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Autorin: Valja Stýblová wurde als Tochter eines Ingenieurs 1922 Charbin geboren; legte 1941 das Abitur in Prag ab; widmete sich danach dem Klavierstudium; nahm nach 1945 das Medizinstudium auf; seit 1973 Leiter des Lehrstuhl für Neurologie und Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Karlsuniversität; seit 1974 Chefarzt einer neurologischen Klinik in Prag; 1977 Berufung zum Professor für Neurologie; erhielt 1976 den Titel ›Verdiente Künstlerin‹ und wurde 1981 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Wichtigste Werke: Mich richtete die Nacht (1957), Mein großer Glaube (1960), Brief an Klara (1963), Ich hasse und liebe (1969), Am Ende der Allee (1979), Skalpell, bitte (1981). Buch: Valja Stýblová, selbst Professor für Neurologie, gibt in diesem Buch ohne Sentimentalität, ohne Beschönigung des ›hehren‹ Arztberufs ein Bild von der harten Arbeit eines Mediziners mit all den Höhen und Tiefen, den Schwierigkeiten, die täglich in einer großen Klinik auftreten. Ein junger Mann, Journalistikstudent, besucht einen bekannten Prager Neurochirurgen, um im Auftrag seiner Zeitung ein Interview mit ihm zu machen. Eigentlich hat er wenig Hoffnung, da er bei ähnlichen Gelegenheiten schon so oft abgewiesen wurde. Doch der vielbeschäftigte Arzt findet Zeit für den jungen Mann. Aus der Unterhaltung wird für den Älteren ein Erinnern an seine Jugend, seine Studentenzeit, seine Lehrjahre an der Neurochirurgischen Klinik, aber auch an besonders komplizierte oder tragische Fälle in seiner Praxis. An Fälle, die ihm sehr nahe gingen, wie die schweren Gehirnoperationen an seinem Freund und an dem kleinen Jungen, bei dem ein Erfolg wegen der Größe der Geschwulst zunächst aussichtslos schien. Der Charme des Kleinen hatte ihn aber so gefangen, daß er sich trotz aller Einwände seiner Kollegen zum Eingriff entschloß.
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Valja Stýblová
Skalpell, bitte! Deutsch von Gustav Just
Aufbau-Verlag
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Titel der tschechischen Originalausgabe Skalpel, prosím
1. Auflage 1987 © Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1987 (deutsche Übersetzung) © Valja Stýblová 1981 Einbandgestaltung Ingolf Neumann/Günter Woinke Lichtsatz Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V15/30 Druck und Binden III/9/1 Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Printed in the German Democratic Republic Lizenznummer 301.120/182/87 Bestellnummer 613 919 8 00295 ISBN 3-351-00541-5 Scanned and corrected by RedY
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<1> Ich mag es nicht, wenn um die Medizin so viel Wind gemacht wird. Populäre Zeitungsartikel, Jubiläen! Was soll man auf solch eine Frage antworten: Welche Zukunft hat Ihr Fachgebiet? Oder: Wir haben von Ihren glänzenden Ergebnissen in der Mikrochirurgie gehört. Können Sie uns darüber ein paar Worte sagen? Das ist so schwer! Ich schließe die Augen und stelle mir die entsetzlich ungeschickten Finger am Mikrobohrer vor. Ich plage mich beim Nähen mit dem Nylonmonofilament. Die längste Nadel mißt kaum sechs Millimeter, und der Faden ist mit bloßem Auge nicht zu sehen. Die Assistenten sagen: Wir nähen des Kaisers neue Kleider. Der junge Redakteur war gleich am Morgen zu mir gekommen, als ich kaum die Visite beendet hatte. Ich hätte ihn ruhig wegschicken können. Weiß selbst nicht, warum ich es nicht getan habe. Wohl deshalb, weil er mich an einen Bekannten erinnerte, ich wußte nur nicht, an wen. Er führte sich nicht eben respektvoll auf. Ich kann mich zum Beispiel nicht erinnern, daß er mich mit vollem Titel angeredet hätte. Er bat mich um nichts, teilte mir einfach mit, er möchte gern ein Interview für eine Wochenzeitung machen. Ich muß gestehen, sein Selbstbewußtsein amüsierte mich. Er wartete schon in meinem Arbeitszimmer, die Sekretärin hatte ihn unvorsichtigerweise hineingelassen. Seelenruhig hatte er auf dem Tischchen Schreibblock, Stift und eine Mappe ausgebreitet, aus der Zeitungsausschnitte ragten. »Ich fürchte, dazu werde ich keine Zeit finden«, sagte ich ihm zur Begrüßung, aber er nahm das nicht zur Kenntnis. »Ich werde Sie nicht lange belästigen«, versicherte er mir, »aber wissen Sie, es eilt furchtbar. Ihr Jubiläum ist schon in zwei Monaten!« Die ganze Zeit dachte ich angestrengt darüber nach, an wen er mich erinnerte. So geschah es wohl, daß ich den passenden Augenblick verpaßte, mich zu entschuldigen und ihn
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hinauszukomplimentieren. Dann ging es irgendwie nicht mehr. Er saß mir gegenüber und musterte mich neugierig. »Sie sehen viel jünger aus, als ich Sie mir vorgestellt hatte«, bemerkte er. »Ich dachte: Wissenschaftler, und dazu noch Professor, das wird wohl ein älterer Jahrgang sein...« Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Auch er lachte. Dabei hatte er Grübchen in den Wangen wie ein Mädchen. Und zwischen den Schneidezähnen eine Lücke, wie sie Witzbolde und Lügner haben. Ja, jetzt wußte ich, wem er ähnelte: dem Fencl aus unserem Internat! Pepík Fencl! Das gleiche arglose, runde Gesicht, der gleiche staunende Blick, der einen keine Sekunde losläßt. Ob es sein Sohn ist? Ich entschloß mich, ihn wenigstens anzuhören. Ich bat die Sekretärin, uns einen Kaffee zu bringen. Schweigend hob sie die Augenbrauen - konnte ich denn vergessen, wie wenig Zeit ich hatte? Das sieht doch nach einem längeren Besuch aus! Sie hatte recht, ich mußte schnell zur Sache kommen. »Sie sind also Redakteur?« begann ich. Energisch schüttelte er den Kopf. Ach wo, Redakteur sei er noch nicht. Einstweilen studiere er Journalistik. Er müsse ein paar Reportagen schreiben, das gehöre zum Praktikum. »In der Redaktion rechnet man ohnehin nicht damit, daß ich was bringe«, gestand er aufrichtig. »Bis jetzt hatte ich kein Glück. Vorige Woche erhielt ich die Aufgabe, ein Interview mit einem Verdienten Künstler zu machen, aber er empfing mich nicht, ließ sich einfach verleugnen. Dann sollte ich über eine Ausstellungseröffnung berichten, aber von Malerei verstehe ich überhaupt nichts, da hätte ich lauter Unsinn verzapft. Da hab ich lieber Sie gewählt. Sie sind mir doch nicht böse, daß ich das so geradeheraus sage?« »Warum sollte ich böse sein!« Ich steckte schon bis über beide Ohren drin. Pepík Fencl lebte vor mir wieder auf. Und nicht nur das, er machte es sich im Sessel bequem. »Was für Fragen haben Sie für mich vorbereitet?« ärgerte
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ich ihn. »Was ich von der Zukunft der Neurochirurgie halte? Oder etwas über die edle Mission des Arztes?« Darauf biß er nicht an. Grinste sogar abfällig. »Ach was, für solches Gerede bin ich nicht, das würde nicht gut werden. Eher etwas darüber, wie Sie angefangen haben oder was in Ihrem Leben nicht geklappt hat. Es könnte auch ein interessanter Fall sein, dem Sie wirklich geholfen haben...« Das ist nicht so schlecht, dachte ich. Endlich sieht jemand in der Medizin eine Arbeit wie jede andere. Kein Hakim, keine ehrenwerten Vorbilder oder einzigartigen Fälle, wie sie Axel Munthe beschrieben hat. Einfach ein Chirurg, dem zuweilen auch etwas nicht gelingt. Er hatte wohl den Eindruck, daß ich ihn nicht ganz verstand. »Wissen Sie, ich mag solche vorgegebenen Typen nicht«, sagte er entschieden. »Zum Beispiel der Doktor Menschenfreund, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu den Kranken fährt und dabei weder ißt noch trinkt. Oder der Herr Chefarzt in einer kleinen Stadt, der jeden Patienten duzt und alles weiß. Oder der Wissenschaftler: Er hat für nichts Zeit, und seine Gattin geht inzwischen mit seinem Freund fremd...« Ich bemühte mich, ernst zu bleiben, obwohl es mir sehr schwer fiel. Mein junger Besucher leckte eine Weile konzentriert am Kaffeelöffel und fuchtelte dann kriegerisch damit in der Luft herum. »Vielleicht hab ich das dumm ausgedrückt, aber ich denke an diese Fernsehserien oder. Filme, wo jeder eine klare Rolle hat. In der Medizin ist es jedoch anders. Zufällig weiß ich das, meine Mutter ist nämlich Operationsschwester.« Na wunderbar, sagte ich mir, brauche ich wenigstens keine Phrasen zu befürchten. Er seufzte. Legte den Löffel auf den Tisch. »Nehmen Sie es mir übel, wenn ich den Kaffee nicht austrinke? Ich mag nämlich keinen, wollte Sie nur nicht kränken.« Ich versicherte ihm, so herzlich ich konnte, ich nähme es
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ihm nicht übel, und lobte ihn erfreut, daß er so unkonventionell an seine Reportage heranging. Man sah, wie ihn das freute. Ich überlegte, für wann ich ihn wieder bestellen sollte. In der Tür erschien Frau Růžková. »Herr Professor, haben Sie Ihre Vorlesung vergessen?« »Hab's nicht vergessen, wir sind gleich fertig.« Er lief rot an wie ein beschämter Schuljunge. Rasch sammelte er sein Schreibzeug ein. »Ich weiß, ich soll schon gehen. So macht man es überall. Der Besucher nimmt Platz, und nach einer Weile kommt die Sekretärin, der Chef müsse zu einer wichtigen Besprechung. Ich hab's ja geahnt, daß ich auch hier nichts ausrichte.« »Warten Sie, seien Sie doch nicht gleich so empfindlich«, rief ich. »Auf mich warten wirklich Studenten, das ist keine Ausrede. Begreifen Sie doch, ich habe ein Programm, Sie sind ja nicht einmal angemeldet!« Mißtrauisch schaute er mich an. »Also kein Rausschmiß?« »Nein«, bestätigte ich, und zu seiner Beruhigung fügte ich noch hinzu: »Selbstverständlich will mir meine Sekretärin manchmal Besuche ersparen. Aber Sie betrifft das nicht. Ich hätte Ihnen doch geradeheraus sagen können, daß ich mit Ihnen kein Interview machen will.« Er strahlte. Schon war er wieder Pepík Fencl, von einem Ohr zum andern grinsend. »Da bin ich aber wirklich froh«, bemerkte er. »Ich hatte schon gedacht, Sie seien genauso wie...« Er brach ab. »Wie wer?« »Ach... Sie wären vielleicht noch beleidigt.« Ich weiß nicht, welcher Ehrgeiz mich anstachelte, auf keinen Fall so zu sein wie die anderen, an denen er sich die Zähne ausgebissen hatte. Plötzlich wünschte ich mir, er solle bei mir mehr Glück haben. »Wissen Sie was?« schlug ich ihm vor. »Lassen Sie mir Ihre Fragen hier, falls Sie welche vorbereitet haben. Ich werde versuchen, mir bis zum nächsten Mal ein paar Notizen zu
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machen.« Er schien nicht sehr begeistert, er hatte nämlich überhaupt nichts vorbereitet. »Ich dachte, Sie könnten mir einfach schildern, wie Ihr Arbeitstag aussieht oder was im letzten Monat Interessantes in der Klinik passiert ist. Dabei fällt Ihnen vielleicht manches aus der Vergangenheit ein. Es könnte auch etwas Persönliches sein, doch das möchte ich Ihnen überlassen.« »Gut, das ist noch besser. Ich überlege es mir, und wir stellen es dann gemeinsam zusammen.« Damit war er einverstanden. »Ich muß ohnehin ein Bildchen von Ihnen machen. Bringe die Fotografin aus unserer Zeitschrift mit. Ein junges Ding, aber sie kann was. Sie brauchen keine Angst zu haben, nichts Gestelltes, das werden wirklich Sie sein.« Ich konnte mir die Ironie nicht verkneifen. »Ich bin froh, das beruhigt mich. Sie verstehen, in meinem Alter...« »Na eben«, unterbrach er mich eifrig. »Aber da kennen Sie sie schlecht, die holt aus allem ein Maximum raus.« Was konnte ich einwenden, ich hatte es ja schließlich selbst provoziert. Ich schlug ihm vor, in drei Wochen wiederzukommen. »Ausgeschlossen«, lehnte er kategorisch ab. »Ich muß das in einer Woche haben. Sehen Sie, was Sie mir sagen, wird so nicht zu gebrauchen sein. Ich muß es erst literarisch verarbeiten.« Das wird ja immer besser! Was für ein Heißsporn nach den ehrerbietigen Petitionen der Aspiranten, die auf meine Gegengutachten warten. »Das ist zu früh«, schränkte ich ein. »Kommen Sie in Gottes Namen in zwei Wochen!« Dagegen hatte er nichts mehr einzuwenden. Er ließ mir seine Adresse da. Fencl hieß er nicht, ich hatte vergeblich gehofft. Das wäre auch ein zu großer Zufall gewesen. Ich wußte ja gar nicht, wo Pepík hingeraten war, geschweige denn, ob er einen Sohn hatte!
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Er drückte mir die Hand so kräftig, daß mir die Finger schmerzten. Ob er in zwei Wochen vorher anrufen solle, fragte er noch. Natürlich, sagte ich, ich muß mich doch frei machen. Verschwörerisch zeigte er mit dem Daumen hinter sich auf die Tür zum Vorzimmer. »Und wenn die Dame dort mich zurückweist? Dann müßte ich direkt hier erscheinen!« Komm nur direkt, hol dich der Teufel! Ich schloß hinter ihm die Tür und mußte laut lachen. Die Sekretärin guckte zu mir herein. Sie war ganz entsetzt, als sie mich allein im Arbeitszimmer sah. Sie entschuldigte sich bei mir: »Verzeihen Sie, daß ich ihn eingelassen habe. Er sagte, er wolle mit Ihnen einen Termin ausmachen. Ich dachte, er sei ein Medizinstudent. Doch als er anfing, mich über Sie auszufragen, begriff ich, daß er von der Zeitung ist. Aber da war er nicht mehr wegzubewegen.« »Ist schon gut«, beruhigte ich sie. »Er ist ein liebenswerter Bursche, so ein... na, einfach natürlich, keinerlei Umstände.« Empört schüttelte sie den Kopf. »Frech ist er! Ein Frechdachs ist das! Sie sind zu gutmütig, Herr Professor! Die Leute wollen nicht begreifen, daß Sie für solche Sachen keine Zeit haben. So viel Arbeit, und niemand sieht es...« Meine gute alte Frau Růžková. Mit zitternden Händen legte sie mir ein paar Arztberichte zur Unterschrift vor und blickte mich weiter tadelnd an, weil ich immer wieder lachen mußte. Am meisten wird sich Jitka amüsieren, sie hat Sinn für Humor. »Eigentlich bist du gar nicht so übel dran«, wird sie sagen. »Über die Perspektiven des Fachbereichs muß Krtek schreiben, weil er der älteste Dozent und Sekretär der Gesellschaft ist, das Verzeichnis der Arbeiten für den ›Nekrolog‹ bereitet deine Sekretärin vor, und du brauchst nur nachzudenken und dich zu erinnern.« »Oder weißt du was«, werde ich ihr vorschlagen. »Wie wär's, wenn wir Urlaub nehmen? Allem könnten wir damit
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entfliehen, Artikeln, Feiern, Reportagen.« Ich höre schon, was meine Frau antworten wird: »Das geht nun auch nicht! Etwas versprechen kann jeder, aber es auch halten! Wer verkündet sein Leben lang diesen Grundsatz? Schreib dir nur schön deine Notizen und Erinnerungen auf, damit dein Fencl dann damit prahlen kann! Wenigstens wirst du merken, daß Versprechungen ein Fehler sind!« Na ja, es ist nun mal passiert. Übrigens sind zwei Wochen eine lange Zeit, vielleicht werde ich mir was ausdenken. Wenn man es so nimmt, durchlebt jeder Patient bei uns eine Grenzsituation - die Operation, die Krankheit, die Genesung oder den Tod. Jeder Mensch ist ein menschliches Schicksal. Aber Hand aufs Herz - kann ein Chirurg es sich erlauben, die Patienten so zu sehen? Einen Fall näher kennenzulernen bedeutet, ihn aus der Reihe auszugliedern. Es ist eben ein Unterschied, ob ich auf dem Operationstisch eine Rückenmarksgeschwulst im Brustkorbbereich habe oder einen Freund, den ich seit zwanzig Jahren kenne. Die meisten Ärzte lehnen es überhaupt ab, einen ihnen nahestehenden Menschen zu operieren. Den Redakteur würden vielleicht besondere Sensationen interessieren, aufsehenerregende Unfälle, aber die lieben wir gar nicht. Der Aufzug hat jemandem den Brustkorb eingedrückt, ein Rangierer ist mit dem Kopf zwischen zwei Waggons geraten, der Fahrer eines Lastkraftwagens wurde aus dem brennenden Fahrzeug befreit, alles interessante Nachrichten für die Zeitung. Aber wer von den Lesern kann sich vorstellen, was es bedeutet, ein traumatisches Lungenemphysem oder eine Leberruptur zu operieren? Und wie winzige Knochensplitter bei einer schweren Kopfverletzung beseitigt werden? Oder was für eine Schinderei es ist, ein Kopftrauma zu versorgen, wenn noch ein Schock infolge von Verbrennungen hinzukommt? Nein, keiner von uns legt Wert auf derartige Sensationen. Manchmal gehen uns diese schweren Fälle ziemlich nahe. Besonders wenn wir einen Familienangehörigen rufen und
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über das Schlimmste informieren müssen. Ich ertappte mich, wie ich untätig am Fenster stand und in den Garten starrte. Die Linden begannen schon zu blühen. Ihr Honigduft war stärker als der scharfe Desinfektionsgeruch, der morgens aus dem Flur zu mir hereindringt. Sieh an, zu welchen Betrachtungen mich dieser junge Mann verleitet hat! Er will Geschichten über Menschen. Natürlich wird darin immer ein gewisses Pathos anklingen, und selbst hundertfach auftretende Grenzsituationen bringen in uns niemals das Gefühl zum Verstummen. Der Zynismus eines Arztes ist nämlich nur Schein. Am deutlichsten zeigt er sich bei unseren Jüngsten, die noch blaß werden, wenn es nicht gelingt, eine Blutung zu stillen, oder wenn der Patient auf dem Operationstisch stirbt. Interessanterweise täuschen sie gerade dann den größten Gleichmut vor. Gewöhnlich fängt dann einer von ihnen im Arztzimmer an, ordinäre Witze zu erzählen. Sie lachen so laut darüber, daß man es bis ins Schwesternzimmer hört. In der Tür tauchte abermals Frau Růžková auf. »Herr Uzel wartet noch auf Sie, mit seinem Jungen.« Natürlich, wie konnte ich das vergessen! Ich muß ihn empfangen, nur für ein Weilchen, sie wollen sich verabschieden. Der Junge trug noch den Pyjama und den Krankenhauskittel. Der Kopf war dünn mit neuen Haaren bewachsen. Er sah aus wie ein Kegel mit großen Ohren. Sie brachten mir Blumen, in Zellophan eingewickelt. Der Großvater erschien in seiner Försteruniform. Er hatte feste Schuhe an, wie man sie in den Bergen trägt. Mit einem großen Taschentuch wischte er sich die Stirn, weil es draußen warm war. »Wir wollen uns bedanken«, verkündete er. »Vítek, was sollst du sagen? Du hast mir versprochen, es dem Herrn Professor schön zu sagen.« Vítek sagte nichts. Er streckte mir das Bukett hin und lächelte dabei verlegen. Dann blinzelte er mir mit einem Auge zu, wie es ihm die Schwestern beigebracht hatten.
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»Also los, was hab ich dir gesagt?« Der Großvater begann ärgerlich zu werden. »Wofür sollte er sich bedanken, Herr Uzel?« Ich bemühte mich, den Besuch abzukürzen. »Wir hatten ein bißchen Glück...« Der Alte knetete die Krempe seines Jägerhuts. »Herr Professor, Sie brauchen mir nichts zu sagen... Wären Sie nicht gewesen...« Seine Stimme brach, er wandte sich ab. Ich reichte ihm mit einem Lächeln die Hand, aber nein, er blieb starrsinnig. Er hatte sich entschlossen, dem Jungen die Danksagung nicht zu erlassen. »Du wirst dich jetzt bedanken, Vítek, aber sofort! Wie ich es dir gesagt habe!« Vítek lachte und schüttelte den Kopf. »Komm, ich hab was für dich«, sagte ich und führte ihn zum Schreibtisch. Ich hatte ihm eine Mundharmonika gekauft, wie ich ihm nach der Operation versprochen hatte. Er zog sie aus dem Futteral, beschaute sie sich bezaubert von allen Seiten. Er versuchte hineinzublasen, und als der erste Akkord erklang, leuchtete sein Gesicht auf wie ein Lampion. Dann warf er sich in meine Arme. »Ich möchte...«, stammelte er aufgeregt, »ich möchte dich abknutschen wie unsern Hund!« Ich drückte ihn an mich. Streichelte ihn und bemühte mich dabei, in dem zarten Flaum die Narbe zu ertasten. Sie zog sich vom Hinterhauptsbein bis in den Nacken. Meine Berührung tat ihm nicht mehr weh. Mir kam ein erlösender Gedanke. »Soll ich dich zu meinem Vortrag mitnehmen?« Ich verhandelte mit dem Großvater. Ob es ihm nichts ausmache, wenn er sich noch eine Weile hier aufhalten müsse? Nein, es mache ihm nichts aus. Er versicherte mir, er werde notfalls eine Woche hier warten, wenn ich das für nötig hielte. Eine Woche nicht, aber zwei Stunden könnten es werden.
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Inzwischen solle er sich den Entlassungsbericht holen und Víteks Sachen packen. Es war schon spät. Wir eilten in den Hörsaal. Mit langen Schritten an der Chirurgie vorbei und dann hinunter auf den Hof. Vítek konnte mir kaum folgen. Zuerst trabte er neben mir, und dann mußte er laufen. Unermüdlich spielte er dabei auf der Harmonika. Ich ließ ihn im Vorbereitungsraum, von wo man Zugang zum Hörsaal hat. »Hier wartest du, ich hole dich dann.« Er kletterte auf den Drehsessel und begann wieder zu spielen. Ich hatte an diesem Tage meine letzte Vorlesung für dieses Jahr und mußte die Darlegungen über Gehirngeschwülste abschließen. Die Demonstration der Fälle hebe ich mir immer für den Schluß auf, die Studenten können sich dann nach dem langen Mitschreiben ausruhen. Der Hörsaal war voll wie immer, das Thema der Neurochirurgie wirkt auf die Hörer der Medizin nach wie vor anziehend. Der Student Velecký hatte von mir die Diapositive geholt. Geübt machte er den Projektionsapparat fertig und schob die Bilder in den automatischen Rahmen. Der Famulus Velecký! Ich mußte im stillen lachen. Schon zwei Jahre kommt er zu uns in die Klinik. Als er im ersten Semester war, gehörte ihm die Welt. Er kam damals zu mir, um sich vorzustellen. Teilte mir mit, er habe sich entschlossen, Neurochirurgie zu studieren, deshalb würde er gern zu uns kommen. Das jugendliche Gesicht wirkte selbstsicher. Ich vertraute ihn dem Dozenten Krtek an. Er begann für ihn Krankenberichte zu schreiben und begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Bald hatte er sich auch seine ausholenden Gesten und die gedehnte monotone Redeweise abgeguckt. Etwa einen Monat später kam Krtek hoch auf die Station. Er hatte sich ein bißchen verspätet. Velecký kam ihm entgegen. »Herr Dozent, Sie brauchen nicht mehr zur Visite, ich hab das erledigt!« Als uns Krtek in seiner ironischen Art davon berichtete, fielen wir vor Lachen fast um. Wir wollten wissen, was er ihm darauf geantwortet hatte.
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»Danke, Herr Kollege«, habe ihm der Dozent gesagt, ohne eine Miene zu verziehen. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich glaube, ich gehe doch noch einmal durch. Sie verstehen, ich muß schließlich auch informiert sein, was in der Klinik geschieht.« Heute hat er sich schon ein bißchen eingelebt. Er kann einfache Verbände machen, und die Assistenten behaupten, er sei geschickt. Er hat auch Bescheidenheit gelernt, wenn er sich unter uns bewegt. Er weiß, daß ein Famulus unter den medizinischen Chargen so etwas wie ein Gefreiter ist. Vor den Kommilitonen fühlt er sich natürlich! Die Gefreiten waren seit eh und je der Schrekken der Armee! »Wünschen Sie die Diapositive sofort?« fragte er mich respektvoll. Ich nickte. Er zog die Verdunklung herunter, schaltete den Bildwerfer ein. Wir fingen an. Ich hatte nur noch über die Geschwülste des Hirnstamms und des Kleinhirns zu sprechen. Zuerst wiederholte ich kurz die Anatomie, dann folgte die theoretische Erläuterung des Substrats, eine Probe der Röntgenaufnahme. Ich erklärte den Operationsablauf, zeichnete ihn schematisch auf. Und dann weitere Kommentare, Röntgenbilder, Diapositive. Licht, Dunkel, das Surren des Projektionsapparats, das Knacken der Kassette, das Rascheln beim Wenden der Blätter in Heften und Blöcken. Vor mir hatte ich Dutzende von Gesichtern. Aufmerksame Blicke, zerstreut über die Wände irrende Blicke, mit dem Schlaf kämpfende Augen, schöne Mädchenaugen, die überhaupt keinen Gedanken ausdrückten. Ungeduldige Blicke, voll von verborgenem Lachen oder tödlicher Langeweile. Ich hob die Stimme. »Ein Ependymom, eine Geschwulst, die überwiegend im Kindesalter vorkommt.« Ein neuer Funke von Interesse. Alle Krankheiten, die Kinder betreffen, sind anziehend und rührend. »Die Geschwulst wächst aus den Rändern des vierten Ven-
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trikels. Das ist eine gefährliche Gegend. Auf dem Boden des vierten Ventrikels sind bekanntlich lebenswichtige Zentren. Sie regulieren Atem, Blutkreislauf, Herztätigkeit. Jede Berührung an dieser Stelle kann zum Tode des Patienten direkt auf dem Tisch führen. Eine Radikaloperation ist praktisch unmöglich, gewöhnlich wird nur ein Teil der Geschwulst reseziert. Das ist sehr schade, weil ein Ependymom seinem Wesen nach nicht bösartig sein muß. So hat es immer eine schlechte Prognose.« Sie schrieben fleißig mit. Hinter den letzten Sätzen machten sie energische Ausrufezeichen. Sie legten die Kugelschreiber weg und schüttelten die Hände. »Ich bin am Ende. Zum Schluß habe ich für Sie eine Demonstration. Diesmal nur eine, aber sie ist in gewisser Hinsicht sehr lehrreich.« Nur Velecký wußte, was jetzt kam. Er hatte gesehen, wie ich Vítek ins Kabinett führte. Zu seiner Ehre muß man sagen, daß er das Recht des Eingeweihten nicht ausnutzte, er hatte seinen Kommilitonen nichts verraten. Statt dessen kommandierte er sie mit gedämpfter Stimme, sie sollten die dunklen Rollos hochziehen und ihm helfen, den Projektor abzubauen. Ich ging zur Tür des Nebenraumes und öffnete sie. Es war niemand zu sehen. »Vítek, wo bist du?« Keine Antwort. Ich ging durchs Kabinett, guckte schließlich auf den Flur. »Hörst du, Vítek, so melde dich doch...« Auch jetzt rührte sich nichts. Vielleicht ist er weggelaufen, hinaus ins Freie, dachte ich voller Schreck. »Stöpsel!« rief ich voller Bangen den Namen, den meine Frau dem Jungen gegeben hat. »Uuu...«, schallte es aus einem Winkel. Der Hörsaal in meinem Rücken lachte laut auf. Ich ging der Stimme nach. Der Kleine saß hinterm Laboratoriumspult. Ich zog ihn hervor und stellte ihn neben mich. Dann folgte er mir schon gehorsam. Er ahmte dabei meine langen Schrit-
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te nach und blies in die Harmonika. Von den hinteren Bänken konnte man ihn nicht sehen, die Studenten standen auf, stellten sich auf die Zehenspitzen. Ich hob den Jungen hoch und setzte ihn aufs Katheder. »Du wirst jetzt den Herren Doktoren alles sagen, wonach sie dich fragen!« Zur Demonstration gehört die Anamnese. Ich winkte einer Studentin aus der ersten Bank. »Wie heißt du?« fragte die langhaarige künftige Medizinerin. »Herr Uzel«, rief der Junge. Das Mädchen lächelte verlegen. Sie biß sich auf die Lippe. »Na gut. Und wie nennt man dich?« »Stöpsel«, verkündete der Junge, und seine neugierigen Augen huschten durch den Hörsaal. Die Studenten amüsierten sich. »Frag, warum er hier ist«, soufflierten sie ihr. »Also, warum bist du hergekommen?« Vítek schaute sie ratlos an. Er schwieg. »Du weißt doch, warum du im Krankenhaus bist!« .Ja.« »Dann sag uns, warum du hier bist!« »Das weiß ich nicht.« Der Hörsaal lachte laut. Der Junge mit. Er blinzelte abwechselnd mit dem linken und dem rechten Auge, damit das Interesse für ihn eine Weile anhielt. Schließlich holte er die Harmonika aus der Tasche. Er hatte sogar schon ein Stückchen Melodie gelernt. Zumindest erinnerte sie entfernt an »Hänschen klein«. Da nahm ich mich lieber selber des Jungen an. Ich drehte ihn mit dem Rücken zu den Bänken. »Die Operation hat er hinter sich. Hier können Sie die Narbe ertasten.« Im Dickicht der sprießenden Haare zeigte ich die Richtung des Operationsschnitts. »Will sie sich jemand von nahem anschauen?« Zwei Studentinnen aus der ersten Bankreihe kamen nach
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vorn. Sie betasteten die Narbe. Mir war klar, daß sie ihn hauptsächlich streicheln wollten. Der kleine Schlingel zog inzwischen Grimassen. Er streckte die Zunge heraus, grinste, blinzelte abwechselnd mit dem einen und dem anderen Auge. »Es handelte sich um eine Geschwulst, die in die Kleinhirnhemisphären gewachsen war. Sie füllte den ganzen vierten Ventrikel aus und begann auf den Hirnstamm zu drücken.« Ich schilderte die ersten Symptome und den klinischen Verlauf. Dann wiederholte ich noch einmal den Operationsvorgang. »Wir haben es ganz beseitigt, restlos. Es war ein solches Ependymom, von dem ich zuletzt gesprochen habe.« Die Studentin, die mit der Anamnese nicht zurechtgekommen war, hob zögernd die Hand. »Aber Herr Professor, Sie haben doch gesagt, eine Radikaloperation sei unmöglich!« Meine Stunde war gekommen. Ich schämte mich fast, wie mir dieses Mädchen den Ball zuspielte. »Ich habe nicht gesagt, sie ist unmöglich, sondern sie ist praktisch unmöglich. Sie gelingt nur selten oder, wenn Sie so wollen, fast nie.« Der Hörsaal verstummte. Der Effekt war unerwartet groß. Aber ich hatte das wirklich nicht des Effekts wegen getan. Ich wollte nur, daß sich die Studenten diesen Stoff merkten. Ich hob Vítek vom Katheder herunter und stellte ihn auf den Fußboden. Das Semester war zu Ende. Ich verbeugte mich zum Abschied vor den Hörern, sie antworteten mir im Chor. Stöpsel fing wieder an, mich zu karikieren. Er verbeugte sich ebenfalls, sogar in der Hüfte. Zweimal hintereinander, und abermals fingen alle an, laut zu lachen. Ich schritt voraus und er hinter mir her, die Harmonika am Munde. Wir verschwanden im Kabinett. Zur Klinik zurück gingen wir dann langsam. Ich führte ihn an der Hand, er trippelte folgsam neben mir her, die Harmonika in der Tasche. »Weißt du denn, wo du jetzt hinfährst?« fragte ich ihn.
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»Ja«, sagte er. »Nach Hause, zum Großvater.« »Aber nein, Vítek«, versuchte ich ihm zu erklären. »Zuerst fährst du in ein anderes Krankenhaus. Dort sind Kinder wie du. Erst wenn du ganz gesund bist, holt dich der Großvater heim.« Er trabte neben mir. Ließ die Augen nicht von mir, groß wie Untertassen. Eine Weile schwieg er. Dann machte er einen Luftsprung und lächelte listig. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Singend legte er los: »Ich geh nicht ins Krankenhaus, ich geh nicht! Ich geh nach Hause zum Großvater, ätsch!« Ich blieb stehen. »Aber nein!« Ich brauchte mein Erstaunen gar nicht vorzutäuschen. »Ich geh nicht!« bestätigte er mir von neuem. »Aber ich hab dem Großvater versprochen, daß ich's dir nicht sage!« Noch vor dem Eingang der Klinik zupfte er mich am Ärmel. »Du sagst ihm nichts, ja?« Sieh mal an, da haben wir's! Der Herr Förster ist offenbar wirklich gesonnen, den Jungen gleich mit nach Hause zu nehmen. Wir kontrollieren es ja auch gar nicht. Die Medikamente kriegen sie von uns, so daß nach Großvaters Meinung nichts vernachlässigt wird. In die Kinderabteilung gehen sie einfach nicht. Daß uns das nicht früher eingefallen ist! Der alte Uzel ist eigensinnig genug, um seinen Kopf durchzusetzen. Ich ließ ihm bestellen, sie sollten noch einmal zu mir kommen, sobald der Junge sich umgezogen habe. Vítek sah in kurzen Hosen und Nicki wie eine kleine Spinne aus. »Sagen Sie, haben Sie vielleicht die Absicht, unsere Pläne zu durchkreuzen?« fragte ich. »Das Kind kann vorläufig noch nicht nach Hause, glauben Sie mir!« Er lief rot an. »Er hat es ausgequatscht, der Lümmel!« Er drohte dem Kleinen mit dem Finger. »Ich wollte ihn ein bißchen aufpäppeln. Schauen Sie sich ihn doch an, Herr Professor, nur Haut und Knochen. Ich würde ihm frische
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Milch geben, würde ihm Buchteln backen. Er war so ein strammes Kerlchen. Und jetzt?« Ich schüttelte den Kopf. »Einstweilen geht das wirklich nicht. Die Operation war schließlich keine Kleinigkeit, zum Donnerwetter! Was ist, wenn er wieder Anfälle bekommt?« Er stand vor mir, groß und stämmig, aber mit hilflosem Gesichtsausdruck wie ein kleiner Junge. »Warum sollte er wieder Anfälle kriegen? Sie haben doch gesagt, alles ist in Ordnung!« Und so wie damals, als er uns den Jungen brachte, begann er nervös im Zimmer auf und ab zu wandern. Jedesmal, wenn er die Mitte erreicht hatte, zog er den Kopf ein und hob ihn dann in einem Bogen wieder an. »Die Anfälle kann er doch nicht mehr kriegen, Herr Professor...«, versuchte er sich mit banger Stimme selber zu bestärken. Mir tat er leid. Ich wollte ihn nicht unnötig beunruhigen, aber andererseits mußte er begreifen, daß das Kind noch nicht völlig gesund war. Die Wunde mußte restlos zuheilen. »Ich glaube, er wird keine Anfälle mehr bekommen«, sagte ich, »aber vollends gewonnen haben wir noch nicht. Ein Mensch muß sich selbst nach einer Blinddarmoperation einige Zeit schonen, und das da war unvergleichlich schlimmer. Er muß unter ärztlicher Aufsicht sein, es ist auch notwendig, einige Untersuchungen zu wiederholen...« Uzel blieb mir gegenüber stehen, die Hände auf dem Rükken. »Ich würde ihn jede Woche herbringen. Sie könnten sich ihn dann anschauen.« »Es geht nicht nur darum. In der Kinderabteilung gibt es einen Psychologen. Er wird sich täglich mit Vítek beschäftigen. Wir müssen wissen, ob im Kopf alles in Ordnung geblieben ist.« »Sie meinen... der Verstand... daß der beeinträchtigt sein kann?« entsetzte sich der Alte. Vítek kicherte in die vorgehaltene Faust.
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»Nein«, versicherte ich ihm. »Ich sage doch nicht, daß ihm so etwas droht. Aber wenn bei Ihnen im Wald eine Baumschule angelegt wird, schauen Sie doch auch nach, ob die Bäumchen in Ordnung sind, und überlassen es nicht dem Zufall.« »Na ja, das stimmt«, gab er zu. »Sehen Sie, und wir wollen auch gute Arbeit leisten. Wenn man ihn aus der Kinderabteilung nach Hause entläßt, dann können wir schon für ihn garantieren.« Noch lange redete ich auf ihn ein, bis er sich schließlich mit allem abfand. Am Ende stieß er einen langen Seufzer aus. »Siehst du, Vítek, und ich hatte mich so gefreut, daß wir wieder zusammen sein werden.« Der Junge begriff, daß sein Großvater kapituliert hatte. Verdrossen hackte er mit dem Fuß gegen das Tischchen. »Es soll so sein, wie Sie entschieden haben, Herr Professor«, versprach Uzel. »Irgendwie werden wir's schon überstehen.« Bevor wir uns verabschiedeten, fragte ich ihn noch nach seiner sonderbaren Gewohnheit, beim Hin- und Herwandern im Raum den Kopf einzuziehen. Er lachte. »Wissen Sie, das ist so. Wir wohnen immer noch in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Die Stube ist niedrig, und obendrein ist in der Mitte ein Deckenbalken. Ich muß mich ducken, sonst stoß ich mir den Schädel ein. Mein Vater ist genauso gegangen, er war größer als ich. Wenn ich woandershin komme, vergesse ich, daß ich nicht zu Hause bin, und ziehe immer den Kopf ein. Das passiert mir auch in der Dorfkneipe, deshalb lachen die Männer über mich...« Bevor sie gingen, schüttelte mir der Alte lange die Hand und bedankte sich noch einmal. Der Junge schlüpfte an mir vorbei, die Nase hoch, ich war für ihn eine Petze. Die Sekretärin stellte ein dringendes Gespräch zu mir durch. Eine Intervention in einem Fall, den wir noch nicht in der Klinik haben. Dann legte sie mir die Aktennotiz von der letzten Sektionssitzung zur Einsicht vor. Dann drei Briefe
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und die Entwürfe der Antworten. Alle waren von Leuten, die meinen populärwissenschaftlichen Zeitungsartikel gelesen hatten. Rasch überflog ich sie. Halt mal, in diesem Fall könnte es um etwas Ernstes gehen. Eine Frau schreibt von Kribbeln in einer ganzen Körperhälfte. Das ist ein markantes Symptom. Einmal fanden wir auch allein nach einem solchen Brief eine Hirnhautgeschwulst, die sich gut beseitigen ließ. Der Mann ist heute völlig gesund. »Noch ein paar Besuche, Herr Professor!« Der Mittwoch ist der einzige Tag, da nicht operiert wird, deshalb muß alles ins Programm eingehen, einschließlich der Informationen über die Kranken. »Der Tag der offenen Tür«, wie Frau Růžková sagt, und sie fügt immer hinzu: »ohne Fluchtmöglichkeit«. Die Besuche von Verwandten habe ich nicht allzu gern. Was soll man auf ihre Dankes- und Lobesworte antworten, die fast immer übertrieben sind! Und wie soll man auf die Vorwürfe reagieren bei Fällen, wo es keine Hilfe gab? Sie sind eigentlich auch übertrieben. Sie danken mir, und ich stehe wie am Pranger, wenn ich bedenke, daß mir gerade bei diesem Patienten kurz vor dem Ende der Operation eines blutenden Gefäßes das Messer ausgerutscht ist und sich dadurch die Operation bedrohlich verlängert hat. Ich bin froh, wenn die immer wieder erneuerte Narkose keine Folgen haben wird. Andere werfen mir vor, daß ihr Verwandter die Operation nicht überlebt hat. Ohne Operation hätte er noch ein paar Monate gelebt. Vielleicht haben sie recht, aber - hätten wir resignieren sollen, wenn wenigstens eine Spur von Hoffnung bestand? Was immer ich ihnen auch antworte - ihre Verbitterung wird nur noch größer. Aber da ist nichts zu machen, der Mittwoch ist der Besuchstag. Die Sekretärin ließ Verwandte ins Arbeitszimmer ein. Zwei, drei, fünf Menschen zugleich. Ich wußte schon, das ist die Familie von Carda, einem Zigeuner, den wir wegen einer Geschwulst an der Halswirbelsäule operiert
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haben. Es war leider eine Metastase. Mit ihm stand es sehr schlecht. Er hatte große Schmerzen, und wir wußten nicht, womit wir sie noch dämpfen sollten. Die große Familie der Roma war täglich hier. Sie kamen, setzten sich aufs Bett und wollten nicht gehen. Die Schwestern beschwerten sich schon darüber. Wir werden ihn zur Weiterbehandlung ins Kreiskrankenhaus verlegen müssen. Einer nach dem andern gab mir die Hand. Carda, Carda und wieder Carda, drei Söhne und zwei Töchter. Alle waren braun und schwarzhaarig, sie sprachen temperamentvoll durcheinander. Einzeln hatte ich sie schon gesehen, sie hielten mich auf dem Flur an, im Garten und auf der Straße, aber alle zusammen hatte ich sie noch nicht hier. Ich forderte sie auf, sich zu setzen. Der Älteste ergriff das Wort. Ich brauchte ihnen nichts zu sagen, sie wußten, wie schlimm es um ihren Vater stand. Sie seien gekommen, um mich zu bitten, ihn nach Hause zu entlassen. »Das ist schlecht möglich«, versuchte ich es ihnen auszureden. »Er kann sich nicht einmal mehr allein auf den Schieber heben. Er hat sich wund gelegen, und wir mußten ihm einen Katheter einführen.« Sie schauten mich ehrerbietig an, aber einverstanden waren sie nicht. »Das alles wissen wir, und wir werden uns danach richten. Die Márika hat einen Kurs mitgemacht, sie kann Spritzen geben. Auch Wunden waschen. Wir sind viele, wir können ihn heben. Und den Katheter wechselt ihm der Herr Doktor, er wohnt eine Straße weiter, wir haben schon mit ihm gesprochen.« »Er fängt schon an zu ahnen, daß er nicht mehr gesund wird«, sagte ich, um sie in ihrem Vorhaben zu erschüttern. »Wenn Sie ihn jetzt nach Hause nehmen, wird er sich zusammenreimen, wie schlimm es um ihn steht.« »Aber er weiß doch, daß er sterben muß«, meldete sich der zweite Sohn zu Wort. »Gerade deshalb wäre er gern bei uns, hier fühlt er sich so verlassen.«
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»Er weiß es nicht«, versicherte ich ihnen. »Bis jetzt denkt er es sich nur. So eine Gewißheit will sich keiner eingestehen.« »Vater weiß es wirklich«, betonte der älteste Sohn. »Wir haben es ihm gesagt. Er muß es doch wissen. Seitdem ist er sogar viel ruhiger. Wir wollen ihn bei uns haben, wir haben einander noch so viel zu sagen!« Ich war ganz entsetzt. Was haben sie getan? Das ist doch unsinnig und grausam! »Das Sterben wird ihm bei uns leichter fallen«, versuchte Márika mich zu überzeugen, und über ihre Wangen rannen die Tränen. »Alle sind wir immer beisammen gewesen, er ist es nicht gewöhnt, allein zu sein. Mutter hat auch gewußt, daß sie sterben wird, und dennoch bis zum letzten Augenblick gelacht, weil wir um sie waren. Wir werden gut für ihn sorgen, Herr Professor, geben Sie ihn uns mit nach Hause.« Ich schwieg. Ich erinnerte mich, wie ich zwei Tage nach der Operation zu ihm kam. Er lag bleich in den Kissen, erschöpft, das Gesicht naß von Schweiß. »Sehen Sie, schon haben Sie's hinter sich«, sagte ich, und er lächelte. »In ein, zwei Wochen geht's Ihnen schon besser, dann kommen Sie wieder auf die Beine, und bald haben Sie alle Schmerzen vergessen...« Bei dieser unerläßlichen Lüge sah ich ihm fest in die Augen, und er war es, der seinen Blick abwandte. »Ach nein, Herr Professor, ich werde nie mehr gehen.« Ich versuchte es ihm auszureden. Jeder Arzt beherrscht diese barmherzige Rolle. Aber er schien mir schon damals nicht zu glauben. »Wann haben Sie ihm gesagt, daß er nicht mehr gesund wird?« »Gleich als er nach der Operation aufwachte. Er wollte die Wahrheit wissen, und wir konnten ihn nicht belügen. Wir haben uns alle sehr gern Herr Professor, es ist doch viel schlimmer, wenn man nicht weiß, woran man ist, und wenn man nur immer das Schlimmste ahnt. Jetzt ist alles klar. Wir wissen, wir müssen Abschied nehmen.«
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»Sie haben sich wirklich entschlossen, ihn selber zu pflegen?« »Natürlich, bitte erlauben Sie's uns! Er schläft doch hier überhaupt nicht mehr, fürchtet sich, er könnte die anderen Patienten aufwecken, wenn er im Traum jammert. Und wenn seine letzte Stunde schlägt, könnten wir nicht einmal seine Hand halten. Jeden Tag verabschieden wir uns und wissen nicht, ob wir ihn noch bei Bewußtsein antreffen. Das ist eine Qual für ihn und auch für uns.« Ich hob den Hörer ab und rief das Schwesternzimmer an. »Ja, der Herr Carda geht nach Hause. Freilich weiß ich, in welchem Zustand... Bestellen Sie den Krankenwagen für morgen früh.« »Krankenwagen? Warum?« fiel mir der älteste Sohn ins Wort. »Das ist nicht nötig, wir nehmen ihn gleich mit, wir haben ein Auto da.« Alle umringten mich, sie redeten kreuz und quer durcheinander. . Ich hielt den Hörer ans andere Ohr. »Den Krankenwagen für morgen früh«, wiederholte ich der Schwester.»Ja, jemand aus der Familie fährt mit.« Ich legte den Hörer auf und erklärte ihnen, warum es nicht gleich und mit ihrem Wagen ginge. Sie hatten verstanden. Der älteste Sohn bedankte sich in aller Form bei mir, alle verabschiedeten sich ehrerbietig. Abermals versicherten sie mir, ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, ihr Vater werde zu Hause alles Nötige haben. Ich glaubte es. Was für eine Kraft gehört dazu, das Schlimmste über sich zu wissen und geduldig auf das Ende zu warten, dachte ich. Es ist sonderbar, aber die einfachen Leute können das besser. Je mehr einer über Krankheiten weiß, desto mehr fürchtet er sich vor ihnen. Die Leute glauben, am leichtesten hätte es ein Arzt. Wenn er krank ist, kann er sich selbst die Diagnose stellen und sich kurieren, so gut er es versteht. Und in Wirklichkeit? Wieviel Bedenken und Varianten dringen angesichts eines einzigen beunruhi-
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genden Symptoms oder der biochemischen Ergebnisse auf ihn ein, ob es nun um ihn oder seine Familie geht. »Wie geht's?« fragte ich neulich einen Kollegen, der vor einem Jahr Gallenbeschwerden hatte. »Ach...« Er winkte ab. »Ich hatte nacheinander Gallenblasenkrebs, dann Blinddarmentzündung und am Ende ein durchgebrochenes Magengeschwür.« »Wie das, du wurdest doch operiert?« »Eben nicht.« Er lachte. »Ich bin einfach in dieser Zeit verblödet. Hab mir Krankheiten ausgedacht. Jetzt pfeife ich auf alle Kontrollen und fühle mich pudelwohl.« Ich versicherte ihm, er habe niemals so gesund ausgesehen wie jetzt. »Hör auf«, unterbrach er mich. »Ich würde es dir sowieso nicht glauben, denn ich habe unterdessen drei Kilo zugenommen und fühle mich nicht ganz okay.« Es ließ mir keine Ruhe, ich ging hoch, um nach Carda zu schauen. »Seine Söhne waren schon da«, meldete mir die Schwester. »Er weiß, daß er morgen nach Hause geht.« Carda lag in einem seidenen Pyjama im Bett, glatt rasiert. Er lächelte, und es war kein trauriges Lächeln, eher ein feierliches. Auf dem Nachttischchen stand ein frischer Rosenstrauß. »Herr Professor, ich danke Ihnen im Namen der ganzen Familie.« Sein Gesicht war gelblich, aber voller Leben. Scharfe Striche die Brauen, dunkle, funkelnde Augen. Er atmete schwer, die primäre Geschwulst befand sich an der rechten Lungenspitze. Sie drückte offenbar auch auf das Armgeflecht, er mußte große Schmerzen haben. »Sie könnten sowieso nichts mehr für mich tun. Die Kinder sind oft hier, und das stört die anderen Kranken.« »Wenn Sie es so wollen, entlassen wir Sie. Aber so dürfen Sie nicht sprechen. Sie werden, sehen, Ihnen wird es wieder besser gehen...«
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Mit ausgestrecktem Arm unterbrach er mich. In dieser Geste lag etwas Archaisches, Herrscherhaftes, was nur dem Ältesten einer Sippe zusteht. »Ich weiß, Sie sind sehr freundlich. Aber ich bin nicht unzufrieden, hab ein schönes Leben gehabt. Die Kinder sind dankbar, sie werden mich nicht vergessen. Wir haben uns noch so viel zu sagen...«, schloß er mit den gleichen Worten wie vor einer Weile sein Sohn. Dann drückte ich ihm nur noch die Hand. Ich ging wieder nach unten. Ständig hätte ich das feierliche Gesicht des alten Carda vor Augen. Wie wäre mir in einer solchen Situation zumute? Wünschte ich mir auch, daß um mein Sterbebett die ganze Familie stünde? Oder wäre es leichter, alles allein zu Ende zu bringen, wie es unlängst ein Arzt aus der Poliklinik getan hat, als er erfuhr, daß er eine bösartige Nierengeschwulst hat? Mir fielen die Verse von Halas ein: Sterben möcht ich im Klettengestrüpp, das mit seinen großen Blättern meine stolze Furcht verdeckt, wenn Feigheit mich befällt. Wäre es leichter, allein zu sterben? Einmal gelobten wir uns, Jitka und ich, daß wir einander in diesen Dingen nie belügen würden. Für eine Weile stellte ich mir vor, sie hätte eine unheilbare Krankheit. Würde ich ihr die Wahrheit sagen? Niemals! Ich würde mir geradezu phantastische Lügen ausdenken, nur damit ihr die Hoffnung bliebe. Aber ein Arzt glaubt einem anderen Arzt in einem solchen Augenblick grundsätzlich nicht. Das ist ein Teufelskreis. Wie wäre es, wenn ich selber eine Operation hinter mir hätte? Jitka würde mir versichern, es sei ein banales Magengeschwür. Alle Freunde würden das gleiche behaupten, und es wäre vielleicht sogar wahr. Aber ich würde ihnen nicht glauben. Es könnte genausogut ein Magenkarzinom sein. Ich achte auf die Symptome, beobachte mein Gewicht, nichts kann mich überzeugen als die Zeit. Das ist eben die Kehrseite unseres Berufs.
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Genug jetzt! Was würde wohl Jitka zu diesen Todeserwägungen sagen? »Das macht dein Jubiläum«, würde sie sagen. »Jedes Jubiläum hat seine Schattenseiten, weil selbst der vernünftigste Mensch weich zu werden beginnt.« Frau Růžková steckte den Kopf zur Tür herein. »Es ist keiner mehr da. Wollen Sie mir jetzt das Referat diktieren?« »Natürlich, sehr gern, wenigstens ein Stündchen, wenn es geht.« Am Nachmittag ist eine Sitzung der PurkyněGesellschaft. Vorher muß ich noch mit Krtek über den Forschungsplan für nächstes Jahr sprechen. »Herr Professor, dürfte ich für zwei Minuten kommen?« fragte mich durchs Haustelefon die Oberschwester. »Hat es nicht bis morgen Zeit?« »Es ist sehr dringend!« Věruška, von uns Elvira genannt, ist eine sehr energische Person. Sie erinnerte mich daran, daß morgen Operationstag sei und ich dann auch keine Zeit fände. Die Abteilung befinde sich in einer so kritischen Situation, sie möchte am liebsten ihre Funktion niederlegen. »Was ist mit Ruml, könnte er Ihnen nicht behilflich sein? Wozu habe ich einen Stellvertreter?« »Er war mir schon behilflich. Hat gesagt, ich solle Meprobamat nehmen.« »Na gut, also kommen Sie!« Nach einer Weile stürzte sie in mein Arbeitszimmer, auf den Wangen hektische Flecken. »Ich hab mich entschlossen zu kündigen«, legte sie außer Atem los. »Der Herr Oberarzt Ruml nimmt die Situation der Schwestern überhaupt nicht ernst. Bis morgen muß ich die Urlaubsliste einreichen. Den Sommer kann ich einfach nicht absichern, das ist unmöglich. Selbst dann nicht, wenn alle Stationsschwestern Nachtdienst machen. Und dabei haben uns die OP-Schwestern versprochen, in der Abteilung auszuhelfen...« »Moment mal, Elvira! Eine Lösung müssen wir doch fin-
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den...« Völlig erledigt setzte sie sich. Ihre Mundwinkel begannen gefährlich zu zucken, ihre Stimme brach. »Ich schaffe es wirklich nicht, glauben Sie mir. Ich habe den Herrn Oberarzt gebeten, er solle zur Oberin gehen, aber er will nicht. Er komme sich schon vor wie ein Fechtbruder und habe von der Bettelei genug. Warum gibt man uns nicht mehr Absolventinnen von der Schule? Jedes Jahr ist es das gleiche. Zwei kamen zu uns, um sich vorzustellen, ich überzeugte sie von den guten Arbeitsmöglichkeiten, und auf einmal werden sie umdisponiert auf eine neue Intensivstation. Růženka arbeitet schon das zweite Jahr über die Rente, im Sommer ist sie nicht mehr da. Fünf Schwestern fahren auf Urlaub ins Ausland, sie können den Termin nicht verlegen. Und zwei gehen in Schwangerschaftsurlaub... Jana hat ein einjähriges Kind, sie sollte jetzt wiederkommen, aber sie fängt nicht an.« »Zeigen Sie her, haben Sie die Liste da?« Ich fragte nur, um Zeit zu gewinnen. Ich ließ mir die Tabelle mit der Übersicht der einzelnen Sommermonate vorlegen. Wie immer war es Ende Juli und Anfang August am prekärsten. »Und wenn nun diese und jene schon jetzt im Juni Urlaub nähme? Zum Beispiel Schwester Irena oder Hanka?« »Das wird nicht gehen.« Die Oberschwester schneuzte sich ins Taschentuch und gebärdete sich wie die Kameliendame. »Vorige Woche hat Eva aus dem Labor von ihrem Ledigenstand Abschied genommen, und die beiden haben CocaCola getrunken.« »Haben Coca-Cola getrunken? Was hat das damit zu tun?« fragte ich verwundert. »Sehr viel hat es damit zu tun«, sagte sie klagend. »Statt Wein haben sie Coca-Cola getrunken, das bedeutet, sie sind beide gravid. Im Juli werden sie überhaupt nicht mehr Dienst tun. Als ich es bemerkte, hab ich sie mir beiseite genommen, und da haben sie mir gestanden, sie hätten einen positiven Schwangerschaftstest.«
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»Mein Gott!« seufzte ich, obwohl mir eher nach Lachen zumute war. Meine Ratlosigkeit rührte die Schwester. Sie begriff, daß ich ihr schwer helfen konnte, aber sie hatte wenigstens jemandem ihren Kummer geklagt. »Macht nichts«, begann sie sich zu entschuldigen. »Verzeihen Sie, daß ich Sie belästigt habe. Ich weiß mir nur keinen Rat mehr, so schlimm war es noch nie. Vorige Woche habe ich Nachtdienst übernommen, weil nur zwei Schwestern zur Verfügung standen und Studenten aus dem dritten Studienjahr. Nachts wache ich auf voller Angst, daß in der Klinik was passiert sein könnte.« »Und was sagt Ihr Mann dazu?« versuchte ich allem einen scherzhaften Zug zu geben. Die schönen blaugrauen Augen trübten sich. »Gestern hat er mir das Abendessen an den Kopf geworfen. Er habe nicht geheiratet, um alte, vertrocknete Knödel zu essen. Und dabei waren sie erst vom Sonntag, und ich hab ihm drei Eier drübergeschlagen...« Eine Weile beherrschte sie sich noch, aber dann kamen die Tränen. »Wenn ich Nachtdienst übernehme, denkt er gleich, hier passiert wer weiß was. Er hat keine Ahnung, wieviel Arbeit es hier gibt!« »Das tut mir leid, Elvira. Aber als Oberschwester brauchten Sie wirklich keinen Nachtdienst zu übernehmen!« »Sie haben leicht reden, Herr Professor«, erwiderte sie mit einem unterdrückten Schluchzer. »Die Mädels machen schon Zwölfstundenschichten, das gab es früher nur ausnahmsweise im Sommer. Ich kann sie doch nicht so schuften lassen! Dabei verlangt mein Mann ein warmes Abendbrot - schließlich hat er ein Recht darauf, er rackert sich genug ab, steht im Kolbenwerk an der Maschine. Die Kinder würden mich auch mehr brauchen, der Junge ist in der achten Klasse, die Tochter ein Jahr jünger. Wir haben uns nie gestritten, aber jetzt ist es, als wäre mit uns beiden was pas-
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siert. Das kommt, weil ich zu Hause nicht mehr alles schaffe. Mein Mann bringt zwar genug Geld heim, aber niemand kocht für mich oder kauft für mich ein...« Das Problem der berufstätigen Frau. Ich höre zu und stelle mir die Schwestern vor, eine nach der anderen. Die Ärztinnen, Jitka, alle haben es gleicherweise schwer. Womit soll ich sie trösten? Elvira sprach noch eine Weile, und die erregten Kadenzen ihrer Stimme schwächten sich allmählich ab wie Wellen bei Ebbe. Ich weiß, sie wird die Klinik nicht verlassen. Weder heute noch ein andermal, dazu liebt sie ihre Arbeit zu sehr. Um so mehr verdrießt es mich, daß ich ihr die Situation nicht erleichtern kann. Verdient hätte sie es. Sie ist sehr fähig, aufopfernd... Ich unterbrach sie. »Ich werde mit dem Direktor sprechen...« Sie schüttelte den Kopf. »Das hätte keinen Sinn, Herr Professor. Ich geh noch einmal zur Frau Oberin, vielleicht werden wir uns irgendwie einig.« Sie lächelte, aber es kam nicht von Herzen. Noch einmal entschuldigte sie sich, daß sie mich gestört habe, ihr seien die Nerven durchgegangen. Vielleicht habe das der Streit mit ihrem Ehemann verschuldet. Irgendwie würde die Urlaubsfrage gelöst, es sei ja schließlich ihre Aufgabe. Mir war nicht wohl dabei. Frau Růžková hatte sich inzwischen an die Maschine gesetzt und spannte ein Blatt ein. Dabei sprachen wir über das Problem des ewigen Schwesternmangels in den Kliniken. In diesem Augenblick erschien Doktor Zelený. Nomen est omen - bei ihm stimmt es. Er ist der jüngste unter den Ärzten, erst im Frühjahr hat er promoviert. Unsere Doktoren nennen ihn Grünling. Er sieht irgendwie verschreckt aus. »Herr Professor, dürfte ich Sie um einen Rat bitten?« »Über einen Fall?« fragte ich ärgerlich. Die Sekretärin wandte sich mit fragendem Blick von der Maschine ab. »Haben Sie schon mit dem Dozenten Krtek gesprochen?« »Der Herr Dozent ist im Ministerium. Und der Oberarzt
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Ruml mußte zur Paßabteilung.« Den Rest konnte ich mir denken. Růžička hat Studienurlaub, um seine Doktorarbeit zu schreiben. Ich seufzte, Frau Růžková begriff und ging ins Vorzimmer. »Es geht um den Patienten aus der Inneren, über den heute morgen bei der Berichterstattung gesprochen wurde.« »Die plötzliche Blutung?« Ja, es hat sich verschlimmert. Er ist bewußtlos.« »Wir hatten uns geeinigt, beschleunigt eine Arteriographie machen zu lassen, wir vermuten einen Erguß in der linken Hemisphäre.« »Er ist soeben dort, die Arteriographie ist fertig. Sie fragen, ob sie ihn vom Röntgen direkt hierherschicken sollen.« »Haben Sie die Aufnahme gesehen?« »Ich hab sie mir angeschaut. Es ist ein begrenzter Herd, ich meine, er sollte sofort abgesaugt werden.« »Wer hat mit Ihnen Dienst?« »Kroupa und Frau Doktor Jirsáková.« Kroupa, der Chefarzt eines Kreiskrankenhauses, ist hier zur postgradualen Weiterbildung. Diese Blutergüsse beherrscht er bis jetzt noch nicht. Die Jirsáková »hängt meistens an den Haken«, wie man bei uns sagt, wenn jemand fortwährend nur assistiert. »Und Vyskočil oder Frau Hladká?« Zelený lächelte höflich. »Der Herr Dozent Vyskočil hat die Hand in einem Stärkeverband. Und die Frau Assistentin hat sich zwei Tage freigenommen, ihre Tochter ist mit ihrem Neugeborenen aus der Klinik gekommen, Sie will ihr die ersten zwei Tage helfen.« Das ist ja wunderbar, sagte ich mir im stillen. Ruml erledigt am Vormittag persönliche Dinge, ohne mir das zu melden. Dabei setzt er ein Team ein, das bei einem komplizierten Fall ratlos ist. Vyskočil mit seinem Stärkeverband kann ihnen höchstens einen guten Rat geben. Und die Hladká? Statt die Gelegenheit zu nutzen, daß kein Erfahrener da ist, wäscht sie lieber zu Hause Windeln.
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Weit haben wir's gebracht! Wir schauten einander an, Doktor Zelený und ich. Er beobachtete mich gespannt, denn er wußte, daß ich mich ärgern würde. Doch dann zuckte es in meinem Gesicht. Beide begannen wir zu lachen. Was blieb uns anderes übrig? »Bereiten Sie ihn zur Operation vor«, sagte ich. »Ich mache es selber, assistieren werden Sie.« »Ich, Herr Professor? Aber was ist mit Chefarzt Kroupa und...« »Sie! Ich habe das Gefühl, es kann passieren, daß Sie eines Tages hier allein dastehen. Sie müssen sich zu helfen wissen.« Er errötete vor Freude. Versprach, der Patient werde binnen einer Stunde im Saal sein. Dann schoß er hinaus auf den Flur. Endlich konnte ich mit dem Diktat beginnen. Ich hatte dazu eine knappe Stunde. <2> Vielleicht wäre für meinen jungen Reporter gerade der kleine Uzel ein interessanter Fall. Aber da müßte ich fast zwei Monate zurückdenken. Zum erstenmal hörte ich von ihm auf der »Börse« - so nennen wir unsere Beratungen, an denen auch Ärzte aus anderen Krankenhäusern teilnehmen, um uns Fälle zur Operation zu unterbreiten. Wir debattieren stundenlang darüber. Oft stellen wir fest, daß sie Unmögliches von uns verlangen. Dozent Krtek pflegt die Kollegen von draußen mit dem Zitat zu begrüßen: »Timeo Danaos et dona ferentes.« Die Gäste grinsen amüsiert, sie wissen selber, daß ihre Fälle manchmal Danaergeschenke sind. Ein solcher war der kleine Uzel. Eine Kinderärztin kam Ende April zur Beratung. Sie war zum erstenmal bei uns auf der »Börse«. Schüchtern lächelte sie, wie ein kleines Mädchen vom Lande. Alles sagte sie auswendig her: Der Junge habe schon seit zwei Jahren Ohnmachtsanfälle, die sich in letzter Zeit häuf-
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ten. Er sei klug, mental gut entwickelt, sie hätte an ihm keine Bewegungsstörungen oder andere Symptome gefunden. Er sei ein uneheliches Kind. Die Mutter sei im Ausland geblieben, und er lebe beim Großvater. Er heiße Uzel, genauso wie der Vater seiner Mutter. Sie legte uns die Untersuchungsergebnisse vor. Schon auf den Röntgenaufnahmen sahen wir, daß es sich um eine große Geschwulst handelte. Man hatte eine Angiographie, eine Luftfüllung, eine Tomographie durchgeführt. Unser Röntgenologe nahm die Aufnahmen aus den Umschlägen und steckte sie systematisch hinter die Scheibe des Schauapparates. Lange schwiegen wir. Nur Krtek konnte sich sein »Timeo Danaos...« nicht verkneifen. Diesmal hatte er die Situation mehr als genau getroffen. Die Kinderärztin hing mit einem flehenden Blick an mir. Ich mußte sie enttäuschen. »Damit läßt sich überhaupt nichts machen«, sagte ich. »Nicht weil es ein Ependymom ist und auch nicht wegen der Lokalisierung, sondern weil es zu groß ist.« Der Röntgenologe unterstützte mich. »Es ist wirklich sehr umfänglich. Füllt den ganzen vierten Ventrikel aus, drückt bestimmt auf das Kleinhirn und vielleicht auch auf den Hirnstamm.« Die Kinderärztin blickte mich weiter mit ihren blauen Augen an. Sie referierte unaufhaltsam, als hätte sie mich nicht gehört. .Jetzt ist er schon fünf Jahre«, sprach sie mit monotoner Stimme, als erzählte sie im Kindergarten ein Märchen. »Vor einer Woche hatte er einen sehr schweren Anfall, mit Atemstillstand, wir haben ihn kaum durchgekriegt.« »Sehen Sie, da ist offenbar schon das Atemzentrum gereizt.« Ich nutzte das als Argument gegen sie aus. »Wenn wir ihn operieren, würden wir diesen Bereich noch mehr belasten und dort ein Ödem hervorrufen...« »Ohne Eingriff hat er vielleicht noch Hoffnung auf ein, zwei Jahre...«, stand mir Krtek bei.
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Die Ärztin lief rot an. »Aber der Großvater hat doch nur noch ihn! Er ist ein alter Förster von der Vysočina. Niemals wird er sich damit abfinden, daß sein Enkel nicht zu retten ist. Er wird Sie bestimmt auch besuchen, Herr Professor.« Das sind vielleicht Aussichten! Gut möglich, daß ihn die Frau Doktor dazu angestiftet hat. Ich bin ganz ratlos. Die Kollegen amüsieren sich. Sie wissen, wie schwer es mir fällt, jemandem abzusagen. »Sie müssen mir glauben«, begann ich auf die junge Ärztin einzureden. »Wenn auch nur ein Funken Hoffnung bestünde, würde ich keinen Augenblick zögern. Sie setzen sich ja auch so leidenschaftlich ein...« Ich versuchte zu scherzen, aber sie wollte mich nicht verstehen. Kämpferisch richtete sie sich auf. »Immer haben Sie uns bei den Vorlesungen gesagt, bei jeder Geschwulst bestehe zu einem gewissen Prozentsatz Hoffnung. Selbst bei der Metastase eines Karzinoms, wenn sie vereinzelt vorkommt.« Aus der blauäugigen, zarten Schönheit ist plötzlich reine Jeanne d'Arc geworden. »Wir können das Kind doch nicht einfach abschreiben«, erregte sie sich. »Vor einem Jahr haben Sie hier einen kleinen Jungen operiert, er hieß Vašík Zika, und wie gut ist das ausgegangen! Er ist gesund, geht zur Schule.« »Das war ein Spongioblastom«, erinnerte mich Vyskočil. »Es ließ sich ganz resezieren.« »Sie haben es gehört, Frau Kollegin, es ließ sich herausnehmen. Aber das da dürfte eine zystische, stark durchblutete Geschwulst sein, so zart, daß man sie kaum anfassen kann. Dozent Krtek hat recht, lassen wir ihn in Ruhe, so hat er die Hoffnung, wenigstens noch ein, zwei Jahre zu leben, also quälen wir das Kind nicht überflüssig!« Unsere junge Kollegin wollte unseren Entschluß einfach nicht hinnehmen. »Wenn es mein eigenes Kind wäre«, sagte sie erregt, »würde ich auf einer Prüfung des Falles bestehen. Für den Großvater des Jungen ist es weit schlimmer, ein Jahr oder zwei
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zu warten und dabei zu wissen, daß das Ende unabwendbar ist. Es ist richtiger, eine Operation zu wagen.« »Das ist es nicht«, wies ich sie zurecht. »Sie haben da keine Erfahrung.« Schon kam sie mir nicht mehr wie das brave Lämmchen vor. Sie verhielt sich wie eine starrsinnige alte Jungfer. Ich beherrschte mich jedoch und sprach auf sie ein, so maßvoll ich konnte. »Wenn es Ihr eigenes Kind wäre, würden Sie so etwas niemals von uns verlangen. Ich würde Ihnen erklären, wie verschwindend gering der Prozentsatz an Hoffnung ist.« »Ich würde es dennoch verlangen.« Eigensinnig warf sie den Kopf in den Nacken. »Der Junge ist hübsch und intelligent.« Ratlos breitete ich die Arme aus. Bitte sehr, mögen sich die anderen Ärzte unserer Klinik äußern, »Es ist alles klar«, brummte Krtek. »Meine Meinung habe ich bereits gesagt.« »Zu einem solchen Eingriff haben wir vielleicht gar nicht das Recht«, ließ sich Vyskočil vernehmen. Růžička nickte ungeduldig. Wozu sich länger mit einem so eindeutigen Fall aufhalten? Nur Zelený hob verlegen die Hand. »Ich glaube... ich meine vielleicht doch...« Verärgert wandten sich ihm alle zu. In den Augen der Ärztin von der Pädiatrie blitzte neue Hoffnung. »Was meint Herr Doktor Zelený?« fragte ich kühl. Ich war verstimmt. Hier warteten einige weitere Ärzte mit ihren Fällen, und wir debattierten über etwas Unmögliches. »Ich meine, es wäre der Erwägung wert. Bei ausreichender Senkung des Blutdrucks, Verabreichung von Analeptika...« »Immer langsam mit den jungen Pferden, Herr Zelený«, versuchte Ruml ihn halblaut zu bändigen. »Schauen Sie nur, wie spät es schön ist...« Zelený achtete nicht darauf. Ich kenne ihn schon ein bißchen. Er wirkt schüchtern, aber wenn er von etwas überzeugt ist, kennt er seinen eigenen Bruder nicht. Er räusperte sich.
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»Ich möchte an den Zystizerkus im vierten Ventrikel erinnern. Das sah ebenfalls hoffnungslos aus. Ich habe noch nicht viel Erfahrung, aber damals hat auch niemand geglaubt, daß es der Patient überleben wird. Der Blutdruck sank ab; es trat sogar Herzstillstand ein...« Ich erinnerte mich genau. Den Fall hatte ich selbst operiert. Es begannen nicht nur die Lebensfunktionen zu versagen, es blutete auch höllisch. Obendrein wußten wir, daß diese parasitäre Zyste nicht platzen durfte, sonst würde sie im Nu das Gehirn infizieren. Ringsum waren Verwachsungen, sie hatten sich in die Kammerwände gesenkt, wollten unter dem Skalpell nicht nachgeben. »Sie haben recht«, sagte ich zu Zelený, »diese Operationssituation läßt sich tatsächlich vergleichen.« Den Kranken von damals sah ich leiblich vor mir. Ein Fleischer in mittleren Jahren. Als er zu uns kam, wog er fast hundert Kilo, aber als er nach Hause ging, hatte er nicht ganz achtzig. Ich konnte mich erinnern, wie er vor mir stand, mit der lächerlichen Mütze aus Gaze, die unsere Schwestern nähen. Der Bursche sah aus wie der legendäre Bivoj. Obwohl er bereits operiert war, hatte er immer noch seine gesunde rote Gesichtsfarbe. Als ich mich darüber wunderte, sagte er lachend: »Das kommt davon, Herr Professor, weil wir gewohnt sind, rohes Blut zu trinken!« Na prost Mahlzeit! dachte ich. Und wir haben ihn ausgefragt, ob er nicht Fleisch gegessen habe, das zu wenig durchgebraten war, um zu erfahren, wie er diesen Bandwurm erworben hatte, und er hatte sogar rohes Blut getrunken! »Das werden Sie sich abgewöhnen müssen«, riet ich ihm. »Ein zweites Mal könnte es schlimmer ausgehen.« »Rohes Blut hat noch niemandem geschadet«, verwahrte er sich; »Mein Großvater ist neunzig geworden und mein Vater sogar vierundneunzig, und beide haben es täglich getrunken, sie waren aus der gleichen Branche.« »Es ist nur so, Herr Doktor«, setzte ich die Polemik mit
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Zelený fort. »Erinnern Sie sich bitte auch, wie dieser Fleischer ausgesehen hat! Meinen Sie, ein kleines Kind hätte die gleiche Chance?« »Ich möchte die Beratung nicht in die Länge ziehen«, mischte sich unverhofft Frau Doktor Hladká ein, »aber Jirka Zelený hat mich schwankend gemacht. Wenn es nun wirklich das Risiko wert ist?« Sie fing an, ausführlich alle Ventrikelgeschwülste aufzuzählen, wie wir sie nacheinander in unserer Klinik hatten. Sie erinnerte sich selbst an die Namen der Patienten, dafür hatte sie ein phantastisches Gedächtnis. Krtek verdrehte die Augen zur Decke. Ich ließ sie eine Weile reden. Dann fragte ich sie aggressiv: »Frau Assistentin, Hand aufs Herz! Würden Sie den Jungen operieren?« Sie konterte. »Nein, Herr Professor«, erwiderte sie mit ihrer bezeichnenden süffisanten Ironie. »Ich nicht. Ich weiß, wie skeptisch Sie uns Frauen gegenüber sind, was die Neurochirurgie betrifft. Das wäre ein Spitzeneingriff, und dazu hatte ich bislang keine Gelegenheit.« So, da hatte sie es mir aber gegeben! Und vor allen, auch vor den Gästen. Eigentlich hatte sie recht, ist schon eine hübsche Reihe von Jahren hier und macht in erster Linie Routinesachen. Aber sie arbeitet zuverlässig. Mir blieb nichts übrig, als zu lachen. Ruml eilte mir zu Hilfe. Er nahm die Hladká um die Schultern. »Jiřinka, wie wär's, wenn du die Operation eben doch übernimmst, wo dir der Herr Professor die Chance gibt? Versuch es, ich werde dir assistieren. Wir machen ein Loch in die Welt. Und du kriegst vielleicht auf deine alten Tage eine Dozentur!« Sie lachte auf. Entwand sich dem Oberarzt. »Laß mich los, du Strolch! Hier kann man nicht einmal seine eigene Meinung sagen!« Sie sah Ruml mit weichen Augen an. Es ist Jahre her, da sich zwischen den beiden eine
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kurze, aber hoffnungslose Romanze abgespielt hatte. Jetzt ist längst alles vorbei. Ruml hat seine Familie, und Jiřinka erwartet den ersten Enkel. Die Ärztin von der Pädiatrie wußte nun, sie hatte verloren. Sie stand auf, entschuldigte sich, daß sie an unserer Beratung nicht bis zum Ende teilnehmen könne, sie habe in der Klinik zu tun. Noch einmal vergewisserte sie sich, ob sie den Großvater mit dem Enkel zu mir schikken könne. »Er würde es mir nicht glauben, daß Sie den Jungen nicht aufnehmen wollen«, bemerkte sie bitter. Natürlich, soll er nur kommen! Ich weiß ja doch, daß ich am Ende alles allein ausbaden werde. Ich kann mir vorstellen, was ihm das liebe Blauäuglein versprochen hat: Die Neurochirurgie wirkt Wunder, bestimmt wird alles gelingen! Der Großvater hat zweifellos den Eindruck gewonnen, daß diese Operation nur wenig schwerer ist, als einen Splitter aus dem Finger zu ziehen! Sie hielt uns dann doch noch ein Weilchen auf. Trat an jeden heran, um ihm die Hand zu geben. Unsere Ärzte verabschiedeten sich höflich von ihr, übertrafen einander in Artigkeiten, hatten ihren Spaß daran, die Lümmel! Růžička küßte ihr sogar ostentativ die Hand, Vyskočil verbeugte sich bis zur Hüfte und legte die Hand aufs Herz. Ruml gab ihr einen Klaps auf den Hintern. Sie sind schon eine Bande! Zu Wort meldete sich ein Chirurg von einem Kreiskrankenhaus. Er wußte nicht, ob sein Fall einen Eingriff erforderte, wollte sich nur Rat holen. Ein Patient war zu ihm gekommen - eigentlich mit dem eigenen Wagen gefahren - aus einem nahe gelegenen Wald, wo er versucht hatte, sich zu erschießen. Der Grund? Manko im Betrieb. Die Kugel war von links durch das Stirnbein gedrungen und auf der anderen Seite wieder herausgeflogen. Ohne fremde Hilfe gelangte er in die nächste Ambulanz, konnte gerade noch« alles berichten und fiel dann in Ohnmacht. Man untersuchte ihn gründlich, machte eine Elektroenzephalographie, auch eine Angiographie, aber es war kein Herd zu sehen. Allerdings
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änderte sich sein Charakter. Seine Gattin behaupte, er sei vorher ängstlich gewesen, unablässig von Depressionen verfolgt, habe mit Selbstmord gedroht. Jetzt sei ihm alles egal, er sitze da und lächle nur. Als ihn die Polizei verhören kam, habe er sich so albern aufgeführt, daß die Herren sich beleidigt fühlten. Ob man hier etwas tun könne? Wir lachten, es war wirklich ein kurioser Fall. Der Chirurg von außerhalb schob die Aufnahmen in den Schauapparat. In beiden Stirnbeinen sahen wir glatte kreisrunde Öffnungen. »Kann dort nicht vielleicht doch ein Erguß sein?« Unser Röntgenologe schaute sich das Angiogramm an. »Nichts zeugt davon, es scheint mir völlig normal zu sein.« »Aber es war eben doch eine Schußverletzung«, zweifelte der Chirurg weiter. »Hatte er Bewegungs- oder Sprachstörungen? War er verwirrt? Kamen Krämpfe vor?« Meine Ärzte bombardieren ihn von allen Seiten mit Fragen. »Nein. Er hatte nur diese euphorische Stimmung, wie ich bereits sagte. Dazu kam noch eine Auseinandersetzung mit seiner Geliebten, der zuliebe er das Geld veruntreut hatte. Ich wundere mich überhaupt nicht, daß er sich was antun wollte. Aber jetzt verhält er sich wie Schwejk.« »Wissen Sie, was passiert ist?« sagte ich für die anderen. »Der Kranke hat sich eigentlich eine frontale Lobotomie beigebracht. Das Geschoß hat beide Stirnlappen unterbrochen. Das ist im Wesen der gleiche Eingriff, mit dem operativ eine Unterbrechung der weißen Masse durchgeführt wird, damit der Kranke Depressionen und Ängste verliert.« »Er hat zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen«, ergänzte mich Krtek. »Er hat einen Selbstmord vorgeführt, was man ihm als mildernden Umstand anrechnen wird, und zugleich hat er sich von Depressionen kuriert, indem er sich selbst eine Lobotomie verpaßt hat. Das nenne ich einen Haupttreffer!« »Sie meinen also, ich soll das so lassen?«
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»Was wollen Sie tun?« antwortete ich. »Sie haben nur eins zu befürchten - daß er nämlich diese angenehme Euphorie verliert, wenn der Kontusionsherd zuheilt. Aber unter uns er hatte gewaltiges Glück!«. Es folgte eine Reihe von Bandscheibenvorfällen. Sie referierten am laufenden Band. Alle Diagnosen stimmten. Vor mir hatte ich den Terminkalender, der schon voll war, bevor wir die Beratung begannen. Wir konnten erst für den Juli neue Termine geben. Sie redeten auf uns ein: »Der ist jung, der hat heftige Schmerzen, kann sich nicht bewegen. Der andere ist Kulturattache, er muß bald ins Ausland.« Ja richtig, ich erinnerte mich, es gab schon einige Interventionen für ihn. Ratlos musterte ich die attackierenden Gäste. »Herrschaften, ich bitte Sie, bedenken Sie doch, wieviel wir hier operieren! Und was für eine Bettenkapazität wir haben. Wir entlassen die Patienten mit der Bandscheibenoperation schon nach sechs Tagen!« Zustimmend und respektvoll nickten sie. »Selbstverständlich, das ist furchtbar, wir wissen es ja, aber dieser eine, den müßte man doch noch einschieben können!« Ein blutjunger Neurologe aus einer Kreisstadt berichtete von einem Fall, der schon den zweiten Tag kein Wasser lassen könne. Wie alt ist er? Vierundzwanzig Jahre? Um Gottes willen, sofort herbringen! Ruml erbot sich, ihn abends während seines Dienstes zu operieren. Die Situation war gerettet. »Aber der Patient will nicht«, gestand uns der junge Arzt. »Ich weiß nicht, ob ich ihn überreden kann. Er fürchtet sich davor, weil er drei Kinder hat, die er ernähren muß.« »Dann sag ihm, mit den Ehefreuden ist es sowieso vorbei, wenn er es nicht machen läßt«, riet ihm Ruml. »Wenn die ersten Tage verpaßt werden, kommt kaum die Wasserleitung wieder in Ordnung, geschweige denn die Sexualfunktionen.« Der junge Arzt sprang überstürzt auf. »Ich erledige es sofort, er wird noch heute hier sein. Eigentlich ist er dazu vorberei-
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tet, hat schon die präoperativen Untersuchungen hinter sich...« »Mach das!« rief ihm Ruml nach. »Ich bin kein Neurologe, aber das möchte ich nicht auf mein Gewissen laden!« Wir schauten einander an. Uns erwartete ein schöner Streß! Als ich noch klein war, ängstigte mich das Märchen vom neunköpfigen Drachen. Ich träumte auch davon: Der eine Kopf wird abgehauen, und schon wächst ein neuer nach. Das hier ist etwas Ähnliches. Manchmal träume ich von einem überfüllten Operationssaal. Alle Tische sind voll, und im Vorbereitungsraum warten weitere und weitere. Nun kamen Fälle von Epilepsie an die Reihe. Vyskočil lebte auf. Bandscheiben interessieren ihn nicht, aber sowie sich ihm ein Eingriff in die Gehirnrinde bietet, beginnt er wie ein Jagdhund zu wittern. Fehlgeschossen! Ein langjähriger Epileptiker ohne begrenzten Herd, nicht geeignet. Ein Kleinkind mit postnataler Epilepsie und Abnahme des Intellekts. Eine Frau höheren Alters, bei der es sich offenbar um einen Gefäßherd handelt. Nichts davon für eine Operation geeignet. Vyskočil fiel wieder in seine übliche Lethargie zurück. Eine Prager Neurologin begann über einen interessanten Fall zu sprechen. Die Kranke hat Anfälle, zu deren Beginn sie immer die gleiche Melodie hört. Die Voruntersuchungen haben keine Geschwulst gezeigt, nur die Elektroenzephalographie weist auf eine Reizung der Rinde im rechten Schläfenbereich hin. Die Anfälle sind nach einem Unfall aufgetreten. Vyskočils Stunde war gekommen. »Dort ist offenbar eine gliose Narbe. Man sollte eine Kortikographie durchführen und je nach dem Ausmaß einen Eingriff. Was für ein Unfall war das?« »Ein offener Bruch, etwa ein halbes Jahr, bevor die Anfälle auftraten.« »Ich wäre für die Resektion der gesamten epileptogenen Zone.«
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»Moment mal, Vyskočil«, bremste ich ihn. »Sie haben doch gesehen, was für ein Programm wir haben.« »Das da eilt«, erwiderte er unbeirrt. »Hat sie die Anfälle jetzt öfter?« fragte er suggestiv. Die Neurologin zögerte. »Na ja...«, räumte sie ein. »Eigentlich ja, jetzt öfter«, besann sie sich, weil sie begriff, daß das ein weiteres Argument war. »Auch das musikalische Gehör hat sich bei ihr verschlechtert. Früher soll sie schön gesungen haben, und jetzt kann sie sich an keine einzige bekannte Melodie erinnern.« »Sollte das eine beginnende Geschwulst sein?« provozierte ich Vyskočil. »Das wäre bei der Operation eine schöne Überraschung!« Er ließ sich nicht provozieren. »Gerade deshalb sollte man den Fall rasch behandeln.« Unsere Leute lachten, nur Vyskočil tat beleidigt. »Bitte sehr, wie Sie denken, ich habe meine Meinung geäußert.« Ruml stieß ihn mit der Schulter an. »Hör zu, du hast ) den Herrn Professor noch nicht darauf hingewiesen, daß das gut als Demonstration für eine Vorlesung geeignet wäre! Dann würde er es nicht mehr ablehnen.« Schließlich begann auch der Dozent zu lachen. Mit einem Seufzer fügte ich den Fall ins Operationsprogramm ein. In den kommenden Wochen werden wir täglich bis abends operieren, das ist nicht zu ändern. »Vielleicht fällt jemand aus«, überlegte ich angesichts meines Merkbuchs. »Da wird wohl eher einer dazukommen«, unkte Frau Doktor Hladká. »Haben Sie noch etwas?« »Fragte der Professor mit der Maschinenpistole im Anschlag...«, witzelte Ruml. Ich ließ meinen Blick über die Gäste wandern. Bestimmt hatten sie zwei, drei Fälle in Reserve, die sie nicht vorzulegen wagten. Růžička neben mir machte eine drohende Gebärde, als wollte er einem Huhn den Hals umdrehen. Nein,
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niemand hatte mehr etwas, wir konnten schließen. Der Oberarzt klatschte in die Hände. »Unsere Ärzte bleiben bitte noch eine Weile hier, wir machen eine kurze Arbeitssitzung.« Jeder blickte auf die Uhr, im Saal liegen schon die Patienten bereit. Ruml machte es wirklich kurz: eine neue Methode der Meldung von bösartigen Geschwülsten, sparsamer Umgang mit Medikamenten und Verbandmaterial, die Notwendigkeit von Passierscheinen für Besuche außerhalb der festgesetzten Zeit. Ich nahm es kaum wahr. Ich mußte an die fortgeschrittene Geschwulst der Hypophyse denken, die ich nachher operieren würde. Die Frau ist fast blind, sie ist zu spät gekommen. Die Geschwulst hat sich weit in die vordere Grube ausgebreitet, es wird schwer gehen. Ich muß von vorn operieren, über die Stirnlappen, so habe ich eine breitere Übersicht. »Die Zählblätter werden ungenau ausgefüllt«, fuhr Ruml mit erhobener Stimme fort, weil die Doktoren schon anfingen, sich leise zu unterhalten. »Vorigen Monat war unsere Klinik die schlechteste. Der Direktor wird künftig für unzureichende Statistik den persönlichen Leistungszuschlag senken.« Sie nahmen es ohne ein Widerwort hin, wohl deshalb, weil ich hier saß. Unauffällig musterte ich sie. Einer sieht erschöpfter aus als der andere. Ruml ist schon völlig grau. Wann ist das geschehen? Noch unlängst hatte er eine strohblonde Mähne, und jetzt hat er ein gelichtetes Fell wie ein alter Wolf. Frau Hladká kann die Augen kaum offenhalten, sie hatte anscheinend Nachtdienst. Immer sagt sie: »Nach dem Dienst bin ich völlig ausgelaugt, das machen meine Jahre.« Jetzt sieht sie wirklich so alt aus, wie sie ist. Sie zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Auch Zelený hat Ringe unter den Augen, er sitzt da und starrt abwesend auf den Tisch. Zu Hause hat er ein kleines Kind. Die Ärzte sagen, er übernehme zusätzlich Dienst, weil er sich zu Hause weniger ausschlafen kann als in der Klinik. Jetzt gehen sie operieren. Wenn sie fertig sind, strekken sie
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sich eine Weile im Arztzimmer aus, und dann setzen sie sich an die Schreibmaschine. Verwaltungsarbeit gibt es unerträglich viel, und niemand nimmt sie ihnen ab. Die Sekretärin schafft kaum die amtlichen Sachen, die Ärzte schreiben alles selbst: ‚Operationsprotokolle, Berichte, Zählblätter, Krankenbilder. Wenn ich nicht unter ihnen säße, hätten sie Ruml längst zum Teufel gejagt. Der Oberarzt weiß das, und deshalb ist er froh, daß ich hier bin. Mir ist klar, die Zählblätter werden auch weiterhin ungenau ausgefüllt, und der Direktor wird deshalb keinem den Leistungszuschlag herabsetzen. Nach einer Weile gehen sie, und jeder von ihnen leistet Arbeit für zwei, pfeift auf die Zeit und vergißt, daß er gestern Nachtdienst hatte. Ich habe sie alle gern. In den Sitzungsraum schlüpfte eine OP-Schwester. Die neue, Hedvika, ein hübsches Mädchen mit sehr schönen Beinen. Die Schwestern sind zumeist bei Miniröcken geblieben. Die Doktoren drehten sich ostentativ um, lebten auf. Und sie schwebte herein wie ein Schwan, sie kennt ihre Vorzüge. ‚. »Herr Professor, ein dringendes Gespräch für Sie.« Ich stand auf. Ich wußte, man würde mich nicht unnötig stören. Jitka war am Apparat. Meistens verhandelt sie mit mir, wenn sie in der Neurologie etwas Dringendes haben. Sie erklärte mir, bei ihnen in der Klinik liege ein Fall mit einer großen Gefäßmalformation. Sie hätte sich soeben das Angiogramm angeschaut, die Operation sollte so bald wie möglich gemacht werden. Sie wäre froh, wenn wir das bei der heutigen Sitzung noch behandelten. »Kann das nicht bis nächstes Mal warten?« wehrte ich mich. »Unser Programm ist prallvoll!« Sie wollte mich nicht verstehen. Diese Malformation sei riesengroß, sie seien der Meinung, es eile. »Siehst du, wenn sie zu groß ist, dann ist es doch an sich schon...«, versuchte ich mich herauszureden.
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»Ja, ich weiß, daß für einen Eingriff eher eine kleinere geeignet ist. Nur...« »Was heißt nur! Wenn du wüßtest, was für komplizierte Fälle wir hier haben! Mehr kann ich von meinen Leuten nicht verlangen.« »Ich verstehe, brauchst mir nichts zu sagen. Nur... es ist Mikes.« »Was für ein Mikes?« »Wieviel Mikes' kennst du?« »Der Mikes aus unserem Studentenheim?« »Genau der«, bestätigte sie mir. »Ihr nanntet ihn Míťa.« »Woher weißt du, daß wir ihn so nannten?« »Ich weiß es eben. Kann jemand mit seiner Dokumentation kommen?« »Du kannst nicht?« »Nein, ich hab Ambulanz. Weißt du«, sie dämpfte die Stimme, weil sie wohl nicht wollte, daß die Schwester es hörte, »unser Dozent wird kommen. Er brennt darauf, dir die Aufnahmen selbst zu zeigen.« »Das sind vielleicht Aussichten.« Wieder redete sie mir zu, wir sollten uns bemühen, Mikes bald aufzunehmen. Er habe schon einen leicht gelähmten Arm und beginne doppelt zu sehen. Wenn es nun noch zu einer Blutung käme? »Gut, soll der Dozent gleich kommen.« Mir gab es keine Ruhe. »Wie habt ihr erfahren, daß er aus unserem Internat ist? Hat er nach mir gefragt?« »Das nicht gerade, aber das ist doch jetzt schnuppe«, fertigte sie mich ungeduldig ab. »Ich bitte dich nur um eins - weise ihn nicht gleich zurück! Überleg es noch. Erinnere dich, wieviel kleine Malformationen ihr operiert habt, und die meisten sind gut ausgegangen...« »Die meisten nicht, ich zeige dir die Prozentzahlen, ich fertige gerade eine Tabelle für den Kongreß an.« »Mach, wie du denkst. Ich meinte nur...« »Ich weiß, ein Kamerad aus dem Internat, aber begreif doch,
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ich muß es zuerst sehen!« Ich kehrte zu meinen Kollegen zurück. Míťa! Der Erscheinung nach ein junger Werther mit melancholischem, blassem Gesicht und einer dunklen gewellten Tolle. Auch vom Charakter her romantisch veranlagt. Er schrieb Gedichte, die da und dort sogar gedruckt wurden. Ins Internat kam er ein, zwei Jahre nach mir, er studierte Philosophie. Eine kurze Zeit wohnte ich sogar mit ihm zusammen. Dann zog bei mir ein gewisser Poličanský ein, auch Medizinstudent, wir wollten zusammen studieren. Mikes hatte sich gerade mit Fencl geeinigt, sie bewohnten ein gemeinsames Zimmer bis zur Schließung des Heims. Keiner von ihnen schaffte es, das Studium zu beenden, weil während der Okkupation die Hochschulen geschlossen wurden. Die Ärzte warteten auf mich, obwohl die Arbeitsbesprechung beendet war. Ich entschuldigte mich, daß ich sie noch eine Weile aufhalten müsse. Als ich die Malformation erwähnte, setzten sie sich resigniert wieder. Ich wußte, was sie dachten: Malformation, das Steckenpferd des Chefs! Ich sah ihnen an, daß ihnen das gestohlen bleiben konnte. Der Dozent Chour von der neurologischen Klinik tänzelte herein. Jitka macht ihn gern nach: Er nimmt den Hammer zwischen zwei Finger und wirft den Kopf in den Nacken: »Studenten, eine neurologische Untersuchung muß ästhetisch aussehen. Mit dem Hämmerchen wird nur ein Reflex hervorgerufen, damit werden keine Nägel eingeschlagen.« Er begrüßte uns mit einer formvollendeten Verbeugung, entschuldigte sich des langen und breiten, daß er uns eine Weile belästigen müsse. Dann packte er endlich die Aufnahmen aus. Die Doktoren waren mit einem Schlage munter. Neugierig scharten sie sich um den Röntgenfilmbetrachter. Man sah ein Gebilde, das einem hellen Knäulchen ähnelte. Von ihm gingen zuleitende und ableitende Gefäße aus. Unser Röntgenologe entdeckte eine kleine Geschwulst, die offenbar die Malformation ernährte. Wir schwiegen. Jeder erkannte, das war unlösbar.
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Alle warteten. Ich wußte, ich muß als erster sprechen. Zögernd begann ich: »Es ist sehr groß. Etwas Ähnliches habe ich vor zwei Jahren operiert, und das war ungemein schwierig...« »Es ließe sich überhaupt nicht im Ganzen beseitigen«, meinte Krtek. »Es liegt zu tief, schon das allein ist riskant...«, schloß sich ihm Ruml an. Frau Hladká war am entschiedensten dagegen. »Es hat keinen Sinn«, sagte sie. »Hier muß doch schon eine Atrophie des umliegenden Gewebes vorliegen. Und wenn Sie bedenken, daß es der Stirn- und Schläfenlappen ist...« Chour warf den Kopf in den Nacken und hob pathetisch die Stimme: »Der Patient hat überhaupt keine Störungen der höheren Nerventätigkeit, eine Rindenatrophie ist bestimmt nicht vorhanden. Er ist hochintelligent, ich habe ihn selbst untersucht. Eine Weile sprachen wir französisch, das ist sein Fachgebiet. Er hat sogar Villon und Eluard im Original rezitiert...« Ruml zwinkerte verschwörerisch Frau Doktor Hladká zu und grinste. Er dachte wohl: Seine Sorgen möchte ich haben! Ich wußte wirklich nicht, was ich tun sollte. Abermals schauten wir uns die Aufnahmen an, eine nach der anderen, abermals wägten wir ab, was dafür und was dagegen sprach. Keiner von uns hatte Lust, einen Eingriff zu wagen. Der Dozent sah uns abwartend an. »Ich wäre sehr froh, wenn man ihm helfen könnte«, erklärte er leise. »Es geht um einen sehr wertvollen Menschen. Der Operation würde er sich bereitwillig unterziehen, er möchte nur, daß es seine Frau nicht vorzeitig erfährt.« Ich versprach ihm, mir noch heute Mikes anzuschauen, danach würden wir entscheiden, was weiter geschehen solle. »Er wird sich freuen«, sagte Chour beim Abschied. »Er erzählte mir, er kenne Sie aus dem Studentenheim, aber von selber wollte er sich nicht bei Ihnen melden.«
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Das brachte mich völlig aus dem Gleichgewicht. Allen war klar, unter normalen Umständen hätte ich diesen Fall abgelehnt. Aber es handelte sich um Míťa. Ich hatte ihn ständig vor Augen, auf dem Weg zum Operationssaal und auch noch, als ich mich für die Geschwulst an der Hypophyse wusch. Er wurde immer lebendiger. Er erschien mir in allen bekannten Gestalten: im Hemd mit offenem Kragen, die Gitarre in den Händen, in einem dicken Pullover und einen Schal um den Hals - er war sehr empfindlich, und im Studentenheim war es nie besonders warm. Ich sah ihn sogar im Fechtdreß. Es fehlte ihm an Geschicklichkeit, und das Fechten liebte er überhaupt nicht, aber die Fechtausbildung galt als Bedingung der Stiftung, die das Heim finanzierte. Ich mußte lächeln. Stellte mir vor, wie ich Míťa gegenüberstand und der Fechtmeister uns die Befehle gab. Er mischte Wörter seiner Muttersprache hinein, er war nämlich Pole. »Masgy auf Kopf, Masgy herunter!« schreit er. Míťa langweilt das tödlich. Blitzschnelle Bewegungen liegen ihm nicht. Wenn wir enden, nimmt er angewidert die Fechtmaske ab und sagt: »Warum bin ich nicht lieber aufs Priesterseminar gegangen?« Und ich tippe ihn mit dem Florett an und spöttle: »Was für verweichlichte Worte, du Ritter von der traurigen Gestalt!« ¦ Er wünscht mich sonstwohin. Fürs Seminar ist er wegen seiner Kraftausdrücke nicht reif. Wir machen uns für ein Rendezvous fertig. Die Hosen bügeln wir grundsätzlich über Nacht unter der Matratze. Míťa ist ein Romantiker, er muß dem Fräulein wenigstens Veilchen kaufen. Weil er kein Geld hat, verkauft er das Mittagessen. Und weil er Hunger hat, geht er in den Speisesaal »als Hyäne«. Das ist ganz einfach. Man setzt sich an einen verlassenen Tisch, wo einer auf dem Teller zum Beispiel zwei Scheiben Knödel übriggelassen hat. Dann gibt man den Teller dem Herrn Drobilek, der zum Personal des Heims gehört. Man bittet ihn um noch ein bißchen Sauce und eine Scheibe Knödel. Nach einer Weile bringt der Küchenaufzug die vervollständigte Portion
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hoch. Alle haben wir immer und ewig Hunger. Wir rebellieren: Was ist das für ein Abendessen, zwei dünne Würstchen und ein Stück Brot? Míťa schreit am meisten. Von zu Hause kriegt er nichts, er gibt Nachhilfestunden und bemüht sich, der Mutter noch ein paar Kronen zu schikken. ¦ Ich band mir den Kittel fest, streifte die Handschuhe über. Alle im Saal waren schon auf ihrem Platz. Vor mir lag das entblößte Operationsfeld. Für eine Sekunde hatte ich die Illusion, es sei Míťa. Ich fing an. Sie schauten zu, wie ich einen großen, hufeisenförmigen Schnitt führte. Zu Hilfe eilten mir Pean-Klemmen, Pinzetten, der Elektrokauter. Mir assistierten Růžička und Kroupa. Um den Anästhesisten bewegte sich. Zelený. Er fotografiert gut. Wenn es notwendig ist, macht er auch während der Operation Aufnahmen. Die OP-Schwester verfolgte aufmerksam jede meiner Bewegungen. Die Augen hinter der Gesichtsmaske könnten gut und gerne einer orientalischen Schönheit gehören, wenn das Gesicht mit einem Schleier und nicht mit weißer Gaze verhüllt wäre. Die Augen sind graublau und klar. Schwester Olga ist wirklich sehr hübsch. Ich streckte die Hand aus, und sie reichte mir eine Klammer. Immer genau das, was ich brauchte. Eine Weile richtete ich mich auf, um zu verschnaufen. Der Dozent koagulierte rasch alle Gefäße, so daß es nirgends blutete. Auf einmal war mir ganz wohl. Ich wußte, die Menschen um mich beobachteten gemeinsam mit mir jedes Rinnsal Blut, jede Nervenfaser, jedes Ein- und Ausatmen, das aus dem Respirator zu hören war. Ich führte eine breite Trepanation durch. Unter dem weggeklappten Knochen lagen die ungestörten, fein pulsierenden Stirnlappen. Man mußte sie anheben und zur Seite schieben. Unter ihnen schimmerte etwas Grauweißes. Ja, das ist die Geschwulst, die bis in die vordere Schädelgrube gedrungen ist. Sie hüllt beide optische Bündel ein, aber sie ist weich
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und wächst nicht mit ihnen zusammen, so daß man die Augennerven gut freilegen kann. Zelený lauerte mit dem Fotoapparat, bis ich ihm erlauben würde, eine Aufnahme zu machen. Für ein Weilchen unterbrach ich den Eingriff. Das Operationsfeld wurde wieder ausgespült und getrocknet, die Blutung aus den kleinen Gefäßen gestillt. Jetzt konnten Bilder gemacht werden. Am besten vorn, damit man die dem Druck ausgesetzten optischen Bündel sehen kann. Wir setzten die Operation fort. Olga schob mir den Hocker näher heran. Das ist besser, da brauche ich die Arme nicht so sehr zu heben. Ich lächelte ihr zu. Auch hinter der Maske sah man, wie sie errötete. Sie hielt mir die Schale hin, auf der ich das weiche Geschwulstgewebe ablegte. Die Uhr an der Wand gegenüber rückte unaufhaltsam um zwanzig, dreißig Minuten weiter. Kroupas Mütze war ringsum schon völlig durchgeschwitzt. Schweißtropfen rannen über seine Stirn und brannten ihm offenbar in den Augen. Dauernd kniff er sie zu und blinzelte. »Wollen Sie sich ausruhen?« fragte ich. Der Chefarzt war hier nur Gast, er ist Operationen, die einige Stunden dauern, nicht gewohnt. Kroupa schüttelte den Kopf. Zelený nahm ein Stück Zellstoff und tupfte ihm die Stirn ab. Weiter ging es. Ich erinnerte mich, was unsere Ärzte über Kroupa sagten. Er wohnt im Internat wie alle, die zur Weiterbildung hier sind. Über den Sonntag fährt er gewöhnlich nach Hause. Einmal paßte es ihm irgendwie nicht. Da rief er seine Frau an und erklärte ihr des langen und breiten, daß sie auch am Samstagvormittag ein Operationsprogramm hätten und er diesmal nicht kommen könne. Jemand belauschte das Gespräch und dächte sich einen Scherz aus. Er schaltete den Hausfunk ein, dessen Mikrophon gleich neben dem Telefon angebracht ist. Die Doktoren hörten sich auf den Zimmern Kroupas Ausreden an und kugelten sich vor Lachen. Ich bat ihn, die weichen Teile etwas mehr von der Operati-
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onswunde wegzuziehen. Sehr geschickt führte er das aus. Er ist wirklich sehr tüchtig. Vor allem muß er Operationen bei Kopfverletzungen lernen, da er in der Nähe eines Wintersportzentrums arbeitet. Unsere Leute haben ihn gern, er ist ein heiterer, geselliger Dicker. Wir waren fertig. Ich hatte die ganze Geschwulst beseitigt, Růžička nähte die harte Hirnhaut und klappte den Knochendefekt zu. Schon konnten wir uns dehnen und strecken. Wir diskutierten darüber, warum diese Patientin nicht früher zu uns gekommen ist. Die Sehnerven werden sich nur schwerlich wieder erholen. Zelený, der sie in seiner Abteilung hatte, erklärte, sie sei irrtümlicherweise gegen unklare Hormonbeschwerden behandelt worden. Erst die Sehstörungen hätten zur Diagnose der Geschwulst geführt. Růžička band bravourös die Stiche. Er produzierte sich, obwohl die OP-Schwester jeden Stich schon vorbereitet hatte, bevor er noch die Hand ausstreckte. Olga schwieg und dachte sich das Ihre. Sie mag Růžička nicht besonders. Er ist ein Elegant mit einem Mephistogesicht. Den Kranken imponiert er sehr. Zu seinen »Pseudoprivatpatienten« gehören vor allem schöne Frauen. Aber wenn im Saal wirklich etwas passiert, verfällt er manchmal in Panik. Er ist von der plastischen Chirurgie zu uns gekommen. Ihn interessieren Eingriffe an den peripheren Nerven, er beherrscht die Mikrochirurgie: das Nähen und Kleben von Nervenfasern, Anastomosen nach eigener Modifikation. Jitka mag ihn noch weniger als Schwester Olga. Sie kann ihn genausogut nachahmen wie ihren eigenen Chef. Sie stellt sich breitbeinig hin, eine Hand in der Tasche: »Ladies und Gentlemen«, sagt sie von oben herab, »die Zukunft der Neurochirurgie liegt in der Nervenfaser. Deshalb muß die Forschung auf diesem Gebiet bis zum Zellkern gehen...« Ich muß immer lachen, doch jedesmal verteidige ich Růžikka: »Laß ihn in Ruhe, die peripheren Nerven macht er doch sehr gut!«
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»Ja«, entgegnet sie, »das will ich ihm ja auch nicht nehmen! Aber warum gibt er so an?« Meine Frau kann Prahlerei nicht vertragen. Ich kenne keinen anderen Menschen, der auf das geringste Pathos empfindlicher reagierte. Bevor wir einander näher kennenlernten, sah ich sie oft im Hörsaal bei den Vorlesungen. Sie beendete damals ihr Medizinstudium, das sie während des Krieges unterbrechen mußte. Unter den anderen Mädchen wirkte sie sehr unauffällig. Alle kleideten und frisierten sich sorgfältig, sie jedoch trug einfache Kleider, das blonde Haar glatt und kurzgeschnitten. Immer hörte sie sehr aufmerksam zu. Es geschah oft, daß ein Professor von selbstgefälligem Auftreten die Stimme hob und seine Darlegungen mit weitausholenden, etwas theatralischen Gesten untermalte. In einem solchen Augenblick biß sich die kleine Medizinstudentin in der ersten Bankreihe amüsiert auf die Unterlippe. In den großen braunen Augen blitzte ein ironisches Fünkchen. Das verband mich am Ende für immer mit ihr. Sie war gerecht, und daher verschonte sie auch mich nicht. Sie machte bei mir ihr Praktikum, und mancher Fall riß mich gelegentlich auch zu einem überhöhten Tonfall hin. Sie reagierte immer gleich - auf den Lippen ein heimliches Lächeln, in den Augen Ironie. Jahre hindurch wiederholte sich das in den unterschiedlichsten Situationen: Wenn ich eine Festrede hielt, wenn ich einen Kongreß eröffnete oder mich in Gesellschaft von einem Thema mitreißen ließ. Ich hatte mich daran gewöhnt, bei solchen Gelegenheiten Jitkas Ausdruck zu beobachten, so wie man die Zeiger auf dem Armaturenbrett eines Autos beobachtet. Bis heute hat sie sich darin nicht geändert. Einmal gestand ich es ihr, und das ärgerte sie. Sie bemühte sich, ihr ironisches Lächeln zu unterdrücken, aber das nützte ihr gar nichts, ich kannte ihre Gemütsverfassung genau. Man rief mich« in den anderen Saal. Das Operationsteam hier leitete Krtek. Sie entfernten eine gut zugängliche Gehirngeschwulst, die aus den Hirnhüllen wuchs. Sie saß ritt-
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lings auf beiden Hemisphären. Eine scheinbar leichte Situation, nur zeigte es sich, daß sie fest in den Sinus sagittalis wuchs. Von allen Seiten war sie sorgfältig wegpräpariert. Was jetzt? Die Reste der Geschwulst zurücklassen oder sie mit einem Teil des Sinus entfernen? Der Patient ist ein junger Mensch, er wird den radikalen Eingriff verkraften. Eine Operation am Sinus ist allerdings riskant. Krtek schlug die Resektion des Sinus vor. Ich stimmte zu. Der Abschnitt des Sinus unter der Geschwulst schien ganz geschlossen zu sein. Der erste vorsichtige Schnitt beruhigte uns. Vielleicht würde die Beseitigung gut möglich sein. Aber bei einer weiteren Berührung mit dem Skalpell wurde das Operationsfeld von einem Blutstrom überschwemmt. Alle erstarrten. Ich stellte mich neben Krtek, half die Blutung stoppen. Es war ein endloser Strom. Wir tamponierten, trockneten und legten wieder Tampons auf. Endlich erblickten wir in der Wand des Sinus den Defekt. Die lichte Weite war verengt, nicht ganz geschlossen. Das änderte die Situation, wir mußten den Defekt mit Faszie übernähen. Krtek verlor nicht den Kopf, er versuchte auch nicht, die Operation mir zu übergeben. Frau Jirsáková assistierte ihm schwerfällig, sie wußte nicht, wohin mit den Händen. Ich schickte nach Zelený. Rasch wusch er sich, half bei der Vorbereitung der Faszie, erledigte das Absaugen und Koagulieren. Der Anästhesist meldete ein Absinken des Blutdrucks. Wir gaben Analeptika. Die Schwester legte auf das entblößte Gewebe in physiologische Lösung getauchte Wattebäusche. Gespanntes Schweigen. Wir warteten. Voller Bangen untersuchten wir, ob unter dem Wattebausch Blut durchsickerte. Der genähte Sinus hielt. Ich brauchte Krtek nichts zu sagen. Eine Weile schauten wir einander an, und dann lächelten wir mit den Augen. »Ich mach's zu Ende«, sagte er, »ich denke, es geht in Ordnung.« Ich glaubte ihm. Nur wenige sind so zuverlässig wie er. Er ist erfahren und klug. Die Studenten haben im Praktikum bei
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ihm nichts zu lachen. Der Famulus muß hart arbeiten, oder er geht. Merkwürdigerweise beklagt sich niemand über ihn, er genießt Autorität. An verschiedenen chirurgischen Abteilungen wirkt eine ganze Reihe seiner Schüler. Vor einigen Jahren starb seine einzige Tochter an Leukämie. Er lebte allein mit ihr, seine Frau hatte ihn schon lange vorher verlassen. Seit diesem Schicksalsschlag wurde er ein anderer Mensch. Vorher war er laut, gesprächig, er konnte lachen wie ein Satyr. Jetzt ist er wortkarg, voll trockener Ironie. Auf die Kranken wirkt er kalt. Sie können nicht wissen, daß ihn Trauer und das Gefühl einer großen Ungerechtigkeit begleiten, das ihn seit dem Tode der Tochter nie verließ. Als er damals die Diagnose erfuhr, schloß er sich in der Wohnung ein und ließ lange niemanden zu sich. Er erschien auch nicht zur Arbeit. Nur an ihrem Krankenbett vermochte er sich zu überwinden und für eine Weile so zu sein wie früher. Als sie starb, lebte er einige Wochen wie ein Dachs in seiner Höhle, nicht einmal die nächsten Freunde wollte er sehen. Ich erinnere mich, wie er mich zum erstenmal nach langer Zeit zu sich ließ. Wir saßen einander gegenüber, er hatte sein Gesicht abgewandt. Ich spürte geradezu körperlich, wie ihn meine Anwesenheit quälte. Ich begann auf ihn einzureden. Wiederholte einige Male, er müsse sich bemühen, zu vergessen und den Sinn des Lebens in der Arbeit zu finden. Ich erzählte ihm von den Schwierigkeiten in der Klinik. Erinnerte ihn an Fälle, die er kannte. Er starrte zu Boden. »Nichts ist wahr«, sagte er dann plötzlich. »Ich war eigentlich glücklich, und damals wußte ich das nicht. Mein Leben hatte einen Sinn, aber ich suchte dauernd nach etwas. Ich war wie ein Narr... Ich weiß zum Beispiel überhaupt nicht, worüber meine Tochter nachgedacht hat, wenn wir zusammen im Garten saßen. Ich las Fachliteratur, und sie lag nur so da, den Kopf zurückgelehnt, und schaute hoch zum Himmel. Mir schien, sie vergeude ihre Zeit. Hier habe ich ihre Bücher, die sie bis spät in die Nacht hinein las. Darunter
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sind Gedichte, die ich nicht verstehe, und das entsetzt mich. So wenig habe ich von ihr gewußt...« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Einige Minuten saß er reglos da. Mich hatten diese tieftraurigen Worte ganz verwirrt. Er hob den Kopf. »Nichts hat einen Sinn, überhaupt nichts. Jeder von uns kommt einmal zu dieser Erkenntnis. Mancher hat wenigstens eine Zeitlang eine Chance, ein anderer nicht einmal das. Das ganze Menschenleben ist Betrug.« Er stand auf, trat ans Fenster und sagte, mit dem Rükken zu mir: Jetzt schaffe ich es noch nicht, normal mit den Leuten zu reden. Lassen Sie mich noch eine Weile in Ruhe. Ich komme wieder, was bleibt mir auch anderes übrig...« Auf dem Tisch stand eine Fotografie der Tochter. Sie lächelte, in der Hand hielt sie ein Tennisrakett. Auch das machte er sich zum Vorwurf. Er hatte sie zum Sport gezwungen, obzwar sie sich Oft müde fühlte. Er erwartete ausgezeichnete Studienergebnisse von ihr, sie studierte Medizin. Jetzt beschuldigte er sich, ihre Krankheit möglicherweise beschleunigt zu haben. Schließlich kehrte er dann doch zu uns zurück. Er arbeitete bis tief in die Nacht hinein, häufig schlief er in der Klinik. Er hatte sich ein neues Gebiet gewählt - die Chirurgie der unstillbaren Schmerzen. An diesem Thema arbeitet er bis heute. Er hat eine Reihe von Mitarbeitern auch in den Kreiskrankenhäusern, wo seine Ergebnisse praktisch angewandt werden. An diesem Tage beendeten wir das Operationsprogramm sehr spät. Ich erinnere mich gut daran, weil ich eilig zur Sitzung der Purkyně-Gesellschaft mußte. Mir war es peinlich, mich dort ständig zu entschuldigen, ich sei beschäftigt gewesen. Die anderen Mitglieder des Vorstandes waren nicht besser dran als ich. Ich reagierte deshalb ungeduldig, als mich kurz vor dem Gehen noch einmal Jitka anrief. »Stell dir vor«, sagte sie, »die Kirschen sind schon aufgeblüht. Wenn wir sie noch sehen wollen, müssen wir heute
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hinfahren.« »Ich bitte dich...«, setzte ich leicht gereizt an. Ich hatte mir ausgerechnet, daß ich die Sitzung mit halbstündiger Verspätung erreichen würde. Zum Glück verstand sie mich anders. »Sie sind wirklich schon aufgeblüht, glaub es mir. Ich bin durch den Garten ins pharmakologische Institut gegangen...« Ich setzte mich. Die Augen auf der Uhr, stellte ich mir vor, wie wir Jahr für Jahr zusammen zur Kirschblüte gegangen waren, von dem ersten Frühling an, da wir uns kannten, bis zum heutigen Tage. Ich schloß die Augen. Ließ die Uhr Uhr sein. »Na so was, das hätte ich nicht geahnt, es ist doch erst Ende April.« »Vielleicht blühen noch nicht alle«, schränkte sie ein. »Aber darauf kommt es doch nicht an. Glaubst du, es klappt bei dir heute abend?« Sie hatte eine junge, freudige Stimme: Zürn Glück war ihr meine Ungeduld entgangen, ich hätte ihr damit die Freude verdorben. Auf einmal stellte ich sie mir so vor, wie ich sie noch als Studentin zum erstenmal auf unserem blühenden Hang gesehen hatte. Wir waren damals mit den Rädern hingefahren. Sie trug wie gewöhnlich ihre weiße Bluse und einen weiten geblümten Rock, der im Wind wehte. Sie lief von Baum zu Baum und versenkte das Gesicht in die Büschel der Kirschblüten. Dabei sah sie aus wie eine kleine bezaubernde Elfe. Ich muß gestehen, daß ich ihre überströmende Begeisterung für die blühenden Bäume niemals völlig begriff, aber ich bemühte mich immer, sie mit ihr zu teilen. »Ich versuche, es irgendwie einzurichten«, versprach ich. Ich überschlug im Geiste, was ich heute noch schaffen mußte: Nach der Sitzung kehre ich in die Klinik zurück, dort habe ich eine Beratung mit Krtek. Dann muß ich mich wenigstens für einen Augenblick bei Mikes sehen lassen, um ihn zu begrüßen. Ich fragte Jitka, ob sie nicht mit zu ihm gehen wolle.
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»Nein, lieber nicht«, sagte sie rasch. »Ich warte zu Hause auf dich. Hol mich ab, wir nehmen uns was zu essen mit, und dann können wir bis zum Dunkelwerden draußen bleiben.« »Gut, ich komme.« Ich legte den Hörer auf. Kurz überlegte ich, um wieviel Uhr es zu dunkeln anfängt. Unser Hang liegt ein Stückchen außerhalb der Stadt, eine halbe Stunde brauchen wir bis dahin. Die Beratung mit Krtek muß ich abkürzen. Nur Mikes darf ich nicht auslassen, ich hatte das Gefühl, daß er gespannt auf mich wartete. Vor einer Operation fürchtet sich jeder, auch wenn er es sich nicht anmerken läßt. Ich muß ihm in groben Umrissen erklären, worum es geht. Aber wie? Ich weiß ja schließlich selber noch nicht, ob ich mich für den Eingriff entscheiden werde! Diese Frage belastete mich und lenkte mich ab, sowohl bei der Sitzung der Purkyně-Gesellschaft als auch bei dem Gespräch mit Krtek. Anstatt den Forschungsplan vorzubereiten, diskutierten wir am Ende ausführlich, ob wir Mikes operieren sollten oder nicht. Krtek war anfangs skeptischer als ich. Zuletzt nahmen wir den anatomischen Atlas zu Hilfe, in den wir Eingriffe in die Gefäßversorgung des Gehirns eintrugen. Nach und nach reifte in uns der Entschluß, die Malformation ganz zu beseitigen. Warum davor die Augen verschließen? Mikes wird in Zukunft vor allem von Blutungen bedroht. Wenn es dazu käme, würden wir die Situation kaum mehr bewältigen können. Wir gelangten zu der Einsicht, daß uns nichts anderes übrigblieb. Entschlossen hatten wir uns, aber wohl fühlten wir uns dabei nicht. Das Risiko der Operation war zu groß. Doch es blieb eine gewisse Hoffnung, daß Míťa danach wieder gesund sein würde. Wir saßen einander schweigend gegenüber, Krtek sah mich fragend an. »Operieren werde ich ihn, das ist selbstverständlich«, sagte
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ich, bevor er mich noch fragen konnte. »Vielleicht... weil er ein Freund ist... Ich würde es versuchen«, erbot er sich. Ich schüttelte den Kopf. »Sie werden mir assistieren. Ich muß mich überwinden. Gerade weil es ein Freund ist. Ich hoffe, Sie würden mich auch operieren, wenn mir etwas Derartiges zustieße.« Eine Weile antwortete er nicht, offenbar versuchte er, sich in diese Situation einzuleben. »Wohl doch«, gab er zu. »Höchstens, wenn sich jemand fände, der es besser könnte als ich.« »Glauben Sie, es würde sich einer finden?« »Kann sein. Aber ich weiß wirklich nicht, ob ich es einem anderen überlassen würde.« Ich lachte. »Na sehen Sie, wenigstens verstehen Sie mich!«; ¦ Wir hatten über Mikes entschieden, und er wußte es noch nicht. Jetzt war es an mir, ihm alles zu erklären. Vor allem durfte er sich vor dem Eingriff nicht fürchten. Ich will versuchen, ihn zu überzeugen, daß es gut ausgehen wird. Ich weiß, wie jeden Kranken die Angst peinigen kann. Als ich an die Tür des Zimmers klopfte, in dem er lag, hatte ich keine Ahnung, ob ich ihn überhaupt erkennen würde. Einige Male war es mir in den letzten Jahren passiert, daß mich ein unbekannter älterer Herr aufsuchte, der sich als ehemaliger Mitschüler entpuppte. Diesmal konnte ich nicht im Zweifel sein. Aus dem Bett am Fenster schaute mich Míťa an, nur ein wenig älter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Seine gewellten Haare waren leicht ergraut, das Gesicht wie durch ein Wunder jungenhaft geblieben, wie das manchmal bei Menschen der Fall ist, die ihr ganzes Leben eine Arbeit tun können, die ihnen Vergnügen bereitet. Nicht einmal an Gewicht hatte er zugenommen. Über dem Pyjama trug er einen Sweater mit Schal, so wie er ihn einst im Studentenheim getragen hatte. Er war wohl noch genauso kälteempfindlich. Wir gaben uns die Hand und fragten einander aus. Irgendwie
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hatte er sich doch verändert. Er wirkte nicht mehr so unmittelbar wie früher, sein Lächeln schien mir zurückhaltend, der Blick prüfend und ungewöhnlich kritisch. Die Mimik seines hübschen Gesichts war immer von seinem momentanen Gefühl geprägt gewesen, manchmal melancholisch, ein andermal zärtlich. Jetzt waren ein paar Falten dazugekommen, die seinen Ausdruck nachdenklich und ruhig wirken ließen. Beide fühlten wir uns ein bißchen verlegen. Er kniff die Augen zusammen, um mich deutlicher zu sehen. Natürlich, er hatte ja Sehstörungen. Er bemühte sich überflüssigerweise, die linke Hand nicht zu heben, er wollte mich offensichtlich nicht daran erinnern, daß sie weniger beweglich war. Die beiden Patienten, die mit ihm das Zimmer teilten, gingen auf den Flur, um uns nicht zu stören. Ich fragte ihn zunächst, wie er lebte und was er tat. Ich erfuhr, daß er als Lehrer an einer erweiterten Oberschule beschäftigt war. Wir erinnerten uns an einige unserer Kommilitonen. Mikeš traf sich zuweilen mit Fencl, der in einem Ministerium arbeitete. Unlängst sei er auch Poličanský begegnet. Von ihm wußte ich zufällig, daß er Chefarzt an einer Kinderheilstätte in der Nähe von Prag war. Wir plauderten miteinander, aber es war nicht das Richtige. Die Unterhaltung schien gewissermaßen über die Oberfläche zu gleiten, sie entfernte uns noch mehr voneinander. Sonderbar, aber dem Äußeren nach war er für mich immer noch der gleiche Míťa, bei ihm schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Die Haare trug er länger als damals, über der Stirn und im Nacken kräuselten sie sich nach wie vor zu natürlichen Locken. Sie waren nicht dünner geworden. So mancher Frau hätte er noch gefallen können. Das sagte ich ihm mit einem Lächeln, bemüht, so herzlich wie möglich zu sein. Er zuckte mit den Schultern, aber mein Lächeln erwiderte er nicht. Ich fragte ihn nach seiner Familie, nach Frau und Kindern. Darüber spricht gewöhnlich jeder gern. Er holte kein Foto hervor, wie das unter alten
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Freunden üblich ist, wenn sie sich nach Jahren wiedertreffen. Er sagte mir, daß er keine Kinder habe. Seine Frau sei Übersetzerin, das habe den Vorteil, daß sie meist zu Hause sei. Nach meiner Arbeit und meiner Familie fragte Míťa überhaupt nicht. Er fühlt sich nicht wohl, dachte ich, er muß sich zum Gespräch zwingen. Ich hörte also auf mit dieser allgemeinen Konversation und sprach über das, was ihn gewiß am meisten interessierte, über seine Krankheit. Ich erklärte ihm, was eine Malformation sei. Sie sei zwar keine Geschwulst, aber im Gehirn verhalte sie sich ähnlich. Sie werde durch ein Geflecht von Blutgefäßen gebildet und drücke auf einige Teile des Hirngewebes. Offenbar habe er das schon von Kindheit an, wie das zumeist der Fall ist, doch die Symptome erschienen immer erst später, oft im Erwachsenenalter. Seine Beschwerden würden sich wahrscheinlich steigern, deshalb wäre eine Operation zu empfehlen. Wenn wir die Malformation ganz beseitigten, hätte er Ruhe und. sein Zustand würde sich bessern. Aufmerksam hörte er mir zu, fragte jedoch nichts. Ich gab zu, daß wir große Gebilde dieser Art nicht gern operierten, denn es bestehe die Gefahr einer Blutung, und das könne für den Patienten lebensbedrohend sein. Anderseits gebe es eine ganze Reihe von Kranken, die die Operation abgelehnt hätten und denen bis heute nichts passiert sei. Das lasse sich einfach vorher nicht abschätzen. Er stand auf, öffnete das Fenster. Dann ging er im Zimmer auf und ab und setzte sich wieder aufs Bett, meinem Stuhl gegenüber. »Míťa, du brauchst keine Angst davor zu haben!« Ich gab mir alle Mühe, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Du weißt, für Eingriffe dieser Art bin ich Spezialist, ich werde mir damit Rat wissen. Letzten Endes ist es eine Operation wie jede andere...« »Aber ich habe doch keine Angst«, sagte er fast gleichgültig. »So sehr hänge ich nicht am Leben.«
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Das paßte nicht zu ihm. »Warum sagst du das? Was soll das heißen? Du bist nicht mehr wie früher. Ich habe dich als einen optimistischen, fröhlichen Menschen in Erinnerung...« Gezwungen lächelte er. »Hör zu«, begann er leise, »ich weiß sehr wohl, daß niemand diese Operation besser macht als du. Du bist dafür weit und breit berühmt...« »Ich bitte dich, laß das...«, unterbrach ich ihn ärgerlich. »Warte, laß mich ausreden. Was könnte ich mir mehr wünschen, als daß du mich operierst. Nur...« »Was ist? Hast du Probleme?« »Du hast mich gefragt, was mit mir ist. Ich werde aufrichtig zu dir sein.« Eine Weile saß er mit niedergeschlagenen Augen da. Dann hob er jäh den Kopf. »Ich möchte fair zu dir sein. Du behandelst mich wie einen Freund, du kommst und nimmst dich meiner an. Aber mit mir verhält es sich anders. Ich habe dich nie gemocht. Du wirst dich vielleicht wundern, so geradeheraus hast du das von mir noch nie gehört. Alles an dir störte mich. Du warst... na einfach so selbstsicher, alles hast du im vorhinein gewußt... Niemals hat dich sonderlich interessiert, was ich denke. Erinnerst du dich, wie du mir mitteiltest, du wolltest fortan mit Poličanský zusammen wohnen? Das hat mich damals furchtbar getroffen. Ich war gerade erst ins Heim gekommen, mir lag an dir. Du hast mich nicht einmal gefragt, ob es mir was ausmacht...« »Aber du hast doch selber gesagt, daß du und Fencl...« »Was hätte ich denn sagen sollen, als du mich vor die vollendete Tatsache stelltest? Du hieltest mich für eine Null, ein Jüngelchen, das nicht weiß, was es will!« »Míťa!« Er war nicht mehr ruhig, sein Gesicht hatte sich gerötet, seine Stimme wurde lauter. »Für dich existierte kein Problem, du standest, kurz gesagt, immer über den Dingen. Erinnerst du dich, wie du dich über
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Fencl lustig gemacht hast, als er vor den Prüfungen stand und buchstäblich auf dem letzten Loch pfiff? Du konntest einfach Schwäche nicht vertragen!« Alles hatte ich erwartet, nur diese Anklage nicht. Ich raffte mich zu nichts anderem auf, als Mikes verständnislos anzustarren. Ich war wie aus allen Wolken gefallen. Statt einer Antwort drängte sich mir eine Erinnerung auf - ich komme abends ins Studentenheim. Spätabends, vielleicht war es schon Nacht. Ich kam von einer Versammlung oder vom Tanzen, das weiß ich nicht mehr genau. Ich sehe, daß im Zimmer nebenan noch Licht brennt. Klopfe, wir waren gewöhnt, auch noch so spät ein paar Worte zu wechseln. Ich trete ein, nein, im Scherz tanze ich mit langen Tangoschritten hinein und pfeife dabei einen Schmachtfetzen, der in dieser Zeit gesungen wurde. Beide sitzen über Skripten. Fencl hat sich ein nasses Handtuch um den Kopf gewickelt. Ich kann mich nicht zurückhalten und breche in ein Lachen aus. Fencl wendet sich beleidigt ab, Míťa erhebt sich und geht einen Kaffee kochen. »Es hat mich auch gestört, wie du Fencl immer runtergeputzt hast«, fuhr Míťa fort. »Kann schon sein, er hat nicht immer logisch diskutiert, aber du hast ihn für jeden Satz kritisiert. Mir tat er leid.« »Míťa! Hätte ich denn voraussehen können, daß er es so übelnahm? Im Heim haben wir uns doch nie mit Glacehandschuhen angefaßt! Das war ja gerade das Schönste dort! Wir konnten uns alles offen ins Gesicht sagen.« »Ja, aber er war anders als du. Er verstand es nicht, sich durchzusetzen, aber er wußte eine Menge. Du ahnst nicht, wie empfindlich er war. Auf deine Freundschaft legte er riesigen Wert.« »Was habe ich ihm eigentlich getan?« »Er hat sich einige Male bemüht, es dir zu erklären. Einmal machten wir zu dritt einen Ausflug auf den Kokořín. Fencl hatte ein Buch mit, das ihm sehr gefiel. Er las uns daraus vor. Es waren Sentenzen über Freundschaft. Aber das hast
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du wohl schon vergessen.« »Überhaupt nicht, wenn du es genau wissen willst. Wir fuhren mit den Rädern, und über Mittag lagerten wir auf einer Waldlichtung, von der au? wir eine schöne Aussicht hatten. Jeder hatte ein Stück Brot und Wurst mit. Du hast recht, Fencl las damals etwas vor. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber mir kam es damals vor, als läse ein Pensionatsfräulein aus ihrem Poesiealbum vor:« »Fencl schätzte Freundschaft sehr hoch. Er wünschte, daß du ihn besser verständest, du weißt doch, wie er sich uns immer mit allem anvertraute, nur hast du das nie sonderlich geschätzt.« »Ich habe niemals gern in Gefühlen herumgestochert«, sagte ich schroff. »Für dich war alles zu sentimental, auch was wir ernst nahmen. Wenn du dich mit jemandem nicht verstandest, winktest du nur ab und gingst deiner Wege.« »Míťa, warum sagst du mir das alles gerade« heute?« »Soll ich es noch einmal wiederholen? Weil ich fair zu dir sein will. Wir hatten dich einfach gefressen, Fencl und ich. Und jetzt spielt mir das Schicksal einen grotesken Streich. Ausgerechnet du als einziger kannst mich aus dem Desaster herausholen, in das ich geraten bin.« »Zum Donnerwetter, jetzt hör aber auf mit solchem Gerede!« »Warte, ich bin noch nicht fertig. Ich gebe zu, ich verhalte mich jetzt nicht eben schlau und taktisch, aber du mußt es wissen. Ich möchte es zu Ende bringen. Heute sehe ich schon alles ein bißchen anders. Du warst einfach härter als wir, und gerade deshalb hast du etwas aus dir gemacht. Vielleicht war ich damals wirklich zu weich und sentimental, du hast es uns nicht umsonst gesagt...« »Ich begreife wirklich nicht, warum...« »Ich sag's dir gleich. Ich möchte, daß du noch Zeit hast, dir zu überlegen, ob du selbst mich operieren willst. Du könntest es genausogut einem deiner Kollegen anvertrauen.«
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»Möchtest du das vielleicht?« Ich war gekränkt und verbittert. »Nein. Warum sollte ich? Du kannst es bestimmt am besten von allen.« »Dann hör auf mit dem Quatsch und der Selbstzerfleischung. Das ist auch so eine Spezialität der Intellektuellen: Hauptsache ehrenhaft, und wenn ich verrecken sollte!« Er trotzte noch. »Das ist doch noch etwas komplizierter. Aber wie ich da anfangen soll, weiß ich überhaupt nicht.« Ich stand auf. »Hör zu, heben wir uns das für ein andermal auf. Wenn alles vorbei ist, setzen wir uns mal zusammen, und dann kannst du mich so zurechtstauchen, daß kein gutes Haar an mir bleibt...« Dann schüttelten wir uns noch die Hand. Ich versprach ihm, so bald wie möglich wiederzukommen und ihm den Operationstermin zu nennen. Ich würde mich bemühen, ihn schnellstens zu uns zu verlegen. Zur Sicherheit schaute ich noch ins Arztzimmer, aber man sagte mir, Jitka sei schon längst nach Hause gefahren. Ich startete den Wagen. Mir war nicht einerlei, was ich von Míťa gehört hatte. Wieder tauchte der Ausflug in meinem Gedächtnis auf, von dem wir gesprochen hatten. Ich erinnerte mich an ein kleines Detail. Fencl wurde auf dem Rückweg sehr müde, er war das Radfahren nicht gewöhnt. Obendrein hatte er sich ein sehr altes und schweres Rad geliehen. Ich gab ihm meins, das um vieles leichter war. Der Ausflug hatte mir großartig gefallen, während meiner Studienzeit kam ich nur selten in die freie Natur. Ich weiß, daß wir an diesem Tage alle drei sehr glücklich waren. Gemeinsam der Tisch, gemeinsam das Heim, brüderlich teilend, im Herzen vereint! Der Wandspruch im Studentenheim, über den ich so oft gespottet hatte. Aber Hand aufs Herz - lebten wir nicht bis aufs I-Pünktchen getreu danach? Wenn einer von Zuhause ein Paket erhielt oder wenn ich bei den Nachhilfestunden eine kleine Zugabe bekam - ein paar Stückchen Kuchen oder
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anderes Backwerk -, gleich wurde es in unseren beiden Zimmern brüderlich geteilt. Mikes borgte sich gern mein weißes Hemd mit Schillerkragen, wenn am Horizont ein neues Mädchen auftauchte. Wir hatten gemeinsames Geschirr, gemeinsame Bestecke. Wenn es um etwas Wichtiges ging, berieten wir uns gegenseitig, so gut wir konnten. Ich fuhr nach Hause, um Jitka abzuholen, und mir ging vieles durch den Sinn. Wo kamen die unguten Gefühle her, zu denen sich Míťa heute bei seiner Lebensbilanz bekannt hatte? Ich glaubte immer, wir hätten nie wieder eine so gute Gemeinschaft gehabt wie in der Studienzeit mit den Freunden im Studentenheim. Ich sah vor mir verschiedene Szenen wie rasch wechselnde Diapositive. Einmal, erinnerte ich mich, waren wir gemeinsam in die Tatra gefahren. Für die Reisekosten hatten wir zusammengelegt. Ich selbst brachte das meiste auf unser Konto ein, weil ich viele Privatschüler hatte. Als wäre es heute, sehe ich, wie wir auf den Berggipfeln ausruhten, mit aufgeschundenen Füßen, weil keiner von uns passendes Schuhwerk besaß. Wie wir den Laib Brot von Hand zu Hand reichten und uns die Schnitten mit Margarine bestrichen. Wie wir uns in einem verlassenen Heuschuppen aneinanderdrückten, wo wir die Nacht verbringen wollten. Wir hatten nicht geahnt, daß hier mitten im Sommer solch eine bannige Kälte hereinbrechen würde. Ist es möglich, daß Míťa und Josef dies alles vergessen hätten? Diese Erinnerungen blieben für mich wirklich die schönsten meines Lebens. Auf der Tatrareise waren wir eines Abends so müde, daß wir einfach nicht weiterkonnten. Für ein Nachtquartier reichte das Geld nicht, und so überredeten wir den Portier eines großen Hotels, uns wenigstens bis Tagesanbruch auf den Bänken im Vestibül schlafen zu lassen. Um vier Uhr morgens jagte er uns hinaus, und wir legten einen Hundertmeterlauf ein, um uns zu erwärmen. Ein andermal stießen wir auf ein katholisches Studentenlager, wo man gerade zum Abendessen Hefeknödel faßte. Poličanský win-
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selte so lange, bis sie uns auch ein paar abgaben. Wir aßen sie auf und überschütteten Poličanský mit Worten der Anerkennung. Allerdings nur bis zu dem Augenblick, da der Leiter dieses Lagers kam und von jedem drei Kronen kassierte. Drei Kronen! Ich habe schon vergessen, welche Berge wir damals bestiegen, aber stets wird mir im Gedächtnis bleiben, wie einträchtig wir auf diese katholische Caritas schimpften. Ich hatte immer gedacht, wir hätten in diesen Zeiten wahrhaft wie Brüder gelebt. Nach dem Studium trennten sich unsere Wege eigentlich für immer. Ich schaffte es, das Medizinstudium zu beenden, noch bevor die Hochschulen von den Nazis geschlossen wurden, und dann kam ich an ein Kreiskrankenhaus, wo ich die ganze Okkupation über arbeitete. Poličanský fehlten nur noch ein paar Prüfungen, er hatte Pech, Míťa und Fencl beendeten ihr Studium erst nach dem Kriege, das war eigentlich das einzige, was ich von ihnen wußte. Als ich in die Klinik überwechselte, setzte ein geradezu irrsinniges Arbeitstempo ein, ich konnte nichts, mußte die ganzen Abende hindurch lernen. Die Kameraden aus dem Studentenheim schwanden mir aus den Augen, aber ich hoffte stets im Unterbewußtsein, daß sich das einmal ändern würde. Vielleicht hatten sich die zwei absichtlich nicht bei mir gemeldet. Jetzt schien mir das wahrscheinlich, denn anderen Freunden aus dem Heim war ich gelegentlich begegnet. Zum Beispiel Straka, der während des Studiums Geige gespielt hatte. Im Heim war die Zeit dafür bemessen. Zwei Minuten vor zwei stand eine ganze Horde von uns mit der Uhr in der Hand vor seinem Zimmer. Sobald es zwei schlug, droschen wir einträchtig an die Tür. Er mußte mitten im Takt aufhören. Und dennoch denkt auch er gern daran zurück. Unlängst traf ich einen alten Kameraden, der während des Studiums eine Freundin im Mädchenheim hätte. Gelegentlich schmuggelte sie ihn dort ein, so ging das damals eben zu. Eines Nachts kam eine Kontrolle. Unser Kommili-
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tone verhielt sich als wahrer Ritter. Er kletterte aus dem Fenster und hängte sich mit den Händen ans Fensterbrett. Er rettete zwar die Situation, konnte sich aber nicht festhalten und fiel aus dem ersten Stock auf den Hof. Dabei brach er sich den Knöchel. Er winkte dem entsetzten Mädchen am Fenster noch zu, damit sie den Eindruck gewann, ihm sei nichts passiert, und humpelte dann durch die nächtlichen Straßen nach Hause. Das dauerte zwei Stunden. Als er endlich in seinem Zimmer ankam, fiel er in Ohnmacht. Damals war ich schon als Famulus in der Chirurgie tätig und erkannte daher, daß es sich um einen Bruch handelte. Wir schleppten ihn irgendwie in die Klinik, und dort packte man den Fuß für einige Wochen in Gips. Als wir uns unlängst wiedertrafen, erinnerte er mich daran. Ich wußte gar nicht, daß er jenes Mädchen geheiratet hatte. Endlich langte ich zu Hause an. Jitka machte mir keine Vorwürfe, obwohl ich so spät kam. Sie hatte ein paar belegte Brötchen fertiggemacht. »Wie wär's, wenn wir sie mitnähmen?« schlug sie mir vor. Sie war schon voller Ungeduld, loszufahren. »Das können wir, ich hab sowieso keinen großen Hunger.« Rasch packte sie die Brötchen ein. Ich zog mich um, Jitka wartete auf mich. Sie schaute ins Leere, und auf dem halboffenen Mund lag die Andeutung eines Lächelns. Wieder mußte ich mich wundern, wie wenig sie sich verändert hatte. Genauso schlank und klein wie vor Jahren, bloß die Haare haben eine andere Schattierung, sie sind jetzt aschblond. Nur wenn sie sehr müde ist, sehe ich dann doch, daß auch an ihr die Zeit genagt hat. Aber wenn sie sich auf etwas freut, wie gerade jetzt, wirkt sie um viele Jahre jünger. Auf der Straße waren Pfützen. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß es tagsüber geregnet hatte. Wir fuhren hinaus aus der Stadt. Vor uns lagen hellgrüne Hänge. Da und dort leuchtete ein erblühter Strauch oder huschte ein weißblühender Kirschbaum vorbei. Der Himmel war frühlingshaft blau, mit rasch dahinziehenden Wolken. Als wir an unserem Kirsch-
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garten anlangten, strahlte die Sonne. Das Auto klomm den schmalen Weg über den Hang hoch. Wir fuhren direkt unter die erblühten Baumkronen. Jitka war genauso bezaubert wie in allen vergangenen Jahren. »Ich hab's gewußt - alle blühen. Schau nur, wieviel Bienen unterwegs sind!« Die Sonne wärmte wohltuend. Man konnte sich sogar ins Gras legen und durch die Blütenbüschel in den Himmel schauen. »Es war keine schlechte Idee, gerade heute hinauszufahren«, sagte ich. Die Luft war frisch, von einem zarten Duft durchweht. Im Westen hatte sich ein rosiger Wolkenwall gebildet. Ich erinnerte mich daran, wie wir zum erstenmal miteinander hier waren, als wir unseren ersten Sohn erwarteten. Er wurde zwei Wochen danach geboren. Ein Jahr darauf starb Jitkas Mutter. Am Tag des Begräbnisses, Anfang Mai, fuhren wir hierher. Da war es hier schon symbolhaft düster, die weißen Blütenblätter fast alle abgefallen, ins Gras geweht. Jitka saß genau an dieser Stelle. Sie weinte lautlos, die Tränen rannen ihr in einem heißen, ununterbrochenen Strom über die Wangen. Das lastete schwer auf mir, niemals vorher hatte ich sie weinen sehen. Ich weiß nicht, warum, aber Jitkas Trauer von damals brachte mir mein heutiges befremdliches Gespräch mit Míťa in Erinnerung. Anfangs hatte ich nicht die Absicht gehabt, es meiner Frau gegenüber zu erwähnen, doch jetzt begann ich ihr davon zu erzählen. Vielleicht bewirkte das auch die eigenartige Szenerie, die orangefarbene Wolkenbank, die mir eine gewisse Beklemmung einflößte. Ich bemühte mich, ihr das Gespräch sachlich zu schildern, aber mich überraschte dabei selbst das Gefühl der Bewegung und Bitterkeit. »Sie mochten mich nicht, weder Míťa noch Fencl. Es ist schon komisch, so etwas erst jetzt nach so vielen Jahren zu erfahren... Ich verstehe es nicht, obgleich er mir allerlei Begründungen gegeben hat...«
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Jitka schwieg. Sie verstand es, zuzuhören, wenn ich das brauchte. Die Sonne war inzwischen vollends untergegangen, es kühlte sich ab. »Vielleicht hab ich auch alles überschätzt«, sagte ich noch. Jitka reagierte nicht, oder war es ihr sogar peinlich? Sie war solche persönlichen Beichten nicht gewöhnt. Ich wollte mich erheben. »Gehen wir, es wird kalt...« Sie ergriff meine Hand. »Nein, noch nicht, bitte...« Starr sah sie mich an, sie wirkte sehr ernst. Dann sagte sie es: »Du weißt ja nicht, daß ich und Míťa...« »Du und Míťa?!« Es war überraschend, seinen Studentennamen aus Jitkas Mund zu hören. Das hatte mich eigentlich schon am Morgen verblüfft, als sie mich anrief. »Ja, er und ich sind zusammen gegangen, kurz bevor wir uns kennenlernten.« Der Westhimmel dunkelte, Wind kam auf. Mit einem Male war mir sehr kalt, und Traurigkeit erfaßte mich. »Warum hast du mir nie etwas davon gesagt?« Ihre ehrlichen braunen Augen wichen mir aus. »Wir hatten uns gegenseitig versprochen, niemals über die Vergangenheit zu reden. Du selber hast es so gewollt, hattest doch vor mir auch andere Bekanntschaften...« Die hatte ich, das stimmt. Die eine hieß Vera, die zweite Marie, und wie die dritte hieß, weiß ich nicht mehr. Gott ist mein Zeuge, daß ich während meiner Ehe nie an sie gedacht habe. Einmal, kurz nach der Hochzeit, räumte ich meinen Schreibtisch auf und förderte in Jitkas Anwesenheit eine Schachtel mit alten Briefen und Fotos zutage. »Siehst du, das ist meine Vergangenheit«, scherzte ich. Ich dachte, sie würde wie jede Frau neugierig sein und sich die Sachen anschauen wollen. Sie tat etwas anderes. Ging nach nebenan und brachte auch ein Bündel. Sie band es auf, und ich erblickte Briefe, Fotos und vertrocknete Blumen, die aus dem Bündel herausfielen.
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»Weißt du was«, sagte sie. »Jetzt nimmt jeder seine Reliquien und steckt sie in den Ofen.« Das war ganz sie. Wir legten alles auf einen Haufen und zündeten ihn an. Damals erschien mir das originell. Aber jetzt, wenn ich mir vorstelle, ausgerechnet Mikes... »Du mußtest doch wissen, daß er ein Studienfreund von mir war.« »Natürlich habe ich es gewußt«, entgegnete sie. »Sonderbar, von einigen Freunden hast du mir erzählt, von ihm jedoch nie.« »Und er? Hat er dir gesagt, daß er mich kennt?« »Ja. Als ich mit ihm ging, hat er noch studiert. Dann machte ich mein Praktikum bei euch in der Chirurgie. Ich erzählte ihm von dem jungen Assistenten, der bei uns lehrte. Sobald ich deinen Namen nannte, sagte er mir, daß er dich kennt. Er hat mir allerlei über dich erzählt.« So ist es also! Míťa mochte mich nicht und kann das bis heute nicht vergessen. Warum wohl? Weil ich seiner Meinung nach zu selbstsicher und hart war? Oder auch deshalb, weil wir uns beide um Jitka bemühten? »Mich würde interessieren, wie er über mich gesprochen hat. Ich vermute, recht... recht unfreundlich...« »Überhaupt nicht. Er hat über dich eigentlich nichts Schlechtes gesagt. Aber... ich muß zugeben, daß er mir voreingenommen schien. Mit Absicht habe ich dich immer wieder ins Gespräch gebracht.... in der Zeit, da du anfingst, mir im Hörsaal Beachtung zu schenken... Er reagierte immer ein bißchen gereizt. Einmal zum Beispiel behauptete er, du seist furchtbar ehrgeizig und würdest deinen eigenen Bruder nicht kennen, wenn es um Zeit fürs Lernen ginge. Ein andermal erzählte er von Fencl, dem gegenüber du dich überheblich verhalten hättest. Bei Gelegenheit stellte er ihn mir auch vor. Ich sagte mir gleich, daß man sich mit ihm kaum gut verstehen könnte, er war so geschwätzig. Ich hatte das Gefühl, sie liebten dich nicht gerade.« Ich seufzte. Mit einem Male kam mir alles vor wie eine
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Groteske. Mir fiel ein, daß Mikes mich heute, bevor ich sein Zimmer verließ, zurückhalten wollte. Ob er mir von sich und Jitka erzählt hätte? »Weißt du, das ist heute sowieso alles egal«, fuhr Jitka fort. »Aber gerade seine Anspielungen damals ließen mich neugierig auf dich werden. Ich bin nicht lange mit ihm gegangen. Er war mir zu...« Sie suchte nach dem treffenden Ausdruck. »Romantisch?« »Das hätte mich vielleicht nicht so sehr gestört... Nein, er stand irgendwie außerhalb der Realität. Und war entsetzlich sentimental. Nie hätte ich ihn geheiratet, auch wenn er sich darum bemühte...« »Wie hat er eure Trennung verkraftet? Gewiß liebte er dich...« »Vielleicht, aber andererseits war er auch eitel. Es kränkte ihn, daß ich mich von ihm trennen wollte, er verhärtete sich in seinem Trotz. Dann schickte ich ihm unsere Heiratsanzeige, ich dachte, er würde uns gratulieren. Damit wäre alles Vorhergegangene ins richtige Lot gekommen. Aber offenbar wollte er dir nicht begegnen.« »Und was ist jetzt? Hat er dich um Aufnahme in die Klinik gebeten?« »Nein, er wußte überhaupt nicht, daß ich dort tätig bin. Ich entdeckte ihn zufällig bei der Chefvisite. Er erkannte mich gleich, schien sich aber nicht sonderlich zu freuen. Dann suchte ich ihn auf. Es gelang mir, ein kameradschaftliches Gespräch mit ihm zu führen. Lange erzählte er mir von seiner Frau, ich würde sagen, absichtlich. Er bestand darauf, ihr einstweilen nicht zu sagen, wie es um ihn steht.« Es begann zu dämmern. Mein unbehagliches Gefühl hatte sich nach und nach zerstreut. Eigentlich verstand ich Míťa jetzt etwas besser. Und Jitka? Was hätte ich ihr denn vorwerfen können? Übrigens lag das alles schon so weit zurück. »Sag mir bitte noch eins! Wenn ich nicht selber von Mikes
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angefangen hätte...« Sie nahm mich um den Hals. »Ich hätte es dir so oder so gesagt. Er wird dich brauchen, damit hat sich die ganze Situation verändert. Warum, glaubst du, wollte ich gerade heute mit dir in unseren Kirschgarten? Hier sind wir wenigstens eine Weile wirklich allein, uns stört kein Telefon wie zu Hause, kurzum, hier sitzen wir nicht wie auf glühenden Kohlen.« Im Stehen aßen wir die Brötchen. Die weißen Baumkronen schimmerten nur noch matt durch die Dämmerung. »Es gibt eben doch sonderbare Zufälle, Jitka!« Sie nickte mit vollem Munde. »Wenn wir hier sind, geschieht immer etwas Wichtiges.« Wir erinnerten uns der vergangenen Jahre, die Geburt des Sohnes, der Tod von Jitkas Mutter, im Mai verteidigte ich meine Dissertation. Und heute ist es Míťa. »Und weißt du, was ich dir noch neues zu sagen habe? Heute morgen rief mich Eva an, sie bekommen ihr zweites Kind.« »Und das sagst du mir erst jetzt?!« Eva ist unsere Jüngste. Die einzige, die Medizin studiert hat. Der älteste Sohn ist Maschinenbauingenieur, er lebt mit seiner Familie in Ostrava. Der zweite hat die Archäologie gewählt und treibt sich von Zeit zu Zeit in der Welt herum. Bis jetzt ist er noch ledig. Wir fuhren hinunter zur Stadt. In der Ferne auf der Hauptstraße bewegte sich langsam der glitzernde Strom der Autos. Wir reihten uns ein. »Willst du nicht Eva anrufen, sie sollen uns einmal besuchen...« »Das werde ich tun«, antwortete Jitka. »Wir laden sie zu einem festlichen Abendessen ein.« »Gulaschsuppe«, schwärmte ich, »dann eine gebratene Ente mit knuspriger Haut...« »Und ein Eisbecher...« »Und als Dessert ein Nußtörtchen...«
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Da fuhren wir schon die Hauptstraße entlang. Ich hatte nicht die Kraft, Jitka mit weiteren Einfällen zu übertrumpfen. Lieber bog ich in eine Seitenstraße ein, an der Ecke lag ein gutes Restaurant. »Schluß damit, wir kehren jetzt ein zum Abendessen!« Wir saßen über der Speisekarte. Der Kellner hatte sich in einen Winkel zurückgezogen. Jitka wählt sehr lange und läßt sich dabei nicht gern stören. Sie sagt immer: »Ich hab einen Hunger, daß ich ihn nicht für achtundfünfzig Kronen verkaufen würde!« »Erinnerst du dich«, flüsterte sie mir zu, »wie wir mal nicht genug Geld hatten und du in der Gaststätte zu mir sagtest: ›Was auf der Speisekarte steht, würde ich am liebsten von oben bis unten wegputzen!‹« Natürlich erinnerte ich mich. Jitka war im letzten Studienjahr, und ich hatte ein kleines Gehalt. Wir konnten uns nicht erlauben, sehr oft auszugehen. »Du sagtest nur immer wieder: Dann bestell es dir doch einmal, zum Donnerwetter! Was kann das schon kosten?‹ Und ich machte es wirklich. Aber alles schaffte ich nicht, zwei Gerichte ließ ich aus.« »Bis heute weiß ich nicht, ob du sie nicht geschafft hättest oder ob du nur sparen wolltest.« »Na ja, geschafft hätte ich es vielleicht, aber weißt du... Hunger hatte ich keinen mehr, und auf einmal schrak ich doch vor der Zeche zurück. Ich erinnere mich, wir haben gerade dringend etwas gebraucht.« »Geschirr. Wir hatten zu jener Zeit nur die allernotwendigsten Töpfe. Jetzt ist es schon egal, aber wenn du es wissen willst: Ich hab mir damals bei jedem Gericht, das dir der Kellner servierte, gesagt: Für das gäb's eine Pfanne, für das eine Kasserolle.« Auf einmal begann Jitka laut zu lachen. Der Kellner in der Ecke des Restaurants drehte sich pikiert zu ihr um. »Ich werde dir jetzt alles sagen. Als du die dritte Portion vor dir hattest, dachte ich: Jetzt frißt er gerade eine feuerfeste
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Bratpfanne...« Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und lachte ebenfalls laut. Der Kellner hielt es nicht mehr aus und trabte herbei. Endlich bestellten wir bei ihm unser Abendessen.
<3> Diese immer und ewig ironische und verdammt geradlinige Jitka! Es war mein größtes Glück im Leben, ihr zu begegnen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich mich mit jemand anderem besser verstehen könnte. Ich bin nicht besonders verträglich, aber auch sie ist nicht übertrieben nachsichtig. Dabei haben wir uns nie ernsthaft gestritten. Wie kommt das? Ich weiß es nicht. Als wir erst kurze Zeit beisammen waren und ich sie noch nicht so gut kannte wie heute, fragte ich sie an einem Samstag: »Was wollen wir morgen tun?« »Fahren wir doch ins Grüne«, schlug sie vor. »Wir können abends mit dem letzten Bus zurückkehren.« »Ja, aber ich müßte einen Artikel für die Zeitung abschließen. Es wäre vernünftiger, wenn ich mich dransetzte und schriebe.« Sie stand am Fenster und schaute hinaus auf die einzige krumme, staubige Robinie, die am Gehsteig unter unserer Wohnung wuchs. Sie drehte sich nicht um, als sie sagte: »Warum fragst du dann, was wir tun wollen? Sag doch geradeheraus, daß du einen Artikel schreiben mußt...« Es hätte gleichgültig klingen können, wie sie das sagte, aber ihre auf die Straße gerichteten Augen waren voll unausgesprochener Sehnsucht. Sie konnte stundenlang durch Wälder wandern, da störte sie kein Regen, kein Herbstnebel, nichts. Wenn ich eine wirklich dringende Arbeit hatte, mußte ich ihr das offen sagen, dann akzeptierte sie es ohne ein Wort. Aber ich erkannte immer mehr, daß es nichts so Wichtiges
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gab, um nicht wenigstens einen Tag in der Woche für einen Ausflug mit Jitka frei zu halten. Das brachte sie uns allen bei. Auch als die Kinder noch ganz klein waren, führten wir sie bei jedem Wetter in die Natur. Wie heute sehe ich jenen bewölkten Wintertag vor mir, als wir mit beiden Jungen unterwegs waren. Eva war noch nicht auf der Welt. Wir hatten einen weiten Weg hinter uns, es dämmerte schon und begann zu schneien. Der Ältere zog nur noch mühsam die Beine aus den Schneewehen, durch die wir stapften, der Jüngere konnte überhaupt nicht mehr. In einem solchen Augenblick schien in Jitka neue Kraft zu fahren, sie sprühte geradezu vor Energie. Wir packten den Jüngeren an den Armen und schleiften ihn bäuchlings über den Schnee. Seine Kombination war ganz naß, aber er lachte nur darüber und steckte damit den Älteren an, der auch kaum noch gehen konnte. Am Ende sangen wir alle ein munteres Lied und gelangten wohlbehalten zur Bushaltestelle. Wie alt waren damals unsere Kinder? Der eine drei und der andere fünf? Bestimmt nicht mehr. Später gestanden sie uns in einer schwachen Stunde, sie hätten sich bei uns immer wohl gefühlt. Sie waren nicht gerade anschmiegsam, aber es geschah auch nie, daß sie frech wurden oder etwas ertrotzen wollten. Jitka verkehrte mit ihnen mehr wie eine ältere Schwester. Vielleicht deshalb, weil sie zu Hause jüngere Geschwister gehabt hatte. Sie bemühte sich stets, unseren Kindern alles zu erklären, Schläge lehnte sie ab. Einmal wünschte sich unser kleiner Ondra etwas von uns, vielleicht einen Roller oder ein Dreirad, ich weiß es nicht mehr. »Wir haben kein Geld«, erklärte ihm die Mutter. »Wieso? Du kriegst es doch auf der Arbeit«, meinte der Junge. »Ja, da hast du recht. Aber was wir zuletzt gekriegt haben, ist schon verbraucht, und neues haben wir noch nicht.« »Dann geh hin, sie sollen dir neues geben.« »Das geht nicht. Gehalt gibt's erst nächste Woche.«
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»Und könntest du es dir nicht allein nehmen? Wo haben sie's denn? In einer Schublade? Wenn wir es brauchen, könntest du es dir doch nehmen!« Als Zeuge des Gesprächs mußte ich lachen. »Sieh an, wie fortschrittlich unser Sohn ist. Er ist von selber draufgekommen, daß jeder nach seinen Bedürfnissen kriegen soll.« Jitka jedoch lachte nicht. »Das ist so, Jungchen«, fuhr sie fort, »dort ist für jeden nur ein kleiner Haufen Geld. Wenn wir unseres bekommen, kaufen wir Vater einen Mantel, damit er nicht rumläuft wie ein Haderlump. Oder soll er vielleicht ohne Mantel gehen?« »Das weiß ich nicht, Jungchen«, erwiderte Ondra. Er nannte sie auch Jungchen oder Jitkalein. »Aber das Dreirad brauche ich.« »Gut«, darauf seine Mutter. »Dann kaufen wir dir ein Dreirad, und Vater wird ohne Mantel rumlaufen, denn mit diesem schäbigen Mantel, den er jetzt hat, müßte ihn ja jeder auslachen.« Ondra schwieg. Eine lächerliche Kopie von Jitka. Das Gesicht klein wie ein Fünfer, aber große, prüfende Augen. »Sollen sie doch lachen, ich würde nicht lachen!« sagte er dann. »Das ist nett von dir, aber trotzdem wäre ihm kalt.« Das war das stärkste Argument. Er sah mich an und wurde puterrot. »Und wann kaufst du es mir?« Er gab schließlich auf. »Wenn wir Geld übrig haben.« Das Söhnchen trollte sich. Ich lachte. »Du verstehst es aber auch, ihn einzuwickeln!« »Hm. Und wann, lieber Vater, kaufst du dir den Mantel?« attackierte sie mich. »Das hat wohl noch Zeit, der Sommer steht vor der Tür.« »So nicht«, sagte sie entschieden. »Ich bin doch kein Hampelmann. Ich habe Ondra gesagt: entweder das Dreirad für dich oder den Mantel für Vater!« Ich weiß nie, ob sie es ganz ernst meint. Aber sie tut so, als
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gäbe es gar keinen Zweifel. Übrigens - warum sollten wir nicht vor unserem kleinen Jungen Wort halten? Wir waren gewohnt, vor unseren Kindern über alles zu sprechen. Sie konnten hören, daß wir die Möbel abzuzahlen hatten oder daß es besser wäre, wenn die Tante jetzt nicht zu Besuch käme, weil wir uns gerade für einen Kongreß vorbereiteten. Soweit ich mich erinnern kann, haben sie uns nie vor jemandem schlechtgemacht, wie man das von kleinen Kindern hört. Sie redeten unbekümmert in alles hinein. Wenn die Wohnung gestrichen werden sollte, stritten sie sich mit uns über die Farbe. Jitka hörte sie an, und oft ging sie auf einen ihrer Vorschläge ein. Einmal hatten wir einen zitronengelben Korridor und eine Küche mit zwei orangefarbenen und zwei grünen Wänden. Wir sagten ihnen immer alles, was sie wissen wollten. Einmal fragte ich die Lehrerin nach Eva. Sie ging in die erste Klasse. Ihre Klassenlehrerin erzählte mir lachend ein kleines Vorkommnis. Sie hatte sich bemüht, den Kindern zu erklären, wo ein Baby ist, bevor es auf die Welt kommt. Sie dachte sich poetische Bilder aus: Die Mutter ist mit dem Kind verbunden wie der Stengel mit der Blüte. Unserer Tochter gefiel das nicht. Unzufrieden meldete sie sich. »Was für ein Stengel? Ich dachte, es ist die Nabelschnur!« Ich erzählte es Jitka, aber sie lachte nicht darüber. »Was soll das auch?« sagte sie. »Warum erzählt die Lehrerin den Kindern solche Geschichten? Eva hat mich dauernd danach gefragt, so hab ich es ihr im anatomischen Atlas gezeigt. Und siehst du, sie hat es genau begriffen. Wozu sollte man solche Dinge verzerrt darstellen? Ganz unnütz spukt es ihnen dann im Kopf herum.« Einmal fielen auf einer Elternversammlung alle über Jitka her, einmütig, als hätten sie sich vorher verabredet. Unsere Tochter wisse für ihr Alter zu viel und belehre auch ihre Kinder. Jitka wollte das nicht in den Kopf. Eine Mutter berichtete, Eva sei neulich mit ihr gegangen, als sie ihre Tochter von
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der Schule abholte. Sie habe von allem möglichen gesprochen und zum Schluß gefragt: »Können Sie mir nicht sagen, ob Marat in der Badewanne oder im Bett ermordet wurde?« »Wo hast du davon gehört?« entsetzte sich die Dame. »Ich hab's im Lexikon gelesen!« Jitka prustete laut los, weil sie es sich lebhaft vorstellen konnte. Eva stieß nämlich zu dieser Zeit noch mit der Zunge an. Aber die anderen Eltern lachten nicht. Sie meinten, ein so kleines Kind dürfe doch nicht jedes beliebige Buch in die Hände kriegen! »Warum nicht?« protestierte Jitka. »Wenigstens lernt es früher lesen! Wir haben in unserem Bücherschrank nichts, was ein Kind verderben könnte. Schlimmstenfalls wird es das Buch nicht verstehen.« Kann sein, diese Mütter und Väter hielten uns für Sonderlinge, allerdings hatten wir weder mit den Jungen noch mit Eva größere Probleme. Alles machten sie mit uns zusammen. Jitka jagte sie niemals weg oder belehrte sie, wie gut oder schlecht etwas auch gelang. Ich erinnere mich, wie sie Brot zum Abendessen schnitten, die eine Scheibe dick, die andere dünn. Ein andermal kochten sie für uns alle Grießbrei. Er war furchtbar pappig, voller Klumpen, aber Jitka tat, als wäre nichts dabei, lobte sie sogar, weil sie es sich zugetraut hatten. Sie saßen da, die Ohren rot vor Scham, denn ihnen schmeckte der Brei natürlich auch nicht, aber am Ende beruhigten sie sich, und alle verspeisten wir ihn wie einen Leckerbissen. Alles lernten sie selbst. Oft kamen wir erst spätabends heim. Dann hatten sie den Tisch gedeckt und warteten mit dem Abendessen auf uns. Niemals stritten sie sich um ein besseres Stück Braten oder ein Spielzeug, von klein auf nahmen sie Rücksicht aufeinander. Ich weiß nicht, wie Jitka das geschafft hat. Vielleicht gerade, weil sie sie immer als Gleichberechtigte behandelte. Nach diesen kleinen Vorfällen könnte es scheinen, Jitka sei zu streng zu ihnen gewesen. Nein, sie konnte auch ausgelas-
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sen sein, voller Schabernack, aber auch voll Zärtlichkeit. Sie hatte oft die eigenwilligsten Namen für die Kinder. »Du mein Diamantchen, mein Mispelchen!« »Dynamitchen, Mistelchen«, revanchierte sich Ondra, der die Bedeutung mancher Wörter noch nicht kannte. Wenn wir im Freien waren, spielte sie mit ihnen auf der Wiese Fangen, sie machten Handstand und Überschlag. Oft wunderte ich mich, daß sie dazu noch Lust und Kraft hatte. Zu Hause leistete sie eine Menge Arbeit, sie mußte doch müde sein. In den Ferien nach dem ersten Schuljahr wurde Milan von einer Kreuzotter gebissen. Jitka war mit den Kindern allein, der nächste Arzt wohnte drei oder vier Kilometer entfernt. Eva war erst ein paar Monate, Ondra vier Jahre alt. Als erstes saugte sie die Wunde aus, obwohl ihr Gaumen blutete. Dann band sie Milans Bein oberhalb des Knöchels ab. Sie setzte Ondra an Evas Bettchen und schärfte ihm ein, er dürfe sich von dem Schwesterlein nicht wegrühren. Wenn Eva Hunger habe, solle er ihr die Flasche mit Milch geben. Und wenn er hungrig sei, solle er sich auch Milch mit einer Semmel nehmen. Dann machte sie sich mit Milan auf den Weg. Eine Weile trug sie ihn, dann mußte er selber gehen. Sie sagte ihm, er müsse vom Doktor eine Spritze bekommen. »Ich weiß«, bemerkte der Junge sachlich. »Wenn ich keine Spritze kriege, sterbe ich. Das haben wir in der Schule gelernt.« Voller Bangen verfolgte sie die Uhrzeiger. Zwischendurch legte sie immer wieder einen Spurt ein. Sie vermutete zu Recht, daß sie sich ebenfalls infiziert hatte. Ihr Kopf begann furchtbar zu schmerzen. Milan jammerte, der abgebundene Fuß kribbelte und schwoll an. Wieder versuchte sie ihn zu tragen. Dann wurde ihr schwarz vor den Augen. Zum Glück waren sie da schon auf der Landstraße. Ein Lastauto fuhr vorbei und lud sie auf. In der Arztpraxis trafen
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sie nur die Schwester an. Jitka konnte ihr noch anordnen, zuerst Milan und dann ihr eine Spritze mit Serum zu verabreichen. Sie erklärte ihr auch, daß sie an einer Allergie leide. Sie werde Antihistaminika und Kalzium brauchen. Danach erlitt sie einen Kollaps. Die Schwester machte alles laut Jitkas Anweisung, dann erst rief sie den Doktor an. Dieser nahm sich vor allem Jitkas an. Er fragte Milan, ob ihm die Mutti die Wunde ausgesaugt habe. Dabei deutete er an, daß sich die Mutti ebenfalls vergiftet habe und ihr Zustand bedrohlich sei. Nach einer Stunde war Jitka wieder auf den Beinen. Sie wollte sofort zu Fuß nach Hause gehen, die beiden anderen Kinder waren schon so lange allein. Der Arzt erlaubte es ihr nicht. Er brachte sie mit seinem Auto zu der Hütte, in der sie wohnten. Ondra hatte inzwischen brav seine Semmel verspeist und ein Töpfchen Milch getrunken. Er hatte auch Eva gefüttert und ihr die Windel gewechselt. Er verstand es zwar nicht sonderlich gut, aber sie lag trocken. Als Jitka dann Milan schlafen legte, fand sie in seiner Hosentasche Streichhölzer. Sie fragte ihn, woher er sie habe. Er gestand, er habe sie in der Arztpraxis an sich genommen, weil er gefürchtet habe die Mutti müsse seinetwegen sterben. Dann hätte er die Köpfchen abgerieben und sie aufgegessen. Wir selber hatten ihm einmal erklärt, man dürfe Streichhölzer nicht in den Mund stekken, weil sie giftig seien. »Was ist dir da eingefallen!« entsetzte sich Jitka. »Wenn du gestorben wärst, wollte ich auch sterben.« So waren unsere Kinder. Und doch hatten uns beide Söhne sehr enttäuscht. Sie erklärten nämlich einhellig, sie würden nicht Medizin studieren. Es war in dem Jahr, da Milan sein Abitur ablegte. Das hatten wir nicht erwartet. Wir hatten sie sogar schon im Scherz auf Fachgebiete verteilt: Milan ist geschickter, er ist mehr für die Chirurgie geeignet, Ondra wird sich auf die Neurologie verlegen.
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Statt dessen brachte der Ältere die Anmeldung fürs Technikum nach Hause. »Ich weiß, ihr werdet ärgerlich sein, aber bemüht euch, es zu begreifen, mich interessieren Maschinen. Der Mathelehrer rät es mir auch, er meint, das schaffe ich.« Ich ging in die Luft: »Der Mathelehrer! Seit wann läßt du dich vom Mathelehrer beraten? Immer hatten wir gedacht...« Er machte ein unglückliches Gesicht, unterbrach mich aber: »Es ist mir doch klar, was ihr gedacht habt, Vati! Nur reizt mich eure Medizin nicht. Ich hab sie nämlich zu sehr aus der Nähe gesehen und weiß, was sie einbringt...« »Was sie einbringt!« rief ich empört. Ich konnte mich nicht beherrschen, obwohl Jitka mir flehende Blicke zuwarf. »Sei doch nicht gleich beleidigt«, erwiderte Milan. »Dauernd müßt ihr um jemanden kämpfen, und dabei stirbt euch so häufig einer unter den Händen weg. Das würde mich deprimieren, kurz und gut, ich eigne mich nicht dafür.« Ondra hatte sich inzwischen zurückgehalten, aber als der ältere Bruder zu Ende war, schüttelte er die blonde Tolle. »Ihr wolltet immer alles offen und ehrlich hören. Ich will also gleich für uns beide sprechen. Früher waren wir auch ganz versessen auf die Medizin. Aber dann haben wir in der Schule und auch sonst überall gehört, daß sie für euch eine Mission sei, der ihr euer Leben geweiht hättet und so! Da sagten wir uns, wir könnten neben euch sowieso keinen Ruhm ernten. Wir wollen nicht nur die Kinder eines berühmten Vaters sein!« »Ondra, du willst auch nicht Medizin studieren?« »Nein, Vati! Ihr arbeitet auch an den Abenden und an den Sonn- und Feiertagen, wie oft holen euch die Leute zur unmöglichsten Zeit aus den Betten! Beide seid ihr doch davon schon ganz erledigt.« »Seit wann stört euch das?« fragte ich ironisch. »Vati, viel hatten wir nicht von euch«, schloß sich Milan seinem Bruder an. »In anderen Familien setzt man sich
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zusammen und hört sich Schallplatten an, aber du mußt notfalls aus der Wanne steigen und ins Spital fahren. Wenn das wenigstens jemals einer schätzen würde...« »Meinst du, daß das keiner schätzt?« fragte Jitka, auch schon ein bißchen aufgebracht. »Aber, ihr lacht doch selber drüber! Die Leute haben keine Ahnung, was euch das kostet. Sie stecken euch eine Flasche oder einen Umschlag zu und denken, damit sind sie quitt. Wie oft hat das Vater richtig angekotzt...« »Oder wenn sie von euch sagen: goldene Hände, goldene Hände«, setzte Ondra mit einem Grinsen hinzu. »Und die Artikel in den Zeitungen, auf die ihr schimpft, weil sie aufgebauscht sind!« Wir waren ganz starr ob dieser Eröffnungen. Wir entschlossen uns jedoch, sie zu nichts zu zwingen. Jitka erfaßte das mit zwei Sätzen. »Das ging für uns aus wies Hornberger Schießen«, sagte sie. »Zu guter Letzt sind wir für sie ein abschrekkendes Beispiel.« Mich aber ärgerte es lange. Nur ungern schickte ich mich drein. Ich dachte, es würde sie vielleicht packen, wenn sie erst mit dem Studium anfingen. Als Milan aufs Technikum gegangen war, hoffte ich, wenigstens Ondra würde seine Meinung ändern. Offenbar spürte er das. Er begann demonstrativ Bücher über alte Denkmäler nach Hause zu schleppen, trat in einen Interessenzirkel ein. Ich sah, daß er von seinem Vorhaben nicht abstehen würde. Am Ende mußte ich mich damit abfinden. Wir waren froh, wenigstens für Eva ein gewisses Vorbild zu sein. Es zeigte sich allerdings, daß wir uns auch darin täuschten. Die Tochter wählte nicht uns zuliebe die Medizin. Sie lernte noch vor dem Abitur einen jungen Arzt kennen. Sie heiratete ihn, und nach der Promotion schlug sie seine Fachrichtung ein. Ja, die Kinder haben ihren eigenen Weg gewählt, und vielleicht hatten sie recht. Jitka und ich, wir lebten von einem
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Tag auf den anderen, in unablässiger Hast. Manchmal fanden wir wochenlang nicht die Zeit, ins Theater oder Konzert zu gehen, wir schafften es nicht einmal, uns abends hinzusetzen und in Ruhe zu plaudern. Wenn wir zufällig gezwungen waren, in Gesellschaft zu gehen, kamen wir uns vor wie Fledermäuse, die jemand aus ihrer Höhle ans helle Tageslicht gezerrt hat. In dieser Zeit lud uns einmal Růžička zu sich ein. Er feierte seine Dozentur. Ich selber stand vor der Professur, und es war bekannt, daß ich die Klinik übernehmen würde. Niemals hatten wir einander besucht, diese Einladung verwunderte mich. Jitka hatte wohl recht mit der Vermutung, sie hinge mit meiner bevorstehenden Ernennung zusammen. Jedenfalls blieb uns dieser Besuch für lange Zeit im Gedächtnis. Wir hatten angenommen, bei Růžička einige Kollegen aus der Klinik zu treffen und dort eine ähnliche, eher studentische Atmosphäre vorzufinden, wie sie bei uns zu Hause herrschte. Wir trafen etwas verspätet ein, weil ich an diesem Tage lange operiert hatte und wir unmittelbar aus der Klinik kamen. Mit Staunen erblickten wir eine große, luxuriöse Wohnung. Einige Gäste, die wir überhaupt nicht kannten, hatten sich schon eingefunden, aber wir merkten sogleich, in was für eine Gesellschaft wir geraten waren. Die Hausfrau selbst öffnete uns. Růžička trug einen schwarzen Anzug und seine Gattin Abendtoilette. Im ersten Augenblick war ich wütend. Warum, zum Donnerwetter, hat er mich nicht darauf hingewiesen: Wir hätten uns doch besser anziehen - oder noch lieber zu Hause bleiben können. Vielleicht hatte er gerade das befürchtet. Ich erinnere mich, daß sich einer der Gäste als bildender Künstler bezeichnete, seinen Namen hatte ich zwar nie gehört, aber er benahm sich sehr aufgeblasen. Frau Růžičková duzte sich mit ihm. Einige Male betonte sie während des Abends, daß sie selbst Kunstgeschichte studiere. Die beiden anderen Herren sahen ganz normal aus, aber ich hatte mir
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mit ihnen nichts zu sagen. Den ganzen Abend mußten sie mit etwas auftrumpfen. Entweder waren es die Vorzüge eines Autos oder eine neue Anschaffung für ihre Wohnung. Lange unterhielten sie sich über Rennpferde, offenbar besuchte der Gastgeber mit ihnen die Rennbahn in Chuchle. Ihre Frauen waren dumme, mondäne Damen. Eine zum Beispiel lachte ständig auf eine komische glukkernde Art, als ob in einem Topf kochendes Wasser brodelt. Sie sprach fast überhaupt nicht, es genügte jedoch, sie anzusprechen, und schon wand sie sich in diesem albernen, unbegreiflichen- Lachen. Die andere hingegen redete unablässig, aber mich ärgerte der joviale Ton, mit dem sie die anderen ständig zu korrigieren trachtete: ›Jungs, hört doch schon auf mit dem ernsten Gerede, Männer, ein bißchen Musik, die Damen langweilen sich.‹« Einmal wandte sie sich direkt an mich. »Mein Lieber, könnten Sie mir nachschenken? Eine Schande, daß man selber darum bitten muß!« Jitka riß die Augen auf, aber sie hielt sich zurück. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich sie hierhergeschleppt hatte. In ihrem einfachen Kostüm und mit den kurzgeschnittenen Haaren mußte sie sich unter ihnen vorkommen wie eine arme Verwandte. Das Abendessen war sehr festlich. Růžička thronte mit seiner Frau an der Stirnseite der Tafel. Sie nannten einander »Miki«. »Miki, könntest du noch ein bißchen Eis bringen?« »Miki, würdest du mir das Glas reichen?« In einem solchen Augenblick hütete ich mich, Jitka anzuschauen. Ich wußte, sie biß sich auf die Lippen, und ich fürchtete, sie würde gleich anfangen zu lachen. Auf dem Tisch prangten altes Silberbesteck und Porzellan. Ich überlegte, warum Růžička mich unbedingt dabeihaben wollte. Stets sprach er mich mit Herr Professor an, und gelegentlich erwähnte er die Klinik, um mich ins Gespräch zu ziehen. Schließlich ging mir ein Licht auf. Er
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erwartete, daß ich einen Trinkspruch auf seine Dozentur ausbringen würde. Selbstverständlich tat ich es, wenn auch recht leger. Wir waren solche Förmlichkeiten nicht gewöhnt. Als ich endete, stand Růžička auf und antwortete mir in einer langen Rede, die er offenbar vorbereitet hatte. Er ging sogar so weit, den Anwesenden das Wesentliche seiner Habilitationsarbeit zu erklären. Alle schauten ihn ehrfürchtig an, obwohl sie von den fachlichen Dingen gar nichts verstehen konnten. Die Gattin des bildenden Künstlers, die ich noch nicht erwähnt habe, bemerkte immer wieder halblaut: »Das ist ein Köpfchen, das ist ein Köpfchen!« Sie hatte platinblonde Haare und spielte in dieser Gesellschaft die Intellektuelle. Ihr Ausschnitt reichte fast bis zur Taille. Am Ende bedankte sich Růžička in aller Form bei seiner Frau, daß sie so geduldig die »schwere Periode der wissenschaftlichen Arbeit« mit ihm ertragen habe. Ich warf Jitka einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Wir dachten beide, sie dürfte sich in dieser schweren Periode wohl kaum mit ihrem Gatten zu Hause gelangweilt haben. Aber auch nicht deshalb erinnere ich mich so genau an diesen im Grunde bedeutungslosen Besuch. Das Wichtigste war, daß Jitka sich dort nicht wohl in ihrer Haut fühlte. Zum erstenmal sahen wir bei einem Kollegen eine luxuriöse Wohnung. Růžičkas Speisezimmer war mit Stilmöbeln und einem Kristallüster ausgestattet. Der Hausherr hatte in seinem Arbeitszimmer exklusive Möbel und einen mit Schnitzereien verzierten alten Schreibtisch. Überall, auch in der Diele, lagen kostbare Teppiche. Überwältigt betrachtete sie alles. Ihre Augen waren scheu und zweimal so groß wie sonst. Wir hatten uns vorgestellt, daß die anderen Ärzte ähnlich wohnten wie wir, aber war das wirklich so? Ihre Wohnungen hatten wir noch nicht gesehen. Nach dem Abendessen forderte die Hausherrin die anderen
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Damen auf, ihr nach nebenan in den Salon zu folgen, wo ein Likör gereicht werde. Diese Seance führte Jitka mir später mit Kostproben vor. Zunächst schilderte man ihr die verschiedensten körperlichen Beschwerden, worüber wir uns immer lustig machen: »Das wird Sie furchtbar interessieren, Frau Doktor, aber von Zeit zu Zeit rauscht es in meinen Ohren, und zugleich sticht es hier links. Ich spüre ein inneres Zittern, und mir tut das Kleinhirn weh.« Und so weiter, bis zur völligen Erschöpfung des zuhörenden Arztes. Jitka hatte sie wohl nicht befriedigt, denn sie begannen sich bald über alles mögliche zu unterhalten. Die lachende Dame schwieg nicht mehr. Sie sprach weitschweifig über modische Frisuren: Jetzt kämme man die Haare nach oben. Und behauptete, sie täte das schon seit zwei Jahren. Daraus konnte man ableiten, daß einfach niemand ihr gleichkam. Eine andere Dame hielt allen die gepflegten Fingernägel vor die Augen und pries den Nagellack einer Weltmarke in den höchsten Tönen. »Er ist phantastisch!« wiederholte einige Male die Dame mit der Hochfrisur. »Sie haben vollendete Hände, vollendete!« Und sie fügte hingerissen hinzu: »Eine echte Dame erkennt man an den Händen. Einzig und allein an den Händen!« Jitka zog die ihren unauffällig vom Couchtisch. Ihre leicht knabenhaften Finger endeten mit den kleinen Bögen der Nägel, die sie nie mit Lack verschönerte. Wir trugen auch keine Eheringe, denn wievielmal am Tage muß ein Arzt sich die Hände waschen! Die hochfrisierte Dame bemerkte Jitkas Manöver. Sie setzte allem die Krone auf. »Sie, meine Teure, betrifft das natürlich nicht. Sie müssen Ihre Hände den ganzen Tag in allen möglichen Unrat tunken. Dafür hätte ich nicht den Magen. Aber dennoch bewundere ich Sie maßlos!« Nein, damit war der Abend noch lange nicht beendet. Sie schalteten den Plattenspieler ein und begannen zu tanzen. Immer noch stellte ich mir die Frage, warum Růžička gerade
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mich hergelockt hatte. Ich fand eine einzige Antwort: Er wollte mit dem künftigen Klinikchef glänzen. Aus diesem Grund hofierte er auch Jitka. Er forderte sie zum Tanz auf und tat, als machte er ihr den Hof. Jitka und ich, wir tanzten immer gern, obwohl wir dazu schon lange keine Gelegenheit hatten. Aber hier kamen wir überhaupt nicht zueinander. Es gehörte offenbar zum guten Ton, daß die Damen ausgetauscht wurden. Ich drehte mich mit ihnen auf dem gebohnerten Parkett, an das die Hausherrin bestimmt nicht Hand angelegt hatte, und sagte mir: Das ist die, die ihre Haare hochfrisiert, die da nennt mich Liebster, diese bewundert Růžičkas Intellekt (»das ist ein Köpfchen, das ist ein Köpfchen«). Ich kam mir vor wie in einem Panoptikum, und da kannte ich noch nicht die Geschichte mit Jitkas Händen! Am Ende bemächtigte sich meiner Růžičkas Frau. Ich bemerkte, daß sie um den Hals echte Perlen hatte, und lobte sie dafür, nur um etwas zu sägen. Sie verriet mir, ihr Mann habe sie ihr gekauft, als Entschädigung, weil er sie wegen der Dozentur vernachlässigt habe. Während ich überlegte, woher er das Geld dazu haben konnte, tadelte sie mich im Scherz, wo ich meine Augen hätte? Die Halskette war wirklich lang und endete tief im Ausschnitt. Verlegen wehrte ich ab, für einen Arzt sei das kein so seltener Anblick. Doppelsinnig lächelte sie. Sie wisse ohnehin, daß jeder Arzt ein Zyniker und Lüstling sei. Dann drückte sie sich fester an mich, als der Anstand erlaubte. Dabei redete sie Kraut und Rüben durcheinander,. Sie fing sogar an, mir plump zu schmeicheln. Ich sei ein großartiger Mann und hätte eine große Zukunft vor mir. Ich bemühte mich, auf Abstand zu gehen, sie hatte einen kleinen Schwips und hatte sich nicht mehr ganz unter Kontrolle, aber sie ließ mich nicht los. Was wird Jitka davon halten, dachte ich besorgt. Sie saß in einer Ecke mit dem bildenden Künstler zusammen. Er versuchte ihr unentwegt ein Glas Kognak aufzuzwingen, aber sie starrte zu Boden und schüt-
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telte hartnäckig den Kopf. Frau Růžičková schlug eine andere Saite an. Ich müsse öfter zu ihnen kommen. Allen ihren Freundinnen gefiele ich sehr. Nur eins könnten sie nicht begreifen. Sie dämpfte die Stimme und flüsterte mir wie ein Geständnis ins Ohr: Ich sollte neben mir jemanden haben, der zu repräsentieren verstünde. Meine Frau sei sicherlich sehr tüchtig, aber eben doch nur... »Sie brauchten eine Frau, die Sie zu zerstreuen versteht. Die immer schön und adrett ist, nicht von der Arbeit ausgelaugt. Haben Sie es wirklich nötig, daß Ihre Frau Geld verdient?« Das war eine ungeheuerliche Frechheit. Ich entgegnete schroff: »Meine Frau arbeitet, weil es ihr gefällt. Sie sähe keinen Sinn darin, zu Hause zu bleiben.« Sie wollte mich nicht verstehen. »Es gibt schöne und jüngere Frauen, die mit Freuden alles stehen- und liegenließen, um neben Ihnen zu leben.« »Sehen Sie«, erwiderte ich lachend und schaute sie absichtlich von oben herab an, »und gerade das würde mich furchtbar langweilen.« »Das glaube ich nicht. Wenn es eine Frau wäre, die wirklich Charme hat...« In peinlicher Weise preßte sie sich an mich und sah mir vielsagend in die Augen. Ohne Umstände zog ich mich zurück. »Sie irren sich, das würde ich überhaupt nicht schätzen. Und was meine Frau betrifft: Sie werden sich vielleicht darüber wundern, aber wir beide sind von Anfang an bis zum heutigen Tag und auch in alle Zukunft miteinander glücklich. Niemand könnte sie ersetzen, das weiß ich mit Sicherheit.« Das traf sie bereits. Ich weiß, solche Sachen sagt man vielleicht nicht laut, aber mir schien es ein Verrat an Jitka, wenn ich geschwiegen hätte. Die Růžičková hielt mitten im Tanz inne, unter dem Vorwand, wir sollten vielleicht etwas trinken. Wir setzten uns zu den anderen. Sie tat, als hätte ich ihr die ganze Zeit den Hof gemacht. Mir hingen alle hier schon zum
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Halse heraus. Ich nutzte die erste Gelegenheit, um mich zu verabschieden. Nach Hause gingen wir zu Fuß, wir hatten es nicht weit. Jitka war zuerst sehr gehemmt und gab entgegen ihrer Gewohnheit keinerlei Kommentar ab. Dann aber sah sie mich schuldbewußt an. »Ich hätte was Besseres anziehen sollen, ich kam mir neben ihnen unmöglich vor...« »Unsinn«, sagte ich zerstreut: Ich war verstimmt, das Benehmen von Růžičkas Frau kam mir mit dem Abstand immer beleidigender vor. Jitka legte sich meine Verärgerung auf ihre Art aus. Sie trottete neben mir und stieß mit dem Fuß ein Steinchen vor sich her. »Vielleicht sollte man sich wirklich mehr Zeit für sich gönnen. Hast du bemerkt, wie sie alle angezogen waren? Und diese Frisuren!« »Ja. Hauptsächlich die, die ihre Haare toupiert. Mich würde interessieren, ob sie zu Hause selber die Kartoffeln schält oder ob sie eine Hausgehilfin hat wie die Růžičkas.« »Möglicherweise schält sie sie selber«, sagte Jitka ganz unglücklich. »Vielleicht schafft sie es. Bestimmt haben sie eine bessere Wohnung als wir. Du denkst ohnehin, ich könnte auch mehr schaffen...« Ich blieb stehen und faßte sie um die Schultern. »Jitka, diese mondänen Gänse werden dir doch keine Komplexe eingeflößt haben?« Sie schwieg. Stand vor mir mit gesenktem Kopf. Ich hob ihr Kinn an. Aus den Wimpern rannen zwei dicke Tränen. »Ich hatte beinahe erwartet, daß sich dir eine von ihnen auf den Schoß setzt.« Ich bemühte mich zu scherzen. »Und das hättest du mir nicht gegönnt?« Ihre Mundwinkel verzogen sich kläglich. Sie gab keine Antwort. Ich rüttelte sie. »Was ist mit dir, ich bitte dich!«
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»Ich weiß schon, was sie alle gedacht haben. Daß du eine andere Frau brauchtest als mich...« Mir krampfte sich das Herz zusammen. Ich verfluchte den Augenblick, da ich Růžičkas Einladung angenommen hatte. Ich wischte ihr die Tränen aus den Augen. »Also hör zu«, sagte ich. »Alle, die dort waren, können mir gestohlen bleiben, mitsamt Růžička. Und das weißt du genau! Was sollte ich auch mit seiner zickigen Frau anfangen?« »Was fängt man mit Frauen an?« »Aber dazu brauche ich sie nicht, weil ich dich habe.« »Und wozu hast du mich noch?« »Du bist mein Kamerad, und das könnte keine von ihnen sein.« Endlich beruhigte sie sich. Wir nahmen uns an den Händen und gingen weiter. »Wenn du wenigstens so ein Arbeitszimmer hättest«, fing sie mit einem Seufzer wieder an. »Du hättest dir mehr verdient als dieser eitle Poseur.« »Ich will kein eigenes Arbeitszimmer, mir genügt, was ich habe. Wenn wir an den Abenden noch arbeiten müssen, ist es mir lieber, wir sind dabei zusammen. Dir nicht?« »Ja, aber Růžička ist besser dran. Er hat mehr Zeit.« »Und du hast nicht das Recht auf mehr Zeit, Jitka?« Sie schwieg. Ich dachte an all die Jahre, die wir beisammen waren. Zu Hause half uns niemand, alles mußten wir allein machen. Aber mein Anteil an dieser Arbeit war stets geringer, um vieles geringer. Jitka schonte vor allem meine Zeit. Wie könnte ich das je vergessen. Sie schüttelte als erste an diesem Abend die Verstimmung ab. Begann den bildenden Künstler zu karikieren, der sich als Kunstkenner gebärdete und mit der Pfeife im Mund Binsenweisheiten verzapfte. Sie ahmte die blasierten Bewegungen der Dame mit dem phantastischen Nagellack nach und fühlte meisterhaft ‚die kichernde Dame vor. »Sollte ich mir nicht auch die Haare hochfrisieren?« drängte
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sie mich ausgelassen. Ich fuhr ihr mit den Fingern in die Haare, und sie tat es mir nach. Wir fingen an, uns auf der nächtlichen Straße zu jagen. Dann packte ich sie, und eine Weile schmiegten wir uns aneinander. Ich erinnere mich sogar, daß ein Betrunkener an uns vorbeitorkelte und uns mit lallender Stimme zurief: »Habt ihr denn... habt ihr denn, ihr guten Leute, kein anderes Plätzchen zum Schmusen? Ach, tut ihr mir aber leid!« »Wir haben eins!« rief ihm Jitka lachend hinterher. Wir nahmen uns wieder an den Händen und rannten nach Hause wie zwei ausgelassene Kinder. Ich weiß, es ist vielleicht nicht normal. Tochter und Söhne waren schon erwachsen, und wir führten uns manchmal auf, als wären wir gerade aus dem Hörsaal geflüchtet. Das kam wohl daher, weil wir unser ganzes Leben stets als ein Provisorium betrachtet hatten. Ständig hatten wir brandeilige Termine, bereiteten Artikel oder Bücher vor, arbeiteten Skripten um, und ich weiß nicht, was noch. Wie oft hatten wir uns schön gesagt: Das machen wir noch fertig, und dann fangen wir an, anders zu leben! Wir versprachen den Kindern, mit ihnen ans Meer zu fahren, aber am Ende hielten wir unser Versprechen nie. Die Kinder hatten sich inzwischen selbständig gemacht. Zuerst schickten wir sie in Ferienlager der Schule, dann fuhren sie gemeinsam an die böhmischen Seen, und schließlich gelangten sie auch ins Ausland. Sie waren an der Ostsee, reisten nach Rumänien und dann auch in den Kaukasus. Nach und nach statteten sie sich für diese Ferienreisen gut aus. Überall fanden sie Freunde. Einmal überredeten sie uns, auch endlich richtig Urlaub zu machen, und so fuhren wir an die See. Es ist schon eine Reihe von Jahren her, aber ich glaube, es ist der Erinnerung wert. Wir entschieden uns für Jugoslawien. Jitka war noch nie dort, und ich wünschte schon lange, ihr die Orte zu zeigen, die ich während meiner Studienzeit
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besucht hatte. Damals studierte mit uns ein Jugoslawe, ein lustiger Bursche, der gut Tschechisch konnte. Wir verabredeten mit ihm, eine Studentenreise zu organisieren. Zur Teilnahme meldete sich jedoch nur eine kleine Zahl von Studenten, den Rest bildeten einige Lehrerinnen und andere, die für eine Privatreise nicht genug Geld hatten. Wir fuhren tief in den Süden, zuerst nach Cavtat und dann noch nach Budva. Die Fahrt mit der Schmalspurbahn nach Dubrovnik war sehr schön. Weiter ging es dann mit dem Dampfer. Ich hatte ständig die herrliche Felsenküste bei Cavtat vor Augen. Damals gab es dort wenig Touristen, nur ein einziges kleines Hotel, in dem ein Teil der Reisegruppe wohnte, die übrigen hatten wir privat untergebracht. Stanko Petrovic hatte alles ausgehandelt, er feilschte für uns auf dem Markt, wie es damals dort Brauch war. Dank seiner Hilfe wurde diese Reise ein voller Erfolg. Jitka war schon durch meine Erzählungen neugierig auf diese Landschaft. Wir hatten bereits die Reiseunterlagen beisammen, doch wegen dringender Arbeit an der Klinik mußten wir die Abreise immer wieder verschieben. Die Kinder hatten beschlossen, uns für die Reise auszurüsten. Sie überzeugten uns, daß wir ein Zelt mitnehmen sollten, behaupteten, im Hotel werde es uns nicht gefallen. Sie legten für uns alles bis in die kleinsten Details zurecht: Zelt, Schlafsäcke, Decken, Geschirr und Bestecke. »Wenn ihr die Sachen nicht benutzt, macht das auch nichts«, sagten sie. »In den Wagen paßt alles rein, ihr seid ja nur zu zweit. Aber wenn ihr sie nicht mithättet, könnten sie euch fehlen.« Wir mußten lachen, sie führten sich auf wie erfahrene Weltenbummler. Sie stapelten die Sachen auf einen Haufen und fuhren in die Ferien, weil gerade der Sommer begann. Und genau um diese Zeit kehrte Vyskočil aus dem Urlaub zurück. Er war ebenfalls mit seiner Gattin in Jugoslawien gewesen und hatte sich dafür einen neuen, komplett ausge-
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statteten Wohnanhänger angeschafft. Als er erfuhr, wohin wir wollten, bot er mir sogleich seinen Anhänger an. Zunächst lehnte ich ab. Ich könne damit nicht fahren, fürchtete, etwas zu beschädigen. Übrigens seien wir schon ausgerüstet, es werde auch damit gut gehen. Aber Vyskočil ließ nicht mit sich reden. Er ging sogar zu Jitka und versuchte, sie zu überzeugen. »Sie werden von niemandem abhängig sein«, beteuerte er. »In Jugoslawien gibt es schöne Campingplätze. Sie können sich ans Stromnetz anschließen, man stellt einem dort sogar Kühlschränke zur Verfügung. Es ist ungemein bequem.« Jitka schwankte als erste. »Na, und wenn wir's versuchten? Es hat vielleicht doch was für sich. Das Zelt ist sehr klein, und jeden Tag ins Hotel zurückzukehren wird uns wirklich nicht gefallen...« Die Vyskočils freuten sich mächtig, daß wir ihr Angebot überhaupt erwogen. Sie gaben uns eine Menge Prospekte, zeichneten auf der Karte ein, wo man mit dem Wohnwagen gut kampieren könne. Ich weiß selber nicht, warum sie uns geradezu dazu zwingen wollten. Wir saßen mit ihnen beisammen, und bei einem Glas Kognak redeten sie auf uns ein, »Mit einem kleinen Zelt könnten Sie da nicht hin. Dort sind viele Ausländer, alle haben komfortabel ausgestattete große Zelte mit einem Schutzdach fürs Auto, Campingtische und stuhle... Sie in Ihrer Position können doch nicht...« Nein, sie waren wirklich keine Snobs, die beiden Vyskočils. Damals kamen Wohnanhänger in Mode, und sie waren begeistert, wie gut es damit geklappt hatte. Und das wollten sie auch uns gönnen. Sie zeigten uns, wie man mit allem umging. Es gab eine komplette Küche mit Propangasherd und einer Waschecke, bequeme Klappbetten, sogar mit Nachtlämpchen, eine kleine Bar und selbstverständlich alles Geschirr, einschließlich eines Fleischwolfs. Wir brauchten nur noch die Badeanzüge und Bademäntel einzupacken und loszufahren.
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Wir übernahmen die Schlüssel, hörten uns die letzten Ratschläge an. Die Manipulation mit dem Wohnwagen war einfach, dazu brauchten wir niemanden. Wir einigten uns, daß wir ihn einfach am zweiten oder dritten Tage darauf in aller Frühe in ihrem Garten ankoppeln sollten. Ich erinnere mich bis heute, wie wir damals von den Vyskočils nach Hause gingen. Jetzt fing ich an, die Vorzüge einer solchen Reise zu preisen. Das würde sehr bequem sein, die vielen Taschen und anderes Gepäck könnten wegfallen. Und wir wohnten hygienisch. Die Vyskočils meinten, es sei überall sauber. Aber wir würden auch beweglicher sein. Wenn es uns an einem Ort nicht mehr gefällt, spannen wir das Auto vor, und ab geht's. Nichts einfacher als das. »Dessen bin ich mir nicht so sicher«, fiel mir Jitka zum erstenmal in den Rücken. »Gibt man uns zum Beispiel nur einen kleinen Aufstellplatz, wer weiß, wie wir den Wohnwagen da hineinmanövrieren. Dann werden wir eine Ewigkeit montieren, und ein paar Tage danach fängt's von neuem an...« Ich schaute sie an. Die Stirn war sorgenvoll gefurcht, die Augen ratlos. »Das ist doch kein Problem. Wir lassen das Auto in der Nähe, so daß wir jederzeit losfahren können...« Sie ging mit gesenktem Kopf neben mir. »Du hast recht. Vielleicht kriegt man einen Platz am Rande des Campinglagers. Andernfalls müßten wir uns ja vorkommen wie in einer Bungalowsiedlung.« »Vyskočil hat doch gesagt, sie seien bis ans Ufer gefahren. Vor sich hatten sie das weite Meer.« »Ich weiß, aber am Tage war der Strand voller Menschen, das hat wieder sie mir gesagt.« »Wir können uns Fische kaufen und sie in der Pfanne braten, was meinst du?« Da klang meine Stimme schon unnatürlich gepreßt. »Wir kaufen uns auf dem Markt Fische und kochen eine Suppe.« »In dem Anhänger?« fragte mich Jitka mit einem so nieder-
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geschlagenen Ausdruck im Gesicht, daß ich lieber nicht hinschaute. Und dann fügte sie hinzu: »Erinnerst du dich, wie wir an der Lužnice Fischsuppe gekocht haben? Wie uns jemand zwei Fische geschenkt hat und wir ein Feuer entfacht und einen Kessel drübergehängt haben...«, »Daran erinnere ich mich sehr gut«, sagte ich, schon ein bißchen verärgert. »Du hast noch studiert, und wir hatten nur einen Rucksack mit einer Decke mit. Aber jetzt hat dir Vyskočil einen Wohnwagen angeboten, und du hast darüber gejubelt. Wir würden wie die Krösusse fahren und Fische auf einem Propankocher braten.« »Na ja«, ließ sie sich nach einer Weile traurig vernehmen, »dir macht es auch schon keinen Spaß mehr, nicht wahr? Ich weiß selbe? nicht, was mich da gepackt hat.« »Selbstverständlich können wir nun schwerlich absagen.« Das brachte ich heraus wie eine Steißgeburt. Jetzt würde sie das beleidigen. Unser Zelt hat eben doch auch etwas für sich, was meinst du?« »Besonders wenn man nur zu zweit fährt.« Jitka lebte richtig auf. »Wenn es regnet, kann man auch im Auto schlafen, falls wir nicht im Hotel ein Bad nehmen und uns in Ordnung bringen wollen. Wenn es heiß ist, kannst du das Zelt irgendwo auf einer Wiese aufschlagen, und fertig...« »Hör mal, das ist wirklich schon...« Sie tat, als hätte sie nicht gehört. »Fische braten sie dir auch beim Fischer, du hast mir selber erzählt, wie ihr damals hingegangen seid. Es brauchte ja nicht auf offenem Feuer zu sein. Aber in einem Wohnwagen? Und ihr habt euch doch Wein in die Flasche füllen lassen und Feigen direkt vom Baum gekauft. Wozu brauchen wir eigentlich eine Küchenecke?« »Aber was werden wir den Vyskočils sagen?« »Weißt du was - wir schreiben ihnen einen Brief. Entschuldigen uns, irgendwie werden wir's ihnen schon erklären.« »Vielleicht begreifen sie es. Wir schreiben ihnen, wir wollten lieber über jene Orte reisen, die ich kenne, und müßten
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beweglich sein. Oder unser Auto sei eben doch schon recht alt und würde den Anhänger nur schwer ziehen...« Wir erwärmten uns immer mehr an diesem Gedanken. Den ganzen Heimweg dachten wir uns aus, was wir alles zur Entschuldigung vorbringen könnten. Zu Hause packten wir rasch die Sachen zusammen, die uns die Kinder bereitgelegt hatten. Im Nu waren wir damit fertig. Am Morgen schrieben wir einen Zettel: »Seid uns nicht böse, aber wir fahren doch lieber ohne Wohnwagen. Eure...« Den Zettel steckten wir ans Fenster des komfortabel eingerichteten fahrbaren Häuschens und verdufteten wie Lausbuben aus dem Garten. Damit war jedoch diese Geschichte nicht zu Ende. Es wurde ein schöner Urlaub, auch wenn alles anders aussah, als ich mir vorgestellt hatte. Cavtat konnte ich nicht wiedererkennen. Heute war es ein Badeort mit Hotels und Erholungsheimen, wo ich mich nur schwer zurechtfand. Am liebsten wäre ich sofort weitergefahren, aber Jitka zwang mich, zu parken und den Strand mit den Palmen und der Schenke zu suchen, an die ich so lebendige Erinnerungen bewahrte. Wir fanden sie noch und auch den Weg zu den Felsklippen. Es war allerdings kein Pfad mehr zwischen Felsblöcken und gelb blühendem Gesträuch, sondern ein ausgebauter Weg, der über den Felshang und zwischen Pinienhainen hindurch führte. Jitka behauptete, ihr gefalle es auch so. Sie überredete mich, wenigstens eine Nacht in der Nähe zu verweilen. Ein paar Kilometer von hier sei ein Campingplatz, wir sollten es doch dort versuchen und könnten sehen, wie wir mit dem Wohnanhänger zurechtgekommen wären. Abends kehren wir dann an die Küste zurück, bestimmt wird dort noch alles so sein wie damals. Wir fuhren also auf den Zeltplatz, und das war das erste und das letzte Mal während der ganzen Reise. Man teilte uns wirklich nur ein winziges Plätzchen für Zelt und Auto zu. Wir mußten, um hinzugelangen, einen Slalom zwischen Wohnwagen und kunstvollen Leinwandbehausungen fahren.
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Unser »Grundstück« grenzte an der einen Seite an den riesigen Wohnwagen einer westdeutschen Familie. Sie hatten ihre Grenze mit einer Reihe flacher Steine markiert und auf der uns zugewandten Seite sogar zwei Pfähle eingerammt,. zwischen denen eine Leine gespannt war. Vor dem Wagen mit Veranda standen ein großer Sonnenschirm, ein Eßtisch und Stühle. In der Nähe war ein Grill aufgestellt und eine Feuerstelle hergerichtet. Auf der anderen Seite kampierten Österreicher. Diese hatten nur einen kleinen Wohnanhänger und ein Zeltdach fürs Auto. Sie schienen erst unlängst gekommen zu sein, denn neben einem Schlauchboot lag der noch nicht anmontierte Motor. Wir ließen das Auto am Weg stehen und begannen unser eigenes Zelt aufzuschlagen, das die Kinder als Luxusklasse bezeichnet hatten. Da würden gut und gern drei Personen hineinpassen, obzwar es eigentlich nur für zwei gedacht sei. Wir stellen es auf, sagten wir uns, und dann gehen wir baden. Den ganzen Abend können wir am Strand bleiben. Wir waren rasch fertig. Unser Zelt sah neben dem Wohnwagen der Nachbarn wie ein Kinderspielzeug aus. Wir kamen uns vor wie Hirten auf freiem Feld, die zwischen zwei Stangen eine Leine gespannt und eine Decke darübergeworfen haben. Ich muß gestehen, ich war ein bißchen verlegen. Jitka lachte mich aus. »Recht geschieht dir«, sagte sie. »Du pfeifst auf die Repräsentation deines eigenen Volkes. Übrigens haben es die Vyskočils vorausgesagt. Jetzt werden wir ihnen sagen müssen: ›Ihr hattet recht, die Blamage war komplett!‹« »Mir ist das Wurscht«, sagte ich unsicher. »Übrigens -falls es dir nicht gefällt, können wir künftig mit Čedok fahren, oder wir kaufen uns auch einen Anhänger, damit du dich nicht zu schämen brauchst.« »Ich?« wunderte sich Jitka. »Mir gefällt's doch gerade so!« Aus dem deutschen »Territorium« kam ein rothaariger Jüngling. In den Händen trug er eine Tauchausrüstung. Er pfiff
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sich ein Lied. Als er unser Zelt entdeckte, stutzte er und verstummte. Ursprünglich wollte er ans Wasser, aber nun überlegte er es sich und kehrte in sein Appartement zurück. Nach einer Weile kam er mit einem zweiten jungen Mann wieder, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah, nur etwas jünger war. Sie gingen mit starren Gesichtern an uns vorbei, doch nach einigen Schritten prusteten sie los. Sie mochten um die sechzehn, siebzehn sein. Jitka hat Sinn für Humor. Sie trat ein Stückchen zurück und beschaute sich unser Werk näher. Sie wollte wohl unser Zeltchen mit den Augen dieser beiden aufgeblasenen Jüngelchen betrachten. Mit einem Male zeigte sie zum Zaun und begann laut zu lachen. Dort stand ein genauso ärmliches, kleines Dach aus grüner Zeltbahn, wie wir es besaßen. Daneben parkte ein uraltes Auto. Dem Kennzeichen nach aus Dänemark. Wir badeten bis zum Dunkelwerden. Die anderen waren schon längst gegangen, und am Himmel erschien der große Mond. »Siehst du, da ist er«, sagte Jitka lachend. »Du hast behauptet, hier sei immer Vollmond gewesen.« »Ich behaupte, du bist das widerwärtigste Weib, das ich kenne. Machst dich über einen berühmten Chirurgen lustig.« »Der auf einem internationalen Campingplatz schläft wie ein Penner!« »Und dem das völlig schnurz ist!« Wir schwammen in den warmen, uns wiegenden Wellen und bespritzten einander. Vom Ufer drang der würzige Pinienduft bis hierher. Ich war froh, daß wir nicht weitergefahren waren. Zum Abendessen kehrten wir in der kleinen Schenke ein, an die ich so viele Erinnerungen bewahrte. Wir bekamen gebratene Fische und Rotwein. Der Besitzer sah genauso aus wie vor Jahren. Auf dem Kopf trug er die gleiche rote Mütze, und unter der Nase hatte er einen Schnurrbart. Aber er konnte es nicht sein, solches Wunder wirkt die Zeit eben doch nicht. Als wir zahlten, fragte ich ihn, wie lange er
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schon hier sei. Zuerst verstand er mich nicht, doch dann erklärte er mir mit Hilfe temperamentvoller Gesten, er sei hier geboren. Diese Schenke habe vor ihm sein Vater und vor diesem der Großvater besessen. Wir fühlten uns wunderbar. Als wir auf dem Campingplatz einfuhren, fürchteten wir schon, wir würden unser Zelt im Dunklen gar nicht finden. Die Furcht war unbegründet, alle zehn Meter leuchtete am Weg eine große Laterne. Die Leute schliefen noch lange nicht. Sie saßen im Freien bei ihren Kofferradios, und durch die Zeltgassen zog beißender Rauch, gemischt mit dem Duft von gegrilltem Fleisch. Darin lag jedoch nichts Romantisches. Die Deutschen neben uns waren alle noch draußen. Die beiden Jungen hatten ein Schachbrett zwischen sich. Als wir uns näherten, begannen sie bedeutungsvoll zu hüsteln. Der kleine, ältere Dicke im Sessel warf ihnen einen tadelnden Blick zu. An dem dänischen Zelt bewegten sich undeutliche Schatten. Bevor wir uns selber zum Schlafen fertigmachten, schlüpften sie in ihr Zelt. Vorher knipsten sie die schwache Taschenlampe aus, die draußen am Zelt befestigt war. Aber der Zwischenfall, dessentwegen ich von dieser Reise erzähle, ereignete sich erst am nächsten Tag nach dem Mittag. An den Morgen erinnere ich mich nicht mehr. Nur matt kann ich mir noch die blendende Weiße der Felsklippen und die glühende Hitze vorstellen, die uns zur Regungslosigkeit erstarren ließ. Wir schliefen viel, weil es in dem Zeltstädtchen bis spät in der Nacht zugegangen war wie auf einem Jahrmarkt. Dann und wann jagten wir einander ins Wasser, denn wir fürchteten, uns sonst einen Sonnenbrand zu holen. »Ein paar Meter von unserem Liegeplatz war eine Klippe, die in eine kleine Plattform auslief. Von ihr konnte man ins Wasser springen, doch das schien mir gefährlich. Die Tiefe unter dem Felsen war nicht gleichmäßig, und die Plattform lag recht hoch. Ich sprang einmal, dann hatte ich keine Lust mehr, ich hatte ein komisches Gefühl, weil ich den Raum
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unter mir nicht abschätzen konnte. Jitka redete ich es ganz aus. Den Einheimischen schien das Springen nicht zu riskant zu sein. Dauernd kletterte jemand nach oben, zumeist kleine Jungen. Unter ihnen einer, der kaum zehn Jahre alt war. Sie hüpften wie die Frösche ins Wasser, und so sahen sie auch aus, wenn sie in den durchsichtig blauen Fluten schwammen. Gegen zehn Uhr waren die Steine um uns so erhitzt, daß man nicht mehr mit bloßen Füßen darauftreten konnte. Wir entschlossen uns, länger im Wasser zu bleiben. Wir bekamen Durst. Nach dem Beispiel aus der Zeit meiner Studentenreise hatten wir eine Flasche Rotwein mitgenommen, die wir uns vom Wirt der Schenke hatten füllen lassen. Wir kühlten sie in einer Rinne zwischen den Klippen, wo das Wasser nicht so warm war, aber auch das half nicht viel. Wir tranken auf einen Zug mehr als die Hälfte, doch der Durst verging nicht. Dafür fühlten wir uns ungemein leicht. Zuerst schwammen wir ein weites Stück hinaus, und dann legten wir uns auf den Rücken und ließen uns von den langen, ruhigen Wellen tragen, was die heitere, gelöste Stimmung nach dem Weingenuß noch erhöhte. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir es im Wasser aushielten. Als wir langsam zu unseren Klippen zurückschwammen, erblickten wir oben auf der Plattform die beiden jungen Burschen aus dem benachbarten Wohnwagen. Wir hätten sie auf die Weite gar nicht erkannt, aber ihre Schöpfe flammten in der Sonne wie Signalfeuer. Die Zahl der Badenden hatte abgenommen. Vor der Mittagsglut hatten sich besonders die Einheimischen in den Schatten zurückgezogen. Wir sahen keinen einzigen dieser braungebrannten, schwarzhaarigen Kerlchen, die jene Felsklippe vorher okkupiert hatten. In der Bucht, am Rande der Klippe, tauchten Sonnenschirme auf. Wir bemerkten einige Familien von unserem Campingplatz, die es sich auf Liegestühlen inmitten von Kühltaschen
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und anderem Gepäck bequem gemacht hatten. Gleich am Ufer, auf dem bescheidensten Platz, lagerte eine einheimische Familie mit drei Kindern. Sie saßen im Halbkreis auf dem blanken Stein und aßen Feigen und Brot. Die beiden Burschen aus dem Wohnwagen standen oben auf der Klippe. Drei gebräunte Halbwüchsige kletterten hoch zu ihnen und stürzten sich, ohne zu zaudern, ins Meer. Die jungen Deutschen beobachteten sie neiderfüllt. Auf einmal entdeckten sie uns, wir näherten uns dem Ufer. Offenbar wollten sie sich vor uns produzieren. Der eine trat vor an den Rand der Plattform, und nach kurzem Zögern machte er einen Kopfsprung und verschwand im Wasser. Der andere hob unschlüssig die Arme über den Kopf. Sein Bruder tauchte aus dem Wasser auf und winkte aufmunternd nach oben. Ich bin kein großer Sportsmann, aber als der Junge sich jetzt zum Sprung anschickte, erkannte ich, daß er es nicht schaffen würde. Schon seine Körperhaltung war verkrampft, er stand völlig steif da, beugte sich nicht vor. Obendrein hatte er ganz offensichtlich Angst. Ich fühlte, daß ich etwas tun sollte, ihn warnen, aber ich hatte kaum die Hand aus dem Wasser gehoben, da fiel der Junge schon herunter. Ja, das war kein Sprung, er fiel kopfüber herunter wie eine Puppe. Dadurch blieb er wohl zu nahe am Rande. Jeder, der bislang gesprungen war, wußte, daß er sich vom Felsen abstoßen mußte, denn die nötige Tiefe begann erst weiter weg von der Klippe. Der junge Dalmatiner, der mit seiner Familie am Ufer saß, dachte das gleiche wie ich. Der Junge war noch nicht ins Wasser eingetaucht, da sprang er schon auf und hastete über die Steine an die Stelle, wo der Deutsche im Wasser verschwunden und noch nicht wieder aufgetaucht war. Sein Bruder kreiste. angstvoll langsam um den im Wasser Verschwundenen. Bevor ich näher kam, tauchte der flinke Einheimische schon und zog den jungen Burschen herauf. Da war ich auch bei ihnen, faßte den leblosen Körper mit an,
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und gemeinsam schleppten wir ihn ans Ufer. Von allen Seiten liefen die Leute zusammen. Der Vater, unser dicklicher Campingnachbar, lief ratlos umher und erklärte jedem, was passiert war. Wir legten den jungen Mann auf den Sand. Er war bewußtlos. Wir bemühten uns, das Wasser aus seinen Atemwegen herauszukriegen. Das gelang uns leidlich. Ich entdeckte auf seinem Kopf eine Platzwunde, er mußte auf einen scharfkantigen Stein geprallt sein. Sein Gesicht war totenblaß. Es kam zum Atemstillstand. Jitka und ich begannen mit künstlicher Beatmung. Der Atem kam wieder, doch der Puls blieb schwach und verlor sich zeitweilig. Zu Bewußtsein kam er nicht. Die Mutter brach in hysterisches Geschrei aus und rief nach einem Arzt. Die Leute um uns versuchten auf verschiedene Art zu helfen, einer schob ihm einen zusammengeklappten Stuhl unter den Kopf, ein anderer rieb ihn mit einem Handtuch. Der Dalmatiner wollte ihm sogar einen Schluck Raki einflößen. Wir hielten sie zurück, so gut wir konnten. Dann kam er etwas zu sich, begann zu jammern. Die Eltern vertrauten uns immer noch nicht, obwohl wir uns als Ärzte vorgestellt hatten. Sie wollten den Sohn ins nächste Hotel schaffen. Wir wiederholten, daß der Junge ins Krankenhaus müsse. Er könnte einen Wirbelbruch oder eine Schädelfraktur davongetragen haben. Unfachmännische Behandlung könnte seinen Zustand nur verschlimmern. Unglücklich schauten sie uns an und schwiegen. Als erster begriff der Dalmatiner. Ein Krankenwagen komme nicht bis hierher, solle er vielleicht ein Boot besorgen? Ja, das wäre das beste. Er lief los, um sein Glück zu versuchen. Inzwischen erschien ein älterer Herr mit Brille. Es zeigte sich, daß es der hiesige praktische Arzt war, er hielt sich zufällig auch am Strand auf. Souverän begann er den Verunglückten zu untersuchen. Hörte das Herz ab, fühlte den Puls. Als er ihn zum Sitzen aufrichten wollte, um die Lunge abzuhorchen, konnte ich nicht mehr untätig zuschau-
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en. »Bewegen Sie ihn lieber nicht«, sagte ich auf englisch. »Er kann Brüche haben.« Er reagierte unwirsch, hatte mich wohl nicht verstanden. In der Schar der Umstehenden war ein junger Jugoslawe, der alles mitgehört hatte. Er trat an uns heran und übersetzte meine Worte. Er machte den alten Herrn darauf aufmerksam, daß ich ebenfalls Arzt sei. Ich wiederholte noch einmal meinen Namen und teilte ihm mit, daß ich eine neurologische Klinik leite. In diesem Augenblick verwandelte sich der alte Herr in einen höflichen Kollegen. Er gestand sogar, daß er in der Traumatologie nicht beschlagen sei. Der Zustand des Verletzten begann sich unterdes zu verschlimmern. Noch vor einer Weile hatte er gleich weite Pupillen, aber jetzt war die linke deutlich größer. In der Hand und im Fuß zeigten sich zeitweise Krämpfe. Jitka und ich schauten einander an: Es war klar, eine Gehirnblutung! »Das ist ein subdurales Hämatom«, sagte ich, »er muß noch heute operiert werden.« Der junge Mann übersetzte. Zugleich teilte er mir mit, daß er Medizinstudent sei und gerade in Dubrovnik sein Praktikum habe. Nur dort könne man eine Trepanopunktion machen. Er fügte allerdings gleich hinzu, daß im Sommer manchmal junge Ärzte Dienst täten, die darin keine Erfahrung hätten. Er bat mich mitzufahren, vielleicht würden sie meine Hilfe brauchen. Der Deutsche und seine Frau hatten offenbar noch nicht begriffen, wie ernst die Sache war. Ihnen mißfiel, daß der Sohn auf der blanken Erde lag, sie bemühten sich, eine Dekke und Polster unter ihn zu schieben. Vergeblich versuchte ich es ihnen auszureden. Der Medizinstudent mischte sich wieder ein. Er konnte nicht nur englisch, sondern sprach auch leidlich deutsch. Energisch wandte er sich den beiden zu und nannte ihnen meine Wirkungsstätte. Er fügte hinzu, das sei ein großes Glück, weil ihr Sohn operiert werden müßte und gerade ich dafür
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Fachmann sei. Sie sollten sich allem fügen, was ich anordnete. Danach respektierten sie mich. Unweit von uns legte ein Motorboot an. Wir hoben den jungen Mann auf einen Liegestuhl und trugen ihn ins Boot. Ich setzte mich zu ihm, gemeinsam mit dem hiesigen Arzt und dem Medizinstudenten. Der Vater des Verletzten sollte uns mit dem Auto folgen. Unterwegs brachte er seinen zweiten Sohn und die Gattin in den Wohnwagen, die Frau konnte kaum gehen, sie war am Rande eines hysterischen Anfalls. In der Chirurgie trafen wir wirklich nur zwei sehr junge Ärzte an. Der ältere Kollege, der am Telefon dienstbereit zu sein hatte, lag mit Fieber und Darmbeschwerden im Bett. Wir kamen überein, zum Stellvertreter des Direktors zu gehen. Er war ein ebenfalls noch junger Gynäkologe, der sofort begriff, worum es ging. Mit Freuden stimmte er zu, daß ich den Deutschen operierte. Einer der Stationsärzte war geschickt und klug, das Fach betrieb er allerdings kaum drei Jahre. Der zweite, ein auffälliger Schönling, wollte sich nicht einmal an die Anästhesie wagen. Es blieb nichts anderes übrig, als daß Jitka die Narkose überwachte. Die Bewußtlosigkeit hatte sich vertieft, die Blutung hatte sich ziemlich schnell verstärkt. Zum Glück war ein Röntgenologe da, mit dem wir eine Angiographie durchführten. Der Herd wurde dadurch bestätigt. Die Aufnahmen zeigten auch einen Schädelbruch, aber das hatte an und für sich nichts zu sagen, es würde bei dem jungen Menschen gut heilen. Der Chirurg, der mir assistierte, sprach sehr gut englisch. Zum Glück hatte auch eine fähige Operationsschwester Dienst. Ich suchte mit ihr zusammen alle Instrumente aus, die ich brauchte. Das Krankenhaus war gut ausgestattet, hier hätte man auch eine komplizierte Gehirnoperation durchführen können: Während der Patient vorbereitet wurde, begrüßte uns der Chefarzt der Inneren, der vor kurzem in Prag an einem Kon-
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greß teilgenommen hatte. Nach einer Weile erschien auch der Stellvertreter des Direktors. Beide baten mich, beim Eingriff zuschauen zu dürfen. Sie kannten erstaunlicherweise meinen Namen und verhielten sich mir und Jitka gegenüber sehr zuvorkommend. Der alte praktische Arzt aus Cavtat, der uns begleitet hatte, bemühte sich inzwischen, den aufgeregten Vater zu beruhigen. Als wir an ihm vorbei ins Inspektionszimmer gingen, wo die Schwestern für uns Kaffee bereitgestellt hatten, saß er im Sessel, den Kopf in den Händen, und weinte. Der Kollege hatte ihm offenbar nicht viel Trost spenden können. Er stand gestikulierend über ihm und bemühte sich, in gebrochenem Deutsch zu erklären, was mit seinem Sohn geschehen würde. Wir wuschen uns. Der junge Assistent rief Jitka und mich erst dann herein, als der Patient mit gesäubertem und kahlgeschorenem Schädel im Operationskittel auf dem Tisch lag. Die Narkose überwachten am Ende drei: der zweite Chirurg, Jitka und der Gynäkologe. Der Medizinstudent übernahm die Aufsicht über die Schwester und den Sanitäter. Er übersetzte ihnen meine Forderungen und half ihnen. Dennoch war die Situation nicht ideal. Ich hatte gewöhnlich einen tadellos laufenden Bohrer. Dieser hier war massiver, ich kam mir mit ihm schwerfällig vor. Offensichtlich drückte der Erguß auf den motorischen Bereich. Der Kranke hatte jetzt auch Zuckungen in den oberen und unteren Extremitäten. Ich machte eine Bohrung im Stirnbein und führte versuchsweise die Nadel ein. Gleich beim ersten Mal zog ich mit der Spritze flüssiges Blut heraus. Ich wußte nach der Angiographie, daß es ein relativ großes, flaches Hämatom war. Ich saugte noch einmal ab und noch einmal, aber das Blut schien nicht abnehmen zu wollen. Ich fürchtete schon, der Sinus sei eingerissen. Zum Glück bestätigte es sich nicht. Schließlich beseitigten wir alles Blut, eine Weile tamponierten ~wir die Trepanationsöffnung, bis nichts mehr durchsickerte.
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Jitka meldete mir, daß Blutdruck und Puls einwandfrei seien und der Kranke bereits unruhig zu werden beginne. Wir verstärkten die Narkose, die tiefe Bewußtlosigkeit war offenbar dank unserem Eingriff zurückgegangen. Mein junger Assistent arbeitete vorbildlich mit. Er stillte die Blutung mit dem Elektrokauter und übernahm schließlich geschickt das oberflächliche Nähen. Wir waren fertig. Der zweite Chirurg, der bisher nur zugeschaut hatte, wies den Sanitäter an, den Wagen zu bringen. Er half wenigstens, die Infusionssets abzuklemmen und die Narkosemaske zu entfernen. Wir konnten uns die Kittel und Handschuhe ausziehen. Die Operationsschwester sah mich mit einem Blick voller Bewunderung an, der bei jungen Frauen so angenehm ist. Sie bemühte sich, mir in ihrer Muttersprache zu sagen, wie gut es sich gearbeitet habe. Der stellvertretende Direktor bedankte sich so überschwenglich, daß es mich fast peinlich berührte. Der Medizinstudent war begeistert. Er hatte mich schließlich hergebracht. Wir verfaßten dann das Operationsprotokoll, den Patienten stellten wir inzwischen im Vorbereitungsraum vor dem Saal ab. Ich übersetzte mit dem Studenten meine Sätze und tippte sie in die Maschine. Dann unterschrieben wir alle. Die Ärzte wollten uns gar nicht weglassen. Einer lud uns zu sich in die Wohnung ein, ein anderer wollte mit uns in die Stadt zum Abendessen fahren. Auch die Schwestern hätten uns gern auf ihrer Station bewirtet. Wir versprachen vage, ein andermal vorbeizukommen, schließlich hätten ja doch alle zu tun. Wir kehrten zu dem Jungen zurück. Er atmete ruhig und tief. Als ich ihm mit der flachen Hand auf die Wangen klopfte, schlug er die Augen auf und sah mich benommen an. Ich hob seine Arme in die Hohe und befahl ihm auf deutsch, sie oben zu halten. Er schaffte es, in beiden hatte er die gleiche Kraft. Jitka besorgte einen Reflexhammer und eine Taschenlampe. Noch einmal untersuchte sie ihn, Symptome eines Herdes zeigten sich nicht mehr.
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Ich hatte ein angenehmes Gefühl, auch wenn es ein gängiger Eingriff war, wie ich sie in meinem Leben schon oft durchgeführt hatte. Wichtig war, daß wir diesen Unfall miterlebt hatten, sonst hätte es der Junge kaum überlebt. Wieviel derartige Fälle gibt es, wo man den Erguß nicht rechtzeitig erkennt und deshalb auch nicht operiert! Sonderbarerweise hatten uns gerade die beiden rothaarigen Brüder ausgelacht. Wofür hatten sie uns wohl gehalten? Für arme Schlucker, die sich neben ihren Luxuswagen bescheiden ducken mußten? Wir traten auf den Flur. Uns folgte der Sanitäter mit dem Patienten. Der Vater stand in der Nähe, er zitterte am ganzen Leibe. »Sie können sich ihn anschauen«, sagte ich auf deutsch zu ihm. »Versuchen Sie, ihn anzusprechen!« »Klaus... ich bin da... schau mich an...«, stammelte er. Der junge Mann schlug wirklich wieder die Augen auf. Er bemühte sich zu lächeln, offenbar hatte er den Vater erkannt. Dem Dicken knickten die Beine ein. Er sank in einen Sessel und brach wieder in Tränen aus. Der Medizinstudent griff sehr richtig ein. Er fuhr den zusammengebrochenen Papa scharf an. »Warum heulen Sie, alles ist in Ordnung! Der Herr Professor aus Prag hat ihn gerettet. Sie sollten sich lieber bei ihm bedanken!« Das wirkte. Der Vater war im Nu auf den Beinen. Er stürzte auf mich zu. »Natürlich, hätte ich fast vergessen... Sagen Sie mir, was ich Ihnen schuldig bin, ich gebe Ihnen, was Sie wollen...« »Mir sind Sie nichts schuldig«, erwiderte ich mit Nachdruck. »Mit dem Krankenhaus müssen Sie sich einigen, hier haben Sie den Herrn Direktor. Zu fürchten brauchen Sie nichts mehr. Ihr Sohn hat es überstanden...« Er sah mich mit verschleierten Augen an, als begreife er nichts. Dann faßte er mich am Ärmel. »Aber nein! So lasse ich Sie nicht fort. Nehmen Sie meinen
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Wagen, wenn Sie wollen. Oder den Wohnanhänger, wie es Ihnen beliebt...« Jitka neben mir verzog angestrengt den Mund, um nicht laut loszuprusten. Sie wußte, daß ich mir die Antwort nicht verkneifen würde. »Danke, ein Auto haben wir. Und den Anhänger haben wir absichtlich zu Hause gelassen, wir reisen lieber so...« Entschuldigend lächelte ich meiner Frau zu, auch um mich zu versichern, wie sie sich verhielt. Die ironischen Fünkchen in ihren Augen verbrannten mich geradezu. Hast es halt doch nicht über dich gebracht, sagten sie. Vor so einem Angeber mußtest du noch mehr angeben und obendrein in einem Augenblick, da er völlig am Boden liegt. Er wollte sich nicht abwimmeln lassen. »Geben Sie mir wenigstens Ihre Adresse, ich muß mich doch erkenntlich zeigen, wo Sie so viel für uns getan haben...« Wir nahmen Reißaus. Der Chefarzt von der Inneren brachte uns zurück auf den Campingplatz, er begriff, daß wir Ruhe brauchten. Ein paar Leute beguckten uns von weitem, aber niemand fragte nach etwas. Der Wohnwagen nebenan war verlassen. Die Österreicher sagten uns, die Mutter sei mit dem anderen Sohn vor einer Weile ins Krankenhaus gefahren. Wir begannen ohne ein Wort zu packen. Wir mußten verschwinden, bevor die deutsche Familie wieder da war, und entschlossen uns, weiter südwärts nach Budva zu fahren. Vorher kehrten wir noch in der Schenke ein und ließen uns ein paar Lebensmittel einpacken. Die Deutschen konnten nicht vor ein, zwei Stunden zurückkehren. Dann fuhren wir auf die Landstraße. Auf einem schönen Parkplatz, von dem aus sich ein wunderbarer Blick aufs Meer bot, parkten wir den Wagen. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich glitzernd auf der Wasserfläche, die Sonne stand schon ziemlich niedrig. Fern am Horizont kräuselten sich die weißen Kämme der Wellen und wiegten sich Segelboote. Wir rochen den Duft der Kiefern, in dem sich der Desinfektionsgeruch, der
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uns noch anhing, aufzulösen schien. Uns war wunderbar zumute. Wir wollten gerade wieder starten, als wir in der Ferne den Ford unserer Nachbarn erblickten. Zum Glück standen wir ein großes Stück hinter der Abzweigung zum Campingplatz, so daß sie uns nicht entdeckten. Wir schauten ihnen nach, wie sie zum Meer hinunterfuhren und die Richtung zu ihrem Lagerplatz einschlugen. Jetzt steigen sie gleich aus und schauen sich nach unserem Zelt um. Was werden sie dazu sagen, daß wir uns französisch empfohlen hatten? Wir hatten uns zu früh gefreut. Plötzlich bemerkten wir, daß der Ford wieder den Küstenhang hinaufklomm. Wir fuhren auf die Landstraße. Aber was werden sie tun? Sollen wir mit ihnen Haschen spielen wie kleine Kinder? Weil sie uns nicht antrafen, mußten sie annehmen, daß wir weiter nach Süden gefahren waren. In diesem Fall würden sie uns zweifellos einholen. Ich wollte gerade noch mehr Gas geben, da bemerkte ich vor mir eine Abzweigung. Sie führte den Hang hoch zu einigen Ferienhäusern. Rasch bog ich ab und hielt. Nach ein, zwei Minuten sah ich im Rückspiegel den vorbeirauschenden Wagen unserer Nachbarn, die in der Tat in Richtung Budva steuerten. Was jetzt? Ich wollte ihnen wirklich nicht mehr begegnen. Uns war es peinlich, ihre Danksagungen oder gar Entschuldigungen entgegenzunehmen. Jitka hatte eine vortreffliche Idee. Wir nahmen die Badesachen, ließen das Auto stehen, wo es stand und stiegen vorsichtig hinab zum Meer. Wir fanden zwischen schwer zugänglichen Klippen eine kleine Bucht, wo weit und breit niemand zu sehen war. Dort aalten wir uns in der Sonne und badeten bis Sonnenuntergang. Als wir hoch zur Landstraße krabbelten, sahen wir zwischen den Bäumen hindurch den Ford wieder auf seinem Platz stehen. Wir hatten gewonnen. Dann fuhren wir weiter nach Süden und schlugen in einem kleinen Pinienhain unser Lager auf, wo es so viele Zikaden gab, daß wir bei ihrem Zirpen kaum in den Schlaf fanden.
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<4> Míťa operierten wir in den ersten Maitagen jenes Frühlings, als die Kirschbäume so ungewöhnlich früh geblüht hatten. Vor der Operation suchte ich ihn täglich für eine Weile auf, aber ich achtete darauf, daß er mir nicht zu Ende erzählen konnte, was er mir bei der ersten Begegnung nur angedeutet hatte - sein Verhältnis zu Jitka. Einmal traf ich seine Gattin bei ihm. Taktvoll stand sie auf und wollte auf den Flur gehen, doch ich bewog sie, bei uns sitzen zu bleiben. Man sah ihr an, daß sie große Angst um Míťa hatte. Dennoch wahrte sie eine sonderbare Zurückhaltung, ihr kam es gar nicht in den Sinn, mich nach ihrem Mann zu fragen, sie legte nicht Fürbitte für ihn ein, wie das in den Familien der Kranken gewöhnlich der Fall ist. Ob Míťa ihr vielleicht von Jitka erzählt hatte? Dieser Gedanke kam mir am Tage der Operation wieder. Ich war schon am Morgen im Saal. Auf dem Flur vor dem Eingang zur Station stand Jitka mit Míťas Frau. Jitka sprach sehr herzlich auf sie ein, lächelte ihr zu, offenbar um sie zu beruhigen. Míťas Frau schaute sie schweigend, nicht ohne Voreingenommenheit an. Ich bin kein großer Psychologe, aber das war der Situation nicht angemessen. In ihrem Ausdruck lag Mißtrauen, wenn nicht gar eine Spur von weiblichem Haß, ich weiß nicht! Ich nahm meine Frau mit in den Saal, von den Neurologen war sie heute die einzige. Wir wuschen uns für die Operation, außer uns noch Krtek und Frau Hladká, beim Eingriff würde auch Zelený zugegen sein, er hatte Interesse dafür. Ich fühlte mich nicht allzu wohl in meiner Haut. Jitka spürte das und bemühte sich, mir ungezwungen etwas zu erzählen, aber ich nahm es ihr nicht ab. Schon hatten wir die Masken um, ich sah nichts als ihre Augen, doch das genügte. Sie sahen aus wie aufgescheuchte Irrlichter. Am Abend vorher hatte ich mit dem Dozenten Krtek unser gesamtes Vorgehen noch einmal durchgesprochen. Wir
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hatten uns geeinigt, zunächst das zuführende Aneurysma zu liquidieren, das offenbar das Gefäßgebilde ernährte. Dann mußte man den Stamm der Malformation isolieren und abbinden. Davor fürchtete ich mich am meisten. Míťa war in einem Alter, da die Gefäße längst nicht mehr so elastisch sind. Jeder Chirurg weiß, was eine spröde Arterie anstellen kann, die man mit einer Ligatur abdrosseln muß. Ich konnte lange nicht einschlafen. Das ist zwar vor jeder schweren Operation normal, aber diesmal mischten sich selbst in meine Träume alle möglichen Komplikationen: Míťa mit einem geplatzten Aneurysma. Míťa mit Atemstillstand, eine Malformation, deren zahllose Ausläufer in das umliegende Gewebe gewuchert sind und die dem Skalpell trotzt wie ein unüberwindbarer Krake. Dies alles hatte ich jetzt schon abreagiert. In den Saal dürfen mich nicht Unruhe oder gar Furcht begleiten, das würde die anderen anstecken. Die Maske über dem Mund ist wie eine gute Theatermaske, es genügt, mit den Augen zu grüßen, mit den Augen zu lächeln. Dann ist es auch leichter, die Spannung zu verbergen, die von dem Operateur eigentlich nie abfällt. Ich habe Glück, Zita ist da, eine der sorgfältigsten Operationsschwestern, und außerdem, Herr Redakteur Fencl... nein, das könnte ich Ihnen nicht erzählen. Sie kam vor zwanzig Jahren zu uns. Damals war sie blutjung und wirklich sehr schön. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, aber sie verliebte sich in mich. Sie selbst sagte es mir. Es war eines Abends nach einer sehr anstrengenden Operation. Ich hatte Dienst. Sie brachte mir Kaffee, und dann gestand sie mir offen und mit niedergeschlagenen Augen, daß sie mich liebe und niemals einen anderen lieben werde. Zuerst lachte ich sie aus, mir kam es kindisch vor. Als sie in Tränen ausbrach, tat sie mir leid. Ich nahm sie in die Arme, um sie zu trösten. Da küßte sie mich mit einer solchen Inbrunst, daß auch ich beinahe den Kopf verlor. Ich erklärte ihr, ich hätte Jitka und könne keine andere lieben. Sie solle
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sich rasch einen Freund suchen, mit dem sie viel glücklicher sein werde als mit mir. Sie beruhigte sich, lächelte sogar, aber wiederholte nur immer das gleiche. Sie wolle keinen anderen, es genüge ihr, wenn sie bei mir arbeiten könne. Selbstverständlich glaubte ich ihr nicht, aber die Jahre vergingen, und sie blieb ledig. Ich denke zwar, sie war zu schön, um die Liebe nicht kennenzulernen, aber was auch immer geschehen sein mag - sie blieb bei uns in der Klinik, und ich spürte ständig ihre gleiche stille Hingabe, die mich zutiefst rührte. Nie mehr geschah etwas zwischen uns, niemals überschritt sie die Schwelle ergebener Freundschaft, mit keinem Wort, und deshalb erzählte ich Jitka auch nichts davon. Ich fürchtete, sie würde sich nur unnötig beunruhigen. Manchmal rechnete ich es mir als Schuld an, daß ich mich nicht mit Zita aussprach, sie nicht bewog, in eine andere Umgebung überzuwechseln, wo sie natürlicher leben könne - aber hatte ich dazu eigentlich ein Recht? Ich gebe zu, daß sie mir stets näherstand als die übrigen Schwestern. Fachlich konnte ich mit ihr über alles sprechen, sie verfügte über ein bewundernswertes Wissen. Immer erkannte sie auf den ersten Blick, wie meine Kondition war, und schätzte genau den Augenblick ab, da ich zu ermüden begann. Ich war froh, daß gerade sie bei Míťas Operation zugegen war. Hinter der Maske hervor sahen mich ihre ernsten grauen Augen fest an. Neben den Lidern hatte die Zeit bereits ihre unbarmherzigen Zeichen eingegraben, aber noch war sie jung, noch lange wird sie Morgen für Morgen mit ausgestreckten Händen über dem Instrumentarium stehen, präzise, ruhig und einsatzbereit. Ich freute mich, sie gerade neben mir zu haben. Vor mir lag Míťa. Die Scheinwerfer beleuchteten scharf das entblößte Viereck der Haut. Die Haare hatten wir opfern müssen. Ein letztes Mal verständigte ich mich stumm mit Krtek. Ich nahm das Skalpell zur Hand. Führte einen bogen-
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förmigen Schnitt über der linken Schläfe. Wir bohrten Trepanationsöffnungen und begannen mit der Beseitigung des Knochens. Das ist immer sehr ermüdend. Für eine Weile löste mich Frau Hladká ab. Schon lange hatte ich nicht mit ihr zusammen operiert. Sie überraschte mich, arbeitete flink und präzise. Ich erinnerte mich an ihre Anspielung, ich ließe sie an keine ernsthaftere Arbeit heran. Ganz beiläufig sagte ich: »Wollen Sie nicht morgen die Geschwulst der Hypophyse aus der Acht machen?« Sie hob den Kopf, ihre Augen strahlten. »Aber er ist für Sie eingetragen, Herr Professor!« »Sie werden es genausogut machen.« ‚ Sie arbeitete weite«, und unter der Maske stieg bis hoch in die Schläfen ein freudiges Rot. »Wenn es nur deshalb ist, weil ich neulich sagte...« »Nein, Sie wissen genau, daß ich nichts auf Wortgefechte gebe.« Dann schwiegen wir schon. Sie bereitete weiter mit dem Meißel eine saubere Trepanationsöffnung vor. Immer wieder blubberte der Absauger, zischte der Elektrokauter. Krtek und ich warteten ab. Míťa atmete ruhig, Blutdruck und Puls hielten sich. Durch den Kopf huschten mir Erinnerungsfetzen. Es ist sonderbar, aber am intensivsten kehrt mir die Vergangenheit ausgerechnet im OP-Saal zurück, wenn ich einige Minuten und manchmal nur einige Sekunden Zeit habe. In einem Augenblick, da ich einen weniger komplizierten Teil des Eingriffs durchführe, bei dem ich nicht so viel denken muß. Wann hatte ich eigentlich Jitka um das erste Rendezvous gebeten? Ich weiß schon, das war unmittelbar nach ihrer Prüfung in Chirurgie. Ich erinnere mich genau, wie ihr Rigorosum verlief. Es fand im Arbeitszimmer des Dekans statt. Immer zwei Studenten bereiteten sich dort kurz vor. Wir Assistenten hatten die Pflicht, sie zu überwachen, damit sie nicht abschrieben. Statt dessen berieten wir sie ein bißchen, wenn sie sich mit einer Frage nicht zu helfen wußten. Ich
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ging damals schon absichtlich allein in dieses Vorbereitungszimmer. Zuerst blieb ich bei dem Studenten stehen, der über dem leeren Papier unglücklich an seinem Bleistift knabberte. Ich nannte ihm einige Punkte, aber er biß nicht an, er konnte verzweifelt wenig. Dann ging ich zu Jitka. »Verstehen Sie die Fragen?« sagte ich. Sie hob den Blick zu mir auf, und ihre Augen waren voll von ihrem ironischen, unsichtbaren Lächeln. »Ich verstehe sie, Herr Assistent.« Verlegen kehrte ich an den zweiten Tisch zurück. Der junge Mann hatte inzwischen einiges von dem aufs Papier gekritzelt, was ich ihm gesagt hatte. Er fing an, mich nach weiteren Details auszufragen. Er gehörte zu den Typen, die sich durch jede Prüfung mogeln. Ein andermal hätte ich ihn schwitzen lassen, solchen Leuten half ich nicht gern, aber diesmal soufflierte ich ihm, was ich konnte. Am Ende machte er die Prüfung mit Zwei. Das bereitete mir fast Gewissensbisse. Jitka legte sie mit Ausgezeichnet ab. Sie entschlüpfte mir, sobald sie von unserem Professor die Eintragung im Studienbuch hatte. Ich ließ weitere Prüflinge ins Vorbereitungszimmer. Eine Weile überlegte ich. Vielleicht werde ich sie nicht so bald wiedersehen. Sie hat weitere Prüfungen, und dann fangen die Ferien an. Ich lief ihr nach bis vor die Tür. Zum Glück unterhielt sie sich dort gerade mit ein paar Studenten, die wissen wollten, was für Fragen sie gehabt hatte. Als sie mich erblickte, trat sie von selber auf mich zu. Niemandem kam das befremdlich vor. Vielleicht dachten sie, ich wolle ihr die Stelle eines Famulus anbieten, oder wir hätten vergessen, im Studienbuch einzutragen: vPracticavit«. Ohne lange Einleitung sagte ich ihr, ich würde sie gern wiedersehen. Sie wich meinem Blick aus und errötete leicht. »Ich... weiß wirklich nicht....« Ich muß wohl sehr unglücklich ausgesehen haben, denn sie warf plötzlich die blonden Haare in den Nakken.
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»Gut, wenn Sie wollen, ich komme morgen ins Schwimmbad.« »Wo ich Ihnen schon einmal begegnet bin?« Sie nickte. Gab mir die Hand, und ich wußte, daß hier mein Schicksal begann und endete. »Macht es Ihnen was aus, daß ich aus der Klinik frühestens um fünf Uhr dort sein kann?« Es machte ihr nichts aus. Als ich hinkam, war sie schon da und behandelte mich wie einen alten Bekannten. Wir schwammen zusammen bis zur Staumauer, sprangen vom Sprungbrett, über etwas Ernsthaftes sprachen wir nicht. Sobald ich behutsam zu planen begann, was man in den nächsten Tagen unternehmen könnte, wich sie aus. Beim Abschied sagte ich ihr, ich würde sie gern öfter sehen und... Ich weiß nicht mehr, was alles und wie ich es ihr damals sagte. Mit einem Male wurde sie ernst. »Seien Sie mir nicht böse, aber ich weiß noch nicht. Ich muß zuvor etwas Persönliches klären. Ich rufe Sie dann von selber an, wenn Sie warten wollen...« Ich glaubte ihr nicht. Mädchen machen es immer so. Aus Verlegenheit versprechen sie etwas Unbestimmtes, und dann wird es nach und nach vergessen. Aber Jitka war anders. Sie meldete sich bei mir, da waren noch keine zwei Monate vergangen. Heute weiß ich, daß sie damals mit Míťa gegangen ist. Und jetzt erst, hier am Operationstisch, wurde mir klar, warum sie zum Ort für das erste Rendezvous das Schwimmbad gewählt hatte: Míťa konnte nicht schwimmen, sie wußte, daß wir uns dort nicht zufällig alle drei begegnen konnten. Es ist komisch, noch jetzt nach Jahren versetzte mir ihre damalige Umsicht einen kleinen Stich. Aber nein, das ist Unsinn, sie hat sich doch fair verhalten. Hatte mir direkt gesagt, daß sie sich vorläufig nicht mit mir treffen könne. Was wollte ich eigentlich mehr? Frau Doktor Hladká klappte eine Knochenplatte zurück,
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groß wie eine Kinderhand. Wir begannen die Hornhülle beiseite zu schieben. Endlich tauchte das graue zitternde Hirngewebe auf. Es pulsierte ruhig wie ein nackter Spatz, der sich im warmen Nest duckt. Bisher war nichts zu befürchten. Erst jetzt kommt das Instrument zu Wort, das entscheiden wird, ob alles oder nichts. Ich weiß, das klingt ein bißchen hochtrabend. Kein Chirurg würde so etwas laut sagen. Aber daß es so war, sah ich den konzentrierten Blikken aller an, den gespannt gebeugten Nacken der Ärzte und Schwestern. Auch Jitka merkte ich es an, die Míťa schon lange vergessen hatte und erst jetzt, in einem entscheidenden Augenblick seines Lebens, vielleicht einige der schönen Stunden vor sich sah, die sie mit ihm verlebt hatte. Ich löse den Schläfenlappen noch mehr, berühre behutsam die zarte Oberfläche, unter der das Gespinst der Gefäße durchschimmert. Der Schläfenlappen ist der Sitz der Musikalität. Hier verbirgt sich die Zauberkraft, die uns Töne aufnehmen läßt. Mir kommt ein absurder Gedanke: Vielleicht dringt in Míťas Narkoseschlaf in diesem Augenblick eine Melodie, bewirkt durch die Reizung der Hirnrinde; Ich habe eine Vision: Míťa sitzt mit der Gitarre auf dem Schoß und singt. Von der Gitarre hängt ein besticktes Band, das ihm ein Mädchen geschenkt hat. Nein, Jitka kann das noch nicht gewesen sein, und dann - sie kann alles andere, nur nicht sticken. Ich muß darüber lächeln. Sehe meine Frau von der Seite an. Sie steht auf Zehenspitzen und läßt keinen Blick von meinen Händen. Ich weiß, sie streckt ein bißchen die Zunge heraus, das tut sie immer, wenn sie konzentriert ist, aber jetzt hinter der Maske ist es nicht zu sehen. Endlich erblicke ich in der Tiefe des Hirngewebes die ersten Schlingen der Gefäßmalformation. Ein verflochtenes Knäuel, ein gordischer Knoten, den rasch zu durchhauen nicht ratsam ist. Im Gegenteil, ich lege ganz leicht eine Ader nach der anderen frei, berühre sie kaum, man kann sie nur stumpf präparieren. Dazu muß man Geduld haben. Krtek löst mich für eine Weile ab. Mir scheint, als habe ich
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mich nur eine kurze Zeitspanne mit den winzigen Ausläufern herumgeplagt, aber die Wanduhr rast dahin. Jedesmal, wenn ich den Kopf hebe, ist eine halbe Stunde vorüber. Die Malformation ist immer noch tief eingetaucht, auch als wir schon das ganze Gewirr ihrer Zweige entblößt haben. Wir sind wie Wanderer, die aus der Ferne einen Berg sehen, gehen und gehen, und der Berg bleibt immer gleich weit am Horizont. Krteks Stirn ist mit Schweißtropfen bedeckt. Die Schwester wischt sie ihm ab wie in einem sentimentalen Film. Aber der Dozent dreht sich nicht wie im Film mit einem süßen Lächeln zu ihr um. Mit den Augen bewacht er die Spitze der Pinzette, mit deren Hilfe er gerade eine größere Schlinge angehoben hat. »Sakra«, sagt er. »Das Aas rutscht weg.« Angestrengt suchen wir die Zuleitungsader. Den Aufnahmen nach liegt sie links und weiter hinten. In Wirklichkeit ist hier wieder nur ein Gewirr unübersichtlicher Schlingen. Endlich haben wir Glück. Ich hebe das bläuliche Knäuel noch mehr an und erblicke einen kurzen, stärkeren Stiel. Ja, das ist es. An seinem Ende ist ein Aneurysma, ähnlich einer größeren Bohne. Das muß vor allem liquidiert werden. Langsam arbeite ich mich zu ihm vor. Zita hat begriffen, sie bereitet die Ligatur vor, damit die Ader abgebunden werden kann. Krtek hat besorgte Falten auf der Stirn. Ich weiß, woran er denkt. Vor einem Jahr etwa hat er ein kleines Aneurysma operiert, es war äußerst unzugänglich, man konnte es nicht abbinden und auch nicht mit einer Klemme absperren. Im Verlauf der Operation platzte es wie ein Luftballon. Umsonst war alles Absaugen, die Ader ließ sich nicht schließen. Sie verschwand in einem Geysir von Blut, und als es endlich gelang, sie abzubinden, war es zu spät. Die Patientin lag im Schock, aus dem sie nicht mehr erwachte. Das Aneurysma hängt an dem kleinen Stiel wie ein Tropfen. Der Stiel ist kurz, aber nicht so kurz, daß man ihn nicht
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abbinden könnte. Bei der nötigen Geschicklichkeit wird sich der Faden unter sie klemmen wie das Bergsteigerseil um einen Felsvorsprung. Ich konzentriere mich auf das Knüpfen der Schlinge. Ich fühle mich wohl. Wenn es gelingt, die Blutzufuhr völlig zu stoppen, können wir Míťa vielleicht doch helfen. In diesem Augenblick wünsche ich es mir so brennend, daß ich fast zu ungeduldig den Faden um den fatalen Stiel festziehe. Es war eine Spur kräftiger, als ich es sollte. Plötzlich klafft direkt vor meinen Augen in der Gefäßwand ein Spalt, eine längliche Platzwunde, die sich sogleich mit Blut füllt. Das Aneurysma verschwindet für einen Augenblick. Mein Herz fängt heftig zu pochen an. Das ist schlimm, aber ich darf die Besonnenheit nicht verlieren. Als ich die erste Ligatur vorbereitete, hatte ich gewußt, daß so etwas passieren konnte. Ich hatte auf Reserve gearbeitet, den Stiel ein bißchen höher abgebunden, damit man ihn erneut fassen konnte, falls es zu einer Ruptur käme. Krtek saugt blitzschnell das Operationsfeld ab und trocknet es. Wieder erkenne ich den unglückseligen Stiel. Sogleich lege ich eine zweite Ligatur an. Ich ziehe sehr langsam fest,, schon scheint es, als hielte sie, aber plötzlich ein Bruch - es geschieht das gleiche wieder, wie in einem bösen Traum. Vielleicht ist dort ein winziges sklerotisches Plättchen, vielleicht ist die ganze Gefäßwand zu mürbe, ich weiß es nicht. Ich verschließe mit einer Pean-Klemme den verbliebenen Rest des Stiels, und zum erstenmal während der ganzen Operation greift Angst nach mir. Was weiter? Für eine Ligatur wird kaum mehr Platz sein. Unbewußt irrt mein Blick zu Jitka. Sie sieht mich mit geweiteten Augen an. Auf ihrem Grunde liegen Furcht, Verwirrung und noch etwas, was ich gar night zu Ende denken will. Fehlendes Vertrauen? Argwohn? Nein, ich bin doch nicht wahnsinnig. Sie fürchtet sich genauso wie ich, aber sie vertraut mir. Sie vertraut mir! Krtek ist aschfahl. Er greift nach einer weiteren Ligatur und
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wartet. Dann tritt er unsicher zu mir, um mit mir den Platz zu tauschen. Ja, er will mich ablösen. In einem Augenblick, da praktisch alles verloren ist, da es nicht mehr in Menschenhand liegt, erfolgreich einzugreifen. Ich schließe für einen Moment die Augen. Mir dreht sich alles im Kopf. Mit dem Pean sperre ich nach wie vor die Blutzufuhr ab. Mit einem Male fühle ich tödliche Erschöpfung. Ich habe das unwiderstehliche Verlangen, einen Schritt zurückzutreten und Krtek an meinen Platz zu lassen. Niemand würde sich darüber wundern, im Gegenteil, sie würden es begreifen, auf dem Tisch liegt doch ein Freund von mir. Wieder trifft mein Blick Jitka. Sie hält den Kopf gesenkt, Míťa ist für sie in diesem Augenblick verloren. Ich raffe mich auf und denke angestrengt nach. Die Mündung des Stiels an der Stelle nähen, wo ich ihn mit der Klemme zupresse? Einen Heftstich an der Mündung des Stiels machen? In dieser Situation hätte wohl jeder diesen Weg gewählt. Aber ich weiß, daß nur eine Ligatur es schaffen würde, das Aneurysma für immer zu beseitigen. Nach wie vor klemme ich das unzerstörte Stummelchen ab, zu dem sich ein Riß wie auf einer alten, kostbaren Vase zieht. Eine höllische Situation. Zita beobachtet mich konzentriert. Genau in dem Augenblick, da ich mich definitiv entschlossen habe, reicht sie mir einen neuen Faden. Ich glaube, sie ahnte früher als ich, was ich tun würde. Ich weiß nicht, warum, aber gerade diese Kleinigkeit gibt mir wieder Mut. Ich übergebe Krtek den Pean, damit er die Ader festhalten kann. Dann knüpfe ich eine neue Schlinge. Ich streife sie über das hervorstehende Stielchen und beginne sie behutsam festzuziehen. Grabesstille ringsum. Ich höre nur den Respirator und Krtek, der schwer neben meinem Ohr atmet. Jetzt geht es um alles. Endlich sperrt die Ligatur die Ader ab. Sie hält. Krtek wartet eine Weile und beginnt dann langsam den Pean zu lockern. Nichts geschieht. Unter der zugebundenen Schlinge sickert
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kein Blutströpfchen mehr hervor. Zita strahlt unter der Gesichtsmaske. Jitka schlurft in ihren unförmigen Galoschen in die Ecke zu den Anästhesisten und läßt sich auf einen Hocker fallen. Ich habe gar nicht bemerkt, daß im letzten Augenblick auch der Medizinstudent Velecký dazugekommen ist. Eine Weile starrt er mit uns zusammen vor sich hin, und dann fragt er schlicht und einfach: »Sie glauben, es wird jetzt halten, Herr Professor?« Alle erstarren. Der arme Velecký hat nicht begriffen, daß das der unpassendste Augenblick ist. Vielleicht wollte er mir sogar eine Freude machen. Frau Hladká schaut ihn tadelnd an und schüttelt den Kopf, nur so für sich selbst. Dann sagt sie ganz leise mit erstaunter, dünner Stimme: »Velecký, du bist doch ein Idiot!« Ich muß unwillkürlich lachen. »Ja, ich glaube, es wird schon halten«, sage ich und lache weiter, obwohl mir ein ganz anderes Gefühl die Kehle zuschnürt. »Warum sollte es eigentlich nicht halten, Herr Kollege Velecký?« fahre ich fort und kämpfe mit einer heißen Welle, die mich überschwemmt. Míťa, du verdammter, ungerechter Míťa! Jetzt hast du mir wenigstens alles zurückgezahlt, was ich dir angetan habe. Und dabei schläfst du ganz ruhig. Hast gar keine Ahnung, was für Ängste wir soeben durchgestanden haben... Zum Schluß unterbanden wir auch die Malformation. Dann ließ sie sich leicht wegpräparieren. Sie lag auf der Schüssel, schlaff und unschädlich wie eine tote Qualle. Die Anästhesisten meldeten, daß sich der Blutdruck hielt. Die unmittelbare Gefahr war vorbei. Selbstverständlich konnte noch manches im postoperativen Stadium passieren, aber ich glaubte, gewonnenes Spiel zu haben. So war es auch wirklich. Als ich am selben Abend Míťa aufsuchte, war er schon bei Bewußtsein, er wollte nur schlafen. Ich setzte mich an sein Bett, weich gestimmt wie ein alter Sklerotiker. Míťa trug um seinen kahlgeschorenen
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Kopf einen Verband. Mit seinem hübschen Gesicht sah er aus wie ein Schauspieler, der einen Patienten nach der Operation darstellt. Er musterte mich, als sähe er mich zum erstenmal. Dann streckte er mir die Hand entgegen und drückte die meine. Er sagte nur: »Verzeih, mir ist wie nach einer durchbummelten Nacht...« Er schlief wieder ein. Begann tief zu atmen, doch seine Finger hielten noch eine Weile meine Hand fest, wie das Kinder tun, wenn sie über einem Märchen einschlummern. Ich fühlte mich glücklich. Alles Ungute war mit einem Schlage weg, die Vergangenheit konnte der Teufel holen. Am Tage darauf erwartete mich vor meinem Arbeitszimmer Míťas Frau. Ich bat sie einzutreten. Sie wollte sprechen, aber statt dessen begann sie zu weinen. Ich versicherte ihr, daß wir alles Nötige getan hätten und ihrem Mann keine Gehirnblutung mehr drohe. Seine Beschwerden würden bestimmt verschwinden. Sie bezwang ihre Tränen, dankte mir. Vielleicht werden sie uns gegenüber keine Vorbehalte mehr haben, weder er noch sie. Es ist sonderbar, aber ich begann erst jetzt Míťas Bitterkeit mir gegenüber ein bißchen besser zu verstehen, ja, ich verspürte ein gewisses Gefühl der Schuld. Vielleicht hatte ich mich zu ihm und Fencl in unserer Studienzeit doch härter verhalten, als richtig war. Ich hatte ihnen gegenüber einen Vorteil, konnte mein Studium rechtzeitig beenden und auf meinem Fachgebiet viel früher arbeiten als sie. Am Ende hatte das auch auf Jitka einen gewissen Einfluß. Ich durfte mich nicht wundern, daß es für Míťa eine schwere Kränkung bedeutete, als Jitka sich von ihm trennte und kurz darauf mich heiratete. Etwa eine Woche nach der Operation kam er selbst in mein Arbeitszimmer. An jenen Tag erinnere ich mich ganz genau, denn es war zugleich der Beginn des Falles Uzel. Die Beratung auf der »Börse«, wo ich die Operation des Kleinen ablehnte, hatte Ende April stattgefunden. Die Kinderärztin hatte mich schon vorgewarnt, daß auch der Großvater des
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Jungen mich aufsuchen werde. Sie erschienen jetzt beide bei mir, der Förster und der Junge traten geradenwegs in mein Zimmer. Der Sekretärin waren sie wie durch ein Wunder entwischt. »Ich komme, um Ihnen Vítek zu zeigen«, sagte der Alte mit Donnerstimme gleich in der Tür. »Man hat mir gesagt, Sie wollen es nicht mit ihm versuchen, aber ich komme dennoch, um Sie noch einmal zu bitten!« Míťa stand sogleich auf und sagte: »Nimm den Jungen zuerst dran, ich warte gern.« Mir blieb nichts übrig, als zu nicken, sie sollten hereinkommen. Der Großvater trat ein, der Junge jedoch rührte sich nicht von der Stelle. Er starrte Míťa verblüfft an. Míťa trug nämlich eine Mütze aus Mull, die den Kleinen bezauberte. Er lachte laut. »Du siehst aus wie ein Kasper!« rief er. Der Großvater lief rot an. Er zerrte den Kleinen an der Hand zu sich. »Wirst du gleich still sein! Sonst nimmt dich der Herr Professor nicht in die Klinik!« Der Junge ließ sich ins Zimmer ziehen, aber er drehte dabei den Kopf zu Míťa herum und lachte weiter. Er war ein kleines Kerlchen, ein hübsches Gesicht, lockiges Haar wie das Jesuskind. Ja, damals hatte er noch Haare, er ahnte nicht, daß auch ihn so eine Mullmütze erwartete. Sein Anblick tat mir weh. Die Kinderärztin hatte genau gewußt, warum sie den Großvater angestiftet hatte, mir den Jungen vorzuführen... Der Alte holte weit aus: »Wir sind immer gesund gewesen, Herr Professor, meine ganze Familie und auch die Familie meiner Frau. Die Frau Doktor sagt, der Junge habe eine Geschwulst, und Sie selber hätten sich dieser Meinung angeschlossen, so hat man es mir mitgeteilt. Aber ich bin der Ansicht, daß sich auch die größte Kapazität irren kann. Vítek hat ein hübsches Köpfchen, nirgends ist daran was zu sehen. Als er zum erstenmal den Anfall bekam, sagte unser
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Herr Doktor, das werden vielleicht die Fraisen sein. Unsere Kinder hatten das auch, und dann wurden sie auch ohne Operation wieder gesund. Meinen Sie wirklich, er hat eine solche Geschwulst? Bei uns habe ich weit und breit so etwas nicht gesehen, nur als ich noch klein war, da hat man es im Nachbardorf von einem behauptet, aber das war der Gemeindetrottel, und der hatte einen Kopf so groß wie ein Kürbis. Dann hat ihn ein Doktor ins Irrenhaus gesteckt. Vítek aber ist gescheit. Er kennt viele Lieder und kann an den Fingern abzählen, wieviel er im Laden zurückkriegt. Was für eine Geschwulst könnte er denn haben?« Ich ließ den Alten im Sessel Platz nehmen, deutete ihm mit Blicken an, er solle vor dem Kind nicht sprechen, aber Vítek interessierte ohnehin nicht, was wir miteinander besprachen. Er kroch auf den Drehstuhl vor der Schreibmaschine und drehte sich damit. »Runter, aber sofort!« fuhr ihn der Großvater an, doch ich winkte nur ab, wenigstens war das Kind eine Weile beschäftigt. Mit gedämpfter Stimme erklärte ich dann dem Großvater den Sachverhalt. Der Junge hat eine Geschwulst, einen Tumor, das steht außer Zweifel, und sogar einen riesigen. So groß, daß man dagegen nichts mehr unternehmen kann. Damit muß sich die Familie abfinden. »Eine Familie haben wir nicht«, hielt mir der Förster entgegen. »Wir sind nur ich und der Junge. Aber wenn Sie mit Bestimmtheit glauben, daß eine Geschwulst da ist, dann können wir sie doch nicht so einfach lassen, Herr Professor«, redete er mir bieder zu. »Daß sie groß ist, kann ja stimmen. Ich habe von einer Frau gehört, die eine kinderkopfgroße Geschwulst im Bauch hatte, und sie haben sie ihr rausgeschnitten wie nichts. Ginge das denn nicht auch? Sie brauchen keine Sorge zu haben«, beruhigte er mich, »Geld habe ich, ich gebe Ihnen, was Sie nur wollen. Was geben wir schon aus, der Junge und ich? Ich lege es auf die hohe Kante...«
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Er wollte nicht begreifen, daß es keine Frage des Geldes war. Vergeblich versuchte ich ihm zu erklären, eine Geschwulst im Hirn sei etwas anderes als die Geschwulst jener Frau. Immer wieder beteuerte ich ihm das gleiche: Es hat keinen Sinn, für das Kind sind ein, zwei Jahre Leben besser als aussichtslose Experimente. Ich könne für nichts garantieren. »Soll es so sein, wie Sie sagen! Was nützen ihm ein, zwei Jahre? Entweder Sie schaffen es, Herr Professor, oder nicht, die Schuld dafür werde ich Ihnen nicht geben. Aber wenn es gelänge, könnte dann mein Vítek alt werden?« »Wenn man die Geschwulst beseitigen könnte, ja.« »Na sehen Sie«, sagte er froh. »Das lohnt doch den Versuch!« Er saß da und sah mir direfkt in die Augen. Ich durfte nicht schwanken. »Nein«, wiederholte ich, »die Hoffnung ist zu gering, dazu haben wir kein Recht.« Er lächelte. »Ich habe gehört, Sie schaffen Wunder«, versuchte er mir plump zu schmeicheln, und er gab mir keine Zeit, mich zu wehren. »Ich weiß doch, der Mensch kann nur, was in seinen Kräften steht, was sollen wir lange reden. Aber ich sage Ihnen noch einmal, ich werde mich mit allem abfinden.« Der kleine Uzel hatte inzwischen den Stuhl ein bißchen weitergeschoben, um sich besser drehen zu können. Ich dachte überhaupt nicht daran, daß er das eigentlich gar nicht tun durfte. Zufällig wandte ich mich ihm zu. Ich sah, wie er plötzlich erbleichte. Krampfhaft hielt er sich am Rande des Sitzes fest. Ich sprang auf und fing ihn gerade noch rechtzeitig auf. Er verdrehte die Augen nach oben, sein kleiner Körper begann krampfhaft zu zucken. Ich legte ihn auf die Liege und rief der Sekretärin zu, sie solle die Schwester mit der Spritze holen. »Das ist weiter nichts«, versuchte mich der Förster zu beruhigen. »So geht das jetzt mit ihm alle Weile. Er wird gleich
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aufwachen und ist wieder wie ein Fisch im Wasser.« Er hatte recht. Die Krämpfe hörten bald auf. Vítek schlug die Augen auf und blinzelte mich schläfrig an. Ich schaute auf sein durchsichtiges Gesichtchen, und etwas in mir begann zu zerbrechen. Die Ärztin hatte gesagt, diese Krämpfe habe er jetzt öfter. Wer weiß, ob er noch ein ganzes Jahr zu leben hatte! Vielleicht kommt er aus einem solchen Anfall nicht wieder zu sich. Ob es nicht doch einen Versuch lohnt? Hat er wirklich kein Fünkchen Hoffnung? Ich zog die kleine Taschenlampe heraus, um die Reaktion seiner Pupillen auf Licht zu prüfen. Der Junge sah die Lampe verlangend an. »Ich hab zu Hause eine Trillerpfeife«, sagte er. »Der Opa bringt sie mir mit. Wenn du willst, geb ich sie dir.« Ich mußte über diese schlaue Taktik lachen und legte ihm die Taschenlampe in die Hand. »Nimm sie dir. Vielleicht kommst du zu uns, dann kauf ich dir noch eine Mundharmonika.« Vítek strahlte. Der Großvater auch, weil er begriff, daß ich die Operation nun doch wagen würde. Vor Rührung konnte er nicht sprechen, er schluckte nur und drückte mir stumm die Hand. Ich schickte sie nach nebenan zur Sekretärin, wo sie auf den Krankenwagen warten sollten. Daß draußen Mikes stand, hatte ich völlig vergessen. Ich ging im Arbeitszimmer auf und ab, und mir war gar nicht wohl in meiner Haut. Du bist ein Narr, schalt ich mich, ein verantwortungsloser Narr! Das Kind hat doch überhaupt keine Chance! Der Großvater bittet für den Kleinen und verspricht, er werde sich mit allem abfinden, aber das kennen wir doch! Wenn es schlecht ausgeht, wird er hier stehen und mich vorwurfsvoll anschauen, als wäre ich ein halber Mörder! Er ist einfach überzeugt, daß es gelingen wird, und basta! Ja, völliger Wahnsinn ist das! Ich geh lieber zu ihm und sag ihm, ich würde es mir noch überlegen, es sei noch lange nicht abgemacht. Mit diesem Vorsatz machte ich die Tür
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auf. Die Sekretärin hatte den Jungen auf dem Schoß, strich ihm übers Haar, und auf dem Gesicht dieser meiner guten werktätigen Rentnerin lag das Glück einer Großmutter, das sie selber niemals kennengelernt hat. Vítek schmauste Kuchen, den Frau Růžková sich offenbar zum Mittagessen mitgebracht hatte. »Fünf Stück hat er schon verdrückt, Herr Professor«, meldete sie mir stolz. Der Kleine rutschte ihr vom Schoß und faßte den Großvater an der Hand. »Komm«, sagte er, »jetzt gehen wir zu den Schwestern, und dort esse ich mich ordentlich satt.« Ich konnte dem Förster nichts Definitives sagen. Als er mich fragte, wann wir den Jungen bei uns aufnähmen, versprach ich ihm, vielleicht in der nächsten Woche schon. Ich kehrte ins Arbeitszimmer zurück. Niedergeschlagen setzte ich mich und schlug ratlos mit der Faust auf den Tisch: Zum Donnerwetter, offenbar werde ich wirklich schon alt! Aber das war umsonst, der kleine Spitzbub hatte mich verhext. Míťa ging es übrigens nicht anders. Die Sekretärin erinnerte sich zum Glück, daß Besuch auf mich wartete, und ließ Mikes herein. Kaum trat er zu mir, fragte er schon nach dem Kleinen. Unlustig erklärte ich ihm, worum es ging. »Operier ihn.« Er setzte sich sogleich für ihn ein. »Du mußt es tun! Wenn ich könnte, was du kannst, würde mich nichts davon abbringen!« Ich schwieg. Wie leicht sich so etwas sagt! Sogar Míťa, der selber nur um ein Haar davongekommen ist, bedrängt mich. Ich kenne mich: Wenn das Kind auf der Strecke bliebe, würde ich mich hundertfach beschuldigen, daß ich ihn lieber nicht hätte operieren sollen! Míťa redete und redete inzwischen ungezwungen. Seine Zurückhaltung war dahin. Einige Male lachte er laut, und in solchen Augenblicken sah er genauso jung und warmherzig
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aus, wie ich ihn aus dem Studentenheim kannte. Mehrmals wiederholte er, er habe in der Hand fast wieder die normale Kraft, sehe nicht mehr verschwommen und könne lesen. Ich nickte, konnte mich jedoch nicht auf ihn konzentrieren. Dauernd drängte sich mir Uzels Operation in den Sinn, die ich so gut wie versprochen hatte. Man mußte breit die hintere Grube trepanieren. Oder würde der Wirbelbogen genügen? Vorher müßte eine gründliche Antiödem-Behandlung durchgeführt werden. Am wichtigsten wird der Anästhesist sein, wen nehme ich da? Míťa riß mich ungeduldig aus meinen Überlegungen. »Du hörst mir ja gar nicht zu! Was hast du?« Weil ich auch nicht antwortete, stutzte er. »Oder steht es mit mir nicht so gut, wie ihr behauptet habt? Habt ihr mir was verheimlicht? Gib's zu - war es nicht doch eine bösartige Geschwulst?« Plötzlich schwang Angst in seiner Stimme, sein Lächeln wurde unsicher und verzerrt. Das erschreckte mich. So etwas darf er sich nicht in den Kopf setzen. Da würde er einige Monate lang die Hölle durchleben. Ich setzte mich näher zu ihm und nahm ihn um die Schultern. »Ich bitte dich, red keinen Unsinn. Bist doch kein Hypochonder... Laß dich in diesen ersten Tagen von keiner albernen fixen Idee quälen! Du mußt mir glauben! Ich zeig dir die Aufnahmen, wenn du willst. Es war eine riesige Malformation, und wenn nicht du es gewesen wärst, hätte ich mich niemals drangewagt. Für mich war es sogar schlimmer,, als wenn du einen Tumor gehabt hättest. Die Röntgenaufnahmen nehme ich ins Archiv, du lieferst Material für eine Publikation. Wenn du es genau wissen willst - du bist mit knapper Not davongekommen, aber jetzt ist es weg, und dir droht überhaupt nichts mehr. Genügt das?« Er schämte sich. »Weißt du, ich hätte nie geglaubt«, sagte er leise, »daß man mit einem Male so am Leben hängen kann. Vorher war mir das ziemlich egal, aber als ich mich an den
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Gedanken gewöhnt hatte, daß ich eben doch die Chance habe...« Ich stand auf. Ging eine Weile schweigend im Raum auf und ab. »Sei mir nicht böse, daß ich so zerstreut bin. Ich hab einfach Angst vor der Operation dieses Kindes. Ich weiß nicht, warum ich sie eigentlich versprochen habe. Ich fürchte mich davor, verstehst du? Ich bin bei weitem nicht so abgebrüht, wie du glaubst.« »Vor meiner Operation hast du dich auch gefürchtet?« »Na klar. Schließlich ging es doch um dich«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. Er schlug die Augen nieder. »Ich muß dir wohl lächerlich vorgekommen sein, als ich vor der Operation die alten Kamellen ausgepackt habe...« »Bis auf Jitka«, unterbrach ich ihn lachend. »Dazu sind wir zum Glück nicht gekommen.« »Du weißt davon?« »Selbstverständlich, wie denn nicht?« Ich tat, als hätte es mir Jitka schon vor Jahren gesagt, gleich als wir heirateten, und nicht erst neulich unter den blühenden Kirschbäumen. »Es ist so lange her«, fügte ich hinzu. »Hat keinen Sinn, darauf zurückzukommen.« Er lebte sichtlich auf. Jetzt war wirklich schon alles ausgesprochen. »Richtig, aber damals ging's mir ganz schön an die Nieren. Eine Zeitlang war es eine schöne Studentenliebe. Wir gingen Hand in Hand auf den Vysehrad oder saßen mit der Gitarre auf der Kaiserwiese... Und dann bist du am Horizont erschienen. Dauernd mußte ich mir anhören, was für eine Kanone du bist...« »Du hättest sie von dieser Meinung abbringen sollen...« Míťa war in einer fast peinlich mitteilsamen Gemütslage. »Darum habe ich mich bemüht, sei unbesorgt«, gestand er. »Aber sie gab niemals viel auf meine Worte.« Wie Filmbilder flogen mir Erinnerungen durch den Sinn -
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Jitka wartet auf mich vor dem Eingang zum Botanischen Garten. Ich schlage ihr vor, auf den Vyšehrad zu gehen, aber sie hat keine Lust. Heute weiß ich wenigstens, warum. Wir gehen die Treppe hoch in den Garten an der Psychiatrie. Aus einem Korridor erschallt ein Wimmern. Meine kleine Medizinstudentin ist darüber ganz entsetzt. Ihre braunen Augen sind größer und schöner als sonst. Ich fasse sie um die Schultern und gebe ihr den ersten Kuß. Oder damals, als ich sie zum erstenmal zu mir nach Hause einlud. Das war im Sommer, wer weiß, ob sie nicht zu dieser Zeit noch mit Míťa auf die Kaiserwiese ging. Sie schien mir ein wenig verlegen. Ich bewohnte ein kleines Dachzimmer in Smíchov, ein Kollege, der nach außerhalb verzogen war, hatte es mir überlassen. In Papier eingewickelt, brachte Jitka etwas zu essen mit, dünne, mit Fischpaste beschmierte Scheiben Brot. Damals gab es alles noch auf Lebensmittelmarken. Es schmeckte nicht besonders, aber wir hatten beide Hunger. Beim Essen erzählte sie mir etwas, und ich schaute voller Rührung auf ihre zarten, jodbefleckten Finger - sie machte zur Zeit ihr Praktikum auf der Inneren. Die reinsten Kinderhände, sagte ich mir. Ich wußte schon, daß ich sie liebte und nie verlassen würde. Unvermittelt überkam mich größte Lust, Mikes zu fragen, wann er sich eigentlich von Jitka getrennt hatte. War es zu Beginn des Sommers oder später? Fast unbegreiflich, aber mir lag plötzlich sehr viel daran. Statt dessen sagte ich: »Du hast eine elegante Frau. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Angst sie um dich hatte.« »Ja, sie hängt sehr an mir«, stimmte er mir zu. »Immer haben wir gut miteinander gelebt. Sie stammt aus einer sehr reichen Familie. Wir hatten eine Hochzeit, wie wir sie im Studentenheim immer belacht haben«, fügte er mit leichter Ironie hinzu. »Brautjungfern, langer Schleier, Hochzeitsmahl bei Šroubek. Nein, nein, man kann ihr wirklich nichts vorwerfen. Höchstens, daß sie fast zu viel für mich sorgt, vielleicht, weil wir keine Kinder haben...«
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»Da war unsere Hochzeit etwas einfacher«, erzählte ich ihm meinerseits. »Die Anzeige schrieben wir selber auf Viertelbogen. Weil Jitkas Vater krank war, kam von ihrer Familie niemand, und ich hatte weder Vater noch Mutter. Als Zeugen nahmen wir uns zwei Ärzte von der Klinik, und vor dem Rathaus verabschiedeten wir uns von ihnen. Dann holte meine Frau ihre Sachen aus dem Heim und zog zu mir.« Ich sagte ihm nicht, daß Jitkas Sachen in einem Koffer und einer großen Tasche Platz fanden. Sorgfältig schichtete sie darin in meinem Schrank die paar Pullis und Röcke aufeinander, die ich tagtäglich an ihr sah. Ich nahm mir vor, ihr bald ein schönes Kleid und moderne Schuhe zu kaufen und später vielleicht auch einen Pelz, sowie wir nur die allernotwendigsten Dinge angeschafft hätten. Es dauerte ziemlich lange, bis mir das gelang, am Anfang hatten wir wirklich nichts. Míťa schaute verträumt über meinen Kopf hinweg in die Ferne. »Weißt du, Jitka hat sich überhaupt nicht verändert«, sagte er. »Im Äußeren ja, das gewiß, aber in sich hat sie nach wie vor diesen Funken. Ich glaube, du hast mit ihr manch hartes Streitgespräch führen müssen...« »Das stimmt«, bestätigte ich lachend, »aber es war immer nur so viel, wie man zum Leben braucht, damit daraus kein stehendes Gewässer wird.« Erneut erinnerte ich mich unserer langen Dispute, sie dauerten oft bis in die Nacht hinein. Was betrafen sie? Von philosophischen Fragen über Literatur und Musik bis zu praktischen Problemen. Ob die Kinder ins Pionierlager fahren sollten oder daß ich mir ein paar Nylonhemden kaufen müsse, weil ich mich nach Jitkas Ansicht in dem alten nicht mehr auf dem Kongreß zeigen könne. Daß die Gardinen noch Zeit hätten und ich mir lieber zuerst den Gehirnatlas kaufen solle, der gerade erschienen war. Manchmal hatten unsere Dispute auch einen anderen Charakter - Jitka versuchte mich zu überzeugen, diesen oder jenen Fall zu ope-
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rieren, weil er ihrer Ansicht nach eine gewisse Hoffnung habe. Oder sie zwang mich, eine Methode auszuprobieren, von der ich bislang nur gelesen hatte. Jetzt sofort, weil wir gerade einen Patienten hatten, der sonst sterben würde... Ich erinnere mich, wie oft ich vor Ermüdung einzuschlafen drohte und Jitka mich wieder und wieder weckte: »Hör doch! Das müssen wir doch klären! Bis jetzt hast du mich überhaupt nicht überzeugt.« Oft stand sie mir gegenüber wie ein Spatz mit gesträubten Federn und ärgerte sich. Am meisten störte es sie, wenn ich verdrießlich wurde und aufhörte, ihr zu antworten. Dann gab sie mir keine Ruhe, und wenn ich vor Müdigkeit umfallen sollte. Gewöhnlich ließ ich mich provozieren und hob ebenfalls die Stimme. Die Diskussion schien in einen Streit auszuarten. Und dann führte sie mir ihre Spezialitäten vor: Auf dem Höhepunkt unseres Wortgefechts, da man schon sagt, was einem gerade einfällt, begann sie laut zu lachen. Im Handumdrehen riß sie auch mich mit, und dann einigten wir uns zumeist rasch. Míťa seufzte. »Ihr paßt einfach gut zueinander. Nicht immer im Leben klappt das so ideal.« Nein, ich glaube nicht, daß er mich heute noch beneidet, die Vergangenheit ist unwiederbringlich dahin, aber ich hatte das Gefühl, er hatte nicht ein solches Glück wie ich. Er stand auf. »Du solltest mich endlich rausschmeißen«, sagte er. »Ich schwatze und stehle dir die Zeit, statt mich schön bei dir zu bedanken. Also: Herr Professor, Sie haben goldene Hände, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen...«, deklamierte er scherzhaft. »Ich danke ebenfalls«, benutzte ich die ironische Floskel unserer Klinik. »Hast recht, ich hätte mit einer guten Flasche kommen sollen und sagen...« »Ich, der Ritter aus dem Internat, bin wieder einmal im Schlepptau der Sentimentalität...« Nein, diesmal waren wir beide auf Moll gestimmt. Er lud
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mich und Jitka zu sich ein. »Hab keine Angst, den Hof machen werde ich ihr nicht mehr!« »Versprich es nicht, jetzt wirst du bald in neuem Saft stehen!« Dann umarmten wir uns, klopften uns auf die Schultern. Ich hatte das gute und eigentlich ziemlich seltene Gefühl, ein Stück ehrliche Arbeit geleistet zu haben. An diesem Maientag, da sich Míťa von mir verabschiedete und da ich versprach, den kleinen Uzel zu operieren, brachte man uns auch die Hochschulstudentin Jana. Das wäre ein weiterer Fall, der den jungen Adepten der Journalistik interessieren könnte. Als Ruml es mir meldete, war er sehr aufgeregt. Das Mädchen habe einen Autounfall gehabt. Man habe sie im nächsten Kreiskrankenhaus versorgt, wolle sie aber zu uns überführen. Sie habe zwei Wirbel gebrochen und ihre Beine seien gelähmt. Obendrein sei es die Tochter eines Generaldirektors. Ihr Vater sei schon unterwegs zu uns. »Wollen Sie es sich anschauen, Herr Professor?« Man sah dem Oberarzt an, daß ihm die Sache zuwider war. Uns hingen alle diese Interventionen schon zum Halse heraus. Sie lauteten immer gleich: Widmen Sie ihm mehr Aufmerksamkeit, er ist der Freund von diesem oder jenem! Wir können dem einen nicht mehr Aufmerksamkeit widmen als einem anderen. Was läßt sich an einer Gehirnoperation besser oder schlechter machen? Jeder von uns bringt alles in seine Arbeit ein, was er hat. In der Chirurgie geht das nämlich nicht anders. Ich lächelte. »Soll ich mir's deshalb anschauen, weil sie einen prominenten Pappi hat oder weil es eine Kompression des Rückenmarks ist?« Ruml lachte mit mir. »Das stinkt einen an«, sagte er. »Die Patientin ist noch nicht da, und jeder will gleich wissen, ob wir das hinkriegen und sie wieder laufen kann. Und hinkriegen sollen wir es hauptsächlich deshalb, weil ihr Vater ein
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hohes Tier ist.« Ich zuckte die Achseln. »Ich frage mich nur, warum Sie das noch aufregt. Wenn die Patientin im Saal ist, rufen Sie mich.« Als ich kam, war alles schon zum Eingriff vorbereitet. Sie legten mir die Kontrastaufnahmen des Wirbelsäulenkanals vor. Ich sah, daß es sich um einen Luxationsbruch des Lendenwirbels mit Einklemmung der Gelenkfortsätze handelte. Die Beine waren nicht völlig gelähmt, noch bewegte sie sie, aber sie beherrschte sie immer schlechter. Offenbar bestand ein direkter Druck auf das Mark, und die Operation war sehr dringlich. Wir wuschen uns. Durch die Scheibe blickte ich in den Saal. Das Mädchen lag auf dem Bauch, das Gesicht nach unten. Die schwarzen Haare waren auf dem Scheitel mit einem Mullstreifen zusammengebunden. Ja, die Narkose kann beginnen. Ich besprach mit Doktor Krtek den Operationsvorgang. Schwester Zita war heute nicht im Saal. Sie unterhielt sich mit uns im Vorbereitungsraum. Wir nahmen die gewaschenen Hände hoch, und sie band uns die Bänder des Kittels fest.«Krtek drehte sich mit einem sehr beredten Lächeln zu ihr um. Zita schien mir heute anders, ihr Gesicht war gerötet, ihre Bewegungen rasch und irgendwie scheu. Nein, etwas Bestimmtes sah ich nicht. Alles verlief nur am Rande meines Bewußtseins. Aber woher kam dann dieses sonderbare und nicht eben angenehme Gefühl? Wenn Krteks Blick wirklich mehr bedeutete, sollte ich ihnen das nicht von Herzen gönnen? Oder hoffte ich, daß mich Zitas stille Ergebenheit bis zum Ende der Welt begleitete? Wir begannen zu operieren. Vorsichtig präparierten wir die Muskulatur. Der abgebrochene Teil des Wirbels hatte sich zum Glück nicht in den Wirbelsäulenkanal hineingedrückt, er war nur weggeschoben. Auf das Mark drückten die luxierten Gelenkfortsätze. Wir legten sie frei und brachten sie behutsam in die richtige Lage. Es gelang uns, die Wirbel und das Knochenbruchstück ans Rückgrat heranzuziehen.
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Endlich war das Mark von dem Druck befreit. Wir atmeten auf. Jetzt würde es sich schon erholen. Das wunderbare Geflecht seiner Nervenfasern, einem Bündel elektrischer Kabel gleich, wird wieder dem Körper die Bewegungsimpulse weiterleiten, und in die Extremitäten kann neues Leben strömen. Nein, das geschieht nicht sofort. Das Rückgrat muß sich erst wieder festigen, man muß für mindestens drei Monate ein festes Korsett anlegen, aber was ist das schon? Das Mädchen war schlank und sonnengebräunt. Auf dem Körper keine Spuren eines Badeanzugs. Wo hatte sie sich wohl gesonnt und mit wem? Sie studiere ein technisches Fach und treibe Sport, Schwimmen, sagte man mir. Ich stellte mir vor, wie sie zu den Vorlesungen läuft, die langen Beine in Jeans. Wird sie später in einem Betrieb als Ingenieurin arbeiten? Oder als Assistentin am Technikum? »Sie Studien an der Baufakultät«, sagte Krtek. »Sie hatte mit dem Wagen ihres Vaters eine Spritztour gemacht.« Offenbar stand sie schon auf eigenen Füßen. Ihr Vater hatte ihr ohne Bedenken das Auto anvertraut. Aber heute war sie nicht wiedergekommen, statt dessen hatten die Eltern die Unglücksnachricht erhalten. »Schicken Sie dann ihren Vater zu mir!« »Er wartet schon draußen«, meldete der Sanitäter, der soeben aus dem Flur hereinkam. Er wird wohl sehr erschüttert sein. Wird auf den Fliesen hin und her wandern und sich Vorwürfe machen, weil er ihr den Wagen geborgt hat. Alles hat für ihn an Bedeutung verloren, es gibt nur noch sie. Wird sie leben? Das ist immer die erste Frage. Dann erst kommt die zweite Welle von Angst, die immer gleich brennend ist: Wird sie gehen können, wird sie wieder ganz gesund? Es war jedoch nicht ganz so. Im Sessel auf dem Flur saß ein jung aussehender Mann im Rollkragenpullover, er war kaum fünfzig. Er notierte sich soeben etwas in einem Block, war wohl nicht gewohnt, zu faulenzen. Er sprach mich sehr
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forsch und beinahe heiter an, seine Gesten verrieten den tatkräftigen und erfolgreichen Menschen. »Dürfte ich nach dem Gesundheitszustand meiner Tochter fragen?« Kurz und knapp informierte ich ihn. Ich verheimlichte ihm nicht, daß es ein schwerer Unfall war. Sein Ausdruck veränderte sich in keiner Weise. Er wertete die Situation eben als Pech. Die Tochter fahre gut, sie sei offenbar ins Rutschen gekommen. Dazwischen ließ er die Bemerkung fallen, sie stamme aus seiner ersten Ehe. Sie wohne allein, sei sehr unternehmungslustig. Gestern habe sie sich das Auto geliehen, und dann sei es passiert. »Glauben Sie, sie kommt ohne Dauerschaden davon?« »Ich hoffe es«, sagte ich. »Aber jetzt braucht sie einige Monate große Fürsorge. Die Wirbelsäule muß sich wieder festigen. Ihre Tochter bedarf einer längeren Rehabilitation.« »Das ist allerdings schlecht«, sagte er mehr zu sich. »Ich weiß nicht, wer sich um sie kümmern sollte.« »Eine Mutter hat sie nicht mehr?« Die ganze Zeit, da wir miteinander sprachen, hatte er mir nicht in die Augen geblickt. Auch jetzt nicht. »Doch«, erwiderte er unlustig. »Eine Mutter hat sie. Aber sie verkehren überhaupt nicht miteinander. Meine erste Frau hat nämlich auch wieder Familie, sie wohnt außerhalb von Prag, wird sich an nichts binden wollen.« Wird sich an nichts binden wollen! Mich überlief es kalt. »Nur gut, daß sie wenigstens Sie hat«, sagte ich absichtlich, um aus ihm herauszulocken, wie weit sein kaltes Kalkül reichte. Er ging mir nicht auf den Leim. Begann nicht weitschweifig zu erklären, warum er selber nicht für die Tochter sorgen könne. Statt dessen lächelte er jovial. »Die Medizin ist doch heute so auf der Höhe! Und Jana ist sehr widerstandsfähig, sie hat immer alles rasch überstanden.« Mit Vorbedacht hatte ich ihm nicht gesagt, daß wir die Hilfe der Familie nicht brauchen, sondern Jana in ein Rehabilitati-
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onszentrum überweisen werden, wo sie bleiben kann, bis die Wirbelsäule völlig ausgeheilt ist. Dieses Mädchen wird gesund werden, aber wieviel Unfälle hatten wir schon, die schlecht endeten. Furchtbar war zum Beispiel der Fall »Karate«, wie wir ihn nannten. Zwei junge Männer hatten während der Arbeitszeit verschiedene Übungen aus einem Kurs zur Selbstverteidigung ausprobiert. Die Mitarbeiter schauten mit Interesse zu. Besonders effektvoll ist der Handkantenschlag ins Genick. Einer der beiden führte das vor. Dem Getroffenen knickten die Beine ein, und er stand nicht wieder auf. Einige Wochen lang wurde er auf der Neurologie behandelt, aber es führte zu nichts. Anscheinend war das Rückenmark schwer in Mitleidenschaft gezogen, und er würde sich nicht mehr erholen. Man schickte ihn zu uns, weil er Fieber und große Schmerzen bekam, es bestand der Verdacht auf einen eiternden Herd an der Stelle des Schlages. Wir hatten keine große Lust zu dieser Operation, aber es drohte eine Sepsis. Tatsächlich fanden wir einen epiduralen Abszeß, und wir konnten ihn beseitigen, doch zum Unglück bestand auch eine Entzündung der Spinnwebenhaut. Sie war verdickt und bildete um das Mark ein feines Netzwerk, das aussah wie eine Hülle aus Watte. Die Sepsis war fortgeschritten, die Entzündung hatte doch schon aufs Mark übergegriffen, es war nicht möglich, sie irgendwie zu stoppen. Der Patient starb eine Woche nach der Operation. Die Obduktion offenbarte nicht nur eine Entzündung, sondern auch eine Blutung in die graue Masse des Rückenmarks. Nach seinem Tode kam die Mutter zu mir, eine alte Frau vom Lande. Sie weinte nicht. Hatte einen verständnislosen und leicht erschrockenen Ausdruck im Gesicht, wiederholte nur dauernd: »Er war doch immer gesund. Niemals kränkelte er. Half uns das Heu mähen. Immer kam er zu uns, hackte das Holz, reparierte alles...« Er wird nie mehr kommen, wird seinen alten Eltern nie mehr
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helfen. In diesem Augenblick haßte ich Judo und Boxen und alle Sportarten, bei denen es zu solchen Unfällen kommt. Diese Mutter werde ich nie vergessen, er war ihr einziger Sohn. Mein junger Redakteur wäre jetzt wohl nicht mit mir zufrieden. Das ist zu stark, würde er sagen. Nichts ist ohne Risiko. Wir werden doch nicht nur deshalb zu reisen aufhören, weil irgendwo ein Flugzeug abstürzt oder ein Zug entgleist. Er hat recht, aber ich finde mich dennoch nicht gern mit einem überflüssigen Unfall ab oder gar mit einem überflüssigen Tod. Einmal hatten wir einen Jungen bei uns, der einem Fußball auf die Fahrbahn nachgerannt war. Ein Wolga fuhr ihn an. Den ersten Schlag erhielt er auf die Stirn. Er wurde weggeschleudert, prallte gegen einen Lichtmast. Dabei traf ihn ein zweiter Schlag an die Schläfe. Er kam mit dem Leben davon. Nur war er vorher Primus seiner Klasse, spielte sehr gut Geige, und jetzt geht er in die Hilfsschule. Unlängst sah ich ihn wieder. Er bildet schwerfällig kurze Sätze, und ein Arm ist gelähmt. Mußte das passieren? Die Eltern sind brave Leute, gehen beide arbeiten. Warum mußte das Kind ausgerechnet auf der Straße spielen? Neulich starb bei uns ein Nachtwächter. Er hatte sich bemüht, ein schlecht befestigtes Betonsegment festzuhalten, das sich auf dem Wagen lockerte. Drei junge Burschen standen dabei. Als sie sahen, daß das Segment ins Rutschen kam, spritzten sie nach allen Seiten auseinander. Nur der alte Mann, der noch im Rentenalter Nachtwächterdienste tat, war ohne Bedenken hinausgelaufen und stellte dem rutschenden Koloß aus Beton den eigenen Körper entgegen. Er hatte sich zusammen mit seiner Frau gefreut, jetzt mehr Zeit zu haben, da er nur die halbe Schicht arbeitete. Sie wollten reisen, beide waren gesund und voller Energie. Das erzählte er mir selber zwei Tage vor seinem Tode, kurz vor Weihnachten. Draußen fiel dicht der Schnee, die Flocken stießen im Dunkel ans Fenster wie unermüdliche Eintagsfliegen. Traurig beobachtete er das Schauspiel. Beide Beine
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waren unbeweglich und furchtbar angeschwollen. Die Haut darauf näßte. Das Rückenmark war durchgetrennt. »Meine Frau hat nichts vom Leben gehabt«, vertraute er mir an. »Sie hat bis vor kurzem für meine Eltern gesorgt, sie konnten zum Schluß nicht mehr gehen. Ich hab in der Fabrik gearbeitet, betreute die Lehrlinge, für nichts blieb Zeit. Wir hatten gehofft, daß wir jetzt endlich ein bißchen zu leben anfangen...« »Dazu wird es auch kommen«, versuchte ich ihn zu trösten. »Die Beine werden wieder trainiert. Sie müssen nur Geduld haben.« Er glaubte mir nicht. Schweigend sah er mich an, und dann blinzelte er, um die Tränen zu verbergen. Für sein Alter sah er noch jugendlich aus. Das Gesicht fast ohne Falten, die lockigen graumelierten Haare waren nicht gelichtet. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, ich werde nicht mehr gesund, aber sterben will ich noch nicht. Man muß sich damit abfinden, daß nichts mehr von dem geschehen wird, worauf man sich gefreut hat. Meine Frau wird sich auch schwer daran gewöhnen, wir hatten uns wirklich gern, haben uns gut verstanden. Ausgerechnet zu Weihnachten muß sie das treffen...« Es hatte keinen Sinn, ihn weiterhin zu beschwindeln. Er ahnte, daß der Tod schon nahe war, wie das bei aufmerksamen Menschen der Fall ist. Er starb genau am Heiligabend. Seine Frau saß stundenlang an seinem Bett, als sich sein Bewußtsein bereits durch einen barmherzigen Schleier getrübt hatte, und sie ließ seine Hand nicht los, solange er atmete. Ich suchte damals wie immer meine Patienten in der Klinik auf, und die ganzen Feiertage hindurch tauchte vor meinen Augen das regungslose Gesicht dieser Frau auf und ihr teilnahmslos ins Leere gerichteter Blick. Einmal bekamen wir ein Mädchen von knapp vierzehn Jahren in die Klinik, Hanička. Sie hatte einen Schlag mit einem großen, harten Ball auf den Kopf bekommen. Es war in der Turnstunde in der Schule passiert. Als man sie zu uns brach-
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te, war die eine Körperhälfte gelähmt. Aus einem anomalen Gefäß blutete es ins Gehirn. Sie begann schon bald nach der Operation zu gehen, alles schien wieder in Ordnung. Da kam es unvermittelt zu einer neuen Hirnblutung, an der sie schließlich starb. Einige Tage lang hielten wir sie mit künstlicher Beatmung am Leben. Ich erinnere mich an dieses schöne Mädchen in den verschiedenen Stadien ihrer Krankheit. Beim erstenmal hatte sie zwei schwarze, mit einem Band zusammengehaltene Zöpfe. Da war sie schon gelähmt, aber sie lächelte mich an. Ein Gesicht wie ein Porzellanpüppchen - milchweiße Haut und schwarze Brauen über großen blauen Guckerln. Dann bekam sie eine Mütze aus Mull, weil wir die Haare für die Operation opfern mußten. Und ich sagte mir: Das wird einmal eine Schönheit. Und schließlich mit dem Atmungsgerät, der schmächtige Körper unter dem weißen Laken, so wehrlos und erbärmlich, uns war zum Weinen. Wir wußten schon, daß sie nicht leben wird, daß alles Lüge war, was wir ihren Eltern zum Trost sagten, die ständig zu uns kamen, als sie nicht mehr zu ihr durften. Die Mutter war noch jung. Sie hatte schönes schwarzes Haar, der Vater kräftige Brauen und große blaue Augen. Beides hatte Hanička in die Wiege bekommen, aber die Welt um sie hatte diese Schönheit schlecht gehütet. An jenem Tag, da wir die Studentin Jana nach dem Autounfall operierten, gingen wir abends in ein Konzert des Prager Frühlings. In der Pause begegneten wir Krtek mit Zita. Er trug einen tadellos sitzenden schwarzen Anzug, Zita einen langen Samtrock und eine Spitzenbluse. Sie spazierten untergehakt durchs Foyer. Seit dem Tode seiner Tochter hatte ich ihn nicht so heiter und elegant gesehen. Hatte ich mich also doch nicht geirrt, als ich heute Krteks bedeutungsvollen Blick auffing! Beide wirkten leicht verlegen. Wir luden sie nach dem Konzert in eine Weinstube ein. Dort sagten sie es uns - sie wollten heiraten, aber in der Klinik wußte es noch keiner. Ob wir
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ihre Trauzeugen sein wollten? Zita schaute mich einen Augenblick lang mit einem unsicheren, entschuldigenden Lächeln an, als wollte sie um Verzeihung bitten. Das bewog mich, ihnen beiden mehrmals eifrig zu versichern, welche Freude mir diese Mitteilung bereitete. Wie töricht kam ihr jetzt wohl das Gelöbnis vor, das sie mir gegenüber vor Jahren abgelegt hatte! Beide waren glücklich, Krtek hatte bisher immer abgehackt gesprochen, jedes Wort ironisch gefärbt. Jetzt hatte er die weiche Stimme eines Verliebten. Jitka konnte den verblüfften Blick nicht von seinen Haaren wenden. Die immer und ewig ungekämmte graue Mähne war gebürstet und geglättet wie bei einem Gigolo. Wir prosteten einander zu, und langsam gewöhnten wir uns an die Neuigkeit. Krtek würde nicht mehr allein sein, das war ein guter Gedanke. Dennoch fühlte ich mit einem gewissen Bedauern, daß etwas Unwiederbringliches verloren war, daß zusammen mit Zita ein Stück des romantischen Traumes verschwand, der mich mit meiner Jugend in der Klinik verband.
<5> Noch an einen anderen Unfall erinnere ich mich genau. Es war ein Unfall mit einem guten Ende, der schon vor vielen Jahren passierte. In unserer Familie haben wir bis heute ein Andenken daran: einen Wohnwagen. Zu jener Zeit waren unsere Kinder noch klein. Wir fuhren Sonntag für Sonntag ins Grüne. Uns war egal, wohin. Noch heute kann ich mir die besonnten Lichtungen, den Duft des Kiefernwaldes vor meine Sinne zaubern. Jitka, die Haare von der Sonne weiß gebleicht, die Kinder, die wie braune warme Tierchen um uns herumtollten. Dann vererbte uns eine Tante eine Parzelle. Das war ein
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Grundstück, auf dem nur verwilderte Büsche, ein paar Fichten und Birken, eine große, unter Naturschutz stehende Eiche und alle möglichen Wald- und Wiesenblumen wuchsen. Die Tante hatte dort eine Villa bauen wollen, aber es war nie dazu gekommen. Die Kinder verliebten sich in die Parzelle. Wir mußten ihnen ein Zelt kaufen, und sie richteten sich dort ihren »Wohnsitz« ein. Jitka ärgerte das. Sie wollte nicht immer an den gleichen Ort fahren. Sie machte uns Vorwürfe, wir hätten Besitzerneigungen. »Wir sollten es verkaufen«, schlug sie vor. »Einen Bungalow bauen wir sowieso nicht, wozu brauchen wir das Stückchen Land?« »Es sei denn, wir schafften uns einen Wohnwagen an, vom Zirkus oder vom Bau«, platzte ich heraus. Die Kinder jubelten. Ein Wohnwagen? Das ist eine wunderbare Idee! Da könnte man doch drin kochen, vor dem Regen Unterschlupf finden und auch übernachten. »Du würdest wirklich einen kaufen?« fragten sie begierig. »So was ist nicht zu verkaufen«, fertigte ich sie ab. »Und wenn zufällig einer zu kriegen wäre, hätten wir sowieso kein Geld dafür.« Wir hatten die Sache längst vergessen, als die Geschichte mit der Kunstreiterin passierte. Man brachte sie direkt aus der Manege zu uns in die Klinik. Es war ein sehr schlankes, hübsches Mädchen von kaum achtzehn Jahren. Sie trug noch das Kostüm, in dem sie aufgetreten war: kurzes Röckchen, mit schimmernden Pailletten benäht, ein silbernes anliegendes Mieder und auf den dunklen Haaren ein glitzerndes Stirnband. Der rechte Arm hing kraftlos von der Trage. Beim Reiten war sie abgerutscht, und das Pferd hatte sie einige Runden hinter sich hergeschleppt. Sie wollte sich befreien, aber die Zügel hatten sich ihr ums Handgelenk geschlungen. In einem Augenblick zuckte das Pferd jäh mit dem Kopf, und sie spürte im Oberarm einen scharfen Schmerz. Seitdem konnte sie ihn nicht mehr bewegen.
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Ich hatte damals als relativ junger Assistent Sonntagsdienst. Aus dem gelähmten Oberarm schloß ich, daß höchstwahrscheinlich das Armgeflecht gerissen und die Rückenmarkswurzeln unterbrochen waren. Ähnliche Fälle kannten wir schon. Sie kommen bei Motorradunfällen vor, und wir hatten sie auch bei Skifahrern gesehen, die mit dem Stock an einem Baum hängengeblieben waren. Eine Operation ist hierbei so gut wie hoffnungslos. Auf dem Flur wartete der Vater des Mädchens. Ich gab ihm die notwendigsten Informationen. Verheimlichte ihm nicht, daß offenbar das Armgeflecht schwer betroffen war. Er müsse sich damit abfinden, daß der Arm gelähmt bleibe. Er kniete fast vor mir nieder. Beschwor mich, zu tun, was in meinen Kräften stünde. Ich sehe ihn wie heute vor min klein, eine Jockeifigur, ein unruhiger Vogelkopf, angstvoll gefaltete Hände. Ich hatte zusammen mit Růžička Dienst. Wir kehrten zu dem Mädchen zurück und untersuchten sie gründlich. Dabei stellten wir fest, daß die Schulter überaus schmerzhaft und stark geschwollen war. Auch ihre Kontur schien uns verändert. Sollte es eine bloße Luxation des Schultergelenks sein, die das Armgeflecht nur gequetscht hatte? Sogleich machten wir eine Röntgenaufnahme. Es verhielt sich wirklich so. Wir versorgten die ausgerenkte Schulter. Der Schmerz ließ nach, und die Kranke klagte über ein starkes Kribbeln im ganzen Arm. Zum erstenmal gelang es ihr wieder, ein wenig die Finger zu bewegen. Ich freute mich sehr darüber, traute mich aber noch nicht, dem Vater, der nach wie vor auf dem Flur wartete, etwas zu versprechen. Nur mit großer Mühe konnte ich ihn überreden, nach Hause zu gehen und am nächsten Tage erst wiederzukommen. Am Morgen zeigten wir die Verletzte dem Professor. Den Arm konnte sie noch nicht heben, aber sie war schon fähig, uns leicht die Finger zu drücken. Der Chef stimmte mit uns überein, daß die Verletzung der Nervenbündel nur leichten Grades war, was schließlich auch die weitere Untersuchung
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bestätigte. Die Bewegungsstörungen ließen von Tag zu Tag nach. Der Vater weinte buchstäblich vor Glück und dankte mir, wo er mich antraf. Er wollte nicht begreifen, daß mein Verdienst an der Genesung nur gering war. Wäre wirklich das Geflecht beschädigt gewesen, dann hätten wir für sie fast nichts tun können, sie hatte einfach Glück im Unglück. Bald verlegten wir sie in die Rehabilitation, aber dort blieb sie nur kurze Zeit, der Arm erholte sich bald völlig. Danach verloren wir sie aus den Augen. Es vergingen einige Monate, da erschien der Vater bei mir in der Wohnung. Sie seien gerade in Prag, und er wolle mir nur sagen, daß die Tochter bereits wieder reite. Gern würden sie uns zu einer Vorstellung einladen, auch unsere Kinder, falls wir welche hätten. Ich rief sie herein. Sie hüpften vor Freude. Am Ende brachten wir sie aber nur zur Vorstellung und holten sie nachher wieder ab. Wir hatten nicht die Zeit, bei ihnen zu bleiben. Alle drei kehrten zurück und plapperten Kraut und Rüben durcheinander. Sie erzählten uns, sie seien draußen auf einem Pony geritten und der Herr Materna sei eigentlich Dompteur und heiße zusammen mit seinem Bruder das »Duo Materna«. Ich weiß nicht mehr, was sie. sonst noch daherredeten, aber eine Sache behielten sie in taktischer Weitsicht für sich: daß sie Materna einen Wohnwagen abgeluchst hatten. Wie sich das Ganze abgespielt hatte, erfuhren wir erst später von ihnen. Es begann damit, daß die Maternas sie fragten, was sie sich mitnehmen möchten: ein Kätzchen, ein Äffchen oder ein dressiertes Hündchen? Sie widerstanden allen Verlockungen. Milan ergriff die Initiative. Er fragte, ob die Maternas nicht von einem Wohnwagen wüßten, der zu verkaufen sei. Der Alte kratzte sich hinterm Ohr. »Einen Wohnwagen möchtet ihr? Aber ihr habt doch keinen Platz, wo ihr ihn aufstellen könnt!«
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Alle drei fingen nun an, eifrig zu erklären, daß wir eine Parzelle besäßen. Einen Bungalow könnten wir nicht bauen, weil wir das Geld dazu nicht hätten. Vater habe selber gesagt: höchstens einen Wohnwagen, aber er fürchte, so etwas sei ebenfalls zu teuer. Das »Duo Materna« beriet sich lange. Dann kamen sie wieder und fragten die Kinder aus, wo diese Parzelle liege. Wenn sie es wünschten, könnten sie einen Wohnwagen von ihnen kaufen. Sie redeten ihnen ein, sie sollten uns eine Überraschung bereiten und uns vorher nichts sagen. Materna war ein alter Fuchs. Nach der Operation der Tochter hatte er sich wiederholt bemüht, mir Geld aufzudrängen. Damit konnte er bei mir nicht landen, und so hatte er sich offenbar jetzt in den Kopf gesetzt, sich so zu revanchieren. Milan gab an, er habe sechzig Kronen gespart, Ondra hatte etwa fünfundzwanzig. Die Brüder Materna sagten, das reiche, weil der Wohnwagen alt sei. Dann vereinbarten sie ein Treffen. Die Kinder schwänzten die Schule, ließen durch Mitschüler bestellen, sie müßten bei einem Umzug helfen. Genau besehen war das nicht einmal gelogen. Dann stiegen sie mit den Maternas in den LKW, mit dem diese den Wohnwagen auf die Parzelle abschleppten. Die Kinder schlichen einige Tage um uns herum wie Verschwörer. Wir ahnten, daß etwas im Busch war, aber wir hatten keine Zeit, darüber nachzudenken. Am Sonntag brachen wir wie immer zum Autobus auf. Unterwegs waren die beiden Jungen aufgeregt wie nie, und wir zerbrachen uns vergeblich den Kopf, warum wohl. Milan war ganz rot im Gesicht und schwitzte, Ondra hingegen war blaß, als täte ihm etwas weh. Eva hüpfte um uns herum, plapperte geheimnisvoll, offenbar wollte sie uns etwas andeuten, doch einer der Jungen stieß sie immer rechtzeitig an. Wir kamen zum Türchen. Als ich aufschloß, sah ich etwas durch die Bäume schimmern, aber noch ging mir kein Licht auf. Erst als auch Jitka ihren Blick dahin richtete, erfaßte mich eine ungute Ahnung. Wir traten näher heran. Jetzt
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erkannten wir es endlich. Der Wohnwagen stand rechts zwischen den Bäumen. Schön bunt, gelb mit grünen Fenstern und Stufen. Hinter den Fenstern hingen saubere Gardinen und an der Tür ein schweres Vorhängeschloß. Verwundert blieben wir stehen. Wie ist das Ding hierhergeraten? Der Herr Materna hat es uns gegeben? Aber warum hat er das getan? Ihr wißt doch genau, daß man von niemandem etwas umsonst nehmen darf! Milan war einem Kollaps nahe. Dennoch gelang es ihm, sich wichtigtuerisch zu gebärden. »Niemand hat uns etwas umsonst gegeben«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Wir haben den Wagen für fünfzig Kronen gekauft. Das haben wir schriftlich.« Ich dachte, ich falle in Ohnmacht. »Also gekauft habt ihr ihn! Für fünfzig Kronen! Ja, begreift ihr denn nicht, daß ein solcher Wohnwagen viel, viel mehr als fünfzig Kronen kostet?!« »Das ja. Aber der Herr Materna hat gesagt, er ist schon alt und könnte unterwegs zusammenfallen. Ohnehin hätten sie ihn irgendwo stehenlassen müssen, sie haben schon einen neuen. Er hat gesagt, sie sind froh, wenn sie ihn loswerden.« »Ihr seid wohl ganz verrückt geworden!« schrie ich sie an. »Daß ihr es bloß wißt - den Wohnwagen hat er uns deshalb gegeben, weil ich seine Tochter behandelt habe. Wißt ihr, wie man so etwas nennt? Schmiergeld! Weil ich nichts von ihm angenommen habe, hat er euch vorgeschoben. So etwas können wir doch nicht annehmen! Ich fahre gleich zu ihm, wir geben ihn zurück.« »Sie sind schon abgefahren«, sagte Eva lächelnd. »Sie haben gesagt, sie fahren weg und kommen erst in einem Jahr wieder.« Ich war wütend. »Dann geh ich zur Polizei, ich laß mich doch nicht euretwegen einsperren!« Die Jungen saßen starr und steif auf der Treppe des unglückseligen Wagens. Jitka musterte einen nach dem ande-
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ren, biß sich auf die Lippe und lachte plötzlich laut los. »Also ihr... ihr habt einen Wohnwagen gekauft...«, stieß sie hervor. »Ihr habt für bloße fünfzig Kronen einen Wohnwagen gekauft, und der Pappi schimpft euch dafür noch aus!« Verständnislos sah ich sie an. Ich dachte schon, sie hätte einen hysterischen Anfall, weil sie so aus vollem Halse lachte, daß sie sich fast verschluckte. »Wir haben eben... unternehmungslustige Kinderchen... So ein Wohnwagen, das ist doch etwas... darin kann man kochen und vielleicht auch schlafen...« »Siehst du, Vati, die Mama sagt es auch...«, stammelte Milan in neuer Hoffnung. »Behalten wir ihn doch«, bettelten alle drei. »Wir können ihn doch immer noch zurückgeben, in einem Jahr, wenn die Maternas wieder da sind...« »Siehst du, das ist eigentlich wahr.« Jitka wischte «ich die Augen, die vor Lachen tränten. »Nach einem Jahr geben wir ihn wieder zurück! Denn wie können wir ihn jetzt zurückgeben, wo doch die Maternas nicht mehr da sind! Unsere Kinderchen sind nicht nur unternehmungslustig, sondern auch gerissen...« Die Kinder sahen, daß sie gewonnenes Spiel hatten. Sie faßten sich an den Händen und tanzten einen Reigen um uns. »Wo hast du eigentlich das Schriftliche, Milan?« fragte ich. Flugs reichte er mir ein Blatt Papier. Es waren eigentlich zwei Blätter. Das eine war ein Brief an mich. Der alte Materna dankte mir darin noch einmal und entschuldigte sich, etwas ohne mein Wissen getan zu haben. »Ihre Kinder haben es sich so gewünscht, und Sie wären damit bestimmt nicht einverstanden gewesen«, schrieb er mir. Das zweite Papier war eine Verschreibung. Darin stand, daß er, Materna, laut mündlicher Vereinbarung seinen Wohnwagen auf unserem Grundstück stehen lasse, weil er keinen anderen Platz zum Abstellen habe. Dafür könnten wir ihn benutzen, bis er sich ihn wieder abhole. War das vom rechtlichen
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Standpunkt reell? Auf Ehre und Gewissen, ich wußte es nicht, aber es beruhigte mich. Milan zog den Schlüssel aus der Tasche. Im Inneren waren ein Tisch, Stühle, zwei Feldbetten, an der Wand ein Regal mit einigen Schüsseln und Pfannen, in der Ecke ein Waschbecken. Eva trug einen kleinen Rucksack, den sie unterwegs nicht einmal den Jungen überlassen hatte. Darin waren Bakelitteller und -tassen, die sie von ihrem Taschengeld gekauft hatte. So bekamen wir ein Dach über den Kopf. Es ist wahrlich schon lange her, aber wenn unsere Familie zusammenkommt, erinnert sich jedesmal einer daran, wie die Kinder den Wohnwagen gekauft haben. Wir haben ihn bis heute, obwohl wir auf der Parzelle am Ende doch ein Häuschen bauten, wohin jetzt Eva mit ihrem Mann an den Wochenenden fährt. Unser lieber alter Wohnwagen ist immer noch wie neu. Dann und wann repariert und lackiert ihn jemand. Er ist malerisch von Himbeersträuchern umwachsen, und vor ihm breitet sich eine Wiese mit Margeriten und Kornblumen aus. Als wir seinerzeit für die Reise nach Jugoslawien auf den angebotenen Wohnwagen der Vyskočils verzichteten, geschah dies auch aus Achtung vor dem alten Komödiantenwagen. Wir wohnten tatsächlich an den Wochenenden darin. Das Wasser holten wir aus dem Bach, und das Essen wärmten wir auf dem Öfchen. Wir schliefen auf den Feldbetten und die Kinder draußen im Zelt. Abends lagen wir im Gras und schauten hinauf zu den Sternen. Wir unterhielten uns über alles mögliche, auch über Krankheiten, über den Tod, darüber, warum der Mensch arbeiten muß und warum man nicht unehrlich leben darf. Die Kinder fragten nach Dingen, nach denen sie am hellen Tag nie gefragt hätten. Manchmal sangen wir auch leise. Zuweilen spielten wir ein Spiel: Wir kritisierten einen von uns, auch mich und Jitka selbstverständlich. So erfuhren wir, daß sie zu wenig Taschengeld bekommen. Daß wir ihnen
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nicht bei den Schularbeiten helfen wie die Eltern anderer Kinder. Daß es jedoch andererseits mit uns viel Spaß gibt. Der Vater allerdings schreit manchmal wegen nichts und wieder nichts. Jitka wieder lacht sie oft aus, und das kränkt sie mitunter. Milan hielten wir seine Angeberei vor. Zuerst wurde er böse und heulte sogar, aber dann ging er in sich und gelobte Besserung. Ondra war eigensinnig, er gab nicht gern nach. Als wir ihm das vorwarfen, war er bemüht, sich zu ändern. Das fiel ihm sehr schwer. Man sah ihm geradezu an, was es ihm für Mühe bereitete, wenn er bestrebt war, sich zu mäßigen und nicht um jeden Preis auf seinem Willen zu bestehen. Aber Milan und Eva achte ‚ ten ihn dafür. und abends roch es nach Quendel. Wir aßen bescheiden, meistens saßen wir auf der Treppe, jeder einen Ranft Brot in der Hand. Wir hatten nur eine Petroleumlampe, kein elektrisches Licht. Wenn die Kinder im Zelt eingeschlafen waren, gingen wir manchmal noch im Wald spazieren und sprachen über sie. Wir meinten, sie wüchsen wohlbehütet auf und erhielten auch genug Gefühl, um zu guten Menschen zu reifen. Mein junger Redakteur wird nicht mit mir zufrieden sein. Statt etwas Interessantes aus meinem Fachgebiet auszuwählen, erinnere ich mich an alte Zeiten. Aber was kann ihn wirklich interessieren? Was wir täglich leisten, ist schließlich nur die übliche Arbeit eines Arztes. Wer, außer einem Fachmann, kann würdigen, daß wir da und dort selbst einen Fall geheilt haben, der aussichtslos schien, weil wir eine neue Operationsmethode angewendet haben? Sicher erwartet er nur Positives und Konstruktives von mir. Aber wenn ich ihm nun die vertrackte Geschichte erzähle, die sich in der Chirurgie zutrug! Nachlässigkeit, Beschwerde, Disziplinarkommission. Beinahe hätte der Famulus Velecký am meisten darunter leiden müssen. Es geschah zu Beginn des Frühlings. Die Tage waren noch kalt, im Krankenhaus wurde jedoch wenig geheizt. Velecký tat statt der Schwester in der Chirurgie Dienst.
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Die Studenten verdienen sich so etwas dazu und erwerben zugleich eine gute Praxis. Abends wurde eine alte Frau eingeliefert, sie war vielleicht schon fünfundachtzig. Sie hatte eine geplatzte Gallenblase. Auf der Station gab es kein einziges freies Bett. Der Chirurg überlegte - operieren? Nicht operieren? Die Verwandten zögerten, ihre Zustimmung zu geben. Die Großmutter sei alt, werde sie das überhaupt überleben? Dann stimmten sie doch zu. Es wurde eine geradezu übermenschliche Plackerei. Die Gallenblase war vereitert, die Gallensteine in der Bauchhöhle verstreut. Sie reinigten alles, beatmeten die alte Frau künstlich, ihr ging es nach der Narkose schlecht. Schließlich legten sie sie in ein Einzelzimmer, in dem allerdings eine Eiseskälte herrschte, weil die Heizung nicht funktionierte. Sie deckten sie gut zu und sicherten sie mit Antibiotika. Dann kam Velecký. Er fürchtete, die alte Frau könne eine Lungenentzündung bekommen und nach all der Mühe am Ende doch noch sterben. Er holte aus dem Arztzimmer eine Heizsonne und stellte sie neben das Bett. Velecký hatte es gut gemeint, doch diesmal erwies er sich als absolut ungeschickt. Er überlegte, wo er die Heizsonne aufstellen könnte. Ein Stuhl war zu niedrig. Er legte also noch ein paar Bücher und das Speisetablett darauf. Kurz und gut, er baute das denkbar labilste Postament. Die alte Frau warf sich offenbar hin und her und stieß dabei gegen den Stuhl. Die Heizsonne fiel aufs Bett, und die Zudecke begann zu brennen.« Eine Schwester überwachte zum Glück die Patientin. Schon einige Sekunden später kam sie herein. Dennoch konnte sie nicht verhindern, daß sich die Patientin den Arm verbrannte. Es bildete sich eine große Blase, die Haut ringsum rötete sich. Die alte Frau merkte nichts davon, nach der Narkose schlief sie tief. Auf dem Flur wartete ihre Tochter. Sie bettelte die Schwester, wenigstens von der Tür her einen Blick auf die Mutter werfen zu dürfen. Leider sah sie alles, auch wie der Doktor
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die Verbrennung behandelte. Sie wartete nicht mehr, ging nach Hause, und gleich am nächsten Tage reichte die Familie gerichtliche Klage ein, weil die Mutter durch die Schuld des Personals einen Unfall erlitten habe. Die alte Frau überstand alles, sie hatte darüber hinaus noch eine leichte Lungenembolie. Nach drei Wochen kehrte sie zu ihren Angehörigen zurück. Allen dankte sie von Herzen. Um so größer war die Überraschung der Chirurgen, als sie über die Direktion eine Vorladung zum Gericht erhielten. Die Verwandten hatten das Krankenhaus verklagt und verlangten Schadenersatz. Solange die alte Frau in der Klinik war, hatte keiner etwas Derartiges erwähnt. Dann begannen die Wege zum Gericht: der Direktor, sein Stellvertreter, der Arzt, der Dienst gehabt hatte, die Schwester und der Medizinstudent Velecký. Wie das überhaupt passieren konnte, fragte man sie. Kein einziges Bett sei frei gewesen? Aber warum habe man dann die Kranke überhaupt aufgenommen? Wenn ein Verzug Gefahr bedeutet habe, warum stehe für einen solchen Fall nicht ein Bett zur Verfügung? Wie konnte der Medizinstudent ohne Erlaubnis des Arztes diese Notbeheizung installieren? Im Krankenhaus wurde eine Disziplinarkommission gebildet. Ich gehörte ihr ebenfalls an. Dort besprach man die genauen Umstände: Warum wurden die Sicherheitsbestimmungen nicht eingehalten? Wieso wurde eine Heizsonne benutzt? Im Arztzimmer dürfe es so etwas gar nicht geben, es ist verboten, damit zusätzlich zu heizen. Der Unfall sei zwar im Statusblatt eingetragen worden, aber warum wurde er nicht bei der Direktion gemeldet? Warum? Warum? Hundertmal warum. Zu allem Überfluß war Velecký störrisch wie ein Maulesel. »Du sagst einfach, du hättest mich gefragt«, befahl ihm der Arzt, der damals Dienst hatte. »Sonst reißt du dich und mich nur noch mehr herein.« »Das kann ich nicht, weil es nicht wahr ist«, wiederholte Velecký bis zum Überdruß.
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Der Chef der Chirurgie bat Ruml um Hilfe. »Er ist Ihr Famulus, reden Sie mit ihm. Uns werfen sie vor, daß die Studenten in der Klinik machen, was sie wollen. Am Ende wird man den Jungen noch exmatrikulieren.« »Keine Angst, wir bringen ihn zur Vernunft«, versprach Ruml, aber er wußte nicht, was er da versprochen hatte. Er redete eine Stunde lang auf Velecký ein, ohne ihn umstimmen zu können. Dann kam er zu mir. »Ich bitte Sie, sprechen Sie selber mit ihm. Auf Sie hört er vielleicht.« »Gut, schicken Sie ihn zu mir.« »Hören Sie zu, mein Freund«, redete ich ihm zu. »Niemand verlangt von Ihnen einen Betrug. Wenn Sie Dienst in der Chirurgie haben, machen Sie doch nichts auf eigene Faust. Sie sollten die Patientin ins Bett legen. Haben Sie gefragt, was für eine Injektion sie bekommt?« »Ja. Rolitetrazyklin. Und wenn sie aufwacht und Schmerzen hat, Eunalgit.« »Sehen Sie, Sie haben also nicht gemacht, was Sie gerade wollten. Vielleicht haben Sie auch wegen der Heizsonne gefragt?« »Wegen der hab ich nicht gefragt, Herr Professor.« »Vielleicht haben Sie es schon vergessen.« »Das hab ich nicht, ich hab sie doch heimlich aus dem Zimmer genommen.« Ruml saß dabei. »Mein Gott, ist das ein Dussel«, stöhnte er leise. Velecký hatte es gehört und lief rot an. »Kann doch sein, Ihnen ist es gar nicht eingefallen, um Erlaubnis zu bitten.« »Doch«, erwiderte der Student störrisch. »Aber ich dachte, der Herr Doktor würde es nicht erlauben. Die Steckdose war weit entfernt, ich mußte eine Verlängerungsschnur anschließen, das soll man auch nicht.« »Da hören Sie ihn«, triumphierte Ruml. »Sie werden ihn exen, er wird immer das gleiche behaupten.«
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»Weil der Herr Doktor Šejnoha nichts dafür kann«, wiederholte Velecký verstockt. »Wenn man mich exmatrikuliert, wäre das ungerecht. Ich habe nichts getan.« »Sicher, dem stimme ich zu. Warum sollten Sie sich also exmatrikulieren lassen?« »Vielleicht kommt es nicht dazu. Ich wollte doch der Frau nur helfen.« Ich verstand ihn nur allzu gut. Er glaubte, jedermann müsse die gute Absicht anerkennen. Vergeblich hielt ich ihm vor, daß selbst ein Vater verurteilt werde, wenn er durch einen Unfall den Tod des eigenen Kindes verschuldet hat. »Gut, dann werde ich die Folgen eben tragen«, sagte er. Sie selbst haben einmal bei einer Vorlesung gesagt, man dürfe der Verantwortung niemals ausweichen. Warum sollten der Herr Doktor oder die Schwester das für mich ausbaden?« »Die letzte Verantwortung für alles tragen sowieso der Direktor und der diensthabende Arzt«, redete Ruml auf ihn ein. »Mag sein, aber ich werde es auf niemanden abschieben.« Wir ließen es dabei. Dann luden wir ihn gemeinsam mit Doktor Šejnoha und der Schwester, die damals Dienst hatte, vor die Disziplinarkommission. Als Vorsitzender fungierte Krejza, ein junger Dozent aus der Dermatologie, der zu dieser Zeit den Direktor vertrat. Er nahm vor allem Velecký und die Schwester aufs Korn, gegen Šejnoha war er sanfter. Ich wußte, warum, Šejnoha hatte seine Mutter operiert, Magen oder so etwas. Deshalb betonte er ständig, der Arzt und der Direktor hätten nur die formale Verantwortung, sie könnten nicht alles wissen, was während des Dienstes passiert, sie müßten sich auf ihr Personal verlassen können. Gegen die Schwester war er sehr hart. Penetrant wiederholte er, ein Krankenhaus sei kein Notasyl, sondern eine Heilanstalt, wo man nicht improvisieren dürfe. Eine Schwester müsse wissen, was auf der Station geschieht. Es liege ein grober Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen vor. Die Schwester solle zu den Verbrennungen versetzt werden, das
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sei die einzige Möglichkeit, wie sie lernen könne, wozu solch mangelnde Vorsicht führt. Und Velecký? Er beantrage eine Stelle im Krankenhaus. Er habe sich jedoch als verantwortungsloser Mitarbeiter erwiesen. Es wird richtiger für ihn sein, dahin zu gehen, wo er praktische Medizin kennenlerne. Wo er begreife, daß der Arzt für seinen Patienten bürgt. Ich weiß nicht, warum mich jeder Satz des Dozenten Krejza so reizte. Er hatte die scharfe Stimme eines Untersuchungsrichters und die Gesten eines Predigers. Ich sah, daß er seine Rolle eines Verteidigers der Gerechtigkeit ernst nahm, schließlich war er ein junger, ehrgeiziger Mensch. Seine Ansichten waren unerschütterlich. Bis zum Überdruß wiederholte er, man dürfe die ganze Angelegenheit nicht ohne Disziplinarstrafen übergehen, zumal eine Anklage vorliege und eine Gerichtsverhandlung drohe. Er forderte, konkrete Vorschläge an den Direktor zu formulieren: Die Schwester wird in die Abteilung der Verbrennungen versetzt, und Velecký wird nicht am Krankenhaus eingestellt. Als Grund sollten wir Unterlassung der Fürsorgepflicht und nachlässige Einstellung zur Arbeit und zu den Menschen anführen, was mit der Moral eines sozialistischen Menschen unvereinbar sei. Beide »Delinquenten« verteidigten sich nicht. Šejnoha meldete sich zu Wort. Er erklärte, er habe zumindest die gleiche Schuld wie die beiden. Von der Heizsonne habe er zwar nichts gewußt, aber ihre Aufstellung hätte er zweifellos erlaubt. Die Schwester sei auf der Station allein gewesen, sie könne die Augen nicht überall haben. Krejza hörte ihn nachsichtig an und ließ sich vernehmen, der Doktor könne nicht edelmütig die Schuld auf sich nehmen, so würden wir nicht weiterkommen. Zum. Schluß sagte er, die Kommission werde jetzt beraten und die drei könnten gehen. Danach schwiegen alle verlegen eine Weile. Der Dozent begriff, daß er uns nicht überzeugt hatte. Er stand auf und
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donnerte los: »Kollegen, seien Sie sich bewußt, daß wir den beiden gegenüber auch erzieherische Pflichten haben! Sie müssen eine Lehre fürs Leben erhalten! Und es sind nicht für ein Student und eine Schwester, über die wir heute eine Entscheidung treffen, sondern der gute Ruf unseres Gesundheitswesens! Wo kämen wir hin, wenn wir bei den jungen Leuten, anstatt Disziplin zu verlangen, eine solche Anarchie zuließen? Über den Fall sollten alle Beschäftigten des Krankenhauses informiert werden, nur so werden wir etwas Derartiges in Zukunft verhüten!« Er sprach und sprach. Seine Sätze wurden immer blumiger, die Phrasen geschwollener. Ich konnte mich nicht länger zurückhalten. »Ich glaube, ich hätte der alten Frau auch eine Heizsonne hingestellt«, unterbrach ich Krejza. »Vielleicht wäre mir das gleiche passiert wie diesem Studenten. Es war einfach ein Mißgeschick. Ich kann nicht begreifen, warum nur die beiden die Schuld tragen sollen! Fragen wir doch, warum er das getan hat! Weil das Zimmer ungeheizt war. Hätte die Heizung funktioniert, wäre nichts passiert.« In der Disziplinarkommission saßen auch Váchal, der Chefarzt der Transfusionsabteilung, die Oberin Koutecká und Klika, der Chef der Werkstätten. Nach meinen Worten lebten alle auf. »Das ist wahr«, schloß sich mir Klika an. »Wir könnten genausogut die Werkstätten beschuldigen. Wäre die Heizung rechtzeitig repariert worden, hätte niemand eine Heizsonne gebraucht.« Krejza war aus der Fassung gebracht, offenbar hatte er nicht mit einer großen Diskussion gerechnet. Er griff jetzt nach dem Motto an: Divide et impera - teile und herrsche. Er machte mich zum Kläger. »Dann erklären Sie dem Herrn Professor, warum die Heizung nicht funktionierte, wenn er danach fragt! Sie haben doch die Aufsicht über die Werkstätten!« Ja, er kannte sich in Taktik aus. Aber Klika ließ sich nicht
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beirren. »Das werde ich selbstverständlich feststellen. Aber der Genosse Professor hatte etwas anderes im Sinn. Wir wollten diesen Unfall in breiterem Zusammenhang beurteilen. Vielleicht würden wir noch andere Ursachen finden. Es war kein Bett frei, die Schwester war allein im Dienst...« Der Dozent hatte sich schon wieder gefaßt. Seine Blicke glichen wieder Pfeilen. »Wo sind wir denn, Kollegen? Wollen Sie vielleicht aus falscher Solidarität einen solchen Schlendrian verteidigen?« Ich fühlte, wie mein Lid zu zucken begann. Wenn ich mich jetzt nicht beherrsche, fange ich Streit mit ihm an! Die Oberin Koutecká hatte lange still neben mir gesessen, vor sich einen Streifen Papier, den sie konzentriert in immer kleinere Rechtecke faltete. Jetzt sagte sie unvermittelt mit Nachdruck: »Kollege Dozent, ich bin sehr streng zu den Schwestern. Manchmal tadle ich sie wegen einer Kleinigkeit, anders geht es nicht, die Ordnung muß ihnen in Fleisch und Blut übergehen. Aber wenn sie etwas aus gutem Willen tun, dann kann man das nur schwer als gewöhnlichen Fehltritt betrachten. Übrigens ist es Aufgabe der Juristen, zu beurteilen, ob es sich um eine Unterlassung der Fürsorgepflicht handelte. Wir sind dazu da, unsere Leute im Ganzen einzuschätzen, auch von ihrer guten Seite. Wir wollen doch nicht, daß sie ihr Leben lang ein Gefühl der Kränkung behalten!« Krejza lief rot an. »Das ist der reinste Opportunismus! Stellen Sie sich vor, die Schwester wäre nicht rechtzeitig zu der Kranken gekommen! Die Frau hätte verbrennen können!« »Das mag sein«, räumte die Oberin ein. »Aber sie ist rechtzeitig gekommen. Deshalb ist zum Glück nichts Schlimmeres passiert.« Der Kommissionsvorsitzende hatte auf seine Weise recht, es hätte mehr passieren können, aber ich konnte ihm nicht beistehen. Die Oberin war unbeugsam. Sie heftete ihre schwarzen, glänzenden Perlen ähnelnden Augen auf Krejza,
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und ihr rundliches Gesicht zeigte kindliche Arglosigkeit. »Ich hatte neulich auch mit einer Schwester aus Ihrer Hautabteilung zu tun, Herr Dozent«, hielt sie ihm vor und begann das zusammengefaltete Rechteck wieder auseinanderzufalten und zu glätten. »Sicher erinnern Sie sich daran. Sie hatte eine falsche Insulinspritze gegeben. Statt acht Einheiten spritzte sie acht Kubik.« »Das gehört nicht hierher«, verwahrte sich der Dozent gereizt. »Wieso nicht? Sie hat acht Kubik gespritzt, weil das der Herr Doktor in seiner Zerstreutheit in das Statusblatt geschrieben hat.« »Der Schwester mußte doch auffallen, daß es nur ein Schreibfehler sein konnte. Sie muß bei ihrer Arbeit denken. Ich hab's ihr ja auch gleich gesagt. Acht Kubik sind dreihundertsechzig Einheiten, das hätte sie sich ausrechnen können!« »Sehen Sie«, triumphierte die Oberin. »Diese Dosis hätte für einen hypoglykämischen Schock ausgereicht, aus dem die Kranke kaum wieder zu sich gekommen wäre. Und wieso sollte die Schwester vermuten, daß der Doktor sich verschrieben hatte? Sie hat doch die Pflicht, exakt alle Hinweise auf dem Statusblatt zu erfüllen. Zum Glück wurde sie stutzig und ging gleich fragen, nachdem sie gespritzt hatte...« »Stimmt, und der Doktor griff sogleich ein«, ergänzte sie Krejza schroff. »Er rief den Chirurgen, und sie holten eine große Menge wieder heraus. Setzten eine Glukoseinfusion an...« »Also wer hatte dann die größere Schuld, der Doktor oder die Schwester! Oder der Direktor, wenn er solches Personal hat...« »Das läßt sich nicht mit dem Unfall durch die Heizsonne vergleichen«, fiel der Dozent der Oberin ins Wort. »Bei uns war das eine rein medizinische Sache, die wir rechtzeitig liquidiert haben.«
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»Na, ich weiß ja nicht, warum man das nicht vergleichen kann«, meldete sich Klika zu Wort. »Es ist doch noch schlimmer, wenn jemand eine falsche Injektion erhält und man ihm dann den Arm aufschneiden muß, um es wieder in Ordnung zu bringen.« Auch der vorsichtige Váchal schloß sich an. »Ein Fehler bei einer ärztlichen Leistung ist bestimmt schwerwiegender. Bedenken Sie, wie streng eine Vertauschung der Blutgruppe bei einer Transfusion beurteilt wird.« »Kurz und gut«, sagte die Oberin im Brustton der Überzeugung, »wenn damals bei Ihnen nicht sofort eingegriffen worden wäre, lebte die Frau nicht mehr.« »Es wurde aber rechtzeitig eingegriffen«, unterbrach sie der Dozent scharf. »Gewiß, genauso wie in der Chirurgie bei der Heizsonne.« Die Oberin hatte Oberwasser. »Und bei Ihnen hätte damals auch nicht viel gefehlt, und Sie hätten ein Gerichtsverfahren auf dem Halse gehabt.« Der Dozent breitete die Arme aus. »Bitte sehr«, entfuhr es ihm. »Wo kein Kläger ist, gibt es allerdings auch keinen Richter.« Ich mußte laut lachen. »Da sehen Sie, wohin wir geraten sind. In unserem Fall gibt es einen Kläger und einen Richter, wir müssen also streng urteilen. Liegt darin ein Prinzip?« Krejza war beleidigt. Er hielt mir vor, daß ich als Mitglied der Disziplinarkommission meine Funktion nicht bagatellisieren dürfe. Wir seien dazu da, den Fall einer Verbrennung zu behandeln, nicht aber die übrigen Abteilungen zu kritisieren. Er sprach noch eine Weile, doch seine Sicherheit war dahin. Am Ende gab er zu, daß der Direktor verärgert sei. Jeder Gerichtsprozeß werfe ein schlechtes Licht auf das Krankenhaus. Wir könnten uns keinen Kompromiß erlauben. Das Krankenhaus solle in absehbarer Zeit eine Auszeichnung erhalten. Das brachte mich in Rage. »Gerade deshalb«, betonte ich. »Kollege Klika hatte recht, als er vorschlug, die Frage der
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Schuld ein bißchen breiter zu stellen. Warum halten wir in den Kliniken nicht mehr Betten in Reserve? Ich werd's Ihnen sagen. Wenn zufällig eines leer bliebe, wäre das Belegungssoll nicht erfüllt, und das sieht die Leitung des Krankenhauses nicht gern. Dafür werden sogar Prämien gestrichen. Wie wär's, wenn wir mit dem Kollegen Direktor auch darüber sprächen?« Der Dozent wurde blaß. »So können wir das doch nicht betrachten! Was hat das mit dem Unfall zu tun?« »Das hängt alles zusammen, das sollten wir beide wissen, wenn wir junge Menschen erziehen wollen. In der Chirurgie war kein Reservebett vorhanden. Wäre eines dagewesen, dann brauchte das nicht zu passieren.« Auf einmal wollte Krejza nicht mehr weiterverhandeln. Er sah wohl schon, daß er zur nächsten Kommissionssitzung auch den Direktor einladen mußte. Er akzeptierte den Vorschlag, die Entscheidung aufzuschieben und sie auf der nächsten Sitzung zu formulieren. Das war gut, weil die Affäre mit der Verbrennung ein Happy-End hatte. Ich erfuhr, wie es verlief: Die alte Frau, die die Verbrennung erlitten hatte, lief schon wieder flink wie ein Wiesel umher. Einmal in der Woche erschien sie in der chirurgischen Ambulanz, um dem Doktor zu zeigen, wie die Wunde heilte. Niemand machte ihr einen Vorwurf, obwohl alle von der Klage wußten. Sie behandelten sie freundlich, nahmen sie außer der Reihe dran. Die Frau war gesprächig, erzählte alles mögliche, und immer wieder schilderte sie, wie sie hergekommen war, den Tod im Nacken. Die Verbrennung am Arm war längst geheilt, an den Unfall dachte sie gar nicht mehr. Einmal nach einer solchen Untersuchung, als der Doktor schon gegangen und sie mit der Schwester allein war, holte sie eine Tafel Schokolade aus der Handtasche. »Nehmen Sie, Sie haben so viel Arbeit mit mir. Nehmen Sie, es ist doch nur eine Kleinigkeit.«
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Die junge Schwester aber blieb hart. »Ich nehme nichts. Ich tue nur meine Pflicht. Niemand hier nimmt etwas von Ihnen.« Das sagte sie mit einem solchen Nachdruck, daß die alte Frau stutzte. »Warum denn nicht?« fragte sie. »Ich hab's doch gut gemeint, da müssen Sie doch nicht gleich beleidigt sein! Oder glauben Sie, ich bin ein armer Schlucker? Das bin ich nicht, Geld habe ich genug.« Die Schwester konnte sich nicht mehr zurückhalten und brach die stille Übereinkunft der Klinik. Alles breitete sie vor der alten Frau aus. Und da zeigte es sich, daß die Patientin von der Klage überhaupt nichts wußte. Anfangs begriff sie lange nicht, wovon die Rede war. Daß die Ärzte vor Gericht mußten? Wegen ihrer Verbrennung? Aber wer sollte denn daran Anstoß nehmen, wo sie ihr hier das Leben gerettet hatten? Hauptsache, der Herr Doktor hat sie operiert, sonst wäre sie doch heute nicht mehr am Leben! Doktor Šejnoha schilderte mir diese Szene sehr humorvoll. Zufällig war er in den Behandlungsraum zurückgekehrt, als die alte Frau gerade in höchster Rage war. Sie stand vor der Schwester wie ein Spatz mit gesträubtem Gefieder, klein, aber voller Energie. Sie fuchtelte mit der Handtasche herum und schimpfte auf ihre Verwandten. »Ach, diese Bagage! Mir so was anzutun! Alles kriegen sie nach meinem Tode, die eine Tochter das Haus, die andere die Sparbücher. Die Schwiegersöhne scharwenzeln um mich herum wie die Engel, und dabei reichen sie eine Klage ein, um Schmerzensgeld rauszuschlagen! Sie können den Hals nicht voll genug kriegen. Aber wartet, das zahl ich euch heim, ihr habgierige Bande!« Dann fiel ihr Blick auf Šejnoha. Sie machte sich auch über ihn her: »Warum haben Sie mir nichts gesagt, Herr Doktor? Wie steh ich denn jetzt da vor euch allen? Und warum hat man nicht auch mich geladen, ich hätte dem Gericht schon klargemacht, wie alles war!«
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»Sie haben doch die Klage selber unterschrieben«, hielt ihr die Ambulanzschwester vor. »Ja! Das ist der größte Schwindel. Sie haben mir was zum Unterschreiben gegeben, aber da tat mir noch der Bauch weh. Sie sagten, sie wollten mir Telefon legen lassen, damit ich sie anrufen kann, wenn es mir schlecht geht. Hielten mir ein Blatt Papier unter die Nase: ›Omi, hier, unterschreib das mal!‹ Das war eine richtige Lumperei. Na wartet, ihr Gierschlünde, ihr habt das Testament noch nicht in der Hand!« Vor der Tür der Ambulanz wartete ein vierschrötiger Mann. In der Hand klimperte der Autoschlüssel. »Sehen Sie, das ist einer der Schwiegersöhne«, sagte die Alte und zeigte über die Schulter. »Er fährt mich mit dem Auto her, aber dafür will er was einsacken, wenn ich ins Gras beiße.« Sie schritt frisch und munter hinaus, an dem jungen Mann vorbei, als wäre er Luft. Eine Weile starrte er ihr verblüfft nach, aber dann ging ihm wohl ein Licht auf. Er duckte sich, räusperte sich und eilte ihr mit raschen Schritten nach. Ich hätte gern miterlebt, was dann bei ihnen zu Hause geschah. Jedenfalls erschien nach zwei Tagen der Schwiegersohn mit seiner Gattin bei uns. Sie meldeten sich beim Direktor an und baten ihn inständig um Entschuldigung. Sie hätten niemandem zu nahe treten wollen. Sie hätten gedacht, Schmerzensgeld werde automatisch gezahlt, wenn einem Patienten im Krankenhaus etwas zustößt. Nie im Leben hätten sie gedacht, daß deshalb Ärzte und Schwestern vor Gericht vernommen würden. Selbstverständlich werden sie die Klage zurücknehmen. Großmutter sei furchtbar böse auf sie, obwohl sie es selber unterschrieben habe. Sie wüßten ja, sie sei schon alt, da ginge manches im Kopf durcheinander. Uns schien es nicht, daß die alte Frau im Kopf durcheinander war. In allen Zeitungen erschien eine Danksagung für die aufopfernde Pflege. Sie hatte sie selbst an die Redaktionen verschickt. Alle Ärzte und Schwestern führte sie darin namentlich auf. Sie schrieb sogar: »dem Herrn Doktor Ve-
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lecký«, obwohl sie wußte, daß er noch studierte. Die Klage wurde tatsächlich zurückgenommen. Auch die Verhandlung der Disziplinarkommission wurde eingestellt. Die alte Frau war bis zum Direktor gelaufen und hatte gedroht, sie werde es in die Zeitungen bringen, wenn man auch nur einen dafür belangte, daß er so gut für sie gesorgt habe. Am Ende wuchs Gras über das Ganze. Velecký wird in ein paar Tagen promovieren und in unserem Krankenhaus antreten. Die Schwester blieb weiterhin in der Chirurgie. Nein, ich setze mich nicht um jeden Preis für Ärzte und Schwestern ein und bin in keiner Weise nachsichtig. Vor zwei Jahren spielte sich bei uns ein Vorfall ab, der meinen Journalisten mehr interessieren dürfte als die Geschichte mit der Heizsonne. Einer meiner Ärzte mußte die Klinik verlassen, ich selbst hatte ihn dazu aufgefordert. In diesem Fall war die Kranke eine Ordensschwester. Die Neurologen hatten sie uns geschickt. Ihre Schwester, Frau Satranová, die Kleopatra genannt wurde, arbeitete dort als Sekretärin. Sie sahen nicht aus wie Geschwister: die Sekretärin eine energische, gepflegte Frau, ihre Schwester in Ordenstracht bescheiden wie ein Mäuschen. Sie erinnerte mich an meine Tante Anežka, besonders als sie die Haube ablegte und die kurzgeschnittenen Haare zum Vorschein kamen. Ich bat sie in mein Arbeitszimmer und forderte sie auf, sich zur Untersuchung zu entkleiden. Es begann eine sonderbare Zeremonie. Sie nahm die gestärkte Haube ab und küßte sie. Dann löste sie das Stirnband und küßte es gleichfalls. Dann kam die Reihe an die steife Halskrause, mit der das gleiche geschah. Ich wartete und bemühte mich, nicht hinzuschauen. Es gelang mir jedoch nicht, es faszinierte mich einfach. Kleopatra, die der Prozedur beiwohnte, saß im Sessel, ein Bein übers andere geschlagen. Bei jedem abgelegten Kleidungsstück sah sie mich vielsagend an und lächelte ironisch. Dann hielt sie es nicht mehr aus.
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»Sehen Sie sich das an, Herr Professor! Das soll ich mir nun jeden Tag angucken! Abend für Abend führt sie mir diese Posse vor, die ganze Woche, seit sie bei mir ist!« Die Nonne errötete und schlug die sanften grauen Augen nieder. »Aber Maruška«, sagte sie nur mit dünner Stimme. Frau Satranová schämte sich für sie. Absichtlich lamentierte sie laut: »Warum bleibt sie noch im Orden? Wie oft habe ich ihr gesagt: ›Tritt aus, die anderen Schwestern tun es auch, leb wie ein normaler Mensch! Deine Tracht kommt einem doch heute nur noch lächerlich vor.‹ Aber nein, sie lächelt wie die heilige Genoveva und gibt keine Antwort!« »Der Herrgott möge es dir verzeihen«, flüsterte die Schwester und küßte das Jäckchen, das sie soeben ausgezogen hatte. Sie beeilte sich, wollte mich nicht warten lassen. Sie bemühte sich, rasch die mageren Beine aus mehreren Unterröcken zu befreien. »Schauen Sie sich bloß ihre Knie an«, setzte ihr Kleopatra abermals zu. »Haben Sie so was schon mal gesehen?« Nein, so etwas hatte ich wirklich noch nie gesehen. Die Nonne hatte auf den Knien Schwielen, so groß wie eine Kinderhand. Frau Satranová suchte nervös in ihrer Handtasche nach Zigaretten. »Sie ist krank von der Beterei, von diesem sinnlosen Leben...« Am Ende des Satzes rutschte ihre Stimme kläglich ab, viel hätte nicht gefehlt, und sie wäre in Tränen ausgebrochen. Die Zigaretten fand sie nicht. Oder sie wurde sich bewußt, daß sie hier besser nicht rauchen sollte. Ich bot ihr eine Zigarette aus der Schachtel für Gäste an. Dankbar schloß sie die Augen, als ich ihr Feuer gab. »Herr Professor«, vertraute sie sich mir mit ungeheuchelter Bewegung an, »wir sind Mädels vom Lande. Beide sind wir in die Kirche gegangen, damit's kein Gerede gab. Unsere Anda - ja, damals hieß sie noch Anda - war schön wie ein Heiligenbild. Sie hatte einen Burschen, hätte Mann und Kinder haben können. Auf einmal setzte sie es sich in den
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Kopf, ins Kloster zu gehen, so ist sie jetzt Schwester Benedikta. Bis heute weiß ich nicht, was ihr damals eigentlich widerfahren ist!« »Den Herrn Professor interessiert das doch nicht«, seufzte die Ärmste. Die Sekretärin schluckte gekränkt. Ich stand auf und begann Schwester Benedikta zu untersuchen. Ich erfuhr, daß sie schon zwei Jahre auf einem Ohr nichts hört, daß ihr oft schwindlig wird und sie sich manchmal am Morgen erbricht. »Weil sie nicht an die frische Luft kommt«, mischte sich Frau Satranová ein und wischte sich vorsichtig mit dem Taschentuch die Lider. »Dauernd kniet sie in der Kapelle. Ist denn so etwas möglich? Bestimmt hat sie die Schwindsucht.« Die Nonne lächelte nur geistesabwesend. Sie sagte mir, sie arbeite in einer Anstalt für körperbehinderte Kinder, wo man sie sehr brauche, aber sie schaffe nicht mehr so viel wie früher, sei ständig müde. Ich las mir den neurologischen Befund durch, schaute mir die Aufnahmen an. Es bestand kein Zweifel, da war eine Geschwulst, die vom Gehörnerv ausging, eine Operation war unvermeidlich. Ich teilte es ihnen mit. Kleopatra brach in Tränen aus, Benedikta blieb ruhig. Sie versicherte mir, sie werde sich allem fügen. Dann bemühte sie sich, ihre Schwester zu trösten. Wir nahmen die Patientin in die Klinik auf und bereiteten sie zur Operation vor. Ich wollte den Eingriff selbst vornehmen, die Geschwulst war ziemlich groß und reichte bis zum Hirnstamm, andernfalls wäre es ein Routinefall gewesen. Im letzten Augenblick bekam die Patientin Temperatur, so daß ich mich entschloß, den Operationstermin um einige Tage zu verschieben. Gerade in diesen Tagen wurde ich zu einer Konsultation ins Ausland gebeten. Schnell besorgte man mir den Paß und die Flugkarte. Wie gewohnt, ging ich vor der Abreise noch einmal durch die Klinik und wiederholte ausdrücklich, daß
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ich Schwester Benedikta selbst operieren würde, sobald ich wieder da sei. Etwa in zwei, drei Tagen. Als ich dann bei der Morgenmeldung wieder erschien, kamen mir die Ärzte sonderbar verlegen vor. Ruml referierte weitschweifig über bedeutungslose Ereignisse des Krankenhausalltags, als könnte er sich nicht entschließen, über die Patientin zu sprechen. Neben ihm saß Volejník, ein Arzt, den ich nie sehr gemocht hatte. Nicht weil er etwas ungeschickt war - solche Chirurgen gibt es leider häufiger. Aber er war außerdem sehr empfindlich und selbstgefällig, ließ sich von niemandem etwas sagen. In der Theorie kannte er sich gut aus, aber das reicht bei uns nicht. Wenn ihm jemand einen Fehler vorwarf, führte er sogleich die Anatomie ins Feld. Er bemühte sich immer nachzuweisen, daß er im Recht war, gab nie zu, etwas schlecht gemacht zu haben. Am Ende weigerten sich die Dozenten, ihn zum Assistenten zu nehmen. Wir ließen ihn nicht selbständig operieren, weil wir fürchteten, er könnte etwas verpatzen. Einige Male hatte ich ihm geradeheraus gesagt, er solle sich überlegen, ob er unbedingt auf diesem Fachgebiet weiterarbeiten wolle. Ihm fehlte die Wendigkeit, er hatte nicht die geschickten Hände, die ein Chirurg braucht, aber das wollte er sich nicht eingestehen. Er glaubte, ich sei ihm gegenüber voreingenommen und wolle ihm keine Gelegenheit zur Bewährung geben. Ich bemerkte, daß er jetzt bei der Morgenmeldung auffällig betroffen wirkte. Ganz gegen seine Gewohnheit kommentierte er nichts. Mir gab es keine Ruhe mehr. Ich unterbrach den Chefarzt in seinem verlegenen Gerede und fragte direkt, ob in meiner Abwesenheit etwas Wichtiges geschehen sei. Ruml stieß Volejník mit dem Ellbogen an. »Also los, sag es selbst!« Volejník räusperte sich und meldete mit gepreßter Stimme: »Ich mußte Schwester Benedikta operieren.« Ich erstarrte. Volejníks Gesicht mit der langen, dünnen Nase war blaß und störrisch.
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»Konnten Sie damit nicht warten? Sie hatte doch Temperatur, deshalb habe ich ja die Operation verschoben. Sie wissen genau, daß ich diesen Eingriff selbst vornehmen wollte.« Ich beherrschte mich noch, aber es klang sehr scharf. »Ihr Zustand verschlimmerte sich«, erklärte er. »Sie Wurde schläfrig und erbrach sich. Ich fürchtete, dort könne ein Ödem wachsen, dann wäre es noch schwerer gewesen.« Ruml hielt es nicht mehr aus. »Sie wird künstlich beatmet, Herr Professor, ich glaube, wir können sie nicht retten. Volejník hat gleich am Freitagabend operiert, nachdem Sie weggefahren waren. Ich sagte ihm, er hätte sich erst mit mir beraten sollen.« Der Oberarzt ließ kein gutes Haar an ihm, das ist sonst unter Ärzten nicht üblich. Noch jetzt war er blaß vor Wut, weil Volejník den Eingriff auf eigene Faust unternommen hatte. Mir war mit einem Schlag alles klar. Am Freitag hatte ein Ärzteteam Dienst, in dem Volejník der älteste war. Er dachte, an ein Akustikusneurinom könne er sich trauen. Wenn er sagt, der Zustand der Kranken habe sich verschlechtert, würde ihm niemand etwas vorwerfen können. Er sah einfach seine Gelegenheit. »Mit wem hätte ich mich beraten sollen!« stieß er hervor. »Es war Freitag abend, alle Dozenten waren ins Wochenende gefahren...« »Ich war nicht weggefahren.« Ruml schrie es fast. »Das hättest du leicht feststellen können, es ist bekannt, daß man mich jederzeit anrufen kann.« »Keiner der Dozenten war da«, wiederholte Volejník verstockt, als wollte er damit zugleich andeuten, daß ihm der Oberarzt für einen Rat nicht gut genug war. »Der Patientin drohte ein Gehirnödem, ihr Bewußtsein trübte sich...« Er betonte ständig das gleiche. Rief als Zeugen weitere Ärzte an, die mit ihm zusammen Dienst getan hatten. Frau Doktor Havránková - sie ist nicht mehr an unserer Klinik nickte unsicher. Der zweite war Doktor Zelený. Er schwieg.
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Als ich ihn direkt fragte, zuckte er vielsagend mit den Schultern. Ich ließ mir unwillig den Operationsverlauf schildern. Volejník war überzeugt, keinen Fehler gemacht zu haben. Die Geschwulst war zwar groß, aber er hatte sie ganz beseitigt. In einem bestimmten Moment jedoch bekam die Patientin Krämpfe. Dabei begann auch der Blutdruck zu sinken... »Offenbar haben Sie den Stamm verletzt...« »Bestimmt nicht«, versicherte er mir, »es war dort ein großes Ödem, auch in der Umgebung des Stammes, das Operationsfeld war unübersichtlich, lange hatten wir zu tun, die Blutung zu stoppen.« »Wenn Sie richtig reseziert haben, warum braucht sie dann künstliche Atmung?« »Sie ist aus der Narkose nicht erwacht, und die Krämpfe hielten an.« »Die hat sie auch jetzt noch bei der Antiödembehandlung«, bemerkte Krtek trocken. »Offenbar geschieht dort weiter etwas. Ich würde sagen, eine Blutung, die im Verlauf der Operation entstanden ist.« »Vielleicht wäre es möglich, sich das noch einmal anzuschauen«, schlug ich dem Dozenten Krtek behutsam vor, damit es nicht wie ein Vorwurf klang. »Nein, ihr Zustand ist sehr schlecht. Die Temperatur steigt offenbar auch wegen der Reizung des Stammes.« Ich zögerte nicht, mir Benedikta anzuschauen. Von weitem schon vernahm ich den regelmäßigen Gang des Respirators. Der Bildschirm des Monitors zeigte eine richtige Herzfunktion, obzwar der Puls beschleunigt war. Die Patientin lag ruhig da, Arme und Beine waren kraftlos. Aber immer wieder begannen sich die Gliedmaßen zu spannen und zu verdrehen, als wirke eine unbekannte Kraft auf sie ein. Wir wußten, was das bedeutete: Stammkrämpfe. Zweifellos ist die Operationswunde noch nicht zur Ruhe gekommen. Etwas geht vor, womit der Organismus allein nicht fertig werden kann.
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Ich hob ein Lid an. Die grauen Augen sahen nicht, die Pupille reagierte nicht auf Licht. Die Temperatur war bereits auf vierzig gestiegen. »In der Lunge sind Geräusche, dort beginnt eine Pneumonie«, meldete die Anästhesistin. Die Ärzte standen still um mich herum. Direkt mir gegenüber Volejník. Eine Weile sahen wir einander starr an. Jetzt wirkte er nicht mehr so selbstsicher. Die dünnen Lippen waren zusammengepreßt, auf der Stirn unter den gelichteten Haaren stand der Schweiß. »Ich habe die ganze Geschwulst beseitigt«, stammelte er, »die Umgebung war zwar mit Blut gefüllt, aber die Stammstruktur habe ich nicht berührt. Zur Reizung kann es höchstens als Reflex gekommen sein...« Demütig neigte er das Haupt. Mir tat er sogar ein bißchen leid, aber von solchen Gefühlen durfte ich mich nicht beeinflussen lassen. Er hatte sich danach gesehnt, ein großer Chirurg zu werden, dafür hätte er alles hingegeben. Er hatte die Theorie gelernt, die Nächte darangesetzt. Die Kollegen erzählten, seine Gattin sei schon ungehalten, weil er manchmal die ganze Nacht bis zum Morgen wach bleibe. Er besaß einen ganzen Schrank voller handgezeichneter Schemata. Das alles nützte ihm nichts. Die Klemmen und Peans hielten bei ihm nicht, er schaffte es nicht, das Operationsfeld sauberzuhalten. Ihm war es nicht gegeben, ein guter Operateur zu werden. Schwester Benedikta starb am nächsten Tage. Frau Satranová kam zu mir, sie weinte und bedankte sich, daß wir alles getan hätten, was in unserer Macht stand. Eigentlich stimmte es. Getan wurde, was in Volejníks Macht stand. Übrigens wußte ich noch gar nicht, was eigentlich passiert war. Die Obduktion wurde erst am nächsten Tage durchgeführt. Wir schauten es uns alle an. Die Geschwulst war wirklich ganz beseitigt. Sie hatte offenbar den gesamten Kleinhirnbrückenwinkel ausgefüllt und auf das Kleinhirn und den Hirnstamm gedrückt. Volejník war zu radikal vorgegangen.
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An der Oberfläche des Pons schimmerte ein Bluterguß durch. Er reichte tief und drückte auf lebenswichtige Zentren. Ich bemühte mich, gerecht zu sein. Analysierte Volejníks Eingriff nach allen Seiten. Stellte mir die Frage, ob diese Verletzung des Stammes auch mir hätte passieren können. Ich glaubte, nein. Und andere Ärzte? Ich weiß nicht, mir schien, die meisten meiner Kollegen hätten die Situation beherrscht, aber eben doch nicht alle. Volejník gehörte zu den letzteren. Ein Urteil zu fällen ist nicht leicht. Schließlich macht auch in der allgemeinen Chirurgie der eine eine Galle gut, der andere schafft es nicht so perfekt. Unter den Ärzten gibt es Unterschiede. Es obliegt dem Chef, das zu erkennen und danach seine Entscheidung zu treffen: Wenn du dich für diese Arbeit nicht eignest, mußt du sie aufgeben, hier steht zu viel auf dem Spiel. Am gleichen Abend sprach ich darüber lange mit Jitka. Ich erzählte ihr alles, und dann fragte ich sie um einen Rat. »Volejník kann nicht gut operieren, was soll ich mit ihm machen?« Ich sagte mir: Jitka ist geradsinnig, ihr wird gleich das Richtige einfallen. So einfach war das aber nicht. Wir kamen sogar auf Probleme, von denen ich keine Ahnung gehabt hatte. Als ich an jenem Abend nach Hause kam, stand sie am Bügelbrett, vor sich einen hohen Stapel Wäsche. Mehr aus Gewohnheit fragte ich sie, ob sich nicht doch jemand fände, der an ihrer Stelle die Wäsche bügelte. »Versuch's nur«, sagte sie mit ungewohnt müder Stimme. »Wenn es dir gelingt, überlasse ich diese Arbeit gern einer anderen.« Das stimmte mich traurig, denn in ihrer Antwort war keine Spur ihrer schönen heiteren Ironie. »Laß es sein«, versuchte ich sie, abzulenken. »Das kannst du doch ein andermal erledigen. Wir sollten eine Weile wegfahren und einen ausgiebigen Spaziergang machen...«
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Lange sah sie mich an und schüttelte dann den Kopf. Das Küchenfenster stand weit offen. Im Garten zwischen den Häuserblocks grünten schon die Sträucher. Der Wind zauste die Zweige der abgeblühten Kirschen, und durch die Luft flogen wie Schneeflocken die letzten weißen Blütenblätter. Mit einem Male wurde es mir bewußt. »Jitka, heuer waren wir zum erstenmal nicht in unserem Kirschgarten...« »Zum zweitenmal«, korrigierte sie mich. »Zum erstenmal war es vor sechs Jahren, als du auf dem Kongreß in Sao Paulo warst.« Dies war ein echter Vorwurf. Weil ich damals vor sechs Jahren einen Grund hatte, jetzt aber nicht. Jitka hatte es jedoch nicht vorwurfsvoll ausgesprochen, sondern nur wie nebenbei bemerkt. Ich saß auf dem Stuhl wie festgenagelt. »Warum hast du mich nicht daran erinnert?« Sie zuckte die Achseln. Spuckte sich auf den Finger und tippte an das Bügeleisen. Dann legte sie meine Pyjamajacke auf das Bügelbrett. »Warum hast du mich nicht daran erinnert, Jitka?« wiederholte ich meine Frage, und das muß wohl so unglücklich geklungen haben, daß sie es nicht mehr aushielt zu schweigen. »Weil ich dachte, du legst keinen Wert mehr auf diese Romantik. Vielleicht sind wir dir dafür doch schön zu alt.« Wieder kein Vorwurf, nur die Stimme hauchdünn. Und das ist für mich das Schlimmste, was ich kenne. Ich nahm ihr das Bügeleisen aus der Hand und zog das Kabel aus der Steckdose. »Mir tut es aber furchtbar leid«, sagte ich. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie! Wer ist hier alt, ich bitte dich! Das kannst du doch nicht ernst meinen!« Früher hatte ich sie im stillen immer »das Mädchen mit den Samtaugen« genannt. Sie hatte sie immer noch, nur lag jetzt rings herum eine zarte Spinnwebe. Und Ringe darunter, weil
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sie überanstrengt war. Ihre Lider waren sogar ein bißchen geschwollen. Ich erschrak. Nie im Leben wäre mir eingefallen, daß sie krank sein könnte. Hatte sie überhaupt jemals ein EKG machen lassen? Sie lachte. Schloß wieder das Bügeleisen an. »Du bist doch ein alter Kasper. Und leid tut dir überhaupt nichts, du hast ja nicht einmal geseufzt. Aber wenn du willst, hast du die Möglichkeit, es wiedergutzumachen.« »Sag bloß! Und wie?« Ich ging lächelnd auf ihr Spiel ein. »In den Bergen fangen die Kirschen erst jetzt zu blühen an. Bis zum Sonntag werden sie soweit sein. Es würde genügen, in die Gegend hinter Turnov zu fahren, um sie zu entdecken.« Ich hatte um diese Zeit unvorstellbar viel Arbeit. Beendete soeben ein Lehrbuch, bereitete einen fremdsprachigen Vortrag für einen Kongreß vor, und in der Klinik lag eine ganze Reihe schwerer Fälle, die ich keinem anderen überlassen konnte. Dennoch machte ich keinen Versuch zu protestieren. »Das ist eine wunderbare Idee«, sagte ich. »Genau das werden wir tun. Und gilt das dann noch für dieses Jahr?« »Na klar.« Sie nickte zufrieden. Damit hatten wir die kleine Verstimmung aus der Welt geschafft, und ich erfüllte dieses Versprechen getreulich. Aber an jenem Abend am Bügelbrett war unsere Diskussion noch nicht zu Ende. Nachdem wir den Ausflug vereinbart hatten, fragte ich sie nach Volejník. Zuerst war sie zurückhaltend, sagte, sie wisse selbst nicht, was sie in einer solchen Situation tun würde. Als ich aber weiter in sie drang, nannte sie mir den Namen eines Chirurgen, der unlängst den Purkyně-Preis für eine neue Operationsmethode erhalten hatte. »Natürlich, den kenn ich gut. Aber was hat er mit Volejník zu tun?« »Er war mit mir im Kurs. Als wir lernten, Injektionen zu geben, machte er den Leuten handtellergroße blaue Flecken. Er traf einfach nicht die Ader.«
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»Wenn er mit dir im Kurs war, müßte ich ihn doch aus jener Zeit noch kennen.« »Du hast ihn doch sogar bei den Verbänden rausgeschmissen, weil er so ungeschickt war.« Um nichts auf der Welt konnte ich mich erinnern, daß er jemals bei mir studiert hatte. Aber ich begann zu ahnen, worauf Jitka hinauswollte. »Einmal ließ ihn ein Arzt aus eurer Ambulanz einen vereiterten Finger schneiden. Das war ein Graus. Euer Chirurg verlangte, er solle versprechen, nie mehr ein Skalpell in die Hand zu nehmen.« »Und hat er ihm das versprochen?« »Nein. Er ging in die Pathologie.« »Das war keine schlechte Idee.« »Siehst du, und heute hat er einen Namen als Chirurg«, sagte Jitka. »Wenn nun Volejník gleicherweise besessen ist?« »Besessen ist er, aber gut operieren wird er nie.« »Weil du ihn an keine ordentliche Arbeit heranläßt.« »Das tue ich auch nicht. Ich bin doch für meine Kranken verantwortlich.« »Weißt du«, sagte sie, »das ist schon wahr, aber auch du wirst nicht ewig hier sein. Es gibt Operationen, die du höchstens Krtek machen läßt oder ausnahmsweise mal einen anderen Dozenten. Zum Beispiel diese Hladká...« »Was weißt du von ihr?« »Genug. Sie würde gern operieren.« Mich verdroß es langsam. »Sollst du dich für sie einsetzen?« »Überhaupt nicht. Sie weiß selbst ganz genau, daß ihre Zeit vorbei ist und sie nie mehr ein Spitzenchirurg wird. Sie denkt allerdings noch immer, sie hätte es weiter bringen können, wenn sie eine größere Chance bekommen hätte.« Mir kam jetzt langsam die Galle hoch. »Das denkt fast jede Frau, aber kaum eine hat das Zeug dazu. Die Chirurgie erfordert mehr als Routine. Da muß man alles vergessen können, seine eigenen Wehwehchen, ein paar Tage ohne Schlaf oder auch Frau und Kinder...«
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»Eventuell Enkel...« »Eventuell Enkel«, wiederholte ich mechanisch. Aber dann drehte ich mich zu Jitka um und sah die alten ironischen Feuerchen, die mich ganz schön versengten. »Aber ich weiß ja, ihr habt es schwerer«, räumte ich ein. »Doch damit allein erklärst du nichts. Warum ist eine Frau als Chirurg eine Ausnahme? Wenn sie wollte - was könnte sie daran hindern, so zu arbeiten wie wir? Sie könnte auf alles andere pfeifen und Karriere machen...« Jetzt schaltete sie definitiv das Bügeleisen aus. Sie setzte sich. »Du meinst, das würde beispielsweise mir gelingen?« »Gewiß«, sagte ich im Brustton der Überzeugung. »Als du bei uns praktiziert hast, warst du sehr geschickt, wirklich. Ich hatte sogar einige Zeit gedacht, du wirst bei mir Chirurgie machen.« »Wirklich? Du weißt nicht mehr, wie es wirklich war?« Natürlich wußte ich es. Jitka erhielt zuerst eine Stelle an der pathologischen Anatomie. Nach einigen Monaten wechselte sie zur Chirurgie über, aber nicht zu uns, wir waren damals voll besetzt. Dann bot sich die Möglichkeit, in der Neurologie in unserem Krankenhaus anzufangen. Ich weiß, wir überlegten lange, ob sie dort antreten sollte. Dann entschloß sie sich dazu, weil sie es für besser hielt. Wir wollten Kinder, unser Leben war nicht leicht. Damals glaubte ich, Jitka hätte die Chirurgie ziemlich leicht verschmerzt. Ich schwieg. »Erinnere dich nur«, attackierte sie mich erneut. »Hättest du es wirklich gern gesehen» wenn ich bei der Chirurgie geblieben wäre?« »Wieso nicht?« sagte ich ein bißchen unsicher. »Wir hätten mit den Kindern gewartet...« »Wie lange? Ein, zwei Jahre, oder fünf? Glaubst du, das hätte mir geholfen?« »Weiß ich nicht. Vielleicht hätten wir uns dann überhaupt keine Kinder angeschafft. Kinderlose Ehen gibt es
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genug. Wir wären nicht die ersten und nicht die letzten gewesen.« Da hatte ich aber etwas gesagt! Augen groß wie Teller, der Mund nur noch ein verzerrter, gekränkter Strich. »Wir hätten keine Kinder! Und damit wärst du einverstanden gewesen? In einer Zeit, da da im Park kein einziges Kind in Ruhe gelassen hast?« »Was willst du mir damit eigentlich beweisen, Jitka?« »Nichts. Aber es gibt Dinge, die du nicht weißt, auch wenn du es mir heute nicht glauben willst. Zum Beispiel, daß ich ganz verrückt danach war, Chirurgie zu machen. Vielleicht mehr als dein Volejník. Obendrein war ich geeignet dafür. Bei euch hing damals jeder mindestens ein Jahr an den Haken, oder man ließ ihn notfalls einen Blinddarm machen. Motyčka ließ mich an alles ran. Sogar zweimal eine Galle. Er assistierte mir nur, half mir nicht einmal.« »Motyčka?« hielt ich Jitka ironisch entgegen. »Dieser Abenteurer? Wer weiß, warum er dich rangelassen hat! Gleich im ersten Jahr, das scheint mir nicht so selbstverständlich!« Das wurmte Jitka. »Siehst du, ich wußte damals schon, warum ich mich damit nicht» vor dir rühmte. Und welch eine Freude ich dabei empfand! Ich hielt es fast nicht aus, dir's nicht zu sagen.« Mit diesem Geständnis beschämte sie mich. Ich nahm ihre Hand. »Das ärgert mich noch jetzt.« »Es ärgert dich nicht. Schon damals mußtest du wissen, wie mir die Chirurgie am Herzen lag und was es mich kostete, sie fahrenzulassen.« »Ich dachte, es ginge dir um die Familie wie Dutzenden anderen Ärztinnen. Du wolltest doch Kinder, oder nicht?« »Wir beide wollten Kinder. Aber einer von uns mußte dafür etwas opfern.« Schweigend und erstaunt schauten wir uns an. Es war fast wie in den alten Zeiten, da wir endlose Streitgespräche miteinander führten und in einem bestimmten Augenblick nicht
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mehr weiterkonnten. Nur betrafen diese früheren Auseinandersetzungen nie die Frage, wer von uns beiden das größere Recht auf die eigene Arbeit hatte und wer sich opfern sollte. Dessen wurde sich Jitka jetzt auch bewußt. »Verzeih, das habe ich dir niemals sagen wollen.« Vor dieser demütigen Entschuldigung schlug ich die Augen nieder. »Du hast ein Recht dazu.« Ich war mit einem Male niedergeschlagen und traurig. In diesem Augenblick sah ich unsere Vergangenheit mit ihren Augen. Ich war verrückt danach, Chirurgie zu machen! Das hatte sie mir noch nie gesagt. Und ich weiß genau, warum. Ich hätte mich bemüht, es ihr zu ermöglichen, hätte mir zu Hause alle Arbeit mit ihr teilen müssen. Das wäre für mich ein großer Schritt zurück gewesen. Wo wäre ich unter diesen Umständen heute? Jitka vertraute auf mich. Sie setzte alles auf meine Karte und gab ihren eigenen Anteil hinzu. Dazu hatte sie sich allein entschieden, ohne mein Zutun. Sonderbar, daß mir das erst heute richtig aufgegangen ist. Damals ging ich meiner Arbeit nach, stur wie ein Panzer. Jitka war jünger, und ich unterschätzte sie. Ich verhielt mich seinerzeit recht indifferent zu ihrer Entscheidung, sie paßte mir in den Kram, wie möglicherweise auch sie es nannte. Und dann - diese schöne Fiktion, daß Familie und Kinder eigentlich eine Angelegenheit der Frauen sind! Wie muß ihr diese Philosophie unterm Strich zuwider gewesen sein! Sie legte die gebügelte Wäsche zusammen. Meine Hemden waren sorgfältig bis zum letzten Knitter geplättet. Jitka konnte nie etwas nur halb machen. Ohne mich wäre sie vielleicht heute ein hervorragender Operateur. Sie ist klug und flink. Auch zu Hause versteht sie alles zu reparieren, was anderswo gewöhnlich Sache des Mannes ist. Ich schloß die Augen und sah sie am gleichen Tisch wie heute. Sie legt die Rechtecke der Babywindeln zusammen. Sie unterbricht die Arbeit und wärmt mir das Abendessen
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auf. Immer bemühte sie sich, mir ein warmes Abendessen zu bereiten. Oft kam ich erst spät heim, immer wartete sie auf mich. Manchmal hatte sie eine Handarbeit vor sich, ein andermal eine Fachzeitschrift oder ein Buch. Ich hatte nicht recht, als ich dachte, alle Frauen würden ihre Pläne leichten Herzens aufgeben, weil die Familie und das Heim sie mehr interessierten. Ein Teil von ihnen tut es einfach aus Liebe, so sentimental das auch klingen mag. Und manch eine versagt sich, was sie für ihre Lebensmission hält. Ich bin ein Dummkopf, Jitka heute so etwas zu sagen sie gehört bestimmt nicht zu den Frauen, die nicht das Zeug für die Chirurgie haben. Wir sind wohl noch nicht reif für wirkliche Emanzipation. Bei uns arbeitete vor Jahren ein Chirurg, dessen Gattin eine Aspirantur aufnahm. Sie hatten ein kleines Kind, alle Sorgen teilten sie miteinander. Als einmal ihr Kind krank wurde, blieb unser Kollege zu Hause, man nennt das »auf Paragraph«. Ich mußte es ihm unterschreiben, was sollte ich tun? Die Sekretärin brachte mir die Richtlinien, ich hatte nicht gewußt, daß er gesetzlich ein Recht dazu hatte. Ich machte ein saures Gesicht. Und mit welchem Spott überschüttete, ihn unsere Bande in der Klinik! Sogar Frau Hladká, obwohl sie ihn eigentlich hätte in Schutz nehmen sollen. Heute ist die Gattin dieses Chirurgen Kandidatin der Wissenschaften, aber er hat die Arbeit an der Klinik aufgegeben, ist an einer Poliklinik tätig und kommt nur einmal in der Woche zu uns zum Dienst. Jitka war der Zorn schon vergangen. »Als ich gestern einkaufen war«, erzählte sie mir, »standen hinter mir zwei aufgeputzte Dämchen. Sie unterhielten sich über einen Artikel in einer Zeitschrift. Es war ein Interview mit einer Universitätsprofessorin. Die Redakteurin fragte sie, wie sie im Leben so viel habe schaffen können - fachlich so weit zu kommen und obendrein noch drei Kinder großzuziehen. ›Weil wir Katynka im Hause hatten‹, antwortete diese Pro-
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fessorin. ›Sie ist eine entfernte Verwandte, die bei uns lebt. Sie hat den ganzen Haushalt erledigt, auch die Kinder versorgt.‹ Die Dämchen lachten. ›Da kann sie leicht Karriere machen‹, sagte eine von ihnen. ›Hätte ich so eine Katynka gehabt, dann wäre ich heute auch Frau Professor.‹« Ich mußte laut lachen. »Lach nicht so«, wies mich Jitka zurecht. »Vielleicht wäre sie wirklich eine Professorin, und wenn nicht sie, dann eine andere. Mich beschäftigt dabei am meisten, daß ausgerechnet Frauen sich über sie lustig machen. Eine vergönnt es einfach der anderen nicht, daß sie eine ordentliche Arbeit leisten kann. Kürzlich fuhr ich aus der Garage, und auf dem Gehsteig stand so eine friedliche alte Frau. Sobald sie mich jedoch erblickte, machte sie ein finsteres Gesicht und schrie mir nach: ›Sie sollten lieber den Kochlöffel nehmen!‹ Ich entgegnete: ›Den nehme ich, wenn ich nach der Arbeit heimkomme.‹ Aber das genügte ihr nicht, sie guckte mich weiter an wie eine alte Hexe.« Dann ließen wir das Thema. Jitka bereitete das Abendessen zu. Wir hatten uns zwar schön ausgesprochen, aber was mit Volejník geschehen sollte, darüber war ich mir noch nicht im klaren. Möglicherweise hatte er wirklich bislang wenig Gelegenheiten. Vielleicht sollte ich auch die anderen mehr an schwerere Eingriffe heranlassen. Aber an Volejník störte mich noch etwas anderes. Er spielte Hasard. Diese Operation hätte er ohne Unterstützung durch einen erfahrenen Kollegen nicht wagen dürfen. Das sagte ich Jitka, doch sie zuckte nur mit den Schultern. »Wenn sich der Zustand der Patientin verschlimmerte und es ihm notwendig erschien...« »Ich glaube nicht, daß« er sich so verschlimmert hat. Bestimmt hätte er noch warten können.« »Wie willst du ihm das beweisen? Willst du ihn einer Lüge bezichtigen?« Nein, das konnte ich nicht. Vielleicht hatte sich Volejník
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selbst suggeriert, der Eingriff sei unaufschiebbar. Dann hätte er das Recht gehabt, meine Anordnung zu übergehen. Ich wußte wirklich nicht, was ich tun sollte. Eine Woche danach fand das traditionelle Seminar mit den Kollegen aus der Pathologie statt. Die Leute ahnen nicht, daß wir für unsere Arbeit eine Zensur bekommen. Der Patient ist gestorben, waren die Diagnose und das operative Vorgehen richtig? Wir sitzen zumeist gemeinsam mit den Neurologen »auf der Anklagebank«. Die Pathologen sind eine strenge Jury. Sie klassifizieren uns von eins bis fünf wie in der Schule. Damals stand als erster Fall ein Gehirnabszeß zur Debatte. Die Neurologen hatten den Eiterherd im vorderen Teil der linken Hemisphäre des Gehirns richtig erkannt. Ruml hatte eine Punktion durchgeführt und allen Eiter entfernt. Übriggeblieben war nur die saubere Höhlung mit der Hülle. Alle Röntgenaufnahmen waren negativ. Und dennoch starb der Patient schließlich mit den Symptomen einer Gesamtsepsis. Die Neurologen hatten geschrieben: »Man kann weitere kleine Gehirnabszesse nicht ausschließen, die es nicht nachzuweisen gelang.« So war es auch wirklich. In beiden Hinterhauptslappen hatten sich weitere kleine Herde gebildet. Die Pathologen blieben hart, sie gaben den Neurologen eine Zwei, weil sie die Herde in den Hinterhauptslappen nicht diagnostiziert hatten. m Die nächsten beiden Fälle behandelten Gehirntumore. Sie waren sehr umfangreich, und ursprünglich wollten wir keinen der beiden operieren. Bei dem ersten Patienten ging anfangs alles gut, aber dann kam es an der Operationswunde zu einer Blutung. Der zweite Tumor war die Metastase eines Lungenkarzinoms. Die »höchste Instanz« bewertete uns mit Eins. Dann folgte Schwester Benedikta. Die Pathologen waren von vornherein gereizt. Sie mochten Volejník nicht, weil er immer mit allen polemisiert. Eine Zeitlang hatte er bei der
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Histologie gearbeitet und glaubte deshalb, sich in allem auszukennen. Diesmal hatten sie sich gut vorbereitet, obwohl ihnen für den Fall nur wenig Zeit geblieben war. Sie führten uns ein Diapositiv vor, wo man den Hirnstamm mit durchschimmerndem dunklem Blut sehen konnte. Außer dem Foto hatten sie auch schon die histologischen Präparate zur Hand. Man sah, daß der Erguß bis in die andere Hälfte des Pons reichte. »Er ist im Verlauf der Operation entstanden«, kommentierte ein Pathologe die Proben. Erneut wurde alles ventiliert: die Größe der Geschwulst, ihre Lage, die Operationstechnik. Volejník wiederholte, was wir alle schon auswendig wußten. Ringsum sei ein großes Ödem gewesen und daher das Umfeld unübersichtlich. Operieren habe er müssen, weil sich der Zustand der Kranken rapid verschlimmert habe. Es gab keinen anderen Ausweg. »Doch«, widersprach Růžička, der Volejník nicht ausstehen konnte. »Du hättest eine Dekompression machen können. Es hätte genügt, den Knochen zu lockern, und das Ödem, von dem du dauernd sprichst, wäre für die Patientin nicht lebensbedrohend gewesen. Mit dem weiteren Eingriff hättest du warten können, bis einer von uns wieder da ist.« »Ursprünglich hatte ich das auch vor«, verteidigte sich Volejník. Er machte einen ruhigen Eindruck, nur die Finger, die mit dem Patentbleistift spielten, zitterten sichtlich. »Dann sagte ich mir aber, daß eine Operation in zwei Etappen für sie eine viel größere Belastung sein würde.« »Da hast du uns aber bewiesen, daß ein einmaliger Eingriff eine geringere Belastung war«, meinte Růžička mit einem höhnischen Lachen. »Der Eingriff war zu radikal«, fuhr der Pathologe fort. »Es kam zu einer Verletzung des Hirnstamms.« Volejník wollte sich nicht ergeben. »Es kann ein kleines Aneurysma gewesen sein. Ein Mikroaneurysma, das unmittelbar nach der Operation aufgeplatzt ist.« »Das ist äußerst unwahrscheinlich.«
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»Aber ausschließen läßt es sich nicht«, provozierte Volejník. »Ausschließen läßt sich überhaupt nichts. Nicht einmal, daß sie während der Operation der Schlag getroffen hat.« Der Assistent von der Pathologie zuckte ironisch mit einem Mundwinkel. Alle lachten laut. Mir war gar nicht wohl bei der Sache. »Heute ist das schwer zu beurteilen«, sagte ich. »Die Operation war nicht leicht, und Doktor Volejník hat sich bemüht, alles zu entfernen. Das ist sicherlich lehrreich für jeden von uns.« Sie verstummten. Wir fragten nach der Zensur. Die Diagnose war richtig, sagten die Pathologen, aber den Fall als Ganzes klassifizieren wir nicht. Wir machten Schluß. Im Hinausgehen schloß sich Volejník mir an. Er lebte auf, weil ich mich für ihn eingesetzt hatte. Er begann sogar mit einem Lächeln eine unverbindliche Konversation. Absichtlich, um den anderen zu zeigen, daß er keine Schuld fühlte. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ich bat ihn in mein Arbeitszimmer. Er wartete nicht ab, was ich ihm sagen würde. Begann wieder von der Operation der Schwester Benedikta. Offenbar hatte er den Eindruck gewonnen, die Obduktion habe mich überzeugt, daß er recht hatte. Er führte noch weitere Details ins Feld. Ich beobachtete ihn erstaunt. Er veränderte sich vor meinen Augen. Vor einer Weile noch schweigsam und unsicher, steht er jetzt da und doziert mit weitausholenden Gesten. Er fühlt sich als großer Chirurg nach seiner ungewöhnlich schweren Operation. Ist völlig überzeugt, nichts verschuldet zu haben. Er hat blitzschnell gearbeitet, Frau Doktor Havránková kann das jederzeit bestätigen. Keiner der älteren Kollegen hätte mehr tun können als er. Der ist doch größenwahnsinnig, sagte ich mir im stillen. Leider noch nicht genug, um ein Fall für den Psychiater zu sein. Ich unterbrach ihn. Sagte ihm, er habe im Falle der Schwester Benedikta seine Kräfte überschätzt, und das müsse er
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einsehen. Ich wünschte nicht, daß er weiter bei mir an der Klinik arbeite. »Sie sollten für ein paar Jahre zur allgemeinen Chirurgie gehen, wenn Ihnen dieses Fachgebiet so am Herzen liegt«, riet ich ihm am Ende. »Vielleicht würden Sie dort größere Erfahrung und Handfertigkeit erwerben.« Er erstarrte. Aus dem Fanatiker mit dem funkelnden Adlerblick wurde mit einem Schlage wieder der gekränkte, streitsüchtige Volejník. »Ich begreife nicht... Ich habe es Ihnen doch erklärt, Herr Professor...« Ich sah, wie er schwitzte, und ich fühlte mich schauderhaft. Mir tat er jetzt sogar ein bißchen leid. »Möglicherweise kehren Sie später wieder zur Neurochirurgie zurück«, sagte ich ihm mehr zum Trost. »Ich meine es gut mit Ihnen, Sie werden mir dereinst recht geben.« Niemals wird der. mir recht geben, darauf konnte ich Gift nehmen. Seine Stimmung schlug sehr schnell um. In diesem Augenblick haßte er mich bereits. Er warf mir vor, wir alle seien ihm gegenüber voreingenommen. Wir hätten ihn niemals an einen größeren Eingriff herangelassen und ihm so eigentlich mehr Praxis unmöglich gemacht. Es habe ausschließlich an mir gelegen, daß er sich nicht einarbeiten konnte. Wenn ich ihn hinauswerfe, dann werde er gehen, ohnehin sei es für ihn in der Klinik unerträglich. Aber ich solle mir bewußt sein, daß ich es gewesen bin, der ihm Knüppel zwischen die Beine geworfen hat. Das vereinbare sich nicht mit den Pflichten eines fortschrittlichen Arztes, der den jüngeren Kollegen helfen solle. Ja, so weit ging er. Es war mir mehr als peinlich. Hätte ich ihm vorzählen sollen, wieviel jungen Leuten ich gern und aufrichtig bei der Arbeit geholfen hatte, wann immer sie zu mir kamen? Wie vielen ich die Operationstechnik so beigebracht hatte, daß ich mich ihrer nicht zu schämen brauchte? Und wieviel Zeit mich das obendrein gekostet hat? Hätte ich ihn daran erinnern sollen, daß er selbst keine Zeit
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opfern wollte, nicht mit einem einzigen Vortrag für die Schwestern, während die anderen Ärzte immer dazu Zeit fanden? Sollte ich ihm offen ins Gesicht sagen, daß auch keiner der anderen Kollegen mehr Interesse hat, ihn etwas zu lehren, weil er überempfindlich und selbstgefällig ist? Nein, das hätte keinen Sinn gehabt. Er sagte mir zum Abschied, man werde noch sehen, ob ich das Recht hätte, ihn aus der Klinik zu werfen. Und er werde die Neurochirurgie anderswo betreiben, weil ihn daran niemand hindern könne.
<6> In den letzten Maiwochen hatte ich das Gefühl, der kleine Uzel sei mein böses Geschick. Beinahe hätte ich die Operation abgesagt. Aber dann geschah etwas, was mich stark beeinflußte. Ja, ich gebe es zu, es war eines der Motive, das am Ende den Ausschlag gab. Ich erfuhr nämlich, daß ich eine staatliche Auszeichnung erhalten sollte. Der Junge war bereits in unsere Klinik aufgenommen, und wir berieten uns abermals. Nach der Morgenmeldung legten wir seine Aufnahmen unter Durchleuchtungsplatten aus. Der Röntgenologe führte uns ein Bild nach dem anderen vor: »Hier sieht man klar die deformierte vierte Hirnkammer, die nur sehr wenig gefüllt ist. Hier ist die gebogene Sylvische Wasserleitung. Die Zisternen im Kleinhirnbrückenwinkel sind unübersichtlich, an dieser Stelle ist ein unscharfer Rand.« Alle Ärzte schwiegen. Die gesenkten Blicke warnten mich. Warum zum Teufel hast du die Entscheidung nicht geändert, las ich aus der einträchtigen Opposition. Dann sprach der Dozent Vyskočil für alle: »Wir haben heute im Ärztezimmer lange darüber gesprochen, Herr Professor. Alle sind wir der Meinung, daß sich diese Geschwulst nicht operieren läßt.« Sie hoben die Köpfe, warteten. Frau Hladká drehte aus Ver-
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legenheit an einem Knopf ihres weißen Kittels. Unsere Ärztinnen sind gewohnt, ihren Kittel auf dem blanken Leib zu tragen, ohne das dienstliche Hemd. Man sah den Spitzenbüstenhalter. »Ursprünglich dachte ich, man könnte es versuchen«, sagte sie mit leiser, unsicherer Stimme. »Aber die Kollegen haben recht, das ist nicht zu operieren.« »Der Förster läßt gar nicht den Gedanken in sich aufkommen, daß sein Enkel die Operation nicht überleben könnte«, gesellte sich ihr Krtek zu. »Ich hab ihn auf dem Flur getroffen. Er sagte zu mir: ›Der Herr Professor hat mir mit Handschlag versprochen, daß er es Vítek aus dem Kopf rausnimmt, und ich vertraue ihm. Wenn es nicht ginge, würde er nicht operieren.‹« Die Ärzte grinsten verstohlen. »Ich hab ihm überhaupt nichts versprochen«, verwahrte ich mich. »Wie kann er sich unser Gespräch so auslegen?« »Das wissen wir«, beruhigte mich Krtek. »Aber wie sagen wir es ihm, wenn der Kleine auf dem Tisch bleibt?« Růžička räusperte sich. »Als wir zum erstenmal darüber sprachen, Herr Professor«, sagte er, »hatten Sie dazu eine eindeutige Meinung. Möchten Sie ihn vielleicht in zwei Etappen operieren? Haben Sie den Eindruck, daß es dann leichter wäre? Mich würde nur Ihr neues Motiv interessieren...« Der Gauner! Hat's mir vor allen gegeben. Ja, warum hatte ich mich eigentlich entschlossen? Weil der Alte mich so gebettelt hat? Habe ich mich auf ein Wunder verlassen, oder war es einfach aus Resignation, weil ich wußte, daß das Kind nicht mehr länger als ein Jahr leben würde? Aber nein, flüsterte mir meine innere Stimme zu, der Junge hat dich mit seinen lustigen Augen eingewickelt, erinnere dich nur, wie er den Finger nach Míťas Mütze ausstreckte und dabei lachte! Du warst ganz hin! »Ich weiß es eigentlich nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß zu Růžička. »Mir scheint einfach...«
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Alle erstarrten. Allen fiel das gleiche ein. Wenn einer der jüngeren Kollegen sagt »mir scheint«, dann springt Růžička auf, wie von der Tarantel gestochen. »Was einem scheint, ist ein Traum«, weist er jeden schroff zurecht. »In der Chirurgie darf einem nichts scheinen.« Das war wieder Wasser auf seine Mühle. Rings um mich gezwungen ernste Gesichter, nur Krtek hielt es nicht aus und zog mit einem Lächeln die Brauen hoch. »Ich weiß«, sagte ich lieber selbst, »was einem scheint, ist nur ein Traum.« Sie fingen wie auf Befehl an zu lachen, aber ich ergab mich nicht. »Nur - ich habe wirklich keinen neuen Grund. Ich meine einfach, wir sollten es doch versuchen.« Das ging ihnen allen gegen den Strich. Meine Niederlage wird auch ihre Niederlage sein, so empfand jeder. Aber ich war bei weitem noch nicht zu dem Eingriff entschlossen, im Gegenteil, ich fühlte, daß die Ärzte recht hatten, ich wollte nur nicht so leicht aufgeben. Ich bat, mir noch einmal die Computertomographie aus Hradec zu zeigen. Ja, es ist viel schlimmer, als ich es in Erinnerung habe. Und die Aufnahmen wurden bereits vor einem Monat gemacht, der Befund kann sich noch verschlechtert haben. Wenn wir nun die Tomographie wiederholen? Wieder stimmten sie mir nicht zu. Entweder ist der Befund der gleiche, dann erfahren wir nichts Neues, oder die Geschwulst hat sich vergrößert und wird noch schlechter zu operieren sein. Übrigens seien die Termine langfristig, wer weiß, ob sie ihn in den nächsten zwei, drei Wochen drannähmen. In diesem unglücklichen Augenblick bat mich Frau Růžková hinaus. Ich folgte ihr auf den Flur. Etwas Dringendes? Ja, ein Anruf aus dem Ministerium. Sie hätten zwar meinen Stellvertreter verlangt, aber sie wolle es mir doch sagen, damit ich es als erster erführe: Ich soll eine staatliche. Auszeichnung bekommen. Die Sekretärin war erregt. Sie versprach sich, knetete die
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Hände. »Man würde gern etwas Genaueres über Ihre neuen Operationsmethoden wissen, über Operationen in Hypothermie...« Ich nahm sie am Ellbogen, damit sie sich beruhigte. »Frau Růžková, das wird Sie doch wohl nicht so aus der Fassung bringen?« Sie hob das Taschentuch an die Augen. »Ich freue mich doch so! Sie haben es schon lange verdient, endlich hat man sich an Sie erinnert!« Ich stand neben ihr wie ein Schuljunge. Wollte den Gleichgültigen spielen, aber es gelang mir nicht. So wird meine Arbeit also doch beachtet und soll gewürdigt werden. Da mag ich mich dagegen wehren, wie ich will, es kann mich nicht kaltlassen, ich freue mich. »Wissen Sie was? Rufen Sie Ruml ans Telefon! Oder nein, lieber Krtek«, riet ich Frau Růžková und bat sie noch: »Vielleicht sollten Sie den anderen einstweilen nichts sagen...« Sie nickte mit strahlendem Gesicht. Das ist doch selbstverständlich! Aber ich wußte genau, daß sie es zunächst der Hladká stecken wird und dann nach und nach allen, die sich bei ihr im Zimmer sehen lassen. Ich kehrte in die Sitzung zurück. Offenbar beratschlagten sie über die Einteilung der Dienste, sie hatten die Liste vor sich liegen. Ruml besprach mit Růžička einen Fall aus Roudnice. Ein junger Mann hatte einen schweren Beckenbruch mit Nervenschädigung. Wäre der Dozent bereit, das zu revidieren? Ich setzte mich zwischen sie. Nickte Ruml zu, er solle sich nicht stören lassen und das Programm fortsetzen. So konnte ich wenigstens eine Weile ungestört über das soeben Erfahrene nachdenken. In letzter Zeit war ich diesbezüglich skeptisch gewesen. Meine Ärzte hatten keine guten Arbeitsbedingungen. Die Patienten, die uns verließen, sagten oft, wir hätten eine große moderne Klinik mit den besten Geräten verdient. Wir wären schon mit ein bißchen mehr Raum und ein paar Leuten mehr zufrieden gewesen. Wie oft hatte ich
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an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen, vergeblich. Ich hatte mir schon gesagt, ich sei ein schlechter Klinikvorsteher, wenn ich nicht imstande war, etwas durchzusetzen. Immer hörte ich die gleiche Ausrede: Andere Arbeitsstätten sind noch viel schlechter, vorläufig geht es nicht. Sie müssen sich noch ein paar Jahre bescheiden. Vielleicht habe ich doch gute Arbeit geleistet, wenn man das jetzt offensichtlich anerkennt! »Na ja...«, würde Jitka sagen. »Kann sein, man erkennt es an. Aber du weißt doch, du hast dein Jubiläum, und dazu werden Auszeichnungen verteilt. Denk bloß nicht, das ist für wer weiß was!« So würde sie wohl sprechen, aber vorläufig verdarb es mir die Laune nicht. Unsinnige Gedanken flogen mir durch den Kopf: Es kommt jemand und interessiert sich wirklich für unsere Arbeit. Wir erklären ihm, daß wir als erste in der Welt einige Eingriffe vorgenommen haben, die heute schon allgemein üblich sind. Ganz beiläufig führen wir die Zahl der Operationen aus den letzten zehn Jahren an. Niemand wird das glauben wollen. So viele Operationen an einer so kleinen Klinik? Das geht doch über Menschenkräfte! »Beinahe«, hörte ich mich antworten. »Aber wenn die Bedingungen verbessert würden, könnten wir noch viel mehr leisten...« Das Phantom Jitkas grinste mich ironisch an. »Und das wird dir einen alten Quark nützen! Einen alten Quark!« Ich setzte mein stilles Selbstgespräch fort, an einen Unbekannten adressiert, der vielleicht anläßlich meiner Auszeichnung kommen, mich anhören und schließlich all unsere Schwierigkeiten lösen wird. Wenn ich wirklich etwas geschafft habe, werde ich ihm sagen, dann nur, weil ich dieses Team an meiner Seite hatte. Ärzte, denen unsere Arbeit alles bedeutet, die zu jedem Opfer bereit und mit mir immer und in allem einig sind. Zu tief war ich in meine Gedanken versunken. Auf einmal
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herrschte um mich peinliche Stille. Ruml gähnte, daß er sich fast den Kiefer ausrenkte. Růžička feilte sich die Nägel mit einer Ampullenfeile. Die übrigen sahen mich mißmutig an. Sie hatten begriffen, daß ich von Uzels Operation noch lange nicht Abstand genommen hatte. In einer Ecke knarrte ein Stuhl, und ich hatte den unangenehmen Eindruck, daß Jitka in ein verstohlenes Lachen ausbrach. Das alles ernüchterte mich. Was haben wir eigentlich Besonderes geleistet? Wir operieren, schließlich ist das unser Beruf! Keiner von uns kann etwas anderes. Wann sind wir wirklich über unseren Schatten gesprungen? Neue Operationsmethoden werden überall eingeführt. Könnten wir uns mit einem klugen Techniker messen, der eine bahnbrechende Erfindung macht? Uns kommt zugute, daß wir Menschen operieren. Das Pathos unseres Berufs. Aufrichtig gesagt, wir haben es viel leichter als so mancher Techniker mit seiner Erfindung. Unsere Operationen sind in den Augen von Laien allesamt schwer. Ich habe eine Patientin, die mir einmal im Jahr Blumen bringt. Ja, sie ist noch jung, und ich bin ein älterer Herr, daran ist nichts Merkwürdiges. Aber wofür bringt sie mir Blumen? Sie sagt, ich hätte ihr das Leben gerettet. Und ich habe eine einfache Rückenmarksgeschwulst operiert, das würde jeder auch nur einigermaßen erfahrene Neurochirurg schaffen. Oder die ältere Dame, die unter schrecklichen Schmerzen am Trigeminusnerv litt. Ich tat ein »Wunder«. Durchschnitt ein paar vertrackte Fasern im Mark der Halswirbelsäule. Heute ist sie völlig gesund und sucht mich auf wie einen Wallfahrtsort. Das ist nett, aber sie weiß nicht, daß es ein glücklicher Zufall war. Dieser Eingriff hilft nämlich nicht immer. Und dennoch bin ich seitdem ihr Wohltäter. Ich saß zwischen meinen Mitarbeitern und fühlte mich mit einem Male verstimmt. Sie sitzen da und gähnen. Sind überhaupt nicht mit mir einig, wie ich mir vor einer Weile eingeredet habe. Wollen ihre Ruhe haben. Fürchten diese Opera-
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tion mehr als ich, weil sie schon im vorhinein den Streß ahnen, meine Nervosität, die mich zu ungerechten Bemerkungen treiben wird, und meinen Ärger, den ich an ihnen auslassen werde, wenn es nicht klappt... Trotz stieg in mir auf. Gerade an dem kleinen Uzel kann ich zeigen, ob ich etwas mehr leiste als ein Wald-und-WiesenChirurg. Der alte Förster vertraut mir, und das ist begreiflich. Er hat auf der Welt nur dieses Kind. Daß er meine Worte entstellt hat? Das ist doch so menschlich! Er hat es sich so gemerkt, wie er es zu hören wünschte. Der Kleine hat so viel Chancen, wie unter einen Fingernagel gehen, aber er hat sie. Sollen sie doch sagen, was sie wollen, diese meine Skeptiker, die sich seit heute früh im Ärztezimmer auf das Gespräch mit mir vorbereitet haben. Das Unmögliche schaffen, das ist eine Tat! Nur so kann sich die Menschheit immer wieder ein Stückchen weiterbewegen. Genau nach den Regeln operieren, wo eine Operation fast ohne Risiko ist, das ist kein Verdienst. »Wißt ihr was, Verehrteste«, sagte ich beinahe zu entschlossen. »Wenn es so schwer ist, einen Termin bei der Computertomographie zu bekommen, dann packe ich den Kleinen morgen selber ins Auto und fahre mit ihm nach Hradec. Sie werden sie mir schon machen. Ich schau mir mit den Kollegen die Bilder an, wir vergleichen sie mit den vorigen, und dann werden wir ja sehen.« Sie hielten es für einen Rückzieher. Standen heiter gestimmt auf. Sie wußten nur nicht, daß ich wieder zur Operation entschlossen war, daß sie mich nur für eine Weile schwankend gemacht hatten und ich den ungleichen Kampf aufnehmen würde. Ich nehme mir einen Neurologen mit, um nicht allein zu sein. Selbstverständlich hatte ich niemand anders als Jitka im Sinn. Ich rief sogleich den Dozenten Chour an, ihren Chef. Natürlich stimmte er zu. Er würde sich freuen, wenn die Frau Assistentin die Aufnahmen nachher ihrem Kollektiv zeigte. Es sei ja schließlich ein interessanter und instruk-
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tiver Fall. Gut, gut, Herr Dozent, darum geht es jetzt nicht. Jitka ist für mich mehr als ein Neurologe. Jitka ist mein Gewissen. Mein gutes Gewissen, mein »bitterer Freund«. Wir werden den Fall Uzel gemeinsam zu einem guten Ende bringen. Meine Frau war im Grunde froh, obwohl sie mich zunächst ausschimpfte. »Hör zu, beim nächsten Mal sprich zuerst mit mir, bevor du mich entführen willst!« ließ sie sich am Telefon vernehmen. »Es ist nicht gerade angenehm, wenn mir der Chef vor allen einen solchen Auftrag erteilt. ›Sie fahren morgen nach Hradec, Frau Assistentin, der Herr Professor hat sie angefordert!‹« »Aber gewiß doch, verzeih«, entschuldigte ich mich ungeduldig. »Es eilt, ich hatte nicht daran gedacht.« Sie gestand mir nicht, daß sie nach der Aufforderung des Dozenten aufgesprungen war, die Hacken zusammengeschlagen und militärisch gemeldet hatte: »Zu Befehl, Herr Dozent, wird ausgeführt!« Das erfuhr ich erst nach einiger Zeit von ihrer Kollegin. »Weißt du, ich bin immer noch im Zweifel, ob ich den Jungen operieren soll oder nicht«, versuchte ich, über meinen Fauxpas hinwegzureden. »Das ganze Kollektiv ist dagegen, aber ich glaube, sie haben nicht recht...« »Na ja, es ist ja auch das erste Mal, daß ihr nicht an einem Strang zieht.« »Laß die Ironie! Sie sind dagegen, und ich möchte diesmal nicht nachgeben.« »Wenn es nur diesmal ist, dann haben sie eigentlich einen prima Chef«, provozierte sie weiter. »Aber dich peinigt wohl das Gewissen, sie könnten es als Angeberei auffassen, wenn es dir zufällig gelingen sollte.« Ich mußte lachen. »Geh zum Kuckuck! Wann fahren wir morgen früh?« Wir brachen zeitig auf. Vítek hüpfte vor Freude über den Autoausflug. Er hielt uns nur noch eine Weile auf. Hatte
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sich in den Kopf gesetzt, nicht die kurzen Hosen anzuziehen, sondern die langen mit dem Reißverschluß, die ihm der Großvater in Prag gekauft hatte. Wir mußten auch sein Pfeifchen suchen, das die Schwester am Tage vorher beschlagnahmt hatte, weil er damit die Patienten störte. Kurz vor der Abfahrt erklärte er noch, er habe Hunger. Wir besorgten für ihn zwei Buttersemmeln, und er verputzte sie, bevor wir Prag verlassen hatten. Endlich waren wir auf der Ausfallstraße. Wenn alles gut geht, sind wir um neun in Hradec, spätestens halb zehn. Wir freuten uns. Wann glückt es uns schon, einen ganzen Wochentag für uns zu haben? Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Kurz vor Sadská begann das Auto zu stuckern. Der Motor erstarb. Ich startete, fuhr ein Stückchen, und wieder das gleiche. Der Motor setzte aus. Dann startete ich schon vergeblich, nichts rührte sich. Vítek saß hinten und pfiff sich eins, als wäre nichts passiert. Jitka und ich schauten einander unglücklich an. Was jetzt? Ich stieg aus und hob die Kühlerhaube hoch, obwohl ich wußte, daß ich nicht das mindeste, vom Motor verstehe. Die Kerzen sind es nicht, die hat man mir erst unlängst gewechselt, die Batterie ist voll geladen. Ich maß den Ölstand um wenigstens etwas zu tun. Der Junge schob sich inzwischen aus dem Auto und sah mir interessiert zu. Jitka stellte sich an den Straßenrand und hielt nach einem Wagen Ausschau, den wir anhalten könnten. Sie vertrat die Theorie, daß ein LKW das beste sei. Einerseits hält so einer fast immer an, andererseits versteht jeder LKW-Fahrer etwas von Motoren. Wie zum Hohn fuhren jedoch nur Personenautos vorbei, und keinem fiel es auch nur im Traum ein zu bremsen. »Siehst du, er fährt nicht«, sagte ich zu dem Jungen. »So ein schönes Auto und fährt nicht.« »Warum hast du keinen Wolga?« Der kleine Nichtsnutz grinste. »Der ist besser als ein Škoda.« Ein Tief schlag! Sieh mal an, was für Kenntnisse! Und das
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ist, bitte sehr, der Enkel eines Försters aus der Vysočina! Er hüpfte um mich herum, zuerst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein, und sang dabei im Takt: »Hast kein Benzin, hast kein Benzin, hahaha...« Ich schlug mir an die Stirn. Das ist ganz gut möglich, ich hatte vergessen, an der Tankstelle vorbeizufahren. Ich sah nach dem Anzeiger. Der Zeiger stand ganz unten. Als ich den Zündschlüssel im Schloß drehte, rührte er sich nicht. Bevor ich mir noch überlegen konnte, was nun, hielt neben uns ein Motorrad. »Haben Sie eine Panne? Kann ich Ihnen helfen?« »Nein, eine Panne wird's nicht sein, offenbar ist uns das Benzin ausgegangen. »Wenn Sie wollen, fahre ich nach Sadská zur Tankstelle und leihe mir dort einen Kanister.« Es war ein junger Bursche in Monteurkluft. Mit Freuden gaben wir ihm Geld. Er kam nach ein paar Minuten wieder, füllte uns selbst das Benzin ein, wartete, bis wir starteten, und wollte keine Krone dafür. »Siehst du, Vítek, du hast uns eigentlich das Auto repariert. Du bist daraufgekommen, was ihm fehlt.« Er lachte, es klang wie ein Glöckchen. Eine Weile schaute er aus dem Fenster. Dann sagte er scheinbar unlogisch: »Großvater hat mir auf dem Bahnhof ein Eis gekauft...« »Ich kauf dir auch eins«, versprach ich ihm. »Sobald wir in Hradec eine Konditorei sehen.« Alle fünf Minuten fragte er, wann wir endlich daseien. Endlich fuhren wir in die Stadt ein. Vítek wetzte auf dem Rücksitz von einem Fenster zum anderen. Er maulte, eine Konditorei war nicht zu entdecken. Wir fuhren die Hauptstraße entlang, und ich hatte zu tun, den Weg zum Krankenhaus zu finden. Bevor ich mich's versah, fuhr ich in der linken Spur. Jetzt mußt du schon nach links fahren«, kommentierte Jitka trocken. »Hol's der Teufel«, fluchte ich zu Víteks großer Freude. »Hol's der Teufel, hol's der Teufel«, äffte er mich nach und
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schlug mich mit der kleinen Faust auf die Schulter. »Wir werden doch nicht um die ganze Stadt herumfahren«, empörte ich mich. Rasch schaute ich mich um. Weit hinter mir fuhren zwei Wagen, ich behinderte niemanden. Fuhr über den Trennstrich und reihte mich in der Mitte ein. »Siehst du, das haben wir«, frohlockte ich. »Ich müßte mir doch wie ein Idiot vorkommen, wenn ich hier nur immer im Kreise fahren würde.« »Du würdest dir zwar wie ein Idiot vorkommen«, ließ sich Jitka vernehmen, »aber anderseits würde dich die Polizei nicht schnappen. Halte die Fahrpapiere bereit.« Von der nächsten Kreuzung schritt energisch ein Uniformierter auf uns zu. Wieso hatte ich ihn nicht früher bemerkt? Es war schon ein älterer Beamter, rot wie ein Apfel. Zweifellos hoher Blutdruck. Und: »Ihre Papiere bitte! Sie wissen, was für einen Verstoß Sie begangen haben?« »Selbstverständlich. Ich muß schnell ins Krankenhaus und kenne mich hier nicht aus. Hab im letzten Augenblick bemerkt, daß ich mich zu weit nach links eingeordnet hatte.« Lange schaute er sich die Papiere an. Hinter uns stauten sich die Wagen. Auf der Kreuzung war die Ampel nicht eingeschaltet. In einer Seitenstraße fing schon jemand an zu hupen. »Wissen Sie, was passieren kann, wenn man ohne Warnung den Trennstrich überfährt?« »Aber hinter mir fuhr doch keiner«, rechtfertigte ich mich. Das regte ihn auf. »Die Vorschriften gelten für jeden«, belehrte er mich. »Sie haben unberechtigt die Richtung geändert und den Trennstrich überfahren. Darauf steht Strafe, Herr Fahrer.« Ich weiß nicht, warum er mich nicht ein Stückchen von der Kreuzung wegfahren ließ. Ich war schon ganz nervös von dem Stau hinter uns, der weiter wuchs. Und plötzlich ließ sich der Kleine hören. »Ich muß pullern«, greinte er. »Mußt ein Weilchen warten«, versuchte Jitka, die auch
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schon langsam die Nerven verlor, ihn zu beschwichtigen. Er plärrte los. »Ich muß pullern«, wiederholte er. Jetzt gleich.« »Dann steig aus«, herrschte sie ihn an. »Geh dort zum Gehsteig, wo die Sträucher stehen.« »Ich muß Ihnen einen Strafzettel geben«, wiederholte der Polizist und zückte seinen Block. »Auch wenn Sie sich hier nicht auskennen. Sie haben die Vorschriften übertreten.« »Schon gut.« Ich willigte ein, nur um von dieser verdammten Kreuzung wegzukommen. »Ich krieg den Reißverschluß nicht auf, und ich muß so sehr pullern.« Ich stieg aus. Auf der einen Seite der Mann in Uniform, der in seinem Block blätterte, auf der anderen Seite der Junge mit dem festgeklemmten Reißverschluß. Und auf dem Gehsteig ein Häuflein neugieriger Gaffer. Ich rackerte mich mit dem blöden Reißverschluß ab, aber er ging nicht auf. Von allen Seiten hupte es. Obendrein fing Jitka an, völlig unangebracht zu lachen. Endlich gab der Reißverschluß nach. Vítek fiel es gar nicht ein, zu irgendwelchen Sträuchern zu gehen. Glückselig grätschte er die Beine und besprengte in einem großen Bogen den Kotflügel. Ich dachte, ich müßte den Kerl in der Luft zerreißen. Er war fertig. Erstaunlicherweise zog er den Reißverschluß jetzt Schon allein zu. Dann stellte er sich vor den Polizisten. »Gibst du mir auch ein Blatt?« Der Ordnungshüter mußte lachen. Riß aus dem Block ein leeres Blatt und gab es Uzel. Dann strich er dem Jungen übers Haar. »Fahren Sie weiter«, sagte er wohlwollend zu mir. »Und nächstes Mal passen Sie besser auf.« Ja, nach all dem zeremoniellen Getue ließ er uns einfach weiterfahren. »So hat uns der Stöpsel zu allem Überfluß noch das Geld für ein Eis erspart«, sagte lachend meine Frau, und ich und
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Vítek, der damit seinen neuen Namen hatte, stimmten ihr zu. Ich möchte fast glauben, das Bürschlein hat uns die Szene mit dem Reißverschluß absichtlich vorgespielt, um uns aus dem Schlamassel zu befreien. Aber soviel Raffinesse wäre wohl nur einem Erwachsenen zuzutraun. Nein, damit war die Odyssee noch nicht zu Ende. Die Kollegen empfingen mich sehr nett. Ich brauchte von Vítek ein paar neue Aufnahmen? Kein Problem. Aber wenn ich Interesse hätte - sie hätten hier ein paar wirklich einmalige Aufnahmen. Eine Geschwulst im dritten Ventrikel. Eine parasitäre Zyste, die durch keine andere Methode nachgewiesen wurde. Eine Höhlung nach einem Abszeß, der offenbar von allein durchgebrochen sei. Ja, der Kranke habe es überlebt. Natürlich hatten wir Interesse dafür. Inzwischen fertigten sie Vítek ab, nachher könnten wir die Bilder sehen. Der Junge war in seinem Element, unterhielt die Laborantinnen und die Sekretärin. Sie stopften ihm die Taschen voll Bonbons. Gaben ihm Buntstifte. Nach wie vor ging es ihnen nicht in den Kopf, warum ich das Kind persönlich gebracht hatte. »Der Herr Professor ist dein Großvater?« hörte ich eine Laborantin mit gedämpfter Stimme fragen. Er war voller Übermut. Schürzte die Lippen und sah sie eine Weile an. »Ja«, sagte er dann mit einem heftigen Nicken und mußte selber darüber lachen. Nach einer Weile kam der Doktor vom Röntgen und legte die Aufnahmen vor uns aus. »Es tut mir leid, daß ausgerechnet in Ihrer Familie...«, murmelte er verlegen. »Gegenüber dem letzten Befund ist es leider sichtlich schlechter.« »Aber das ist nicht mein Enkel«, verwahrte ich mich. »Nehmen Sie ihn nicht ernst, er macht nur Spaß. Ich würde ihn gern bald operieren, deshalb bin ich selbst gekommen. Es eilt sehr.« »Verstehe ich, verstehe ich.« Der Assistent glaubte mir kein Wort. Dann erschien der Dozent. Wieder betrachteten wir jeden Schatten auf diesen
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unglückseligen Aufnahmen. Sein Gesicht war sehr ernst. Den Befund formulierte er vorsichtig. »Als wir ihn letztes Mal hier hatten, wußte ich nicht, daß er aus Ihrer Familie...« Er tat sehr mitfühlend, eine Stimme wie ein Pfarrer beim Begräbnis. »Er ist wirklich nicht unser Enkel«, stand mir Jitka bei. »Wir würden es Ihnen sagen.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte der Dozent lächelnd. »Keine Sorge, wir werden nicht darüber sprechen. Aber es ist furchtbar, wenn ausgerechnet ein Neurochirurg so ein Pech hat. Ich würde Ihnen sehr wünschen, daß der Fall lösbar ist. Aber leider...« Wir gaben es auf. Sie hatten uns einen Enkel untergejubelt, mochte es also so sein. Die Aufnahmen waren großartig. Eine tolle Erfindung! Das Gerät ›knackt und wirft jedesmal ein Bild aus wie aus dem anatomischen Atlas. Auf ihm ist alles zu sehen. Und dabei braucht der Arzt niemanden zu quälen, die Angst vor schmerzhaften Einstichen entfällt. Gut, daß die Erfinder dafür den Nobelpreis bekamen! Auf der Rückfahrt verschlug es uns irrtümlicherweise in ein Restaurant der Sonderklasse. Wir waren so ins Gespräch über die Computertomographie vertieft, daß wir es erst merkten, als wir am Tisch saßen. Vor uns Schmuckpyramiden aus Servierten, auf dem Servierwagen blitzte die Platte zum Warmhalten der Sauce. Stöpsel war begeistert, wie immer, wenn ihn ein gutes Essen erwartete. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her, schaute sich um, guckte gar den Nachbarn auf die Teller. Wir nahmen die Speisekarte und berieten uns leise. Für Vítek mußten wir etwas Leichtes bestellen. Nichts vom Rost. Nichts Gewürztes. Hühnchen wäre auch nicht das Passende. Der Junge beachtete uns nicht. Als der Ober kam, bestellten wir zuerst etwas für uns und verstummten dann ratlos. »Und was wünscht der junge Herr?« fragte der Ober förmlich.
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»Schnitzel«, sagte Stöpsel, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. »Schnitzel und Kartoffelsalat.« Der Herr im Frack räusperte sich verlegen. »Ich weiß nicht, ob... heute wird es wohl gerade nicht dasein...« »Hör zu«, mischte sich Jitka ein. »Das da ist fast wie Schnitzel. Sie bringen dir ein schönes Stück Fleisch und dazu Kartoffeln.« Er schüttelte den Kopf, nein, das wollte er nicht. »Und wie wär's mit einem Stück Huhn?« bot ihm schmeichlerisch der Ober an. »Die Knochen lösen wir heraus...« »Ich will Schnitzel und Kartoffelsalat.« Zum Donnerwetter, dachte ich, warum hat ihn der Ober überhaupt gefragt? Hätte er einfach was gebracht dem Jungen wäre es gar nicht eingefallen, sich etwas auszudenken. »Wir hatten mit Großvater auch Schnitzel«, spielte Vítek einen Trumpf aus. »Auf dem Bahnhof.« Na bitte, sogar auf dem Bahnhof! Und das hier ist Sonderklasse, und kein Schnitzel! Das war hohe Taktik. Der Ober preßte die Lippen zusammen. »Gut, ich versuch's. Wenn der junge Herr ein Weilchen warten will...« Stöpsel nickte, er wollte warten. Inzwischen servierte man uns unser Fleisch mit Sauce. Der Ober zündete das Flämmchen an und wärmte die Gerichte. Dann legte er sie uns in Etappen auf die Teller. Stöpsel guckte mir in den Mund, daß mir jeder Bissen bitter wurde. »Willst du ein Stückchen?« fragte ich ihn. Er wollte. Aß mir fast die Hälfte meiner Portion weg. Zum Glück servierte man dann auch ihm das bestellte Schnitzel, es reichte über den ganzen Teller. »Wärm's mir auch«, sagte er zum Ober. Ich dachte, er wird ihm gleich eins mit der Serviette überziehen. Nein, der Ober wärmte ihm wirklich das Schnitzel. Keiner von uns zuckte mit der Wimper. Der Junge aß mit Messer und Gabel wie ein Erwachsener.
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Er ließ keinen Krümel übrig. Als wir ihm eine Limonade bestellen wollten, sagte er, der Großvater lasse ihn immer vom Bier nippen, wenn er mit ihm ins Gasthaus gehe. Ich schob ihm das Glas hin. Er nippte, daß für mich kaum ein Drittel übrigblieb. Nein, auf der weiteren Rückfahrt passierte nichts mehr. Der Junge stand hinter uns und hielt sich an unseren Schultern fest. Wir sangen zu dritt. Er kannte jedes Lied. Der Großvater hatte ihm sogar das von dem Kanonier Jabůrek beigebracht. Er brüllte mir ins Ohr, daß sich sein dünner Hals blähte. Dabei patschte er mir im Takt auf den Kopf. Es ist sonderbar, wie mir jedes Detail dieses Tages im Gedächtnis haftet. Als wir in Prag einfuhren, erinnerte sich Jitka, daß wir für den Abend Konzertkarten hatten. Genauer gesagt, Vyskočils, sie hatten sie für sich und für uns besorgt. Nur gut, daß es Jitka noch eingefallen war. »Stell dir vor, wie peinlich es wäre, wenn wir nicht kämen«, sagte ich. »Was heißt peinlich - wir hätten Dvořáks Cellokonzert versäumt!« Wir freuten uns auf das Konzert. In jungen Jahren hatten wir öfter Konzerte besucht, es gab auch Zeiten, da wir jedes neue Schauspiel sehen mußten. Jetzt war es für uns eine Seltenheit, wir kämpften zu sehr mit der Zeit. Als wir endlich zu Hause anlangten, erwartete uns Ondra. Er saß auf der Treppe, in Jeans und Blouson sah er aus wie ein Abiturient. »Euch geht's aber gut!« begrüßte er uns. »Ich dachte, ihr rettet die leidende Menschheit, und dabei fahrt ihr auf Ausflüge, mitten in der Woche!« »Du warst in der Klinik?« »Klar! Da erfährt man Sachen! ›Der Herr Professor ist mit der Frau Mama weggefahren!‹ - ›Die Frau Assistentin ist mit dem Herrn Papa weggefahren.‹ Als hätten sich die Sekretärinnen verabredet.« Wir lachten darüber, freuten uns, den Sohn hier zu haben.
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»Wie kommt's, daß du in Prag bist? Warum hast du nicht geschrieben?« Da waren wir schon in der Wohnung. Glücklich fläzte er sich im Sessel. Er gähnte. »Mann Gottes! Fast drei Stunden sitzt man auf der Treppe, und sie werfen einem noch vor, daß man nicht geschrieben hat! Und überhaupt - wird denn am Samstag gar nicht gefeiert?« Um Himmels willen, Jitka hat doch Geburtstag! Das hätte ich beinahe völlig vergessen. Rasch bemühte ich mich, es wiedergutzumachen. »Selbstverständlich«, versuchte ich zu witzeln. »Mutti hat schon einen Friseurtermin bestellt und hat sich ein Abendkleid schneidern lassen.« Jitka lächelte. Sie stand neben Ondra und schenkte ihm ein Juice ein. Wenn sie die Köpfe nebeneinanderhielten, sahen sie aus wie zwei wohlgeratene Geschwister. »Das versteht sich«, ging Jitka auf das Spiel ein. »Und der Vati kommt in Weiß, damit es noch festlicher wirkt. Er wird nämlich bestimmt vergessen, sich umzuziehen, falls er überhaupt kommt.« »Gut«, kicherte Ondra. »Man erkennt gleich, daß man zu Hause ist, wenn man euch hört.« »Du kannst mit ins Konzert gehen, mein Junge«, erinnerte ich mich. »Ich hab heute keine Lust mehr. Wenigstens hat Mutti Begleitung.« »Ja? Du hast keine Lust?« wiederholte Jitka ironisch. »Dann wirst du sie dort kriegen, verstehst du? Du gehst brav mit Ondra hin. Ich werde inzwischen was backen. Hab hier so viel Arbeit, daß ich nicht weiß, was ich zuerst machen soll.« »Wißt ihr was?« ließ sich der Sohn vernehmen. »Geht ihr nur hübsch alle beide ins Konzert. Ich hab eine Ewigkeit auf der Treppe gesessen, das reicht mir für heute. Ich kann mich auf die Couch legen und mir Platten anhören.« Dann fiel Jitka ein, die Vyskočils anzurufen. Wir hatten sie eigentlich gar nicht gefragt, ob sie Karten bekommen hatten.
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Ja, Frau Vyskočilovä bestätigte es. Nur könne ihr Mann leider nicht mitgehen. Ein unglaubliches Pech. Er habe ihr den Koffer vom Schrank herunterholen wollen, und da sei der Hocker unter ihm weggerutscht. Er sei auf die Hand gefallen. Nein, gebrochen nicht, aber ein großer Bluterguß. Sie hätten ihm das Handgelenk in einen Stärkeverband gepackt. Das mit dem Konzert sei ja nicht weiter schlimm, aber er werde mindestens drei Wochen nicht operieren können. Jitka nickte mitfühlend und zog gleichzeitig eine boshafte Grimasse. »Drei Wochen wird er nicht operieren können«, wiederholte sie, damit auch ich es hörte. »Aber so was kommt doch immer mal vor, er soll sich nicht sorgen. Meinem Mann wird das gewiß nichts ausmachen.« Eine Weile war ich nicht fähig, an etwas anderes zu denken. Drei Wochen! Růžička hat Studienurlaub, um die Habilarbeit fertigzustellen, das kann ich nicht mehr rückgängig machen. Frau Hladká hat die Absicht, in den ersten Wochen nach der Niederkunft der Tochter unbezahlten Urlaub zu nehmen. Und in Kürze beginnt die allgemeine Urlaubszeit. Da bin ich bloß neugierig, wer überhaupt noch in der Klinik bleiben wird. »Wenn Ihr Gatte wirklich nicht mitgehen möchte wir hätten einen Ersatz«, sagte Jitka. »Unser Ondra ist auf Besuch gekommen. Würde Ihnen das recht sein? Also gut, wir nehmen ihn mit und holen Sie mit dem Wagen ab. Da kann sich mein Mann die Hand zumindest anschauen.« Gesagt und beschlossen. Mit einem Male brauchte Jitka nichts zu backen. Mir kehrte die Lust zurück, die ich angeblich verloren hatte. Ondra störte es nicht mehr, daß er eine Ewigkeit auf der Treppe gesessen hatte. Er holte aus dem Schrank seinen Abiturientenanzug hervor. Er fürchtete schon, er werde die Knöpfe am Sakko nicht zukriegen, aber es saß ihm sogar ein bißchen lose. Unverzüglich bedachte ihn Jitka mit sorgenvollen Blikken. »Wie kommt es, daß du schon jetzt hier sein kannst? Bist du
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vielleicht krank?« »Ich hab mir paar Tage Urlaub genommen. Muß in die Bibliothek reinschauen, schreibe gerade einen Artikel. Und Eva hab ich auch lange nicht gesehen.« »Warum entschuldigst du dich? Du bist doch zu Hause.« »Du hast gefragt, ich habe nicht angefangen.« Etwas an Ondra war anders. Er lachte nicht so herzhaft wie früher. Auch im Gespräch war er zurückhaltender. Seine schlanken, langen Finger spielten dauernd nervös mit etwas. Klappt es vielleicht nicht mit der Arbeit? Ondra war schon das dritte Jahr an einem Forschungsinstitut in Brno tätig. Im vorigen Jahr hatte er die Kandidatur der Wissenschaften verteidigt. Wir fragten ihn, was es bei ihm Neues gebe. Er verriet uns, daß er eine Studienreise nach Griechenland machen solle. Anwärter habe es mehrere gegeben, aber der Direktor habe ihn ausgewählt. Endlich saßen wir im Konzert. Ich spürte ein großes, tiefes Wohlbehagen, wie immer, wenn eines unserer Kinder bei uns ist. Oft geschieht es, daß mir beim Musikhören tausend andere Gedanken kommen, die Kranken, Operationen, Betriebssorgen. Diesmal schaffte ich es, alles schwimmen zu lassen. Außer dem Dvořákkonzert wurde Suks Serenade in Es-Dur gegeben. Wie oft hatten wir sie uns zu Hause von der Platte angehört. Immer hatte ich sie gern, aber heute rührten mich die leisen Violinpartien besonders und erfüllten mich mit Glück. Vielleicht weil ich Ondra neben mir hatte. Er war ungewöhnlich aufnahmefähig für Musik. Ich sah neben mir sein feines Profil, das sich nicht bewegte, die knabenhafte Stirn, die sehr langen Wimpern, die er von der Mutter geerbt hatte. Es tat mir fast weh, so zart und verletzlich kam er mir vor. Was wissen wir eigentlich von unseren Kindern, sagte ich mir in der Geborgenheit dieser schönen Musik. Wir glauben, sie seien zufrieden, und in Wirklichkeit durchleben sie vielleicht gerade etwas Schmerzliches. Und wir? Immer wieder
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stellen wir uns unerreichbare Ziele, weil uns sonst das Leben leer vorkäme. Wenig beschäftigen wir uns mit ihnen. Aber das Leben ist ein verdammt kurzer Besuch auf diesem Planeten. Wir schlagen uns mit anonymen Massen von Menschen herum, die wir nicht einmal bei ihrem Namen nennen, sie sind für uns ein Gliom des Hirnstamms oder ein Akustikusneurinom. Aber sind wir nicht auch da, das Glück unserer Nächsten zu behüten, die wir nur so, zur eigenen Freude, ans Licht der Welt gebracht haben? Immer waren wir, Jitka und ich, darauf bedacht, den Kindern in nichts hineinzureden. Jetzt war ich mir auf einmal der Richtigkeit dieser Haltung nicht ganz sicher. In der Pause ging ich mit Ondra, eine Limonade zu ergattern. Jitka plauderte inzwischen mit Frau Vyskočilová. Sie erfuhr von ihr, was wir nicht im geringsten geahnt hatten: daß Ondra wirklich unglücklich ist und dafür einen Grund hat. Jitka erzählte mir alles abends vor dem Schlafengehen. Ondra habe in Brno eine Liebschaft. Eine verheiratete Frau. Ihren Mann hätten wir vor zwei Jahren in unserer Klinik operiert. Ich konnte mich an den Namen nicht erinnern. Frau Vyskočilovä wußte alles sehr genau. Ondra habe seinerzeit die beiden in die Klinik gebracht. Damals kannte er die Gattin des Kranken nur flüchtig, er hatte ihr einfach seine Hilfe angeboten. Aber dann kamen sie sich offenbar näher. Für sie war es nicht leicht, die Zeit der schweren Operation ihres Mannes, der Bestrahlungen und des hoffnungslosen Wartens zu überstehen. »Natürlich«, ich konnte mir den ironischen Tön nicht versagen, »Frauen lassen sich eben gern trösten...« »Nein, warte! Die Vyskočilová hatte unsere Kinder immer gern. Sie macht sich nicht über Ondra lustig, er tut ihr nur leid. Weißt du, es ist dumm, offenbar hat davon die ganze Klinik gewußt, nur wir zwei nicht.« Wer war es doch gleich? Ich hatte völlig vergessen, daß Ondra mir jemanden gebracht haben sollte.
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»Erinnere dich nur, es war ein Astrozytom. Reichte weit in die Tiefe. Ließ sich nicht ganz beseitigen. Dann wolltet ihr ihn schon zu uns verlegen, aber er hatte Komplikationen, ein Abszeß in der Wunde oder so etwas, ihr mußtet es abermals revidieren.« Auf einmal fiel mir alles ein. Als er die eiternde Komplikation bekam, legten wir ihn in ein Einzelzimmer, und seine Frau besuchte ihn dort. Es war eine auffallend schöne Frau, ich konnte sie mir jetzt sogar schon vorstellen: lange, schwarze, mit einem Band zusammengehaltene Haare, sie erinnerte mich an ein altes Ölgemälde. Die Doktoren hatten ihr damals fast zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber daß auch Ondra...? »Was weiß die Vyskočilovä noch davon?« »Sie war nicht allzu mitteilsam. Zu ihrem Mann kommt eine Patientin aus Brno, und die kennt Ondra und diese Frau.« »Es ist sonderbar, wie doch jeder gern über andere tratscht.« Mir hatte es die Stimmung verdorben. »Ich begreife nicht, warum Ondra nicht schon längst damit aufgehört hat, wo doch all diese Umstände...« Jitka saß niedergeschlagen und besorgt vor mir. Dennoch sah sie in ihrem langen Samtkleid wie eine Studentin aus, immer noch so schlank. Ihre Hände lagen kraftlos im Schoß, ihre verschleierten Augen sahen durch mich hindurch. »Was wissen wir überhaupt von unseren Kindern?« sagte sie leise. »Wir freuen uns, daß sie erfolgreich arbeiten, aber was weiter? Wie sie leben? Ob sie nicht jemandem weh tun? Und ob nicht jemand ihnen weh tut?« Es ist sonderbar, daß ihr das gleiche eingefallen war wie mir, als ich der Musik lauschte. Ich erhob mich und holte den Kognak und zwei Gläser. »Sei nicht traurig! Trinken wir ein Gläschen, was meinst du?« Sie nickte. Nur selten gönnten wir uns ein Glas. Meistens dann, wenn wir zu Hause vor Müdigkeit fast umfielen. Wenn ein um das andere Mal das Telefon klingelte und wir
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immer wieder vom warmen Essen aufstehen mußten und unseren unruhevollen Beruf verfluchten. Dann tranken wir aus Protest, aber vorher zogen wir die Telefonschnur aus dem Stecker. Ich setzte mich zu ihr und ergriff ihre Hand. Wir schwiegen. Beide dachten wir wohl an das gleiche: Wie schön und leicht es gewesen war, als wir die Kinder noch zu Hause hatten. Anfangs hatten wir nur eine kleine Wohnung. Wir konnten uns über jedes Möbelstück freuen, das wir neu anschafften. Dann kamen die Kinderbetten weg, dafür wurden Schreibtische für die Jungen aufgestellt. Es wurde langsam zu eng. Wir planten, später einmal ein Haus zu bauen, wo wir alle beieinander wohnen würden. Unsere Kinder und dann auch ihre Familien. Es kam anders. Wir zogen in eine große Wohnung um, und in der ersten Zeit füllten wir sie alle mit heiterem Leben. Heute jedoch ist unser großer Eßtisch verwaist. Unsere Wohnung, die wir endlich hübsch einrichten konnten, ist voller Bücher, Sonderdrucke, Diapositive. Zumeist sitzen wir an unseren Schreibtischen, und nur selten reden wir über Neues in der schönen Literatur oder über einen Ausstellungsbesuch. Immer gleiten wir auf etwas Fachbezogenes ab. Mit einem Male überkam uns eine fast grimmige Sehnsucht nach dem vergangenen Leben mit den Kindern. Nach langer Zeit ist Ondra zu Besuch bei uns, und wer weiß, ob wir die Zeit finden werden, eingehend mit ihm zu sprechen: Jitka fährt zu einem Kongreß, sie hält dort ein Referat, an dem sie schon einige Wochen lang arbeitet. Mich erwartet ein kaum zu bewältigendes Operationsprogramm. Am Freitag würde ich gern den kleinen Uzel operieren. »Wann kommst du von dem Kongreß zurück?« fragte ich, um Jitka auf andere Gedanken zu bringen. »Ich weiß nicht. Sobald es möglich ist. Aber das Programm geht bis Freitag vormittag.« Sie bemühte sich zu lächeln, doch es mißlang ihr. »Jitka, es ist doch nichts weiter passiert! Jeder Mensch hat
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mal persönliche Probleme. Und Ondra ist ein guter Junge, er wird alles lösen.« Es war spät. Wir machten uns zum Schlafengehen fertig. Eine Weile standen wir am offenen Fenster und schauten in das Dunkel unter uns. Die Straßen waren nur Lichterketten, in denen da und dort das verspätete Irrlicht eines Autos aufleuchtete. »Ondra ist viel feinfühliger als Milan und Eva«, sagte Jitka leise. »Es tut mir furchtbar leid, daß er nicht glücklich ist. Er könnte schon Frau und Kinder haben. Statt dessen quält er sich. Ich glaube, er ist sehr allein...« »Wenn sich die Gelegenheit bietet, spreche ich mit ihm«, versprach ich ihr. Ich sah ihr an, daß sie nicht viel davon erwartete. Ich weiß, ich bin kein guter Psychologe, und die jungen Leute sind heute völlig anders, als wir es waren. Das sehe ich an den Studenten. Manchmal glaube ich, sie haben keinen Ehrgeiz. Oft wissen sie bis zum Ende des Studiums nicht, was sie eigentlich weiter machen möchten. Jungen und Mädchen sind zueinander fast zu formlos. Ich betrete den vollen Hörsaal, und in einer Ecke küssen sich zwei, als wären sie auf einer einsamen Insel. Wie hätte die in meiner Jugend der Professor aufs Korn genommen! Aber ich tue, als sähe ich nichts. Die Mädchen gehen in Jeans, und ihre Redeweise ist oft salopp oder gar ruppig. Aber ein andermal, vor einer Schwerkranken, verändern sie sich. Da wirken sie erstaunt und manchmal fast kindlich zart. Ich kenne ihre Sprache nicht. Auch unsere Kinder haben sie angenommen und. sich uns dadurch sogar ein bißchen entfremdet. Wenn wir versuchten, uns ihnen anzupassen, gaben sie uns zu verstehen, daß das nichts für uns sei. Grobe Wortspiele, Andeutungen, die uns zu erklären sie nicht bereit waren. Sehr bald hatten sie auch ihre Geheimnisse, die sie nicht mit uns teilten. Nein, das hatte uns nie verdrossen. Wichtig war, daß sie immer »fair spielten«. Alle drei hatten sich sehr gern. Wir waren uns sicher, daß sie einander jederzeit beistehen wür-
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den, wenn es notwendig sein sollte. Ich war ernsthaft entschlossen, mit Ondra über alles zu sprechen. Ich hatte nicht geahnt, daß es darüber auch in der Klinik Gerede gab, und das konnte mir doch nicht gleichgültig sein. Ich wußte nur nicht, wie ich anfangen sollte. Im voraus empfand ich Scheu wie immer, wenn wir mit den Kindern auf rein persönliche Dinge zu sprechen kamen. Ondra erleichterte es mir, er kam von selber. Am Donnerstagabend, sehr gelegen war es mir allerdings nicht. Ich bereitete mich auf Vítek vor. Abermals breitete ich die Röntgenaufnahmen und die Bilder von der Computertomographie vor mir aus. Ich verglich sie, stellte meine Vermutungen an, was diese und jene unscharfe Kontur zu bedeuten hatte. Ich bemühte mich zu erfassen, was mich überraschen könnte, wenn ich bis zur Geschwulst vordringen und alle diese ungemein verletzlichen umliegenden Gebilde wie eine plastische Karte vor mir haben würde. Die vierte Kammer, diese Klippe des Todes, deren Wände auch nur zu berühren schon gefährlich ist. Ich hatte einige neue Sonderdrucke. Studierte die Verfahrensweise und die Operationstechnik anderer Kollegen. Einer von ihnen hatte eine ganze Geschwulst bei einem Kind, das jünger als Uzel war, beseitigt. Er hatte einen phantastischen Eingriff durchgeführt, aber das Kind war nach einer Woche gestorben. Komplikationen hatten sich eingestellt, die ganz gesetzmäßig Operationen in diesem Hirnbereich begleiten. Alles riet mir von der Operation ab. Auch ein weiterer Artikel, der die Beseitigung der gleichen Geschwulst bei einem älteren Jungen beschrieb, die mit einer postoperativen Blutung endete. Ein langer Artikel über die Resektion in zwei Etappen, die vortrefflich gelang, aber der eine Embolie im Gehirn folgte. Die dramatische Schilderung eines französischen Autors: Bei eineiigen Zwillingen war eine Geschwulst an der gleichen Stelle des Gehirns aufgetreten. Er hatte einen von ihnen operiert, doch dieser überlebte den Eingriff
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nicht. Mich machte die Lektüre immer verzagter. Dadurch hatte ich gar nicht bemerkt, wann Ondra gekommen war. Ich erriet eher mit einem sechsten Sinn, daß sich in meinem Zimmer etwas verändert hatte. Ich schaute mich um und erblickte ihn, bequem im Sessel sitzend. Die braunen Augen Jitkas sahen mich mit neugieriger Ironie an. »Na so was, Vati, du kannst dich aber auch entmaterialisieren!« »Bist du schon lange hier?« »Ziemlich. Ich hab sogar angeklopft, aber von dir kam nichts. Ich sage: Ahoi! Und du wieder nichts. Was liest du da für einen Krimi?« »Frag bloß nicht«, erwiderte ich lachend. »Ein Krimi ist dieser Lektüre gegenüber das Tagebuch eines jungen »Mädchens.« »Was du nicht sagst! Sollte eure Fachliteratur so spannend sein?« Ich erzählte ihm knapp das Wichtigste über Vítek. Er forderte mich genauso drängend wie Míťa auf, den Kleinen zu operieren. Ich gestand ihm, daß ich ein bißchen Angst davor hatte. Er wollte es mir nicht glauben. »Und deine professionelle Geschicklichkeit?« wunderte er sich halb ironisch. »Ich hatte gedacht, wenn du dauernd das gleiche machst, mit Leuten, auf die Verlaß ist...« »Ein Pianist spielt auch immer das gleiche, und doch hat er vor jedem Auftritt Angst oder zumindest Lampenfieber.« »Das ja, aber er sitzt vor einem vollen Saal. Er haut daneben, und jeder merkt es.« Damit lockte er mich aus der Reserve. »Während es bei uns ohne Publikum zugeht, willst du sagen. Wenn du danebenschneidest, wird das verheimlicht.« »Aber Vati! Ich wollte dich nur ein bißchen provozieren.« »Mag sein«, räumte ich ein, »aber dennoch vereinfacht ihr es alle. Es ist nämlich niemals das gleiche. Im Gegenteil, zumeist ist alles anders, als du dir ursprünglich gedacht hast. Du bereitest den Ablauf bis in die kleinsten Einzelheiten
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vor...« »Die Strategie einer großen Schlacht, nicht wahr?« sagte er mit einem gutmütigen Lachen. »Ungefähr. Aber dann nützt dir das gar nichts, weil du zum Beispiel auf ein anomales Gefäß stößt, das nach allen Regeln der Anatomie nicht dort sein dürfte.« »Du meinst, der Junge ist wirklich so ein schweres Problem?« »Ein schon im vorhinein verlorener Kampf! Nach dem Urteil der Fachleute ein Waterloo. Nur Laien vertrauen mir. Sie reden wie du und fügen noch hinzu: ›Ihre goldenen Hände‹ und dergleichen.« »Aber stell dir doch mal vor, die Sache gelingt...« »Sag du mir das nicht auch noch! Ich hab ihn zu nahe, an mich herangelassen. Kann ihn nicht mehr wie einen Fremden betrachten.« »Und das stört dich?« »Sehr. Neulich mußte ich einen schwierigen Eingriff bei einem Studienkollegen vornehmen. Das hat mir sehr zu schaffen gemacht!« »Und warum hast du ihn nicht von einem anderen operieren lassen?« Ich musterte meinen Sohn und stieß im stillen einen Pfiff aus. Durch den Kopf flogen mir Erinnerungen, wie wir uns einst in der Familie gegenseitig beurteilten. Wie wir jeden zwangen, ehrlich über sich die Wahrheit zu sagen. »Warum?« erwiderte ich schließlich. »Weil es keiner so gut gemacht hätte wie ich.« Nichts. Keine Ironie. Nur ganz geringfügig, gut verheimlichte Bewunderung. Mit gepreßter Stimme: »Also... warum schwankst du da eigentlich, Vati?« Ich lachte. »Das weiß ich nicht. Ich werde nicht mehr schwanken. Aber du, warum bist du zu mir gekommen? Bestimmt nicht, um dir von mir was übers Spital erzählen zu lassen.« »Das würde eine lange Unterhaltung. Wie ich sehe, hast du
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viel Arbeit.« »Nein, Ondra, nein.« Ich klappte den Sonderdruck zu und streckte mich. »Eine Weile muß ich ohnehin damit pausieren. Hast du was gegessen?« »Ja, ein bißchen...« »Red nicht! Weißt du was, wir gehen in die Küche und schauen nach, was im Kühlschrank ist. Dabei kannst du mir erzählen.« Das war richtig. Ondra war offensichtlich verlegen und wußte nicht, wie er anfangen sollte. Ihm kam es zupaß, daß er Teller aus dem Küchenschrank holen und die Bestecke auf den Tisch legen konnte. Wenigstens brauchte er mich dabei nicht anzusehen. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte er unvermittelt. »Ich stecke bis über beide Ohren in einer Sache, und mir scheint, daraus gibt es keinen Ausweg, weder zurück noch nach vorn. Wie wenn du in einem Boot fährst und auf einem unterirdischen Fluß in eine dunkle Grotte gerätst. Es ist schön dort, aber es beginnt dich zu ängstigen, weil du keinen Ausgang finden kannst.« Ich stellte eine Flasche Bier auf den Tisch, dazu zwei Gläser. »Oh, aus dir ist ein Dichter geworden, mein Sohn!« Er setzte sich und bemühte sich zu lächeln, aber es wurde nur eine verzerrte Grimasse. Etwa so, wie mich am Tag vorher Jitka angeschaut hatte, als sie darüber klagte, daß Ondra unglücklich sei. Mir tat er leid. Ich entschloß mich, ihm eine lange Beichte zu ersparen. »Hör zu, wenn es um die junge Frau aus Brno geht, dann weiß ich darüber schon einiges.« Er lief rot an. »Das hatte ich mir gedacht. Mutter spricht mit mir wie mit einem verwunschenen Prinzen, der in die Krallen der Sirenen gefallen ist. Da hat euch wohl die Lehrerin informiert, die zu Vyskočil fährt.«
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»Du weißt, daß ich mich für Tratsch nicht interessiere«, bemerkte ich peinlich berührt. »Wenn es dir unangenehm ist, streichen wir's vom Programm.« »Aber Vati!« Er erschrak wirklich, ich könnte beleidigt sein. »Ich wollte nur sagen, daß jeder schwatzt...« »Das ja«, räumte ich ein. »Damit mußt du dich abfinden, wenn du sozusagen die Ursache dafür lieferst.« Teufel auch, beschimpfte ich mich im stillen. Er kommt aufrichtigen Herzens zu dir, und du fängst an, den Mentor herauszukehren. Das wird ihn noch abschrecken! Es schreckte ihn nicht ab. Offenbar lag es ihm schon lange auf der Seele, und er hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. »Ich weiß«, sagte er niedergeschlagen und schaute geistesabwesend zu, wie ich ihm Scheiben vom Schinken und Käse auf den Teller legte. Dann erst bemerkte er es. »Um Himmels willen, Vati, wer soll das alles essen!« Gutmütig grinste ich ihn an. »Die Leiden des jungen Werther! Ißt nicht, schläft nicht, welkt dahin wie eine Lilie.« »Wenn du alles von mir weißt, dann sag mir, was ich tun soll. Sie hat mich so gern, daß ich es fast mit der Angst kriege. Ihr Mann ist jetzt wieder ganz in Ordnung, zumindest hat er keine sichtliche Störung. Er ist nur gegen früher irgendwie langsamer. Wer ihn nicht gekannt hat, merkt ihm nichts an. Er lacht, spricht, arbeitet sogar schon. Aber er hat sich charakterlich verändert. Er war ein sehr sensibler Mensch, und jetzt ist er laut, fast unangenehm vital. Sogar im Aussehen wirkt er gröber.« »Und das stört diese Frau?« »Sie sagt, sie hat manchmal Angst vor ihm.« »Sie sollte sich eher freuen, daß er über den Berg ist.« »Weißt du, vor der Operation war sie fix und fertig. Sie hing sehr an ihm. Aber dann zerbrach in ihr etwas. Ihr habt ihr in der Klinik gesagt, daß sich diese Geschwulst nicht ganz entfernen läßt und daß sie wohl weiter wachsen wird. Daß sich sein Zustand in ein, zwei Jahren verschlimmern
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kann...« »Aber er lebt weiter und ist sogar aufgeblüht. Das ist ein Strich durch ihre Rechnung.« Ich konnte mir die Ironie nicht verkneifen. Über Ondras Gesicht ging ein Schatten. »Du tust ihr unrecht. Sie hat ihn gern. Oder sie hatte ihn wenigstens gern...« »Bis du gekommen bist.« Ich weiß, ich war nicht gerade freundlich. Aber ich empfand es so. Er schluckte es. »Ja, bis ich gekommen bin. Du darfst sie dafür nicht verurteilen. Ich habe sie vorher gar nicht richtig gekannt. Aber wenn du wüßtest, wie sie das niedergeschmettert hat, als sie erfuhr, was ihm fehlte! Deshalb habe ich ihr damals auch angeboten, bei dir in der Klinik Fürsprache einzulegen. Und als dann ihr Mann hierblieb...« »Hast du, kurz gesagt, die Rolle des edlen Ritters übernommen.« »Vater, mach dich doch nicht dauernd darüber lustig...« »Ich mache mich nicht darüber lustig. Er blieb bei uns in der Klinik. Und was weiter?« Ondra nagte eine Weile an der Lippe. Dann fuhr er fort: »Sie war völlig allein. Ich hatte zufällig in Prag zu tun. Sie tat mir leid. Ich bemühte mich, sie zu überzeugen, daß alles gut ausgehen wird. Denk nicht, ich hätte die Situation ausgenutzt. Wir taten eigentlich nichts anderes, als jeden Abend an der Moldau spazierenzugehen...« »Ich hoffe, sie hat sich dabei ein bißchen beruhigt.« Ondra entging meine Ironie. »Nein, sie hat sich nicht beruhigt. Sie war völlig erledigt. Dauernd wiederholte sie nur, sie werde sich etwas antun, wenn er die Operation nicht überlebt. Sie wollte nicht nach Hause fahren, bis alles überstanden war.« Ich sagte nichts mehr. Es war einfach ein romantischer Anfang. »Nach der Operation sagte man ihr, er müsse bestrahlt wer-
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den. Sie glaubte nun, es sei eine bösartige Geschwulst.« »Siehst du, und er ist darüber weggekommen!« »Sie fuhr dann immer zu ihm nach Prag, weil die Bestrahlungen lange dauerten. Jedesmal kehrte sie furchtbar deprimiert zurück. Sie sagte mir, er sei nicht mehr derselbe, er sei völlig anders als früher...« »Mhm!« »Früher waren sie ein wunderbares Paar. Er war immer so witzig und schlagfertig. Ich beneidete sie fast. Wie schön sie miteinander lebten.« »Das ist doch klar, Ondra! Nach so einem vermaledeiten Eingriff wird selbst der größte Salonlöwe zahm. Manchmal genügt es schon, wenn er die Mähne einbüßt.« »Weißt du, sie ist sehr schön und intelligent...« »Und obendrein jung. Jetzt hat sie neben sich einen Menschen mit einer Ungewissen Zukunft«, ergänzte ich. »Sie hat sich sehr bemüht, ihn so gern zu haben wie früher. Sie hat es einfach nicht geschafft.« »Ich versuche mir vorzustellen, wie ich wohl denken würde, wenn das mir und Jitka in unserer Jugend passiert wäre. Wenn deine Mutter etwas Ähnliches durchgemacht hätte.« Er ging in die Luft. »Das läßt sich doch nicht vergleichen, Vati. Ihr seid Ärzte. Euch würde das gar nicht passieren. Ihr seid gewohnt, den Dingen auf den Grund zu schauen.« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Ach nein, Ondra. In so einer Situation verläßt man den anderen nicht.« »Du bist zu streng, Vati. Du weißt nicht, was ein Laie durchmacht, der nichts von der Medizin weiß. Als ihr Mann heimkehrte, lebte sie wochenlang in banger Furcht, ob sich bei ihm nicht wieder Symptome zeigten. Dauernd fragte sie ihn aus, ob er Kopfschmerzen habe, ob er sich wohl fühle. Zu allem Überfluß war sie noch in anderen Umständen.« Ich erstarrte. »In anderen Umständen? Und du...« »Nein, Vati, es war von ihm. In dieser Zeit verkehrten wir noch als gute Freunde. Von der Schwangerschaft erfuhr ich nur nebenbei. Sie entschuldigte sich, daß. sie deshalb so
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überempfindlich sei.« Ich schob den Teller zurück. Mit einem Male hatte ich keinen Appetit mehr. »Dann beschloß sie, sich das Kind wegnehmen zu lassen«, fuhr er fort. .Jetzt begreife ich überhaupt nichts mehr, warum? Ich hoffe, du hast dabei keine Rolle gespielt!« »Nein«, sagte er unsicher. »Ich glaube es wenigstens. Ich weiß, daß sie sogar in der Klinik gefragt hat, ob es richtig wäre, jetzt ein Kind zu kriegen. Einer der Ärzte sagte ihr, es wäre besser, zu warten.« Ich hatte von diesem Roman die Nase voll. Jitka hat recht, ich bin kein Psychologe und habe nicht die Geduld für solche Gefühlsverwirrungen. Auch Míťa hatte mir vorgeworfen, ich sei nicht imstande, komplizierte Beziehungen zwischen den Menschen zu begreifen. Dann überwand ich mich. Schließlich hatte ja gerade das mir Míťa während des Studiums entfremdet. Und vor mir sitzt mein Sohn. Er hofft auf einen Rat. Sieht aus wie nach einer Krankheit, blaß und abgemagert. Ich bemühte mich um einen milden Ton. »Ondra, wie weit war es zwischen euch, als sie sich entschloß, abtreiben zu lassen?« »Da war zwischen uns überhaupt nichts, das versichere ich dir. Erst dann, viel später, als es ihrem Mann schon gut ging. Er fuhr von Zeit zu Zeit nach Prag zur ärztlichen Untersuchung.« Ich konnte nicht anders, mich packte schon wieder der Zorn. »Ich begreife, die Gelegenheit war günstig«, sagte ich. »Aber mich interessiert nicht, ob du in dieser Zeit mit ihr geschlafen hast. Ich wollte wissen, ob ihr da schon etwas füreinander fühltet...« »Wohl ja«, gab er zu. »Auch wenn wir nicht darüber sprachen. Bis es einmal wie eine Lawine über uns kam, aber da war sie schon längst wieder in Ordnung. Sie gestand mir, daß sie sich von den ersten Tagen an, da sie mich kannte, zu
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mir hingezogen fühlte. Sie habe sich dagegen gewehrt, aber es sei immer stärker geworden. Da erst begriff ich, daß es mir nicht anders ging.« Er sprach wie ein Pennäler. Ich hatte Lust, ihm etwas an den Kopf zu werfen. »Hat sie sich wegen der, unterbrochenen Schwangerschaft keinerlei Vorwürfe gemacht?« »Nein. Sie schreckte eher die Vorstellung, ihr Mann könne sterben und sie würde allein mit seinem Kind zurückbleiben, das vielleicht nicht einmal gesund sei.« »Das schreckte sie! Und so was scheint dir natürlich? Jede andere würde sich sagen: Wenn er stirbt, bleibt mir wenigstens sein Kind.« »Glaub mir, sie ist anders als die meisten Frauen. Sie täuscht nichts vor, das gerade schätze ich ja so an ihr. Ihr tut ihr Mann leid, aber sie sagt offen, daß sie ihn nicht mehr lieben kann.« »Und so betrügt sie ihn seelenruhig.« »Wieder tust du ihr Unrecht. Schon lange haben wir kein intimes Verhältnis mehr miteinander, weil das unehrenhaft wäre. Wir verkehren alle drei als gute Freunde...« »Wozu ist das gut? Scheinbar verläuft alles unter dem Mantel freundschaftlicher Beziehungen, aber in Wirklichkeit nährt ihr damit diese unsinnige Liebe nur noch. Warum tust du das eigentlich?« »Ich weiß es nicht. Mir genügt zu wissen, daß sie nicht allein ist.« »Wieso allein?« »Ich hab es dir doch erklärt...« »Nichts hast du erklärt. Ihr Mann ist jetzt wieder gesund. Er geht sogar zur Arbeit, wahrscheinlich leben sie als Ehemann und Ehefrau zusammen. Worauf wartest du? Bis er stirbt?« Er schämte sich. Schlug die Augen nieder. »Du willst mich nicht verstehen, Vater...« »Du willst dich nicht verstehen, Ondra! Weißt du, wie du mir vorkommst? Wie ein Offizier in Reserve. Ein Ritter von
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der traurigen Gestalt, der im Stillgestanden wartet, bis für ihn ein Platz frei wird.« Er barg das Gesicht in den Händen. »So ist es nicht, Vater, so nicht«, versuchte er mir unglücklich nachzuweisen. »Du siehst das zu einfach. Ich wollte mich schon einige Male von ihr trennen. Bin nicht mehr hingegangen, aber sie hat mich immer wieder angerufen und mir gesagt, sie wolle ohne mich nicht leben. Sie könnte sich wirklich etwas antun.« »Wenn es so ist, soll sie ihren Mann doch verlassen.« »Auch das habe ich ihr schon vorgeschlagen. Wollte sogar selber mit ihm darüber sprechen, aber davor schreckte sie zurück. Sie behauptete, damit würde er nicht fertig und uns bleibe nichts übrig, als zu warten.« Ich konnte mir ein ironisches Lachen nicht verkneifen. »Weißt du, wie man das nennt? Auf zwei Hochzeiten tanzen. Und du - du hast keine Freundin?« Unsicher schüttelte er den Kopf. »Nichts Ernstes. Und dann ist ja sie da, ich könnte wohl nicht...« »Siehst du, und gerade das ist schlecht an eurem Verhältnis.« »Sie will auch nicht, daß ich diese Studienreise nach Griechenland antrete, sie ist allein bei dem Gedanken schon völlig fertig.« »Gut, daß du fährst«, sagte ich. »Aber wenn ich an deiner Stelle wäre...« Fast flehend sah er mich an. »Wenn ich an deiner Stelle wäre«, wiederholte ich mit Nachdruck, »würde ich alle Brücken hinter mir abbrechen. Würde sie überzeugen, daß sie für ihren Mann sorgen und dich vergessen muß. Sonst ist alles Komödie, sowohl ihre Ehe als auch eure Liebe. Übrigens kann sich in ein paar Jahren im Menschenleben viel ändern...« »Siehst du, Vater, du gibst es selber zu, in ein paar Jahren...« »Nein, Ondra, vereinfache es nicht. Wäre ich an deiner Stelle, ich würde keinen Kompromiß zulassen. Jeder müßt
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ihr euer eigenes Leben leben, einfach auseinandergehen und auf nichts spekulieren, einen anderen Weg gibt es nicht.« »Ich weiß nicht, ob ich ihr das so direkt sagen könnte.« »Es geht nur so direkt. Wenn eure Beziehung so fest ist, wird ihr auch die längste Trennung nichts anhaben.« »Einmal hab ich bei ihr schon zwei Röhrchen Schlaftabletten gefunden. Sie wollte nicht zugeben, was sie damit vorhatte. Meinst du, sie könnte sich was antun?« Ich konnte ihr gegenüber keine Nachsicht walten lassen, mir war nun klar, daß sie Ondra quälte. Das Phantom mit den langen, von einem Samtband zusammengehaltenen Haaren löste sich auf. Jetzt hätte ich die Hand dafür ins Feuer legen wollen, daß sie damals in der Klinik künstliche Wimpern und auffällig gemalte Lidschatten hatte. »Das würde ich nicht fürchten«, beruhigte ich ihn trocken. »Wenn jemand Tabletten in der Handtasche rumträgt, dann mehr zum Vorzeigen. Sie sollte aufhören, sich so mit sich selbst zu beschäftigen. Ich denke doch, daß ihr Mann viel schlimmer dran ist? Aber das übersieht sie. Auch deine Probleme sieht sie nicht. Sie läßt dich nicht einmal in Ruhe arbeiten. Hab ich recht?« »Hast du, Vater, nur...« »Nur was?« »Ich möchte sie nicht noch mehr belasten, indem ich ihr das vorwerfe.« »Belasten? Wenn du ihr die Wahrheit sagst?« Er schwieg. Ich kam mir vor wie die Telefonseelsorge, aber Ondra akzeptierte es merkwürdigerweise. Ich glaubte, ich hätte seine Idylle in Fetzen gerissen. Verstohlen musterte ich ihn. Er trug ein weißes Hemd mit offenem, zerknautschtem Kragen. Die blonden Haare kräuselten sich im Nacken, sie bedurften der Schere. Gut, daß er kein Chirurg ist, dachte ich. Er hat geschickte Hände, ist aber nicht entschlossen genug, und sein Herz ist zu verletzlich. Er räumte das Geschirr vom Tisch und wusch es ab. Wieder tat, er mir leid. Ich versuchte meine schroffe Haltung ein
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bißchen abzuschwächen. »Vielleicht habe ich nicht recht, Ondra. Wenn du willst, vergiß, was ich dir heute gesagt habe. Du weißt ja, daß wir euch nie in etwas hineingeredet haben. Doch du bist selber gekommen und hast mich gefragt. Mutter würde es vielleicht anders sehen als ich.« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Ach wo! In diesen Dingen wart ihr euch immer bemerkenswert einig. Ein ideales Paar, das niemals komplizierte Beziehungen kennengelernt hat.« Ist es wirklich so, wie er sagt? Ich dachte an Míťa. Und dann an Schwester Zita. Nein, Jitka und ich hatten uns im persönlichen Leben nichts kompliziert. Aber darum hatten wir uns auch bemühen müssen. »Vielleicht haben wir uns auch darum bemüht«, wiederholte ich meinen Gedanken laut. »Das dürfte euch nicht viel Anstrengung gekostet haben. Weißt du, Vati«, fügte er innig hinzu, »ich wünschte mir nichts anderes, als einmal mit jemandem so zu leben wie ihr zwei.« Warum soll ich es nicht gestehen - es freute mich. Für eine Weile geriet er ins Träumen, und ich ahnte hinter seinem Schweigen die Erinnerungen an die Kindheit, an unsere Ausflüge und an den Wohnwagen. Etwas davon ist eben doch als gute und unauslöschbare Grundlage geblieben. Ich glaubte nun, daß er aus seiner Sackgasse herauskommen würde, aus der Landschaft am unterirdischen Fluß, der zwar schön ist, aber verräterische Klippen hat, wo mal sich arg verirrt.
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<7> Nein, dieser Abend war damit noch lange nicht zu Ende. Ondra rief einen Studienfreund ans um sich mit ihm zu treffen. Ich setzte mich erneut an meine Arbeit. Das Telefon klingelte ganz gesetzmäßig, zehn Minuten nachdem ich mich ein bißchen auf die Lektüre konzentriert hatte. Frau Doktor Hladká: »Herr Professor, ich bitte sehr um Entschuldigung« und so weiter, immer entschuldigen sie sich alle sehr, aber das Ergebnis ist stets das gleiche - ich fahre in die Klinik. Diesmalschien es anders zu sein. Sie wollte nur einen Rat. Aber ich kenne die Hladká, immer formuliert sie ihr SOS so, als wolle sie sich nur »beraten« lassen. »Was nahen Sie?« »Ein scheußlicher Unfall. Die Leute gehören gar nicht zu unserm Bezirk, auch nicht in die Chirurgie. Ein Krankenwagen von außerhalb, der zufällig vorbeifuhr, hat sie aufgenommen. Gewiß, es ist Unsinn, aber dem Fahrer fiel nichts anderes ein, er hatte mal seine Frau bei uns, und da dachte er...« »Gut, gut, ich hab schon begriffen...« Ich war verärgert und ließ es mir anmerken. Sonst bin ich nicht so, aber mir stand Víteks Operation bevor. Sie war gleich für den Morgen angesetzt, und ich brauchte so dringend das bißchen Ruhe! »Es ist furchtbar! Die Frau mit einem Polytrauma des Gehirns, ein Baby, mit dem wissen wir uns überhaupt keinen Rat. Der Mann, der gefahren ist, war offenbar betrunken. Er hat vielleicht nur eine leichte Gehirnerschütterung, aber die Hand ist fast durchgeschnitten am Blech der Karosserie.« »Ins zuständige Krankenhaus kann man sie also nicht überführen...« »Ich würde nicht einmal wagen, sie über den Hof zur Chirurgie zu schicken.«
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»Wer ist heute in der Klinik?« »Kroupa, Zelený und ich, Herr Professor.« Ich seufzte. Eine starke Garnitur war das nicht. »Offenbar wollen Sie, daß ich komme«, sagte ich resigniert. Sie schwieg. Dann mit sanfter Stimme, die ihre Wirkung auf mich nicht verfehlte: »Wir wären sehr froh.« Na gut! Was blieb mir eigentlich anderes übrig? Ich zog mich an. Wenn wenigstens Jitka hier wäre, sie könnte mitfahren und einen zuverlässigen neurologischen Befund machen. Nur wenige aus ihrer Abteilung antworten uns präzise auf das, was wir wissen wollen. Sie versteht, klar zu schreiben: »Der Befund spricht für eine Blutung, ich empfehle dort und dort zu revidieren.« Nur selten irrt sie sich. Die Röntgenaufnahme bestätigt gewöhnlich den Bluterguß, und wir können eine Punktion durchführen und ihn absaugen. Ja, Jitka fehlt mir besonders heute. Wir könnten unterwegs über Ondra sprechen, könnten noch einmal Uzels Befund durchnehmen. Immer fehlte sie mir, auch wenn sie nur einen Tag weg war, und dieser Kongreß dauerte sogar drei Tage. Ich startete das Auto und fuhr durch das stille abendliche Prag. In die Straßen senkte sich der Nebel, als hätten wir Ende Oktober. Es nieselte sogar leicht. Als ich auf die Hauptstraße einbog, hielt mich die Kelle eines Polizisten an. »Sie sind Arzt? Hier liegt ein Mann in Ohnmacht.« Natürlich, ich hatte den Äskulapstab an der Windschutzscheibe. Ich stieg aus. Der junge Ordnungshüter machte einen erschreckten Eindruck. Vor einem Haus lag auf dem Gehsteig ein junger Mann. Er atmete röchelnd. Übers Kinn und den Jackenkragen rann Erbrochenes, stark nach Alkohol stinkend. Neben dem stocksteif daliegenden Mann stand ein sonderbares Fräulein. Selbst im nebligen Licht der Straßenlaterne sah man, daß sie angemalt war wie zum Maskenball. »Ich sage dem Herrn von der Polizei, er soll ein Taxi rufen, ich würde bei ihm warten. Ihm ist schlecht, das sehen Sie doch!« Die zänkische Stimme hatte den Tonfall des Mädchens Pygmalion am Beginn ihrer Karriere. »Da kenn ich
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mich doch aus, nicht? Es hat keinen Sinn, ihn zu schütteln und auf die Beine zu stellen. Oder fahren Sie ihn nach Hause, ich leg ihn ins Bett...« »Er gehört in die Ausnüchterung«, sagte ich zu dem Mann in Uniform. »Er ist betrunken. Wenn Sie wollen, rufe ich aus der Klinik dort an, damit sie ihn abholen. Wir drehen ihn nur auf die Seite, er könnte was in die Luftröhre bekommen, wenn er wieder bricht.« »Kommt gar nicht in Frage!« kreischte die Frau. »Von wegen Ausnüchterung! Pepa ist schlecht geworden, er mußte sich hinlegen, und Sie gleich zum Apolinář!« Sieh da, zum Apolinář - so nennen die Säufer die Ausnüchterungszelle. Ich hätte mir denken können, daß sie davon nicht zum erstenmal hört. »Der Herr ist Arzt, Fräulein«, ermahnte sie der Polizist, aber das machte auf sie keinen Eindruck. »Wer weiß, ob's stimmt«, ließ sie sich hören. »Wenn er nicht mal erkennt, daß dem Pepa nur schlecht ist. Von so einem Doktor würde ich nicht mal meine Katze behandeln lassen!« »Hüten Sie Ihre Zunge, Fräulein! Solche Worte könnten Sie bereuen!« Sie rülpste. Hielt sich die Hand vor den Mund. »Verzeihung, Herr Wachtmeister«, entschuldigte sie sich. »Das macht die Aufregung. Ihm war flau im Magen, da hat er ein bißchen Sliwowitz getrunken, was ist daran Schlimmes? Und der Herr Doktor gleich: betrunken und auf die Ausnüchterung!« Am Gehsteig bremste ein gelbweißer Wolga. Was ist. hier los? Der junge Polizist schlug die Hacken zusammen und erstattete Meldung. Sein älterer Kollege sah sich mit erfahrenem Blick um. »Wir rufen die Ausnüchterung an. Sie warten hier, Genosse, bis sie kommen«, sagte er zu dem jungen Polizisten. Und zu dem Fräulein, das plötzlich alle Beredsamkeit verloren hatte: »Sie fahren mit uns, steigen Sie ein!«
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Jetzt war ich an der Reihe. Aufmerksam sah er mich an, und dann lachte er unvermittelt. »Sie sind es, Herr Professor? Erinnern Sie sich nicht an mich?« Nein. Ich schäme mich immer furchtbar, wenn mich jemand erkennt und ich nicht weiß, wo ich ihn einreihen soll. Ich bemühe mich, meine Unwissenheit zu überspielen, täusche vor, ihn gut zu kennen, denn wie könnte ich gerade ihn vergessen haben. Jitka verspottet mich deshalb, aber ich kann es mir nicht abgewöhnen. Natürlich ist es unmöglich, sich alle Leute zu merken, und das sollte doch auch jeder begreifen. Aber das tut er nicht. Besser gesagt, nur wenn es seine eigene Person betrifft. Seinen besonderen Fall dürfte ich doch nie vergessen. »Ich erinnere mich«, sagte ich unsicher. »Sie haben bei uns in der Klinik gelegen.« »Nein«, protestierte er ungeduldig. »Das war mein Bruder.« »Ich weiß schon«, stellte ich mich eingeweiht, um ihn zu erfreuen. »Ich hab es verwechselt, Sie sehen sich sehr ähnlich.« »Überhaupt nicht«, korrigierte er mich eigensinnig. »Damals sagte der Herr Doktor in der Bereitschaft: ›Schmerzen im Kreuz? Sie können nicht Wasser lassen? Dann ist es klar. Das muß operiert werden. Am besten gleich auf die Neurochirurgie!‹ Da hab ich den Bruder genommen und mich direkt an Sie gewandt. Die Sekretärin wollte mich zwar rauswerfen, aber ich hab draußen auf Sie gewartet. Und Sie haben ihn gleich dabehalten.« Ich atmete auf. Er hätte mir die Symptome so klar geschildert, daß ich im Bilde war. »Ich erinnere mich ganz genau«, improvisierte ich weiter. »Wir haben ihn noch am gleichen Tag operiert, es war eine Bandscheibe. Danach wurde ihm sofort besser.« Er taute auf. »Ja. Erstaunlich, was Sie für ein Gedächtnis haben. Wenn Sie wüßten, wie dankbar Ihnen mein Bruder ist! Wären Sie nicht gewesen, wo wäre er da heute!« Genau dort, wo er ist, dachte ich. Er wäre einen Tag später
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zur Operation gekommen, denn seine Symptome waren sozusagen lehrbuchhaft. Wie kommt es, daß ich so oft die Rolle eines Retters spielen muß? »Ich hoffe, es geht ihm gut«, murmelte ich beschämt. Ich hatte zwar den Herrn Hauptmann erfreut, kam mir aber dabei vor wie ein Betrüger. Er versicherte mir, dem Bruder gehe es gut. Es sei schon fast zehn Jahre her. Auch die Haare seien ergraut; damals hatte er noch schwarze Locken... »Dafür hatte ich schon mit dreißig eine Glatze«, fügte er mit leichtem Vorwurf hinzu, weil ich ihn mit dem Bruder verwechselt hatte. »Wenn Sie die Mütze aufhaben, sieht man das nicht«, sagte ich dreist. Er strahlte. »Das ist wahr. Deshalb haben Sie mich wohl für meinen Bruder gehalten.« Er bedankte sich bei mir, daß ich mir den Betrunkenen angeschaut hatte, schüttelte mir sehr herzlich die Hand, aber ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut. In meinem Rücken schien Jitka zu kichern. Als ich mich in der Klinik umgezogen hatte, entschloß ich mich, zunächst in die Ambulanz zu gehen. Ich fand dort keinen Doktor und keine Patienten. »Die Ärzte sind schon im Saal«, meldete mir die Schwester. Sie lächelte nicht. Sie hatte die Augen niedergeschlagen und warf die Instrumente heftiger als üblich in den Sterilisator. Welche ist es? Zdenka, die ewig Ärger mit ihrem Mann hat, oder Anička, Mutter zweier Kinder, die sich Strickzeug mit zum Dienst bringt? Beide haben die gleichen blonden, von der Haube verdeckten Haare, beide sind blaß und abgerakkert wie die meisten Schwestern, die Nachtdienst machen. Es ist Anička, ich wußte es schon mit Sicherheit. »Wie sieht es aus, Schwester Anička?« fragte ich. Sie preßte die Lippen zusammen und drehte sich zu dem Sofa an der Tür um. Unter einem Laken zeichnete sich etwas ab, erst jetzt bemerkte ich es. Ich schob den Stoff zu-
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rück. Es war ein Säugling mit blondem Haarflaum, mit einem pummligen, schon blau angelaufenen Körperchen, er hatte einen großen Bluterguß über der Stirn. Der kleine Schädel war gebrochen. Die dünne Schale der noch nicht zusammengewachsenen Knochen, das Plättchen des zuwachsenden Gewebes, das sich allmählich mit den übrigen Schädelknochen verbinden sollte, damit in dem Alter, da die Mutter das Kindchen nicht mehr beschützen würde, das Köpfchen weniger verletzlich sei. In einem Alter, da die Mutter es nicht mehr beschützen wird! Wie hatten es seine Eltern beschützt? Mich packte Zorn. Über Aničkas Gesicht rannen Tränen. Sie wischte sie nicht ab, schämte sich, wollte nicht, daß ich es bemerkte. Ich nahm sie um die Schultern. »Ich weiß, es ist furchtbar, wenn ausgerechnet so ein Kind...« »Der Kerl muß völlig betrunken gewesen sein«, brach es aus ihr hervor. »Besoffen wie ein Schwein! Er war nicht fähig, allein zu gehen, der Krankenwagenfahrer mußte ihn stützen. Er brabbelte, er sei bei seinem Bruder auf einer Feier gewesen, er wolle uns Torte geben, habe sie im Auto. An der Hand hatte er eine Wunde, das Blut tropfte auf den ganzen Flur. Dann brach er hier zusammen. Er weiß überhaupt nicht, daß er das eigene Kind umgebracht hat.. Seine Frau wurde geradenwegs zum Röntgen gefahren, sie hat Quetschungen am Kopf...« Sie hörte auf zu weinen, aber die Hände, die die Peans und Pinzetten im Sterilisator verstauten, zitterten sichtlich. Im Saal wurde schon gearbeitet, sie hatten nicht auf mich gewartet. Das war begreiflich, man hatte mich unterwegs lange aufgehalten. Rasch wusch ich mich, zog die sterile Wäsche an. »Also wie weit seid ihr?« Ich suchte mich zu orientieren, verstand aber nichts. Frau Hladká ist die Älteste, warum operiert sie nicht selbst? Über dem Mundschutz warf sie mir einen ängstlichen Blick zu. »Der Nervus ulnaris war völlig durchschnitten«, sagte sie.
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»Eine reine Schnittwunde, wir entschlossen uns, sie gleich zu nähen...« Ja, das begreife ich, aber warum operiert Zelený, der Jüngste des Teams? Ich weiß zwar, daß er oft mit Růžička arbeitet und daß ihn die peripheren Nerven interessieren, aber... Wo sie mich doch von Zuhause weggeholt haben! »Wir haben ohne Sie angefangen«, rechtfertigte sich Frau Hladká weiter, als ahnte sie, woran ich dachte. »Viel schlimmer steht es mit der Frau, dort werden wir Sie mehr brauchen.« Zelený steht über das Mikroskop gebeugt, und Hladká und Kroupa assistieren ihm. Ich sehe den entblößten Ellennerv am Unterarm. Eine Operation im blutfreien Feld, der Arm ist mit der Manschette des Tonometers abgeklemmt. Beide Nervenstümpfe sind kaum merklich voneinander entfernt, sie haben scharfe Ränder, es war offenbar ein sauberer Schnitt. Zelený verbindet die einzelnen Nervenfasern mit mikroskopischen Stichen. Den hauchdünnen Faden kann ich gar nicht erkennen, ich sehe nur die vorsichtigen Bewegungen seiner Hand. Aus der bogenförmigen Geste kann ich höchstens erraten, daß er gerade jetzt einen Knoten knüpft oder den Stich hinter die Schutzhaut der Nervenfaser führt. Der Patient ist zeitweise unruhig. Meine Ärzte haben nur eine örtliche Betäubung vorgenommen, und diese reicht fast nie aus, Kroupa hat die Spritze in der Hand und ergänzt mit der Subkutannadel systematisch die Anästhesie. Er schwitzt, als käme er gerade aus der Sauna. »Warum habt ihr keine Vollnarkose gegeben?« »Weil er betrunken war«, erklärt mir Frau Hladká halblaut. »Wir hatten Angst. Schließlich gab es schon einige Fälle von schwerer Konfusion, wenn die Narkose mit Alkohol kombiniert war...« Sie haben recht. Der Patient bewegt sich zwar dann und wann heftiger, aber er jammert nicht. Er schläft. Zelený arbeitet, als wäre ich nicht da. Er läßt sich durch meine Anwesenheit nicht aus der Ruhe bringen, und das ist
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sympathisch. Er weiß genau, daß die mikroskopische Technik hohe Anforderungen stellt. Eine kleine Unaufmerksamkeit genügt, eine Faser rutscht weg, und man muß von vorne anfangen. Er nähte achtsam die Nervenhülle zusammen. Endlich konnte er eine kleine Pause machen. Er hob die Augen zu mir auf. Sie waren müde und gerötet, strahlten jedoch Freude und Sicherheit aus. Er wollte sich von dem unbequemen Hocker erheben, um mir den Platz frei zu machen. »Nein, nein«, wehrte ich ab. »Machen Sie es nur allein zu Ende.« Ich beschaute mir das Operationsfeld. Was er geleistet hatte, war perfekt. Wie hatte er das gelernt? Als ich einmal mit ihm darüber sprach, woran er in Zukunft arbeiten möchte, nannte er die mikroskopische Technik. Ich maß dem keine sonderliche Bedeutung bei. Jeder junge Doktor bemüht sich, an diese Arbeit heranzukommen, und er war der jüngste von allen. Offenbar hatte er nicht nur geredet, sondern gehandelt. Er hatte gelernt, was heute weder die Hladká oder gar Kroupa können. Dem Mann auf dem Tisch wird er die Hand retten. Möglicherweise behält er überhaupt keine Beeinträchtigung der Beweglichkeit zurück, falls ihm eine gute Rehabilitation gesichert wird. »Ganz ausgezeichnet«, lobte ich Zelený. Er blinzelte verlegen, sagte nichts. Meine Ärzte werden mit Lob nicht verwöhnt. Dann beugte er sich wieder über den Patienten. Kroupa lockerte für einen Augenblick die Manschette des Tonometers, damit der Nerv durchblutet würde. Zelený koagulierte mit der Mikropinzette die winzigen Gefäße, die zu bluten begannen. Er bereitete die Nadel für die äußere Hülle des ganzen Bündels vor. Begann geschickt die Stiche zu setzen, die man jetzt schon deutlich mit bloßem Auge sehen konnte. Der Eingriff näherte sich seinem Ende. Es ist ein großes Glück, wenn man einen Nerv sofort nähen kann. Seine hauchdünnen Fasern verbinden sich wieder wie die Wurzel-
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schößlinge einer unausrottbaren Pflanze. Wieder laufen durch sie die Erregungsimpulse, die die Hand mit dem zauberhaften Zusammenspiel von Bewegungen beleben. Und ich wurde mir bewußt: Gerade dieses sich ständig wiederholende Wunder hält uns alle bei dieser vertrackten Arbeit, bei dieser endlosen Schinderei, die oft auch Niederlagen mit sich bringt, schwerer als der schlimmste Katzenjammer. Frau Hladká entschuldigte sich abermals bei mir. Ich beruhigte sie. Als Leiterin des Operationsteams hatte sie richtig entschieden. Wahrheitsgemäß mußte ich zugeben, daß ich diese Operation nicht hätte besser ausführen können. Ich sah erstaunlicherweise bei der Hladká keinen Schatten von Eifersucht. Sie nahm es als selbstverständlich hin, daß Zelený mehr konnte als sie. Dabei gibt es ältere Ärzte, die sich an neue Operationsmethoden heranwagen, als stünden sie erst am Beginn ihrer Laufbahn. Kommt es daher, daß sie eine Frau ist, oder hatte ich sie entmutigt, weil ich sie nur ungern an schwerere Eingriffe heranließ? Wir ruhten uns eine Weile aus. Warteten auf die verletzte Frau dieses Unglücksmenschen, den wir schon operiert hatten. Aus dem Röntgenraum rief man an, die Frau habe offenbar einen Erguß in beiden Gehirnhemisphären, man werde die Bohrung zweimal machen müssen, außerdem einen Schädelbasisbruch, und das Gesicht sei schwer gequetscht. Der Gesamtzustand sei sehr schlecht, künstliche Atmung werde notwendig sein. Wir nahmen die Masken ab und öffneten weit das Fenster, hinter dem der feuchte, dunkle Vorhang der Nacht hing. Und wir waren wie Schauspieler im Rampenlicht, im blendenden Weiß der Kittel, verschlafen blinzelnd. Don Quichottes, die ihren Kampf immer wieder von neuem beginnen. Frau Hladká legte auch die Kappe ab. Sie trat an den Spiegel, um sich die verschwitzte und zerdrückte Frisur zu richten, aber als sie sich sah, ließ sie es sein und kehrte mißmutig in den Sessel zurück. Kroupa war ausgedörrt wie ein Stockfisch. Er konnte sich
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nicht zurückhalten und holte sich aus dem Kühlschrank ein Bier. Er bot auch mir eins an, aber ich hatte keinen Durst. Er machte die Flasche auf und sog sich an ihr fest wie ein Säugling. Vor Wohlbehagen schloß er die Augen, daß Frau Hladká laut lachen mußte. »Wie an der Mutterbrust«, sagte sie. »Deine Frau sollte dich so sehen!« Zelený und die Operationsschwester brachten Kaffee. Für mich in einer großen Henkeltasse, die ich von meiner Mutter geerbt habe. »Das Fassungsvermögen von vier Türkischen«, wie Jitka zu sagen pflegt. Sie hat sie mir hergebracht, als ich dauernd gegen die winzigen Krankenhaustassen mit Goldrand murrte. Die Schwester ist ein hübsches rothaariges Mädchen mit junonischer Figur. Zelený gefällt ihr offensichtlich. Sie wirft ihm liebevolle Blicke zu und schmeichelt ihm. Kann auch sein, daß er ihr nur wegen der heutigen selbständigen Operation imponiert. Aber gibt es da einen Unterschied? Eine stärkere Beziehung wird ja oft gerade aus Bewunderung geboren. Und Zelený hat sich heute wirklich großartig bewährt. »Die Sutur haben Sie gut gemacht«, betonte ich noch einmal und schaute dabei die Schwester an, die erfreut im Sessel hin und her rutschte, als gelte das Lob ihr. »Ich glaube, das Gebiet der peripheren Nerven wird Ihnen liegen.« »Mir macht es Spaß«, erwiderte Zelený bescheiden über seiner Tasse Kaffee. Ich könnte ihn fast beneiden. Ein junger, hübscher Mann am Beginn einer Karriere. Soviel ich weiß, ist er glücklich verheiratet, sie haben ein kleines Kind. Er hat genug Ehrgeiz, um etwas zu erreichen, aber wiederum nicht so viel, um sich die freundschaftlichen Beziehungen am Arbeitsplatz dadurch zu vergällen. »Zelený, mein Grünling, schenk mir noch ein bißchen Kaffee ein«, bat ihn Jiřina Hladká, aber sogleich korrigierte sie sich. »Eigentlich sollte ich endlich aufhören, dich Grünling zu nennen, wo du heute so tüchtig warst. Und ich hatte schon Angst, daß uns der Professor beide aus dem Saal
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werfen wird.« »Frau Assistentin, wollen Sie ein Stück Zucker oder zwei?« versuchte Zelený darüber hinwegzureden. Der protektorenhafte Ton der Hladká gefiel ihm wohl nicht sehr, aber sie hatte beschlossen, nicht aufzuhören. »Wissen Sie, Herr Professor, wir haben absichtlich ohne Sie angefangen«, begann sie in jenem biederen Ton, mit dem sie unter unseren Ärzten solchen Erfolg hat. »Hätte ich Sie vorher gefragt, ob Jirka Zelený das nähen darf, dann hätten Sie es mir ausgeredet und ihn nicht herangelassen. Hab ich nicht recht?« »Kann schon sein...« Ich lachte, und sie trumpfte auf. »Siehst du, du feige Memme«, fiel sie über Zelený her. »Du dauernd nur: ›Erst wenn der Chef nicht kommt!‹ und: ›Ich müßte ihn um Erlaubnis fragen!‹ Er sagte sogar: ›Ich möchte hier gern noch paar Jahre arbeiten, will ihn nicht verärgern.‹« Zelený war rot wie eine Tomate. Verlegen stellte er die Tasse auf den Tisch. Vor einer Weile, beim Nähen, war er geschickt wie ein Jongleur, und jetzt traf er nicht die Untertasse. Er warf aus Ungeschick sogar die Tasse um. Sprang auf, weil ihm der Kaffee auf den Kittel spritzte. »Hört schon auf, Kinder«, beendete ich das kleine Scharmützel. »Wir haben noch was zu tun.« Die verletzte Frau liegt inzwischen im Untersuchungsraum neben dem kleinen Saal. An dem einen Ende der Wagen mit dem betrunkenen Fahrer des Škoda, am anderen Ende seine Frau. Der Mann hat Analgetika und Hypnotika bekommen, aber er schläft nicht. Er brummelt etwas vor sich hin. Jetzt schreit er sogar ein Schimpfwort. Der Alkohol hat sich bei weitem noch nicht aus ihm verflüchtigt. Den Alkoholspiegel im Blut werden wir erst erfahren. Proben sind gleich bei der Einlieferung abgenommen worden. Vorläufig weiß er noch nicht, was er angerichtet hat. Die Frau ist eingehend untersucht worden, von Augenärzten, Neurologen und sogar einem Stomatologen, weil auch der
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Oberkiefer gebrochen ist. In dem deformierten Gesicht sind die Lider stark angeschwollen, so daß wir nur schwer erkennen können, ob die Pupillen auf Licht reagieren. Wir sehen die Pendelbewegung der Augäpfel, was bedeutet, daß vielleicht auch der Hirnstamm verletzt ist. Das ist schlimm, in einem so schweren Zustand kann jeder Eingriff lebensgefährlich sein. Wir schauen uns die Aufnahmen an. Ich glaube, auf der Seite des größeren Ergusses die undeutliche Linie eines Bruchs zu sehen, den der Röntgenologe nicht beschrieben hat. Es scheint sogar ein Knochen eingeklemmt zu sein. Die anderen geben mir recht. Kroupa kann gut Röntgenbilder lesen, er betreibt schon seit Jahren praktische Chirurgie. Er erkennt das gespaltene Ende des Bruchs und schätzt ab, an welcher Stelle er in die Tiefe reicht. So wird es wohl sein. Der Befund weist auf eine Reizung der Gehirnrinde in diesem Bereich hin, die Frau hat einseitige Beinkrämpfe. Wir schauen einander an. »Also waschen wir uns«, sage ich. Wir scheuern die Hände mit der Bürste« und unterhalten uns mit lauter Stimme an den Waschbecken. Mir ist immer noch nicht klar, warum der Zustand der Verunglückten so schwer ist. »Ein subdurales Hämatom würde nicht dieses fürchterliche Bild bewirken...« »Auch wenn es beiderseitig ist?« erinnert mich Frau Hladká. »Auch wenn es beiderseitig ist. Was spricht eigentlich dagegen, daß es ein epidurales Hämatom ist?« äußere ich einen Gedanken, der sich mir aufdrängt. Sie schauen mich an. Schließlich bringen wir schon den Studenten bei, was für ein Unterschied das ist. Eine subdurale Blutung ist venös, langsamer. Das Blut staut sich unter der harten Hirnhaut und drückt nur allmählich aufs Gehirn.. Die epidurale Blutung hingegen kommt aus einer Schlagader. Sie geht zwar rascher vor sich, aber weil sie sich zwischen Schädelinnenfläche und harte Haut ergießt, hat sie
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mehr Platz. Der Kranke ist nicht gleich bewußtlos. »Sie war von Anfang an bewußtlos«, erklärt Kroupa gleichsam als Echo ihrer stillen Überlegungen. Ich will noch nicht nachgeben. »Möglicherweise gibt es eine andere Ursache, die den augenblicklichen Bewußtseinsverlust bewirkt hat. Zum Beispiel eine Gehirnfistel aus den durchgerissenen Hüllen, sie hat doch eine Fraktur der Schädelbasis. Beides zusammen könnte den schweren Zustand erklären.« Alle schwiegen. Sie wollen meine Version nicht akzeptieren. »Frau Assistentin«, wende ich mich an Doktor Hladká, »ist ihr Hirnflüssigkeit aus dem Ohr oder der Nase geflossen?« »Aus dem Ohr ist ihr Blut geflossen, das habe ich bemerkt, aber ob Hirnflüssigkeit... Das weiß ich wirklich nicht.« Zelený ist mit Waschen fertig und geht nach nebenan, um sich die Patientin anzuschauen. Frau Hladká ist ein bißchen verbiestert, sie spürt recht wohl, daß sie diesen wichtigen Umstand hätte selber feststellen müssen. Zelený kommt lange nicht wieder. Endlich erscheint er und wedelt vor unseren Augen mit einem Lackmuspapier. »Es ist tatsächlich Liquor«, meldet er und zeigt uns die typische Verfärbung. »Ich habe nur ein paar Tropfen Flüssigkeit aufgefangen, aber es steht außer Zweifel.« »Der Herr Professor hat das Zeug zum Detektiv«, bemüht sich Jiřina Hladká, ihr Versäumnis auszubügeln. Nein, das nehme ich ihr nicht ab. »Keinesfalls, Frau Assistentin«, sage ich nicht ganz ohne Schadenfreude, »dazu braucht man kein Detektiv zu sein, das ist eine normale diagnostische Überlegung.« Es ärgert mich eben doch, daß sie unpräzise war und bei der Untersuchung nicht darauf geachtet hat. »Der eingedrückte Knochensplitter kann ganz gut eine Arterienwand aufgerissen haben«, überlege ich weiter laut. »Der Gehirndruck vergrößert sich rasch, weil er nicht nur durch den Bluterguß, sondern auch durch den austretenden Liquor
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bewirkt wird. Der Neurologe hat zwar an diese Variante nicht gedacht, aber meiner Ansicht nach muß man mit ihr rechnen.« Sie sagten nichts mehr. Offenbar denken sie: Wir haben den Chef aus dem Bett geholt, so müssen wir es uns jetzt gefallen lassen, von ihm ein bißchen belehrt zu werden. Am Ende wird's ja doch ein gewöhnliches subdurales Hämatom sein, und er muß einen Rückzieher machen. Es war kein subdurales Hämatom, recht behielt ich. Der scharfe abgespaltene Knochensplitter hatte wirklich eine Blutung aus einer Arterie verursacht. Sie war schon so umfangreich, daß sie auf den Hirnstamm drückte. Obendrein war auch der Sinus venosus verletzt. Solange das Knochenstückchen in der Wunde steckte, blutete der Sinus nicht, aber sobald wir es mit der Pinzette entfernten, ergoß sich das Blut in vollem Strom. Das war eine schwierige Situation. Eine Bohrung hatte nicht genügt, wir hatten eine breitere Trepanation des Stirnbeins durchführen müssen. Wir saugten den Erguß ab und klebten zugleich die Wand des Sinus zu. Der Patientin versagte dabei der Kreislauf, wir glaubten schon, sie würde auf dem Tisch verbluten. In die Ader tropfte ihr ständig die Transfusion. Kein Gedanke daran, daß wir den Eingriff auf der anderen Seite gleich anschließend vornehmen konnten. Wenn das Wunder einträte und sie überlebte, dann könnte der verbliebene Herd nach einigen Tagen abgesaugt werden. Rasch beendeten wir die Operation. Wir schwiegen.« Offenbar bedrückte uns alle der gleiche Gedanke: Ist es überhaupt wünschenswert, daß diese Patientin überlebt? Es ist wohl nicht nur zu Blutergüssen gekommen, sondern an mehreren Stellen auch zu Quetschungen des Gehirns. Beweglichkeit und Psyche werden sich wohl kaum restlos erneuern. Wir geben dem Leben eine menschliche Ruine zurück, die nicht für sich selber sorgen kann. Wie oft hatten wir uns bei furchtbaren Unfällen solche Gedanken gemacht, bei diesem unvermeidlichen Manko der
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Zivilisation, das uns täglich auf allen. Autostraßen beschert wird. Rein akademische Gedanken, denn wir kämpften zugleich um jede Spur von Leben dieser verblutenden Menschen mit gebrochenen Knochen und Rippen, dieser Todeskandidaten, von denen so mancher es nicht einmal mehr erlebte, daß wir ihn vom Operationstisch ins Bett legten. Ja, wir sind dazu da, das Leben zu hüten und zu verteidigen. Selbst dann, wenn bereits der klinische Tod eingetreten ist und nur der Bildschirm des Elektroenzephalographien Reste der Aktion der Hirnrinde anzeigt, erlauben wir nicht, den Patienten von der Wiederbelebungsapparatur abzuklemmen. Das ist nun einmal unsere Aufgabe. Schließlich brachte man die Patientin auf die Intensivstation. Hladká und Kroupa gingen ins Arztzimmer. Die Schwester brühte noch einen Kaffee für mich auf. Ich diktierte Zelený das Operationsprotokoll. Wir waren buchstäblich wie zerschlagen. Zelený vertippte sich häufig, und ich mußte zweimal denselben Abschnitt der Operation wiederholen. Es war schon weit nach Mitternacht. Der Mann mit der operierten Hand lag noch immer im Untersuchungsraum neben dem Saal. Auf der Station war kein Platz für ihn, am Morgen mußte jemand entlassen werden. Ich ließ mir noch einmal den Hergang des Unfalls schildern. Das Ehepaar war mit dem Kind vom Dorf an den Stadtrand von Prag gefahren. Sie hatten Verwandte besucht. Es zeigte sich, daß der Krankenfahrer, der sie gebracht hatte, das Ehepaar sogar gut kannte. Er behauptete, der Mann sei ein zuverlässiger Fahrer, er habe nur zuviel getrunken. Hatte sich darauf verlassen, auf Nebenstraßen ohne Kontrolle nach Prag durchzukommen. Die Gattin hielt ebenfalls nicht die Vorschriften ein. Sie saß mit dem Kind auf dem Vordersitz, wollte wohl ihrem Mann helfen, sich zu orientieren. Sie besaß selbst einen Führerschein, hatte aber leider auch getrunken. Das Auto kam ins Rutschen. Es prallte mit voller Wucht gegen einen Telegraphenmast und wurde zusammenge-
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drückt wie eine Streichholzschachtel. Der Stoß kam von vorn und rechts, die Mutter mit dem Kind flog gegen den Vorderrahmen. Ihn erwischte nur die scharfe Kante der Karosserie, in der Umgebung der Wunde waren Reste von gelbem Lack in die Haut eingedrungen. Jedes Detail dieses verhängnisvollen Unfalls wird bestimmt eingehend untersucht werden, aber wozu? Das Kind kann niemand mehr zum Leben erwecken. Sein Vater wird verurteilt. Er soll Leiter einer Textilverkaufsstelle sein. Er trug ein Papier bei sich, wonach er eine Prämie für vorbildliche Arbeit erhalten hatte. Ich stand gemeinsam mit Doktor Zelený über ihm. Er hatte offensichtlich fest geschlafen. Als wir das Licht anknipsten, wachte er auf und bemühte sich, sich zum Sitzen aufzurichten. Das ging nicht, er war angegurtet. Die operierte Hand hatte man an einer Schiene befestigt und angehoben. Er war verwirrt, Analgetika und Hypnotika vertragen sich nicht mit Alkohol. »Warum hältst du mich fest... Vlasta... hörst du? Laß meine Hand los...«, brabbelte er und kniff in dem grellen Licht die Augen zu. Es gelang ihm, sich so weit aufzurichten, daß er halb saß. Nach und nach kam er zu sich, sah uns in der Tür stehen. »Vlasta, komm her... wo bist du?« In das betrunkene Lallen mischte sich Angst. »Wer ist das? Bring mir ein Bier! Mir ist ganz schwummrig...« Er zuckte heftig mit der geschienten Hand und stöhnte vor Schmerz. Die Schwester sprang zu ihm. »Bleiben Sie ruhig liegen, die Hand muß oben bleiben.« Er musterte sie, und in seinen Augen blitzten lustige Fünkchen auf. »Wer ist denn da zu uns gekommen?« schnurrte er wie ein verliebter Kater. »Ein hübsches Kätzchen...« Er bemühte sich, sie mit der gesunden Hand zu pakken. »Komm, leg dich zu mir! Nein? Ein böses Kätzchen. Warum habt ihr mich angebunden?«
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Der Schwester war es peinlich, sie bemühte sich, ihn wieder hinzulegen und die Decke glattzustreichen. Er kicherte betrunken und schob die Decke zurück wie ein mutwilliges Kind. »Ich will nicht schlafen, nein, nein, ich will nicht.. », trotzte er und schnappte wieder nach ihrer Hand. »Wenn du mich angebunden hast, mußt du auch bei mir bleiben...« Ich trat an das Bett heran. »Legen Sie sich hin. Sie haben eine Operation hinter sich und müssen ruhig liegen.« Das erschütterte ihn ein bißchen. Er legte sich wirklich wieder auf den Rücken. Allmählich begann er das Krankenhausmilieu wahrzunehmen, die weiße Anstaltswäsche. Er zitterte. »Wo bin ich? Warum habt ihr mich hergebracht? Wo ist Vlasta? Vlasta...«, begann er laut zu jammern. »Sie hatten einen Unfall«, sagte ich kurz. »Wir mußten Ihnen die Hand nähen.« Er verstummte. Ungläubig schaute er uns an. Er erinnerte sich an nichts. Hatte offenbar auch eine leichte Gehirnerschütterung, der Unfall war seinem Gedächtnis völlig entschwunden. Aber in dem kurzen Augenblick, da er sich aufmerksam umsah, begann sich der dümmlich-betrunkene Ausdruck zu verlieren. Fäden des Begreifens hängten sich immer fester an die weißen Wände, an das Instrumentenschränkchen, an unsere weißen Kittel. Etwas in ihm schlug Alarm, und es war so stark, daß es die Wirkung des Restalkohols, der Analgetika und Schlaftabletten übertönte. Mit einem Male hatten wir einen nüchternen, entsetzten Menschen vor uns, der voller Angst stammelte: »Was ist mit meiner Frau? Ist ihr was passiert? Und das Kind, wir haben ein Kind...« Zelený verfolgte die Verwandlung mit zusammengepreßten Lippen. Jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten. »Ihre Frau ist schwer verletzt, und das Kind ist tot. Sie waren völlig betrunken, das ist eine große Schweinerei!«
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Das sagte er schroff, eigentlich schrie er es heraus. Von ihm hatte ich eine solche Attacke am wenigsten erwartet, ich konnte ihn nicht zurückhalten. Als hätte er vor sich nicht einen frisch operierten, von Tabletten und Alkohol geschwächten Menschen. »Doktor, so können wir doch nicht...« Ich packte Zelený am Arm, weil ich nicht wünschte, daß er in seiner Anklage fortfuhr. Hoffentlich war der Kranke noch nicht so weit in Ordnung, um alles zu verstehen. Im ersten Augenblick schien es so. Er zitterte nicht mehr. Sein Gesicht erstarrte, auf ihm lag keine Spur von Erregung oder Gefühl, keinerlei Interesse für die Dinge rings um ihn. Es sah aus, als schliefe er mit offenen Augen, als hätte er Zelenýs Worte überhört oder überhaupt nicht vernommen, als hätte die Kombination von Medikamenten und Alkohol eine unverhoffte Gleichgültigkeit ausgelöst, vielleicht sogar eine Denkstockung. Doch dann zuckte über das erstarrte Gesicht, das für ein paar Sekunden einer Maske geähnelt hatte, ein Blitz des Entsetzens. »Was sagen Sie da? Das ist nicht wahr!« Zelený sprach nicht mehr, schaute ihn nur weiter mit flammenden, zornerfüllten Augen an. Der Mann klammerte sich mit der gesunden Hand an den Bettrand, bemühte sich abermals, sich zum Sitzen aufzurichten. »Das ist nicht wahr, sagen Sie, daß es nicht wahr ist!« Diese Worte stammelte er schon mit vor Erregung zitternden Lippen, die aufgerissenen Augen bettelten um Erbarmen. »Beruhigen Sie sich. Ihre Frau wurde ebenfalls operiert. Wir tun alles, damit sie durchkommt...«, sagte ich besänftigend. Er sah mir auf die Lippen, als läse er die Worte von ihnen ab. Als wäre er taub und verstände nichts. Noch war der grausamste Tropfen nicht in sein Unterbewußtsein gefallen. Er hielt den Atem an, wagte eine Weile nicht, etwas zu fragen. Dann bat er mit heiserer Stimme: »Sagen Sie es mir...
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Unsere Olinka... Ist ihr was passiert?« Zelený wandte sich ab. Ich schlug die Augen nieder. Bestätigte ihm die Schreckensnachricht. Er stöhnte auf, warf sich im Bett hin und her. Stieß Laute aus, die ein Gemisch von Schluchzen und unzurechnungsfähigem Lachen waren. Ein hysterischer Anfall. Die Schwester beugte sich ganz blaß über ihn. Niemals hatte sie etwas Derartiges gesehen, sie war immer nur im Operationssaal gewesen. Ich sagte ihr, sie solle eine Ampulle Faustan aufziehen. Wir mußten den sich hin und her werfenden Mann zu zweit festhalten, bis die Injektion wirkte, wir fürchteten um den frisch genähten Nerv. Es dauerte lange, bis er sich völlig beruhigt hatte. Endlich konnten wir ihn der Schwester anvertrauen. Ich war verärgert. Dieser letzte Vorfall hätte nicht passieren müssen, Zelený hatte einfach die Nerven verloren. Aber warum? Offenbar war es heute schon zu viel für ihn gewesen. Er konnte sich nicht beherrschen, hatte sich vom Zorn hinreißen lassen. Es war roh von ihm. Dieser Ton, und obendrein in einem unpassenden Augenblick! Er sah es wohl selber ein. Schlich mir ins Arbeitszimmer nach, und weil ich ihn nicht aufforderte einzutreten, blieb er unschlüssig auf der Schwelle stehen. »Ich möchte mich entschuldigen, Herr Professor, ich hätte es ihm nicht jetzt in der Nacht sagen sollen.« Ohne ein Wort der Erwiderung zog ich den Kittel aus. Ich überlegte, ob ich noch einmal zu seinem befremdlichen Ausbruch zurückkehren und ihm Vorwürfe machen sollte. Indessen begann er selber mit leiser Stimme: »Unser Kleiner ist schon zwei Jahre und kann noch nicht stehen. Der Kollege aus der Pädiatrie hat mir vor einer Woche gesagt, es sei eine frühe Kinderlähmung. Meine Frau weiß es noch nicht.« Ich drehte mich zu ihm herum. Er stand nach wie vor in der Tür, leicht gebeugt und sehr blaß, der Blick noch flammend, aber nicht mehr im Zorn, eher in trauriger Zärtlichkeit. Mit seinen zerzausten schwarzen Haaren sah er aus wie ein jun-
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ger Bursche nach einer durchwachten Liebesnacht. »Das tut mir sehr leid«, sagte ich. »Aber vielleicht irrt sich der Pädiater. Eines unserer Kinder hat auch so spät angefangen zu gehen...« Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich hab es schon seit einigen Monaten geahnt, habe mich nur gescheut, zum Facharzt zu gehen. Ich wollte die Wahrheit nicht hören. Leider ist der Befund völlig eindeutig. Ein Kind haben wir im sechsten Monat verloren, und jetzt das...« Wir setzten uns. Er fragte, ob er rauchen dürfe. Holte eine Zigarette hervor. Nur gut, daß ich ihm nicht noch Vorwürfe gemacht habe. Wie gut ich ihn jetzt verstehe. In der Ambulanz ein schönes, gesundes Kind, das sinnlos ums Leben kam, und zu Hause ein kleiner Junge, zu einer komplizierten Rehabilitation mit Ungewissem Erfolg verurteilt. Ich konnte ihm überhaupt nichts zum Trost sagen. Kehrte wieder zur Operation des Nervs zurück. Lobte ihn, wie er sie durchgeführt hatte. Ich hielt ihm die weiteren Perspektiven vor Augen - eine Spezialschulung, Studienaufenthalt im Ausland. Er hörte mir höflich zu, lächelte sogar, aber auf dem Grunde dieses Lächelns blieb ein bitterer Stachel. Zelený hat sich verändert, sagte ich mir. Das ist nicht mehr der heitere junge Mann ohne Probleme, wie er zu uns gekommen ist. Das Leben hat ihm hart mitgespielt. Nur gut, daß er diese Arbeit hat. Er erhob sich. Entschuldigte sich, mich mit seinen Problemen belastet zu haben. Er hätte daran denken müssen, daß mich morgen eine schwere Operation erwartet. »Morgen?« scherzte ich mit einem Blick auf die Uhr. »Eigentlich schon heute«, korrigierte er sich. Warm drückte er mir die Hand. Ich fühlte, daß er mich gern hat. Ich überlegte, ob ich nicht bis zum Morgen in der Klinik bleiben sollte. Ein bißchen Schlaf brauchte ich noch. Die Aufnahmen könnte jemand bei mir zu Hause abholen, das wäre kein Problem. Jitka ist nicht da, und Ondra schläft
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schon längst. Nein, ich entschloß mich lieber doch anders. Noch einmal möchte ich mir in aller Ruhe die Aufnahmen anschauen, am Morgen wird keine Zeit mehr dazu sein. Ich hatte ein gutes Gefühl. Mich umgeben Menschen, mit denen ich mich verstehe, sie vertrauen mir, wir leben wie Freunde zusammen. Langsam fuhr ich nach Hause, und mir fielen - ich weiß selber nicht, warum - verschiedene Geschichten über Ärzte ein, die ich gelesen oder im Kino gesehen hatte. Was für Gefühlsverwirrungen sind das häufig, was für moralische Probleme! Der eine Arzt trieft vor Edelmut, und der andere ist ein Schurke, der eine ist so ehrgeizig, daß er an nichts anderes denkt, als seine Kollegen aus dem Sattel zu werfen, und der andere benimmt sich so vornehm, daß es fast weh tut. Auch wenn es ihnen zufällig um die Sache geht, wird daraus am Ende ein harter Kampf ums Prestige. Zum Glück geht es in Wirklichkeit überhaupt nicht so zu! Ich denke wieder an Jiřina Hladká, die für jeden ein guter Kamerad ist. Jetzt hat sie sich in die Rolle einer Großmutter verguckt, die ein Enkelchen erwartet. Ich sehe schon, wie gern sie in die Klinik zurückkehren und sagen wird: Kinder, hier ist die reinste Oase, und wie sie weiterhin zuverlässig neben ihren Kollegen weiterarbeiten wird, zu denen sie sich hingezogen fühlt. Ich stelle mir Zelený vor, wie schwer er es neben Růžička hatte, als er lernte, mit mikrochirurgischen Instrumenten umzugehen, weil sich Růžička wirklich überheblich verhalten kann und ihm sicher nichts umsonst gegeben hat. Aber war das für Zelený so schlecht? Wenn man es genau betrachtet, ist der Dozent Růžička unter den übrigen Ärzten noch recht erträglich. Wenn er zu sehr angeben sollte, dann würde ihn das Kollektiv schon zurechtstauchen. Ein chirurgisches Team muß einfach zusammenhalten, sonst kann es keine gute Arbeit verrichten. Das könnte sich mein kleiner Fencl in sein Notizbuch schreiben. Es ist wie die Besatzung eines Schiffes oder Flugzeugs. Wenn wir etwas in Angriff nehmen, steht zuviel auf dem Spiel. Da kann sich
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keiner erlauben, kleinlich zu sein. Der Motor brummt leise in diese Betrachtungen hinein, und mir scheint auf einmal, daß Jitka aus einem Winkel lacht. Warum, meinst du, müssen gerade die Chirurgen einig sein? höre ich sie sagen. An vielen Stellen müssen sich die Leute einig sein. Solche kann ich dir zu Hunderten aufzählen! Überall geschieht etwas Wichtiges. Wenn in einem Betrieb eine Havarie auftritt, rufen sie die Leute von zu Hause herbei, und die kommen auch. Das ist die gleiche Situation wie bei uns. Ja und nein, polemisiere ich mit ihr. An anderen Orten wird es einem als großes Verdienst angerechnet, wenn man eine Nacht dranhängt, aber ein Arzt muß einfach gehen. Jeder würde ihn verurteilen, wenn er nicht sogleich dienstbereit wäre. Ist es nicht so? Ich erinnere mich, was einmal Vyskočil auf seiner Datsche widerfuhr. Die Nachbarn kamen zu ihm gelaufen: Ihre Tochter müsse mit dem Auto ins Krankenhaus zum Röntgen gebracht werden. Der Ehemann, mit dem sie in Scheidung liege, sei dagewesen und habe sie tätlich angegriffen. Sie habe blaue Flecke im Gesicht und sicherlich die Hand gebrochen oder ausgerenkt. Vyskočil sagte, er habe gerade einen Grog getrunken und könne nicht mit dem Auto fahren, aber er werde sich die junge Frau anschauen. Sie hatte überhaupt nichts im Gesicht. Die Schulter tat ihr vielleicht ein bißchen weh, aber das Gelenk war völlig in Ordnung, und von einem Bruch konnte keine Rede sein. Sie waren jedoch mit seiner Untersuchung nicht zufrieden. Sie brauchten eine Bestätigung, daß der Schwiegersohn der Tochter Schaden zugefügt habe. Er erklärte ihnen, niemand könne ihnen eine solche Bestätigung geben, weil nichts passiert sei, und eine Röntgenaufnahme sei nicht nötig. Wenn sie sich übrigens fürs Krankenhaus entschlossen hätten, könnten sie ruhig hingehen, es seien kaum zwei Kilometer. Nach einer Stunde kam der Krankenwagen, sie hatten ihn doch gerufen. Nach einiger Zeit suchte ein Redakteur unseren Vyskočil auf. Er wollte feststellen, was an einem Brief
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Wahres sei, den man zur Veröffentlichung eingesandt hatte. Dort stand, daß Vyskočil einer verletzten Frau, die sich an ihn gewandt habe, als er auf seinem Wochenendgrundstück weilte, ärztliche Hilfeleistung verweigert habe. Auch hieß es dort, er habe die Eltern der Verletzten grob abgewiesen, als sie ihn baten, die Tochter ins Krankenhaus zu bringen. Er fröne dem Alkohol, während andere Wochenendler fleißig in ihren, Gärten arbeiteten. Der Schluß des Briefes war proklamativ: Wir brauchen keine Ärzte, die sich vor der Arbeit scheuen und, wenn sie ihr Beet bearbeiten, Handschuhe anziehen, um sich beileibe nicht zu beschmutzen. Der Redakteur, der Vyskočil aufsuchte, hatte zum Glück für alles Verständnis, auch dafür, daß ein Chirurg sich zur Gartenarbeit Handschuhe anzieht. Doch die Kränkung, die Vyskočil empfand, konnte auch er nicht vermindern. Ich bin überzeugt, daß ausnahmslos jeder Arzt alles tut, was in seiner Kraft steht. Nicht weil man das für selbstverständlich hält und ihn die Leute sonst verurteilen würden, sondern weil er selber das will. Wie viele Male mußten wir nachts einen Arzt in die Klinik holen! Einmal fuhr Krtek am späten Abend eine Stunde lang durch eine Siedlung und suchte einen Anästhesisten in seiner Wohnung. Wir sollten ein verletztes Kind operieren, und die junge Ärztin war sich nicht sicher genug. Ein andermal - da stand ich selber noch am Beginn meiner Laufbahn - holten wir eine Röntgenlaborantin, weil wir ihre Hilfe für eine komplizierte Arteriographie brauchten. Es war Sonntag, und sie kochte soeben das Mittagessen. Ihr Mann hätte uns am liebsten zum Teufel gejagt. Er rechnete uns alle Unannehmlichkeiten vor, die der Schwesternberuf seiner Frau mit sich brächte. Sie versuchte ihn zu beruhigen, und dabei zog sie sich rasch um, damit wir keine Zeit verloren. Die Ärmste war sich gar nicht bewußt, daß sie sich in unserer Gegenwart umzog. Wir sind, wenn es eilt, nicht so prüde. Der Ehemann hatte damit einen Vorwand, das Gesundheitswesen als solches zu attackieren. Er behauptete, dort
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gehe es schamlos zu. Er sehe es doch mit eigenen Augen: Zwei wildfremde Männer, und sie zieht sich vor ihnen fast nackt aus! Nein, das ist nur eine kleine, lächerliche Episode. Es gab viel schlimmere Situationen, in denen wir die Klinik nicht verlassen konnten. Einmal hatte Jitka gerade eine Lungenentzündung überstanden. Die zwei älteren Kinder lagen mit Masern und hohem Fieber im Bett. Sie konnte sie nur schwer pflegen, hielt sich selber kaum auf den Beinen. Wir hatten im Saal einige furchtbare Verletzungen nach einem Zugunglück. Ich war eigentlich im Urlaub - hatte mir ein paar Tage freigenommen, um den Haushalt in den Griff zu kriegen. Wie oft mußten wir vorzeitig aus dem Urlaub zurückkehren, oder ich folgte einem Telegramm, weil man mich brauchte. Niemals machten wir einem der jüngeren Kollegen zum Vorwurf, daß er uns nachts zu einem schwierigen Fall holte, und das geschah recht häufig. Deshalb sind unsere Beziehungen in der Klinik so fest. Ich breitete die Aufnahmen des kleinen Uzel in der Küche aus. Dort ist eine starke Lampe mit einem schrägen Schirm, sie dient mir gelegentlich zum Betrachten von Röntgenbildern. Dann stellte ich den Kaffee zum Wärmen auf den Gasherd. Ich empfand ein starkes Bedürfnis danach, obwohl sich in mir schon alles dagegen sträubte. In der Magengegend spürte ich ein dumpfes Grimmen, das Herz schlug mir zur Probe ein paar Extrasystolen. Ich schau mir nur noch rasch die Aufnahmen an, sagte ich mir, und bevor ich schlafen gehe, dusche ich, um mich nicht lange hin und her zu wälzen. Wenigstens drei, vier Stunden Schlaf, und ich bin wieder fit. Ich schaue und schaue, aber so schnell geht das nicht. Ich bin wohl doch schon sehr überdreht. Das Licht erscheint mir mit einem Male sonderbar blendend. Mit dem Bleistift in der Hand betrachte ich die Bilder. Hier ist das Kammersystem, sage ich mir, beunruhigt, weil ich statt der luftigen
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Umrisse auf der Aufnahme eine Art Schmetterling sehe, der vor meinen Augen flattert. Plötzlich habe ich das Gefühl, nicht fest zu sitzen, zu schweben, und dann fängt auch der Tisch an zu schwanken, als wäre er ein Boot. Zum Donnerwetter, was ist los mit mir, zwinge ich mich noch, nüchtern zu überlegen. So viel Kaffee habe ich doch heute nicht getrunken, daß ich davon Halluzinationen kriegen könnte! Aber ich habe einige Nächte hintereinander wenig geschlafen. Ja, sicher kommt es daher, man nennt so etwas Schlafdeprivation. Dabei kann man verschiedene Traumvorstellungen haben, Gefühle des Unwirklichen. Das beste wird sein, wenn ich alles stehen- und liegenlasse und mich gleich hinlege. Ich werde eben früher aufstehen, stelle mir den Wecker. So präzise kann ich noch denken, aber ich kann mich nicht mehr zwingen, aufzustehen und zu gehen. Wieder habe ich das Gefühl, daß mich etwas hochhebt. Diesmal ist es mir sogar angenehm, ich muß darüber lachen. Wenn Jitka hier wäre, würde sie mich verdächtigen, ein Glas über den Durst getrunken zu haben. Aber ich habe nichts getrunken, ohne sie würde es mir gar nicht schmecken. Ich falle in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf. Alles um mich wird immer unsteter, schwimmend. Und obwohl ich auf dem Stuhl sitze, fühle ich, daß ich zugleich irgendwohin entführt werde. Jetzt ist das nicht mehr unsere Wohnung. Ich befinde mich auf einem Fluß. Seine Ufer schwanken und weichen zurück. Und der Fluß, der mich bis jetzt angenehm wiegte, verwandelt sich in einen rasch dahinbrausenden Strom. Jetzt muß ich schon schwimmen, um nicht zu ertrinken. Die Wellen um mich werden immer größer, und ich kämpfe mit ihnen, obwohl mir meine sonderbar zweigleisigen Gedanken dauernd signalisieren, daß ich weiterhin auf dem Stuhl sitze, von dem ich mich nicht lösen kann. Mir wird schwarz vor den Augen. Ich versuche mir selber zu versichern, daß das nur ein Angsttraum ist, aus dem ich
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nicht erwachen kann. Und jetzt ist es ein sehr klarer Traum. Ich schwimme in dem dunklen, unruhigen Fluß. Gerate zwischen Klippen. Die vierte Kammer, die Klippe des Todes? Zu beiden Seiten ragen steile, glatte Felsen auf, kein Ufer, an dem ich Fuß fassen könnte. Ich schwimme durch die Klamm, die jetzt aussieht wie ein schmaler Tunnel, und ich sehe nirgends ihr Ende. Ich werde so lange schwimmen, bis ich die Kraft verliere. Ich höre sogar meinen eigenen beschleunigten Atem, ich verliere meine Kraft und kriege keine Luft. Plötzlich nähert sich mir ein Schatten. Es ist ein Floß oder eine Fähre, ich höre sogar das Plätschern von Rudern. Endlich naht Hilfe. Ich möchte rufen, bringe aber keinen Laut hervor. In der Klamm ist der Nebel noch dichter als abends in den Prager Straßen. Ich erkenne nur matt eine Gestalt auf dem sonderbaren Gefährt, das sich mir unerträglich langsam nähert. Diese Gestalt ist ganz unwirklich greisenhaft gebeugt, seitwärts geneigt. Sie legt sich in die unsichtbaren Ruder. Nein, das sind keine Ruder, das ist eine lange Stange, mit der dieser Alte die Fähre vorwärts stakt. Sie ist schon so nahe, daß ich sie mit der Hand erreiche. Mir gelingt es, mich ein Weilchen festzuhalten, aber der Mann muß wahnsinnig sein: Er stößt mich mit der langen Stange weg und herrscht mich mit heiserer Stimme an: »Junger Herr, bleiben Sie weg da...« Genauso hat mich immer der alte Bademeister im städtischen Freibad weggejagt, wenn ich mich als kleiner Gymnasiast an seinem Boot anklammerte. Aber der da ist ein anderer. Er hat lange weiße Haare und einen Bart, trägt eine gefältelte Toga und ist ganz durchsichtig, mehr einem Schatten ähnlich als einem Menschen. Charon, denke ich erschrocken. Sollte ich schon... Schlaganfall oder Infarkt? Was will, zum Teufel, dieser Fährmann vom Ufer des Flusses Lethe hier, der die Toten in das Land der ewigen Schatten übersetzt? Halt! Er will mich ja eigentlich gar nicht auf sein Fahrzeug
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nehmen, wie sehr ich mich auch bemühe hinaufzuklimmen. Er will mich also nicht übersetzen. Schlägt mich mit der Stange auf die Finger, und ich gehe unter, vergeblich tappe ich über die glitschigen Wände dieser furchtbaren Klamm, vergeblich bemühe ich mich, etwas Festes zu packen. Dann weiß ich nichts mehr. Mich weckten sonderbare Schläge und das Klirren von Glas. Das war Jitka, die in der Nacht heimkehrte und das Fenster aufriß. Es flog so heftig auf, daß eine Scheibe herausfiel. »Um Himmels willen, was ist passiert?« Ich hob den Kopf von der Tischplatte und schaute verständnislos zu, wie sie den Gashahn zudrehte und den Brenner abwischte, weil der Kaffee übergekocht war. Ich hatte furchtbares Kopfweh, mir war übel, aber es gelang mir, zu lächeln und hervorzustoßen: »Wie du siehst, ist mir das Gas ausgelöscht. Aber das kann kaum fünf Minuten her sein.« »Fünf Minuten? Da müßte der Kaffee noch warm sein. Was soll ich nur mit dir anstellen?« »Mach mir den Kaffee heiß, aber schalte lieber den elektrischen Kocher ein«, sagte ich und wankte ins Bad, um nicht vor ihr brechen zu müssen. Meine Gedanken verwirrten sich ein bißchen, weil Jitka da war, meinte ich, es sei schon der Abend des nächsten Tages, aber wohl doch nicht, denn da sähe es übler mit mir aus. Plötzlich fiel mir Ondra ein. Er war doch mit mir in der Wohnung. Warum hat er nichts gemerkt? Ob das Gas bis zu ihm gedrungen ist? Er ist weniger widerstandsfähig als ich, kann eingeschlafen sein und... Im Unterbewußtsein wollte ich Jitka davor beschützen, als ich auf unsicheren Beinen aus dem Bad in den Korridor und ins Wohnzimmer torkelte, wo der Sohn schlief. Dunkel war es dort, nichts rührte sich. Meine aufgereizten Sinne rebellierten, ich stellte mir das Schlimmste vor. Tappte nach dem Schalter, Ondra schlummerte fest wie ein Kleinkind. Das Licht weckte ihn, mit verschlafenen Augen guckte er mich
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an. »Mein Gott, Vati! Du siehst ja aus! Nur gut, daß Mama erst morgen kommt. Willst du dir einen Kaffee kochen?« Ich sank in den Sessel, und obwohl mir der Kopf wahnsinnig schmerzte, fing ich wie blöd zu lachen an. Ich hielt mir dabei die Schläfen, denn das Lachen stach wie hundert Nadeln. »Will ich nicht, Ondra, Mutti kocht mir schon einen.« »Mama ist zu Hause?« Das schrie er wie ein kleiner, ausgelassener Junge. Er rannte los, um sie in die Arme zu schließen. Erst jetzt erfuhr er von ihr, was passiert war. Dann stürzten sich beide auf mich. Als ich Krankenhaus und Sauerstoff ablehnte, machten sie wenigstens in der ganzen Wohnung Durchzug. Sie bestrahlten mich mit Höhensonne. Gossen so lange Kaffee in mich hinein, bis ich alle Tassen ausbrach, die ich heute geleert hatte. Machten mir kalte Umschläge, daß ich zitterte wie ein Rattler. Sie ließen sich nicht ins Bett jagen, und ich hätte so dringend Schlaf gebraucht! Aber was für ein Glück, daß Jitka vorzeitig zurückgekehrt war! Nein, es war weder ein Zufall noch eine wundersame Vorahnung. Sie wußte, daß ich Stöpsel auf dem Programm hatte, und dachte sich, sie sollte dabeisein. Sie hatte mir zwar vorher nichts versprochen, aber sie wußte, wie mir an dieser Operation lag und wie ich sie dabei brauchte. »Du wirst es ohnehin verschieben müssen«, bemerkte sie ganz beiläufig, als sie sich endlich entschloß, schlafen zu gehen. War das eine Aufforderung oder eine Frage? Und ich sagte mir sogleich: Verschieben? Nein, um Himmels willen, bloß das nicht! Die Klippe des Todes, die mich selbst im Traum ängstigt. Und dann das Kind, das für heute zur Operation vorbereitet wurde. Sie hatten den Kleinen hungern lassen, ihn mit Injektionen gedämpft. Und erst der Großvater, der bestimmt aus lauter Sorge die ganze Nacht nicht geschlafen hat.
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Laut sagte ich jedoch nichts. Jitka wäre fähig gewesen, weiter mit mir zu diskutieren, mich zu überzeugen, daß es Wahnsinn sei, am Morgen nach so einer Nacht das Skalpell in die Hand zu nehmen. Da schloß ich lieber die Augen und fiel auch bald in einen traumlosen Schlaf. Zur Morgenmeldung kam ich zu spät. Vielleicht zum erstenmal, seit ich die Klinik leite. Sie warteten auf mich. Was gibt's Neues? Die verunglückte Frau ist gestorben. Im Laufe der Nacht kam es zum Herzstillstand, aber es gelang noch, die Aktion zu erneuern. Gegen Morgen dann der zweite Stillstand. Vorher traten Stammkrämpfe auf. Ich weiß, es war eigentlich nichts anderes zu erwarten. Ihr Mann ist in Ordnung. Er hat weitere Analgetika und Antidepressiva bekommen. Frau Doktor Hladká konnte kaum die Augen offenhalten. Kroupa hatte sich entschuldigt, er war schon ins Wochenende nach Hause gefahren. Ruml meldete mir das zugleich mit der Mitteilung, daß auch Krtek nicht kommen würde. Schon gestern habe er über achtunddreißig Temperatur gehabt, und heute habe er angerufen, sie sei auf vierzig gestiegen. Es wird nichts weiter sein als eine Virose, aber unter die Patienten darf er damit nicht. Krtek! So ein Pech, er war mit mir für den Vormittag eingetragen. Wen hat mir Ruml zugeteilt? Sich selber und Frau Jirsáková. Nein, die Jirsáková behagt mir nicht. Ein gutes Mädchen, aber nur wenn nichts Großes auf dem Spiele steht. Seinerzeit hatte sich Vyskočil ihrer angenommen, er wollte, daß sie allein zu arbeiten anfinge, aber am Ende resignierte er. Sie ist unentschlossen und hat Angst. Am liebsten »hängt sie an den Haken«. Einmal ist sie im Saal sogar umgefallen. Ja, sie ließ die Haken los und wurde ohnmächtig. Damals mußte sich rasch ein anderer waschen. Sie sitzt zwischen den anderen und fühlt sich offensichtlich nicht wohl in ihrer Haut. Die schwarzen Haare sind zu kleinen Löckchen gedreht, wie man das jetzt trägt. Statt der Augenbrauen Striche und an den Händen ‚ eine sorgfältige
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Maniküre, wenn auch ohne lackierte Nägel. Irgendwie paßt sie nicht unter uns. Jetzt richtet sie ihren erwartungsvollängstlichen Blick auf mich. Natürlich will sie nicht operieren. Lieber würde sie in der ganzen Klinik Visite machen und zehn Krankenberichte schreiben. Was macht man da bloß? Der goldige Doktor Zelený! »Herr Professor«, sagt er, »könnte nicht ich assistieren? Sehr gern würde ich bei der Operation dieses Kindes zugegen sein.« Er half mir. Ich weiß genau, daß er auch so hätte in den Saal kommen können. »Bitte sehr, ich habe nichts dagegen«, sagte ich rasch. »Aber Sie haben einen beschwerlichen Nachtdienst hinter sich!« »Paar Stunden habe ich geschlafen. Falls mir natürlich Frau Jirsáková nicht böse ist!« Sie und böse sein! Sie tut zwar, als ärgere sie das, aber es kam ihr nicht von Herzen. Auch Ruml atmete auf, die Situation war gerettet. Ich erwartete nach wie vor, daß sich noch im letzten Augenblick wenigstens eine Stimme erheben würde, um mir den Jungen auszureden. Das geschah nicht. Mir fehlte es fast. Ich müßte argumentieren, mich gegen die Zweifel wappnen, die auf dem Grunde meiner Seele schlummern. Obendrein fühlte ich mich wirklich miserabel. Von Zeit zu Zeit hob sich mir in der Magengegend eine würgende Welle, im Mund hatte ich einen Überfluß an Speichel. In den Schläfen pulsierte nach wie vor ein dumpfer Schmerz, der seit dem Aufwachen nicht nachgelassen hatte. Wenn ich nun bei dieser vertrackten Operation versage? Sie wird bestimmt einige Stunden dauern, und ich kann kein Analgetikum schlucken, weil ich mich dann schlecht konzentrieren könnte. Frau Růžková weiß alles. Als ich nach der Morgenmeldung in mein Arbeitszimmer zurückkehrte, saß Jitka bei ihr. Beide hatten einen verschwörerischen Blick, und die Frau Se-
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kretärin kochte mir einen Kräutertee. Mir wurde allein von dem Geruch übel. Sie musterte mich tadelnd und zugleich liebevoll. Ihr Herz hatte ich, daran brauchte ich überhaupt nicht zu zweifeln. Nein, Jitka riet mir nicht von der Operation ab. Sie teilte mir nur mit, auch ihr Chef, der Dozent Chour, wolle zuschauen. Sie habe zu tun gehabt, daß er nicht auch die anderen Ärzte von der Neurologie mitgenommen habe. Ich bat Frau Růžková, mir den Tee ins Arbeitszimmer zu stellen. Dort schüttete ich ihn in den Ausguß und genehmigte mir einen ordentlichen Kognak. Kaffee? Nein, schon bei der Vorstellung schüttelte es mich. Jitka hatte alles vorhergesehen. Sie holte aus dem Kittel ein paar Koffeintabletten. Es war genau das, was ich brauchte. Die Sekretärin meldete mir, daß der Förster Uzel auf dem Flur vor der Tür meines Arbeitszimmers wartete. Er lasse sich nicht abwimmeln. Feige schlich ich mich durchs Vorzimmer. Ich sah ihn von weitem mit hängendem Kopf dasitzen, die schweren Fäuste kraftlos auf den Knien. Ich konnte nicht mit ihm sprechen. Ich wußte, mich brächte alles auf die Palme, was er sagte. Abermals würde er wiederholen, wie sehr er Vítek brauche, weil er nur ihn habe. Wieder würde er mir versichern, wie er mir vertraue, und das könnte ich gerade heute nur schwer ertragen. Ich fühlte mich elend, als jagte mich jemand in diese unsinnige Operation. Dennoch reizte mich der Gedanke, daß mich alles mögliche daran hindern könnte. Hysterisch wie ein Pensionatsfräulein. Höchste Zeit, mich zusammenzunehmen. Oder bin ich schon so alt, daß mich zu wenig Schlaf umwirft? Oder das bißchen Leuchtgas, das ich aus Unachtsamkeit eingeatmet habe? In meinem Kopf blitzte die Erinnerung auf, wie die Kinder einmal ›Orden der Arbeit‹ gespielt hatten. Das war so: Als sie noch klein waren, kam ich einige Zeit regelmäßig sehr spät nach Hause. Milan fragte, warum. »Wißt ihr, Kinder, der Pappi möchte den ›Orden der Arbeit‹
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kriegen«, sagte Jitka trocken. Meiner Meinung nach hatten weder die Jungen noch Eva richtig hingehört. Doch dann fingen sie an, ständig zu fragen, wann es nun soweit sei. Was denn? Na, mit diesem ›Orden der Arbeit‹! Sie ließen sich nicht einreden, daß Mutti nur einen Spaß gemacht hatte. Sie waren zu dem Schluß gekommen, wir beide müßten den ›Orden der Arbeit‹ bekommen, denn wer sonst als wir? Wir hätten für nichts Zeit, und am wenigsten für sie. Nun beobachteten sie einmal im Fernsehen, wie an verdiente Werktätige Orden und Auszeichnungen verliehen wurden. Dann tuschelten sie einige Tage miteinander, versteckten dauernd etwas vor uns und fragten uns aus, wann wir mal beide an einem Abend zu Hause seien. Sie hätten eine Überraschung für uns. Im Wohnzimmer waren die Sessel in eine Reihe gestellt. Davor hatten sie ein Tischchen aufgebaut und darauf eine Vase mit Blumen und einen großen Teller mit belegten Brötchen. Irgendwoher hatten sie sogar eine Flasche Wermut besorgt. Auf dem Tisch standen fünf Gläser. Sogar die Eiswürfel hatten sie nicht vergessen. Wir kamen nach Hause und blieben stehen wie die Kuh vorm neuen Tor. Wir mußten in den Sesseln Platz nehmen. Dann stellten sich alle drei vor uns auf. Milan hatte auf einem Blatt eine Rede aufgeschrieben. Ondra hielt zwei Papierrollen in der Hand, sie waren mit einer Zierkordel umschnürt, an der ein Plättchen aus Siegellack hing. Eva nahm den Blumenstrauß aus der Vase. Es waren eigentlich zwei Buketts, für jeden eine Nelke mit einem bißchen Grün. Das beste daran war, daß sie es völlig ernst meinten. Milan verbeugte sich und legte los: »Werte Genossin und werter Genosse! Weil ihr von früh bis spät arbeiten müßt und dabei drei Kinder zu versorgen habt, für die ihr kochen und waschen müßt, geben wir euch den ›Orden der Arbeit‹. Wir versprechen, euch zu Hause immer zu unterstützen.« Dann verbeugte sich Ondra und übergab uns die zusammen-
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gerollten Bogen, auf denen mit Großbuchstaben ›Orden der Arbeit‹ geschrieben stand, auf dem einen noch ›Für Mutti‹, auf dem anderen ›Für Vati‹. Ringsherum waren Blumen und Ornamente gemalt. Schließlich kam auch Eva an die Reihe, sie reichte uns die Nelken. Jitka und ich schauten einander aus den Augenwinkeln an, aber weil die Kinder bei der ganzen Zeremonie mit keiner Wimper zuckten, bemühten auch wir uns, nicht zu lachen. Das gelang ganz gut, doch dann geschah es. Als Eva uns die Blumen überreichte, brach plötzlich etwas in Jitka zusammen, und sie begann regelrecht zu heulen. Ich muß gestehen, daß auch ich ein paarmal schluckte. Ein überraschender Kinderstreich, der ans Herz ging. Mein Gott, warum fällt mir ausgerechnet auf dem Weg zum Operationssaal diese Dummheit ein! - Sie warten auf mich, Ruml und Zelený waschen sich. Vors Fenster haben sie die einzelnen Röntgenaufnahmen gehängt, damit wir unser Vorgehen kontrollieren können. Ich scheuere mir mit der Bürste die Hände. Erkläre dabei den Ärzten, wie ich mir den ganzen Eingriff vorstelle. Und schon haben wir Stöpsel vor uns. Genauer gesagt, sein rasiertes Köpfchen und den zum Erbarmen dünnen Kinderhals. Der Junge ist in Sitzstellung vorbereitet, der Schnitt wird in einem Längsstrich im Nacken geführt. In die zarte Ader beginnt das Anästhetikum zu tropfen. Man hat mir den Hocker hingeschoben. Sie warten. Einen Schritt von mir, um ins Operationsfeld schauen zu können, stehen Jitka und ihr Dozent. Mir gegenüber die Assistentin und an der Stirnseite die Operationsschwester. Es ist Zita, eine Bessere kann ich mir nicht wünschen. Statt anzufangen, zögere ich einige weitere Sekunden. Wie Filmbilder huschen vor meinen Augen kurze Szenen vorbei: Stöpsel, über Míťas Mullmütze lachend, Stöpsel auf der Kreuzung, sich mit dem Reißverschluß abmühend, Stöpsel, mir im Nacken das Lied von dem Kanonier Jabůrek singend... Ich kann mich von diesen Bildern nicht losreißen. Heiß
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steigt es mir in den Kopf. Ich weiß, es muß ihnen sonderbar erscheinen, daß ich mich nicht rühre. Ich komme ihnen wohl vor wie ein penibler Dirigent, der wartet, bis der letzte Laut im Saal verstummt, bis man weder ein Hüsteln noch einen Atemzug hört. Dann geschieht es. Mir dreht sich plötzlich alles im Kopf, so daß ich fast vom Hocker falle. Wieder hebt sich mir der Magen, und auf der Stirn bricht der Schweiß aus. »Unterbrecht für eine Weile die Narkose«, ordne ich an. Ich schwanke unsicheren Schrittes in den Vorbereitungsraum. Alle bleiben auf ihren Plätzen, nur Jitka eilt mir erschrocken nach. »Was hast du? Du bist blaß wie ein Gespenst. Leg dich eine Weile hin. Ich sage ihnen, daß du's verschiebst, willst du? Was würde eigentlich passieren, wenn du es Montag machst!« Ich will nicht. Lasse mich ins Inspektionszimmer führen, dort atme ich bei offenem Fenster tief durch. Dann fällt es Jitka endlich ein. »Sag mal, hast du überhaupt gefrühstückt?« »Donnerwetter, das hab ich ganz vergessen. Und das Abendessen hab ich rausgebracht und überhaupt alles, was ich im Magen hatte.« »Um Himmels willen! Ich hab dir doch zwei Schinkensemmeln mitgebracht!« »Her damit!« Ich schlang die Semmeln hinunter, als hätte ich eine ganze Woche nichts gegessen. Frau Růžková schickte mir ein großes Stück Kuchen. Ich ließ keinen Krümel übrig. Jitka sah mir zu, wiegte den Kopf und lachte mich aus. »Wenn ich das deiner glorreichen Mannschaft petze!« »Untersteh dich, ich stände da wie ein Hampelmann.« »Wie du willst.« Sie grinste. »So werden sie denken, du hast einen Infarkt bekommen. Sie bringen dich auf die Herzstation.« Sie hat recht. Warum hab ich ihnen eigentlich nichts von
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dem Leuchtgas erzählt? Ich höre sie schon sagen: Der Chef kollabiert im Saal, er hat für kompliziertere Operationen die Nerven nicht mehr. Er überschätzt seine Kräfte, aber er sollte sich bewußt sein, daß er kein Jüngling mehr ist! Nein, sie redeten nicht schlecht über mich. Ruml kam, fragte mich, wie es mir ginge. Ich sah, daß sie wirklich um mich besorgt waren. Ich gestand ihm alles: Zuerst hätte ich mich fast vergiftet, und eben sei mir vor Hunger schlecht geworden. Ich hätte einfach das Frühstück vergessen. Aber jetzt sei alles in Ordnung. Alles? Perfekt. In fünf Minuten können wir noch einmal anfangen, niemand soll den Saal verlassen. Er glaubte mir schon, er und Jitka. Das Unwohlsein war wie durch Zauberkraft verschwunden. Die Hände hörten auf zu zittern. Ich trank noch etwas Tee, und wir konnten gehen. Noch einmal wusch ich mich. Als ich den Saal betrat, schauten mich ihre verstörten Augen über den Schutzmasken an wie Jungvögel aus dem Nest. Sie wußten schon alles. Forschten, ob ich wirklich fit bin oder mich nur kraftmeierisch gebärde. Mein Aussehen beruhigte sie. Sie begannen zu tuscheln und zu grienen. Das merke ich, auch wenn sie die Maske vor dem Mund haben. Wieder setzte ich mich vor Stöpsel, der zur Operation bereit war. Zitas Hände streckten sich abwartend aus. »Skalpell bitte«, sagte ich. Sie reichte es mir mit einer so raschen Bewegung, daß diese mit der letzten Silbe meines Wortes zusammenfiel.
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<8> Der junge Adept der Journalistik kam wirklich genau nach zwei Wochen, wie wir vereinbart hatten. Als er zum erstenmal bei mir gewesen war, hatte Stöpsel die Operation bereits hinter sich und verließ soeben die Klinik. Jetzt war der Junge zu Hause beim Großvater, ich hatte schon eine Ansichtskarte von ihnen bekommen. Dennoch interessierte meinen jungen Fencl am meisten gerade der Fall Uzel. Er hielt einen Block bereit und bat mich, ihm den ganzen Verlauf der Operation zu schildern. Ich zögerte. Was könne ihm eine fachliche Darlegung sagen? Das sei für einen Laien doch recht kompliziert. Er lächelte unwiderstehlich. »Das stört überhaupt nicht. Es werden Reportagen über Bauvorhaben oder über die Produktion gemacht, und auch dort gibt es Fachterminologie. Jeder muß begreifen, daß es ohne so etwas nicht geht. Und das hier ist der Kampf ums Leben, das muß jeden interessieren.« Er hatte mich überzeugt. Ich fing an, bis ins kleinste Detail diese fürchterliche, mehrere Stunden dauernde Arbeit zu schildern. Dabei empfand ich fast die gleiche Erregung wie in dem Augenblick, da ich diese gefährlichen Gegenden berührt hatte, wo man so leicht den letzten Lebensfaden zerreißen kann. Ich erzählte ihm, so verständlich ich es vermochte, von der schwammartigen, blutenden Materie, die sich buchstäblich in alle Höhlungen und Kanäle der Gehirnstrukturen in der hinteren Schädelgrube hineingezwängt hatte. Ich schilderte ihm, wie ich diese mürbe Masse Stückchen für Stückchen zerriß und wie meine Instrumente ständig mit Blut übergössen waren, das aus der Wunde einen unübersichtlichen Sumpf machte. Wie ich in solcher Nähe des Bodens der vierten Kammer präparierte, daß bei jeder leichtesten Bewegung Blutdruck und Atem des Kindes schwankten. Wie mich der Anästhesist wiederholt warnte, weil er die Narkose nicht mehr sicher beherrschte.
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Ich gab sogar zu, daß ich mich im Verlauf des Eingriffs selber verfluchte. Ich wollte nicht zu breit trepanieren und hatte jetzt ein unübersichtliches und unzugängliches Operationsfeld. Warum hatte ich das getan? Aus Torheit. Stöpsel sollte im Nacken keinen großen Defekt behalten, und es sollte ihm kein Stück eines Wirbelbogens fehlen. Einerseits war ich mir fast sicher, daß der Junge nicht überleben würde, und anderseits stellte ich ihn mir im Turnsaal unter den anderen Kindern vor. Dort wäre dann die operierte Stelle zu verletzlich. Ja, der Kleine hatte auch Herzstillstand. Er bekam unablässig Transfusionen, weil er vielleicht alles eigene Blut verloren hatte. Als ich schon dachte, ich hätte den Tumor bis zum letzten Rest beseitigt und könnte die Operation abschließen, entdeckte ich, daß die schwammige Masse durch eine kleine Öffnung in den Hirnhäuten weiterwucherte und den ganzen Raum des Kleinhirnbrückenwinkels ausfüllte. Der Redakteur notierte sich fleißig alles, aber ich verstummte für eine Weile. Was mir jetzt einfiel, war zu persönlich. Wieder drang die gespannte Stille im Saal auf mich ein, lediglich vom Summen des Respirators unterbrochen, wieder erzitterte unter meinen Händen das arme Kinderköpfchen, das nun schon seit Stunden den Trepanationsinstrumenten und der hochtourigen Fräse trotzte. Abermals entsetzte mich die Vorstellung des durchsichtigen, zarten Geflechts, aus dem wir langsam und systematisch alles Blut absaugten,, das noch irgendwo war. Selten hatten mir die Finger so gezittert. Die zuschauenden Ärzte, denen gegenüber ich mich anfangs freundlich verhalten hatte, gingen mir allmählich auf die Nerven. Jitkas Chef, der das Bestreben hatte, alles, was ich vornahm, fachmännisch zu kommentieren, die Jirsáková, die wenigstens zuschauen gekommen war, um die Scharte auszuwetzen. Nur Jitka hielt mich über Wasser. Ihre kritischen Augen verfolgten jede Berührung meines Skalpells, jede Koagulation eines Gefäßes. Sie vertraute mir. Der heiße Wunsch, es möge gut
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ausgehen, strahlte von ihr aus wie ein Fluidum. Wenn es ganz schwierig wurde, suchte ich mit dem Blick ihre Schutzmaske. Tropfenweise nahm ich von ihrem Glauben in mich auf, als schluckte ich eine anregende Medizin. Fencl schienen meine stillen Betrachtungen schon zu lang. »Sie meinen also, das Kind bleibt jetzt schon gesund? Kann den Kleinen nichts mehr bedrohen?« Nein, nichts kann ihn mehr bedrohen. Die Histologie hat gezeigt, daß es eine gutartige Geschwulst war, sie wird nicht weiterwachsen. Ich habe alles beseitigt. So erscheint es mir heute, aber die professionelle Gewohnheit zwingt mich zu einer vorsichtigen Formulierung. »Ich hoffe, Herr Redakteur. Auch wenn wir uns in der Medizin niemals restlos sicher sind.« Meine Antwort hatte ihn offensichtlich enttäuscht. Er kritzelte etwas in seinen Block und dachte sich jetzt Fragen aus, die nicht zur Sache gehörten. Zum Beispiel, wieviel eine solche Hirngeschwulst durchschnittlich wiegt. Heimlich blickte ich auf die Uhr und unterdrückte ein Gähnen. »Kommt drauf an«, sagte ich. »Manchmal ein paar Gramm, ein andermal etwas mehr.« »So wenig?« wunderte er sich mit einem naiven Lächeln. Ich hatte die schadenfrohe Bemerkung auf der Zunge, er solle zu jemandem gehen, der Bauchchirurgie macht, wenn er von größeren Tumoren hören will, aber ich bezähmte mich. Eine Weile blätterte er in seinen Aufzeichnungen, und dann rückte er mit einer weiteren Frage heraus. Er wollte wissen, ob etwas Wahres daran sei, daß Schädeltrepanationen bereits in der Steinzeit gemacht wurden. Innerlich grinste ich. Sieh da, offenbar hat er sich gut vorbereitet. Aber warte, mich legst du nicht aufs Kreuz! Ich begann mit einer weitschweifigen Erklärung darüber, daß man trepanierte Schädel sogar auf unserem Territorium gefunden hat, die aus der Jüngeren Steinzeit stammen und also fünf-
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tausend Jahre alt sind. Weitere fanden sich aus den Zeiten, da auf unserem Gebiet die Kelten siedelten, dann aus der römischen Periode und schließlich aus dem zehnten Jahrhundert, als hier schon Slawen ansässig waren. Er zuckte mit keiner Wimper. Trumpfte mit der Bemerkung auf, seines Wissens liege die größte Fundstätte solcher Schädel in Peru, und zwar besonders auf den Begräbnisstätten Paracas und Paracamac. Er gelangte bis zur Kultur der Prä-Inkas, aber weil er sich rechtzeitig erinnerte, daß ich und nicht er etwas erzählen sollte, fragte er mich, wie eine Operation mit den Steinzeitwerkzeugen überhaupt möglich war. Wieder ging ich ihm auf den Leim. Ausführlich und mit Leidenschaft erläuterte ich ihm, wie damals der Knochen mit einem scharfen Feuerstein aufgeschabt wurde, später schon mit einem Meißel und schließlich mit einer Handfräse und einer primitiven Säge. Er schrieb schnell, nickte dabei und lächelte. »Und wenn man sich jetzt vorstellt, daß ohne Narkose operiert wurde«, stachelte er mich an. »Allerdings, eine Narkose hatten sie nicht.« Wieder unterbrach er mich. Soviel er wisse, habe man damals zur Schmerz Stillung verschiedene Pflanzen verwendet, zum Beispiel Koka und Stechapfel. Ich hätte ihm am liebsten eine heruntergehauen. Nimmt mir hier die Beichte ab, und in Wirklichkeit hat er sich offenbar das eine oder andere unserer Lehrbücher durchgelesen. Ich bekam Lust, ihn ein bißchen aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Wissen Sie auch«, fragte ich ihn, »daß man solche primitiven Trepanationen bis heute bei einigen wilden Stämmen sehen kann?« Nein, davon hatte er nichts gehört. Und um mich ein bißchen für das Seminar über die Geschichte der Medizin zu rächen, das er mir gehalten hatte, schilderte ich ihm einen Film, der neulich auf einem Fachkongreß vorgeführt worden war. Dort wurde gezeigt, wie die Medizinmänner eines Stammes chronische Kopfschmerzen behandeln. Vor allem
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müssen sie ihr Opfer auf einem düsteren Fluß tief in den Urwald fahren, weil Trepanationen verboten sind und geheim durchgeführt werden. Ich erzählte ihm bis in die kleinsten Einzelheiten, was der Farbfilm zeigte. Als erstes einen Haufen barbarischer, völlig verrosteter Instrumente, die der schmutzige Feldscher an einem Felsvorsprung schärft. Das Opfer durchlebt die ganze Operation im Knien, den Kopf zur Erde geneigt. Er bekommt nicht die geringste Arznei, geschweige denn eine Narkose. Der Operateur schneidet mit einem riesigen Messer die Haut von der Stirn bis in den Nacken auf und skalpiert sie nach beiden Seiten. Dann schlägt er mit einem unförmigen, verrosteten Meißel auf den Schädel ein. Das dauert einige Stunden. Erst wenn der Knochen mürbe ist, bricht er mit den Fingern eine Öffnung hinein. Schließlich gähnt im Schädel ein Loch wie von einem Axthieb. Danach wird alles notdürftig mit Blättern zugeklebt. Der Kranke ist auf eigenen Beinen gekommen, und so geht er auch wieder, höchstens von jemandem gestützt. Der Redakteur ist beim Zuhören ganz blaß geworden. Siehst du, da hast du ein Stück drastische Chirurgie, wenn schon unsere keinen Eindruck auf dich gemacht hat, dachte ich boshaft. Es hat ihn mitgenommen, nicht einmal Notizen hat er sich gemacht. »Das ist heute noch möglich? Könnte ich darüber schreiben?« Ich erschrak. »Um Himmels willen, nein! Es war ein Film für Fachleute, andere würde das schockieren!« Dabei hatte ich ihm gar nicht gesagt, daß bei der Vorführung sogar eine Ärztin in Ohnmacht gefallen war. Ihm tat es offenbar leid. Er dachte wohl: Das wäre eine andere Reportage als so eine glatte Laudatio. Er biß sich auf die Lippe wie ein Schuljunge, der nicht weiterweiß. Und mir fiel voller Schreck ein, daß ich für den wissenschaftlichen Rat noch einige Materialien vorbereiten mußte, bevor ich ein paar Tage in Urlaub ging. Ich sollte mir mit Ruml die Planung der Instrumente und Medikamente anschauen und
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sie noch im ersten Halbjahr abgeben, das heißt in drei Tagen, weil wir schon Ende Juni hatten. Obendrein hatte ich Frau Růžková gebeten, uns jetzt um keinen Preis zu stören. Ich ließ mir zwar nichts anmerken, aber er fühlte mit einem sechsten Sinn meine Ungeduld. Auf einmal war er wie aufgescheucht. Er gebärdete sich wie einer, der sich fest gegen eine geschlossene Tür stemmt, die unverhofft aufgeht. »Mir scheint, es langweilt Sie schon«, bemerkte er mit einem schiefen Lächeln ohne Grübchen auf den Wangen. »Ich hab wohl zu sehr beim Urschleim angefangen, und Sie haben nicht so viel Zeit...« »Doch, hab ich«, beeilte ich mich zu versichern. Mir war klar, daß ich mich jetzt nicht mehr aus dieser vertrackten Situation herausschwindeln konnte, in die ich mich selber gebracht hatte. Ich schloß die Augen und stellte mir vor, wie er mit leeren Händen in die Redaktion kommt. Alle lachen ihn aus, weil er schon wieder abgeblitzt ist. So etwas darf nicht passieren, er muß seine Reportage mitnehmen. Ich wußte wirklich nicht, warum mir soviel daran lag. Waren es Selbstvorwürfe wegen Fencl, mit dem dieser junge Mann nichts anderes gemein hat als eine gewisse Ähnlichkeit? Jitka würde mich auf Exupery verweisen. »Du hast einen Fuchs gezähmt«, würde sie sagen. »Er ist gekommen, hat sich zu dir gesetzt, und du hast ihn nicht weggejagt. Jetzt ist es schon zu spät, jetzt stehst du für ihn grade.« Heimlich seufzte ich. »Also, junger Freund, was möchten Sie noch wissen?« Die Unsicherheit fiel mit einem Schlage von ihm ab. Er war genauso überlegen und selbstbewußt wie vorher. Lächelte. »Recht viel möchte ich noch wissen. Wir haben ja noch nicht richtig angefangen. Unsere Leser interessiert alles! Wie Sie aufgewachsen sind, wie Ihre Familie ist. Und am meisten Ihre Arbeit. Wir haben erst eine Operation durchgenommen.« Na prost Mahlzeit, da sollen wir jetzt noch weitere durchnehmen! Ich mußte das Lachen unterdrücken und schaute
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dabei sehnsüchtig zum Fenster hinaus. Zwischen Wolkenfetzen war ein Stück blauer Himmel zu sehen. »Auch über Ihre Kindheit möchte ich etwas schreiben«, bemerkte Fencl und fügte heiter hinzu: »Keine Angst, es soll kein Kaderfragebogen werden. Nur ein paar Sätze, eine Erinnerung!« Für eine Weile stieg ich aus meiner Rolle aus. Statt des großen Krankenhausfensters hatte ich plötzlich ein winziges Fenster in einer breiten Nische der Küchenwand vor mir. Der Blick ging über die Wiesen zum Fluß. Jeden Abend legte sich auf das grüne Gras ein weißer Nebelstreif. Unser Haus an der kleinen Bahnstation in den Feldern. Auf dem Hof der Brunnen mit dem Ziehbalken, an dessen freiem Ende ich mir in der Kindheit schmerzhaft die Stirn aufgeschlagen hatte, die Narbe hab ich bis heute. Der Krankenhausgeruch verschwand. Ich spürte den Duft von Klee und der Jerichorose, die die Haustür umrankte. Meine Kindheit? Sie hat sich in einem einzigen Bild verkörpert: Fünf Kinder tollen durchs Haus. Wir laufen durch die Tür in die Küche und springen durch das kleine Fenster hinaus in den Garten. Ich klettere wie ein Wiesel auf das Fensterbrett und juchze vor Begeisterung. Fencl wußte mit meinem Schweigen nichts anzufangen. »Mich würde interessieren, wie Sie zu Hause gelebt haben«, bemühte er sich, seine Frage zu präzisieren. »Ob Sie zum Beispiel Not gelitten haben... Solche Dinge gefallen den Lesern.« Wieder tauchte ich in meine Erinnerungen ein. Ich sehe den Tisch, eingekreist vom licht der Lampe. Wir essen zu Abend. Vater bricht Stücke vom Brot ab und tunkt sie in die gußeiserne Bratpfanne, in der Reste duftender Fleischsauce zurückgeblieben sind. Er steckt sie mir in den Mund. Die anderen Kinder spießen ihre Bissen auf die Gabel und tunken sie eines nach dem anderen in die Pfanne. Mutter bäckt auf der Herdplatte Kartoffelplätzchen. Vor uns steht eine Schüssel mit köstlichen Pflaumenknödeln.
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Mein Quälgeist wartete. Er klopfte mit dem Bleistiftende auf den Block, um mich zur Antwort anzuspornen. Ich sagte ein bißchen abwesend: »Nein, Not haben wir nie gelitten. Aber anderseits lebten wir auch nicht im Überfluß. Vater arbeitete bei der Bahn, und wir waren fünf Kinder. Aber vielleicht waren wir glücklicher als so manche heutige Familie, die sich alles leisten kann, woran sie nur denkt.« »Fällt Ihnen nicht eine lustige Begebenheit ein?« bedrängte mich der Redakteur. Mir fiel keine ein. Oder vielleicht doch, aber das ist nichts für die Zeitung. Ich gehe in die erste Klasse. Warte auf dem Schulhof auf die beiden älteren Brüder. Einer kommt aus dem Schulhaus gelaufen, beachtet mich jedoch nicht. Er spielt mit den größeren Kindern, mich wollen sie nicht mitspielen lassen. Ich fange an zu heulen. Da kommt der Schulleiter und beugt sich mitfühlend zu mir. »Was haben dir denn die Jungen getan?« »Dort... Unser Venca...« Ich zeige auf den Schuldigen. »Er will nicht mit mir reden.« Unser Franta, unser Venca, so bezeichnete jeder Schuljunge seine Geschwister. Der Schulleiter winkt Venca heran. »Das ist nicht schön von euch, wenn ihr ihn ärgert. Warum sprichst du nicht mit ihm?« Venca neigt den kurzgeschorenen Kopf und sagt verstockt: »Was soll ich mit ihm reden, er ist doch mein Bruder!« Ich konnte mich nicht zurückhalten, mußte über diese Reminiszenz lachen. Fencl heftete einen hoffnungsvollen Blick auf mich. Ich mußte ihn enttäuschen. Das würde sowieso niemand begreifen. Übrigens würde es unsere Kindheit nicht treffend erfassen. Wir hatten uns sehr gern. Oft prügelten wir uns wegen des anderen bis aufs Blut. Und gerade Venca brachte mir nicht nur Taschen voller Birnen mit, die er im Dorf gepflückt hatte, sondern als ich studierte, steckte er mir so manche Krone zu, weil er zu dieser Zeit bereits selber verdiente. Um den jungen Redakteur wenigstens ein bißchen zu be-
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friedigen, erzählte ich, wie wir am Fluß Krebse fingen, wie wir im Sommer bei der Ernte halfen, um ein bißchen Geld nach Hause zu bringen, und wie wir schließlich einer nach dem anderen unser Elternhaus verließen und außer Venca alle studierten. Er schrieb sich dann und wann einen Satz auf, aber großen Eindruck machte es nicht auf ihn. Vielleicht hatte er etwas Bewegenderes erwartet, damit seine Leser auf ihre Kosten kämen. Ich hätte weitere Begebenheiten erzählen können, von denen in unserer Familie lange gesprochen wurde, aber ich hatte keine Lust. Zum Beispiel, wie ich im ersten Gymnasialjahr unseren Katecheten ärgerte. Aus Protest, weil er sich als Heuchler entpuppt hatte. Wie war das gewesen? Wir sollten mit dem Katecheten und noch einem anderen Lehrer einen Schulausflug machen. Der Lehrer hieß Rusnák. Ständig trug er einen Tornister für Käfer und ähnliches bei sich und stellte mit uns schöne Herbarien zusammen. Aber Hochwürden mochte ihn nicht sonderlich, und so dachte er sich eine Hinterlist aus. Am Tage des Ausflugs ließ er ihm bestellen, das Wetter sei unbeständig und der Ausflug finde nicht statt. Zufällig ging ich mit zwei Mitschülern an Rusnáks Haus vorbei, und wir wollten ihn abholen. »Wir fahren nicht weg«, teilte er uns mit. Wir wollten uns damit nicht abfinden und trotteten mißmutig zum Treffpunkt am Bahnhof. Dort stellten wir erstaunt fest, daß der Katechet die Kinder auf dem Bahnsteig antreten ließ und auf die Einfahrt des Zuges wartete. Mich empörte das maßlos. Sogleich erbot ich mich, den Lehrer zu holen, weil wir nun doch fahren würden, aber der Katechet erlaubte es mir nicht. Er würde es ohnehin nicht mehr schaffen, und dann kenne der Herr Lehrer die Gegend gut, er werde froh sein, sich zu Hause ein bißchen ausruhen zu können. Das war gelogen. Rusnák - hatte unbedingt mitfahren wollen, das wußte ich. Wir fuhren nur ein paar Stationen, in den Heimatort des
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Katecheten. Don wohnten seine Eltern, die von unserem Besuch verständigt waren. Im Garten war ein Tisch aufgestellt, darauf Schüsseln mit Buchteln und Kaffee. Ringsum guckten die neugierigen Nachbarn zu, wie der Herr Katechet seine Gymnasiasten zu Hause bewirtete, und darum ging es wohl dem hochwürdigen Herrn vor allem. Die Kinder drängten sich erfreut hinein, nur ich blieb draußen vor dem Zaun. Ich setzte mich ins Gras und packte das Butterbrot aus, das mir Mutter mitgegeben hatte. Die Mitschüler riefen mir zu und versuchten, mich in den Garten zu locken. Der Katechet kam sogar persönlich, um mich zu holen, aber ich schüttelte nur den Kopf und ließ mich nicht umstimmen. Auch auf die Mitschüler hatte ich eine Wut, obwohl der Katechet unserem Lehrer so etwas antat, ließen sie sich für ein paar Buchteln kaufen! Meine Eltern erfuhren von dem Vorfall, noch ehe ich nach Hause kam, dafür sorgten schon die Nachbarn. Vater lachte darüber, aber Mutter war betreten. Die Leute aus dem Städtchen redeten lange davon. Schon damals erkannte ich, daß sie sich in zwei Lager teilten. Die einen nahmen es meinen Eltern übel und sahen darin das Ergebnis einer schlechten Erziehung, die anderen rieben, sich schadenfroh die Hände und sagten, ich hätte richtig gehandelt. Einige grinsten mir nur freundschaftlich zu, weil sie Angst hatten, sich laut zu äußern. Der hochwürdige Herr war eben doch nicht allgemein beliebt. Ich hörte auf, den Religionsunterricht zu besuchen, und Vater gab mir dazu die schriftliche Erlaubnis. Mutter fürchtete zuerst das Gerede der Leute. Selber war sie nie sehr fromm gewesen, aber in die Kirche ging sie gelegentlich. Sie hing in rührender Weise an Vater. Als er erklärte, jeder solle nach seiner Überzeugung handeln und nicht einer fremden Meinung folgen, gab sie sich damit zufrieden. Einmal hörte ich sogar, wie sie mich verteidigte, als sich eine Nachbarin tadelnd über mich aussprach. »Der Herr Katechet hat nicht richtig gehandelt«, sagte sie
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mit ihrer leisen, aber unnachgiebigen Stimme, mit der sie uns manchmal ermahnte. »Die Kinder erkennen jede Falschheit sofort. Er nennt sich Diener Gottes, er müßte ein Vorbild sein. Warum soll ich dem Jungen böse sein, wenn er im Recht war?« Wie lange ist das alles her! Aus jener Zeit ist mir nur ein bemalter Krug geblieben, der zu Hause neben der Waschschüssel stand. Auch das Haus, in dem ich aufwuchs, gibt es nicht mehr. Als ich zum letzten Mal dort war, fand ich nur ein Stück Wiese mit einem Nebelstreif am Horizont. Es war auch nicht mehr die weite grüne Fläche wie einst. Auf der einen Seite ist eine Maschinen- und Traktorenstation entstanden. Unser Fluß, der sich so romantisch durch die Auen schlängelte, ist längst reguliert, über ihn führt die Betonbrücke der neuen Landstraße. Die Landschaft der Kindheit! Eine Fata Morgana, die nur noch auf dem Bildschirm meiner flüchtigen Erinnerungen erscheint. Niemand aus meiner Kindheit ist mehr am Leben. Beide Eltern starben, als ich noch studierte. Auch die Geschwister leben nicht mehr. Und doch: Wieviel hat diese Zeit für mich bedeutet! Kann sein, daß gerade sie meinem Leben die feste Richtung gab. Mein Vater war ein einfacher, kluger Mann. Als kleiner Junge ging ich mit ihm oft sonntags in den Wiesen spazieren. Lange sprachen wir über alles mögliche. Ich stellte ihm Fragen, die mich schon damals zu bedrängen begannen: Wo endet das Weltall, warum ist der Mensch auf der Erde, und was für einen Sinn hat das menschliche Leben überhaupt, wo doch jeder von uns am Ende sowieso stirbt. »Diese Ameise«, sagte Vater und zeigte auf den Fußpfad, den wir entlanggingen, »schleppt ein Ästchen hinter sich her, das dreimal größer als sie selber ist. Hat das einen Sinn? Wohl doch, weil aus solchen Stückchen am Ende der ganze Ameisenhaufen gebaut wird. Oder nimm die Schwalben! Den ganzen Tag sammeln sie Material für ihr Nest. Sie wissen nichts vom Leben, und dennoch hat es für sie einen
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Sinn. Die Menschen haben Verstand. Der sagt ihnen, daß es ihre Pflicht ist, etwas für die anderen zu tun. Hat das einen Sinn? Wir wissen es nicht, aber es muß wohl so sein, wenn uns dauernd etwas dazu treibt. Lebte jeder Mensch nur für sich, dann würde er seine Aufgabe nicht erfüllen. Er wäre überflüssig auf der Welt.« Das war eine einfache Philosophie, und sie befriedigte mich in meinen Knabenjahren nicht sehr. Doch heute weiß ich, daß darin ein Stück Lebenswahrheit steckt. Vater bemühte sich ständig, in uns das Gute zu stärken. Er lehrte mich, immer so zu arbeiten, wie ich es am besten konnte. Meine Mutter hatte wunderschöne blaue Augen. In ihnen spiegelte sich die Behaglichkeit des Heims. War Vater manchmal wortkarg, waren sie von Trauer erfüllt, dunkel und unruhig wie der Himmel vor einem Gewitter. Aber wenn Vater lachte oder wenn wir abends vor der Haustür sangen, dann strahlten sie wie die liebe Sonne. Vater starb früher als sie. Ich studierte damals noch. Wenn ich später nach Hause kam, saß Mutter da, die Hände im Schoß, und ihr Blick war voller Gram. Wir bemühten uns, sie zu zerstreuen, suchten sie zu überzeugen, daß sie sich daran gewöhnen müsse, ohne Vater zu leben, daß sie sich ihr eigenes Leben gestalten müsse. Die Geschwister baten sie, zu einem von ihnen zu ziehen. Sie wollte nicht. »Für mich ist alles zu Ende«, sagte sie traurig. »Wir waren so aneinander gewöhnt, Vater und ich, ohne ihn kann ich mich nicht mehr freuen.« Das war eigentlich das Bekenntnis einer großen, ein ganzes Leben währenden Liebe. Als ich wieder einmal von zu Hause wegfuhr, wurde mir unterwegs im Zug bewußt, daß sie mit einfachen Worten eigentlich das gleiche gesagt hatte, was große Dichter immer wieder ausdrücken: Liebe ist der Wunsch, etwas zu geben, nicht zu nehmen. Dazu ist es nötig, daß dich der andere schätzt und dir zugetan ist. Das kann man immer erreichen... Mutter starb zwei Jahre nach Vater. Und in mir blieb für
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immer die nostalgische Sehnsucht nach diesem ruhigen und liebevollen Fluidum des Elternhauses, nach der fast legendären Liebe meiner Eltern, die mit Demut und zugleich Stolz miteinander und mit uns lebten. Fencl gab nicht auf. Er notierte sich, woher ich stammte und wieviel Kinder wir waren. Jetzt saß er da, halb liegend, bequem in den Sessel gefläzt, und musterte mich. Amüsiert, fast würde ich sagen, protektorenhaft. Als wollte er sagen: Ich schinde mich hier mit meiner Reportage herum, und der Herr Professor ist mit seinen Gedanken sonstwo. Als wollte er mich zur Ordnung rufen. Doch ich raffte mich zum Glück von selber auf, weil ich mir mit neuem Schreck bewußt wurde, daß wir uns nicht von der Stelle bewegt hatten. Daß auf mich eine Menge Arbeit wartete und Jitka mich heute sogar abholen wollte, weil wir zusammen etwas zu besorgen hatten. »Also, was werden wir weiter behandeln, Herr Redakteur?« fragte ich, betont brav und folgsam. Das hob sein Selbstbewußtsein noch mehr. Jetzt Ihre eigene Familie. Gattin, Kinder. Was sie tun, ob sie auch Mediziner sind. Aber ein bißchen mehr müßten Sie schon sagen«, wies er mich tadelnd zurecht. Ich tat schuldbewußt, und es gelang mir, nicht zu grinsen. »Ich werde mich bemühen.« Ich zählte ihm auf, daß ich drei Kinder habe, aber nur die Tochter Medizin studiert hat. Obwohl sie zu Hause nichts anderes gesehen haben und wir es uns gewünscht hätten. »Aber das ist unwichtig«, fügte ich rasch hinzu. »Warum sollte man eigentlich darüber schreiben?« Er nickte. War völlig meiner Meinung. Dann kam ihm ein Einfall. »Hören Sie, Herr Professor, hätten Sie nicht ein Foto, auf dem Sie alle beisammen sind? Das wäre das beste. Kein langes Gerede, hier haben wir die ganze Familie. Was würden Sie dazu sagen?« Wie? Ich hätte kein Foto? Ansonsten sei es eine gute Idee.
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Das enttäuschte ihn furchtbar. Er schüttelte despektierlich den Kopf. »Sie haben wirklich kein einziges Familienbild?« Haben wir nicht. Aber Moment mal! Haben wir wirklich keins? In der heutigen Post liegt ein dicker Brief von Milan. Als wir Jitkas Geburtstag feierten, machte er eine Menge Aufnahmen. Wir jagten ihn immer wieder weg, keiner von uns mag das. Aber er hatte sich einen neuen Apparat zugelegt und trieb uns dauernd zu einem Häuflein zusammen. Er knipste auch einige Male mit dem Selbstauslöser. Versprach, daß wir diesmal die Bilder früher erhalten würden als sonst. Zumeist hatten wir sie überhaupt nicht bekommen. »Vielleicht haben wir doch noch Glück«, sagte ich und suchte auf dem Tisch Milans Brief heraus. Ja, es ist so, auf dem beigelegten Blatt schreibt er, daß er vorläufig ein paar Fotos als Probe schickt. Ich sah mir eins nach dem anderen an. Mein junger Freund stand schon neben mir und schnappte sich den Rest, den ich mir noch nicht angeschaut hatte. Er legte sie auf dem Tisch aus wie Spielkarten. Und er war begeistert. »Das ist genau das, was wir brauchen. Dieses nicht, da sehen Sie zehn Jahre älter aus als in Wirklichkeit. Hier posieren Sie, da würden die Leute lachen. Hier machen Sie sich über einen lustig, das kenne ich, Mutter und ich, wir lachen auch oft, wenn wir allein sind. Hier sind alle drauf, und Sie sehen leidlich aus, das würde ich nehmen...« »Aber so warten Sie doch«, hielt ich ihm vor. »Diese Bilder hat ja noch nicht einmal meine Frau gesehen. Sagen Sie mir, welches Ihnen gefällt, ich schicke es Ihnen zu.« »Nein, nein!« widersprach er. »Besser, Sie geben es der Jarmilka, das ist unsere Fotografin. Sie kommt morgen früh, aber ich weiß nicht genau, wann...« »Morgen früh? Das ist absolut...« »Für sie müssen Sie sich einfach Zeit nehmen!« Wenn ich muß, dann muß ich. Wieder saßen wir einander gegenüber, und der Stammbaum wurde fortgesetzt. Das ist
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Milan, der uns fotografierte. Er ist Maschinenbauingenieur und erhielt kürzlich eine Prämie für eine Erfindung. Er hat zwei schöne Kinder. Das da ist unsere Tochter Eva. Sie arbeitet an einer sehr interessanten Forschungsaufgabe, die mit der Krebsbehandlung zusammenhängt. Auch sie hat schon ein Kind, so haben wir drei Enkel. Und der letzte hier ist Ondra. Er wollte durchaus Archäologe werden, und er hat es geschafft. Er sah sich mit mir das Foto an. »Den haben Sie von allen am liebsten, nicht wahr?« »Wie kommen Sie darauf?« verwahrte ich mich. Offenbar hatte er es aus dem Bild geschlossen. Ondra schlang darauf die Arme um meine Schultern und hielt sein lächelndes Gesicht nahe an meines. »Sicher ist er ein Schmeichelkater«, meinte Fencl, und die arglosen Grübchen in den Wangen vertieften sich noch mehr. »Ich habe recht, geben Sie es nur zu.« Scherzhaft drohte er mir mit dem Finger. »Eltern haben immer ein Kind lieber als die anderen.« Ich erforschte mein Inneres. Ist es wirklich so? Ondra war für mich die Wiederkehr der Jitka meiner jungen Jahre. Grazile Bewegungen, kleine Hände, scheue Gesten. Lange hatte ich gedacht, sie seien sich auch charakterlich gleich. Aber bei der letzten Zusammenkunft mit allen Kindern erkannte ich, nicht Ondra, sondern Milan hatte Jitkas Charakter geerbt. Das entdeckte ich ganz plötzlich und mit einem gewissen Erstaunen. Ich hatte nicht erwartet, daß mich an meinen Kindern noch etwas überraschen könnte. Ich kehrte in meinen Erinnerungen zu jenem Abend vor einigen Wochen zurück. Ich kam nach Uzels Operation nach Hause. Mein älterer Sohn war auch schon da, er saß mit Ondra im vertraulichen Gespräch. Ich hatte das Gefühl, sie zu stören. Beide waren anders als sonst, Ondra schien sogar geweint zu haben. Er hatte gerötete Augen und wandte das Gesicht ab. Milan wirkte eher trotzig wie Jitka bei unseren
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endlosen Polemiken, wenn sie mir um jeden Preis etwas beweisen wollte. Worüber sie gesprochen hatten, erfuhr ich erst am nächsten Tag. Am Morgen standen wir spät auf, endlich konnte ich mich einmal richtig ausschlafen. Nur Milan war schon im Gange. Er hatte inzwischen den Fön repariert und nahm gerade den Staubsauger auseinander, der schlecht saugte. Als er hörte, daß wir uns bereits im Bad ablösten, bereitete er ein hervorragendes Frühstück: einen Teller Toaste, Schinken mit Ei, Kaffee mit Schlagsahne. Jitka strahlte. Es war ihr schon lange nicht vergönnt gewesen, sich an den gedeckten Tisch zu setzen. Milan servierte uns das Essen. Mit seiner robusten Gestalt im Trikot und in Leinenhosen sah er aus wie ein plumper Bär. Aber der Schein trog. Er machte alles schnell und geschickt, und ich bedauerte in diesem Augenblick, daß nicht wenigstens er Chirurg geworden war. Er hätte es geschafft und könnte heute auf unserem Gebiet etwas darstellen. Milan teilte die Toaste mit einer langen Serviergabel aus, und ich beobachtete ein wenig traurig seine knochigen Hände mit den langen Fingern. Zum erstenmal wurde mir bewußt, wie ähnlich sie den meinen waren. Mit ein bißchen Phantasie konnte ich mir in ihnen einen Pean und die übrigen chirurgischen Instrumente vorstellen, die er gewiß sicher handhaben würde. Ich verscheuchte diese Vision. Wir kamen ins Plaudern. Genau wie früher, als wir noch beisammen waren, redeten alle durcheinander. Anfangs nur unverbindlich, und dann beklagte sich einer beim anderen gewöhnlich über etwas, was ihn in letzter Zeit belastete. Wir nannten das einst »sich vor der Familie die Wunden lecken«. Diesmal kam die Rede beim Frühstück noch einmal auf die Operation des kleinen Uzel, und was ihr vorausgegangen war. Jitka erzählte, und die Söhne hörten zu. Dann und wann fiel ein Wort des Bedauerns für mich.
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»Zu alldem ärgerte uns der Absauger«, fügte ich hinzu. Milan lebte auf: »Wie ärgerte er? Was macht er?« »In letzter Zeit ist er unzuverlässig. Zunächst saugt er wenig ab, und wenn ich den Motor beschleunige, nimmt er so viel weg, daß er mir fast das umliegende Gewebe verletzt.« »Und wer repariert das?« »Selbstverständlich haben wir für die Instrumente einen Haushandwerker, aber es ist etwas komplizierter, bis jetzt ist er nicht draufgekommen.« »Wenn du willst, schau ich mir's mal an«, erbot sich der Sohn. »Bitte sehr«, stimmte ich ohne große Begeisterung zu. »Ein Fön ist es freilich nicht. Glaubst du, du könntest so was reparieren?« Er lachte. »Bis jetzt glaube ich nichts, ich müßte es erst sehen.« Ich zuckte die Achseln. Einen Versuch war es wert. Milan schob sich die Toaste ein wie Briketts in den Ofen. Jitka machte ganz erstaunte Augen. Ein paar Monate hatten wir ihn nicht gesehen, jetzt erst ging uns auf, was für ein Mann aus ihm geworden war. »Er ist dir ähnlich«, sagte meine Frau, und als wir es nicht glaubten, kramte sie ein Foto aus der Zeit hervor, da ich in der Klinik anfing. Sie hatte recht, das gleiche etwas düstere, kantige Gesicht, die gleichen störrischen Haare und die dichten Bürsten der Augenbrauen, wie ich sie in der Jugend gehabt hatte. »Teure Eltern, ihr habt zwei getreue Kopien geschaffen«, sagte Ondra lachend. Ich fuhr ihm mit den Fingern in die Haare. »Laß sie dir schneiden, Mutter trägt sie kürzer als du. Schau dich nur im Spiegel an!« Ich nahm Milan mit in die Klinik. Er hatte eine Werkzeugtasche dabei, die er immer nach Prag mitbringt, um dann alles zu reparieren, was bei uns anfällt. Er schaute sich den Absauger an. Erklärte mir, daß er nach dem Prinzip einer vi-
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brierenden Membrane arbeite, die von einer Art Schraube reguliert wird. Dann lockerte er die Schraube und säuberte das Gewinde, sie sitze zu stramm. Das alles dauerte nur wenige Minuten. So einfach soll das sein? Ich wollte es gar nicht glauben. Dann versuchten wir Wasser abzusaugen und nach und nach Flüssigkeiten unterschiedlicher Dichte. Der Absauger funktionierte wieder wie ein Uhrwerk. Er ließ sich sehr feinfühlig regulieren.« »Glaubst du, er wird jetzt weiter so gehen?« »Ja. Aber ich kann mich natürlich irren, ist ja schließlich kein Fön!« Diese trockene, ein wenig schadenfrohe Schattierung der Stimme! Der zielsichere Seitenblick! Sogar die ironischen Fünkchen in den Augen, mit denen mich Jitka gelegentlich versengt! Ich ging auf seinen Ton ein. »Mir scheint, ich habe dich gekränkt, mein Sohn.« Er schüttelte den Kopf, lachte. Packte das Werkzeug zusammen, und wir gingen für eine Weile in mein Arbeitszimmer. »Was sagst du zu Ondra?« fragte ich ihn, weil sie am Abend vorher offenbar darüber gesprochen hatten. »Weißt du, Vater«, sagte er erregt, »ich begreife nicht, wie er in diese Situation geraten konnte. Ich kenne die Frau, Ondra hat sie mir einmal in Prag vorgestellt. Sie gefällt mir überhaupt nicht.« »Warum? Sie ist doch sehr hübsch.« »Das ja, aber kalt wie ein Eisberg.« Ich bemühte mich, Zurückhaltung zu wahren. »So viel weiß ich von ihr nicht. Mir gefällt eher die ganze Affäre nicht. Aber vielleicht macht Ondra jetzt ein Ende. Ich glaube, ich habe ihn überzeugt, als wir darüber sprachen.« »Ach wo! Er hat sich das Seine gedacht und nur zum Schein zu allem genickt. Ich hab gestern zwei Stunden mit ihm gesprochen.«
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Mich verstimmte das ein bißchen, doch ich überwand mich. »Vielleicht ist es seine erste große Liebe. Er ist noch ein bißchen kindlich, das geht bestimmt vorbei, braucht nur noch Zeit...« Milan sah mich ganz unglücklich an, seine Stirn furchten sorgenvolle Falten. Jetzt sah er wirklich genau wie Jitka aus, wenn sie sich um einen von uns Sorgen macht. »Was das betrifft, Vater«, sagte er leise, aber mit besonderem Nachdruck, »so würde mir das unter normalen Umständen auch vorkommen, aber da ist noch eine sehr unangenehme Sache.« Ich hob fragend die Brauen. »Eine unangenehme Sache?« »Ja. Ihr Mann weiß nämlich schon längst alles.« »Wie das? Ondra hat doch behauptet...« »Auch mir gegenüber hat er anfangs alles mögliche behauptet, aber das war das erste, was mich interessierte. Es schien mir einfach unmöglich, daß dieser Ingenieur nichts geahnt haben sollte. Ondra hat es zuerst bestritten. Aber dann hat er widerwillig zugegeben, daß dieser Herr vielleicht doch mit seiner Frau gesprochen hat. Wenn allerdings alle drei beisammen sind, tut er, als sei nichts geschehen.« »Und was meint Ondra dazu?« »Nichts. Er geht einfach weiter zu ihnen.« »Das ist freilich eine peinliche Sache.« »Gewiß, Vater. Und ich habe Ondra geradeheraus gefragt, warum ihn dieser Mann wohl in Ruhe läßt. Er zuckte die Achseln. Er wisse es nicht, wie soll er es wissen? Also sagte ich ihm, warum: Weil du ihn operiert hast, Vater! Weil er sich dir verpflichtet fühlt und Ondra dein Sohn ist! Er zahlt einfach für seine Operation einen Tribut. Er muß schweigen, wenn ihn seine Frau mit Ondra betrügt.« Milan war so erregt, daß er bei diesen Worten ganz außer Atem geriet. Er ging, die Hände in den Taschen, hin und her. »Ondra versuchte sich damit herauszureden, ihm sei dieser Zusammenhang nicht eingefallen. Aber ich hab ihm keine
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Ruhe gegeben. Ihr habt uns dazu erzogen, immer fair zu spielen. Ich habe ihm nachgewiesen, daß das kein gewöhnlicher Treubruch ist, sondern ein Dolchstoß in den Rücken. Jener Mann ist nicht nur schwer krank, er kann sich darüber hinaus aus Dankbarkeit dir gegenüber nicht wehren. Man könnte glauben, Ondra nutze diese Situation geradezu aus, aber er ist so naiv, daß es weh tut. Am Ende sah er es ein, ich überzeugte ihn, daß es eine Gemeinheit ist und er so nicht weitermachen kann.« »Du hast ihn wirklich überzeugt?« Ja, Vater. Er brauchte das, es mußte ihn mal jemand gehörig auseinandernehmen. Sinn für ehrliches Spiel hat er nach wie vor.« Ich schwieg. Ich selber hatte mich Ondra gegenüber halb ironisch und halb mentorenhaft verhalten und törichterweise geglaubt, er würde auf mich hören. Aber erst Milan hatte verstanden, ihm das Nötige zu sagen. Woher nahm er diese Entschlossenheit, diese kompromißlose Haltung? Daß Ondra sich von ihm überzeugen ließ, dazu genügten allerdings nicht bloße Worte. Unsere Kinder hatten von uns eben doch einen gewissen guten Grundstock mitbekommen. Und vielleicht verbindet sie untereinander mehr als das gemeinsame Dach ihrer Kindheit. Was sollte ich eigentlich meinem jungen Redakteur über meine Kinder erzählen? Wie wir mit ihnen Jitkas Geburtstag bis zum Morgen gefeiert hatten? Wie wir plötzlich bemerkten, daß hinter den zugezogenen Gardinen der Tag graute? Oder wie Eva, die von unseren Kindern immer die unternehmungslustigste gewesen war, vorschlug, auf die »Parzelle« zu fahren? Was könnte das Fencl schon sagen? Und dennoch war es so schön, daß ich es wohl nie vergessen werde. Eva stand auf und zog mit einer raschen Bewegung die Gardinen auf, als wäre es ein Theatervorhang. Wir saßen bequem in den Sesseln, auf dem Tisch die halbgeleerten Weingläser, in den Tassen letzte Kaffeereste. Blasse Gesichter, blinzelnde Augen wie Kaninchen, die gerade jemand ans
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Licht gezogen hat. Wir schauten einander an und lachten verlegen. Nur Eva stand unberührt von der Nacht vor uns. Die leibhaftige Juno mit einer schon sichtlich stärker gewordenen Taille, mit ihrem hübschen, rotwangigen Gesicht und dem schweren Knoten der dunklen Haare, der ihre Weiblichkeit noch unterstrich. »Na? Was würdet ihr dazu sagen, liebe Familie, wenn wir die aufgehende Sonne am Wohnwagen begrüßten?« Milan riß lächerlich die Augen auf. Ondra deutete an, er werde ob dieses Einfalls gleich in Ohnmacht fallen. Ich betrachtete es als schlechten Witz. Lediglich Jitka nahm es ernst. »Das wäre wirklich ein würdiger Abschluß des Abends! Nur - wer soll fahren?« »Na Eva«, sagte ich lachend, »sie trinkt Coca-Cola.« Nach einer halben Stunde saßen wir alle im Auto. Jitka hatte es noch geschafft, das Essen, das sie für den Sonntag vorgekocht hatte, in eine Tasche zu packen. Milan und Ondra fügten ein paar Flaschen Wein hinzu. Die Sonne ging auf wie auf Bestellung, kaum hatten wir uns auf dem Treppchen des Wohnwagens niedergelassen. Evas Mann war schon seit gestern mit der kleinen Anička auf der Datsche. Sobald er uns in den Garten einfahren hörte, stellte er Kaffeewasser auf. Es war ein einzigartiger Morgen. Die aufgehende Sonne, der Tau im Gras, der heiße, duftende Kaffee und rings um uns alle Kinder. Eva war augenscheinlich glücklich, Milan und Ondra hingen aneinander wie einst. Alle hatten ein Stück erfülltes Leben vor sich. Und neben mir Jitka, die zu mir gehört wie das Laub zum Baum. Was sollte Fencl darüber schreiben? Natürlich, es ist ein Teil meiner Welt, aber es ist nur die Kehrseite dieser harten, klingenden Münze, die ein Menschenschicksal ausmacht. Meine Kindheit, meine Liebe, meine Eltern und die Geschwister, das gehört ausschließlich mir. Mein Leben ist genau wie jedes andere, und es geht niemanden etwas an.
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Ich raffte mich auf. »Wissen Sie was, mein Freund«, sagte ich energisch zu Fencl. »Wir hören auf mit dieser Familienchronik. Ich schlage Ihnen etwas anderes vor. Wenn Sie wollen, borge ich Ihnen einen Krankenhauskittel, und Sie gehen mit mir durch die Klinik zu den Patienten. Mit denen können Sie sprechen, sie werden Ihnen gern etwas über sich erzählen. Ihre Schicksale interessieren die Leser mehr als irgendwelche Familiengeschichten. Sie werden alle letzten Operationen vor sich haben wie auf der flachen Hand.« Er freute sich. Ihn lockte es, im weißen Arztkittel zwischen den Kranken herumzuspazieren. Ich sagte mir im stillen, daß ich das schon längst hätte tun sollen, da hätte ich nicht so viel Zeit verloren. Es gab ein paar Fälle, über die man sehr attraktiv schreiben könnte, zum Beispiel die alte Frau, deren Beine völlig gelähmt waren und die ich ursprünglich nicht operieren wollte, weil sie schon fünfundsiebzig war. Dann entfernten wir eine Rückenmarksgeschwulst, und jetzt kann sie die Beine wieder bewegen. Sie hatte nicht geglaubt, daß sie die Operation überleben oder sogar wieder gehen würde. Heute ist es schon sicher. Oder die kleine Jana, ein liebes Mädchen von sechzehn Jahren. Man hatte sie ebenfalls mit einem Rückenmarkstumor zu uns geschickt, am Ende jedoch zeigte es sich, daß es ein Eiterherd zwischen den Markhüllen war. Sie muß große Schmerzen gehabt haben, konnte sich im Bett nicht bewegen, und dennoch war sie lieb und geduldig. Heute geht es ihr schon gut, sie ist einige Tage ohne Temperatur und wird uns im Handumdrehen verlassen. Dann ist da ein alter Arbeiter, schon über sechzig, der dennoch bis zum letzten Tag gearbeitet hat. Wir haben ihm ein Osteophyt operiert, ein scharfes Schnäbelchen, das auf der Wirbelsäule gewachsen ist und auf einen der Halswirbel gedrückt hat. Er verlor die Kraft, und die Handmuskulatur schrumpfte. Gleich nach der Operation verschwand der brennende Schmerz im Arm, der ihn sehr gequält hatte. Die Bewegungen wurden schon ge-
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schickter. In der Klinik liegen einige Patienten mit einer Bandscheibenoperation. Die meisten hatten große Angst vor dem Eingriff. Heute geht es ihnen schon gut. Vielleicht gestehen sie dem Herrn Redakteur, daß ihre Angst überflüssig war. Ein verhexter Tag ist das heute. Wir treten ins Schwesternzimmer, und uns empfängt eine herzzerreißende Szene. Schwester Hanka weint an der Schulter einer anderen Schwester aus der postoperativen Abteilung. Was ist passiert? Sie springt auf, wischt sich die Augen. »Verzeihen Sie, Herr Professor, aber das ist wirklich nicht mehr auszuhalten«, schluchzt sie. »Schwester Marta ist krank, ich arbeite für zwei, und dieser Velda aus. der Zweiundzwanzig...« Sie kann nicht weiter, beginnt laut zu weinen. Ich nehme sie um die Schultern. »Na, na, Hanka! Ich bin mit dem Kollegen da gekommen, er will sich die Abteilung anschauen«, sage ich in der Hoffnung, damit ihren Kummer zu zerstreuen. Fencl lächelt breit, die Rolle eines Kollegen gefällt ihm. Aber auf die Schwester hat er keinen Eindruck gemacht. Unfreundlich schielt sie ihn mit einem Auge an. »Diesem Velda haben Sie doch erlaubt aufzustehen«, klagt sie gekränkt weiter. »Er hat es sich in den Kopf gesetzt, daß wir ihm den Schieber ins Bett bringen müssen. Vor einer Weile hat er mich wieder gerufen, er hätte heute die rote Injektion nicht bekommen. Ich erklärte ihm, der Herr Doktor hätte sie ihm nicht verordnet, da wurde er ganz gemein. Doktor Zelený hätte sie ihm für täglich versprochen, und ich sei verpflichtet, sie ihm zu geben.« Eine neue Flut von Tränen. »Darf denn hier jeder gegen uns das Maul aufreißen? Im ganzen Zimmer erzählt er rum, daß wir nur im Schwesternzimmer glucken, Kaffee trinken und rauchen. Soll er sich doch für eine Weile an unserer Stelle hersetzen!« Ich spreche die üblichen Phrasen aus: Eine Schwester muß
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über den Dingen stehen. Einige Patienten rufen gern Konflikte hervor, das wissen wir doch, aber wir lassen uns dadurch nicht aus der Fassung bringen, es sind eben kranke Menschen. Wahrscheinlich werden sie unsere Fürsorge mit der Zeit schätzen, wenn es ihnen besser geht. Sie weint nicht mehr. Mit gekränkter Stimme unterbricht sie mich: »Das wohl kaum, Herr Professor! Ich habe ihm gesagt, er solle froh sein, wie gut die Operation ausgegangen ist! ›Froh, worüber?‹ sagt er darauf. ›Darüber, daß ich ein zerschnippeltes Kreuz habe? Das wäre auch ohne Operation vorbeigegangen!‹« Meinem Begleiter erlischt das Lächeln auf den Lippen, er schaut mich fragend an. »Wir gehen auf die Station«, sage ich entschlossen. »Nein danke, Schwester, Sie brauchen uns nicht zu begleiten.« Vielleicht wird die Exkursion doch gelingen. Die kleine Jana sitzt schon im Sessel neben dem Bett, schön wie ein Bild. Sie erzählt mir stockend, daß sie schon drei Schritte gemacht hat und bald tanzen kann, solch eine Kraft spürt sie in den Beinen. Unaufgefordert zieht sie den bauschigen Morgenrock aus und hebt das Hemdchen. Auf dem Rücken hat sie ein Mullviereck mit Pflastern. Ich klappe es auf, damit Fencl wenigstens etwas sieht. Die Wunde ist sauber, auch die Fäden sind schon entfernt. »Na siehst du, alles wird wieder in Ordnung kommen«, sage ich ihr. »Sobald die Wunde verheilt ist, trittst du eine Kur an. Im Herbst wirst du wirklich tanzen können.« »Ich bin Ihnen ja so dankbar!« Ich streichle ihr übers Haar. Es ist lockig und weich wie bei einem Kind. Aber offenbar hat sie noch etwas auf dem Herzen. Sie errötet, schluckt. »Könnte ich... dürfte ich um etwas bitten?« »Bitte sehr«, sage ich, »was möchtest du denn?« »Ich... Ich kenne einen Jungen. Ich hatte gedacht, er könnte vielleicht jeden Tag zu mir kommen, wenigstens für einige Zeit. Er würde mich stützen, ich könnte versuchen, mehr zu
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gehen.« Ich seufze. Diese kleine Jungfer ist offenbar ein rechtes Teufelchen. »Wir werden sehen, Jana«, antwortete ich unbestimmt. »Vielleicht hätte dein Vati mehr Kraft.« Sie zieht eine Schnute. Die langen Wimpern blinzeln kläglich. Fencl grinst. Er eilt als erster aus dem Zimmer. Auf dem Flur erwartet mich schon ein Patient aus der Dreißig, dem wir unlängst auch eine Bandscheibe operiert haben. Er kann noch nicht gut frei stehen, stützt sich auf einen Stock. »Herr Professor«, bittet er mich halblaut, »erlauben Sie diesem Fräulein keine Besuche! Wissen Sie, sie hat sich mit meinem Jungen zusammengetan. Er ist bis über beide Ohren in sie verliebt. Jeden Tag stiehlt er sich für eine Weile in ihr Zimmer. Die Schwestern wollen es schon melden. Er benimmt sich wie Fanfan der Husar. Gestern abend ist er über den Zaun geklettert und hat sich die Hose zerrissen. Was soll ich dagegen tun?« Ich komme mir vor wie in einem bösen Traum. Das ist unsere alte, solide Klinik? »Einsperren«, sage ich energisch und mache mich auf zu den weiteren Zimmern. Fencl geht neben mir und erstickt fast an seinem Lachen. »Hier erleben Sie was, stimmt's?« kommentiert er auf seine Weise. »Meine Mutter bringt auch manchmal von der Arbeit Geschichten mit, daß ich mich kugeln könnte.« Ich bin verstimmt. Habe das Gefühl, daß hier nie so schlechte Disziplin geherrscht hat. Die Patienten machen, was sie wollen, Besuche dringen ein, obwohl es nicht erlaubt ist. Und die Kranken sind arrogant, als wären sie nicht in einem Krankenhaus, sondern in einem Hotel. Ich muß darüber mit Ruml und den Dozenten sprechen. Früher konnte ich zu jeder beliebigen Zeit in die Klinik kommen, immer empfingen mich Ruhe und Ordnung. Die Schwestern waren dienstwillig und die Patienten höflich und dankbar.
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»Machen Sie sich nichts draus«, tröstete mich mein junger Freund, der meine Gefühlslage erraten hat. »Die Leute haben sich schon abgewöhnt, ehrfürchtig dazustehen. Sie wissen genau, daß Sie für sie da sind und nicht umgekehrt.« So, das ist es. Keinerlei Personenkult! Wieder unterdrücke ich ein Lachen. Ich stelle mir Jitka vor, wie sie kichern wird, wenn ich ihr erzähle, was für eine Lektion mir Fencl erteilt hat. Die alte Frau Stoklasová liegt gleich im Zimmer nebenan. Auch sie hat die ersten Schritte schon hinter sich. Zu beiden Seiten liegen Patientinnen mit Bandscheibenoperationen. »Wie alt wollen Sie sein?« sage ich im Scherz. »Sechzig?« Sie geht auf das übliche Spiel ein. »Ach wo, Herr Professor, vor zwei Monaten war ich fünfundsiebzig.« Ich schüttle den Kopf, als könne ich es nicht glauben. Fencl neben mir paradiert im weißen Kittel und ahmt mich erfolgreich nach. Die alte Frau faßt mich am Arm. »Ich habe Ihnen nicht geglaubt, habe gedacht, mit mir ist es aus. Die Beine waren wie Klötze, ich hatte gar kein Gefühl darin. Aber dann fing ich an zu hoffen. Ich sagte mir, wenn es Krebs wäre, würden Sie nicht operieren.« Ich frage sie, was es Neues gibt. Die beiden Patientinnen aus den Nebenbetten antworten eifrig für Frau Stoklasová, die den Tränen nahe ist. Sie habe guten Appetit. Und gehe schon allein ans Waschbecken. Die Kranke sieht mich liebevoll an, und ich schäme mich auf einmal für diesen Blick voller Dankbarkeit. Was ist das eigentlich für ein Verdienst, wir haben nur ein Stück normale Arbeit verrichtet. »Sieh da, Sie haben sich sogar schon frisieren lassen«, lobe ich aus Gewohnheit die hübsch gekämmten grauen Haare, die in künstlichen Locken das errötete Gesicht umrahmen. Da hab ich aber was gesagt! Sie schlägt beide Hände vors Gesicht und beginnt bitterlich zu weinen. »Frau Stoklasová, was ist denn passiert?«
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Sie antwortet nicht, schluchzt kläglich weiter. Ich richte einen fragenden Blick auf die Nachbarinnen. Damit habe ich ihnen den Ball zugespielt, offenbar haben sie auf nichts anderes gewartet, als diese vertrackte Geschichte auszupakken. . Die alte Frau hat eine Tochter. Ein mißratenes Stück, alles, was recht ist. Die Nachbarinnen mußten sich um die alte Frau kümmern. Jetzt nach der Operation hat sie der Tochter bestellen lassen, sie möchte sie wenigstens frisieren kommen. Sie ist nämlich Friseuse. Gestern tauchte sie endlich hier auf. Die alte Mutter freute sich so darüber! Sogleich prahlte sie, sie werde wieder allein gehen können, ihre Beine seien nicht mehr tot. »Da hast du ja Glück«, sagte die junge Frau nur, »weil du sonst ins Heim müßtest.« Sie sprach mit der Mutter nur über die Schulter. Betonte den beiden anderen Patientinnen gegenüber, daß sie nur eine kleine Wohnung hätten und es undenkbar sei, die Mutter nach dem Krankenhaus zu sich zu nehmen. Die Frisur machte sie ihr. Hatte dafür sogar Fön und Lockenwickler mitgebracht, aber am Ende verlangte sie vierzehn Kronen. Zwölf für die Ondulation und zwei für die Straßenbahn. Ich schweige. Das ist ja fast wie aus einem Roman von Balzac! Der kleine Fencl hält es nicht mehr aus. Er setzt sich auf den Bettrand und faßt die alte Frau um die Schultern. »Ich bitte Sie, weinen Sie nicht«, sagt er erschüttert. »Sie brauchen doch eigentlich Ihre Tochter gar nicht. Hier hat man Sie gesund gemacht. Sie werden herumlaufen wie früher. Und ich schaue auch wieder mal nach Ihnen. Wollen Sie? Na, so lachen Sie doch, ich komme bestimmt, geben Sie mir Ihre Adresse!« Sie hört wirklich auf zu weinen. Hebt den erfreuten Blick zu ihm auf. »Aber Herr Doktor, Sie werden sich doch nicht noch ein altes Weib aufhalsen...«
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Er stutzt. Wird sich bewußt, daß sein weißer Kittel nur ein Gelegenheitskostüm ist. Beschämt steht er auf, aber ich fange an, ihn wegen dieser spontanen Gefühlsäußerung wirklich gern zu haben. »Wenn der Herr Doktor sagt, er kommt, dann kommt er auch«, helfe ich ihm aus der Verlegenheit. »Und Sie brauchen wirklich nichts zu befürchten. Sie werden für sich selber sorgen können.« Wir treten hinaus auf den Flur. Ich sehe Fencl an, daß ihn das alles sehr mitgenommen hat. »Nun, wollen Sie noch weitergehen?« frage ich ihn. Er will. Gibt zu, daß er erst jetzt eine gewisse Vorstellung von unserer Arbeit in der Klinik bekommen hat. Sein Artikel könnte heißen: »Eine Visite in der postoperativen Abteilung«. Wie würde mir das gefallen? Sehr nicht. Vielleicht kriegt er einen besseren Einfall, wir sind ja noch nicht am Ende. Ich drücke die Klinke einer weiteren Tür nieder. »Hier werden Sie diesen Velda sehen, der den Konflikt mit Schwester Hanka hatte!« Aber gleich an der Tür steht vorerst Duda, ein alter Meister, der an einer Werkzeugmaschine arbeitet. Am Hals hat er eine lange Narbe, wir waren nur schwer an den Wirbelfortsatz herangekommen. Ich schaue mir die abgemagerte Hand an. Der Patient schweigt. Voller Bangen verfolgt er, was ich dem Redakteur sage. Dann fragt er zaghaft: »Werde ich wieder ganz gesund, Herr Professor?« »Gewiß«,versichere ich ihm. »Gut, daß Sie sich haben operieren lassen. Die Hand wäre sonst immer schwächer geworden.« »Ich hätte mich zu allem entschlossen, wenn es nur hilft. Wissen Sie, was ich ohne die beiden Hände wäre?« Er verstummt, schluckt vor Rührung. »Meine Frau ist gestorben, und die Kinder sind längst aus dem Hause. Auf der Arbeit hab ich meine Kumpel. Ich hab was gezeichnet, einen kleinen Verbesserungsvorschlag... sie haben mir im Betrieb versprochen, es mit mir zu bauen. Was sollte ich allein zu
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Hause?« Der kleine, breitschultrige Mann steht vor mir wie ein Baum, der fest in der Erde verwurzelt ist. Er hat auf die einfachste Weise ein großes Lebenscredo ausgesprochen: Was sollte ich tun, wenn ich meine Arbeit nicht hätte. Wie vertraut mir das ist! Der Adept der Journalistik hat Stoff zum Nachdenken. Wir gehen zu weiteren Betten. Bandscheibenvorfall: der erste, der zweite, der dritte. Der erste Patient hat noch leichte Schmerzen. Der zweite klagt über Ziehen im Rückgrat, hauptsächlich nachts. Ich rate ihm, er solle sich öfter auf die Seite drehen. Ja, das ist wahr! Er bestätigt mir, daß ihm das tagsüber auch gegen die Schmerzen hilft. Der dritte ist Velda. Ich bin auf einen Frontalangriff gefaßt. Vor uns liegt ein untersetzter Mann in einem grellbunten Pyjama, daß einem die Augen weh tun. Er hat ein rundes, rotes Gesicht, das mich an den Katecheten aus unserer Schule erinnert. Die Hände hält er artig auf der Zudecke gefaltet, als bete er. Es ist komisch, aber beschweren will er sich offensichtlich nicht. »Sie vollbringen Wunder«, sagt er liebedienerisch. »Ich war der reinste Krüppel, meine Frau kann es Ihnen bestätigen. Die Bekannten sagten: ›Geh nicht hin, es ist nicht so einfach, sich das Rückgrat zerschneiden zu lassen, da können dann deine Beine gelähmt sein.‹ Aber ich sagte: ›Zu dem Herrn Professor geh ich blindlings, er ist ein Meister seines Fachs! Wenn nicht er mir hilft, dann niemand mehr! Bis zum Lebensende werde ich mich dankbar Ihrer erinnern. Und in die Zeitungen setze ich eine Danksagung für Sie, die Herren Doktoren und die Schwestern. Ich bin von allen Patienten hier am besten dran. Gerade wie eine Kerze. Heute bin ich zum erstenmal aufgestanden.‹« Er schiebt sich aus dem Bett, besser gesagt, er rollt sich im Liegen bis zum Rand, weil er sich noch nicht setzen darf. Stellt sich mit dem Rücken zu mir, damit ich mir die Narbe anschauen kann. Die anderen Patienten machen saure Ge-
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sichter. Augenscheinlich haben sie von ihm die Nase voll. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Warum hat er eine solche Kehrtwendung gemacht? Vielleicht fürchtet er, daß sich die Schwestern über ihn beschwert haben. Wir setzen den Rundgang fort. Noch nie erschien mir eine Visite so ermüdend, die Klagen der Patienten so kleinlich und die Worte, mit denen sie mich lobten, so falsch. Aber Fencl fühlt das offenbar nicht. Er kommt sich vor wie an der Quelle einer sensationellen und lebensspendenden Arbeit. Als wir in mein Arbeitszimmer zurückkehrten, saß Jitka schon dort. Sie wußte von dem jungen Redakteur und gedachte sich offenbar nicht hinwegzubewegen, bis das Interview beendet war. Ich stellte ihn ihr vor. Sie sagte ihm ohne lange Umstände, wir hätten noch ein volles Programm und er solle sich also beeilen. Eine Weile sah er sie ungläubig an, und dann entschloß er sich, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er setzte sich mir gegenüber und schlug wieder den Block auf. »Also wo haben wir aufgehört?« sagte er nachdenklich. »Wir haben hier ein paar Bemerkungen über Ihre Jugend, über, die Familie. Etwas habe ich über den kleinen Jungen aufgeschrieben, den Sie operiert haben. Aber jetzt muß man das irgendwie zusammenfassen. Die Fälle, die wir oben gesehen haben, sind auch interessant. Wir müßten es nur irgendwie höher kriegen. Auf eine höhere Ebene!« Mit einer Geste deutete er an, wie hoch. Er stand auf, ging im Raum hin und her, kaute schon wieder am Ende seines Bleistifts. Dann drehte er sich zu mir herum. »Verstehen Sie, was ich meine?« Ich wußte nicht, wie lange ich noch ernst bleiben konnte. »Ich verstehe«, sagte ich wie ein folgsamer Schüler. »Wir müssen es auf eine höhere Ebene kriegen.« Jitka flitzte nach nebenan zur Sekretärin. Ich hätte sonstwas dafür gegeben, zu sehen, wie sie im Sessel sitzt und lacht, daß sie sich fast verschluckt. Fencl stand vor mir und durchbohrte mich mit einem fanati-
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schen Blick. In diesem Moment kam er sich bestimmt vor wie ein zweiter Egon Erwin Kisch. »Sagen Sie mir kurz und knapp, wodurch diese Operation einzigartig war. Auf der Welt wird dauernd operiert, es gibt eine ganze Reihe gängiger Operationen. Aber Sie haben vielleicht etwas zum erstenmal gemacht. Haben eine eigene Methode gefunden, sind ein Pionier.« »Aber das habe ich Ihnen doch gesagt«, erwiderte ich ärgerlich. »Der Junge hatte eine Geschwulst, an die sich keiner aus der Klinik herangetraut hätte.« »Und was sonst? An einer anderen Klinik oder in einem anderen Land?« Ich seufzte. »Was weiß ich? Auf dem nächsten internationalen Kongreß werde ich darüber mit einigen Kollegen sprechen. Wie soll ich das vergleichen? Jeder Fall liegt doch völlig anders.« »Ich weiß«, sagte er ungeduldig. »Und jede Situation ist unwiederholbar, das ist eine Binsenwahrheit. Also was war daran das Besondere? Sagen Sie es mir! Aber so, daß es für jedermann verständlich ist. Sie dürfen nicht vergessen, daß der Leser ein völliger Laie ist.« »Nein, das vergesse ich nicht.« Am liebsten hätte ich ihn erwürgt. Ich schaute unauffällig auf die Uhr und erstarrte. Jitka trat ein wie umgewandelt. Man sah ihr überhaupt nicht an, daß sie eben noch von Herzen gelacht hatte. Sie setzte sich zwischen uns. »Ich habe die Sekretärin gebeten, uns einen Kaffee zu kochen, da wird's besser gehen. Und überhaupt, zeigen Sie her, wie weit Sie sind. Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen ein bißchen. Den Herrn Professor lassen wir einstweilen ausruhen.« Zuerst riß er überrascht die Augen auf, aber dann schob er ihr den Block hin. Als hätte sie ihn durch ihre Tatkraft hypnotisiert. »Nein, so können Sie das nicht lassen. Hier über die Familie, da streichen wir ein paar Sachen, das interessiert ohne-
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hin niemanden. Unser Familienfoto wollen Sie abdrucken? Warum eigentlich nicht, das ist besser als eine spontane Erzählerei.« Gnädig überging sie den Absatz über die chirurgischen Eingriffe in der Steinzeit. Sie diktierte ihm ein paar Worte aus der Geschichte unserer heimischen Neurochirurgie. Dann las sie sich durch, was er über Stöpsel geschrieben hatte, und schob unwillig den Block weg. »So geht das doch nicht«, blaffte sie ihn an. »Was heißt eine Kammer? Sie haben geschrieben: ›Die Kammer war voll von der Geschwulst.‹« »Aber... er hat es mir so gesagt...«, stammelte er verwirrt. »Das ist viel komplizierter! Im Gehirn ist ein Kammersystem. Die dritte Kammer, die vierte Kammer, die Seitenkammern. Sie können nicht nur Kammer schreiben. Oder das da! Daß er einige Minuten Herzstillstand hatte! Wer hat Ihnen gesagt, daß es einige Minuten waren? Der Herr Professor bestimmt nicht! Wissen Sie, was das bedeuten würde?« »Ich hatte mir vorgestellt, es wären einige Minuten gewesen. Aber wenn es weniger war, kann ich es korrigieren.« »Oder das da! Der Herr Professor hat ihm in den Schädel absichtlich eine kleine Öffnung gemacht, damit es ihn nicht stört, wenn er heranwächst. Kann man das so formulieren? Und warum sollen Sie diese Operation eigentlich so eingehend beschreiben? Auf den Operationsverlauf kommt es doch nicht an. Es war ein schwerer Fall, der Tumor wurde beseitigt, es ist gut ausgegangen. Meinen Sie nicht, das genügt?« Er schaute Jitka aufs äußerste gekränkt an, wagte aber nicht zu murren. Frau Růžková servierte den Kaffee. Ihre Lippen zuckten, als kitzelte sie jemand. Jitka warf einen Würfel Zucker in ihre Tasse und überlegte eine Weile. Dann befahl sie ihm energisch: »Nehmen Sie den Bleistift, ich diktiere Ihnen weiter.« Sie begann damit, welch hohe Ansprüche unser Fachgebiet
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stellt. Die Operationen des Gehirns und Rückenmarks erforderten hohe Spezialkenntnisse. Sie äußerte sich darüber, daß in der Klinik die Sterblichkeitsrate von Jahr zu Jahr sinkt. Sie zählte auf, welche neuen Methoden der Operationstechnik in den letzten zwanzig Jahren eingeführt wurden. Sie betonte, daß in einer so kleinen Wirkungsstätte mit nur einigen Dutzend Betten in dieser Zeit Hunderte von Tumoren operiert wurden, daß hier einige Hundert Gefäßmalformationen und Blutergüsse beseitigt wurden, daß hier die Epilepsie operativ behandelt wird. Sie hob die mikrochirurgische Technik hervor, die besonders bei der Verletzung von peripheren Nerven bedeutsam ist. Nicht zu vergessen die Publikationen und Vorträge und alle die Ehrungen, die die Klinik erhalten hat. Fencl schrieb wie geschmiert. Einmal bekam er einen Krampf in die Finger und mußte die Hand schütteln. Schon tat er nicht mehr so gequält, er strahlte wie eine Melone. Hatte alles über die glänzenden Ergebnisse der Neurochirurgie aufgeschrieben. Genau so, wie ich mir das voller Grausen vorgestellt hatte, als er zum erstenmal kam und ich mich aus der geplanten Reportage herauswinden wollte. Jetzt waren der Herr Professor und seine eigenen Verdienste um die Entwicklung des Fachs an der Reihe. Er füllte weitere zwei Seiten mit seiner halbkindlichen Schrift. »Uff«, sagte Jitka endlich. »Glauben Sie nicht, Herr Redakteur, daß das jetzt reichen müßte?« »Ich glaube ja, Frau Professor«, stammelte er ehrerbietig. »Bestimmt. Oder wenn wir vielleicht noch ein paar Zeilen darüber schrieben, wie die Zukunft der Neurochirurgie aussieht...« Ja, genau das fehlte noch in meiner ursprünglichen Vorstellung! Jitka erstarrte. Ihre braunen Augen waren weit geöffnet und hatten einen leeren Ausdruck wie in einem Trancezustand. Ich dachte schon, sie würde hochgehen und den unglückseligen Burschen zur Tür hinauswerfen. Statt dessen nahm sie
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einen Würfel Zucker in den Mund und sagte: »Die Zukunft der Neurochirurgie? Gut, also schreiben Sie!«
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ENT Edition Neue Texte Neuerscheinungen 1987 Ingeborg Arlt: Das kleine Leben Kurt Drawert: Zweite Inventur. Gedichte Horst Drescher: Aus dem Zirkus Leben. Notizen 1969-1986 Margarete Neumann: Dies ist mein Leben... Ein Erzählungszyklus Lothar Walsdorf: Über Berge kam ich. Gedichte Michael Wüstefeld: Heimsuchung. Gedichte Wladimir Makanin: Die Verfolgungsjagd Mati Unt: Herbstball Bernard Mac Laverty: Cal Francois Bon: Feierabend Bekir Yildiz: Südostverlies. Drei literarische Reportagen Zhang Xinxin San Ye: Eine Welt voller Farben. 22 chinesische Porträts
Nachauflagen 1987 Heinz Kahlau: Du. Liebesgedichte 1954-1979 Wulf Kirsten: Die Schlacht bei Kesselsdorf • Kleewunsch Helga Königsdorf: Respektloser Umgang Helga Schubert: Blickwinkel Eva Strittmatter: Ich mach ein Lied aus Stille
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TdW Taschenbibliothek der Weltliteratur Eine Taschenbuchreihe mit eigenem Profil Veröffentlichung von Werken deutscher und internationaler Schriftsteller aus Vergangenheit und Gegenwart Preiswerte Ausgaben in moderner Paperbackausstattung
1987 erscheinen Heinrich Heine: Buch der Lieder Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel Ludwig Renn: Adel im Untergang Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh (Nachauflage) Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit (Nachauflage) Alexander Puschkin: Pique Dame (Nachauflage) Ilja Ehrenburg: Der Fall von Paris Virginia Woolf: Die Fahrt zum Leuchtturm Upton Sinclair: Jimmie Higgins Andre Gide: Die Falschmünzer Georges Simenon: Bellas Tod • Sonntag Giovanni Boccaccio: Das Dekameron (Nachauflage) Plutarch: Leben und Taten berühmter Griechen und Römer
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 288
Aus unserem bb-Taschenbuchprogramm 1987 Die Altweibermühle. Eine Anthologie Berlin. 100 Gedichte aus 100 Jahren Heinz Knobloch: Berliner Feuilleton Rosemarie Schuder: Agrippa und Das Schiff der Zufriedenen E. T. A. Hoffmann: Der Magnetiseur Joseph Roth: Das falsche Gewicht Leo Perutz: Der Marques de Bolibar Franz Werfet: Die Geschwister von Neapel Arnold Zweig: Verklungene Tage Gerhart Hauptmann: Der Schuß im Park Jakob Wassermann: Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens Keine mildernden Umstände. Frauengeschichten aus der BRD Franz Josef Degenhardt: Die Abholzung Boris Wassiljew: Und morgen war Krieg I. Grekowa: Anonyme Briefe Valja Stýblová: Skalpell, bitte! Ferenc Herczeg: Tor des Lebens • Sinkender Halbmond Emile Zola: Das Tier im Menschen Patrick Modiano: Eine Jugend Margery Allingham: Die Spur des Tigers
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 289