noch Sinn ergab, versuchte sie einfach, es nicht zu beachten. Plötzlich hörte sie Tante Cindas strenge Stimme: „Eines Tages wirst du nicht wissen, was auf dich zukommt. Dann mußt du das Risiko auf dich nehmen, ohne dir deswegen Sorgen zu machen. Richte dich nur nach deiner inneren Stimme.“ Auf einmal war Sarah das Zimmer zu eng, Sie stand auf, streifte sich ihren weißen Bademantel über das Shorty und öffnete leise die Tür. Auf Zehenspitzen schlich sie an Nicholas Schlafzimmer vorüber ins Wohnzimmer, schob lautlos den Riegel an der Haustür zurück und ging auf die Veranda hinaus. Die Blätter rauschten im Wind. Aus dem Wald rief wieder das Käuzchen und erhielt Antwort von der anderen Seite des Flusses. Wie einfach und übersichtlich die Natur alles eingerichtet hatte. Das Weibchen gab ein Signal, das Männchen reagierte. Jedes Tier wußte instinktiv, woran es den Partner erkennen kann. Im stillen wünschte - 145 -
sich Sarah, genauso sicher zu sein. „Sarah?“ Nicholas löste sich aus dem Schatten des Hauses und trat zu ihr. Ohne darüber nachzudenken, ging sie auf ihn zu. Er wollte sie an sich ziehen. Doch dann besann er sich und legte ihr nur die Hände auf die Schultern. „Stimmt irgend etwas nicht, Sarah?“ Sarah erschauerte unter der Berührung. „Es ist alles in Ordnung sagte sie leise. „Ich wollte nur ein bißchen frische Luft schnappen. Entschuldige, daß ich dich geweckt habe.“ „Ich war wach.“ Er hatte seit einer Stunde hier draußen gesessen und gewartet. Sobald er überzeugt sein konnte, daß sie fest schlief, wollte er sich ebenfalls hinlegen. Er wußte nicht, ob er vorher genug Willenskraft hatte, um Sarah wirklich in Ruhe zu lassen. Zögernd ließ er die Hände sinken. Während sie sich innerlich gegen die Angst vor dem Alleinsein wappnete, rief das Käuzchen. „Hast du das gehört?“ fragte sie: „Das Männchen ist am Fluß. Horch.“ Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Offenbar hatte sich der Abstand zwischen den Vögeln verringert. „Da“, sagte Nicholas, „es hat den Ruf des Weibchens gehört. Jetzt fliegt es hin.“ Sie sah ihn an. In ihren Augen schimmerte ein warmer Glanz. Nicholas zauderte. Einerseits wollte er sie nicht drängen, andrerseits das klar Ersichtliche auch nicht leugnen. „Sarah?“ „Hör auf deine innere Stimme“, mahnten Tante Cindas Worte. Sarah sehnte sich nach Nicholas Nähe, wollte seinen Trost und seine Kraft spüren. Er war als Fremder hierher gekommen, und man hatte ihm mißtraut und ihn nicht verstanden. Aber er hatte nichts verlangt, nur darum gebeten, den Frieden zu erleben und zu begreifen, den er hier vorgefunden hatte. Der Wunsch war erfüllt worden. Er hatte nicht nur die Gegend kennengelernt, sondern auch Sarah, ihre Geheimnisse und Ängste, und war zu einem Teil von ihr geworden. Vor allem letzteres ließ sich nicht leugnen, aber aus irgendeinem Grund schien die Sehnsucht nach ihr erloschen. - 146 -
Das Käuzchen rief wieder, und die Antwort kam so schnell, daß Nicholas die beiden Vögel vor sich sah, wie sie nebeneinander saßen und ihre Rufe zum nächtlichen Himmel emporschickten. Unwillkürlich ahmte er den Laut mit leicht gespitzten Lippen nach. Sarah zögerte. Ob er sich dessen bewußt war oder nicht, er sehnte sich noch immer nach ihr. Er hatte sie gerufen, und sie wollte antworten. Bevor sie etwas sagen konnte, las er ihr die Antwort an den Augen ab. Er kämpfte mit sich. Der Zeitpunkt war ungeeignet. Sie brauchte Schutz vor ihm, vor sich selbst, vor dem Unbekannten, der sie bedrohte. Aber sie hatte seinen Widerstand überwunden, seine Vernunft besiegt, seine Sinne überwältigt. Er ergab sich in sein Schicksal und zog sie wortlos an sich. Nicholas beugte sich über Sarahs Mund. Er streifte ihn jedoch nur, ließ die Lippen zu ihrer Wange gleiten, über Nase, Stirn und Schläfen zu ihrem Haaransatz. Eine Weile genoß er den frischen Duft ihres Haars, dann liebkoste er ihr Ohr, das Ohrläppchen und verharrte schließlich in der Halsbeuge, wo das Pochen der Schlagader zu spüren ist. Bei alledem streichelte er ihr unablässig den Rücken, fuhr ihr mit den Händen über die verlockend geschwungenen Hüften und drückte sie an sich, bis ihr die Kraft seines Verlangens den Atem raubte. Seine Begierde war so groß, daß es fast weh tat. Er berührte ihre Zungenspitze mit seiner und kostete die Süße ihres Mundes aus. Als Sarah die Liebkosung erwiderte, erbebte er vor Lust. Er spürte, daß die Beine unter ihr nachzugeben drohten. „Halt dich an mir fest, Sarah. Keine Angst, ich bin hier. Ich bin ja hier.“ Sarah schmiegte sich an ihn, barg den Kopf an seiner Brust und sah zu ihm auf. Sie verschränkte die Hände hinter seinem Nacken. In seinen Armen lernte sie sich von einer neuen Seite kennen. Mit ihm zusammen war sie vollständig, ohne ihn nur ein Teil des Ganzen. Sie brauchte ihn, um ihre Bestimmung als Frau zu erfüllen. Eine Frau, die bereit war, ihr Wissen, ihre Bedürfnisse und ihre Gaben zu teilen. „Laß uns hineingehen“, bat sie kaum hörbar. Sie hatte ausgesprochen, was er gedacht hatte. Nicholas umfaßte ihre Taille, und sie kehrten eng aneinandergeschmiegt ins Haus zurück. - 147 -
Im Schlafzimmer öffnete er ihr den Gürtel, streifte ihr den Bademantel von den Schultern und ließ ihn auf den Boden gleiten. Nun hatte sie nur noch das fast durchsichtige Shorty aus spitzenbesetzter Seide an. Er trat einen Schritt zurück. „Wie schön du bist“, flüsterte er. Er löste den Blick nur von ihr, um sich seiner Kleidung zu entledigen. Schließlich war er bis auf einen knappen weißen Slip ebenfalls nackt. Sarah musterte ihn ausgiebig. Sie fing bei den breiten Schultern an, betrachtete seinen muskulösen Oberkörper, den flachen Bauch, die durchtrainierten Schenkel... Sie hob den Kopf und sah ihn verwundert an. Nicholas lachte leise. „Das ist nur eine äußerliche Andeutung dessen, wie sehr ich mich auch innerlich nach dir sehne. „Er nahm sie in die Arme und küßte sie. „Du bringst mein Blut in Wallung“, raunte er ihr ins Ohr, während er sie zum Bett trug. Ohne sie loszulassen, ließ er sich mit ihr in die Kissen sinken. „Ich habe es nicht gewußt, aber ich habe dich zeit meines Lebens gesucht.“ Als er sich über sie beugte, bot sie ihm die Lippen zum Kuß. Sie ließ ihm die Arme um den Hals gleiten und streichelte seinen Rücken. Mit einer fließenden Bewegung schob er ihr die zarten Träger des Shortys über die Arme nach unten, liebkoste ihren kleinen festen Busen und rieb die zarten Spitzen zwischen Daumen und Zeigefinger. Sofort verhärteten sich die rosigen Knospen und reckten sich ihm entgegen. Sarah erschauerte unter seinen Zärtlichkeiten. Sie klammerte sich an ihn und fuhr ihm mit der Zunge über die Lippen. Aus der sanften Liebkosung wurde rasch ein heftiger und leidenschaftlicher Kuß, bis beide außer Atem waren. „O Sarah, was mache ich nur mit dir?“ meinte Nicholas mit belegter Stimme. „Das ist doch ganz einfach“, erwiderte sie lächelnd. „Nimm mich.“ Die Worte klangen flehentlich und befehlend zugleich. Sie hob ihm die Hüften entgegen, damit er ihr das Shorty und den Bikinislip abstreifen konnte. Dann ließ sie die Hände zu seiner Taille gleiten, schob die Finger unter den elastischen Bund des Slips und schob ihn nach unten. Sie wollte Nicholas nahe sein, und dabei wirkte jeder Stoff störend. - 148 -
Nicholas stöhnte laut auf, während er mit den Lippen bereits wieder ihren Mund suchte. Er wollte, daß dieser Taumel der Leidenschaft ewig währte, und kostete die süße Qual aus bis an die Grenze des Schmerzes. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Sarah, um das ungeduldige Begehren abzuschwächen, das sie beide zu verzehren drohte. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Wange und grub ihm die Fingernägel in die Schultern. Sie tastete mit den Händen über seine erhitzte Haut und genoß den Schauer der Erregung, der ihn unter ihrer Berührung erbeben ließ. Sie bewegte sich unruhig unter ihm, rieb sich an ihm, sehnte sich nach ihm. Endlich hielt er es nicht länger aus. Er hob sich so weit an, daß sie die Beine spreizen konnte, und drang mit einem lustvollen Stöhnen in sie ein. Zuerst bewegte er sich provozierend langsam, aber sie ging so temperamentvoll auf ihn ein, daß sich das Tempo rasch steigerte. Schließlich bäumte sie sich unter ihm auf und warf den Kopf in den Nacken. Nicholas konnte sich nicht mehr länger zurückhalten, und Sekunden später mündeten die Gefühle unstillbarer Begierde in einer Explosion, die die beiden in die Unendlichkeit des Alls hinauszuschleudern schien. Befriedigt ließ sich Nicholas neben Sarah aufs Bett sinken und zog sie an sich. Auch draußen war alles still geworden, der Mond hinter dem Berg verschwunden. Im Schutz von Nicholas Arm schlief Sarah friedlich ein. Er langte mit einer Hand nach der Decke und breitete sie über sich und Sarah aus. Durch das Fenster wehte eine kühle Morgenbrise ins Zimmer, während am Himmel ein Stern nach dem anderen verblaßte und die Schwärze der Nacht einem lichten Grau wich. Nicholas bewachte Sarahs Schlaf. Nichts war schöner, konnte je schöner sein, als den neuen Morgen Seite an Seite mit ihr zu erleben. Beim ersten Mal hatte sie sich ihm hingegeben, weil sie seine Bestätigung und Anerkennung als Frau brauchte. Das Erlebnis war unvergleichlich schön und vollkommen gewesen. Diesmal hatte die Leidenschaft dem Feuer und Glanz eines weiß aufglühenden Sterns geglichen und sich in seine Seele eingebrannt, bis sie zu einem - 149 -
unveräußerlichen Teil seiner selbst geworden war. Jetzt wußte er, daß er Sarah liebte. Sie gehörte zu ihm, war so untrennbar mit seinem Sein verbunden wie das Herz in seiner Brust. Plötzlich wurde ihm eiskalt vor Angst. Selbst wenn sie seine Liebe erwiderte, würde sie ihm die wahren Gründe für seine Rückkehr nach Mountain Springs verzeihen? Konnte Sarah überhaupt einen Mann lieben, der sie belogen hatte, um hinter ihre Geheimnisse zu kommen und diese zu veröffentlichen? Er würde den Artikel natürlich nicht schreiben. Seit er wußte, wieviel Leid er ihr damit zufügen würde, war das für ihn keine Frage mehr. Das hatte nichts mit seiner Liebe zu ihr zu tun, sondern mit der Erkenntnis, wie schutzbedürftig sie war. Er war nicht der Typ, der sich für einen Scheck und eine Überschrift über alle Skrupel hinwegsetzt. Das war einer der Gründe, warum er unabhängig geblieben war. Wenn ein Herausgeber eine Story verlangte, ohne auf die Folgen für die Betroffenen Rücksicht zu nehmen, wollte Nicholas nein sagen können. Würde Sarah das verstehen? Vor allem, würde sie ihm vergeben, daß er so lange geschwiegen hatte? Sie hatte sich ihm rückhaltlos offenbart. Hätte sie von ihm nicht ein Gleiches verdient? Sag es ihr jetzt, sagte ihm sein Gewissen. Nein, das war unmöglich. Wenn sie ihn dann wegschickte, konnte er sie nicht mehr beschützen. Denn so sehr sie es auch leugnete, sie war in Gefahr. In dem Punkt vertraute er seiner Beobachtungsgabe und seinen Instinkten. Irgend jemand wollte ihr etwas antun. Nicholas mußte mit seinem Bekenntnis warten. Das Schicksal, das ihn zu ihr geführt hatte, würde ihm eine schönere Zeit nicht verwehren. Bis dahin mußten noch viele Schwierigkeiten überwunden werden. Mountain Springs war Sarahs Prüfstein. Ohne diese Stadt würde sie nie wirklich glücklich werden. Mit ihm in der Welt herumzureisen wäre kein Ersatz. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, daß ihm daran ebenfalls nicht mehr viel lag. Die alte Wanderlust war zwar nicht völlig verschwunden, aber sie war nicht mehr so zwanghaft wie früher. Er hatte gefunden, was er gesucht hatte. Damit würden sie schon fertig. Er würde sich ein Problem nach dem anderen vornehmen und lösen. Das erste und wichtigste war - 150 -
Sarahs Sicherheit. Er zog Sarah unwillkürlich enger an sich. Sie murmelte etwas im Schlaf und bewegte sich unruhig. Nicholas lockerte den Zugriff ein bißchen und streichelte sie, bis sie wieder entspannt dalag. Er betrachtete lange ihre Lippen, die von seinen Küssen noch rot und geschwollen waren. Wie friedlich sie schlummerte und sich dabei vertrauensvoll an ihn schmiegte. Nicht einmal zwei Leben würden reichen, um genug von ihr zu bekommen. Er mußte es schaffen, die Bedrohung und Gefahr, in der sie schwebte, zu beseitigen und ihre Vergebung zu erlangen.
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13. KAPITEL Sarah parkte ihr Auto im Schatten einer überhängenden Eiche und betrachtete die Wolken, die sich im Südwesten gebildet hatten. Sie wußte aus Erfahrung, daß sie wahrscheinlich weder Regen noch Abkühlung bringen würden. Jedenfalls noch nicht heute. Als sie ausstieg, sprangen zu ihren Füßen in alle Richtungen Grashüpfer davon. Die hektische Betriebsamkeit erinnerte Sarah an den Zustand ihres Verstandes in den letzten zehn Tagen. Leider konnte sie sich über die wirren Gedanken nicht so erfolgreich hinwegsetzen wie über die Insekten. Sie schlug den steilen Pfad zu Tante Cindas Haus ein. Es würde schwer sein, der zielstrebigen alten Dame irgendein Zugeständnis abzuringen. Doch trotz dieser Herausforderung drehte sich ihr ganzes Denken um einen einzigen Punkt. Nicholas. Seit der Rückkehr aus Eureka Springs hatte sie ihn nur noch zweimal gesehen, obwohl sie fast täglich miteinander telefoniert hatten. Das war nicht das gleiche. Sie hatte nicht gewußt, wie sehr sie sich an seine Gegenwart gewöhnt hatte, an seine markanten Gesichtszüge, das liebevolle Lächeln und das Aufleuchten in seinen Augen, wenn er sie ansah. Manchmal könnte man meinen, die ganze Welt hätte sich gegen ein Treffen mit ihm verschworen. Zuerst war Sarah der Großmutter beim Einmachen zur Hand gegangen. Dann hatte sie Jimmy Joe gepflegt, der sich ein Zweitagesfieber zugezogen hatte. T. J. hatte um ihre Hilfe bei einem kranken Fohlen gebeten. Heute hatte sie endlich frei, Nicholas jedoch nicht finden können. In der letzten Zeit war er oft weggefahren, ohne zu sagen, wohin. Aber der geheime Nachrichtendienst in Mountain Springs hatte einwandfrei funktioniert. Es hieß, er sei in Fayetteville, in Rogers und einmal in Springdale gewesen. Heute morgen hatte Cousine Mabel am Telefon erzählt, sie hätte ihn gestern vor dem Gericht in Bentonville gesehen. Neugierig wie immer, hatte sie natürlich gefragt, was er da wollte. Das hätte Sarah nicht gesagt, auch wenn sie es gewußt hätte. Aber sie überlegte ebenfalls, was er vorhatte, denn von einer neuen - 152 -
Story war ihr nichts bekannt. Sarahs Hauptproblem war die Frage, inwiefern und ob sie überhaupt in seine Pläne für die Zukunft paßte. Ein einziges Mal hatte er nebenbei erwähnt, daß er in St. Louis ein größeres Apartment suchen wolle. Er hatte ihr erzählt, daß seines klein war und er sich selten dort aufhielt. Sarahs Vertrag mit der Schule lief dagegen erst nächstes Jahr aus. In zirka einem Monat würde sie daher nach St. Louis zurückkehren müssen. In Eureka Springs hatte es keinen Zweifel an der Beziehung zwischen ihnen gegeben. Sie waren meistens in Nicholas Ferienhaus geblieben und einander so nahe gewesen, daß Worte überflüssig waren. Der heutige Tag würde wahrscheinlich ebenso enttäuschend werden wie die letzten zehn. Bedrückt verließ Sarah den Pfad und betrat die Lichtung vor dem Haus ihrer Großtante. Sie hatten sich seit dem Picknick nicht mehr gesehen, nur T. J. war einmal hier gewesen. Er hatte erzählt, seine Großmutter benähme sich so rätselhaft und widerspenstig wie immer. „Wo steckt dein junger Mann?“ ertönte Tante Cindas energische Stimme schon aus der offenen Haustür, bevor Sarah die Veranda erreicht hatte. Sarah hatte nicht erwartet, Tante Cinda mit ihrem Besuch überraschen zu können. Aber mit dieser Begrüßung hatte sie erst recht nicht gerechnet. „Keine Ahnung.“ Sarah schob das Fliegenschutzgitter beiseite und trat ein. Die Großtante saß wie immer in ihrem Schaukelstuhl, diesmal ohne Schal. Den hatte sie über die Armlehne gehängt. „Wie geht es dir, Tante Cinda? Die Hitze ist fast unerträglich, nicht wahr?“ „Versuch nicht, das Thema zu wechseln, Sarah Jane. Wo ist dein Freund, Nicholas?“ „Ich weiß nur, daß er nicht in der Stadt ist.“ „Aha. Du leugnest also nicht mehr, daß er dein Freund ist. Das ist immerhin ein Fortschritt.“ Sarah küßte Tante Cinda auf die Wange. „Wenn du beschlossen hast, in Nicholas meinen Freund zu sehen, kann ich daran ohnehin nichts ändern. Weshalb sollte ich also widersprechen?“ - 153 -
„Ich brauchte nichts zu beschließen, Er gehört zu. dir. Das heißt, falls du ihn willst.“ „Du hast also nichts dagegen?“ fragte Sarah lächelnd. „Natürlich nicht. Es ist nicht gut, allein zu sein. Besonders nicht für Menschen wie dich und mich. Ich habe das leider erst erkannt, als Udell schon tot war. Deshalb sage ich es dir jetzt.“ Mit weicher Stimme fügte Tante Cinda hinzu: „Die Entscheidung liegt bei dir. Ich will mich nicht einmischen. Aber ich bin sicher, daß du jemanden brauchst. Eine alte Tante ist nicht genug, und Nicholas ist in Ordnung.“ „Ich mag ihn sehr“, gab Sarah leise zu. „Schwindel mich nicht an, Sarah Jane.“ Tante Cinda lachte leise. „Als ich jung war, hat man das anders genannt.“ Sarah stimmte in das Lachen ein. „Eigentlich wollte ich mit dir über etwas anderes reden, Tante Cinda.“ Sie ging zum Spülbecken auf der anderen Seite des Raums, nahm ein Glas vom Regal und hielt es unter den Aufsatz mit der Handpumpe. „Glaubst du, das wüßte ich nicht?“ meinte Tante Cinda mißbilligend. „Da du schon mal dabei bist, kannst du mir auch ein Glas Wasser bringen. Direkt aus der Quelle schmeckt es nämlich herrlich. So was Gutes findest du im Tal nicht.“ „Dafür muß man dort im Winter das Eis nicht mit der Spitzhacke losschlagen“, entgegnete Sarah. Die Großtante seufzte. „Ich weiß. Aber du mußt zugeben, daß es an einem heißen Sommertag nichts Erfrischenderes gibt als klares kaltes Quellwasser.“ „Ja du hast recht“, sagte Sarah zärtlich. „Und heute ist es besonders heiß.“ Sie füllte zwei Gläser, reichte Tante Cinda eins und setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl. „Mit der Zeit ändert sich alles“, erklärte Tante Cinda. „Als mein Daddy, dein Urgroßvater, dieses Haus damals direkt über einer Quelle gebaut hat, haben ihn alle für verrückt erklärt. Aber er hat sich nicht beirren lassen, und bald haben es andere nachgemacht und ihre Häuser auch über einer Quelle errichtet. Mama war sehr stolz, daß sie die erste war, die im Haus fließendes Wasser hatte. - 154 -
Ich möchte wetten, daß nicht mehr viele Brunnen übrig sind, die noch funktionieren. Inzwischen dreht man einfach an einem Hahn, und das heiße oder kalte Wasser kommt aus der Leitung, wie man es gerade haben will.“ „Du wirst sehen, das ist sehr bequem“, warf Sarah ein. „O ja, davon bin ich überzeugt. Und meine alten Knochen können ein bißchen Bequemlichkeit gebrauchen. Aber ich werde das Haus vermissen. Ich wohne hier, seit ich sechs war. Gertie war damals, noch gar nicht geboren. Die besten Jahre des Jahrhunderts habe ich auf diesem Berg verbracht. Viele Menschen leben gar nicht so lange und erst recht nicht an ein und demselben Ort. Ich bin hier sehr, sehr tief verwurzelt.“ Sarah tätschelte ihr die Hand. „Ich weiß, wie schwer das für dich sein muß, Tante Cinda. Vor allem am Anfang. Aber allmählich wirst du dich daran gewöhnen.“ „Das ist mir klar. Im Grunde freue ich mich ja auch schon auf meine neue Umgebung. Das habe ich dir doch erzählt.“ „Stimmt.“ Sie zögerte. „Tante Cinda, was das neue Haus betrifft...“ „Ja? Was ist damit?“ „Na ja, ich habe es nicht gefunden und T. J. auch nicht. Aber die Zeit wird immer knapper.“ „Ach, so ein Unsinn. Wir haben Zeit genug. Oder hast du etwa das Gefühl, daß es morgen schneien könnte? Wie gesagt, wenn ich es brauche, wird es dasein.“ „Aber...“ „Nichts da. Hör endlich auf, dir meinetwegen den Kopf zu zerbrechen. Kümmer dich lieber um deine Angelegenheiten. Ich kann allein für mich sorgen. Tu nicht immer, als müßtest du mich bewachen wie eine Glucke ihr Küken. Ich habe deine Windeln gewechselt, als du noch nicht einmal deinen eigenen Namen kanntest, und könnte das jederzeit wieder tun, wenn es sein muß. Vergiß das nicht. Es wäre mir allerdings lieber, wenn es sich dabei um deine Babys und nicht um dich selbst handelt. Ich kann Babys saubermachen, aber keine mehr bekommen. Das ist deine Aufgabe, und damit solltest du dich auseinandersetzen. Nicht mit einer alten - 155 -
Lady.“ „Tante Cinda! „ rief Sarah teils belustigt, teils entsetzt. „Sarah Jane!“ ahmte die Großtante sie nach. „Denkst du ich bin von gestern? Ich brauche keine Seherinnenfähigkeit um zu wissen, was dich beschäftigt. Außerdem finde ich ohnehin, daß es höchste Zeit ist. Von mir aus kannst du jetzt ruhig sagen, daß mich das nichts angeht. Das Recht dazu hast du. Aber falls du mit jemandem sprechen möchtest, bin ich jederzeit für dich da. Du hast wahrscheinlich schon gemerkt, daß mir der junge Mann sympathisch ist.“ Lächelnd beugte sich Sarah vor und umarmte Tante Cinda. „Wenn es so weit ist, bist du sicher die erste, an die ich mich wenden würde. Das weißt du doch. Aber das hängt nicht nur von mir ab.“ „Erwidert er deine Zuneigung nicht?“ „Doch, ich glaube ja. Sicher bin ich mir nicht. Jedenfalls nicht, ob seine Gefühle dauerhaft genug sein werden. Er hat sich dazu noch nicht geäußert, und ich kann seine Gedanken nicht lesen.“ „Hab ein bißchen Vertrauen, Sarah Jane. Zu dir selbst und auch zu dem jungen Mann. Im Buch der Bücher steht, daß Glaube Berge versetzen kann. Das darfst du nie vergessen.“ „Ich werde daran denken, Tante Cinda.“ „Sehr gut. Hol mir bitte noch ein Glas Wasser. Dann machen wir es uns gemütlich und unterhalten uns noch etwas über andere Dinge. Ab und zu plaudere ich ganz gern ein bißchen. T. J. kann interessant erzählen, aber es gibt doch noch andere Themen als kranke Pferde und das Heumachen auf der Südweide.“ Am Nachmittag darauf sah Sarah, wie T. J. aus dem Lebensmittelladen kam. Sie wartete vor der Post, bis er sie eingeholt hatte. „Hast du gestern bei Großmutter etwas erreichen können?“ fragte er ohne Einleitung. Sarah bedauerte. „Nicht viel. Sie behauptet immer wieder, sie - 156 -
könne allein für sich sorgen. Ich habe ihr, gesagt, daß wir das. Haus nicht gefunden hätten, von dem sie spricht. Wenn ich es brauche, wird es dasein, hat sie erwidert. Aber ich habe das Gefühl, daß sie dem Umzug nicht mehr ganz abgeneigt ist.“ „Fürs erste müssen wir uns damit wohl zufriedengeben. Ich weiß nicht, Sarah. Vielleicht sollten wir wirklich aufhören, uns deswegen Sorgen zu machen. Sie hat meistens recht.“ „Das stimmt.“ Sarah lachte. „Und falls meine sorglose Miene so aussieht wie deine, fällt auf uns nicht einmal eine Fliege herein.“ T. J. verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. „Wie wahr. Aber ich habe keine Ahnung, was wir noch tun können.“ „Geduld haben“, schlug sie vor. „Wie Tante Cinda gestern sagte, sieht es nicht so aus, als ob es bald schneien könnte. Bis dahin erledigt sich das Problem vielleicht von allein.“ „Schön wär’s.“ T. J. wechselte das Thema. „Wo ist Nicholas? Oder bist du allein in die Stadt gekommen?“ „Falls du es noch nicht bemerkt hast“, erwiderte Sarah schnippisch, „ich bin inzwischen ein großes Mädchen und kann seit geraumer Zeit allein entscheiden, wohin ich gerade will.“ Er ließ sich nicht beirren. „Mit anderen Worten, Nicholas ist nicht bei dir. Und Jimmy Joe oder Tante Gertie? Ach, zum Kuckuck, Sarah. Du hattest versprochen, vorsichtig zu sein.“ „Fang nicht schon wieder damit an.“ „Also, wo ist Nicholas?“ „Warum willst du das wissen, um dich am Dorfklatsch zu beteiligen?“ „Spar dir deine Sticheleien, Sarah. Du weißt genau, daß wir dir helfen wollen. Außerdem will Sam mit ihm sprechen.“ „Was will er denn von Nicholas?“ „Keine Ahnung. Guck nicht so ungläubig. Mir erzählt keiner was. Ich bin nur ein unschuldiger Zuschauer.“ „Ja, du und Bobby McGee. Wahrscheinlich geht’s wieder um die blöde Idee, daß Nicholas mich in den Pferch gestoßen hat.“ „Quatsch!“ protestierte T. J. „Nicholas ist in Ordnung. Sam hat mich nur gefragt, ob ich wüßte, wo er steckt.“ „Ja, und ihr kümmert euch mit Freuden gemeinsam um meine - 157 -
Angelegenheiten. Du und Sam und Nicholas.“ „Du und deine Angelegenheiten. Paß nur auf, Sarah. Du wirst meiner Großmutter mit jedem Tag ähnlicher.“ „Jedenfalls kann ich ihren Standpunkt immer besser verstehen“, fuhr sie ihn gereizt an und wandte sich ab. „Hey, was soll das, wohin willst du?“ „Zu Sam“, warf sie über die Schulter zurück. Sam wirkte nicht sonderlich erfreut über Sarahs Besuch. Anstatt zu lächeln, sah er ihr stirnrunzelnd entgegen. „Du scheinst dich richtig zu freuen, daß ich hier bin.“ „Natürlich freue ich mich.. Geht es um was Dienstliches, oder wolltest du nur mal vorbeischauen?“ Jetzt war Sarah sicher, daß irgend etwas nicht stimmte. „Das kommt darauf an“, erwiderte sie. „Du suchst Nicholas?“ „Ja.“ Er gab sich arglos. „Ich wollte nur mal mit ihm reden. Ist er mit dir in die Stadt gekommen? „Nein, ich bin allein hier.“ Sie musterte ihn eindringlich. „Was soll das alles, Sam?“ Er ging nicht darauf ein. „Allein? Verflixt, wir hatten abgemacht...“ „Du meinst, du, T. J. und Nicholas habt etwas abgemacht“, unterbrach Sarah ärgerlich. „Mich hat niemand gefragt. Ich will wissen, was du von Nicholas willst. Wenn du immer noch an die verrückte Idee mit dem Anschlag auf mich glaubst...“ „So abwegig ist sie nicht, Sarah, und es wäre besser, du nähmest sie ebenfalls ernst.“ „Das Rodeo war vor zwei Wochen, Sam. Seitdem ist nichts mehr passiert.“ „Weil du vernünftig warst und nie allein. Oder nur selten.“ .“Aber Nicholas war die ganze Zeit dein Hauptverdächtiger, nicht wahr? Oder waren das die Ewells?“ „Sowohl der eine als auch die anderen.“ „Ach so. Was machen die Ewells denn so?“ erkundigte sich Sarah betont unschuldig. „Denen geht’s gut, soviel ich weiß.“ Sam gab widerstrebend zu: - 158 -
„Die meisten leben allerdings in Kalifornien. Deshalb bin ich mit der Überprüfung noch nicht ganz fertig.“ „Aha. Und Nicholas?“ Sie ließ nicht locker. „Du hast nichts gefunden, stimmt’s? Keinen dunklen Fleck in seinem Leben, keinen heimlichen Grund, weshalb er mir etwas tun sollte. Sonst hättest du mir Bescheid gesagt.“ Sam mied ihren Blick. Sein Schweigen beunruhigte Sarah. „Dein Verdacht hat sich nicht bestätigt. Das weiß ich. Andernfalls hättest du mich benachrichtigt“, bekräftigte sie noch einmal. „Schon gut, du hast recht. Es gibt nichts, was ihn belastet. Aber das mußte ich erst überprüfen.“ „Das klingt, als hättest du deine Meinung über ihn inzwischen geändert“, stellte sie erleichtert fest. „Dir ist also endlich klargeworden, daß du dich geirrt hast.“ „Kann sein. Er hatte beredsame Fürsprecher, die Gutes über ihn ausgesagt haben. Du hast ihn oft getroffen, nicht wahr?“ „Als ob du das nicht längst wüßtest“, meinte Sarah gereizt. „Für so was hast du doch deinen persönlichen Geheimdienst.“ „Ich wüßte nicht, was dich berechtigt, so mit mir zu reden, Sarah Jane Wilson“, herrschte Sam sie an. Sarah starrte ihn entgeistert an. Diesen Ton war sie von ihm nicht gewöhnt. „Und ich wüßte nicht, was dich berechtigt, mir andauernd auszuweichen, Sam Bascomb“, entgegnete sie und versuchte gleichzeitig, die Panik niederzukämpfen, die sich ihrer zu bemächtigen drohte. „Dein Geschimpfe nützt dir gar nichts. Ich merke doch, daß du etwas vor mir verbirgst.“ Sie zwang sich tief durchzuatmen und fuhr ruhiger fort: „Du hast T. J. gesagt, du wolltest Nicholas sprechen. Wenn du mir in die Augen schauen und mir dabei versichern kannst, daß das nichts mit mir zu tun hat, lasse ich das Thema sofort fallen. Wenn nicht, sag mir, was los ist. Ich bin es leid, daß jeder meint, er wüßte genau, was für mich gut ist und was nicht.“ „Hör auf, Sarah“, bat Sam müde. Ihre Angst wurde immer größer. „Sam“, beschwor sie ihn. „Es gibt etwas, das ich deiner Ansicht nach nicht erfahren sollte. Aber - 159 -
meine Entscheidungen kann mir keiner abnehmen. Das weiß niemand besser als du. Je mehr du darum herumredest, um so sicherer bin ich, daß ich es wissen muß. Nur weil du Nicholas anfangs für den Täter gehalten hast...“ „Das habe ich nie behauptet. „Nicht wörtlich, aber du warst nicht weit davon entfernt.“ „Ich habe immer gesagt, daß ich mich irren könnte. T. J. mag ihn, und T. J. besitzt ziemlich viel Menschenkenntnis. Deine restliche Familie auch, und Hoyston hat sogar...“ „Sergeant Hoyston vom Police Department in St. Louis?“ Sarah wurde übel vor Schreck. Was hat der mit Nicholas zu tun?“ „Hoyston ist mein Kontaktmann in St. Louis, und Mr. Matthias hat erzählt, daß er aus St. Louis kommt. Da ist es doch nur natürlich, daß ich mich bei Hoyston nach ihm erkundige.“ Irgend etwas stimmte nicht an dieser Erklärung, das fühlte Sarah. „Was geht hier vor? Kennen sich die beiden?“ „Hör auf, Sarah. Ich will, erst mit Mr. Matthias sprechen.“ „Sag mir auf der Stelle, was los ist. Ich bestehe darauf.“ „Sarah“, begann Sam, aber sie winkte ab. „Je länger du schweigst, um so schlimmer wird es. Das haben wir oft genug erlebt. Ich will die Wahrheit wissen. Jetzt.“ „Na gut.“ Sichtlich niedergeschlagen zog er die oberste Schreibtischschublade auf, holte einen Schnellhefter hervor und schob ihn Sarah hin. Sie wagte kaum zu atmen, blätterte in den Unterlagen, betrachtete stumm die Zeitungsausschnitte mit den Fotos, las die Titel. Wahrsagerin als Betrügerin entlarvt. Hellseher hat Informanten an der Börse. Wunderheiler läßt Patienten sterben. Unter jeder Überschrift stand der Name des Autors. Nicholas D. Matthias. Die Buchstaben verschwammen Sarah vor den Augen. „Hat Hoyston dir das geschickt?“ „Nein. Er kennt Mr. Matthias“, gab er zu. „Sie sind miteinander befreundet. Aber er war nicht meine einzige Quelle.“ „Wie nennt man so jemanden wie Nicholas, Sam? Einen Meister der Magie?“ Ihre Stimme bebte. - 160 -
„Die Storys beweisen nichts, Sarah. Deshalb wollte ich ja mit ihm reden. Er hat einen guten Ruf, richtet sich nur nach Fakten, überprüft alles persönlich und sehr genau.“ Er merkte, daß er es mit jedem Wort schlimmer machte, und schwieg. Sarah erhob sich und stützte sich mit beiden Händen auf der Schreibtischfläche ab. „Schon gut, Sam. Ich hätte eben von Anfang an auf dich hören sollen.“ „Warte, Sarah. Sprich erst mit ihm. Vielleicht...“ „Das werde ich ganz sicher tun. Leider wird er nicht viel dazu sagen können.“ „Das weißt du nicht. So wie es aussieht, ist er zwar deswegen gekommen. Aber er könnte seine Meinung geändert haben.“ „Das hätte er mir sagen können.“ Sie ergriff den Schnellhefter und ging zur Tür. „Ist das nicht komisch, Sam? Ich wußte nicht einmal, daß er zwei Vornamen hat. Was mag die Abkürzung wohl bedeuten?“
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14. KAPITEL Im Auto war es noch heißer als draußen. Sarah drehte die Seitenfenster herunter. Dabei glitt der Schnellhefter vom Beifahrersitz und klappte auf. Schwindel, Betrug, Trick, Gaunerei, stand dort in großen Blockbuchstaben. Mit tränenblinden Augen starrte Sarah durch die Windschutzscheibe nach vorn. Von der anderen Straßenseite kam T. J. auf sie zugeschlendert. Aber sie wollte jetzt mit niemandem sprechen, auch nicht mit ihrem Cousin. Sie ließ den Motor an und lenkte den Wagen aus der Parklücke auf die Straße. Im Vorbeifahren winkte sie T. J. lächelnd zu. Zuerst war sie wie betäubt, dann wurde sie wütend. Wie hatte sie sich nur so irren können? Aber selbst Nicholas Gemeinheit konnte sein Bild nicht aus ihrem Gedächtnis löschen. Wie er sich über sie gebeugt, sie betrachtet und liebkost hatte. Lauter Lügen, nichts als Lügen. Die Erinnerung verstärkte das Gefühl, hintergangen worden zu sein. Sie versuchte, sich irgendeines Vorfalls zu entsinnen, der für Nicholas Treulosigkeit bezeichnend war. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihr fiel nichts ein. Eins stand jedenfalls fest. Nicholas war nach Mountain Springs gekommen, um sie aufzuspüren und des Betrugs zu überführen. Er hatte seiner Artikelserie eine weitere Story hinzufügen wollen. Hoyston mußte ihm einen Tip gegeben haben. Der Polizist hatte die Abmachung gebrochen und ihr damit den letzten Zufluchtsort genommen, an dem sie sich wohl gefühlt hatte. Für Nicholas mußte der Sommer enttäuschend gewesen sein. Nicht ein einziges aufregendes Geheimnis hatte er lüften können, keine Vortäuschung übernatürlicher Kräfte aufgedeckt. Ihre Seherinnenfähigkeit hatte geruht und ihr nicht den geringsten Hinweis auf die Katastrophe gegeben, die sich direkt vor der Haustür anbahnte. Sie ahnte eben selten Dinge voraus, die sie selbst betrafen. Sarah blinzelte gegen die Tränen an, die ihr die Sicht zu nehmen drohten. Daß alles gelogen war, hätte sie auch ohne ihre sogenannte Gabe erkennen müssen. Die Welt, die sie in Nicholas - 162 -
Armen erlebt hatte, war nicht für Menschen wie sie geschaffen. Das wußte sie schon lange. Mit der Geschichte über Monte Ne hatte Nicholas einen guten Köder für sie ausgelegt. Sie fragte sich, ob er schon vorher etwas über die alte Siedlung gewußt oder erst hier davon erfahren hatte. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Doch. Es gab etwas, das ihr auch in diesem Augenblick wichtig war. Die Familie. Ihre Angehörigen sollten nicht sehen, wie sehr sie litt. Sie würden Sarahs Unglück als ihr eigenes anerkennen und sich die Schuld dafür geben, was sie mitmachte. Wenn sie nur wüßte, was Nicholas vorhatte. Dann könnte sie sich etwas überlegen, um sich und die Verwandten vor dem Ärgsten zu schützen. Wieviel Zeit blieb ihr noch? Wann wollte er die Geschichte über sie veröffentlichen? Ihr war klar, was sie machen mußte. Wo immer er jetzt war, er würde irgendwann in sein Ferienhaus zurückkehren. Dort würde sie auf ihn warten, ihn zwingen, ihr seine Pläne zu verraten, und ihm offen ins Gesicht sagen, was sie von ihm hielt. Sarahs Mut sank, als sie Nicholas Jeep vor dem Haus entdeckte. Als sie jedoch den Schnellhefter mit den Beweisen an sich drückte, überwog der Zorn die Angst. Auf das erste Klopfen antwortete niemand. Also versuchte sie es erneut, diesmal lauter. Plötzlich wurde die Tür von innen aufgerissen, und Nicholas stand vor ihr. Er hatte Shorts an, Oberkörper und Beine waren nackt. Die Tropfen auf der Brust, das feuchte Haar und das lässig über die Schulter geworfene Handtuch zeigten, daß er geradewegs aus der Dusche kam. Sein Anblick tat ihr so weh, daß sie kein Wort hervorbrachte. „Sarah.“ Aus seinem Mund klang der Name wie eine Liebkosung. Er. trat beiseite, um Sarah einzulassen, und streckte die Arme nach ihr aus. „Ich habe nur rasch geduscht. Sobald ich fertig war, wollte ich zu dir auf die Farm fahren.“ Sie wich zurück. Nicholas ließ die Hände sinken und musterte Sarah prüfend. „Was ist passiert, Sarah?“ - 163 -
Wortlos reichte sie ihm den Schnellhefter und vermied jede Berührung. Er nahm die Unterlagen in die eine Hand und blätterte sie mit der anderen durch. Sein Gesicht wurde aschfahl. Als er wieder aufsah, stand in seinen Augen ein beinahe flehentlicher Ausdruck. „Sarah, bitte. Das habe ich nicht gewollt.“ „Natürlich nicht. Wahrscheinlich sollte ich es erst durch den Zeitungsartikel erfahren, nicht wahr?“ fragte sie tonlos. „Nein, du verstehst mich nicht. Ich wollte nicht...“ Sarah winkte ab. „O doch, ich verstehe dich sogar sehr gut, Nicholas. Du bist mir von St. Louis aus gefolgt, weil du eine weitere Geschichte für deine Unterlagen gesucht hast. Denn du schreibst Geschichten über Betrüger, die behaupten, übernatürliche Kräfte zu besitzen, oder nicht?“ „Nein“, sagte Nicholas und verbesserte sich: „Doch. Aber nur nebenbei. Normalerweise im Urlaub.“ „Ach so. Nebenbei. Als Ferienzeitvertreib.“ Ihre Stimme brach. Sie wandte sich ab und rang um Fassung. Als sie spürte, daß Nicholas mit erhobenen Händen näher kam, wirbelte sie zu ihm herum und fuhr ihn an: „Faß mich nicht an. Ich könnte es nicht ertragen, mich noch einmal von dir berühren zu lassen.“ Nicholas trat mit immer noch ausgebreiteten Armen zurück. „Warum, Nicholas?“ fragte Sarah. „Ich habe dir vertraut. War das nicht genug? Mußtest du auch noch dafür sorgen, daß ich mich in dich verliebte? Machst du das immer so, wenn du Informationen brauchst?“ Sie wartete, bis ihre Stimme wieder sicherer war, dann fügte sie leise hinzu: „Habe ich deine Erwartungen erfüllt und eine aufregende Story geliefert?“ Erst jetzt ließ Nicholas die Arme wieder fallen. „Ich habe gar nichts über dich geschrieben.“ „Merkwürdig“, meinte sie mit grimmigem Spott. „Aber aus irgendeinem Grund kann ich das nicht so recht glauben.“ „Sarah Schau mich an. Es gibt keine Story. Warum sollte ich lügen? Ich habe dich noch nie belogen.“ „O nein, noch nie. Du bist nur wegen der Geschichte über Monte Ne hierher gekommen. In deinem Wörterbuch wird das, - 164 -
Wort Lüge offenbar anders erklärt als in meinem.“ „Der Artikel über Monte Ne wird veröffentlicht. Mein Agent hat ihn bereits an einen großen Verlag verkauft.“ „Das ist völlig unwichtig.“ „Kann sein. Gut, ich gebe zu, daß ich nicht die ganze Wahrheit gesagt habe.. Aber ich habe nicht gelogen, Sarah. Seit ich dich kenne, weiß ich, daß ich über dich keine Story schreiben kann. Ich habe dir nie weh tun wollen.“ Ungeweinte Tränen brannten Sarah in den Augen. „Klar. Wer's glaubt, wird selig.“ „Das ist mir ernst, Sarah. Ich wollte mit dir darüber reden, aber ich habe nie den richtigen Zeitpunkt erwischt.“ „Das nehme ich dir unbesehen ab. Es ist immer schwer, den richtigen Zeitpunkt für ein Geständnis zu finden, wenn man jemanden betrügt.“ „So war das nicht gemeint. Immer wenn wir zusammen waren, gab es etwas Wichtigeres zu besprechen oder zu erledigen, als über Artikel zu reden, die ich irgendwann verfaßt habe. Artikel, die nichts mit unserer Beziehung zu tun hatten.“ „Wirklich nicht? Das sehe ich anders.“ Nicholas hielt Sarah den Hefter hin. „Hast du sie gelesen?“ „Ein paar.“ „Diese Leute waren ausnahmslos Betrüger und haben die Gutgläubigkeit anderer Menschen ausgenutzt. Nicht eine dieser Geschichten enthält Gerüchte. Ich habe alles genau überprüft. Diese Gangster hatten es verdient, entlarvt zu werden.“ „Mit dem Ziel bist du auch nach Mountain Springs gekommen. Du wolltest mich überprüfen. Wie gesagt, hat es sich gelohnt?“ „Du bist keine Schwindlerin. Nicholas trat einen Schritt auf sie zu. „Du bist ehrlich, Sarah. Der ehrlichste, wichtigste Mensch, der mir je begegnet ist. Es tut mir leid, daß du auf diese Weise von den Geschichten erfahren mußtest. Das ist mein Fehler. Wenn ich es dir selbst erzählt und alles erklärt hätte, wären sie dir unwichtig gewesen. Sie sind auch jetzt nicht wichtig und werden es für uns nie sein. Vertrau mir.“ Sarah floh zur Tür. „Dir vertrauen? Einmal und nie wieder.“ - 165 -
„Hör mir doch endlich mal zu, Sarah. Bitte. Ich habe dich nicht hintergangen. Die Geschichten stammen aus einer Zeit, als ich dich noch nicht kannte. Sie haben nichts mit uns zu tun.“ Leise fuhr er fort: „Ich will dir freiwillig etwas erzählen, was ich nicht erzählen müßte. Nachdem ich dich kennengelernt hatte, war ich erst recht entschlossen, von dir zu berichten. Du warst der erste Mensch, der tatsächlich übernatürliche Fähigkeiten besaß. Als mir klar wurde, welche Folgen das für dich haben würde, verwarf ich die Idee. Die Geschichte wäre ein durchschlagender Erfolg, aber ich werde sie nie schreiben. Bitte lauf nicht weg, Sarah. Wirf nicht fort, was uns verbindet. Schenk mir Vertrauen.“ „Ich kann nicht.“ Sie öffnete die Tür und ging hinaus. „Sarah!“ Nicholas lief ihr nach. Auf der Veranda hatte er sie fast eingeholt, doch dann warf sie einen Blick zurück. In ihren Augen stand nackte Angst. Er hielt abrupt inne und sah ihr mit schmerzverzerrter Miene nach. Erst als sie im Auto saß und gesehen hatte, daß er stehengeblieben war, rief er ihr zu: „Denk darüber nach, Sarah. Bitte. Ich werde dir jetzt nicht folgen. Aber das ist nicht das Ende. Ich komme wieder.“ Er mußte ihr Zeit lassen, damit sie sich alles noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen konnte, bevor sie sich wiedersahen. So leicht gab er nicht auf. Das würde, das mußte sie verstehen. Sie war doch sein Leben... Nicholas fuhr am Farmhaus der Shields vorbei und hielt nach T. J.s altem Lieferwagen Ausschau. Als er ihn neben der großen Scheune entdeckte, stellte er den Motor ab und ließ den Jeep ausrollen, bis er vor dem Zaun stehenblieb. Der Gedanke an das bevorstehende Gespräch war nicht besonders erfreulich, aber Nicholas hatte leider keine andere Wahl. T. J. war der einzige, an den er sich mit seiner Bitte wenden konnte. Das heißt, falls er ihn dazu brachte, ihm zuzuhören. T. J. hatte Nicholas Ankunft offenbar bemerkt und trat ihm am Scheunentor entgegen. „Verschwinde. Ich habe dir nichts zu sagen. Wenn du dir einen Gefallen tun willst, verläßt du auf dem - 166 -
schnellsten Weg die Stadt.“ Eine Begrüßung in dieser Art hatte Nicholas erwartet, aber er mußte es trotzdem versuchen. „Wenn du möchtest, daß ich gehe, wirst du mir erst zuhören müssen, T. J. Sarah weigert sich, mich zu sehen. Deshalb fällt meine Wahl auf dich. Irgend jemand muß auf sie aufpassen.“ T. J. rammte die Heugabel in den Boden und stützte sich auf den Griff. „Was geht dich das an? Bist du noch nicht zufrieden, hast du sie noch nicht genug gequält?“ Obwohl Nicholas wußte, daß T .J. ihm nicht glaubte, sagte er ruhig: „Denk von mir aus, was du willst, aber ich wollte Sarah nie weh tun.“ „Ach. Fast hätte ich's geglaubt. Wenn am Ende eine gute Story dabei herauskommt, sind alle Mittel recht, was?“ „Das stimmt nicht“, protestierte Nicholas. „Wer kann das schon beurteilen? Ich nicht, und Sarah auch nicht. Ich weiß nur eins. Sarah ist so verletzt, daß wir ihr nicht einmal helfen können. Vielleicht hast du das wirklich nicht gewollt. Aber man sagt, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Mach, daß du wegkommst, Nicholas, und zwar schnell. Sonst vergesse ich, daß ich Sarah versprochen habe, dich nicht in der Luft zu zerreißen.“ Der letzte Satz ließ Nicholas Hoffnung schöpfen. Doch dann fiel ihm ein, daß Sarah wahrscheinlich nicht ihn, sondern ihren Cousin vor Unheil schützen wollte. „Ich werde keinen Artikel über Sarah schreiben.“ „Das ändert nichts an der ursprünglichen Absicht.“ „So kommen wir nicht weiter, T. J. Ja, ich habe Sarah sehr weh getan. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, Sarah und ich. Das Problem müssen wir unter uns lösen. Trotzdem ist ihr klar, daß ich nie versucht habe, ihr körperlichen Schaden zuzufügen. Irgend jemand hatte das vor. Oder glaubst du, das mit der Betonplatte oder der Vorfall beim Rodeo seien normale Unfälle gewesen?“ Er beobachtete, wie die Kampflust aus T. J.s Miene wich, und zwang sich, seine Antwort geduldig abzuwarten. „Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen, und die Sache mit dem - 167 -
verrückten Touristen war bestimmt auch keiner. „Wie meinst du das?“ „Hat sie dir denn nicht erzählt, was passiert ist, als ich sie damals am Indian Bluff abgeholt hatte?“ „Nein“, erwiderte Nicholas entsetzt. „Was denn?“ „Auf der Rückfahrt über den Bald Mountain hat jemand versucht, uns von der Straße abzudrängen. Ich hatte erst gedacht, das sei irgendein dämlicher Tourist gewesen. Aber nach den anderen Zwischenfällen erscheint mir das unwahrscheinlich.“ „Ja, das kenne ich. Einen Zufall nimmt man noch hin. Aber mehrere hintereinander nicht.“ „So sehe ich das auch.“ T. J. starrte eine Zeitlang unentschlossen auf seine staubigen Schuhspitzen. Als er aufsah, war die Feindseligkeit aus seinem Blick verschwunden. „Na gut. Was schlägst du also vor?“ „Ich muß nach Tulsa“, erklärte Nicholas erleichtert. „Paß gut auf Sarah auf. Sie darf die Farm nicht allein verlassen. Sprich mit Sam. Ich glaube, er hält mich inzwischen nicht mehr für den Täter. Er wird dir helfen, aber im Unterschied zur Familie kann er Sarah nicht rund um die Uhr bewachen.“ T. J. betrachtete ihn aufmerksam. „Was willst du in Tulsa? Vor ein paar Jahren hat Sarah dort große Probleme gehabt.“ „Ja, und ich möchte mehr darüber erfahren. Aber auf die Entfernung ist das schwierig.“ „Wehe, du quälst sie mit deiner Schnüffelei noch mehr.“ Nicholas merkte, daß T. J. wieder mißtrauisch geworden war. „Weißt du, was damals passiert ist?“ „Nicht genau“, gab T. J. zu. „Es ging um irgendeinen Mann. Zuerst war Sarah glücklich, aber nach ein paar Wochen kam sie am Boden zerstört heim. Es war fast so schlimm wie diesmal“, fügte er hinzu, ohne seine Abscheu zu verbergen. „Hat sie dir was von den Drohungen erzählt?“ T. J. wurde blaß. „Nein. Verflixt, wenn sie schon nichts gesagt hat, hätte Sam uns wenigstens informieren müssen.“ „Sam weiß nichts. Vor allem nicht, daß Sarah ahnt, wer - 168 -
dahintersteckt. Anscheinend erlebt sie das jedesmal, wenn was an die Öffentlichkeit dringt. Ich mußte ihr versprechen, Sam nichts zu verraten.“ Nicholas musterte T. J. nachdenklich. „Die Drohungen hingen irgendwie mit einem Fall von Fahrerflucht zusammen. Der Täter wurde verurteilt, und die Sache kam in die Zeitung. Ich möchte herausfinden, ob da irgendeine Verbindung besteht. Sarah meint, sie hätte keine Beweise, nur eine Vermutung, deshalb hätte sie nie etwas erwähnt. Ich möchte jeder noch so geringen Spur nachgehen. Falls irgend etwas passiert, wenn ich nicht hier bin...“ Er verstummte. Würde Sarah in diesem Gespräch einen neuen Vertrauensbruch sehen? Aber das spielte keine Rolle. Ihre Sicherheit ging vor. „Schau, T. J., Sarah hat mein Wort, daß ich Sam nichts sage. Deins nicht. Das heißt, falls sich irgend etwas Verdächtiges ereignet, wende dich an Sam und erzähl ihm alles. Er wird sich um Sarah kümmern.“ T. J. sah ihn zweifelnd an. „Das ist eine ausgesprochen dünne Fährte, nicht wahr?“ „Ja“, gestand Nicholas ein. „Die Ewells klingen vielversprechender. Aber die werden bereits von Sam überprüft.“ „Falls sich von denen jemand hier herumtreibt, hält er sich gut versteckt. Andererseits kennen sie die Gegend so gut wie die eigene Westentasche. Trotzdem würden sie nicht lange unentdeckt bleiben.“ „Ich würde einen Ewell auch dann nicht erkennen, wenn ich über ihn stolperte. Deshalb fahre ich nach Tulsa. So kann ich wenigstens etwas tun, und wenn ich damit nur eine der Möglichkeiten ausschließe. Vielleicht finde ich ja auch zufällig den verrosteten Lieferwagen aus Oklahoma.“ „Welchen Lieferwagen, was ist damit?“ „Keine Ahnung. Er ist mir ein paarmal in Eureka Springs begegnet. Ich war mir nicht mal sicher, ob es immer der gleiche war. Aber hinterher fiel mir ein, daß bei den Ruinen in Monte Ne ein Lieferwagen aus Oklahoma gestanden hatte, der dem in Eureka Springs zumindest sehr ähnlich sah.“ „Kannst du ihn beschreiben?“ drängte T. J. „Hm, es war ein älteres Modell, ziemlich mitgenommen und so - 169 -
rostig, daß man die Farbe des Lacks nicht mehr bestimmen konnte. Ich habe schon mehrere in der Art hier herumstehen sehen. Mit dem Unterschied, daß dieser weitaus älter war und trotzdem noch gefahren wurde. Warum, sagt dir das irgendwas?“ „Vielleicht“, meinte T. J. bedächtig. „Das Auto, daß uns abdrängen wollte, war auch ein alter Lieferwagen. Was ist in Eureka Springs passiert? Sarah hat nichts gesehen.“ „Nichts Besonderes. Ich hatte nur das Gefühl, daß wir beschattet wurden. Aber ich kann mich geirrt haben.“ „Jimmy Joe hat uns erzählt, du hättest gemerkt, daß er dich beobachtet hat. Damals hast du dich auch nicht getäuscht.“ „Stimmt“, gab Nicholas zu. „Falls ich den Namen des Unfallflüchtigen herausfinde, werde ich das Verkehrsregister überprüfen lassen. Vielleicht stoße ich dabei auf die Nummer, des alten Lieferwagens.“ „Ja, und wenn es der gleiche ist, treibt sich der Fahrer seit Anfang des Sommers hier herum. Was bedeutet, daß er sich gut versteckt gehalten hat. Das könnte wiederum auf die Ewells hinweisen. Hier wohnen genug Verwandte, die ihnen Unterschlupf gewähren würden. Sehr gut. Jetzt weiß ich wenigstens, worauf ich achten muß. Falls er noch in der Gegend ist, werde ich ihn erwischen.“ „Laß vor allem Sarah nicht aus den Augen“; mahnte Nicholas. T. J. s Miene verdüsterte sich. „Das wird ihr aber gar nicht gefallen.“ Sarah schlenderte über die Auffahrt zum Briefkasten. In diesem Sommer reihte sich ein Mißerfolg an den anderen. Tante Cindas Sturheit, der überstürzte Verkauf des Caldwell-Grundstücks und jetzt auch noch die Panne mit ihrem Auto. Luther hatte gemeint, es würde mindestens eine Woche dauern, bis die nötigen Ersatzteile kämen. Und zu alledem die Sache mit Nicholas. Sarah trat ärgerlich gegen einen Stein, der ihr im Weg lag. Im Vergleich zu dem Kummer mit Nicholas wirkte die restliche Pechsträhne beinahe lächerlich. Er war fort, wie vom Erdboden verschluckt. Wenn er noch - 170 -
irgendwo in der Nähe gewesen wäre, hätte sie das erfahren. Nicht von ihren Angehörigen natürlich. Die erwähnten seinen Namen nicht mehr. Aber in der Stadt hatte ihn auch niemand mehr gesehen. Das ließ nur einen Schluß zu. Er war einfach abgereist. Ist das nicht genau das, was du wolltest? fragte sie sich. Natürlich. Aber wenn er mir auch nur ein bißchen zugetan gewesen wäre, hätte er versucht, mich noch einmal zu treffen. Also traf ihre Vermutung zu, daß er ihre Zuneigung nicht erwiderte. Sie hatte recht gehabt, doch das half ihr nicht weiter. Im Briefkasten lag ein großer brauner Umschlag. Sie zog ihn heraus und betrachtete den Adreßaufkleber. Ihr Name stand darauf und als Absender eine Presseagentur aus New York. Gleichgültig öffnete sie das, Couvert und entdeckte drei Fotokopien von maschinegeschriebenen Seiten. Dann fiel ihr Blick auf die erste Zeile, und ihr stockte der Atem. Bericht von Nicholas D. Matthias, stand da. Sarah hielt den Artikel über Monte Ne in den Händen. Hastig durchforschte sie die drei Blätter nach irgendeiner Notiz oder einem Gruß, aber sie fand nichts. Sie fing an, die Geschichte von Anfang an durchzulesen. Er hatte ein so lebendiges Bild der alten Stadt entworfen, daß man sie beinahe vor sich sah, strahlend schön, von Erholungsuchenden belebt, vom Lachen der Menschen erfüllt. Genauso hatte sich Sarah die Siedlung immer vorgestellt, ohne das je in Worte fassen zu können. Die letzten drei Absätze beschrieben die umwälzende Idee des Gründers. Nicholas zufolge handelte es sich dabei um einen Vorläufer für jene Städte, die am Reißbrett entstehen und erst bezogen werden, wenn alles fertig angelegt ist. Sehr scharfsinnig, dachte Sarah stolz. Außerdem hatte sie das Gefühl, etwas zu dieser Leistung beigetragen zu haben, und das erfüllte sie mit Zufriedenheit. In dem Moment fiel ihr ein, daß sie keine Gelegenheit mehr haben würde, ihm das zu sagen. Sie stopfte die Seiten achtlos in den Umschlag und machte sich auf den Rückweg zum Haus. In diesem Sommer schienen die Verhängnisse kein Ende nehmen zu wollen. - 171 -
15. KAPITEL „Ist dir eigentlich klar, daß du diese Woche fast täglich hier gefrühstückt hast, T. J.?“ fragte Sarah und stellte einen Teller mit Wurst und Eiern vor ihn auf den Tisch. „Du warst noch nie besonders feinfühlend. Ich weiß genau, was das soll.“ „Ich auch. Bei dir gibt’s nämlich das beste Frühstück im ganzen Bezirk. „Von wegen. Ihr habt das zwischen euch abgemacht, Sam und du. Wann gebt ihr endlich zu, daß ihr euch geirrt habt?“ „In Hinsicht auf dein Frühstück?“ T. J. schüttelte den Kopf. „Erst wenn ich eins finde, das besser ist. Na komm, Sarah, hör auf zu grübeln, und trink lieber eine Tasse Kaffee mit mir. Ich habe nämlich Neuigkeiten.“ Lächelnd fügte er hinzu: „Über das Grundstück von den Caldwells.“ „Du mußt dir schon was Besseres einfallen lassen, T. J. Ich weiß, daß sie unten an der Straße angefangen haben zu bauen.“ „Ich hatte auch nicht vermutet, daß du plötzlich blind geworden bist“, zog T. J. sie auf. „Die Planierraupen waren nicht zu übersehen. Ach, was rede ich da, man hört sie ja bis hierhin. Nein, ich meine was anderes.“ „Na gut.“ Sarah holte sich eine Tasse Kaffee und nahm T. J, gegenüber auf einem Stuhl Platz. „Also, schieß los. Was hast du erfahren?“ „Nichts. Ich habe etwas getan.“ Er lachte so triumphierend wie ein Zauberer, der soeben. im Begriff ist, ein lebendiges Kaninchen aus dem Hut zu ziehen. „Ich habe das Grundstück gekauft. Gestern wurden die Verträge unterschrieben.“ Er hatte zu Recht vermutet, daß diese Nachricht einschlagen würde wie eine Bombe. Sarah stellte die Kaffeetasse mit einem Ruck ab, lief rot an und begann zu husten. Sofort sprang T. J. auf und klopfte ihr kräftig auf den Rücken. Sie winkte ab. „Deine Kur ist gefährlicher als die Krankheit selbst“, stieß sie mühsam hervor. T. J. wartete, bis sie sich einigermaßen erholt hatte. „Tut mir leid, Sarah, ich wollte dich nicht...“ - 172 -
„...überraschen?“ ergänzte Sarah. „Oder zu Tode erschrecken?“ Sie lachte gutmütig. „Ist schon gut, T. J., ich kann dich ja verstehen. Was ich allerdings nicht begreife, ist, wie du das geschafft hast. Ich dachte, der Platz sei verkauft.“ Nach einer Pause meinte sie: „Baust du etwa auch...“ „Natürlich nicht“, unterbrach er sie. „Ich kaufe auf Mietbasis. Der Bauplatz und ein weiterer, der noch nicht erschlossen ist, gehören nicht dazu. Oh, und eine Zweitausendquadratmeterparzelle wurde ebenfalls vom Vertrag ausgeschlossen. Das Grundstück zwischen dem alten Obstgarten und dem Fluß.“ „Wenn jemand bauen will, ist es nur natürlich, daß er sich die hübschesten Grundstücke sichert“, meinte sie bedrückt. „Der alte Obstgarten ist eben besonders schön. Aber wie bist du an den Rest gekommen?“ T. J. lachte. „Der wurde mir auf dem Silbertablett serviert. Aus heiterem Himmel rief mich ein Rechtsanwalt aus Rogers an und sagte, ein Teil des Lands sollte weiterverkauft werden. Er hätte den Auftrag, es mir anzubieten, bevor es öffentlich würde. Ich hielt das für einen Witz, aber das war es nicht. Ich habe einen Fünfjahresleasingvertrag mit Kaufoption abgeschlossen. Das heißt, ich kann mir aussuchen, wann ich das Ganze zu einem erstaunlich geringen Aufpreis kaufen will, wobei achtzig Prozent der Leasingraten angerechnet werden.“ „Wer ist der Eigentümer? Er ist offenbar nicht besonders geschäftstüchtig. Entspricht das alles überhaupt dem Gesetz?“ „Das habe ich mich auch gefragt, und der Rechtsanwalt aus Rogers sich offenbar auch. Jedenfalls, was die Intelligenz seines Klienten betrifft. Er sagte, er hätte seine Anweisungen. Aber Dads Rechtsanwalt hat alles überprüft und nichts gefunden. Wer genau dahintersteckt, weiß ich nicht, aber ich habe so meine Vermutungen.“ „Sag schon“, drängte Sarah. „Ich werde mich hüten. Wenn ich recht habe, werden wir es ohnehin bald erfahren. Wenn nicht, stehe ich wenigstens nicht als Dummkopf da. Ach ja, noch was. Bis alles bebaut und abgezäunt ist, habe ich zu allen Grundstücken freien Zutritt. Das heißt, du - 173 -
kannst wieder im Fluß baden. Ich erlaube es dir.“ Sarah sah entrüstet auf. „Seit das Land verkauft ist, habe ich es nicht mehr betreten, und ohne ausdrückliche Genehmigung werde ich das auch nicht tun.“ „Die habe ich dir gerade erteilt. Was hast du heute vor? Die anderen sind alle ausgeflogen, nicht wahr?“ „Ja. Ich muß nach Fayetteville fahren und einkaufen. Grandpa leiht mir sein Auto.“ „Warte bis morgen, dann kann ich mit.“ „T. J., hör endlich auf. Ich brauche keinen Aufpasser.“ „Ich muß auch nach Fayetteville, Sarah, ehrlich“, beteuerte er verletzt. „Und das Auto von deinem Großvater hat eine Klimaanlage. Warum willst du mich nicht mitnehmen?“ „Weil du genauso schlecht lügst wie du schauspielerst“, entgegnete Sarah. „Du mußt nämlich nicht nach Fayetteville.“ „Du auch nicht. Also sei brav und bleib daheim. Nur noch ein bißchen, Sarah. Bis wir ganz sicher sein können.“ „Ich bin’s schon lange. Na, gut“, gab sie nach. „Vielleicht gehe ich auch schwimmen.“ „Dagegen ist nichts einzuwenden. Wie ist's mit heute abend, sollen wir essen oder auch ins Kino gehen?“ „Nein, danke.“ „Ich schau später noch mal rein. Vielleicht änderst du deine Meinung noch.“ „Du meinst, du willst mich später noch mal kontrollieren.“ „Stimmt. Woher weißt du das?“ fragte er lachend. Er erhob sich, nahm seinen mittlerweile leeren Teller und stellte ihn ins Spülbecken. Plötzlich drehte er sich um und küßte Sarah auf die Wange. Du. machst wirklich das beste Frühstück weit und breit. Aber erzähl Mom nicht, daß ich das gesagt habe. Ich wäre gezwungen zu leugnen.“ Sie sah ihm kopfschüttelnd nach. Obwohl Nicholas seit fast achtundvierzig Stunden nicht mehr - 174 -
geschlafen hatte, spürte er keine Müdigkeit. Er hatte nur einen Gedanken. Fahr zu Sarah und vergewissere dich, daß es ihr gutgeht. Als er in Tulsa die letzten Teile der Geschichte aneinandergefügt hatte und ihm die Zusammenhänge klargeworden waren, war er zuerst enttäuscht gewesen. Dennoch wußte er, daß sie ihn nicht absichtlich hinters Licht geführt hatte. Sie war so ahnungslos und hatte einfach nicht erkannt, was vor sich gegangen war. Ab jetzt mußte sie ihm alles erzählen. Sie durfte keine Drohungen oder Warnungen mehr für sich behalten. Dafür brauchte sie sich nicht mehr damit auseinanderzusetzen. Denn von nun an würde er sich um diese Dinge kümmern. Auf der Hauptstraße in Mountain Springs hatte er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, nach Hause zu kommen. Geduld, sagte er sich, während er das Auto in eine Seitenstraße lenkte und vor dem Rathaus parkte. Als er Sams Büro betrat, sah der Sheriff auf, seine Miene verdüsterte sich. „Ist mit Sarah alles in Ordnung?“ fragte Nicholas sofort. „Natürlich, warum auch nicht? Ich dachte, Sie hätten die Stadt verlassen.“ „Jetzt bin ich wieder da.“ Er beschloß, sich durch Sams offene Unhöflichkeit nicht reizen zu lassen. Der Sheriff konnte nichts dafür. Er hatte ebenfalls keine Ahnung gehabt. Nicholas legte zwei Fotokopien auf den Schreibtisch. „Das ist der Mann, der Sarah verfolgt.“ Er wartete, bis Sam die Bögen mit den Fotos an sich genommen hatte und fuhr fort: „Er heißt Billy Clyde Jackson. Sarah hat der Polizei in Tulsa vor drei Jahren seine Autonummer genannt. Er wurde wegen Fahrerflucht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, im letzten Mai nach zweiundzwanzig Monaten auf Bewährung entlassen und hat mit seiner Abreise gegen die Auflagen verstoßen.“ „Vor drei Jahren?“ Sam überlegte kurz. „Damals kam Sarah völlig verstört nach Hause. Aber ich verstehe nicht, wo Sie den Zusammenhang mit Sarahs Unfällen sehen.“ - 175 -
„Darin, daß der Mann ein Spinner ist und sie bedroht hat. Er fing damit schon im Gerichtssaal an.“ „Das hat sie mir nie erzählt. Außerdem hätte sie nach dem Gesetz aufgrund der Drohung vor seiner Entlassung gewarnt werden müssen.“ „Das ging nicht, weil niemand Bescheid wußte. Bis auf Sarah, und die hatte beschlossen zu schweigen.“ „Moment mal. Er bedroht sie vor Gericht, und das bekommt niemand mit. Wo bleibt denn da die Logik?“ fragte Sam empört. „Entschuldigung, ich muß mir wahrscheinlich mehr Mühe geben.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sam schien ihn zum ersten Mal richtig anzusehen. „Sie wirken erschöpft“, stellte er nicht unfreundlich fest. „Nehmen Sie besser Platz, sonst fallen Sie noch um.“ Er wies mit dem Kinn auf den freien Stuhl neben dem Schreibtisch. „So, und jetzt erzählen Sie mir endlich, was hier vor sich geht.“ Nicholas ließ sich dankbar auf den Stuhl fallen. „Sarah gab der Polizei die Autonummer des Unfallflüchtigen. Die einzige Zeugin hat unter Hypnose die gleiche Nummer genannt. Die Presse hat aus dieser Übereinstimmung eine Sensationsgeschichte gemacht, durch die Sarah überall bekannt wurde.“ „Sie hat damals sehr wenig erzählt“, warf Sam ein. „Als sie heimkam, war die Sache bereits ausgestanden. Ich wollte sie nicht drängen.. Sie war ziemlich elend dran.“ „Ich weiß nicht, warum Sarah zu der Verhandlung ging. Jackson behauptete, sein Wagen sei gestohlen worden. Vielleicht wollte sie sich vergewissern, daß sie den richtigen Mann geschnappt hatten. Auf jeden Fall war sie da. Jackson könnte sie erkannt haben, denn in einer Zeitung waren Fotos von ihr erschienen. Eventuell hat er sie auch gar nicht gesehen. Aber aus irgendeinem Grund war er plötzlich nicht mehr zu halten. Er drehte total durch, so daß sie ihn mit Gewalt aus dem Gerichtssaal entfernen mußten.“ Nach einer Pause fuhr Nicholas fort: „Ich habe mit einem der Polizisten gesprochen, die dabei waren. Er sagte, Jackson hätte geschrien und getobt und immer wieder dem Teufel Rache geschworen, der dem Allmächtigen ins Werk pfuschte. Daß Sarah - 176 -
damit gemeint war, hat niemand erkannt. Aber sie wußte es, weil sie schon mehrere anonyme Telefonanrufe und Briefe ähnlichen Inhalts erhalten hatte. Es war nicht einfach, ihr das zu entlocken. Sie hat. mir noch nicht mal Jacksons Namen verraten. Deshalb hat es auch so lange gedauert, bis ich wieder zurückkommen konnte.“ Nachdem Nicholas seinen Bericht beendet hatte, schwieg Sam lange. Schließlich meinte er leise: „Sarah hat nichts von Drohungen erzählt, und Sie haben auch nie etwas davon erwähnt. Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich der Sache längst nachgegangen. So war ich fast überzeugt, daß sie recht und ich mich geirrt hatte.“ „Tut mir leid, Sam. Ich mußte ihr versprechen, Ihnen nichts zu sagen. Sie bestand darauf, daß es nicht wichtig sei und Sie dadurch nur auf eine neue falsche Fährte gelockt würden. Vermutlich glaubt sie das wirklich. Um ehrlich zu sein, hielt ich die Ewells auch eher für die aussichtsreicheren Kandidaten.“ Nicholas schloß die Augen, um seiner Enttäuschung Herr zu werden. „Jetzt bin ich sicher, daß Jackson dahintersteckt. Ich habe mich auch mit einigen seiner Mitgefangenen unterhalten. Sie bestätigten einhellig, daß er bei der Entlassung noch immer Drohungen ausgestoßen hat.“ „Herrje, sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert.“ „Sie hat jemanden.“ Sam musterte ihn eindringlich, aber Nicholas hielt dem prüfenden Blick stand. Nach. einer Weile nickte Sam und beugte sich über die Verbrecherfotos. „Ich glaube, den habe ich hier noch nie gesehen. Wahrscheinlich hält er sich versteckt.“ „Er hat im Gefängnis annähernd dreißig Kilo zugenommen. Anscheinend hat's ihm da gut geschmeckt.“ „Dann sollten wir vielleicht dafür sorgen, daß er möglichst bald dorthin zurückkommt.“ Sam betrachtete noch einmal die Fotos. „Schwerer, vollere Wangen, Doppelkinn.“ Er stand auf. „Ich werde ihn finden. Was machen Sie jetzt?“ „Ich werde Sarah suchen, ihr die Meinung sagen, und sie dann heiraten. Das heißt, falls ich sie dazu überreden kann.“ - 177 -
„Also, hören Sie mal, Mr. Matthias“, begann Sam, aber Nicholas ließ ihn. nicht ausreden. „Gewöhnen Sie sich ruhig schon mal an meinen Vornamen. In Zukunft werden wir uns nämlich ziemlich oft über den Weg laufen.“ Die beiden starrten einander eine Weile schweigend an. Dann wurde die Tür aufgestoßen, und T. J. kam herein. „Ich habe mir doch gleich gedacht, daß das dein Jeep ist, Nicholas. Du bist gerade rechtzeitig wiedergekommen. Ich glaube, ich habe den Lieferwagen gefunden.“ „Welchen Lieferwagen?“ erkundigte sich Sam. „Von dem Typ, der Sarah und mich am Bald Mountain fast von der Straße gedrängt hätte. Nicholas hat ihn bei Monte Ne gesehen und vermutlich auch in Eureka Springs, als er mit...“ „Wo ist er jetzt?“ fiel ihm Nicholas ins Wort. „Luther hat ihn gerade mit einer gebrochenen Achse abgeschleppt, direkt in seine Werkstatt. Der Fahrer ist auch da.“ Nicholas nahm Sam die Fotos ab und hielt sie T. J. hin. „Ist er das? Er ist inzwischen ein bißchen dicker.“ „Wie heißt er?“ fragte Sam gleichzeitig. „Jackson“, antwortete T. J. „Lenny Jackson.“ Ersah sich die Bilder an. „Der sieht ihm sehr ähnlich, aber es ist nicht derselbe. Der Mann bei Luther ist jünger.“ „Lenny ist Billy Clydes jüngster Bruder“, stieß Nicholas hervor. „Dann kann Billy nicht weit sein.“ Er wandte sich an T. J. „Wo ist Sarah?“ „Auf der Farm. Sie wollte zum Fluß, schwimmen gehen.“ „Allein?“ „Klar, das Gebiet; gehört fast zur Farm. Was habt ihr denn?“ Aber Nicholas eilte schon zur Tür hinaus. „Nicholas“, rief Sam ihm nach. „Nimm T. J. mit. Sobald ich mich um Lenny gekümmert habe, komme ich nach. Los, T. J. Nicholas kann dir unterwegs erzählen, was los ist.“ Sarah frottierte sich noch einmal das Haar und warf es mit einer - 178 -
knappen Bewegung über die Schultern zurück. Dann stopfte sie das Handtuch zu der leeren Thermoskanne und den Sandwichresten in den Korb. Sie sah sich noch einmal um. Das Bad hatte sie körperlich erfrischt. Ihre Seele war so wund wie zuvor. Hier erinnerte alles an Nicholas. Unter der schattigen Eiche hatten sie die Decke ausgebreitet. Von jenem überhängenden Baum aus waren sie um die Wette geschwommen. Wohin sie auch sah, tauchte Nicholas Bild auf. Sie dachte daran, wie er den Kopf zurückgeworfen hatte, so daß das Wasser nach allen Seiten wegsprühte. An die mühelosen Schwimmzüge, mit denen er durch den Fluß geglitten war. Wie er sich neben ihr auf der Decke ausgestreckt und sie zärtlich angelacht hatte. Vorbei. Endgültig vorbei. Nur weil sie weder der Stimme ihres Herzens noch Nicholas selbst vertraut hatte. Er hatte zwar gesagt, er käme wieder, aber das war vor einer Woche gewesen. Sie war selbst schuld, denn sie hatte ihn weggeschickt. Traurig trat sie den Rückweg an. Am besten fuhr sie bald nach St. Louis zurück. Wenn sie blieb, tat sie niemandem einen Gefallen. Tante Cinda sprach kaum noch mit ihr. T. J. ließ sie keinen Schritt allein tun. Selbst Jimmy Joe mied sie. Ihr Trübsinn wirkte ansteckend. Sarah ging durch das Unterholz und von dort quer über die von Stacheldraht eingezäunte Weide zur Straße. Sie achtete nicht auf das Auto, das dort langsam entlangfuhr, sondern wartete nur, daß sich der Staub setzte, den es aufgewirbelt hatte. Dann kletterte sie über den Zaun. Inzwischen hatte der Fahrer den Wagen gewendet und kam auf sie zu. Hinter der Kurve vor der Auffahrt zur Farm hielt er am Straßenrand an. Sie schlenderte weiter. Es kam öfters vor, daß sich Fremde auf den kaum beschilderten Straßen verfuhren und sich nach dem Weg erkundigten. Er stieg aus und wartete neben dem Auto. Die große massige Gestalt kam ihr irgendwie bekannt vor. Neugierig musterte sie sein Gesicht. „Na, weißt du noch, wer ich bin?“ Die zischend hervorgestoßenen Worte ließen Sarah erstarren. - 179 -
„Ich habe dich jedenfalls nicht vergessen.“ Er trat einen Schritt auf sie zu. „Aber ich hatte ja auch einen guten Grund, mich an dich zu erinnern. An dich und dein Teufelswerk.“ Sie riß erschrocken die Augen auf. O nein. Nicholas, T. J., Sam. Sie haben recht gehabt, war alles, was sie denken konnte. Dann ließ sie den Korb fallen und rannte davon. Der Fluchtweg zur Farm war durch den Mann versperrt. Auf der Straße konnte er sie mit dem Auto einholen. Das flache Weideland bot keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Ein Sprung über den Straßengraben, dann kletterte sie über den Stacheldrahtzaun. Fluchend setzte sich der Mann ebenfalls in Bewegung. Er hatte zugenommen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, und war wahrscheinlich körperlich aus der Übung. Aber er war kräftig und besaß die starre Zielstrebigkeit des Wahnsinnigen. Sarah hatte Nicholas gesagt, daß er verrückt sei, aber sie wußte nicht, wie verrückt er wirklich war. All diese Gedanken jagten ihr durch den Kopf; während sie so schnell lief, daß ihre Füße kaum den Boden berührten. Kurz vor dem Ende der Weide sah sie sich um. Ihr Verfolger hatte den Zaun ebenfalls überklettert und bereits die Hälfte des Pfads zurückgelegt. Das Unterholz war ihre einzige Chance. Dort konnte sie sich verstecken. Vorher mußte sie nur den Vorsprung vergrößern, damit der Mann nicht merkte, daß sie sich seitwärts; in die Büsche begeben hatte. Sie preßte eine Hand in die Seite, um den stechenden Schmerz zu mildern, und holte tief Luft. An der nächsten Kurve drehte sie sich um. Zum Glück war er noch nicht da. Sie sprang seitwärts über das Dornendickicht, achtete darauf, keine Blätter oder Triebe zu knicken, kroch in das Buschwerk von Sassafrasbäumen und Geißblattranken und kauerte sich flach auf den Boden. Die Schritte des Manns kamen näher. Würde er die Stelle finden, an der sie den Fußweg verlassen hatte? Sie hörte seine lauten Flüche, mit denen er die Günstlinge Satans verwünschte. Schweratmend wartete sie, bis er vorüberging. Spätestens am Fluß, dort, wo der Pfad endete, mußte ihm klar werden, daß er - 180 -
überlistet worden war. Bis dahin mußte sie ausgeruht genug sein, um weiterzukommen. Hier war sie viel zu nahe am Weg. Den Geräuschen nach befand er sich noch auf dem Weg. Hätte er ihn verlassen, hätte sie, das am Rascheln des Vorjahreslaubs unter seinen Füßen und am Zerbrechen trockener Zweige gehört. Vorsichtig hob sie den Kopf. Der Mann bog gerade um die nächste Kurve und würde gleich außer Sicht sein. Vorher durfte sie sich nicht von der Stelle bewegen. Geh weiter, flehte sie stumm. Bleib auf dem Pfad. Nur noch ein bißchen. Sobald sie ihn nicht mehr sah, kroch sie durch das Unterholz. Sie hielt immer wieder an, horchte und hoffte, daß alles still blieb. Langsam stand sie auf und orientierte sich. Dann begann sie, bergauf zu gehen. Nachdem Nicholas alles erzählt hatte, was er in Tulsa erfahren hatte, verfiel er in Schweigen, während T. J. aufgebracht vor sich hin schimpfte. Nicholas bezweifelte nicht, daß sie es mit einem Verrückten zu tun hatten. Lenny Jacksons Anwesenheit in Mountain Springs bestätigte, daß Billy Clyde nicht weit sein konnte. Es blieb nur zu hoffen, daß er Sarah noch nicht aufgespürt hatte oder zu feige war, etwas zu unternehmen, solange er allein war. Sobald sie den Highway verlassen und die Nebenstraße erreicht hatten, drosselte er die Geschwindigkeit. Noch nie war ihm die Strecke zur Farm so lang vorgekommen. Endlich bogen sie in die Auffahrt ein und hielten kurz darauf neben dem Farmhaus an. Ohne das Lenkrad loszulassen, blieb Nicholas im Jeep sitzen. „Willst du denn nicht mit?“ fragte T. J., nachdem er ausgestiegen war. „Noch nicht. Schau erst nach, ob Sarah da ist.“ Eine innere Stimme sagte ihm, daß das nicht der Fall war. „Sie ist weg“, bestätigte T. J. wenig später. „Falls sie zum Schwimmen an den Fluß gegangen ist, können wir ein Stück fahren. Auf die Art kommen wir schneller voran.“ - 181 -
Nicholas nickte, wartete, bis T. J. eingestiegen war, und setzte auf die Straße zurück. Nach der nächsten Kurve sahen sie das fremde Auto am Seitenrand stehen. Nicholas stellte den Motor ab, beide sprangen aus dem Jeep und trennten sich in stummem Einvernehmen. T. J. ging auf den unbekannten Wagen zu, Nicholas in der entgegengesetzten Richtung die Straße entlang. „Abgeschlossen“, teilte T. J. mit, sobald er Nicholas eingeholt hatte.. „Vom Fahrer keine Spur. Das Nummernschild stammt aus Oklahoma.“ In dem Moment entdeckte Nicholas auf dem Seitenstreifen den Korb mit dem Handtuch und erstarrte. Er ließ den Blick schweifen. Vor ihnen erstreckte sich das Weideland, in der Ferne ragten schweigend die Bäume empor. Keine Bewegung, kein Laut. Von Sarah war nichts zu sehen. „Der Wald“, stieß er schließlich hervor. „Sie muß sich ins Unterholz geflüchtet haben.“ Sie liefen gleichzeitig los. Sarah bewegte sich möglichst lautlos, um den Mann nicht auf sich aufmerksam zu machen. Wenn er außer Sicht blieb, bis sie die andere Seite des Bergs erreicht hatte, würde er sie vielleicht gar nicht erst entdecken. Ab und zu hielt sie inne und achtete auf jeden verräterischen Laut. Beim Gehen schlugen ihr Ranken und Zweige ins Gesicht und zerkratzten ihr die bloßen Arme und Beine, doch das merkte sie nicht. Nur noch ein kleines Stück, sagte sie sich. Dann bin ich weit genug weg und kann mich etwas ausruhen. Sie spähte vorsichtig voraus. Noch ungefähr drei Meter, dann lichtete sich das Unterholz. Dahinter lag die felsige Bergkuppe, die sie unbeobachtet überwinden mußte. Doch dann geschah das Verhängnis. Noch ein Schritt, und unmittelbar vor ihr erhob sich ein ganzer Schwarm lärmender Wachteln aus dem Gebüsch. Sarah duckte sich unwillkürlich. Von dem Pfad unterhalb ihres Verstecks erklang ein wütender - 182 -
Aufschrei, dann das Geräusch schwerer Stiefel, die sich einen Weg durch das Gehölz bahnten. Sarah drehte sich nicht nach ihrem Verfolger um, sie kletterte in Windeseile auf die Kuppe zu. Ihr Atem ging schwer, die Seitenstiche wurden immer schlimmer, die Wunden und Kratzer brannten wie Feuer. Sie merkte es kaum, konzentrierte sich nur auf die Schritte des Mannes hinter sich. Endlich kam sie bei den Felsen an, und der Abstieg konnte beginnen. Es würde ein paar Minuten dauern, bis der Mann den Bergkamm erreichte. Der Vorsprung war nicht groß, sie mußte sich beeilen. Auf der anderen Seite des Bergs wuchsen keine Büsche oder Bäume. Wie eine grüne Matte breitete sich die Hangwiese vor ihr aus, auf der vereinzelte Felsbrocken lagen. Es gab nur zwei Möglichkeiten, sich zu verstecken. Das Brombeergebüsch neben einem der größeren Felsen und ein schmaler Streifen kleiner Bäume und Sträucher, der einen tiefen Felsspalt säumte. Sarah entschied sich für die Brombeeren. Der Spalt schien zwar einleuchtender, aber sie hoffte, die wenig einladenden Dornen würden ihren Feind eher von einer genaueren Untersuchung abhalten. Ihr Verfolger gab sich keine Mühe, sein Vorwärtskommen zu verheimlichen. Sie hörte seine Flüche, das Schimpfen und die endlosen Verwünschungen, während er sich der Bergkuppe, über knackende Aste und raschelndes Laub hinweg näherte. Sarah lief um das kleine Wäldchen herum, ließ sich auf die Knie fallen und kroch von unten zwischen die dornigen Brombeerranken. Vom Berg wäre jetzt nicht zu erkennen, daß sich hier jemand verbarg, denn auf der nach oben gelegenen Hangseite war kein Zweig, kein Blatt bewegt oder gar abgerissen worden. Sie robbte behutsam auf die Mitte des Dickichts zu. Vor dem größten Gesteinsbrocken fand sie eine flache Mulde. Ein leichter Felsüberhang wölbte sich darüber und bot unter den gegebenen Umständen den besten Schutz. Erschöpft rollte sich Sarah darunter zusammen und verharrte reglos, wenn auch mit angespannten Muskeln. Als die Spatzen im Gebüsch merkten, daß ihnen von dem neuen - 183 -
Eindringling keine Gefahr drohte, zwitscherten sie wieder um die Wette. Das war das beste Zeichen für Sarah, daß sie sich fürs erste sicher fühlen durfte. Allmählich beruhigte sich ihr Puls, der Atem kam gleichmäßiger. Vielleicht schaffte sie es doch noch, ihren Jäger zu täuschen. Ach, hätte ich doch nur auf Sam und Nicholas gehört, dachte sie voller Reue. Vor allem auf Nicholas. Sie hatte ihm bitter unrecht getan, nicht nur, was die sogenannten Unfälle betraf. Das wußte sie jetzt. Aber wahrscheinlich würde sie nie Gelegenheit haben, ihm das zu sagen. Dafür würde der Mann aus Oklahoma schon sorgen. In diesem Punkt machte sie sich keine falschen Hoffnungen. Er war gefährlich. „Sarah ist sicher nicht auf dem Pfad geblieben“, meinte T. J., als er mit Nicholas das Unterholz erreichte. „Sie weiß, daß er am Fluß endet. Wir müssen auf Stellen achten, wo jemand den Weg verlassen hat.“ Nicholas nickte und rannte weiter. Er unterdrückte jeden Gedanken an den Tag, als er mit Sarah am Fluß gewesen war. Jetzt mußte er sie finden, alles andere war unwichtig. Sie entdeckten gleichzeitig die abgebrochenen Zweige im Gehölz. Nicholas fluchte. So unachtsam wäre Sarah nie gewesen. Das konnte nur eines bedeuten. Jackson war klargeworden, daß sie den Weg verlassen haben mußte, und war ihr gefolgt. Nicholas lief voraus. Er orientierte sich an den unübersehbaren Spuren des Verbrechers und kürzte ab, sobald das möglich war, ohne die Fährte zu verlieren. T. J. kam so dicht hinter ihm, daß sie knapp hintereinander das sich allmählich lichtende Unterholz durchbrachen. Dann hielten sie nebeneinander inne und suchten die blanke Felskuppe nach Sarah ab. In dem Moment entdeckten sie den Mann. „Da“ rief T. J. und wies nach oben. Nicholas rannte los. Aber Jackson hatte T. J. gehört. Er änderte die Richtung und hastete parallel zum Bergkamm weiter. T. J. vergeudete keine Zeit. Er schnitt ihm den Weg ab, setzte von einem Felsen zum Sprung an, umklammerte im Fallen von hinten die Knie des Gegners und - 184 -
stürzte mit ihm zusammen hin. Sekunden später stand Nicholas mit geballter Faust neben Jackson. „Wo ist Sarah?,“ herrschte er ihn an. Der Mann war so außer Atem, daß er nicht sprechen konnte. „Er hat sie nicht gefunden“, stellte T. J. erleichtert fest, während er Jackson in aller Ruhe einen Arm auf den Rücken drehte. „Geh und such sie.“ Nicholas sah unentschlossen von den beiden zur Bergkuppe. „Na los“, drängte T. J. „Ich habe ihn. Wir brauchen nur noch auf Sam zu warten. Bis dahin hast du bestimmt noch eine Viertelstunde Zeit.“ „Kommst du solange allein zurecht?“ „Na klar. Der Typ hier ist fertig. Nun mach schon. Sie hat sich bestimmt an einem Platz versteckt, den normalerweise, niemand in Betracht zöge.“ Nicholas sah T. J. dankbar an und wandte sich ab. Kurz bevor er den Hang hinabstieg, rief ihm T. J. nach: „Sie wird sich freuen, dich zu sehen. Also verdirb nicht wieder alles.“ Sarah lag absolut still und lauschte. Suchte der Mann sie in der Felsspalte? Nein, die war so nahe bei dem Versteck, daß die Vögel in den Sträuchern unruhig geworden wären. Aber inzwischen war genug Zeit vergangen. Er mußte längst die Kuppe überschritten haben. Sie sah ihn vor sich, wie er dort oben stand und den Blick über das Gelände schweifen ließ. Er würde auf irgendein Zeichen hoffen, das ihm verriet, wo sie sich aufhielt. Obwohl es so heiß war, daß ihr der Schweiß in Strömen über die Stirn rann, konnte sie ein plötzliches Schaudern nicht unterdrücken. Die Sekunden schienen sich zu dehnen, aus Minuten Stunden zu werden. Sarah harrte aus und horchte auf die Geräusche der Natur. Sie bangte vor dem Augenblick, da sie sich änderten und sein Kommen ankündigten. Wo mochte er stecken, ob er hingefallen oder sogar umgekehrt war? Das war unwahrscheinlich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Mittlerweile meinte sie, jeden Muskel einzeln zu spüren. Um sie - 185 -
herum war alles so, still, daß sie sich bereits überlegte, ob sie einen raschen Blick aus dem Versteck wagen sollte. Doch dann schlugen die Vögel Alarm, und sie hörte, daß jemand ihren Namen rief. Vor Angst, sich durch das geringste Geräusch zu verraten, hielt Sarah die Luft an. „Sarah?“ Sie schloß die Augen. Hör auf zu phantasieren, beschwor sie sich. Es hat keinen Zweck, dir vorzustellen, daß Nicholas hier ist. Das war nicht seine Stimme. Du bist ganz allein. Du hast ihn weggeschickt. Auf einmal war ihr alles egal. Falls der Mann aus Oklahoma sie aufgestöbert hatte, mußte sie sich damit abfinden und ihm entgegentreten. Sie war es leid, sich zu verstecken. „Sarah, du kannst herauskommen. T. J. hat Jackson gefangen.“ Jackson, dachte. sie. Richtig, so hieß er. „Bitte, Sarah. Wenn du mich nicht sehen willst, gehe ich wieder. Sag mir bitte nur, daß du gesund bist.“ Sie zögerte nicht länger. Auf allen vieren kroch sie rückwärts aus ihrem Versteck. Sie hatte seine Stimme gehört, wußte, daß er sie gerufen hatte. Sie wollte zu ihm. Sekunden später lag sie in Nicholas Armen. Nicholas drückte sie an sich, als müsse er sich beweisen, daß er nicht träumte. Er hatte solche Angst um sie gehabt und davor, daß sie nie wieder mit ihm zu tun haben wollte. Aber nun war sie hier. Würde sie auch bei ihm bleiben, wenn der Schock über die Verfolgungsjagd verflogen war? Könnte sie ihm jemals wieder vertrauen, würde sie ihm eine neue Chance geben? „Nicholas“, flüsterte sie. „Was machst du hier, woher hast du gewußt, wo ich bin?“ Sie hob den Kopf und sah ihn an. Nicholas musterte sie entsetzt. „Hat er dich... hat dieser Lump dir was getan?“ Er tastete ihr vorsichtig über den Bluterguß auf der Stirn. „Nein, das waren die Zweige, Äste und Dornen“, erwiderte sie atemlos. „Mir geht's gut, Nicholas. Wirklich. Ich habe nur ein paar Kratzer.“ Der Drang, sie zu küssen, wurde immer stärker. Nicholas, hielt sie noch einen Moment fest, dann gab er sie vorsichtig frei und trat - 186 -
einen Schritt zurück. „Ich bin auf jeden Fall froh, daß du gesund und wohlbehalten bist.“ Sarah vermißte seine Nähe sofort. „Sam muß jeden Augenblick hier sein“, erzählte Nicholas. „Außerdem müssen wir T. J. beruhigen. Er macht sich Vorwürfe, weil er dir erlaubt hat, schwimmen zu gehen.“ „Das ist doch albern. Seine Aufpasserei hat mich ohnehin genervt. Was sollte er denn noch machen, mich auf der Farm anbinden?“ Nicholas lachte. Dann wurde er wieder ernst. „Sag bloß nichts gegen T. J. Ohne ihn wären wir vielleicht nicht hier. Er hat Jacksons Bruder in der Stadt entdeckt. Daher wußten wir, daß Billy Clyde nicht weit sein konnte.“ „Woher kannte er denn Jacksons Bruder?“ fragte sie verständnislos. „Darüber sprechen wir später. Versprich nur eins, Sarah. Wenn alles vorüber ist, hör mich bitte an.“ Sarah schwieg. Aber sie hatte auch nicht nein gesagt. Das nahm Nicholas als gutes Zeichen. Leider blieb ihm keine Zeit, darauf zurückzukommen, denn von der Bergkuppe erscholl T. J.s Stimme. „Siehst du, da ist dein Cousin schon.“, sagte Nicholas. „Ich begreife nicht, warum Cinda dich nicht gewarnt hat“, beklagte sich Sarahs Großmutter, als alle auf der Farm versammelt waren. „Sonst hat sie solche Dinge immer vorausgeahnt.“ Daß sie in Nicholas Anwesenheit darüber sprach, war ein Beweis rückhaltloser Anerkennung. Von nun an gehörte er dazu. Ob er das wußte? Sarah suchte seinen Blick. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, als sie das Funkeln in seinen Augen sah. Sie zwang sich, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. „Aber dafür gibt es keine Garantie, Grandma“, erklärte sie. „Wenn ohnehin alles gut ausgeht, bekommt man vielleicht keine Hinweise, und letzten Endes ist mir nichts passiert.“ „Du hast mal gesagt, daß du merkst, wenn Tante Cinda irgend - 187 -
etwas braucht“, protestierte die Großmutter. „Das ist etwas anderes. Wir können geistig miteinander in Verbindung treten. Wenn sie irgend etwas von mir haben will, könnte sie mir das auf die Art mitteilen. Ich hätte sie natürlich rufen können, aber sie wäre nicht in der Lage gewesen, mir zu helfen. Deshalb habe ich es gar nicht erst versucht.“ Nun traf auch Sam auf der Farm ein. Nachdem er sich auf dem Berg vergewissert hatte, daß Sarah gesund war, hatte er Billy Clyde Jackson erst einmal in Gewahrsam genommen. „Er wird in Oklahoma wegen Verstoßes gegen die Bewährungsauflage angeklagt. Leider habe ich keinen Grund, Lenny festzunehmen. Aber ich werde ihm soviel Angst einjagen, daß er froh ist, wenn er hier verschwinden kann.“ Auf Nicholas’ Protest hin erklärte Sam, daß es besser sei, die beiden nach Oklahoma zurückzuschicken. Ab jetzt seien die Behörden gewarnt. Wenn Jacksons nächste Entlassung bevorstand, würde Sarah benachrichtigt. Sam hatte die meisten Begleitumstände aufklären können, die zu Sarahs Unfällen geführt hatten. Nachdem Billy Clyde herausgefunden hatte, wo Sarah lebte, hatte er sie oft verfolgt, wenn sie die Farm verließ. Auch auf dem Ausflug nach Monte Ne. In Eureka Springs dagegen war der Bruder tätig gewesen. Die beiden gefährlichsten Zwischenfälle - einmal auf der Fahrt über den Bald Mountain und dann nach dem Rodeo - fanden allerdings aufgrund zufälliger Begegnungen statt. Nicholas schwor sich insgeheim, daß Jackson nie wieder Gelegenheit haben sollte, in ihre Nähe zu gelangen. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Sam verabschiedete sich als erster, dann folgte T. J. und nahm Jimmy Joe mit. Wenig später entschuldigten sich auch die Großeltern. Sarah und Nicholas blieben allein zurück und nahmen auf der Hollywoodschaukel Platz. Nicholas hatte zwiespältige Gefühle. Auf dem Berg hatte Sarah ihn freudig begrüßt. War er ihr auch willkommen, wenn es darum ging, das Leben mit ihm zu teilen? Er war fest entschlossen, ihr keine andere Wahl zu lassen. Er brauchte sie. - 188 -
„Verzeih mir, Nicholas“, bat sie mit bebender Stimme. „Ich hätte auf dich hören sollen.“ „Laß nur, Sarah. Ich kann deine Reaktion verstehen. Woher sollst du ahnen, daß dich jemand über Jahre hinweg mit solchem Haß verfolgt.“ „Das meine ich nicht. Ich sprach von unserem Streit in deinem Ferienhaus. Damals hätte ich dir zuhören und dir glauben müssen. Aber ich war...“ Nicholas ließ sie nicht ausreden. Er zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn. „Gott sei Dank“, raunte er ihr ins Ohr. „Ich rede andauernd von etwas anderem, weil ich mich kaum traue, das Thema anzusprechen. Im Grunde hatte ich nur Angst, dich zu fragen, ob du mir noch einmal vergeben kannst.“ „O Nicholas, natürlich. Du hast vollkommen richtig gehandelt. Ich hätte dir vertrauen müssen“, entgegnete Sarah ernst. „Pst, mein Liebling. Das ist jetzt nicht mehr wichtig. ich liebe dich.“ Sie schmiegte sich an ihn. Soviel Glück konnte sie kaum fassen.. Er liebte sie. Das hatte er noch nie gesagt. Vor wenigen Stunden hatte sie noch befürchtet, ihn nie wiederzusehen. Nicholas drückte sie an sich. „Bitte heirate mich, Sarah Ein Leben ohne dich ist für mich undenkbar geworden.“ Sarah war so selig, daß sie nicht sprechen konnte. Aber er las ihr die Antwort von den Augen ab und küßte sie zärtlich auf den Mund. Der Kuß war eine Verheißung für die Ewigkeit. „Wann Sarah? Ende dieser Woche? Wie lange dauert es in Arkansas, bis man die Genehmigung bekommt?“ Sie hatte sich noch nicht von dem Gefühlsansturm erholt, den er mit seinen Küssen in ihr ausgelöst hatte. „Ende der Woche?“ wiederholte sie schließlich. „Aber ich muß in zwei Wochen zurück nach St. Louis.“ „Ich weiß, Liebling. Wenn wir diese Woche heiraten, haben wir noch eine Woche Zeit für die Flitterwochen. Inzwischen habe ich in St. Louis ein größeres Apartment gefunden. Ich glaube, es wird dir gefallen. Es liegt nicht weit von deiner Schule entfernt.“ Sarah musterte ihn ungläubig, dann lachte sie verlegen. - 189 -
„Geht dir das zu schnell? Möchtest du lieber eine große Hochzeitsfeier?“ Nicholas seufzte. „Entschuldige, ich wollte dich nicht überrumpeln. Ich mag deine Familie, und ich hoffe, sie mich auch. Andererseits sehne ich mich nach dir, und ich fürchte, deine Angehörigen wären nicht begeistert, wenn wir einfach zusammen leben. Falls du jedoch mehr Zeit und eine große Hochzeit haben möchtest, werde ich mich eben gedulden.“ „Darum geht es nicht“, erklärte Sarah. „Aber was ist mit dir? Irgendwann wirst du wieder verreisen müssen, und ich bin noch ein Jahr an die Schule gebunden.“ „Ich bleibe in St. Louis. Oder hast du gedacht, ich ließe dich allein - nach allem, was passiert ist? Sarah, du bist mir das Wichtigste im Leben. Ich bin ständig unterwegs gewesen, weil ich nichts Besseres zu tun hatte. Das ist jetzt anders. Ich habe einen Vertrag für ein Buch abgeschlossen. Damit werde ich fast ein Jahr lang beschäftigt sein. Danach müssen wir Pläne schmieden. Zusammen. Außerdem können wir in der Zeit unser Haus bauen. Dann haben wir hier immer eine Bleibe, egal, wofür wir uns entscheiden.“ „Hier in Mountain Springs?“ Plötzlich wurde Sarah alles klar. „Du hast das Grundstück der Caldwells gekauft.“ „Natürlich. Die Lösung ist perfekt. Wir bauen unsere Traumvilla. Tante Cinda bekommt ein neues Haus, und T. J. kann endlich mit seiner Pferderanch anfangen.“ „Tante Cinda?“ wiederholte sie. „Meinst du das Haus an der Straße?“ „Ja. Der Platz ist gut, oder nicht? Er ist nahe genug, um ein bißchen auf sie aufzupassen, und weit genug weg, um ihre Privatsphäre, zu respektieren.“ „Du mußt dir deiner Sache ja sehr sicher gewesen sein.“ „Überhaupt nicht, um ehrlich zu sein. Ich wußte nur, was ich wollte. Außerdem hatte ich gehofft, dich für mich einzunehmen, wenn ich dir zeige, daß ich dir helfen kann.“ „Ach, Nicholas, das ist einfach wundervoll!“ Sie hob ihm das Gesicht entgegen und flüsterte: „Ich liebe dich.“ Sobald er mit den Lippen, ihren Mund berührte, verlor sie sich im Zauber seiner - 190 -
Liebkosungen. Ob sich Nicholas wohl vorstellen kann, daß meine Familie imstande ist, innerhalb von drei Tagen eine Riesenhochzeit auszurichten? überlegte Sarah noch, und danach dachte sie sehr, sehr lange gar nichts mehr.
- ENDE -
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